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German Pages [520] Year 2015
Bedrich Loewenstein
Der Fortschrittsglaube Europäisches Geschichtsdenken zwischen Utopie und Ideologie
Zweite, erweiterte und völlig überarbeitete Ausgabe von Der Fortschrittsglaube – Geschichte einer europäischen Idee (2009)
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar Das Werk ist allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26666-1 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-26668-5 eBook (epub): 978-3-534-26669-2
Inhalt
Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
I. PRÄFORMATIONEN
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
1. Prometheus und Ewige Wiederkehr 2. Heilgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . .
II. BAUSTEINE DER MODERNE
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
3. Das Maß aller Dinge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 4. Weltlichkeit, Weltfrömmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 5. Fortschritt, Erneuerung, Vorsehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
III. DIE NEUEN MÄCHTE
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
6. Disziplinierung und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 7. Ökonomie und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
IV. AUFKLÄRUNG UND REVOLUTION
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
139
8. Mehr Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 9. Wohlstand und Zivilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 10. Beschleunigte Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 11. Die Erziehung des Menschengeschlechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
V. DAS ZEITALTER DER INDUSTRIE UND DEMOKRATIE
. . . . . . . . . . . . . 223
12. Nach dem Sturm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 13. Von Hegel zu Marx . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 14. Positivismus und Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 15. Industrialismus und Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 16. Darwin oder Kant? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 17. Historismus, Fortschrittsskepsis, Kulturpessimismus . . . . . . . . . . . . 334
Inhalt
VI. EIN RÜCKBLICK AUF DAS 20. JAHRHUNDERT
. . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
18. Technokratismus, Amerikanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 19. Das Paradigma des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 20. Mythos Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 21. Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
Epilog: DER FORTSCHRITT – EIN BIBLIOGRAPHISCHTHEORETISCHER ESSAY . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen
453
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471
Namensregister
6
. . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
513
Vorwort
In des Verfassers jungen Jahren, nach dem II. Weltkrieg, war „Fortschritt“ ein allgegenwärtiges Schlagwort. Es besaß eine mobilisierende, aber auch dichotomisierende Qualität: nach den stickigen Jahren der Unterdrückung vermittelte es Hoffnung auf einen Aufbruch in Neues und Besseres, machte aber zugleich auf einem Auge blind. In der Tschechoslowakei, dem eher skeptischen Land von Hašeks ‚Partei des gemäßigten Fortschritts im Rahmen des Gesetzes‘, genoss der Begriff über das linke Parteienspektrum hinaus eine hohe Wertschätzung. Der neugeschaffene Staat begriff sich nicht einfach als Frucht des I. Weltkriegs, sondern einer jahrhundertelangen, sinnvollen Geschichte; als Gegenstück zum ‚reaktionär‘ etikettierten Habsburgerreich hatte sich die Republik in den zwei Jahrzehnten ihrer Existenz in manchen Bereichen dem modernen Zeitgeist angepasst. Das mochten frustrierte Bevölkerungsteile, die marginalisierten Sudetendeutschen, die katholischen Slowaken, die moskaugläubigen Kommunisten, anders empfunden haben; durch das Trauma von 1938–1945 war dann das fortschrittliche Renommee, vor allem Masaryks „humanitäre Demokratie“, ihr Glaube, von der Geschichte getragen zu werden, stark angeschlagen. Die Fortschrittsidee wussten nun die Kommunisten mit Vehemenz und einigem Geschick für sich in Beschlag zu nehmen: Nur ihre radikalen Rezepte und vereinfachenden Parolen entsprachen dem kategorischen Imperativ der Zeit nach 1945; nur sie beanspruchten, den Schlüssel zur Zukunft zu besitzen, und wer ihnen zu widersprechen wagte, war in ihrer manichäischen Rhetorik ein ‚Reaktionär‘. Das war für den Autor ein prägendes Schockerlebnis, das sich fortsetzte in Überrumpelung und anschließender gewaltsamer Gleichschaltung aller Bereiche nach sowjetischem Vorbild. Dabei war nicht nur Gewalt durch skrupellose Aktivisten im Spiel, die sich mit ‚dem‘ Fortschritt legitimierten, sondern auch die innere Schwäche einer verwirrten Mehrheit vor einer scheinbar unwiderstehlichen Logik der Geschichte. Es wäre übertrieben zu behaupten, dieses Urerlebnis mit seinen vier Jahrzehnte dauernden Folgeprozessen habe dem Verfasser die Themen vorgegeben. Die totale ideologische Herausforderung hat aber die geistige Auseinandersetzung immer wieder unausweichlich gemacht: das Nachdenken über Vorausset7
Vorwort
zungen, geschichtliche Weichenstellungen, mögliche Alternativen zum sowjetmarxistisch verflachten Fortschrittsglauben. Das war dem zunächst geduldeten jungen ‚Nischenwissenschaftler‘ innerhalb der realsozialistischen Strukturen begrenzt möglich, dem nach 1968 definitiv ernüchterten, von Berufsverbot betroffenen und 1979 emigrierten Dissidenten ein dringendes Bedürfnis. Es waren naturgemäß, ob man sich mit Liberalismus, dem Weltkriegserlebnis, Rechtsradikalismus, Aufklärung, bürgerlicher Gesellschaft, Nationalismus oder Revolutionen befasste, eher Einzelaspekte, die sich nicht automatisch zu einem geschichtsphilosophischen Konzept zusammenfügten. Aber der vorwissenschaftliche Erlebnishintergrund, nicht zuletzt die ideologischen Anmaßungen des Regimes, haben die eigene Wahrnehmung immer beeinflusst, nicht nur in einem fruchtbaren, erkenntnisschärfenden Sinn: Auch die Kritik falscher Fragestellungen kann die Sicht beeinträchtigen. Wenn nun, gegen Ende eines schon ziemlich langen Gelehrtenlebens, versucht wird, Bilanz zu ziehen, dann bildet das, was einen bewegte, natürlich einen Wahrnehmungsfilter, doch geht es nicht nur um Existentielles, sondern in erster Linie darum, zu verstehen. Es soll auch nicht behauptet werden, es handle sich um die bloße Zusammenfassung ein halbes Jahrhundert lang angedachter Ansätze. Nachträglich glaubt man, eine gewisse Logik im eigenen intellektuellen Werdegang zu erblicken, doch war vieles zunächst nur unpräzise angedacht, das theoretische Begriffsinstrumentarium des philosophischen Einzelgängers nicht ausreichend und evidente Zusammenhänge unklar. Man lernt auch im hohen Alter ständig dazu, und natürlich beruht auch im vorliegenden Text nicht alles auf eigenen Forschungen: Das Panorama einer europäischen Ideengeschichte übersteigt zwangsläufig die Kräfte eines einzelnen Autors. Auch das methodologische Vorgehen bedarf des Kommentars. Der Verfasser versteht sich als interdisziplinär arbeitender Historiker, und eben nicht als systematischer Philosoph. Das hat zwar vermutlich Vorteile für den Nicht-Fachmann als Leser, nicht zuletzt durch Einbeziehung des realgeschichtlichen Hintergrunds, aber kann die professionelle theoretische Analyse nicht immer ersetzen: man bleibt möglicherweise unterhalb der letzten Feinheiten des Fachdiskurses, jedenfalls angewiesen auf Hilfe über den Zaun der Zunft hinweg. Auch die Auswahl der einzelnen Themenschwerpunkte und exemplarischen Persönlichkeiten dürfte kontrovers sein; das Prisma des subjektiven Interesses und eigener Vor arbeiten, eines nur-europäischen Horizonts, auch mangelnder naturwissenschaftlicher Ausbildung, mag zum Ärgernis werden oder zur Illustration von Wittgensteins verlorenem Hausschlüssel, der nur im Lichtkreis der Straßen laterne gesucht wird – obgleich er woanders liegen kann. Die sich zur Neuzeit hin verdichtende Untersuchung oszilliert zwischen dem biblischen Fortschrittsparadigma in seinen einmal mehr, einmal weniger säkula8
Vorwort
risierten Varianten, der realgeschichtlichen Lebenswelt und dem gedanklichen Selbstverständnis bzw. Zukunftsentwurf der Protagonisten. Das kann als Überbleibsel marxistischer Methode missverstanden werden, doch ist das Denken nie auf das soziale oder kulturelle Milieu, gar auf biographische Banalitäten reduzierbar. Der Dialog zwischen dem subjektiven Ausdruck und den jeweiligen Lebensumständen bildet in der Regel ein sich gegenseitig erhellendes Instrumentarium der Erkenntnis. Noch eines bleibt zu erläutern. Im Titel dieses Buchs ist von Fortschrittsglauben die Rede, nicht von realen Fortschritten, und auch nicht von Fortschrittstheorie. Damit wird das unvermeidliche Werturteil im Begriff unterstrichen. Es ist wenig umstritten, dass es in der Geschichte der Menschheit reale Verbesserungen der Lebensumstände gegeben hat und diese auch quantitativ darstellbar sind. Jenseits des Wissenschaftlich-Technischen, gar als geschichtsphilosophische Idee eines einzigen, zielgerichteten Prozesses nach Art der biologischen Evolution, gerät der Gedanke aber unter Ideologieverdacht. Menschen, die in ihrer Zeit etwas bewegten oder entdeckten, die sich im Namen bestimmter Wertvorstellungen für Reformen, für die Abstellung von Missbräuchen oder auch nur Verbesserungen ihrer technischen Geräte einsetzten, haben vieles bewirkt, aber im Rückblick nur selten das, worauf sie hofften oder woran sie glaubten, manchmal geradezu das Gegenteil. Dieser Diskrepanz zwischen dem Wünschenswerten und dem Resultat, dieses jesuanischen Nicht-Wissens, was sie tun, sind sich die handelnden Menschen selten bewusst, ebenso wenig, wie die Nachgeborenen der Kontingenz des Geschehenen: dass es hätte wesentlich anders kommen können. Wenn man sich als Agent einer eindeutigen Vorsehung weiß, beruhigt, ermuntert, legitimiert das zweifellos die ‚Geschichtstäter‘: Sie handeln sozusagen in höherem Auftrag. Es ist uns trotzdem nicht primär um die Entlarvung solcher ideologischer Selbsttäuschungen zu tun, eher um die Aufarbeitung jener langen Reihe von trial and error, die nicht zuletzt die europäische Identität ausmacht. Diese ist nicht auf eine Formel zu bringen, sondern bleibt ein nie entschiedener, offener Diskurs. Im Glaubensbegriff, für den wir uns entschlossen haben, ist natürlich das Motiv des Zukunftsvertrauens enthalten, die Zuwendung zum Neuen und Ungewohnten, das Wagnis der Grenzüberschreitung; aber weder hat die Richtung des prometheischen Ausgreifens einen eindeutigen gemeinsamen Nenner, noch ist die europäische Dynamik vermutlich eine völlig einzigartige. Analogien der Suche nach dem Gottesreich, okzidentaler Rationalität, des Freiheits- und Emanzipationsstrebens, des ausgeprägten Individualismus mag es auch in anderen Zivilisationen gegeben haben; kaum aber in ständigen gegenseitigen Auseinandersetzungen und gegenseitigen Relativierungen, die eine Selbstinfrage stellung und Selbstkorrektur immer wieder ermöglicht haben. 9
Vorwort
Aus der Volkswirtschaft kennt man das Phänomen der Erwartungen, die sich mit den Realitäten alles andere als decken, aber dennoch relevant für die Situationsanalyse sind. Beim Beschreiten unerprobter Wege, der Einführung neuer Werte und Kulturtechniken, dem Kampf um die Neugestaltung des Zusammenlebens, bedurfte es einer Geisteshaltung, die den Entschluss, sich vom beherrschenden Kanon des Raums, dem heiligen Mutterboden des Hergebrachten zu lösen, nicht völlig unterbindet, sondern möglich macht. Es mag realgeschicht liche Erklärungen dafür geben, warum das „Abendland“ in der Neuzeit die übrigen Weltkulturen überholte, mit Sicherheit auch Impulse geistiger Art: das Selbstverständnis dieses Aufbruchs wird immer von älteren Inspirationen geprägt. Diesen Weg säumten Missverständnisse oder Missbrauch, und vielleicht gerade deshalb ist der Dialog zwischen dem Denken und konkreten Lebenswelten wichtig; es ist aber alles andere als gleichgültig, worauf sich die Menschen beziehen, wofür sie sich selbst halten. Heute scheint der in seiner Herkunftsregion fragwürdig gewordene Fortschrittsglaube in andere, ‚nachholende‘ Teile der Erde auszuwandern; man versucht dabei auch an Elemente autochthoner Traditionen anzuknüpfen, aber die wesentlichste Wurzel des Fortschrittsglaubens ist zweifellos die europäische. Damit werden die Peripetien des westlichen Glaubens, einschließlich westlicher Irrtümer und Sackgassen, auch zu deren Herkunftsgeschichte. Den chronologisch angelegten Kapiteln wird eine die Problematik klärende theoretisch-bibliographische Überlegung hinzugefügt. Sie enthält Hinweise auf eine Reihe einschlägiger Werke zum Thema, während der eigentliche Text sich mit einem Minimum an Anmerkungen begnügt, die nur gelegentlich die eigenen Ausführungen ergänzen. Auf ein Literaturverzeichnis musste im Hinblick auf den Essaycharakter, aber auch den leider zu groß geratenen Umfang des Buches, verzichtet werden. Bedrich Loewenstein
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I. PRÄFORMATIONEN 1. Prometheus und Ewige Wiederkehr What future bliss, he gives not thee to know, But gives that Hope to be thy blessing now, Hope springs eternal in the human brest; Man never is, but always to be blest Alexander Pope Nur als Heilsgeschichte angeschaut hat die Geschichte unbedingten Sinn. Dieser Charakter liegt freilich in der Tiefe; er kann nicht Darstellungsprinzip werden. Paul Tillich Das Fortschreiten vom Einfachen zum Komplizierten, vom Unbewussten zum Verstandenen, vom Nicht-Können zur Beherrschung kultureller oder technischer Praktiken gehört zu den menschlichen Grunderfahrungen. Es wiederholt sich im Erwachsenwerden der jungen Generationen, das über das organische Wachstum hinaus ein Lernvorgang ist. Erziehung und Ausbildung stellen in jedem Kulturkreis einen Kanon anzueignender Regeln und Fertigkeiten bereit, die die Heranwachsenden Fortschritte zur jeweiligen Gesellschaft der Erwachsenen und zur Übernahme der vorgegebenen sozialen Rollen machen lässt. Diese Fortschritte werden durch ritualisierte Übergänge, Initiationsfeiern mit unterschiedlichen Graden der Einweihung, sichtbar gemacht und dadurch gefestigt. In ihnen versichert sich jede Gesellschaft, gleich ob Buschmänner oder Europäer im Zeitalter der technischen Zivilisation, ihrer Identität: der Geltung ihrer Wertvorstellungen. Fortschritt und Bewahrung stehen in einer engen gegenseitigen Beziehung. Die Gesellschaft ist auf Weitergabe praktischer und symbolischer Wissens bestände angewiesen, und die kontrollierten ‚Fortschritte‘ der Heranwachsenden bewegen sich innerhalb eines festen Werterahmens als Maßstab. Diese Ver11
I. PRÄFORMATIONEN
knüpfung wiegt die physische Schwäche und die zeitliche Begrenztheit des Einzellebens auf – solange die Menschen nicht das Tradierte vergessen, verleugnen und neues Wissen nicht das alte verdrängt. In archaischen Zeiten, die das Individuelle oft als Schuld gegenüber dem statisch verstandenen Ganzen hervortreten ließen, waren die Fortschritte des Lernvorgangs ausschließlich Stadien eines ununterbrochenen Generationswechsels, und dieser nur ein Sonderfall der Wachstumszyklen der Natur. Hier herrscht das Gesetz des Lebensrhythmus, und ‚Fortschritte‘ der einen sind zwangsläufig ‚Rückschritte‘ der anderen. Auch Gesellschaften mit wachsenden Wissensbeständen und Anfängen eines Geschichtsbewusstseins, also eines Wissens um einzigartige Ereignisse, wenn auch in mythischer Verkleidung als Taten von Kulturheroen, leben innerhalb eines unüberschreitbaren normativen Rahmens ihrer kollektiven Repräsentation, die meist das Kosmisch-Bleibende darstellt. Das Sich-Wiederholende, das typischerweise in Symbol, Mythos und Ritus zum Ausdruck kommt, bleibt jedenfalls grundlegender für die Gemeinschaft, als das Neuerworbene; analog ist das Einzelne nur eine zugeschriebene Rolle innerhalb der ewig gültigen Stammesgesetze. Das Unbekannte bricht herein als Verhängnis, und Erzählungen – von der Büchse der Pandora, vom Baum der Erkenntnis – zeigen Misstrauen gegenüber ungebührlicher Neugier und titanischem Vordringen in den Bereich des Unheimlichen. Mit Pandora endet das Goldene Zeitalter: „… ihr entstammte das schlimme Geschlecht und die Reihe der blühenden Frauen“– was man als Einbruch von Geldwirtschaft, Eifersucht und Rivalität in die heile patriarchalische Welt interpretieren mag. Noch die klassische griechische Polis ist misstrauisch gegenüber weiblicher Irrationalität und privater Häuslichkeit, die nicht eindringen darf in die geheiligte Öffentlichkeit, die Männern vorbehalten bleibt.1 Vor allem das Neue ist verdächtig, die traditionelle Ordnung zu destabilisieren. Fortschritt bedeutet Versündigung, auf die die Strafe folgt: Sie erklärt das Elend der Gegenwart. Die Wahrheit ist nicht abhängig von der Zeit, jener „Hebamme, die alles enthüllt“ (Thales): Sie ist das Gleichbleibende, wie die demonstrierbaren Sätze der Geometrie, während das, was wird und wieder vergeht, nur Schattenbilder sind, auf die im besten Fall ein Abglanz der unwandelbaren Ordnung fällt. Auch die beginnende profane Geschichtsschreibung, die sich von der archaischen Vorgeschichte abwendet und das eigenständige menschliche Handeln entsühnt, will mit ihrem Bericht einen Besitz für immer schaffen: die Erkenntnis des Vergangenen ist der Schlüssel für das, was immer gilt.2 Gerade in einem Zeitalter sprunghaft ausgeweiteter Handlungsspielräume und eines offenen Menschentums der klassischen Polis ist die griechische Leidenschaft des Fragens auf das Gesetzmäßige, somit das Sich-Wiederholende, als Voraussetzung jedes Begriffsdenkens gerichtet, während das Einzigartige ver12
1. Prometheus und Ewige Wiederkehr
wirrt, weil es sich unter keine allgemeine Kategorie bringen lässt. Schon Sprache und Zeichen als Mittel der Artikulation setzen Wiederholung voraus; auch das Ritual ist vor allem die Versicherung einer unveränderlichen Ordnung. Platons Utopie will nicht einmal neue Musik zulassen: Man rüttelt nicht straflos an den alten Weisen, ohne dass die Gesetze der Polis Schaden nähmen. Aus demselben Grund soll auch die Dialektik, die Kunst des Widerspruchs, die zur Infragestellung herkömmlicher Werte führen kann, erst nach dem dreißigsten Lebensjahr gelehrt werden. Die ewig gleichen Wellenbewegungen des Lebens, der natürliche Wechsel von Entstehung und Niedergang, musste jedoch den Gedanken nahe legen, ob nicht auch das menschliche Kollektivindividuum analogen Wachstums- und Verfallsgesetzen unterliegt wie seine Glieder. Haben nicht auch Völker und Städte ihre Jugend, ihr Mannes- und Greisenalter? In Platons Timaios werden die Ägypter als alt und die Griechen als „ewige Kinder“ bezeichnet, die sich nicht auf die Antworten der Vorväter verlassen wollen: Das erscheint Platon als fragwürdig. – Von der unbefangenen Kindheit mochte das Zeitgefühl in das des Alterns der Welt, ihrer Erschlaffung und Unfruchtbarkeit umschlagen, wie es insbesondere für die spätere senatorische Geschichtsschreibung der Römer bezeichnend war. Die Herrschaft des Lebensgesetzes lässt Seneca die Lebensalter vom Säugling zum Greis als Stufengesetz der Geschichte Roms verstehen: nach dem Zeitalter der Reife, in dem Rom Karthago besiegte, ist es durch die korrumpierende Wirkung von Erfolg und Luxus ins Greisenalter eingetreten (A. Demandt). Scipio soll nach Polybios angesichts des brennenden Karthago der Zerstörung Trojas gedacht und ein ähnliches Schicksal der eigenen Vaterstadt vorausgeahnt haben. Das organische Leben könnte ein suggestives Denkmuster für das Fortschreiten zu einer ‚reiferen‘ Entwicklungsstufe liefern, auch wenn es logischerweise die Konsequenz von Niedergang und Tod des eigenen als Organismus verstandenen Staatswesens einschließt. Deshalb wird die Metapher oft aufgegeben und platonisch auf ein unwandelbar Seiendes geschlossen. Rom ist für Livius oder Cicero ewig, also aus Werden und Vergehen herausgehoben; nicht anders später der Gottesstaat des Augustinus Aurelius. Inmitten des Vergänglichen gibt es etwas, das Bestand hat und über der ständigen Wiederholung steht. Vollkommenheit kann nur dargestellt werden im Bezug zum Unvollkommenen, als Bezugspunkt, die unvollkommene reale Gemeinschaft bedarf der mythisierten Form als symbolisches Urbild und Garant. Letztlich ist weder das organische noch das utopische Denken mit einer historischen Fortschrittskonzeption vereinbar. Geschichtliche Existenz im eigentlichen Sinn beginnt mit der Erfahrbarkeit von Distanz – räumlicher, zeitlicher, wertmäßiger; mit dem Kreuzverhör der Augenzeugen. Die griechischen Apoikien von Magna Graecia, manchmal mit der 13
I. PRÄFORMATIONEN
Amerika-Erfahrung der Neuzeit parallelisiert (R. Lane Fox), legen den Neubeginn ohne automatische Geltung des Alten nahe: Die eigenen Orientierungen werden durch Fragen und Vergleich relativiert. Das ist eine ungewohnte, verwirrende Erfahrung, die die Beispielhaftigkeit der Tradition bedroht und mitunter die Entstehung willkürlicher Tyrannenherrschaften fördert. Auch der nüchterne Historiker Thukydides will nicht auf die Wirkung kollektiver Symbole verzichten, Bilder militärischer Größe, wie den Auszug der Athener zum sizilianischen Feldzug (416 v. Ch.), die rekonstruierte monumentale Rede des Perikles auf die gefallenen Athener: „Wir sind uns und anderen Vorbild.“ Auch wenn die Beschwörung realgeschichtlich nicht standhält, ja als Hybris verstanden werden kann, wäre es das Schlimmste, „ohne Ruf“ zu sterben, ohne ein zeitübergreifendes Andenken zu hinterlassen. Am meisten fürchtet man die Strafe der damnatio memoriae, des Ausmerzens und Ausmeißelns des Namens missliebig, damit ‚ruflos‘ gewordener Personen – jene kindische Methode des Verdrängens und Vergessens einer peinlich gewordenen Geschichte – mit der man sich der einzigen Chance begibt, über der Vergangenheit zu stehen, also aus Fehlern zu lernen. Wieder jung zu werden, die mystische Suggestion östlicher Aion-Kulte, ist eine analoge törichte Versuchung. Dabei kann die Jugendmetapher über die Doppeldeutigkeit des Lebensbegriffs zu historischen Einsichten führen. Angehörige selbstbewusster, zivilisierter Nationen blicken verächtlich herab auf unwissende, grausame, unfreie Barbaren. Sie mögen ‚von Natur zur Sklaverei bestimmt‘ sein, bieten aber in ihrer Bedürfnislosigkeit, ihrem Kinderreichtum und naturwüchsiger Sittlichkeit auch ein mögliches Kontrastbild zu Verfeinerung und Sittenverfall. Hier machen Reichtum und Luxus die Menschen zu Krieg und Politik untüchtig, dort gilt, dass
…alle die Güter waren ihr Teil, Frucht brachte der nahrungsspendende Boden Willig von selbst (Hesiod).
Das ist die nostalgische Paradiesfigur, ohne Habsucht und Luxus. Platon († 348/347 v. Ch.), der selbst die Maßgeblichkeit des primitiven Beispiels bekämpft, erzählt von den Vorfahren der Athener als armseligen Gebirgsbewohnern, die in Mangel lebten und deren Krieger „alles für gemeinschaftlichen Besitz aller“ hielten. – Dagegen glauben wir Modernen allzu sehr an die Chance des Neubeginns, ja der glückliche Wilde wird in der europäischen Neuzeit zu einer beliebten Waffe gegen die Zwänge der Zivilisation. Diderots Tahitaner ist den Anfängen der Welt, sprich: der Natürlichkeit, nahe, und der Europäer ihrem Alter, dh. dem Niedergang. Griechenland, das Pädagogik analog zur Tier- und Pflanzenzucht begriff, waren Verklärungen der Jugend eher fremd; nur die 14
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Kyniker haben eine Rückwendung zur Kindheit, von der Kultur zur Natur, zumindest als Gedankenspiel, ins Auge gefasst: Die künstlichen Bedürfnisse der hellenistischen Stadt werden durch die Vorstellung vom unverdorbenen einfachen Zustand in Frage gestellt. Entsprechend werden die organischen Metaphern nur rhetorisch eingesetzt, um ein Unbehagen, ein Ressentiment gegen die negativ empfundenen Verhältnisse auszudrücken. Der nachlassenden Gestaltungskraft der Tradition wird die Idee der Frühzeit gelegentlich als Warnung (Van Doren), nicht aber als möglicher Jungbrunnen oder Sprungbrett in eine nicht-dekadente Welt entgegengehalten. Allein im jüdisch-christlichen Chiliasmus gelten die gegenwärtigen Übel geradezu als Zeichen für den nahenden Umschlag, die rerum innovatio. Diese Vorstellung ist im klassischen Hellas unbekannt; trotz und gerade wegen der hohen Kulturleistungen hängt ein unerbittliches Schicksal über den menschlichen Dingen. Die Sterblichen mögen in vieles Einsicht haben, aber über nichts Gewalt, verkündet gleich der erste große griechische Historiker Herodot († 425 v. Ch.); übermäßiges Glück weckt die Missgunst der Götter oder, anders gesagt, führt zum Nachlassen der Wachsamkeit gegenüber drohenden Gefahren. Militärische Tüchtigkeit wird mit Genügsamkeit verbunden, und so legt Herodot dem Lyder Kroisos in den Mund, der Luxus mache aus Männern Weiber. Das Schicksal wird zunehmend als menschenverursacht verstanden und der Pendelschlag vom übermäßigen Glück ins Elend primär als Ergebnis von Verblendung. Geschichtliche Besinnung lehrt solche immer gültige Regeln und will durch den Bericht gegen Vergehen und Vergessen Dauerhaftigkeit stiften; Sakrales und Profanes gehen dabei fließend ineinander über. Die Demokratie ist nirgendwo zielstrebig entstanden, sondern als Ergebnis kontingenter Umstände (H. Leppin), die Regeln der isonomia ergaben sich aus aristokratischem Wettbewerb, der schrittweise auf die gesamte Bürgerschaft ausgeweitet wurde: Vorzug und Ansehen sind in Athen nicht Sache der Zugehörigkeit, d. h. der Geburt, sondern des Verdienstes, erklärt Perikles. Das Gesetz der Demokratie beruft sich nominell auf eine archaische gemeinschaftliche Ordnung, deren Verletzung, Ahndung und Versöhnung das Thema der attischen Tragödie bildet; ihre Basis ist aber nicht das individuelle Gewissen, sondern vielmehr verwandtschaftliche Ehre und Schande. So ruht alle Identität auf gesellschaftlicher Wertschätzung, und Leben bedeutet, in den Augen der anderen zu leben. Deshalb ist die primäre Form des Weiterlebens nach dem Tode eben diejenige im Gedächtnis der Gemeinschaft (J. P. Vernant). Schon Herodot durchbricht häufig diesen Rahmen der patriotisch-mythologisierenden Aufgabe. Der Halb-Karier aus Halikarnassos kennt den Wert griechischer Freiheit, aber weist auch auf erstaunliche Ähnlichkeiten mit Werten der Perser hin, sogar auf parallele Bestrebungen, die Politik zur Sache des gesamten 15
I. PRÄFORMATIONEN
Gemeinwesens zu machen – was ihm die Griechen nicht glauben wollen (L. Canfora). Der Vielgereiste hält sich in seinem Urteil schon deswegen zurück, weil er gelernt hat, dass der Brauch König ist bei den Völkern. Und der aus der Vaterstadt vertriebene Historiker weiß darüber hinaus: „das, was früher groß war, davon ist das meiste klein geworden, und das, was zu meiner Zeit groß war, das war früher klein.“ Er erzählt nicht die Geschichte, sondern Geschichten, und sein Maßstab ist das Relative. Auch wenn man die griechische Freiheit hochschätzt, kommt man kaum auf die Idee, sie bei anderen einführen zu wollen oder gar in ihrer Ausbreitung eine Geschichtsmission zu erblicken. Beim Vergleich der eigenen Kultur mit den Sitten der anderen mag, wie schon erwähnt, die Ahnung aufsteigen, dass das alte Hellenentum nach gleicher Sitte lebte, wie die heutigen Barbaren, über die man sich erhaben dünkt. Dieser Gedankengang deutet ein gewisses Fortschrittsbewusstsein an; doch Thukydides († nach 400 v. Ch.), dem wir diese Betrachtung verdanken, liegt jede optimistische Perspektive fern. Die Überlegenheit der Fortgeschrittenen ist zumindest nicht von Dauer. Mit großer Nüchternheit hatte gerade er den Niedergang Athens im Peloponnesischen Krieg beschrieben, und ein besseres Staatswesen kannte er nicht. Die gnomé, die Fähigkeit zu vernünftig begründeter Voraussicht, ist für den Historiker von eminenter Bedeutung, und die freie Bildung und Verfassung des perikleischen Athen ein Idealbild. Wie alles Menschliche, ist es aber der Irrationalität ausgesetzt – den Leidenschaften, der Depravation und Auflösung. Gerade weil die Wechselfälle der Tyché die menschlichen Dinge letztlich bestimmen und der geradezu naturwissenschaftlich denkende Thukydides glaubt, das, was er beschreibt, werde gemäß der gleich bleibenden Menschennatur immer wieder geschehen, will ja sein Werk ein Besitz für alle Zeit sein. War sich Herodot der Relativität der Kulturnormen bewusst gewesen, so zeigt sich in der 2. Hälfte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts bei den Griechen ein starkes Gefühl kultureller Überlegenheit: die Errungenschaft der freien Polis sticht ab vom asiatischen Despotismus; das eigene Wissen und Können verdrängt das aristokratische Dekadenzgefühl. Reichtum und Macht, eher Sache des Wettbewerbs als ständischer Verfestigung, erscheinen den Athenern sittlich neutral: Sünde, nicht Wohlstand, führt Kummer herbei, lässt Aischylos († 456 v. Ch.) seinen Agamemnon sagen. Wie man innerhalb der Polismauern den Kreislauf der Blutrache unterbunden und der Areopag das Geheul der Erinnyen zum Verstummen gebracht hat, so glauben jetzt manche, die Lebensverhältnisse der traditionalen Macht mythisch-sakraler Ordnung entziehen und politischer Vernunft überlassen zu können; die alten Götter verblassen gegenüber den Kräften menschlichen Wollens und Könnens. Die Fortschritte bleiben jedoch umstritten. In Platons Phaidros wird sogar die Erfindung der Buchstaben in Frage gestellt, weil sich die Menschen dadurch zu sehr auf 16
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die objektivierte Vernunft der geschriebenen Erinnerung verlassen, statt selbst zu urteilen. Es fehlt nie an Zeichen des Niedergangs. „In der Faust liegt das Recht“ hatte Hesiod (um 700) geklagt, „die Scham schwindet dahin und den besseren Mann unterdrückt der Schlechtere.“3 Athen, im Hochgefühl der überragenden Leistungen in vielen Bereichen, verdrängt Hesiods bäuerlichen Mythos vom verlorenen Goldenen Zeitalter und deutet entsprechend die Anfänge der Menschheit nach dem Bild von Homers Kyklopen als kulturlos, armselig, tierähnlich. Kritiker der Demokratie halten dagegen gerade Periklés’ Politik für eine Ursache des Niedergangs: Er habe den Staat aufgebläht und Begehrlichkeiten des Volkes geweckt (Platons Gorgias). Vielleicht war ein Zuviel an Freiheit gefährlich, auch mutete die Demokratie der Allkompetenz ihrer Bürger zuviel zu. Kritias, athenischer Aristokrat († 403) und Hasser der Demokratie, hält das Leben in den Anfängen für gewalttätig und willkürlich: Erst die staatliche Ordnung und die „schlaue Lehre“ der Furcht vor den Göttern habe die Menschen gezähmt. Freiheit hat nur einen Wert unter strengen Gesetzen. Auch ein Demokrit († 370 v. Ch.) zugeschriebener Text lässt die Menschen durch Furcht und Not zu den auxeseis, Verbesserungen ihrer primitiven Lebensweise, gelangen. Das technische Können der Athener ist im 5. Jahrhundert auf einem hohen Stand, und die Meinung der Philosophen, der ‚philotechnos‘ sei minderwertig, weil er nur Wissen anwende, aber nicht verstehe, ist wohl nur das bildungsaristokratische Vorurteil einer Minderheit. Es war weniger die zeitraubende Bürgerrolle, als die große Bedeutung der Sklavenarbeit, die den Kontakt zwischen geistiger und materieller Praxis verkümmern ließen. Man wusste zwar von der Entstehung der Stadt durch Bedürfnis und den Vorzügen der Arbeitsteilung, aber das Ideal der Allseitigkeit würdigte kein Spezialistentum; es fehlten vermutlich auch die Antriebe für eine Weiterentwicklung in den meisten Bereichen. Nach der Niederlage im Peloponnesischen Krieg (404) dessen Sieger nicht Sparta war, sondern Persien, ging der Krieg zwischen den Poleis weiter; Athen, die Schule von Hellas, war auf sich zurückgeworfen und verarmt. Die weitgetriebene Vernunft zieht sich von der Agora in den Hain des Akademos zurück.4 Man hatte in der klassischen Periode gewusst, dass die Menschen nur durch die technai – von der Staats-, Kriegs- und Heilkunst bis zum Können der Handwerker – „die Oberhand gewinnen, wo sie von Natur unterlegen sind“ (Antiphon). Die Griechen haben sich um die Erfinder gestritten, sie haben sie oft sogar vergöttlicht, auch wenn sie fremder Herkunft waren. Die Geschichte vom Betrüger Prometheus, dem ‚Vordenker‘, wurde umgedeutet in eine Fortschrittserzählung über den Ausgang der Menschen aus Unwissenheit und Elend: Die Zivilisation ist ein Geschenk titanischer Voraussicht. Aber die Geschenke haben sich als ambivalent erwiesen; ohne Gerechtigkeit und Scham 17
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hat das Gemeinwesen keinen Bestand. Der Satz des Parmenides: „Aller Dinge Maß ist der Mensch“ beklagt möglicherweise eine unangemessene anthropomorphe Perspektive. Bloße deinotes, Gewandtheit, lässt auch die größten Erfolge in Verderben umschlagen. Vollkommenheit beruht weniger auf technischer Macht und Perfektion, wie auf harmonischer Einbindung in die bestehende Raumordnung. Die menschliche Bestimmung ist primär die Polis, ihr Recht und Gesetz: „stadtlos ist er, der verwegen das Schändliche tut“ (Sophokles). Verstöße ziehen unweigerlich Strafe und Buße nach sich, wie der ionische Philosoph Anaximander wusste, wenn die Dinge ihre natürlich vorgegebene Bahn verlassen. „Auf das Gesetz nur gründet das Gute der Mensch, baut er Beständiges auf“, mahnt der Gesetzgeber Solon. Maßlosigkeit, Habgier und privater Luxus haben nun das natürliche Chaos wiederkehren lassen (Paul Veyne). Die große Zeit der Polis war vorüber: War sie nicht schuld an den unaufhörlichen innerhellenischen Kriegen, und hatte sich nicht der Verdacht des Kalliklés bestätigt, es sei nur die große Masse der Schwachen, die zu ihrem Nutzen Gesetze gibt und Lob und Tadel erteilt? Zweifel an der Freiheitsfähigkeit der Vielen, sei’s der Armen, Sklaven, Frauen oder Fremden, lassen die Poleis, statt der Erweiterung partizipatorischer Rechte, exklusiver werden; die hellenischen Großstädte, vom Luxus der Diadochenhöfe bestimmte Agglomerationen, eröffnen ein neues Kapitel. Menschengeschichte ist unvermeidlich mit Wandel und Kontingenz verbunden und Teilhabe am Wesentlichen und Dauerhaften böte allein der platonische Blick aufs göttliche Urbild; sich diesem anzunähern ist aber für die Griechen kein Geschichtsziel. Der große Staatsmann Periklés hatte den Athenern durch grandiose Unternehmungen den Kopf verdreht, statt Maß zu halten, wie ihm Sokrates vorwarf. Gerade hohe Kultur ist immer von Auflösung bedroht; zumindest stoßen die menschlichen Leistungen an Grenzen. Sind sie nicht schon früher bekannt gewesen? Die prokopoi (Fortschritte) erscheinen manchen als Rückbesinnungen auf Früheres oder Verborgenes. Die geistigen Durchbrüche des fünften Jahrhunderts werden aber selbst fragwürdig; schließlich hat sich das vergleichsweise archaische Sparta durchgesetzt und das athenische Überlegenheitsbewusstsein als Selbsttäuschung erwiesen. Der Neuerungssucht scheint der Atem auszugehen, wenn auch der Glaube an die technai, die Anwendung des methodischen Sachverstandes auf allen Gebieten, nicht auf einmal erlischt. Aber es gibt Zweifel. Ruhte nicht die Lehre der Sophisten von der Konventionalität des Gerechten und vom Menschen als Maß aller Dinge auf fragwürdigem Grund? „So sei denn insbesondere die ganze Gesetzgebung nicht Sache der Natur, sondern der Kunst, daher entbehrten denn ihre Satzungen der eigentliche Wahrheit“, lässt Platon einen Athener in seinen Gesetzen sagen. Die Kunst ist das Unsichere gegenüber der immer gleichen 18
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Natur, von der sich der Mensch sträflich entfernt hat. „Über Verhoffen begabt mit der Klugheit erfindender Kunst“, ist gerade deshalb „nichts unheimlicher als der Mensch“, warnt der Chor in Sophokles’ Antigone. Wie sich die griechische Geschichtsschreibung zu keinem übergreifenden Gesamtprozess formt, so bildet das ‚Könnensbewusstsein‘ (Christian Meier), das von unzähligen Einzelleistungen ausgeht, keine Zukunftsperspektive, die die einzelnen prokopoi bündelt zum Ziel verbesserter Handlungsmöglichkeiten. Es ist nicht allein die Sklavenarbeit, die das Interesse an mechanischen Verbesserungen verkümmern lässt (dass die „Weberschiffchen von selbst weben“) und sie als bloße „Überlistung der Natur“ abwertet. Angesichts unsäglicher Grausamkeit, Hass und Zerrüttung in Krieg und Bürgerkrieg misstraut man der Fähigkeit der Polisdemokratie zur Zähmung und Höherbildung durch Partizipation und Wort, ja man glaubt an einen ursächlichen Zusammenhang von Arbeitsteilung, Luxusbedürfnissen, inneren Wirren und Krieg, wie es Platons „Staat“ formuliert.5 Der Krieg, ein „gewalttätiger Lehrmeister“, hält dem Menschen einen Spiegel vor und stellt alle seine Errungenschaften in Frage: die Wiederkehr des Chaos. Der Redner Lysias († 380 v. Ch.) prangert, für uns vertraut, die Neureichen an, die jedes Land für ihr Vaterland halten, in dem sie wirtschaftliche Vorteile finden, „denn sie sehen ihr Vaterland nicht in der Stadt, sondern im (Geld-) Besitz“. Parallel wächst die Schicht des ochlos, des Pöbels. Aus ihm werden ebenso heimatlose Söldner geworben, die allein ihrem Anführer gehorchen, und die zur Untergrabung der guten Raum-Ordnung beitragen. So wird der alte Topos von der Unbeständigkeit des Glücks wieder geläufig; unter der alten Formel des Neids der Götter kommen die zerstörerischen, auch umweltzerstörerischen, Impulse des Menschen zutage.6 Es gibt weiterhin große Leistungen in Einzelbereichen: die Griechen scheinen aber seit dem traumatischen Erlebnis des Peloponnesischen Kriegs den Glauben an die Vereinbarkeit von techné und Gerechtigkeit verloren zu haben. Die Hoffnung auf eine Zivilisierbarkeit der Macht schwindet in der Realität entpolitisierter hellenistischer Monarchien mit ihrem orientalischen Herrscherkult, ihren Riesenarmeen und abhängigen Beamtenschaften. Der Krieg war für das Image der Diadochenfürsten von zentraler Bedeutung, nicht zuletzt als Faktor des Wirtschaftslebens (Lane Fox). So wird die grausame Strafe, die den Neuerer Prometheus im Mythos trifft, im mutlosen Gegenwartshorizont wieder nachvollziehbar; ein Grenzbewusstsein, das man in den Jahrzehnten des Aufbruchs, der griechischen „Achsenzeit“, verdrängt hatte, wird in der von konservativen Führungsschichten bestimmten Stadt Mode. Die Tugenden, die man in der Gegenwart vermisst, werden archaisierend in eine heile Vergangenheit projiziert, sogar in barbarische Nachbarvölker: Exotische Reiseromane (Iambulos) lassen das Gewünschte als fiktive Realität erscheinen. Lehren von der Ewigen 19
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Wiederkehr finden im Zuge des hellenistischen Synkretismus mit den Kulturen des Ostens wieder ein breites Publikum. Die oberflächlich gräzisierten kosmopolitischen Großstädte, mit Gymnasien, nicht der Agora als Mittelpunkt, bilden austauschbare Gebilde, in denen die Tradition musealisiert, aber kaum mehr gelebt wird. Die Griechen kannten also durchaus das Leitbild der Wandlung zum Besseren als Ergebnis menschlichen Könnens. Schon von Xenophanes († 470 v. Ch.), der den ewigen Kreislauf des göttlichen Einen verkündete (ebenso wie den „aufklärerischen“ Gedanken, die homerischen Götter seien bloße Produkte menschlicher Phantasie), ist die Idee überliefert, die Götter hätten den Sterblichen nicht von Anbeginn alles Wissen offenbart, sondern „erst allmählich finden diese suchend das Bessere“. Aber war es wirklich das Bessere? Und: sie verlieren es auch wieder. Das kulturelle Vorankommen bleibt dem kosmischen Gesetz der Zyklen und der sich wiederholenden Katastrophen unterworfen. Insbesondere die Stoiker lassen die Kataklysmen und ständigen Wiedergeburten in der Regel aufeinander folgen und alles Geschehen sich in etwa wiederholen.7 An den Verfassungen zeigt sich dasselbe Gesetz. Der Systematiker Aristoteles († 322v. Ch.), für den „in allen Dingen etwas Natürliches und Schönes“ enthalten ist, verzichtet nicht auf normative Maßstäbe, wie die Unterscheidung von guten und entarteten Verfassungsformen, von politischer und despotischer Herrschaft, die Verurteilung der pleonexia, des unmäßigen Gelderwerbs als Selbstzweck, oder die einseitige militärische Ausrichtung Spartas, das die Bürgergemeinschaft zum Militärlager degradiert. Die beste Verfassung ist diejenige, die eine Vervollkommnung des Lebens ermöglicht. Aber wie das Gute verschieden ist nach Zwecken und es unterschiedliche Formen „wesenhafter Tüchtigkeit“ gibt, so empfiehlt er statt des platonischen Abbilds ewiger Urbilder eher die zweitbeste, ‚hippokratische‘ Lösung – die stabile Mischform der Politeia. Gewiss passt keine Verfassung für alle, aber die Norm der eudaimonia, des tugendhaften und glücklichen Lebens, steht über allen. Der Erkenntnisfortschritt durch Anhäufung von Wissen von Generation zu Generation kommt in Aristoteles’ eigenem Riesenwerk evident zum Ausdruck, aber bleibt historisch folgenlos, wie sich überhaupt seit dem 4. vorchristlichen Jahrhundert die antihistorische Tendenz des griechischen Denkens wieder verstärkt (Collingwood). Bei der Untersuchung der schleichenden oder plötzlichen Verfassungsänderungen überwiegt der Niedergang – das Umschlagen von Demokratie in Tyrannis, von gemäßigter Demokratie in eine exzessive, in der sich das Volk willkürlich über die Gesetze erhebt. Die guten Verfassungen sind in der Regel die früheren, während das Gemeinwesen sogar von denjenigen gefährdet wird, die mit plötzlichem Aufblühen eine Störung des bestehenden Gleichgewichts, der Autarkie, der stabilen Bevölkerungszahl, bewirken. 20
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Der große Organisator wissenschaftlicher Forschungen, der den Schutz der makedonischen Militärmonarchie genoss (und eben deshalb noch ein Jahr vor seinem Tode Athen verlassen musste), zog das Maßhalten, die metropatheia, der apatheia unterdrückter Leidenschaften vor: Ohne Leidenschaften gibt es kein geordnetes Leben in der Gesellschaft. Aristoteles war sich der Entartung der freien Polis bewusst, aber auch der Tatsache, dass der schlechteste Mensch derjenige ist, der ohne Gesetz und Recht lebt: Das Schlimmste ist Ungerechtigkeit, wenn sie Waffen besitzt, und mit uneingeschränkter Macht droht die Herrschaft des Tiers. Der Niedergang des Stadtstaats wurde von den Philosophen selten betrauert; die Polis galt vielen (Zenon von Elea † 264) wegen ihrer sozialen, politischen und ethnischen Schranken als minderwertig, zumindest gegenüber der geistigen Gemeinschaft der Weisen. Der erweiterte Horizont, die Öffnung der Polis zur Kosmopolis, der politische Wertewandel vom geschlossenen Gemeinwesen zum „Menschen als Gemeindegenossen und Mitbürger“ (Plutarch) hätte einen Anstoß zum Denken in positiven Entwicklungslinien geben können. Der hellenische Geist, der sich seit Alexander dem Großen die Ökumene unterwarf und insbesondere im ptolemäischen Alexandria einen glänzenden Schwerpunkt fand, hatte eine äußerlich imponierende übernationale Zivilisation geschaffen. War nicht dadurch das Individuum aus den Zwängen der Polis befreit worden und war nicht im emphatischen Begriff des Menschen (statt des Bürgers) eine übergreifende Wertvorstellung entstanden, die erstmals Griechen und Asiaten, Freie und Sklaven, Männer und Frauen, verband? Bei näherem Zusehen erweist sich das als nachträglich hineingelesene Idealisierung. Das Menschenbild des Hellenismus war skeptisch-kynisch relativiert und privatisiert, das angehäufte Wissen spezialisiert und musealisiert, so dass es durch seine schiere Fülle, so vom Dichter Kallimachos, geradezu als Unglück empfunden werden konnte. Riesige Städte bildeten natürlich einen Impuls für Landwirtschaft, Handwerk, Handel und Schifffahrt, auch für Medizin, Mathematik, Architektur, Ingenieurwesen. Einzelne Wissenschaftler und Schriftsteller, nicht zuletzt Erfinder, wurden von Herrschern, schon im Interesse von Macht und Repräsentation, protegiert, gelegentlich aber auch vertrieben. Der Pharos von Alexandria galt als eines der Weltwunder. Die Bibliothek des dortigen Museion enthielt eine halbe Million Buchrollen aus vielen Wissensgebieten. Eine übergreifende Menschheitsperspektive hat sich aber auf der Basis eines müden Epigonentums und entbürgerlichten Spezialwissens nicht entwickeln können. Der Verlust der Polis war nicht zuletzt der Verlust eines überschaubaren Raums, in dem aktive Mitwirkung möglich gewesen war; jetzt sah sich der einzelne auf seine Privatheit zurückgeworfen, während das Ganze sich rationaler und moralischer Beurteilung entzog. 21
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Diese eifern um Ruhm in Böses wirkendem Ehrgeiz, Jene wollen Gewinn und kennen nicht Ordnung noch Fügung… Frieden erlangt nicht einer, und streben doch hierhin und dorthin, Ja, ihr Bemühn, es findet als Lohn nicht das, was sie wollen,
klagte der stoische Philosoph Kleanthes († 232 v. Ch.) Die Stoiker hatten eigentlich die Zeit und den Zufall zugunsten des göttlichen Logos aus ihrem Weltbild ausmerzen wollen, aber das war nur durchführbar, wenn sich der Weise aus der feindlichen Welt zurückzog und durch die Beschränkung auf das Selbst beruhigte. Der Historiker Polybios († 120 v. Ch.) war stoisch gebildet, und wenn er die großen Ereignisse beschrieb, sah er die tyché am Werk, „die mit unserem Leben keinen Vertrag schließen will“, unsere Berechnungen über den Haufen wirft und „ihre Macht gerade im Unerwarteten offenbart“. Damit wird aber gerade Polybios’ romzentrierte Geschichtsperspektive relativiert und der unerbittlichen anakyklosis, dem Gesetz des ständigen Verfassungswandels, unterworfen. Der Sohn eines achäischen Strategen war als langjährige Geisel vom Patrioten des eigenen Landes zum Bewunderer Roms und dessen gemischter Verfassung geworden. Der Freund Scipios d. J. und Zeuge des Untergangs Karthagos (146 v. Ch.) verachtete als Pragmatiker idealistische Konstruktionen und rhetorische Effekte, sondern wollte verlässliche politische Belehrung aufgrund nüchterner Einsicht. Doch ließ er sich von der quasi-hegelianischen Idee faszinieren, der Fortgang zum Besseren ließe sich als Verwandlung des römischen Wolfs in einen platonischen Wachhund (Toynbee) deuten: die Herrschaft Roms als Geschichtstelos. Rom bringt der Welt den Frieden; die Versuchung bot sich an, im Imperium eine Art Vollzug der Weltvernunft zu sehen. Die Aussicht war zur guten Hälfte Wunschdenken. Rom hatte durch die Erfahrung der Königsherrschaft mit dem Begriff der res publica den Schutz vor Willkür verbunden und dem aristokratischen Senat plebejische Institutionen (sowie Aufstiegschancen) hinzugefügt; Freigelassene konnten Vollbürger und besiegte Städte Verbündete werden. Gegenüber zu ehrgeizigen Feldherren herrschte nur allzu berechtigtes Misstrauen, und die immer weitergehende Expansion (seit der Schlacht von Magnesia 190 v. Chr. auch im Osten) veränderte sich die innere Struktur der Republik. Ein Jahrhundert nach Polybios wird Poseidonios († 50 v. Ch.), der dessen Werk fortsetzt und versucht, die gesamte ihm bekannte Menschheit in sein Geschichtsbild einzubeziehen, schon überzeugt sein von der unwiderruflichen Dekadenz, der Gewissheit des Scheiterns.8 Gegen diese Perspektive hatte Cicero, Konsul des Jahres 63 v. Ch. und erfolgloser Verteidiger der alten republikanischen Verfassung Roms, die in dieser enthaltene bürgerliche Ordnung, der gewachsenen ratio rerum civilium, hochgehalten. Die Fortschritte (progressus, eine Übersetzung von prokopé), die sich aus 22
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Zufall, Not und schöpferischen Krisen ergaben und sowohl die agri cultura als auch die cultura animi einbegreifen, führen dennoch zu einer Ordnung, die in seiner Vorstellung keinem polybianischen Kreislauf unterliegt. Sie ist für den athenisch Gebildeten keine willkürliche, sondern beansprucht, irdisches Abbild der kosmischen Ordnung zu sein. Dazu gehört – wie bei Aristoteles – die Herrschaft über diejenigen, die der Selbstregierung unfähig sind. Der Herrschaftsanspruch kann allerdings verspielt werden, wenn Rom gegen die ererbten Grundlagen des Konsensus und des Sittengesetzes verstößt und seine legitime Herrschaft in bloße Gewalt ausartet. Tatsächlich hatten Misswirtschaft und Willkür, steuerliche Auspressung der Provinzen durch eine dünne römische Oligarchie – nach den Worten Theodor Mommsens – den verbreiteten Eindruck eines „unsäglichen Elends über alle Nationen vom Tajo bis zum Euphrat“ aufkommen lassen. Recht und Frieden waren schon immer relative Begriffe, aber diesen Zustand mit vernünftiger Vorsehung in Verbindung zu bringen, konnte nur einem Nutznießer des römischen Herrschaftssystems in den Sinn kommen. So mancher Hellene zählte zu ihnen: Victi victoribus leges dederunt, die Besiegten werden zu Gesetzgebern (Seneca † 65 n. Ch.). Die Hellenisierung war in Rom nicht unumstritten, ja ein Senatsbeschluss wollte die griechische Philosophie als potentiell zersetzende Kraft und Gefahr für die altrömische praktische Tugend verbannen. Aber die stoische Ethik fand durchaus Anklang bei der römischen Oberschicht; ein adaptiertes griechisches Denken sollte der Republik eine unumstößliche naturrechtliche Basis liefern. Im 2. Jahrhundert n. Ch., einer relativ langen Glanzzeit, besang wieder ein Grieche, der Rhetor Ailios Aristides, das Friedensreich in einem Hymnus. „Die Besiegten beneiden und hassen die Siegerin Rom nicht. Die Erde ist durch Rom zur Heimat geworden.“ Ähnliche Gedanken äußerte noch der Gallier Pompeius Trogus, für den Rom die Nachfolge der vorangegangenen Weltreiche angetreten und allgemeinen Frieden unter den Völkern hergestellt hatte (nach W. Kranz).9 Der Geograph Strabon († 19 n. Ch.) beschreibt die Segnungen der Pax Romana anhand von Lusitanien, einem potentiell reichen Land, das die dortigen Stämme durch Krieg und Raub zerrüttet hatten; erst mit den römischen Legionen seien Frieden und Wohlstand eingekehrt. Ein weiteres Beispiel für die Rom-Idee liefert der Offizier und Naturwissenschaftler Plinius d. Ä., der bei einem Feldzug im Jahre 47 n. Ch. über die friesischen Chauken urteilt, manche habe das Schicksal nur „verschont, um sie zu strafen“. Von Rom unterworfen zu werden, bedeutet Fortschritt durch Einbeziehung in die Ökumene (nach Demandt). Die Unterworfenen teilten diese Perspektive selten. Andere, wie Sallust († 35 v. Ch.), Volkstribun und Gefolgsmann Cäsars, hatten von einem bestimmten Augenblick an den Aufstieg Roms in Frage gestellt. Ohne äußere Gegner, die die Römer bis dahin zu militärischer Tüchtigkeit und Diszip23
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lin gezwungen hatten, „fing das Glück an zu wüten und alles zu verwirren… So wuchs denn zuerst die Sucht nach Macht und danach die nach Geld, und beides wurde gewissermaßen die Quelle aller Übel.“ Habsucht, Überheblichkeit, Grausamkeit, Bestechlichkeit griffen wie eine Seuche um sich, und Macht wurde nicht als Verantwortung für die Res publica verstanden, sondern vielmehr als „Möglichkeit, nach Belieben Unrecht zu tun (Verschwörung des Catilina). Lassen wir beiseite, dass Sallust selbst durch zweifelhafte Methoden ein großes Vermögen erworben hatte und auch erst nach seinem erzwungenen Ausscheiden aus der Politik zum – parteiischen – Schriftsteller geworden war. Ursachen der Krise der Republik waren andere als die von ihm beschworenen: der Niedergang der Kleinbauern durch das Einströmen von Sklavenarbeit in die Landwirtschaft; die Machtfülle ehrgeiziger Politiker auf der Basis der Beherrschung und Ausplünderung einzelner Provinzen. Ein Zusammenhang zwischen alten Sitten und außenpolitischen Erfolgen des Reiches gehörte jedoch seit Cato zu den Topoi römischer Publizistik, und ein kulturkritischer Ton in erzieherischer Absicht überwog auch in der Geschichtsschreibung. Es fehlte nicht der Stolz auf das vermeintliche imperium sine fine (Vergil), auch nicht Träume von der einzigen Stadt, in der Weisheit und Eintracht herrschen, wohl aber die von Eliten und einer breiten Bevölkerung gleichermaßen getragene Reformperspektive. Octavians Prinzipat brachte die Befriedung nach dem Bürgerkrieg, auch unter seinen weniger fähigen Nachfolgern herrschte, trotz turbulenter Oberfläche, weitgehende Akzeptanz der bestehenden Ordnung. 212 wurde das römische Bürgerrecht auf alle Einwohner des Reiches ausgedehnt. Ohne eigentlich subjektive Rechte zu kennen, genossen sie für lange Zeit einen weitgehenden Rechtsfrieden (Leppin). Euripides hatte einst die Zeit als die Mutter der Gerechtigkeit bezeichnet: Sie brachte alte Schuld (die Wahrheit, das ‚Entborgene‘) an den Tag. Unter den Cäsaren wäre es den Philosophen und Rhetoren auch ohne in die Klagen der senatorischen Geschichtsschreibung einzustimmen, absurd erschienen, sich mit Zukunftsperspektiven abzugeben: Die Weisheit kann nur lehren, die bestehende leidliche Ordnung zu erhalten, die Wechselfälle standhaft zu ertragen, sie allenfalls durch rückwärtsgewandte patriotische Geschichten nach Art des Vergilius oder Livius moralisch zu festigen. Das römische Recht bedeutete in der Praxis durchaus eine Versachlichung der Entscheidungen; es gab auch sozialen Aufstieg und Integration der Bevölkerung annektierter Gebiete, Bemühungen um eine Versorgung nicht nur der Veteranen, sondern auch von Waisen und Armen; sogar um eine rechtliche Milderung der Sklaverei. Aber die Anläufe blieben kurzlebig; bei Zeitgenossen verfestigt sich inmitten von privatisierendem Wohlleben und städtischer Pracht der Eindruck, „dass wir weder unsere Laster noch die Heilmittel dagegen ertragen können“ (T. Livius).10 Marc Aurel († 180 n. Ch.) hielt es für falsch, „auf Platons Staat zu hoffen“, d. h. 24
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eine ideale Lösung zu erwarten; seine eigene edle Idee, den Menschen als „Bürger des höchsten Staates“ einzusetzen, „von dem die übrigen Staaten gleichsam die Häuser sind“ (Selbstbetrachtungen), eine stoische Quelle der späteren ZweiStaaten-Lehre des Augustinus, blieb ohne direkte politische Relevanz. Rom hat wohl auch unter den Kaisern den typischen Charakter der antiken Stadt als exklusiver Krieger- und Kultgemeinschaft nie ganz abgestreift. Es war imstande, Besiegte in Verbündete zu verwandeln; auch die Ausweitung von Bürgerrechten bedeutete aber keine politische Mitsprache, sondern vor allem die Verpflichtung zum Militärdienst. Wirtschaftliche Monopolinteressen der Hauptstadt ließen gleichfalls keine wünschenswerte Gemeinschaft vollberechtigter Bürger aufkommen: Das Bündnis zwischen Staatsallmacht und einem aus den Provinzen versorgten Pöbel erstickte jeden Bürgersinn. Dem unbestrittenen Fortschritt, die städtische Mittelmeerkultur, die römischen Institutionen und Rechtspraktiken auf den barbarischen Westen übertragen zu haben, steht die Tatsache gegenüber, dass die Militärkolonien nur der Sicherung des Imperiums und der Versorgung der Veteranen dienten und Provinzen im Prinzip als auszubeutende Hilfsquellen zugunsten Roms und seiner Armee galten. Die Städte der Provinzen, die sich mit römischen Proletariern und italischen Landlosen füllten, wirkten wie „schmarotzende Drohnenhaufen“ (Rostovtzeff), und waren, im Unterschied zum neuzeitlichen Europa, nur begrenzt imstande, als wirtschaftliche und kulturelle Integrationszentren ins Land hineinzuwirken.11 Das grandiose Straßennetz des Imperiums, militärisch bestimmt, war für den Fernhandel nutzlos, sodass Städte, die über keine Seeverbindung verfügten, agrarischen Charakter behielten. Trotz der meist praktizierten Toleranz gegenüber den Göttern der Besiegten und einer gewissen Schmelztiegelwirkung, ist die auf Münzen und anderen Inschriften propagierte Sendungsidee Roms als Rechts- und Friedensverbund letztlich Ideologie geblieben. „Bei den Unerfahrenen hieß es Kultur, während es ein Teil der Knechtschaft war“, urteilt Tacitus († 115 n. Chr.) über die ansonsten bewunderte Tätigkeit seines Schwiegervaters Agricola in Britannien. Die Realität der Munzipien wurde durch quasifeudale Klientelbeziehungen des Amtsadels, steigende steuerliche Belastungen und Militärwillkür bestimmt, auf dem Lande trat neben den gutsherrschaftlichen Sklavenbetrieb das schollengebundene Kolonat. Geschichtskompilationen, wie die des Poseidonios oder des Appianus (2. Jahrhundert n. Ch.) waren in ihrer Konzeption insofern neu, als sie Ägypter, Assyrer, Griechen, Gallier und weitere Völker der Peripherie der römischen Geschichte einverleibten. Die erweiterte Bühne offenbarte aber nur die recht geringen Handlungschancen der einzelnen; Stagnation, Auflösung und Demoralisierung in der späten Kaiserzeit haben keine „römische Menschheitsgeschichte“ als Metaerzäh25
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lung mit gemeinsamem Erwartungshorizont entstehen lassen. Seneca hatte die barbarischen Völker mit Löwen und Tigern verglichen, die weder zu dienen noch zu herrschen vermögen. Eine spätere Alexanderbiographie wendet den Mangel ins Positive und legt einem Skythen die Worte in den Mund: „Dienen können wir niemandem und zu herrschen wünschen wir nicht.“ Es mag trotzdem sein, dass die Barbaren, die auf die Reichsgrenzen drückten, Rom nicht zerstören, sondern primär an seinem Wohlstand teilhaben wollten. Tacitus († 120),im allgemeinen eher an Beispielen von Tugenden und Lastern, als an den Fakten interessiert, wollte die Germanen umgekehrt kaum als Vorbild für seine Römer darstellen, sah aber im Fehlen von Gesetzen bei diesen einen Vorteil gegenüber der korrupten städtischen Zivilisation: Die guten Sitten bedürften keiner künstlichen Stützen. Damit ließ sich aber im wörtlichen Sinn kein Staat machen. Man kennt exemplarische Einzelleben, wie die pietätvollen parallelen Biographien des unter Trajan wirkenden Plutarch († 120 n. Ch.), meist je eines Römers und eines Griechen, jedoch: „ich schreibe Biographie, aber keine Geschichte“: Episoden, sekundäre Historien, nicht übergreifendes Gesamtgeschehen. Den praktischen, aber grundkonservativen Römern fehlte der positive Sinn für den cursus temporum (ebenso wie für Würde und Bedeutung angewandter Naturkenntnis). Über das griechische Erbe hinaus kannten sie eine große Zahl technischer Verbesserungen in Künsten und Handwerk – vom Fensterglas und dem Prinzip der Dampfmaschine bis zum Tonnengewölbe, der Zentralheizung und sogar einer Vorform der Mähmaschine. Aber sie fanden letztlich zu wenig Bedarf, um eine „industrielle Zivilisation“ einzuleiten. Auch von der Waffentechnik war man sich der Ambivalenz vervollkommneter Mittel (Fernwaffen) bewusst, was sich noch stärker auf Verfeinerung und private Luxusbedürfnisse bezog – öffentliche Verschwendung wurde hingegen toleriert. Umstritten blieb, ob etwa der Sieg der Philosophen über die Furcht vor den Göttern mit Epikur als Befreiung zu feiern oder mit den Nostalgikern als Zeichen des Sittenverfalls zu beklagen war. Trotz großer Tüchtigkeit in vielen Bereichen und vieler Anstrengungen zur Überwindung der sich häufenden Krisen des Reichs durch effizientere Verwaltung und Mobilisierung aller Kräfte, war den Römern das alte Bewusstsein von der Unbeständigkeit des Glücks (und damit der Zeit) immer gewärtig. Eine Naturkatastrophe, ein unglücklicher Krieg, Wirren und Seuchen konnten zerstören, was Generationen zuvor geschaffen und angesammelt hatten, manchmal auch den Bericht der Kompilatoren und Wissenssammler von der Art des Galenos († 199 n. Ch.), Plinius († 79 n. Ch.) oder Ptolemaios († nach 160 n. Ch.) – und damit sogar das Bewusstsein des Verlusts: Ein Großteil der alexandrinischen Bibliothek wurde nicht erst von den islamischen Eroberern, sondern schon von Julius Cäsars Soldaten in Brand gesetzt. 26
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Mit der Erfahrung der Brüchigkeit der Zivilisation gingen Zweifel an ihrem Wert einher; die Zerstörung der Dorfgemeinschaft zugunsten der wuchernden Städte und ihrem käuflichen Pöbel wurde schon lange als verhängnisvoll für die römische virtus und den Zusammenhalt des Gemeinwesens angesehen. So mochten noch die barbarischen Plünderungen und Zerstörungen der Spätzeit des Imperiums als Rache der Bauernsoldaten aus der Provinz an den parasitären Städten verstanden werden. Hatte in der Epoche der Polis als Ordnungszentrum gegolten, dass „einer, der an den politischen Dingen keinen Anteil nimmt, nicht als stiller Bürger gilt, sondern als schlechter“ (Periklés’ Leichenrede), so verstärkte sich in den Jahrhunderten ohne Polisbezug und politische Handlungsmöglichkeiten das Desinteresse am Gemeinwesen. Plutarchs Meinung, die Tätigkeit für den Staat stelle die höchste Form der Selbstverwirklichung dar, blieb blasse Theorie gegenüber der zunehmenden Neigung der Oberschicht zu einem Leben in Kombination von Privatgenuss und Weltverachtung, gemäß Epikurs Empfehlung, der Weise solle sich nicht am öffentlichen Leben beteiligen. Auch Polybios’ pragmatische Geschichtsschreibung lehrte nicht in erster Linie politische Fehler zu vermeiden, sondern eher das stoische Ertragen von Schicksalsschlägen. Der Epikureer Lucretius, von dessen Leben wir leider kaum etwas wissen, eine Ausnahmeerscheinung insofern, als er – im ersten vorchristlichen Jahrhundert – scharfsinnig das Vorankommen der Menschheit durch Naturkenntnis und Erfindungen darstellt: auch er, der das Bild des „Fackellaufs der Völker“ gebraucht, ist sich jedoch der Ambivalenz des Fortschreitens sehr wohl bewusst: Statt Stolz und Willkür, modischer Verfeinerung und Weisheit aus zweiter Hand, hätte er es vorgezogen, die Leidenschaften zu beherrschen. Er braucht keine Götter, um zu verstehen, dass ein Mensch, der einen Gipfel erreicht, durch den Neid von Konkurrenten oder die eigene Verblendung stürzt. Von Späteren als „Kämpfer gegen die Weltangst“ gerühmt, kennt Lucretius weder Geschichtsteleologie noch Zukunftshoffnungen, sondern entwirft sein Weltbild nach dem Muster ständig wechselnder Atomkombinationen. Der Mensch und seine Schöpfungen, auch Himmel und Erde, Luft und Feuer, unterliegen dem unaufhörlichen Werden und Vergehen. Die Zeit ist gebrochen, heißt es an einer anderen Stelle seines unvollendeten Lehrgedichts, und durch Alter müde geworden, gehen alle Dinge dem Grab und Tod entgegen. Die antiken Erzählungen summieren sich zu keinem „Gesamtmythos“, und ebenso wenig die einzelnen praktischen, technischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu einer einzigen ‚Erfolgsgeschichte‘ mit Ausblick auf menschliche Herrschaft über die Natur. Das hängt mit dem humanistisch-rhetorischen Charakter der Bildung und der Werteskala des Großteils der tradierten Literatur zusammen. Das Praktische und Technische gilt, auch aus Gründen, die mit Macht 27
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und Sozialprestige zu tun haben, als unmaßgeblich für die Zeitdiagnose. Schon der geniale Mathematiker und Physiker Archimedes († 212 v. Ch.), der für seine Syrakuser allerlei Kriegsgerät erfand, hielt die Arbeit des Mechanikers und alles, was der bloßen Befriedigung des Lebensbedarfs dient, für niedrig und vulgär. Werke wie Vitruvs (1. vorchristliches Jahrhundert) über Architektur oder des Frontinus, Direktors der römischen Wasserversorgung, über Aquädukte, verraten präzise Kenntnisse und Sinn für angewandte Wissenschaft, aber es fehlt, von der Neuzeit her gesehen, das Milieu einer erfolgreichen, selbstbewussten städtischen Mittelschicht. Der antike ‚Kapitalismus‘ lebte, wie Max Weber bemerkte, von staatlichen Präbenden, Steuerpacht, Amtssporteln, Bodenspekulation eher als von Handelsgewinn; die Schicht der Freigelassenen, an sich ‚friedliche Erwerbsmenschen‘, blieben Bürger zweiter Klasse, denen der Zugang zu Ämtern, Staatsliefergeschäften und den übrigen typischen Formen antiker Kapitalbildung verschlossen war. Weder technische Innovationen noch medizinisches Können bilden natürlich ein Argument gegen geschichtspessimistische Stimmungen. Wir haben das Lebensgefühl in den nach-alexandrinischen Großreichen gestreift, das eine Mentalität des Rückzugs aus der Öffentlichkeit ins Private förderte, auch ins private Seelenheil, wobei die eigentlich geschichtliche, nämlich politische Welt, von den privaten Wertvorstellungen unbeeinflusst, den Irrationalitäten des Machtkampfes, und damit den natürlichen Zyklen der Fortuna, unterworfen blieb. Die Welt ist eine einzige Wandlung, notierte resigniert der in unaufhörliche Kriege verwickelte humane Kaiser Marc Aurel, und das mensch liche Leben bloßer Wahn. Das war eine Radikalisierung der griechischen Überzeugung, dass das Zeitlich-Vorübergehende nicht bewiesen und damit kein Gegenstand von Wissenschaft werden könne. Zu einer Vorstellung der Bedeutsamkeit von Wandlungen kam man auch nicht mit einem weiteren Gedanken des Stoikers auf dem Thron: Wer die Gegenwart gesehen hat, „habe alles gesehen, was sich seit Ewigkeiten ereignet hat und auf unendliche Zeit ereignen werde“. Das Welttheater wiederholt sich, nur mit neuen Schauspielern (Soliloquia). Es gibt immer auch anderslautende Zeugnisse. Seneca hat etwa die Ansicht geäußert, möglicherweise würden kommende Zeitalter sogar bessere Kenntnisse der Natur besitzen. Einzelne Naturwissenschaftler (Manilius, Plinius d. Ä.) blickten nicht nur mit Stolz auf vergangene Wissensleistungen zurück, sondern glaubten, man könne sie noch übertreffen. Aber in Zeiten skrupelloser Militärherrscher, von Barbaren an den Grenzen und auf dem römischen Thron, mit vergleichbar verheerenden Folgen, war es die blinde Schicksalsgöttin, die die Ereignisse bestimmte. „So sehr sind wir dem Schicksal verhaftet“, glaubt Plinius d. Ä., der beim Vesuvausbruch 79 n. Ch. ums Leben kam, „dass uns das Schicksal selbst als Gott gilt“. Zum individuellen Ohnmachtsgefühl kam verstärkend hinzu der Eindruck 28
1. Prometheus und Ewige Wiederkehr
allgemeiner Dekadenz. Ihm entsprach eine geistige Rückwärtsgewandtheit, die sich an die Bewahrung und Systematisierung des Alten klammerte, und oft mit finsterstem Aberglauben vertrug.12 *** Zusammenfassend können wir feststellen, dass das griechisch-römische antike Denken gewiss nicht „ahistorisch“ war, wenn auch kaum historisch im Sinn der Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit von Situationen und Akteuren, oder gar einer schrittweisen ‚Selbstverwirklichung der Menschheit‘. Die Idee einer Entwicklung entsprach zwar den aristotelischen Vorstellungen von Entelechie, der Verwirklichung vorhandener Anlagen, aber der ansteigende Stufenbau von Zwecken gipfelt in keinem geschichtlichen Zukunftsprojekt. Die Alten wussten durchaus von Fortschritten in diversen Bereichen, blickten aber in der Regel zurück, auf die Großen der Vergangenheit und auf überzeitlich gültige Werke und Taten. Sie kannten sehr wohl das überragende Individuum, aber interessierten sich eher fürs Allgemeine, die fysis, den immer gleichen Naturprozess, in den das Menschenleben wieder einmündet (Windelband). Das zeigen die jedem Sterblichen gesteckten Grenzen, an denen noch die größte Tat scheitert. Daran sind nicht nur irrationale Leidenschaften, Streit und Krieg schuld. Auch die Begierde nach Neuerungen hat den Menschen, nach dem Beispiel des Ikarus, aus der festen Ordnung der Dinge gerissen – eine Denkfigur, die heute wieder eine gewisse Faszination ausübt. Alles Menschenwerk ist von Vergänglichkeit gezeichnet; schon weil die hohe Kultur uns besonders korruptionsanfällig macht, folgt auf die Blüte notwendig Niedergang und Tod. So wird auch Vergils Ewiges Rom als Endzustand des Friedens, des Rechts und der Gesittung seit den Einfällen der Barbaren durch Anschauung falsifiziert. Die antiken Erzählungen von der Entstehung der Zivilisation und ihren Leistungen verbleiben im Zeichen der Radmetapher – vielleicht mit dem Vorbehalt, Wiederholung finde nur statt, wenn man nichts dagegen unternimmt (Demandt).13
2. Heilsgeschichte Die Denkfigur des Fortschritts ist nicht unabhängig von Erfolgserfahrungen, aber braucht über das Empirische hinaus eine Einstellung, die Wissen und Können übersteigt. Von utopischen Wünschen des Gegenteils einer elenden Gegenwart abgesehen, ist ein Element des Glaubens schon deshalb notwendig, weil man nie ausschließen kann, dass Nachfolger einmal unsere Errungenschaf29
I. PRÄFORMATIONEN
ten für ihre Fesseln halten werden. Gewachsene Kapazitäten machen die ewige Wiederkehr nicht obsolet14. „Was ich gesprochen habe, ist bereits nicht mehr, was ich tun will, ist noch nicht“, sagt Augustinus Aurelius. Um diese Verbindung zwischen der Vergangenheit, die nicht mehr ist, der schnell vergehenden Gegenwart und einer offenen Zukunft geht es beim historischen Denken. Während Augustinus aus dem uns drohenden Nichts folgert, wir müssten die Zeit überschreiten, uns vom Veränderlichen zum Zeitlosen hinwenden, sucht der säkulare Fortschrittsgedanke ein innerweltlich Anderes: Transzendenz, die ‚diesseitig‘ bleibt, aber analog die Gegenwart als Zwischenglied zu einer höherwertigen Zukunft versteht. Wir sind, trotz ständiger Diskontinuitäten, eingebunden in eine Reihe von Handlungen unserer Vorgänger, nutzen deren Erfahrungen als Grundlage der eigenen Handlungen, sind aber ‚fortschrittsfähig‘ nur, wenn uns die Vergangenheit nicht restlos determiniert, wenn wir diese nicht einfach wiederholen müssen und „etwas bewirken“ nicht, wie im archaischen Denken, mit Schuld assoziiert wird. Über den genetischen Bereich hinaus erben wir einen Grundstock von Verhaltensweisen und Praktiken, die von Generation zu Generation weitergegeben werden: Man erfindet weder die Sprache noch das Rad von neuem. Ein elementares Freiheitsgefühl gegenüber den Kreisläufen und der Raumbindung der Alten muss hinzukommen. Dieses Freiheitsgefühl macht noch kein Fortschrittsbewusstsein im modernen Sinne aus: der Neuanfang kann um den Preis erfolgen, dass man die alten Erfahrungen und Problemlösungen als unmaßgeblich vergisst: Dann wären die Barbaren, die die Kultur verachten, die freiesten Menschen. – Eine Geschichte des Fortschrittsgedankens kommt nicht umhin zu untersuchen, ob das auf die Antike folgende ‚heilsgeschichtlich‘ orientierte europäische Jahrtausend, das unser Denken verändert hat, nicht zur subjektiven Voraussetzung dieses Fortschrittsgedankens zählt. Oder war es, wie noch John Bury meinte, eine Sack gasse, aus der die Modernen glücklicherweise zu den antiken Ansätzen zurück gefunden haben? Halten wir zunächst fest, dass zwischen den antiken zivilisatorischen Hochleistungen und der christlich bestimmten Epoche ein Zeitalter des säkularen Niedergangs liegt. Das betraf nicht nur die Herrschaft Roms – das ja vielen als eine „zum Verderb des Menschengeschlechts geschaffene Stadt“ (Arnobius) erschienen war. Verbreitet war ein Gefühl der Erschöpfung, der eigenen Kleinheit, das die Sehnsucht nach glanzvollen Vergangenheiten ebenso verständlich machte, wie die Flucht aus den irdischen Wirren in imaginierte Jenseitigkeit. Ein Gefühl des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht gegenüber einem unberechenbaren Schicksal, besonders stark bei der großstädtischen Bevölkerung, ließ eine Flut von Mysterienkulten aufkommen, die, zusammen mit dem Glauben 30
2. Heilsgeschichte
an astrologische Vorhersagen und Dämonenbeschwörungen, nicht erst die späte Kaiserzeit überschwemmte. Reste der klassischen Philosophenschulen, insbesondere Neuplatonismus und Neupythagoreismus, gingen eine Verbindung mit mystischen Spekulationen und orientalischen Heilslehren ein. Man wollte auf diese Weise einem unfreundlichen Schicksal entrinnen und vielleicht Erlösung aus dem irdischen Gefängnis finden. Von mystizistischen Stimmungen und synkretistischen Neigungen blieb auch das hellenisierte DiasporaJudentum nicht verschont. Anders als die Griechen, hatten sich die Juden nie primär von der Erkenntnis der ewiggleichen Natur und entsprechenden Seinsspekulationen leiten lassen, sondern von der Geltung eines absoluten Sollens, nämlich dem Willen eines unverfügbaren persönlichen Gottes. Dieser war kein aristotelischer „unbewegter Beweger“, sondern allem Denken und Handeln vorgegeben; kein Seinsprinzip, sondern der ganz Andere, der aber zugleich als Urgrund jeder erfahrbaren Wirklichkeit verstanden wurde: „Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Erkenntnis.“ Die Bereitschaft dem Ruf Gottes zu folgen, gibt dem biblischen Bericht, den Mythen des Volkes Israel, die zentrale Bedeutung und dem jüdischen Denken die besondere Prägung. Das Paradies liegt in einer eher existenziellen als zeit lichen Ebene hinter der Erinerungsgemeinschaft, ebenso wie die ägyptische Knechtschaft: Nicht die Vergangenheit ist überhaupt das Bestimmende, auch nicht das Reich Davids, das ja keineswegs als makellos dargestellt wird, sondern der Hinweis auf den Herrn der Geschichte: ER verpflichtet die Gegenwart. Die Propheten erklären das Missverhältnis von Auserwähltheit und gegenwärtiger Erniedrigung und lassen für das Kommende hoffen. Wenn sie gegen die tatsächliche Geschichte als Abfall vom Gesetz Gottes protestieren, stellen sie nicht, wie die Rom-Nostalgiker, einfach die Rückkehr zur alten Ordnung als Forderung auf, sondern projizieren „die Idee des heiligen Volkes und des Gottesbundes in eine mythische Zukunft“ (Bultmann). Statt der fatalen Kreise, in denen das Woher und das Wohin zusammenfallen, stößt das biblische Bewusstsein auf eine unumkehrbare Zeit, die auf ein Neues hinstrebt, Die Juden, ein „Volk ohne Raum“, werden zum Volk der Zeit, einer Zeit, die ausgerichtet ist auf etwas, was nicht war, aber sein wird (Taubes). Geschichtliche Zeit bedeutet im jüdischen Denken gerade in ihrer Ereignishaftigkeit und Kontingenz die Befreiung vom Immergleichen, die Möglichkeit des Neuen, wie sie schon die Abrahamsgeschichte leitbildhaft vorwegnimmt. Das ursprüngliche Nomadenleben und das Ressentiment gegen die landwirtschaftlichen Lebensformen hatten die jüdische Bereitschaft zum Aufbruch und inneren Freiwerden als geistige Prägung hinterlassen; so konnte auch der Verlust der Eigenstaatlichkeit und das Heraufkommen der Schriftgelehrten als Sprecher und Deuter der jüdischen Identität eine „selbstkritische Semantik“ 31
I. PRÄFORMATIONEN
(Leppin) entstehen lassen, für die das gegenwärtige Elend die Kehrseite eines grandiosen Zukunftsversprechens ist. Statt der realgeschichtlichen Hoffnung auf eine glänzendere Wiederherstellung des Davidreichs zeichnete sich ein übergeschichtliches Heil ab, eine ins Mystische gewandelte eschatologische Erwartung, die die irdisch-nationalen Messiashoffnungen spiritualisiert und entgrenzt. Es sei dahingestellt, ob sich die Offenbarung geradezu in Erkenntnis und prophetische Teleologie auflöst (Hermann Cohen) und die Neuordnung der Welt in Gerechtigkeit und Frieden als Menschheitsziel ohne Monotheismus unvorstellbar ist: „Ich will dich machen zum Bund der Völker“, verspricht Deuterojesaja.15 Es gibt auch andere Heilsvorstellungen, in denen Israel als „Zuchtrute der Herrscher“ imaginiert wird, oder als Stier, der die Völker in den Kot tritt – Jahwes Antwort auf reale Aggressionen gegen sein Volk.16 In menschheitlicher Richtung wirkten auch iranische dualistische Spekulationen, die in den Büchern Esra und Daniel Spuren hinterlassen haben – hellenistische Verwässerungen, die zu allegorischen Deutungen der Bücher Mose als universal gültigem Gesetz und vermeintlicher Inspiration der griechischen Philosophie führten. Philon von Alexandrien († um 50 n. Ch., also Zeitgenosse des Jesus von Nazareth), interpretiert die messianische Versprechung als nicht exklusiv an das Volk Israel gerichtet, das sich allenfalls für die anderen Völker opfert und für sie betet. Seine Geschichte wird zur philosophischen Allegorie.16 Nichts Neues auf Erden, hatte es schon im Buche Prediger (Kohelet) geheißen, und alles menschliche Tun war „eitel“ – befremdliche Töne für die von irdischer Erwartung gerade des Neuen geprägte jüdische Tradition, die sich mit ihrem Ausschließlichkeitsanspruch auch nach der Erneuerung des Tempels in einer hellenisierten Umwelt nur mühselig behaupten konnte (Plünderung und Entweihung des Tempels durch Antiochus 169/68). In diesen Zusammenhang muss man kosmologische Spekulationen über den Weltlogos und den nahenden Endkampf der Mächte des Lichts und der Finsternis verstehen. Philons Einebnung des existentiell und historisch geprägten jüdischen Denkens in die griechische Tradition eines betrachtenden Schauens fand Eingang auch ins Frühchristentum. Der galiläische Wanderprediger Jeschajahu hatte das unmittelbare Kommen des Gottesreichs gepredigt, das alle irdischen Schranken und Unterschiede, alles Recht und allen Zwang aufheben sollte. Ein verinnerlichter Gottesglaube, ein ‚Exodus vom Kult in die Schrift‘ hatte sich der Welt schon im prophetischen Monotheismus geboten statt der polytheistischen Heiligung von Staat, Macht und Krieg (Assmann). Die christlichen Gemeinden waren weiterhin von der Endzeiterwartung des Volkes Israel bestimmt. Aber sie hatten durch den Auferstehungsglauben ein neues Fundament gewonnen, das die Geschichte schon als versöhnt erscheinen ließ – was immer das inhaltlich bedeuten sollte.17 32
2. Heilsgeschichte
Und sie mussten sich einer von anderen Vorstellungen geprägten nicht-jüdischen Bevölkerung verständlich machen. Dieser war die Abwertung des Irdischen und die Sehnsucht nach einem transzendenten Heil wohlbekannt, ja auch Auferstehungsmysterien, die Erlösung durch den Sotér, den Heilsbringer und Gottessohn. In dieser verbreiteten Tradition wird der historische Jesus von Nazareth im Neuen Testament, vor allem im Johannesevangelium, in gnostischer Begrifflichkeit als präexistenter Logos, als „Licht der Welt“ und „Weg zu Gott“, apostrophiert. Paulus von Tarsos († 64), Organisator der frühchristlichen Gemeinden, interessierte der innerweltliche Wandel nur sekundär. Auch im Bestreben, sich vom Judentum (und vom jüdischen Aufstand 66/70) zu distanzieren, hat das die radikale Spannung zur eschatologischen Zukunft abgeschwächt, wenn auch nicht ganz aufgehoben. Die Erlösung von den Bindungen an diese Welt, deren Weisheit Torheit vor Gott ist, erschließt neue Möglichkeiten und mobilisiert angesichts des radikalen Anspruchs neue moralische Kräfte. In diesem Sinn schreibt Paulus an die Philipper, im vorgesteckten Ziel, der „himmlischen Berufung in Christo“, der er nur nachjagen, also sie nie ganz erreichen könne, „vergesse ich, was dahinten ist und strecke mich zu dem, was da vorne ist.“ Dahinten, das waren Gesetz und Sünde, aber auch alles, was als irdischer Wert oder persönliches Verdienst gelten konnte und letztlich unfrei machte; vorn war die Offenheit der Hoffnung, der Liebe und des Glaubens. Obwohl Paulus den Messianismus spiritualisierte und den hingerichteten Propheten Jesus mit dem Logos der Gnosis identifizierte, klang die Aussicht revolutionär: „was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, dass er zuschanden machte, was stark ist“ (1. Kor, 1, 27). Vor allem für Benachteiligte und Ungebildete, „die da Leid tragen“, „die da hungert und dürstet“; aber gerade in diesen städtischen Schichten fand die junge Kirche zunächst viel Anklang. Die Gewissheit der Offenbarung konnte sich tatsächlich nur in einem Milieu unreflektierter Gedanken, ungebrochener Phantasie und naiver Hingabebereitschaft entfalten; erst allmählich hat sich der Absolutismus des Glaubens mit einer höheren Reflexionskultur (Troeltsch) verbunden. Seitdem versuchten christliche Apologeten die neue Lehre auch hellenistisch Gebildeten in deren Begriffswelt näherzubringen. Wie bei Philon, werden griechische Spekulation und das „Alte Testament“ der Juden als zwei parallele Wege zu Christus verstanden und legitimiert. Glaube und Vernunft gelten Clemens von Alexandrien († 215) als zwei Formen derselben menschlichen Befähigung zur Annäherung an die ewige Wahrheit. Doch war der Glaube der aufgeklärten und ethisch sublimierten römischen Gebildeten schon durch seine resignative Grundhaltung etwas anderes als die christliche Religion der Brüderlichkeit mit ihrer Erwartung einer totalen Erneuerung. 33
I. PRÄFORMATIONEN
Auch wenn der Impuls zur Verbesserung der äußeren Lebensbedingungen fehlte, ja die Abkehr vom eudämonistischen Schein hin zur Innerlichkeit des Glaubens den verfeinerten Epikuräismus der Oberschichten aggressiv entwertete, wurde jeder irdischen Autorität noch in ihrer Anerkennung und Duldung ein Stück Verachtung entgegengebracht. Mit der Spiritualisierung der christlichen Botschaft kam aber in die Kirche auch eine der jüdischen Tradition unbekannte leibfeindliche Mystik, die den Geist durch „Nachahmung Gottes“ aus dem Kerker der Materie erlösen und zu höherer Wesenheit aufsteigen lassen wollte (so der um 254 als Märtyrer umgekommene alexandrinische Kirchenlehrer Origenes, der am Ende der Zeiten sogar die Erlösung des Teufels für möglich hielt). Neben dem Aufstieg kannte Origenes auch den Abstieg: Doch ist der Kreislauf kein fataler, sondern hängt ab vom freien Willen, der den „Fortschritt“ im Sinn von Gottes Oikonomia bzw. Heilsplan wählen kann. Echte Vollkommenheit ist allerdings nur erreichbar im Zustand der Kontemplation – wenn man will, ein Rückfall in den Neuplatonismus. Zumindest wird dadurch die im biblischen Sinne gute Schöpfung hierarchisiert und das Leibliche als Quelle des Bösen dämonisiert: Origenes hat sich konsequent, unter dem Beifall des Kirchenhistorikers Eusebius, selbst sterilisieren lassen. Der umfassend gebildete Ekstatiker wurde zum Vorbild der seit dem 3./4. Jahrhundert einsetzenden Mönchsbewegung. Sein Ziel war die Aufhebung des Griechentums im Christentum; was er erreichte, war aber eher die Hellenisierung des Christentums (H. Küng). Dem entsprach eine abgeschwächte Parusieerwartung als bloße Sichtbarwerdung einer schon bestehenden Gegenwelt: der basileia Gottes, gemäß Lucas 17,20: Das Reich Gottes ist schon „mitten unter euch“. Die Abwertung des Irdischen zugunsten von Allegorie, Seinsspekulation und Askese hatte noch weitere Folgen, nämlich den potentiellen Verlust der kaum gewonnenen geschichtlichen Dimension, der Dynamik einer zielgerichtet angelegten menschlichen Bewegung in der Zeit. Die tatsächliche Geschichte Israels und der frühen Kirche war immer schon rein existenziell interpretierbar – als Ruf Gottes und als menschliche Bereitschaft, diesem Ruf zu folgen – oder aber Freiheit der Verweigerung: Hinter dem „Bericht“ steht das Außergeschichtliche als die eigentliche Botschaft bzw. Gott als geschichtsmächtiger Herr der Zeit. Dem einzelnen Geschehen kommt aber außer dem vertikalen Bezug auch horizontale Bedeutung als Glied des übergreifenden „pädagogischen“ Dramas zu – der Großen Erzählung, bestimmt durch die Koordinaten von Schöpfung, Sündenfall und Messiaserwartung bzw. Erlösung. Auf Irenaeus von Lyon († nach 200) geht der Gedanke einer evolutiven „Erziehung des Menschengeschlechts“ durch aufeinanderfolgende Bundesverträge zurück. Und Eusebios von Cäsarea († 339), angeregt durch die sich abzeichnende konstantinische Einheit von Reich und Glauben, bezieht das Werk der ‚beiden Friedens34
2. Heilsgeschichte
bringer‘: Augustus und Jesus, als glückliche Synthese irdisch-göttlicher Ordnung aufeinander. Auch durch die Einbeziehung der Geschichte der Juden als Vermittler des mosaischen Sittengesetzes entsteht bei ihm eine durchgehende historisch-theologische Fortschrittskonzeption (A. Demandt). Was zwischen Christi Opfertod und seiner erwarteten Wiederkehr lag, konnte vom Glauben her als irrelevant oder eher als aktiv zu nutzende Zeit verstanden werden, doch durchbrach die heilsgeschichtlich-lineare Strukturierung des processus temporis im Prinzip die Trostlosigkeit der antiken ewigen Kreisläufe. Die Erzählungen werden über ihren Gleichnischarakter hinaus konkret verortet in einer geschichtlichen Reihe von Begebenheiten, die primär als Handlungen Gottes für den Menschen gelten. Das neue Zeitbewusstsein löst damit gewiss nicht alles profane Geschehen in Eschatologie auf, ja es verliert mit der verstärkten Orientierung auf ein privatisiertes Heil und schon mit der paulinischen Trennung von Geist und Fleisch18 die messianischen Unmittelbarkeit der jüdischen Fortschrittserwartung samt dem Schrecken des Weltuntergangs, der ja Rom als „Hure Babylon“ einschloss (Apokalypse Johannis). Die chaotischen irdischen Ereignisse werden in einen übergreifenden Sinnhorizont gezogen, der die Vergänglichkeit und Hoffnungslosigkeit des diesseitigen Geschehens zu überwinden verspricht und zugleich die Heilsbotschaft von aller ethnischen Beschränkung löst. Aus der Spannung zwischen einem heillosen Welt-Raum der immer wiederkehrenden Christenverfolgungen und dem totalen Anspruch, dem zeitlichen telos eines universalen Gottesreiches, kann sich eine sinnvolle geschichtliche Struktur ergeben; vom Heilsgeschehen ausgehend, erfasst sie die gesamte Ökumene. Bei Augustinus Aurelius, Bischof im nordafrikanischen Hippo und Zeugen der Völkerwanderung († 430), wirkt stark das neuplatonische Erbe nach, wonach die wahre Erkenntnis und Glückseligkeit die Abwendung von der vergänglichen Welt der Sinne voraussetzt; es geht um die Teilhabe am zeitlos-wahren Sein. Die menschliche Seele steht in der Zeit und der Vergänglichkeit, ragt aber sozusagen auch ins Zeitlose hinein, ist eine Spur des Ewigen, vestigium aeternitatis: der Anknüpfungspunkt, der dem Menschen die „Rückkehr aus der Fremde“ ermöglicht. Augustinus hat die pelagianische Lehre energisch bekämpft, die den Menschen aus eigenem Entschluss heraus zur Überwindung seiner Verstrickung in die sündhafte Welt führen wollte. Ohne Gottes Gnade sind die menschlichen Bemühungen vergeblich, hielt Augustin dagegen, und innerweltliche Tätigkeit bleibt sekundär gegenüber der Erkenntnis der höchsten Güter. Andererseits war die augustinische Abkehr von dieser Welt keine einfache Negation, sondern eine „dialektische“, also ihre bedingte Anerkennung – vorausgesetzt, sie wurde nicht als Selbstzweck „genossen“ (frui), sondern für höhere Zwecke 35
I. PRÄFORMATIONEN
„genutzt“ (uti). Augustin hat die heidnische Wissenschaft und Kultur, die Pax Romana eingeschlossen, nicht wie sein afrikanischer Landsmann Tertullian, einfach verdammt („Was hat Athen mit Jerusalem zu tun?“).19 Es ging ihm vielmehr darum, sie in gebotener Distanz fruchtbar zu machen, als quasi Propädeutik zur Wahrheit Christi. Diese relative Anerkennung innerweltlicher Bestrebungen war, zusammen mit dem voluntaristischen Kern in seinem Denken, eine wichtige Wegkreuzung in der keineswegs selbstverständlichen Richtung Europas auf christliche Kultur. Wenn das christliche Ethos nicht in Sezession, Ressentiment und Weltflucht verpuffen sollte, dann mussten seine kreativen Möglichkeiten eine reale, auch institutionelle Grundlage erhalten; das hieß, Elemente der zerbröckelnden hellenisch-römischen Zivilisation selektiv in den neuen Kosmos einzubeziehen und, umgekehrt, für diesen ein Freiheitsverständnis zu bewahren, das sich nicht auf den Bürgerstatus beschränkte. Nur auf einer solchen Basis konnte schließlich Fortschritt im Sinne von ‚positiver Überwindung‘ der vorangegangenen Stufe stattfinden. In diesem Zusammenhang interessiert vor allem die Einstellung zum römischen Staat, an dessen Niedergang die patriotische öffentliche Meinung dem verräterischen „inneren Proletariat“20, in Zusammenarbeit mit dem auswärtigen der Barbaren, die Schuld gab. Irenäus von Lyon hatte – zur Zeit Mark Aurels – Rom mit dem 4. Reich der Danielsvision gleichgesetzt und dessen Dauer bis zur Wiederkunft Christi verkündet. Kaiser Konstantin brach im Jahr 313 die Christenverfolgungen unter der pragmatischen Erwartung ab, den Christengott für das zerfallende Reich verfügbar zu machen; und der Mailänder Bischof Ambrosius verkündete analog, das Christentum werde Rom neue Kräfte erschließen: der Nagel des Kreuzes erweist sich als der gute Nagel, der das Reich zusammenhält; zugleich wusste er sich, gestützt auf das Kirchenvolk, erfolgreich gegen kaiserliche Übergriffe zu wehren. Die Plünderung der Ewigen Stadt durch Alarichs Goten (410), ihre Erniedrigung durch barbarische Horden, musste als Herausforderung an dieses Selbstverständnis der Kirche empfunden werden. Augustins Antwort auf das Scheitern der konstantinischen Synthese zumindest im Westen, bestand im Entwurf einer grundsätzlichen Doppelbürgerschaft von civitas Dei und civitas terrena, zweier Prinzipien, in denen ein Stück Manichäismus nachklang, die man aber auch in der Form zweier sichtbarer Gemeinschaften, Kirche und Staat, wiedererkennen mochte. Augustinus’ Geschichtsphilosophie löste die alte Raumverknüpfung von Gott und Polis, die im antiken Denken bis zur Identifizierung gegangen war und Religion zur Staatsangelegenheit werden ließ. Das sollte anderseits keiner sektiererischen Absonderung der Heiligen von den Verworfenen rechtgeben: während des Dauers der Weltzeit blieben beide Bürgerschaften ineinander verschlungen, ja zur Unkenntlich36
2. Heilsgeschichte
keit miteinander vermischt. Das war eine Absage an die selbstgerechte Neigung der sogenannten Donatisten, die irdischen Dinge in Hoffnungslosigkeit und Sündhaftigkeit der heidnischen Kreisläufe zu entlassen. Augustins Interpretationsleistung bestand dagegen in der Erneuerung des biblischen Bildes vom Ringen um das Reich Gottes als Wegweiser unseres procursus in seiner geschichtlich-eschatologischen Dimension. Damit ist die Vergangenheit keine Vielfalt von Historien mehr, sondern Vorstufe, Vorbereitung einer zukünftigen universalen Erfüllung, und so kommt auf alle menschlichen Begebenheiten mit dem absoluten Anspruch auch ein Stück heilsgeschichtlicher Bedeutsamkeit zu. Der himmlische Staat, so könnte man sagen, ist ein Fremdling auf Erden, wirft aber auf das irdische Geschehen einen Abglanz des Lebens sub sepecie aeternitatis. Die Geschichte ist der Ort eines dramatischen Kampfes, auch wenn das eigentliche Fortschreiten nicht säkular, sondern geschichtstranszendenten Charakter hat. Das Realgeschichtliche bleibt dabei nach wie vor von Ambivalenz, Versagen und Vergeblichkeit geprägt. In diesem Sinn warnt Augustinus vor Herrschsucht, Egoismus und Ungerechtigkeit des irdischen Staates, der zum magnum latrocinium, zur großen Räuberbande werden kann, selbst wenn er sich zum Weltstaat ausweitet. Rom ist somit an sich keine legitime Erfüllung der Geschichte, auch wenn der Kaiser Christ geworden ist – was Eusebius von Cäsarea der Ostkirche bescheinigte und der Spanier Orosius noch um 418 zur Lehre von Rom als Friedensgarantie und Schlussstück in der Abfolge der Weltreiche ausbaute. Der Cäsaropapismus ist dagegen für Augustin ein Irrweg, weil Selbstliebe und Streben nach falscher Glückseligkeit bis zum Ende der Zeiten eine menschliche Grundeigenschaft bleiben.21 Das Wahre ist, mit anderen Worten, niemals identisch mit seinen irdischen Abbildern, und die Geschichte ist wohl auch nach Christi Opfertod nicht im vollen Sinn ‚erlöst‘, also freigekauft aus der Sklaverei. Aber wie das Irdische Vehikel von Gottes Absichten sein kann, so bleiben auch diejenigen, die um Gottesbürgerschaft ringen, bzw. dazu erwählt sind, angewiesen auf irdischen Frieden (und werden deshalb nicht zögern, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist). Mit dem Vorbehalt, dass dieser nicht seine Ordnung mit wahrem Frieden und echter Glückseligkeit verwechselt, also der Staat sich, modern gesprochen, auf die Hilfsfunktion beschränkt, für Eintracht und Gerechtigkeit in den Dingen dieser Welt zu sorgen.22 Mit dieser stand es nicht zum besten, auch wenn die barbarischen Teilkönige Anspruch auf den römischen Namen erhoben und sich zu dieser oder jener (meist der arianischen) Prägung des Christentums bekannten. Vorrömisches Stammesrecht und bäuerliche Abhängigkeit waren aus der Zerstörung der Städte und der imperialen Verwaltungsstrukturen als historisch entscheidende 37
I. PRÄFORMATIONEN
Tatsachen hervorgegangen, gewiss auch Wandlungen im alltäglichen Leben, die Heiligung des Sonntags, die Verbindlichkeit der kirchlichen Lehren im Alltag. Schon früher hatte sich mit dem Zurücktreten der unmittelbaren Zukunftshoffnung auf das Reich Gottes eine realistische Bescheidung angebahnt, die den erwarteten Idealzustand mit der Herrschaft der Kirche zusammenfallen ließ und die Welt als Ganzes samt ihren unabänderlichen Zwängen mit einigen Kautelen hinnahm, allenfalls mit dem radikalen Mönchsideal konfrontierte. Im Kolosserbrief, eine Generation nach Paulus, hatte es geheißen: „Da ist nicht Grieche, nicht Jude, Barbar, Skythe, Knecht oder Freier, sondern alles und in allen ist Christus“ (3,11). Orosius’ christliche Weltgeschichte machte sozusagen aus der Not eine Tugend und aus dem Zusammenbruch des Reiches ein sinnvolles Geschichtsziel derart, „dass im Osten und Westen die Kirchen sich füllen mit Hunnen, Sueben, Vandalen, Burgundern“. Und Salvianus, ein Priester in Marseille, behauptete sogar, viele Menschen „suchten bei den Barbaren römische Menschlichkeit, weil sie die barbarische Unmenschlichkeit bei den Römern nicht ertragen könnten“. Aus der jüdischen prophetischen Tradition kennt man die Figur der Reinigung durch die große Katastrophe. Der Landesverräter Jeremias weissagt Feuer, Tod und die Zerstörung des Tempels als sinnvolle Taten Gottes. Große Herausforderungen, wie der Einbruch einer fremden Macht, mögen manchmal Anlass für kulturelle Neuschöpfung gewesen sein; der Zusammenbruch des Westreiches ließ aber zunächst nur zaghafte Versuche von der Art des Cassiodor und Boethius aufkommen, den gotischen Barbaren über die Taufe hinaus einen Grundstock antiker Bildung zu vermitteln. Das karge Ergebnis waren mönchische Studienpläne, die immerhin ein Asyl boten zur Bewahrung von Teilen der klassischen Literatur in der entstehenden Klosterkultur. Der von dieser ausgehende geistige Impuls war zwangsläufig weder auf irdischen Progress noch auf neue Erkenntnisse gerichtet. „Weder Hoffnung noch Furcht“ empfahl der 526 hingerichtete Boethius in seiner im Mittelalter vielgelesenen Consolatio philosophiae. Von der festen Burg der Weisheitsliebe könne man über die Räuber von eitlem Tand nur lachen. „Aber auf was für eine andere Freiheit darf man noch hoffen?“ Gemäß der neuplatonischen Lehre von der Gefangenschaft der Seele im Körper und von der Erkenntnis als wiederkehrender Erinnerung konnte das allein Rückzug und Umkehr, Rückkehr zu Gott als Quelle aller Wahrheit und alles Ursprünglichen bedeuten. Auch im Osten des Reiches blickte man bald nur mehr nach rückwärts. Die in den Wirren der Gegenwart nachträglich idealisierte Pax Romana wurde hier durch allzu enge Verbindung mit dem Christentum providentiell aufgeladen: die kaiserliche Politik wird als Werkzeug Gottes auf eine irdische Triumphstraße („ein Gott, ein Gesetz, ein Glaube“) gewiesen, die schon durch den stän38
2. Heilsgeschichte
digen Dogmenstreit nicht einlösbar war, auch wenn das oströmische Reich im 6. Jahrhundert noch einmal große Teile des alten Imperiums zurückeroberte und auch der Kaiser immer wieder versuchte, durch Kompromissformeln die Schismen der Kirche zu überbrücken (Chalkedon, 451). Anders als im verwüsteten Westen, war im kosmopolitischen Byzanz jedoch die städtische Kultur bestimmend geblieben; obwohl Justinian die Philosophen vertrieb, wusste eine staatstragende Schicht gebildeter Beamten die literarischen Überlieferungen der Antike ebenso zu bewahren, wie das römische Recht (das erst unter Justinian 533/34 eine bleibende Zusammenführung erfuhr). Der an klassischen Vorbildern geschulte Historiker Prokopios von Cäsarea († um 565), Sekretär des Feldherrn Belisar, blickte mit Spott auf die theologischen Haarspaltereien und den Streit der Kleriker herab, auf den Fanatismus des ungebildeten Volkes, in einem späteren Werk auch auf den Bauernsohn auf dem Thron. Es fehlte dem Basileus, der selbst theologische Traktate verfasste und sich als Gottes Werkzeug empfand, die ebenbürtige geistliche Gegenmacht, so dass die ‚Theokratie‘ eine weitgehend äußerliche blieb und die Kirche ein ‚Departement der Staatsverwaltung‘, die den römischen Staat mitsamt seinem Recht und seiner hellenischen Kultur unangefochten bestehen ließ (Troeltsch). Es gab Proteste und Aufstände, aber Kritik an den erstarrten Formen des sozialen und religiösen Lebens konnte regelmäßig auf asketische Gleise gelenkt werden. Die erneuerte Reichsidee und in ihrem Rahmen ein mönchisch-introvertiertes Christentum stießen nicht zuletzt an äußere Grenzen, die die alten Kulturen Ägyptens und Syriens schon durch ihr monophysitisches Credo zu betonen wussten. Trotz Assimilierung nicht-griechischer Völkerschaften und einer folgenreichen Slawenmission setzte dann der Islam im 7. Jahrhundert der byzantinischen Expansion ein ähnliches Ende, wie die Germanen davor der Herrschaft Roms im Westen. Dem geschrumpften und in seinen Ambitionen herabgestuften Ostrom war damit bloße Verteidigung und Bewahrung als Staatsraison geblieben. Der Kirchenhistoriker Orosius, Schüler des Augustinus, hatte den Untergang römischer Macht als selbstverschuldet, jedoch als Chance eines Neuanfangs im Zeichen der Ausbreitung des Christentums unter den Heiden, verstehen wollen. Die Geschichte Roms verdiene keine nostalgische Verklärung: Wenn Rom siegte, war die übrige Welt unglücklich.23 Das Christentum, indem es besänftigend auf die barbarischen Völker einwirkte und deren Schwerter in Pflugscharen zu verwandeln suchte, sollte eine neue Zivilisationsstufe einläuten. Ausgehend von dieser – nicht immer nachvollziehbaren – Sicht, wagten gebildete Kleriker einen anderen geschichtsphilosophischen Ansatz auf der Basis der neuen barbarischen Staatsgründungen. Die eingefahrenen Strukturen des Römischen Reiches hatten sich meist als resistent gegen religiös-ethische Totalkritik erwiesen und wenig von der Art 39
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einer christlichen Einheitskultur entstehen lassen; nur der Schutz der Kirche und die Anerkennung eines ethischen Minimums wiesen das bestehende Gefüge weltlicher Zwecke und Zwänge als christlich aus. Die primitiven und chaotischen Verhältnisse bei den westlichen Barbaren ließen dagegen mit der Christianisierung die Fiktion eines geistlich-weltlichen Neuanfangs, der Anwendung des christlichen Sittengesetzes auf naturrechtlichem Neuland, aufkommen. Chronisten und Bewahrer antiken Wissens, wie Isidor von Sevilla, Gregor von Tours, Beda Venerabilis verfassten außer Sammelsurien und Heiligenviten die Geschichte der neubekehrten Völkerschaften im Westen: der Westgoten, Franken, Angelsachsen, Langobarden und anderen. Aus der barbarischen Anonymität sollten sie ins Licht der Großen Erzählung treten: in die Weltchronik einer zeitlichen Linie der sechs (oder vier) Weltalter und des christlichen Heils geschehens zugleich.24 Die christliche Idee der einen Menschheit, der einen Kirche und der einen irreversiblen Zeit war allerdings in der wieder bäuerlichen, „geschichtslosen“ Lebenswelt und einer halbheidnischen Volksreligiosität keine Erfahrungstatsache; geistiger Fortschritt schien nota bene gar nicht in irdischen Zeiteinheiten messbar. Und doch erhielt die Idee des Fortschritts ein Stück Evidenz durch die unermüdliche Tätigkeit unzähliger Mönche und Missionare: Ausgehend von den irischen und angelsächsischen Klöstern und gestützt auf das geistige Zentrum Rom, das seinerseits Flüchtlinge aus dem verlorenen Afrika aufnahm, gelang es, den Kontinent schrittweise mit neuen Lebensformen und Idealen zu überziehen. Das Fortschreiten wurde so trotz des Rückfalls in die alten Stammesordnungen (und in die Naturalwirtschaft) zumindest für eine Elite von Kirchenmännern erfahrbar. Erst deren intensive geistige und zivilisatorische Tätigkeit gab der Erneuerung des Westreichs durch Karl den Großen (800) den übergreifenden und dauerhafteren Sinn. In der augustinischen Tradition mochte es fragwürdig sein, den Eroberer, dessen Triebfeder zur guten Hälfte die dominandi cupiditas (Herrschsucht) war, als geradezu alttestamentarischen Vollstrecker von Gottes Willen zu interpretieren; realgeschichtlich erwies sich der karolingische Pakt mit der römischen Kirche als durchaus fruchtbar für beide Seiten. Die Karolinger benutzten die fränkische Kirche als „Stützkorsett“ ihrer Herrschaft sowie zur Organisation und Kultivierung ihrer illiteraten und dämonengläubigen Völker, bei denen die Grenze zwischen Gebet und Zauberspruch noch fließend war; der Klerus verstand mit großer Selbstverständlichkeit diese Aufgaben als Verwirklichung einer christlichen Lebensordnung. Vor allem der Bildungsgedanke der Palastschule Alkuins von York († 804) schuf durch ein zunächst recht weitmaschiges Netz von Klöstern, Abteien und Bischofssitzen erstmals Kern40
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punkte einer einheitlichen Kultur Westeuropas,25 die den Zerfall auch des karolingischen Reiches im 9. Jahrhundert überdauerten. Die Kirchenlehrer hatten Mönchstum, Askese und Weltverneinung nicht unbedingt als Selbstzweck verstehen wollen, sondern als quasi-heroische Mittel der Disziplinierung, die der Konzentrierung auf den kirchlichen Beruf dienen sollten. Die Mönchsfrömmigkeit stand zwar über der Weltfrömmigkeit, aber der Laie konnte unter Umständen eine gleichwertige Vollkommenheit erreichen, wie der meditierende Asket – der im übrigen auch zu Arbeit, Lehre und Caritas verpflichtet war. In einer Wirklichkeit, die von permanenter Drohung mit Gewalt und Rechtsbruch, von Furcht vor unsichtbaren Mächten geprägt war, leisteten die kirchlichen ‚Heilsmittel‘ durchaus praktische Lebenshilfe. Dem entsprach eine gewisse Aufwertung des Alltags: Weil jeder Augenblick einzigartig war, nämlich rechenschaftspflichtig vor Gott, musste allem irdischen Handeln, ungeachtet seines tatsächlichen Stellenwerts, Bedeutung zufallen. Schon Ambrosius von Mailand wollte das zeitweilige Überhandnehmen des Bösen nur als produktive Herausforderung für christliches Handeln verstehen, und eben das brachte Dramatik in die Geschichte. Die Steigerung des Bösen in der Gegenwart mobilisiert die Kräfte des Heils.26 Der Gedanke wird wiederholt aufgegriffen und zur Zeit des ersten Millenniums vom Cluniazenser Rudolfus Glaber weiterentwickelt zur Auffassung der Geschichte als fortschreitender Verwirklichung des göttlichen Heilsplans. Der Fortschritt, den Glaber nach dem Grad der Durchsetzung von Gerechtigkeit in der Welt misst, manifestiert sich stufenweise, immer von Rückfällen unterbrochen. Staatszerfall, Sarazeneneinfälle, Ketzerei, Abstumpfung der Herzen, machen dabei die Erziehung der Menschen, letztlich die Erkenntnis Gottes, nur umso gewisser. Die Herausforderung, das Fortschreiten Gottes „per actus humanos“ voranzubringen, wurde in der Tat ungeachtet der faktischen Rückschläge gerade auch in dunklen Zeiten angenommen. Wir haben gehört, wie insbesondere Klostergemeinschaften in Zeiten des Zerfalls der Staatsordnung in archaische Stammes- und Kriegergefolgschaften Reste der antiken Bildung samt dem Bewusstsein einer übergreifenden geistigen Einheit bewahrt haben: Herkommen, Sitten, Sprache und Gesetze werden innerhalb der Gemeinschaft durch gemeinsamen Glauben unwichtig. Obwohl die Klostergemeinschaften nicht eigentlich an eine Reform der Welt dachten, sondern an die imitatio Christi und die Schaffung geschlossener Heilsräume, war ihr vorgelebtes Ethos, das auf die umgebende Laienbevölkerung ausstrahlte, wenn auch kaum deren geistig-sittliche Durchdringung erreichte, von besonderer zivilisatorischer Bedeutung. Zu produktivitätssteigernden Verbesserungen – von der Wassermühle, dem Kummet bis zur Walkmühle und dem Spinnrad – kam die neuartige Hochschätzung von Handarbeit bei den 41
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Rodeorden. Das Frühchristentum hatte ursprünglich Arbeit, ebenso wie Recht, Eigentum, Zwang und Sklaverei, als ‚Folge der Sünde‘ hingenommen, allenfalls als Disziplinierungsmittel verstanden, aber noch keineswegs mit Berufsethos verbunden; spätestens seit der Benediktinerregel begann sich die Einstellung zur Handarbeit zu ändern: sie durfte aber nicht in Selbstzweck ausarten (Gurjewitsch). Zum materiellen Fortschritt trug zu einem gewissen Maß schon die extensive Ausbreitung christlicher Herrschaft bei, die den Anschluss an die Zentren höherer Zivilisation zur Folge hatte, konkret den Zustrom von Ideen, Praktiken, Handelsgütern und Lebensformen, die auch die eigentliche Macht, ihr Selbstverständnis und die Art ihrer Ausübung nicht ganz unberührt lassen konnten. Ein aus klösterlichen Reformbestrebungen hervorgegangenes Menschheitsideal vermittelte der meist noch in archaischem Selbstverständnis befangenen weltlichen Herrschaft Grenzen und positive Aufgaben. Ende des 11.Jahrhunderts haben sich, parallel zum Bevölkerungsanstieg, auch die geweckten religiösen Energien stellenweise der Kontrolle entzogen bzw. auf ursprüngliche Motive zurückbesonnen: Endzeit-Wanderprediger fanden Gehör insbesondere bei städtischen Unterschichten, die durch Übervölkerung, Hungersnöte und Seuchen aus ihrer traditionellen Lebenswelt herausgerissen, sich eschatologischen Phantasien und messianischen Vorstellungen öffneten. Es waren diese pauperes, die sich von Krezzuggedanken (Clermont 1095) begeistern und Jerusalem als Versprechen eines irdischen Pararadieses inspirieren ließen. Die Eschatologie endet oft im Blutbad, exekutiert nicht nur an ‚Heiden‘ im Heiligen Land, sondern auch an dämonisierten Juden, deren Halsstarrigkeit das Kommen des Tausendjährigen Reiches hindert, und aus denen nicht zuletzt der Antichrist hervorgehen soll (N. Cohn) Die gegenseitige Instrumentalisierung und Durchdringung weltlicher und kirchlicher Lebensformen war radikalen Kirchenmännern spätestens seit Gregor VII († 1085) zu wenig. Ausgehend von einer geschlossenen, auf absolute letzte Werte, Jurisdiktion sowie Sakramentalgewalt gestützte geistliche Macht, forderte die Kirche eine vollkommene Unterordnung der „temporalen Gewalten“. Das hieß die Kontrolle des gesamten gesellschaftlichen Lebens, die Formung der Gewissen durch Seelsorge und Ketzerrecht, der Hochkultur durch Theologie, Philosophie, Jurisprudenz und Kirchenkunst, ja auch eine direkte Lenkung des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens durch kirchliche Würdenträger in weltlichen Ämtern, auch direkt durch riesigen Grundbesitz. Die Papstrevolution war keine totale, sondern endete in Kompromissen. Gerhoch von Reichersberg, der die Weltgeschichte als einzigen Verfallsprozess verstand, in dem nur einzelne „arme Christen“ eine Art Nachtwache halten, kritisierte das Wormser Konkordat (1122) gar als Anfang eines letzten Weltalters, in dem Habgier als Hauptlaster bis zu Christi Wiederkunft herrschen werde (nach 42
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H. Keller). Trotzdem war das Geschehen des Hochmittelalters in mancher Hinsicht geeignet, das Leitbild des Fortschreitens im Bewusstsein vieler Menschen zu untermauern. Gestützt auf beschleunigten Landesausbau, Stadtentwicklung, Kirchenreform, verstärkte sich dieses Bewusstsein insbesondere seit dem 11.Jahrhundert, wobei vielfach eher weltliche Kriterien zur Geltung kamen. Der Walliser Giraldus Cambrensis, der im 12. Jahrhundert Irland beschrieb, konnte z. B. auf das antike Geschichtsschema Wälder-Äcker-Städte zurückgreifen und die Iren als ‚Waldvolk‘, gens silvestris, der untersten noch vorlandwirtschaftlichen Barbarei zuordnen: Die eigene Fortgeschrittenheit wird nicht allein heilsgeschichtlich verstanden. Das hing, wie gesagt, mit dem wiedererstandenen städtischen Leben, zu einem großen Teil auch mit den überall emporschießenden Schulen und Universitäten zusammen. Ihnen entsprach eine wachsende Nachfrage nach Wissen, nach den artes liberales und überhaupt nach antiker Überlieferung; der Universitätsbetrieb förderte seinerseits die Bedeutung der ratio (neben auctoritas und experientia) als kritischer und unterscheidender Instanz. Nach Anselm von Canterbury, Benediktinerabt und Lehrer († 1109), sollte sogar die Glaubenseinsicht sola ratione, mit notwendigen Gründen, möglich sein; und so erscheint auch das geschichtliche Handeln Gottes von innerer Vernunft bestimmt, zumindest in Teilen rational verstehbar. Abaelard, der „erste neuzeitliche Intellektuelle“ († 1142), geht noch einen Schritt weiter und erklärt angesichts einander widerstreitender Autoritäten die menschliche Vernunft als letzte Instanz: Nur darum glauben wir der göttlichen Offenbarung, weil sie vernünftig ist. Die Intellektualisierung des Glaubens konnte in mathematische, kosmische Spekulationen ausufern, entfaltete aber auch, wie an der berühmten Domschule von Chartres, eine verfeinerte humanistische Innerlichkeit, die den anmaßenden Schwertglauben der Adelskirche, einschließlich der Kreuzzüge, verabscheute. Die vermeintlich „schamlose“ Neugier der Neuen speiste sich aus Quellen jenseits der bisherigen Grenzen des Abendlandes: Von Toledo und Palermo, auch Rom und Oxford, breiteten sich, getragen von wachsendem intellektuellen Bedarf, Übersetzungen aus dem arabischen Kulturbereich aus, Rückübersetzungen des Aristoteles, dessen Gedankengebäude jetzt erstmals voll erfasst und zum Inbegriff des Wissenschaftlichen erhoben wurde; Euklid, Ptolemäus, Hippokrates, Avicenna, Averroes und Maimonides folgten als mehr oder weniger christianisierte Geistesheroen. Ein Strom aus medizinischem, mathematischem, astronomischem, geografischem Wissen ergoss sich über den Westen, dessen Weltbild der Herausforderung kaum standhalten konnte. Die Hölle wurde bei den als ‚Averroisten‘ verschrienen Scholastikern oft zur bloßen Unwissenheit verdiesseitigt und der 43
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heilige Geist mit dem menschlichen Intellekt identifiziert; die Materie galt einigen als ewig und als alleiniger Gegenstand der Wissenschaft; Verstand und Logik schienen imstande die gesamte Welt begrifflich zu erfassen und zu beherrschen. Die Begeisterung einer Generation städtischer Intellektuellen über den erweiterten Horizont schlug sich nieder als Selbstbewusstsein der moderni, wiewohl sie sich zugegeben als „Zwerge auf den Schultern von Riesen“ wussten. Die Kirche war unsicher, wie sie sich gegenüber dem neuen Geist verhalten sollte, der ja keineswegs nur eine kleine Gruppe von Gelehrten ergriffen hatte. Die zunehmende Verrechtlichung, Verschriftlichung und Monetarisierung war seit der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts oft gerade von der Kirche ausgegangen, hatte aber bei dieser auch das Bestreben ausgelöst, das explodierende geistige Leben stärker zu kontrollieren, mit unschönen Folgeerscheinungen, wie Ketzerprozessen und Albigenserkriegen, aber auch Aristotelesverboten (1210,1231). Siger von Brabant, bewunderter Wortführer der Pariser ‚Averroisten‘, starb 1282 im päpstlichen Kerker von Orvieto. In einer Atmosphäre geistiger Beweglichkeit, wie sie die einsetzende städtische Geldwirtschaft, eine bürgerliche Neigung zu rationaler Voraussicht sowie zunehmend abstrakte Rechtsbeziehungen anzeigten, taugten aber die Repressionen kaum mehr als Integrationsmittel. Man lebte in einer dynamisch gewordenen Zeit, und die traditionalen Denkmuster, auch der überspannte Führungsanspruch der Kurie, wirkten ein wenig wie Fremdkörper in einem veränderten Erfahrungsraum, nicht zuletzt einer stärker individualisierten Seelenlandschaft. Der Rückgriff auf die griechisch-römische Antike eröffnete neue Perspektiven und rationale Erkenntnischancen auch bei der Interpretation der eigentlichen christlichen Lehre; die Frage war, ob nicht dabei die Reste des eschatologischen Erbes verloren gehen würden. Die augustinische Synthese von Glauben und Vernunft war in eine Krise geraten; würde es gelingen, in Vertrauen auf die Kräfte der menschlichen Vernunft ein neues Gleichgewicht zu finden? Die Reformklöster mit Cluny an der Spitze wehrten sich lange gegen die Rezeption der antiken Philosophen und den Zugriff der Vernunft auf die Glaubenswahrheiten: den Klosterschulen wurde deshalb, im Unterschied zu den Domschulen, konservative ‚Aufklärungsfeindlichkeit‘ nachgesagt. Aber es war darin zweifellos auch ein Unbehagen enthalten gegenüber der Reduktion der Religion auf das Kognitive und Beweisbare: der Rückkehr des Ewiggleichen der antiken fysis als Norm. Petrus Abaelard war noch über Anselms Ansatz hinausgegangen, den Glauben mit Mitteln der menschlichen Vernunft verstehen zu wollen: „Ich greife meiner Gewohnheit nach nicht auf die Tradition zurück, sondern auf meine Geisteskraft“, verkündete der vielgerühmte, vielgeplagte Logiker; es schien 44
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ihm möglich, die Sünde als Abwesenheit von Wissen und die Vernunft als letzte Instanz zu verstehen. Das war den Traditionalisten zu viel Intellektuellenhochmut. Bernard von Clairvaux († 1153), Vater der Kreuzzüge, Mystiker und Vertreter einer strengen, mönchischen Frömmigkeit, wollte im abaelardischen Wissensstolz nur „Stultologie“, ein destruktives Zerreden der Glaubenswahrheiten sehen. Aber das eigene militante, herrschaftliche Verständnis der Kirche war durchaus verantwortlich für die Pervertierung des Heilsgedankens zu blutigen Kreuzzügen gegen Ketzer, Wenden, Sarazenen oder Byzanz, auch eine Verwechslung des Reichs Gottes mit überdehnter Papstherrschaft. Der Kampf gegen die verabscheute Welt des Islam und das zivilisatorisch überlegene Byzanz hatte oft umstürzende Folgen, wiewohl das Einströmen neuer geistiger Impulse manchmal auch nur zur Folge hatte, dass sich der Kreis der zu zitierenden Autoritäten erweiterte. Für Albertus Magnus († 1280), den Theologen, Philosophen und Naturwissenschaftler in einem, bot ein averroistisch interpretierter Aristoteles tatsächlich den Weg zum Verständnis eigenständiger Erkenntnisbereiche, das auch durch eigene Erfahrung des zu Fuß reisenden „Kommentators“ ergänzt wurde. Sein höchstes Erkenntnisziel waren aber nicht die Dinge an sich, sondern ihre zweckbestimmte Zuordnung auf das Ganze der Schöpfung. Dabei vertrat der Dominikaner, in einer Atmosphäre ständiger öffentlicher Streitgespräche, so wie sein Ordensbruder Thomas von Aquino († 1274), das erkenntnisfördernde Recht auch des irrenden Bewusstseins. Der zunächst (1270, 1277) verketzerte, später heiliggesprochene Thomas, der außer Aristoteles auch Averroes, Avicenna und Maimonides verpflichtet war, lehrte ebenfalls die Eigenwertigkeit und Eigenwirksamkeit der Welt (der causae secundae):die Welt bildet eine unveränderliche, vollkommene Ordnung, kein einfaches Nebeneinander, sondern ein stufenweises System aufeinander folgender Zwecke. Weil Gott jeder Kreatur gestattet, sich gemäß ihrer eigenen Natur zu entfalten, sollte auch der Mensch sein Menschsein, nicht allein den Intellekt, voll verwirklichen. Auf dieser Grundlage schien es ihm möglich, die Vernunft auf der Basis von Trieben und Leidenschaften wirken zu lassen, und analog die natürlichen sozialen Bindungen als Stufe zu einer höheren Form der Gottesliebe zu begreifen; aus dem relativ Guten wird schließlich das bonum universale. Die Stufenlehre, die Thomas auch im Nacheinander der biblischen Geschichte – von der alttestamentarischen lex imperfecta zur nova lex Cristi – verwirklicht glaubt, beruht auf der aristotelische Lehre von den Zweckursachen, bei denen die niedere Stufe die höhere schon im Keim enthält; das höchste Ziel ist für Thomas das Schauen einer vorgegebenen Wahrheit, die fruitio divina. Daneben kennt er das ebenfalls legitime Ziel einer perfectio naturalis, des Lebens in Tüchtigkeit und Tugend; die Gesellschaft als teleologische Einheit, 45
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die die in ihr angelegten Möglichkeiten tätig-kommunikativ verwirklichen soll. Die Bibel wird unhistorisch als Bestandteil einer ewigen kosmologischen Ordnung interpretiert, wobei dem Doctor angelicus vor lauter rationalen Konklusionen die existentiellen Aspekte des Glaubens und der Zukunftsbezug verloren zu gehen drohen. Gewiss: Gnade hebt Natur nicht auf, sondern vollendet sie. Aber auch die Natur der Selbstsucht und des Zwangs – Privateigentum, politische Herrschaft, ja Sklaverei – im Grunde sündhafte Einrichtungen der Gesellschaft, werden von Thomas’ weltoffener Theologie providentiell aufgeladen zu Mitteln des Guten. Sie dienen, wie die Arbeit, der Existenzerhaltung und der Askese in einem, man kann sie als Werkzeuge menschlicher Höherentwicklung verstehen. Das absolute Ziel der Seligkeit wird erreicht auf der Basis relativer Ordnungen, gewissermaßen einer ‚Bearbeitung der Welt durch Gott‘, dem der Mensch gerade mit seinem freien Willen und seiner Vernunft zuarbeitet. Es fällt Thomas aber nicht ein, seine Architektur der göttlich bestimmten Zweckursachen realgeschichtlich zu verorten, „in den Fluss des Werdens hineinzuziehen“ (Troeltsch).27 Das ist auch Otto von Freising (Chronica, um 1146) nicht eingefallen: der in Paris ausgebildete Babenberger wollte aber in der Nachfolge Augustins, im Bewusstsein des nahenden Endes der Geschichte, die Hand Gottes im irdischen Geschehen erkennen. Spätere wissen mehr: Wir werden durch die fortschreitende Zeit über den Sinn des Ganzen belehrt. Der gelehrte Zisterzienser war gegenüber immanent-weltlichen kausalen Zusammenhängen relativ offen; so griff er den polybianischen Gedanken eines inneren Entwicklungsgesetzes der Macht auf, auf deren Entfaltung die schrittweise Selbstzerstörung und Übertragung auf andere folgt. Nach seinen Worten hat er das Elend der Zeit „nach Art eines Trauerspiels zusammengeflochten“; seit dem Investiturstreit schien die Zeit der weltlichen Macht abgelaufen, und eine neue translatio imperii würde nicht mehr erfolgen. Der Griff der Kirche in den politischen Bereich war dem Enkel Heinrichs IV. und Onkel Kaiser Barbarossas dennoch fragwürdig; aus den Wirren der Gegenwart kündigte sich ihm nur das nahende Endgericht an. Solch prophetisches Geschichtsdenken lag dem Aquinesen fern. Das hing vor allem mit seinem antik-zeitlosen Gedankengebäude zusammen und einer vermittelnden Haltung, die es weit von sich wies, die bestehende organische Ordnung mit ihren Abstufungen und arbeitsteiligen Gliederungen grundsätzlich in Frage zu stellen. Wichtig war ihm eine lenkende und ordnende Instanz, die nicht unbedingt der Papst sein musste; er war sich der Gefahr bewusst, dass auf eine schlimme Gegenwart eine noch schlimmere Zeit folgen könne. Eine innergeschichtliche Perspektive hatte in Thomas’ großer Synthese aber ebensowenig Raum, wie ein apokalyptisches Ende. 46
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Von ihm bekämpft wurde die Lehre von der zweifachen Wahrheit, einer natürlichen und einer offenbarten, wie sie (der von Dante neben Thomas ins Paradies versetzte Averroist) Siger von Brabant vertrat: Die natürliche und die offenbarte Wahrheit mochten in letzter Instanz zusammenfallen, doch werde das, was der Denker klar und begrifflich erkannt hatte, von der Menge nur in bildlicher Hülle geglaubt, die Forderungen der Vernunft dieser nur durch Strafe und Lohn aufgezwungen (Windelband). Ein „modernes“ Paradigma bot die Vorstellung von der Erde als einer großen Werkstatt und des Menschen als eines schaffenden Handwerkers schon bei Gerhoch von Reichersberg († 1169), der allerdings, entsetzt über den selbstzerstörerischen Kampf zwischen Kaiser und Papst, Niedergangsgedanken anhing. – An der Fakultät der freien Künste, die Voraussetzung jeder universitären Bildung war, herrschte meist ein sehr weltlicher, ja anarchischer Geist, bis hin zur satirischen Infragestellung überlieferter Einrichtungen, die Ehe und die gesellschaftlichen Hierarchien eingeschlossen (Johannes von Meung). Eine neue Geisteshaltung, wenn auch kaum die „faustische“ Indienstnahme der Wissenschaft, der bisherigen Magd der Theologie, für einen „technischen Willen zur Macht“ – um mit Oswald Spengler zu sprechen –, kündigte sich in den Franziskanerklöstern an. Franz von Assisi († 1226), der Laie, der gar keinen eigenen Orden gründen wollte, sondern sich der exemplarischen Armut, Handarbeit und demütigen Nachfolge Christi als hilflosem Menschen und Friedensstifter ergab und der die Schöpfung als ‚Schwester Sonne‘, ‚Bruder Mond‘, und ‚Bruder Wolf‘ besang, stand mit seiner Botschaft der Liebe im faktischen Gegensatz zur herrschenden Gewalt und Habsucht, ja kam in mancher Hinsicht dem Ideal der verfolgten Katharer und Waldenser nahe. Trotz der Verfremdung und Unterdrückung des Gedankenguts des Poverello fanden Teile seines radikalen Vermächtnisses Zuflucht bei dem nach ihm benannten Orden, wobei seine Öffnung zur Schöpfung allerdings recht unkonventionelle Formen annehmen konnte. Oxforder Franziskaner, wie Roger Bacon († 1294) lehrten, gegen die Berufung auf Autoritäten und gegen die Eitelkeit und Trägheit der Gelehrten, die Wichtigkeit von Erfahrung und Experiment im weitesten Sinn. Die Kirche missbilligte traditionell den Griff ins Innere der Natur als quasi Entweihung des Schoßes der Großen Mutter, und Roger Bacon, dessen Ansatz auf eine AllWissenschaft und Allreligion hinauslief, wurde von seinen Ordensoberen ins Gefängnis geworfen.28 In Kombination mit einem ekstatischen Prophetismus, der die fleischliche Kirche überwinden wollte, kam es zu wiederholten Verfolgungen insbesondere der ‚Franziskaner-Spiritualen‘; sie pflegten nicht nur Experimente, Zahlen- und Lichtmystik, sondern strebten eine grundlegende Reform der verdorbenen Kirche an, einschließlich des leeren Intellektualismus 47
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der Universitäten. Ihr Streben nach Erkenntnis der Natur, nach einer Verwandlung der Elemente, war auf Erlösung gerichtet, der noch astrologische Berechnungen der Endzeit dienen sollten. Aus dieser Mischung von Empirie und Magie, Astronomie und Prophetie entstand aber kein ‚faustisches‘ Weltgefühl, und schon gar keine säkulare Geschichtsauffassung. Auch Dante Alighieri († 1321), der von der päpstlichen Partei aus seiner Vaterstadt verbannte Dichter, griff in seiner Monarchia (nach 1316) die Herrschund Habsucht der Kurie an. Dabei unterschied er zwei eigenständige Bereiche mit irdischer und ewiger Glückseligkeit als jeweiliger Zweckbestimmung; für den ersteren, die civilitas humani generis, setzte er, die humanistische Verklärung des Menschen vorwegnehmend, den Maßstab, „in höchstem Grade eins mit seiner Art zu sein“. Diesem Leitbild entsprach der Begriff einer kumulierten menschlichen Gesamtvernunft und einer – Christen und Nichtchristen umfassenden – Weltmonarchie als deren legitimem Ausdruck. Die darin verwirklichte Konzentration von Willen, Vernunft und Gerechtigkeit verstand sich, wie bei Thomas, als irdisches Abbild kosmischer Ordnung, nicht etwa innergeschichtliche prognosis: Dante dachte nicht daran, die aristotelische Teleologie, die im Menschen angelegter Potenzen als säkularen Zukunftsentwurf der beatitudo vite eterne (sic) der Theologen gegenüberzustellen.29 Seine Vision des Weltstaats war auch nicht auf den Luxemburger Kaiser Heinrich VII. bezogen, sondern drückte das Ungenügen an der eigenen Zeit aus (Miethke). Dantes Comedia verknüpft dann Elemente christlicher Symbolik mit ptolemäischer Astronomie zu einer poetischen Hierarchie der Sphären. Wenn der politische Dichter die Großen der Vergangenheit und Gegenwart in die Hölle oder ins Fegefeuer versetzt, dann ist das ein literarisches Jüngstes Gericht, ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit, aber auch ein Hinweis darauf, dass die Zukunft der Menschheit letztlich bei Gott liegt. Dantes Geschichtsziel ist die gereinigte Geistkirche, politisch beschützt vom Kaisertum; für die Dimension der Zukunft, ohnehin nur Anlass zur Selbstbesinnung, ist nach wie vor die Theologie zuständig. Doch sah sich diese zunehmend außerstande, neben dem Bereich des Glaubens und Sollens, auch den des Wissens und Könnens unter einen Hut zu bringen. Die thomistische Synthese erwies sich zunehmend als brüchig. Sie wurde von weltlichen Unterströmungen angegriffen, aber, wie wir gesehen haben, auch von Franziskanern, denen die Intellektualisierung des Glaubens, als bloße Anerkennung einer Lehre, ein Ärgernis war: Wille, Glaube und Liebe waren für sie – neben mystischer Versenkung – grundlegender als der Verstand. Duns Scotus († 1308) wandte entsprechend gegen Thomas’ Vervollkommnungsgedanken ein, der Mensch sei keine perfectio naturae, keine Frucht natürlicher Vervollkommnung sondern eher ein defectus naturae, ein kontingentes Mängelwesen, dessen natürliche Erkenntnis- und Vervollkommnungsfähigkeit durch 48
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den Sündenfall getrübt ist. Die Natur war für ihn unlesbar geworden und besonders die letzten Wahrheiten – der ganz andere Gott – nicht rational deduzierbar: eine Absage an den latenten Humanismus der scholastischen Methode. Der Verstand übt keine zwingende Gewalt über den Willen aus, sondern bietet ihm nur Gegenstände zur Wahl. So verschiebt sich bei Duns auch das letzte Ziel des Menschen vom intellektuellen Schauen der Wahrheit hin zum willensmäßigen Streben nach dem Guten, damit zur biblischen Primat des Handelns. Auch aus anderer Ecke kündigte sich Kritik am hochmittelalterlichen kirchlichen Selbstverständnis an. Ein die Welt und ihre Ordnungen anerkennendes, intellektuell abgesichertes, sich auf Sakramentalvermittlung und Seelenleitung konzentrierendes Christentum hatte die ursprünglichen Elemente radikaler Weltablehnung, apostolischer Armut und Liebesgemeinschaft ins Ordensleben abgedrängt oder, schlimmer, als anarchisch-sektiererisch verfolgt. Die gregorianische Revolution von oben hatte nicht gezögert, städtische Laien gegen einen „simonistischen“ bzw. verheirateten Klerus zu mobilisieren; angesichts einer vor den radikalen Folgen zurückschreckenden restaurativen Kirche drängten die geweckten Energien, wie schon gesagt, über die päpstlichen Reformziele hinaus. Katharer, Waldenser, Albigenser mussten für ihr Reinheits- und Brüderlichkeitsstreben blutig büßen. Der Kompromiss der Anstaltskirche mit der Staatsgewalt, mit rationalem Recht und Geldwirtschaft, in Bedingungen einer sich differenzierenden städtischen Gesellschaft, musste den Graben zur überschaubaren, auf Naturalwirtschaft beruhenden Nachbarschaftsethik immer tiefer werden lassen. Scholastische Rechtfertigungen einer in weltliche Händel und städtische Wirtschaftsformen verstrickten Kirche mussten entsprechend auf Unverständnis und schroffe Kritik stoßen: Das hektische Wachstum der Städte und der Luxus der Oberschichten waren kaum mehr als Fortschritte des Gottesreichs, auch nicht als Stärkung einer christlich organisierten Kultur, vermittelbar. Das in Bedingungen einer prinzipiell friedlichen Gewerbestadt herausgebildete Laienchristentum neigte, insbesondere in seinen unteren Schichten, zum Protest gegen die verweltlichte Kirche und zum Rückgriff auf die Bergpredigt, sozusagen auf ein absolutes Naturrecht des vorstaatlichen Zustands. Zur Skepsis gegenüber den Sakramenten aus der Hand unwürdiger Kleriker kam die Verwerfung von Zehnt, Eid, Gewalt und Krieg. In der Gestalt joachitischer Visionen erhielt dieser Protest eine besonders explosive eschatologische Legitimation. Joachims von Fiore († 1202) eigenes Jahrhundert schien von Verfall und Untergang geprägt, während das Zukunftsbild des Mystikers und Zisterzienserabts aus Kalabrien die unmittelbar bevorstehende Ordnung des heiligen Geistes umso heller erstrahlen ließ. Seine von 49
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der Offenbarung Johannis ausgehende Deutung gelangt zu einem umfassenden, trinitarisch angelegten Geschichtsschema, wonach sich die Welt durch das Heilsgeschehen stufenweise progressiv verändert – vom Gesetz des Vaters, der Furcht und der Mühe, über die Zucht und das Stückwerk einer sapientia ex parte der Kirche des Sohnes, bis hin zum hereinbrechenden Zeitalter der Freiheit, der plenitudo intellectus, der Kontemplation im Zeichen des Geistes. Die Fülle der Zeit (Gal.4, 4) liegt somit nicht in der Vergangenheit, die, wie Johannes der Täufer, nur allegorisch über sich hinausweist, sondern in der Zukunft. Nüchterne Wissenschaftshistoriker (J. Delvaille) stellen fest, derartige Spekulationen seien wertlos und ohne Einfluss auf den Fortschritt des menschheitlichen Denkens geblieben. Doch solche Fehlurteile übersehen die Brisanz der joachitischen Visionen, die vor allem in der vorwegnehmenden Entwertung der kirchlichen Autoritäten, Hierarchien und Sakramente durch die Künder des kommenden Dritten Reiches bestand. Ein neuer Mönchsorden und ein novus dux, die Schrittmacher der kommenden Ordnung, ließen sich auf tatsächliche Personen der Gegenwart (Friedrich II.) beziehen und das Zeitalter der Liebe und Freiheit als unmittelbar bevorstehend in die eigenen Hände nehmen. Gleich, ob die Prophezeiung primär und die Verurteilung der misslichen Gegenwart von der Erwartung ihres baldigen Endes abgeleitet war, oder aber das Unvermögen, die Verhältnisse zu verändern, nur verzweifelte Zuflucht suchte in der Berufung auf ein apokalyptisches Ende: Das Unbehagen an einer krisenhaften Zeit spitzt sich zu und der rationalen Begrifflichkeit der Scholastik droht der Verlust der Deutungshoheit. Hatte sich schon in der franziskanischen Bewegung ein Primat des Willens und Glaubens angekündigt, so nahm die Frömmigkeit des 14.Jahrhunderts immer häufiger Formen eines mystischen Enthusiasmus an. Theologia non est scientia propre dicta, die Theologie ist keine strenge Wissenschaft, erklärte der Oxforder Franziskaner William Ockham († 1348); nicht allein Gottes Allmacht lässt sich mit den Mitteln menschlicher Vernunft nicht erfassen, den menschlichen Begriffen entsprechen überhaupt jenseits der Einzeldinge keine „Universalien“. Die Unangemessenheit unserer Kategorien gegenüber Gott sollte nicht als Willkürlichkeit dessen Handelns verstanden werden, dennoch brach der Gedanke der Kontingenz aller Ordnung mit der scholastischen Einheit von Glauben und Vernunft. Auch der Papst konnte nach Ockham irren, gar der gegenwärtige, „in ketzerische Verkehrtheit verfallene“ Johannes XXII.; christlichen Laien wird deshalb von Ockham das Notrecht eingeräumt, aus Glauben und Willen heraus für eine Rückführung der verweltlichten Kirche auf das ursprüngliche Ideal zu sorgen. Die Sache Gottes ist nicht ausschließlich Sache der Kleriker. Das hatten französische Könige, wie Philipp der Schöne, nach 1300 mit der Demütigung des Papstes und der von seinen Legisten gerechtfertigten Ver50
2. Heilsgeschichte
nichtung des reichen Templerordens vorweggenommen, wenn auch ohne Absicht einer Kirchenreform im Sinne der Franziskaner. Der Streit wiederholte sich nach 1324 um die franziskanische Armutsauffassung, und führende Ordensgeistliche mussten Schutz am Münchener Hof Ludwigs des Bayern suchen. Aber auch den Königen ist nach Ockham nur in Dingen zu gehorchen, die dem allgemeinen Wohl dienen: die Herrschaft über Menschen ist, ebenso wie die Eigentumsordnung, das Ergebnis menschlicher Entscheidungen, und an der Erfüllung ihrer Aufgaben zu messen, also im Notfall widerrufbar: Kraft Naturrecht sind Könige absetzbar und auch das Eigentum nicht sakrosankt. Überhaupt argumentiert Ockham äußerst ‚modern‘: weder lässt es die Würde des Menschengeschlechts zu, dass freie Menschen wie Sklaven behandelt werden, noch sollten die Gelehrten das Wort Gottes verschweigen, es sei denn, sie werden zu canes muti non valentes latrare – stumme Hunde, die nicht bellen können (Miethke). – Spätestens seit dem Schwarzen Tod (1348/49), dem auch Ockham zum Opfer fiel, mit dem Verlust von etwa 30% der Gesamtbevölkerung des Kontinents, schlug das Gleichgewicht und das Selbstvertrauen des Hochmittelalters in Angst vor dem bevorstehenden großen Strafgericht um. Auch die Universitäten bildeten keine Ausnahme; alles andere als Inseln selbstgewisser Rationalität, wurden sie von der Krise des Spätmittelalters voll erfasst. Ihre Aristokratisierung und Privilegierung förderten Verknöcherung und das Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis; die aufkommende Tendenz zur Verunglimpfung von Wissenschaft ließ einzelne naturwissenschaft liche Erkenntnisse (Buridan, Nikolaus von Oresme) folgenlos bleiben. Beim Jüngsten Gericht wird man euch nicht fragen, was ihr wusstet, sondern was ihr tatet, und in der Hölle wird es keine Wissenschaft mehr geben, hieß es in einem Jean Gerson, dem Pariser Rektor und Hus’ Richter in Konstanz zugeschriebenen Buch. Allgegenwärtige Bilder von Totentanz und Teufel, begleitet von Flagellantentum und barbarischen Judenpogromen, sind erschreckende Zeugnisse einer Verunsicherung, die sich nicht zuletzt gegen die versagende Anstaltskirche, ihre Träger und Heilsmittel, wandte. Im Unterschied zum verbreiteten Nominalismus, wollte der Oxforder Neuplatoniker John Wyclif († 1384) in den ewigen Ideen die wahren Dinge sehen, letztlich unmittelbare Emanationen Gottes. Sie waren aber nicht dazu bestimmt, in Kontemplation geschaut, sondern Vehikel einer scharfen Gesellschafts- und vor allem Kirchenkritik zu werden. Die Verhältnisse werden auf diese Weise mit einem utopischen, sozusagen aus dem ‚Naturrecht vor dem Sündenfall‘ abgeleiteten Gottesgesetz als absoluter Norm konfrontiert. Wyclifs Prädestinationslehre, die die Kirche als Gemeinschaft der zur Erlösung Vorherbestimmten verstehen wollte, relativierte mit den Sakramenten mehr oder weniger konsequent die gesamte Institution; die Priester sollten, freiwillig oder vom 51
I. PRÄFORMATIONEN
Landesherrn gezwungen, zur apostolischen Armut der Urkirche zurückkehren. Aber auch die weltlichen Berufe standen in seinen Augen unter dem für alle gültigen Gesetz der Liebe. Die formale Rückwärtsgewandtheit der Kritik am weltlichen Fortschritt öffnet in der Lebenswirklichkeit den Horizont für eine neue Zukunftsorientierung – als Verinnerlichung des einzelnen, als Kirchen reform und Forderung einer Versittlichung der gesamten Gesellschaft. Das Gesetz Gottes, scheinbar aus archaischer Vergangenheit herbeigeholt, wird zum verbindlichen, prophetischen Leitbild. In Böhmen vor allem fielen Wyclifs Lehren auf vorbereiteten Boden: Volkshäresien, die devotio moderna, die Kirchenkritik eines Matthias von Janov († 1393), ließen in einer Situation der weltlichen und kirchlichen Wirren auch die sichtbare Kirche als sündhafte, untaugliche Einrichtung erscheinen. Jan Hus’ († 1415) Angriff auf Amtsinhaber in Todsünde (nullus est dominus civilis, nullus est…episcopus, dum est in peccato mortaIi, es gibt keine weltlichen und keine geistlichen Herren in Todsünde), war mit dem Zusatz „digne“ versehen, also: kein Sünder ist würdiger Amtsinhaber. Das hieß, dass Hus das Gottes gesetz Wyclifs, anders als seine radikalen Anhänger, keineswegs als eschatologische, unmittelbare Handlungsanleitung interpretierte. Die Untertanen sollten trotzdem selbst beurteilen dürfen, ob sie die Anweisungen ihrer Obrigkeiten als angemessen befolgen oder als falsch zurückweisen wollten – eine Radikalisierung der Lehren Ockhams.30 Hus’ Anhänger, in einer Situation allgemeiner Empörung und Unsicherheit, verstanden dies als Recht auf Ungehorsam und Widerstand gegen eine ihr Amt ‚gegen das Gottesgesetz‘ ausübende geistliche Obrigkeit; des Meisters Märtyrertod auf dem Konstanzer Scheiterhaufen hatte ja auch ein Beispiel für die Berufung auf Christus als höchste Norm gegeben. Die in Hus’ Namen erfolgte Revolution der Gottesstreiter, die die böhmische Anstaltskirche zerschlug und die Kirchengüter einzog, folgte primär keinem säkularen Impuls. Die anfängliche eschatologische Erwartung des Gottesreichs, die den spezifischen Unterschied zwischen Priestern und Laien aufhob und den Heiligkeitsbegriff auf eine innerweltliche brüderliche Gemeinschaft übertrug, lebte vom heilsgeschichtlichen Auftrag. Die theokratische Utopie vom Gottesvolk, das dem Fortschreiten Gottes den Weg bahnen wollte, mündete, dem Gesetz aller Revolution folgend, in selbstermächtigte blutige Gewalt und Zerstörung. Die alte Kirche verlor aber in ihrem Abwehrkampf nicht nur die Deutungshoheit, sondern auch die Souveränität des Glaubens ans kommende Reich und konzentrierte sich zunehmend auf die Bewahrung ihrer institutionellen Machtstellung. Das heilsgeschichtlich orientierte Denken des Mittelalters hatte sich vom zyklischen Zeitverständnis der Antike ebenso gelöst, wie von der Ausschließ52
2. Heilsgeschichte
lichkeit der Raumordnungen samt deren ethnisch-kulturellen Begrenzungen. Mit der Frage nach Sinn und Wert des menschlichen Daseins entwächst der Mensch dem Mythos, dem Aufgehen in der Wirklichkeit (Hermann Cohen). Der Bezug auf die Erlösung durch Christus und die Erwartung einer kommenden „Fülle der Zeit“ schiebt über die sichtbaren Raumgenossenschaften eine unsichtbare universale Zeitgenossenschaft. Die Teilhabe an einer absoluten Zeit hebt die Entscheidungen der Realgeschichte als Letztinstanz auf und „entgöttert“ die Welt in einem befreienden Sinn31. Die weiterhin zyklisch bestimmten Erfahrungsräume verlieren dadurch nicht ihre bedingte Gültigkeit; umgekehrt muss sich die fortschreitende Zeit den raumgebundenen Lebensformen der Völker anpassen, muss ihre Freiheitsbotschaft in Begriffen der vergänglichen Ordnungen – und des antik-ontologischen Denkens – verständlich machen. Es entsteht ein Spannungsverhältnis sowohl zwischen weltlicher Herrschaft und den als unverfügbar empfundenen Geboten Gottes, als auch zwischen antikrationalem Anspruch auf Verstehen eines mystischen Geschehens und der Hoffnung auf absolute Gerechtigkeit und Freiheit. Das irdische Geschehen ist aufgenommen in die Große Erzählung vom Fortschreiten des Gottesreichs, das aber von der herrschenden Kirche als schon anwesend gedeutet wird; die vielfältigen weltlichen Zwecke und Zwänge werden in einen übergreifenden Sinnhorizont einbezogen und geraten unter Rechtfertigungszwang, aber gelten auch als von Gott eingesetzt. Die Herrschaft der Kirche wird anderseits immer wieder an Freiheitsversprechungen gemessen, die sie verdrängt hat. Die Kirche ist auf die Welt angewiesen, sie hat keinen anderen Ort der Bewährung, sie nutzt sie für die eigene Machtstellung, oft skrupellos, und vergisst das Gesetz des Fortschreitens, unter dem sie einst angetreten war: Ihre Herrschaft wird zum Selbstzweck eines scheinbar schon erreichten Heils. Das erwartete Gottesgericht der Propheten und der Urkirche sowie die Ethik der Bergpredigt bleiben aber ein Stachel, der die Freiheit als hohen Wert bewahrt und die Welt als veränderungsbedürftigen Ort. Aus weltlichen Lebensformen, politischem Ehrgeiz, antiken Traditionen schält sich im Hochmittelalter eine konkurrierende Ratio eigenen Rechts heraus, auch ein anderes Menschenbild. Die großen Städte erfordern technisches Wissen, abstrakte Rechts- und Wirtschaftsnormen, die mit der einfachen traditionellen Ethik im Widerspruch stehen. Das christliche Ethos hatte sich zu einem hohen Maß auf weltliche, zumeist antike Vernunft und säkulare Ordnungen eingelassen; was es dabei in zivilisatorischer Hinsicht gewann, hatte es zwangsläufig an Fähigkeit zu prophetischer Infragestellung des Bestehenden verloren.32 In einer Atmosphäre der Auflösung und gegenseitiger Verdächtigungen wandten sich von der verweltlichten Amtskirche einerseits die Befürworter evangelischer Armut ab, aber auch die am Gängelband gehaltene Laien53
I. PRÄFORMATIONEN
kultur der Städte, der Höfe und des sich emanzipierenden weltlichen Wissens. Die ‚Raumgenossenschaft‘ des Territorialstaats, wie sie Marsilius von Padua († 1342) lehrt, bekämpft mit den weltlichen Gelüsten des Papstes auch die universale Zeitgenossenschaft der Heilsbotschaft: Frieden geht vor geistlicher Einmischung, lautete die Botschaft des Defensor pacis. Doch war die neue Weltlichkeit, genau besehen, alles andere als eine authentisch „heidnische“, sondern eine durch nach-antike Impulse geprägte: die Hochschätzung menschlicher Arbeit und des Willens im weiten Sinn, auch das lineare Zeitverständnis, waren dem antiken Denken fremd gewesen, und nicht viel anders die providentiell auf den Menschen bezogene Naturordnung, überhaupt der auf menschliche Aktivitäten angewiesene offene Zukunftshorizont. Diese Elemente waren in der mittelalterlichen Gesellschaft noch eingebunden in statische Ordnungen, und eine weltliche Fortschrittsdynamik unvorstellbar. Aber sie waren durchaus vorhanden und sollten sich im neuzeitlichen Europa als Kraftquelle unterschiedlich geprägter Bewegungen bewähren.
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II. Bausteine der Moderne 3. Das Maß aller Dinge? Wie bei dem Epochenwechsel zum Mittelalter ist die Heraufkunft der Neuzeit zunächst von krisenhaften Erschütterungen, Seuchen, Hungersnöten, Niederlagen, nicht zuletzt dem Niedergang des Papsttums, begleitet. Lorenzo Valla schloss seinen Traktat über die konstantinische Schenkung mit dem Wunsch einer baldigen Säkularisation des Kirchenstaats ab, und Battista Montovano, ein Zeitgenosse, stellte fest: „Käuflich sind bei uns Priester und Heiligtümer, Altäre und Gebete, ja der Himmel und Gott selbst.“ Die fragwürdig gewordene Institution konnte sich nur durch skrupellose Geld- und Machtpolitik erhalten. Die andere universale Autorität des Mittelalters, das westliche Kaisertum, sah sich, trotz erfolgreicher Hausmachtpolitik der Habsburger, auf den Rang einer Macht unter Mächten reduziert; die Absage an die Reichsidee stützte sich auf eine stark säkularisierte Geschichtsschreibung, die ohne Wunder, Vorsehung und translatio-imperii-Gedanken auskam: Die Germanen hatten das Römische Reich nur überrannt, aber nicht fortgesetzt. Jeder Epochenbruch erweist sich nachträglich als nur relativer. Auch das Weltbild der Neuzeit lebt stärker als zugegeben von einer Vielfalt an Traditionen und Impulsen, auch solchen, die ihre Protagonisten als einer gesunkenen, barbarischen Zwischenzeit zugehörig hinter sich zu lassen gedachten. Die Neuzeit steht im Zeichen der Selbstbehauptung der Vernunft, aber auch des menschlichen Willens, das Leben nicht nur zu ertragen, sondern selbst zu gestalten (Blumenberg): ein keineswegs identischer Doppelanspruch. Die Entsakralisierung der Realgeschichte und das Fehlen einer allgemeinverbindlichen Instanz musste zum Schluss gelangen, dass allein die menschliche Natur den Gegenstand lohnender Überlegungen bildet. Tatsächlich war eine Vision des Menschen und der Natur – vom Göttlichen durchdrungene Substanzen – einer ganzen Generation neuplatonisch inspirierter Humanisten des späten 15. Jahrhunderts das eigentliche Leitbild. Sie hielten die Vorstellung vom Sündenfall und der Welt als Jammertal für lächerlich, die Gestalt des Prometheus wurde zu ihrem Paradigma. Platon hatte die 55
II. Bausteine der Moderne
Lehre des Protagoras vom Menschen als Maß aller Dinge für fragwürdig gehalten: das ‚maßloseste Wesen‘ könne nicht zur Norm erhoben und müsse strengen Regeln unterworfen werden. Der kreative Aufbruch eines stark säkularisierten Selbstbewusstseins strebte in Wirklichkeit eine Synthese an: Die klassische Gelehrsamkeit sollte nur auf neue Weise die Weisheit des Schöpfers demonstrieren.33 Die heilsgeschichtliche Perspektive war längst verblasst; die breite Präsenz einer säkularen Antike weitete sich zur Vorstellung eines alle Kulturen übersteigenden, sich universal manifestierenden Logos aus, der seine christliche Komponente nicht ganz verleugnen konnte. Die Philosophie hatte ihren dienenden Charakter abgestreift, aber die Philosophen wurden in der Regel von der weltlichen Machtraison vereinnahmt, ebenso wie die Teleologie der Geschichte von der Herrschaft des Zufalls. Ohne Förderung und Schutz eines starken Fürsten konnte die Arbeit der Humanisten, ebenso wie die der Maler, Bildhauer, Architekten und Erfinder, nicht gedeihen. Das Neue war aber gewissermaßen im ‚Schoß des Mittelalters‘ entstanden, das ja als eine Vielfalt betrachtet werden muss. Dem Nominalismus stellte sich die Wirklichkeit als kontingent und individuell dar: Alles Allgemeine sollte erst das Ergebnis menschlicher Abstraktion sein. Damit wurden auch die vorhandenen Ordnungen auf eine Weise relativ und hinterfragbar, gerieten in die Zuständigkeit praktischer Vernunft. Dieser Ansatz war nicht ganz zu Ende gedacht; in seiner Konsequenz führte er aus der Ordnung des Mittelalters heraus. Die verpönte intellektuelle Neugier, symbolisiert im ruhelosen Odysseus, ein schrankenloser Erkenntniswille, der nicht mehr zwischen Wissenswürdigem und Beliebigem unterscheiden wollte, hatte einen nur mehr instrumentalen Bezug zu den Dingen.34 Diesem Denken war eine unzweifelhafte Affinität zu dem weltlichen Lebensgefühl eigen, das vor allem von den oberitalienischen Stadtstaaten ausstrahlte, und das sich seinerseits in den Wertvorstellungen der antiken Stadt (und in der griechisch-römischen Profanliteratur) wiederzufinden glaubte. In den von Geldwirtschaft und Orienthandel bestimmten Kaufmannsrepubliken hatte man für Weltflucht und Endzeiterwartungen nicht mehr viel Sinn; die Bedeutung von Mittelalter als Provisorium vor dem Jüngsten Gericht verschob sich hin zu einer als ‚dunkel‘ empfundenen Zeit vor der glücklichen Wiederentdeckung des antiken Erbes. Entsprechend hielten wachsende Schichten schriftkundiger Laien, in Anknüpfung an antike Lehren, Cicero, Vergil, den 1417 wiedergefundenen Lucretius, die autonome Vernunft (als Bemühen um das Wohlgeordnete) und natürliche Moral für ausreichende Wegweiser. Dazu kam das römische Recht, das ausgehend von der Bologneser Rechtsschule, die komplizierter gewordenen innerstädtischen Verhältnisse regelte und durch objektives Recht konfligierende subjektive Rechtsansprüche einzudämmen suchte. 56
3. Das MaSS aller Dinge?
Im politischen Bereich war das Mittelalter gescheitert, aber hatte „Hebammendienste“ bei der Geburt der Neuzeit (H. Diwald) geleistet. Seit dem 14. Jahrhundert bildeten sich aus den Erschütterungen von Papstschisma und Hundertjährigem Krieg in gegenseitigem Konflikt die ‚nationalen‘ Identitäten Englands und Frankreichs heraus und lösten sich in ihrem Souveränitätsanspruch von kirchlich-kaiserlicher universalistischer Suprematie; ironischerweise übernahmen sie vom avignonesischen Papsttum eine der Ursachen des kirch lichen Ansehensverlusts – die effiziente juristisch-finanztechnische Zentralverwaltung. Ein bürgerlich besetzter einheitlicher Behördenapparat war der Schlüssel zu Ordnung, Macht und Reichtum, auch zur Konzentration von Architekten, Malern, Dichtern und Humanisten als notwendiger kultureller Repräsentation weltlicher Herrschaft. Dabei unterschieden sich die Renaissancepäpste in territorialem Machtstreben, Prunkentfaltung und Kulturmäzenatentum kaum von den übrigen Fürstenhöfen des 15. Jahrhunderts und blieben auch in Skrupellosigkeit nicht hinter diesen zurück. Die Glaubenswerte, die Duns Scotus aus aristotelischen Wissensformeln befreien und auf menschliches Handeln orientieren wollte, gerieten durch diese Praxis in allgemeinen Misskredit bei den Gebildeten. Der Kult der Schönheit, neuplatonisch-byzantinisch als Emanation des Geistes, aber auch „zweite Offenbarung“ interpretiert und oft in Pantheismus übergehend, stellte das erhabene Weltall als vornehmsten Gegenstand der Erkenntnis in den Vordergrund und den Menschen als „Mikrokosmos“ in seiner Mitte: Gott als ‚letzte Ursache‘ wird als auf eine Weise zum Künstler. Schönheit sollte mit einem Kunstensemble Askese und dogmatischen Streit begraben, wohl auch kompensatorisch mit einer heiteren symbolischen Kulisse zudecken. „Der Katholizismus war selbst zur Kunst geworden“ (Durant).35 Das war eine Übertreibung, aber nicht ganz falsch. Die begrifflich-analytische Scholastik wurde als unangemessenes Werkzeug der Weltorientierung empfunden; Kunst und Poesie schienen diesem adäquater zu sein, ja die Theologie mochte selbst zur Poesie herabgestuft werden. Niemand lügt mehr über das Göttliche, erklärte Marsilio Ficino († 1499), als wer es mit genauem Maß misst – was aber die Scholastik zu tun versuchte. Der Mensch, ein „deus in terris“, solle aufhören, seiner eigenen Göttlichkeit zu misstrauen, empfahl der Begründer der platonischen Akademie im mediceischen Florenz. Der Mensch ist im Sinn des populären Mythos des Protagoras nicht nur imstande, die Welt nach seinem Maß zu messen und nachzubilden, sondern kunstreich zu beherrschen. Nicht nur Künstler, auch Kaufleute, Bankiers und Soldaten können Träger schöpferischer Tätigkeit sein: die vita activa wird der mönchischen vita contemplativa vorgezogen. Der Horizont der Zeit hatte sich zweifellos erweitert – um den Preis, dass sich Raum und Natur als Leitbilder über die mittelalterliche zeitliche Erwartung des 57
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Gottesreiches schoben; der Raum, der für Maler, Wissenschaftler und Architekten der Renaissance im Zentrum ihrer Tätigkeit stand, ersetzte den hierarchischen Kosmos schließlich in Form eines leeren, unendlichen und homogenen geometrischen Netzes (Patočka), was sich auch bei der Formulierung der mathematischen Prinzipien der Mechanik als fruchtbar erweisen sollte. Es war keine zufällige Parallele, dass in der Lebenswelt der Renaissancemetropolen die Beherrschung von Raum, neben leiblichen und ästhetischen Genüssen, die Orientierung am kommenden Heil und das Sündenbewusstsein verdrängten. Der Kardinal-Philosoph Nikolaus von Kues († 1464), Gegner des Aristotelismus und Vorreiter einer mathematisierten einheitlichen Naturlehre, wollte in der Zunahme rationaler Erkenntnis einen Fortschritt, doch Fortschritt im Nicht-Wissen, docta ignorantia sehen. Der Verstand ist fürs Zähl- und Messbare zuständig, für das Abgrenzen und definierende Begreifen. Nur in der Rückwendung auf sich selbst findet der Mensch ein Kriterium, das mit dem unzugänglichen Absoluten, dem unendlichen Deus absconditus, zwar noch keine Ähnlichkeit besitzt, aber doch ein Spiegel des Universums ist: der Mensch, ein Mikrokosmos, ist eben deshalb der Schlüssel der Erkenntnis.36 Die Renaissance ging mit dem Neuplatoniker Pico della Mirandola († 1494), der 1486 ein Philosophenkonzil zur Versöhnung aller Konfessionen und Denkrichtungen abhalten wollte, einen Schritt über Cusanus hinaus, in Richtung einer Vergöttlichung der menschlichen Natur, Vernunft und Schöpferkraft: „Du, durch keine Beschränkung eingeengt, sollst dein Wesen bilden nach freiem Ermessen“. Im Menschen ist die gesamte Welt – als Möglichkeit rationaler Erkenntnis und Beherrschung, wie künstlerischer Nachbildung – enthalten; noch die Entdeckung der Zentralperspektive unterstreicht die Wahrheit des menschlichen Auges. Das Goldene Zeitalter des mediceischen Florenz und mit ihm konkurrierende Zentren der Bildung sammelte besessen antike Handschriften und kanonisierte die Maßstäbe der Alten, doch war die Wiedergeburt der Antike, und mit ihr des zyklischen Zeitverständnisses, keine bloße Verklärung der Vergangenheit, sondern ein regenerierender Griff nach vermeintlich überzeitlich gültiger Vollkommenheit.
Und die Sonne Homers, siehe, sie lächelt auch uns (Schiller).
Das könnte bedeuten, dass im Bewusstsein der Renaissance, trotz aller Begeisterung der Humanisten, im Grunde kein Fortschritt stattfindet, sondern man sich nur auf halbvergessene frühere Höhen zurückbesinnt. Das Studium der Alten war aber letztlich kein Selbstzweck, sondern nur eine Stütze für die neue, noch unsichere Subjektivität und Ich-Bewusstheit (auch für die neue italianità). Der Mut zu sich selbst, die Freiheit als Lebensform, wie sie die Humanisten prokla58
3. Das MaSS aller Dinge?
mierten, bedurfte der Absicherung, gegebenenfalls einer ‚Wiederkehr der Transzendenz mit Hilfe immanenter Faktoren‘ (Münkler). Es sollte eben kein sklavisches Konservieren des vor tausend Jahren Erkannten und Erreichten sein, hatte schon Petrarca († 1374) verkündet: „Niemals wird scharfsinnigen Geistern der Weg zur Erforschung neuer Dinge versperrt sein“. In Kenntnis der Klassiker gelte es, „inaccessa tentare“ (Unversuchtes erproben). Von ihm stammt die Trias Altertum-Mittelalter-Neuzeit, eine Verlegenheitseinteilung, die sowohl die christliche Endzeiterwartung als auch die Lehre von der Abfolge der Weltreiche verdrängte. Der Brückenschlag über das ‚Dunkelzeitalter‘ hinweg zu den unübertroffenen klassischen Vorbildern schien wie gesagt der Entwicklung einer authentischen Fortschrittsidee im Wege zu stehen: Nur weil sich im Grunde alles wiederholt, ist gültiges Begriffsdenken, ist auch Wissenschaft möglich: „Wer also sorgfältig die Vergangenheit untersucht“, führt Niccolò Machiavelli († 1527) aus, „kann leicht die zukünftigen Ereignisse in jedem Staat vorhersehen und dieselben Mittel anwenden, die von den Alten angewandt wurden“ (Discorsi I). Machiavellis Politikverständnis ist scheinbar moralfrei und „naturgeschichtlich“-zeitlos, technisch:37 bewaffnete Propheten siegen, waffenlose werden gekreuzigt; Grausamkeiten sind nützlich, wenn sie wohlüberlegt Ruhe schaffen, aber unzweckmäßig, wenn sie nur weitere Grausamkeiten nach sich ziehen; Furcht vor Strafe ist sicherer, als Vertrauen in Pflichtgefühl; ein unumgänglicher Krieg ist auch ein gerechter; der gewissenhafte Herrscher geht unter, weil die Menschen böse sind. Das entsprach etwa Thukydides’ pessimistischer Anthropologie des Bürgerkriegs und einem Menschenbild, das vor allem von Machttrieb und Furcht bestimmt wird („…dass alles Menschenwesen allezeit nach dem Zwang seiner Natur, soweit es Macht hat, herrscht“); entsprechend ist der Zweck politischer Macht die „technische“ Beherrschung des Schicksals, insbesondere in der Form menschlicher Unbeständigkeit. – Die Wiederherstellung politischer Tüchtigkeit war aber eine schwerere Aufgabe als die Übernahme antiker künstlerischer Maßstäbe. Machiavellis Therapie bestand in der versittlichenden Wirkung des Milizsystems: der Bürger-Soldat lernt, weniger auf sein Privatvorteil zu achten, wie auf das Gemeinwohl. Machiavellis pragmatische Geschichtsschreibung lehrt, dass Geschichte reines Menschenwerk ist und weder göttliche Eingriffe noch providentialistische Heilspläne darin vorkommen. Der Einfall der Franzosen in Oberitalien 1494 ist eben kein Zeichen von Gottes Zorn über Sittenverderbnis der Italiener – wie ihn Savoraloa deutete –, sondern die Aufforderung, aus immer wiederkehrenden analogen Problemlagen zu lernen und entsprechend zu handeln. Machiavellis Rückgriff auf die Antike war eine verständliche Reaktion nicht nur auf die verworrene Lage Italiens um 1500, sondern auch auf den Nieder59
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gang platonisch-christlicher Politikauffassung als Ordnung der Gerechtigkeit und Erziehung zum Guten: Diese war gerade von der verweltlichten Anstaltskirche zum bloßen Aushängeschild weltlicher Machtpolitik degradiert worden. Aber die Entdeckung der vita activa und die Ablehnung in sich gekehrter Askese war nicht unchristlich; umgekehrt konnte die „Wiedergeburt der Antike“ ein partielles Missverständnis sein, wenn der Mensch als Maß aller Dinge in keinen lebendigen Kosmos im griechischen Verständnis eines umfassenden Ordnungsgefüges mehr eingebunden, sondern auf sich selbst gestellt war. Der Drang, das Leben in seiner Einmaligkeit zu ergreifen, führte, zumindest bei vielen Humanisten, zu ständiger Beschäftigung mit sich selbst, zu Selbst beobachtung, wenn nicht selbstverliebter Ich-Pflege, jedenfalls zum Rückzug ins Subjektive und Private. So versammelt Petrarca die großen Alten um sich, um der erbärmlichen Wirklichkeit der eigenen Zeit zu entgehen. Man beschwört eine Welt der Freiheit, der Toleranz und des Friedens, sucht in Sprache und Literatur eine geistige Heimat, die ein Kontrastbild zur Beschränktheit und Barbarei der äußeren Wirklichkeit darstellt. Auch die neuen Formeln, die das präzisere Verständnis der Natur versprechen, lassen den Menschen nicht mehr, wie noch bei Cusanus, als Glied des Universums durch ständiges Vorwärtsschreiten an Gottes schöpferischem Tun, seiner creatio perpetua, teilhaben. Es sind Instrumente zur Beherrschung eines begrenzten Raums, mit denen der Mensch seinem Schicksal, der ‚unbegreiflich flüchtigen Zeit‘, trotzt. Von der eschatologischen Zukunftserwartung ist nur die Entschlossenheit geblieben, durch die Beherrschung dieses bestimmten Raums den Zufall zu meistern; der Wille, die Verhältnisse so zu formen, wie der Bildhauer die Statue: „Gott will nichts Ungeformtes“ (Ficino). Sofern in der entsakralisierten Welt noch Gott eine Rolle spielt, beraubt er die Menschen weder ihres freien Willens, noch des Anteils am Ruhm. Das Glück ist mit den Tapferen (virtù bedeutet: männliche Durchsetzungskraft gegenüber der Fortuna); ‚Schicksal‘ ist keine providentiale Kraft, sondern die Chance, einen vorhandenen Stoff nach eigenem Willen zu formen: die Lehre des Principe (1513). Dem ist allenfalls hinzuzufügen, dass der uomo virtuoso, der Heros, der dem Chaos das Gesetz aufzwingt, auf den augenblicklichen Zustand der Herrschaft im ständigen Kreislauf von Ordnung und Unordnung, Verfeinerung und Degeneration, Rücksicht nehmen muss, weil er sonst das falsche politische Instrument einsetzt. Römische Gesetze auf veränderte Verhältnisse anzuwenden, lehrt auch Guiccardini, hieße einem Esel die Gangart eines Pferdes beizubringen. Im Fall des Niedergangs eines Staates kann man diesen nur verzögern, denn in der Geschichte herrscht letztlich die necessità, nicht völlige Gestaltungsfreiheit (Kersting). Dem Paradigma des aktiven Eingreifens auf der Basis unwandelbarer Naturgesetze entspricht idealtypisch das Werk des vielseitigen Genies Leonardo da 60
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Vinci († 1519). Getrieben von unbändiger Neugier und Tatkraft, wendet sich der große Maler, Bildhauer, Ingenieur, Baumeister und Erfinder ohne humanistische Schulbildung, Verächter von „Trompetern und Rezitatoren der Werke anderer“, dem Studium des Buchs der Natur zu. In den Diensten der Mailänder Sforza, Cesare Borgias, Franz I. von Frankreich, entwirft er Schleusen, Kanalbauten, Wasserleitungen, Brücken, Gewölbe, Befestigungen, Kriegsgeräte, Heizungsanlagen – immer auf der Suche nach praktischer Nutzung mathematisch formulierter Gesetze der Natur. Obwohl ganz Kind seiner Zeit, ist die volle Tragweite von Leonardos titanischem Werk erst späteren Generationen bewusst geworden. Die Wesensbestimmung des Menschen durch weltliche kreative Tätigkeit, wird rhetorisch als Abglanz göttlicher Schöpferkraft apostrophiert, ist aber letztlich eine Leistung aus eigenem Recht. Die Würde, die dem Menschen durch die Gestaltung der Dinge nach ewigen Maßstäben der Harmonie zukommt, wertet das Diesseitige und Sinnliche über den Bereich der Kunst hinaus auf und entwirft die spezifisch neuzeitliche Idee des Menschen als Schöpfers seiner selbst. Später wird man das Titanische der neuzeitlichen Existenz auf die Formel bringen, die Prophezeiungen des Menschen erfüllten sich, indem er „die Begebenheiten selber macht“. Es kommt keine präexistente Zukunft auf uns zu, sondern wir gestalten einen leeren Zeit-Raum mit unseren Verwirklichungen. Das war – ganz abgesehen von der Qualität der Prophezeiungen – eine radikale Wendung, die die psychologisch schwer erträgliche Position durch heilsgeschichtliche Konstruktionen und mehr oder weniger säkulare Teleologien kaschieren musste. Uns wird insbesondere die Wiedereinführung einer sinnvollen Zeit, einer Vorsehung, als Kontrast zur blinden Krisengöttin Fortuna, interessieren. Parallel zur Entchristlichung der Weltbilder mit Hilfe einer wiederbelebten Antike kommt somit auch das entgegengesetzte Bedürfnis nach Re-Sakralisierung auf, sei es unter Rückgriff auf das Evangelium, das Naturrecht oder das Gottesgesetz als unmittelbare Handlungsanweisung. Es ist eine Bewegung, die seit dem Spätmittelalter immer wieder die Kompromisse der verweltlichten Kirche mit Macht und Luxus radikal verworfen hat. Die expandierende Wirtschaft und der sie begleitende Triumph der Wissenschaften und Künste war von Selbstherrlichkeit und Rationalitätsvertrauen durchdrungen, ruhte aber auf einer von Irrationalität, Unsicherheit und Zufall geprägten Lebenswelt. Sie mochte deshalb als unzulässige Kalkulierung des Unkalkulierbaren, ja als Herausforderung des Schicksals erscheinen. Auch die damit verbundene Monetarisierung aller Beziehungen und Werte, verstärkt durch die unverständliche Abstraktion des Geschäftsverkehrs von Moral, konkreten Menschen und sogar Produkten, musste Protestbewegungen provozieren. Die neue Trias „Kapital, Kunst und Macht“ hatte auch in den 61
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immer noch florierenden oberitalienischen Handelsmetropolen keine Mehrheit zu Profiteuren des neuen Reichtums gemacht. Die Folgen des Aufschwungs waren eher polarisierend und ließen breite Mittel- und Unterschichten, vom weltlichen Humanismus nur oberflächlich geprägt, anfällig werden für fundamentalistische Fortschrittskritik. Das Neue Jerusalem Savonarolas († 1498), eine von Luxus, Frivolität und Parteienhader befreite geschlossene Kommune, wollte die plausible Behauptung widerlegen, ‚die Staaten ließen sich nicht durch Vaterunser regieren‘, und durch eine totale sittliche Erneuerung dem Zeitgeist Paroli bieten. Savonarola beeindruckte Zeitgenossen, wie Botticelli, der seine Bilder mit heidnischen Motiven verbrannt haben soll; trotz einiger Ähnlichkeiten mit dem puritanischen Sittenregiment Calvins war die „Herrschaft Christi“ in Florenz aber wenig geeignet, zur Herausbildung einer tragfähigen Ordnung beizutragen. Savonarola war, sowenig wie andere Reformatoren, Vertreter humanitärer sozialer Reformbestrebungen. „Das Seelenheil und dies allein war der Angelpunkt ihres Lebens und Wirkens.“ (Max Weber). Auch Martin Luther († 1546) gehörte in manchem einer statisch-vormodernen Lebenswelt an, ja auf eine Weise griff er in seinem alttestamentarischen prophetischen Pathos gegen die kommerzialisierte und ästhetisierte Kirche noch hinter das Mittelalter zurück. Luther hielt an der Herrschaft einer geistlichen Autorität ebenso fest, wie an einer stabilen Ständeordnung, und verwarf nicht nur die autonome Vernunftethik der Humanisten, sondern schon den freien Willen der „semipelagianischen“ Scholastik, ja verfocht sogar noch die mystische Realpräsenz von Fleisch und Blut Christi beim Abendmahl. Aber subjektives Wollen und reale Wirkung klaffen bei Luther besonders weit auseinander: Aus dem Versuch einer Wiederherstellung des ursprünglichen eschatologischen Christentums entstand in vieler Hinsicht Neues. Die Reformation stellte die sakraments- und wahrheitsverwaltende Anstaltskirche radikal in Frage; sie hatte sich ‚zu häuslich in der Welt eingerichtet‘ und sozusagen Eschatologie mit Hierarchie verwechselt. Dagegen bestand Luther auf dem unbedingten Jenseitscharakter des Gottesreichs. Seine Vorstellung war ursprünglich eine reine Schrift- und Predigtkirche, die ausschließlich auf die Verkündung des Wortes ausgerichtet war, auf „Botendienst für das in Anbruch begriffene regnum Christi“ (D. Braun). Deren äußere Ordnung unterlag aber bloßen Zweckmäßigkeitsüberlegungen, konnte also unter Umständen von Laien als ‚Notbischöfen‘ bestimmt werden. Machiavelli hatte der Kirche vorgeworfen, dass ihre Ethik des Duldens und ihre Geringschätzung der irdischen Dinge die Realgeschichte den Schurken ausgeliefert habe. Luther verlagerte das centrum securitatis von der Kirche mit ihren Lohn- und Strafrechnungen, die die Sünde zur ‚monetär tilgbaren Läss62
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lichkeit‘ reduzierten, ins Einzelgewissen. Sein radikaler Individualismus wollte dabei auf keinen Fall die Gewissensinstanz autonom erklären: Seine Kriterien waren vorgegeben und das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen, wie Müntzer und die aufständischen Bauern, hieße die Euangelisch freyheytt missbrauchen. Der im Grunde pessimistisch aufgefasste Mensch ist also für ihn alles andere als das Maß aller Dinge; das individuell-Besondere bleibt als Abweichung eine mögliche Bedrohung der normativen Ordnung (M. Sonntag). Luthers Entwertung der mönchischen Weltflucht war aber zumindest insofern Weltbejahung, als er diese Welt als gottgegebenen Boden interpretierte, auf dem sich der Mensch zu bewähren hatte; in Ernst Troeltschs Worten: „mitten in der Welt das Herz von der Welt befreien“. Luther verwarf zwar die nach-konstantinische verweltlichte Kirche samt ihrer ‚heidnisch verunreinigten‘ rationalisierten Theologie, aber hielt im Prinzip an der Idee der Einheitskirche fest. In ihrer äußeren Auflösung wollte er ein Zeichen des beginnenden apokalyptischen Endkampfes sehen, somit waren die protestantischen Landeskirchen ein bloßes Provisorium. Völlig außerhalb seines Denkens lagen die realgeschichtlichen Folgen seines Handelns, etwa dass mit der verdorbenen päpstlichen Institution nicht allein eine Klammer der Christenheit verloren ging, sondern auch eine mögliche zwischenstaatliche Schiedsinstanz, und die souveränen Territorialstaaten erst damit ihr Eigeninteresse zur obersten Richtschnur erheben konnten. Dies bestritt Luther energisch, ja stellte weltliche Fürsten, die „meynen, sie mügen thun und gepieten yhren unterthanen was sie nur wollen, in Aussicht, sie würden scheytern gehen mit bischoffen, pfaffen und münchen, eyn bube mit dem andern“. Dem weltlichen Regiment wies er die einzig legitime Aufgabe zu, es solle als „remedium naturae corruptae eusserllch frid schaffen und bösen wercken weren“.38 Dem universalen kaiserlichen Anspruch und seiner sakralen Funktion war nun jede Grundlage entzogen und das Reich zum Staat der Deutschen geworden – bestenfalls aufgewertet durch einen bildungsgeschichtlichen Fortschritt der translatio imperii et studii. Zu den unbeabsichtigten Folgen von Luthers Revolte zählte, trotz Ablehnung des Heilswerts menschlicher Werke, die Auffassung des Berufs als vocatio, eine Art Selbstverleugnung des Menschen im Dienst, als verselbständigter Impuls bei der Entstehung eines modernen Ethos. Die Alltagsarbeit wurde auch von Luther als sittlich indifferent und bloßer Bestandteil innerweltlicher Pflichterfüllung begriffen; traditionalistisch verurteilte er alle Versuche, sich der göttlich verfügten Ordnung zu entziehen: ein jeder bleibe bei seiner ‚Nahrung‘. Es war aber lutherisch, in der Arbeit ein Stück Gottesdienst zu erblicken. Dadurch erhielten Fleiß und Pflichterfüllung eine Prämie, die der Armut umgekehrt verlorenging. Der Nachdruck auf Verstehen des Gottesworts, auf religiöses Wissen, unterstrich in ungewollter Parallele zur Scholastik den Stellenwert des Verbalen und 63
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Schriftlichen gegenüber dem ästhetischen Renaissance-Katholizismus. Es schien sich der Sieg einer schreibenden, lesenden, druckenden, literarischen docta pietas abzuzeichnen, Triumph der Philologie über die Welt der Bilder und Wunder. Ohne die Geborgenheit im Gehäuse ritueller Entlastungen und kirchlich garantierter Dogmen fehlte einer lutherisch geprägten Kultur etwas von der Selbstverständlichkeit der traditionellen Lebenspraxis. Es entstand die typische protestantische Unruhe aus Überforderung und die ständige individuelle Selbstbeobachtung, eine nervöse Suche nach Rechtfertigung, Sinn und innerweltlicher Transzendenz.39 Die absolute Trennung von Gott und der Schöpfung, die Infragestellung der alten kirchlichen Autoritäten, trug längerfristig auch hier zur Entstehung eines säkularen Weltbilds und der Verselbständigung von Erwerb und kritischer Wissenschaft bei. Zwar verurteilte der ältere Protestantismus die Aufwertung des Erwerbslebens zur ‚Werkheiligkeit‘, legitimierte jedoch das weltliche Berufsleben als Bändigung der sündigen Triebe durch Arbeit. Nicht alle „modernisierenden“ Elemente im Luthertum kamen gleich zum Zuge; oft überwogen erst die konservativen Tendenzen. Schon aus praktischen Gründen der Selbst behauptung geriet etwa in den Vordergrund eine affirmative Haltung zum entstehenden Territorialstaat als patriarchalischer göttlicher Einrichtung und Schutz der Ordnung. Luthers christlicher Individualismus blieb erst einmal „in die Tiefen der Gesinnung versenkt“ (Troeltsch). Was der Epoche an eschatologischer Zukunftsausrichtung verloren ging, das floss über in Breitenwirkung, eine Revolution des mittelalterlichen Horizonts. Die kleine mittelmeerzentrierte Welt hatte sich seit den portugiesischen und spanischen Entdeckungsfahrten (1488, 1492,1498,1521) nicht einfach erweitert, sondern fundamental verändert; eine Raumrevolution sprengte die bisherigen Grenzen und veränderte total die bisherigen Vorstellungen von der Welt. Auch durch die osmanische Blockade der Handelswege durch die Levante wurde das Mittelmeer mit seinen Handelsrouten und Kulturzentren zugunsten der Atlantikhäfen degradiert. Kolumbus hatte den Indios sagen lassen, die Spanier kämen vom Himmel und seien auf der Suche nach Gold. Das zweite traf gewiss zu, aber der Himmel war zumindest subjektiv mehr als nur spirituelle Selbstermächtigung. Das Doppelmotiv ist jedenfalls von hoher Symbolkraft: die Gier der Konquistadoren nach Edelmetallen, die zum Untergang der indigenen Kulturen führte und auch die Sozialstrukturen Europas revolutionierte, war vom Glauben begleitet, das verlorene Paradies erreicht zu haben. Der Fortschritt hatte auf paradoxe Weise sein Paradigma gefunden. 1560 betrug die bekannte Erdoberfläche das Vierfache des Orbis terrarum im vorausgegangenen Jahrhundert. Ein unbegrenzter Horizont eröffnete sich den Seefahrern und Kaufleuten, ebenso wie dem zeitgenössischen Wissen. Der 64
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Anatom Vesalius, dessen Hauptwerk im selben Jahr 1543 erschien, wie das des Kopernikus, brach mit seinen durch Sektionen erworbenen Kenntnissen die Vorherrschaft Galens in der Medizin, und Petrus Ramus, der später in der Bartholomäusnacht ums Leben kam, verteidigte an der Pariser Universität die These, was immer Aristoteles gelehrt habe, sei falsch. Das galt dem Aristoteles der Scholastik und war schon lange ein Gemeinplatz der Theoretiker – obwohl Aristoteles manchmal noch spanischen Eroberern als Autorität dienen musste, um die Versklavung der Ureinwohner zu begründen: Naturgemäß herrscht der Vollkommene über das Unvollkommene, die Seele über den Körper, die Vernunft über den Trieb, die Form über die Materie. Nicht die kontemplative Betrachtung der ewigen Wahrheiten und auch nicht die schrittweise Annäherung an die perfectissima humanitas des Anfangs (und Endes) der Schöpfung galten jetzt als menschliche Bestimmung. Der Imperativ der Neuzeit lautete, dem Chaos des Ungeordneten und Kontingenten Gesetze und Entwürfe praktischen Handelns aufzuzwingen – im Horizont einer immer vollständigeren Indienstnahme des ‚Niemandslands‘ durch den Menschen. Diese Perspektive konnte ihre Legitimität sehr wohl aus dem biblischen Gebot ziehen, sich die Schöpfung untertan zu machen, und ein Rest davon war bei allem praktischen Amoralismus der Conquistadoren ein mehr als nur verbaler Impuls geblieben. Das galt in Bezug auf die Unterwerfung überseeischer „Naturvölker“, die sich auf den Bekehrungsauftrag berief und die eigene waffentechnische Überlegenheit als empirische Bestätigung empfand. Die europäischen Humanisten waren weniger sicher, ob sie das Neue als Überbietung der Alten feiern oder sich angesichts der Berichte über die Entdeckungsreisen für traditionelle Narrenschelte über eitle Neugier und Habsucht entscheiden sollten.40 Unbehagen an der götzendienerischen Macht des Mammon zog sich, ebenso wie Kritik an der enthemmten ‚heidnischen‘ Staatsraison, wie ein roter Faden quer durch die Fronten des konfessionellen Bürgerkriegs. Man fühlte das Unzeitgemäße der traditionell beschworenen „guten Ordnung“, die Entzauberung des sinnhaften Kosmos, aber auch die Unglaubwürdigkeit des auf ein unumstößliches Sittengesetz verpflichteten Herrscherideals; man hielt die alten Ideale trotzdem immer noch hoch – schon vor dem Hintergrund einer ungebrochenen Volksfrömmigkeit, die, nicht nur in Spanien, die Vertreibungspolitik der katholischen Könige „durch Reinheit zur Einheit“ begeistert mittrug. Sektoral erwies sich die Erfahrung der Unbeständigkeit und des Wertewandels stärker als das Gefühl der Kontinuität der alten Maßstäbe: Individueller Erfolg und Interessenkalkül wirkten in einem von abstrakten Geldwerten bestimmten Milieu überzeugender als die herkömmlichen Bindungen, die Gemeinschaftsmoral und Tugendlehre. 65
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Machiavellis Leitbild der virtù war noch kein enthemmter „Wille zur Macht“, sondern in erster Linie die Beschwörung eines Heroismus antik-republikanischer Freiheit, der Bereitschaft zu Kampf und Krieg fürs Vaterland, zur Meisterung des Schicksals. Sein Misstrauen sowohl zu christlicher Caritas als auch zu privater Anhäufung von Reichtümern, ja der Einführung neuer Waffentechniken, nicht zuletzt gegenüber Wissenschaften und Künsten, war geleitet von einer Furcht vor Erschlaffung und Niedergang. Machiavelli blickte, wie Luther, nach rückwärts und suchte die polybianische Erneuerung bei den „Anfängen“, den principia. Dabei wirkten beide längerfristig als Revolutionäre wider Willen – gegen das ‚Mittelalter‘, als Befreier des Individuums und des modernen Staates. Als besonders erfolgreich erwies sich diese Befreiung vom Ballast traditioneller Begrifflichkeit in der neuen Haltung zur außermenschlichen Natur. Statt des durch Dekalog und stoisches Denken überlieferten Naturgesetzes als Norm und Handlungsanweisung trat die manchmal als faustisch bezeichnete Suche nach unmittelbarer Beziehung und Entschlüsselung ihrer Geheimnisse, ihre Beobachtung und Beherrschung mit Hilfe quasi-magischer Formeln und Geräte. Darin trafen sich die Ansichten der Naturwissenschaftler mit denen der Konquistadoren, und Kompassnadel, Fernrohr, Schießpulver und Druckerpresse wiesen ihnen den Weg in die neue Zeit, die sich nicht mehr nach den Gesta Dei, sondern nach den exakt berechenbaren Bewegungen der Himmelskörper richten wollte. Es war bezeichnend, dass sich seit dem späten 14. Jahrhundert, ausgehend vom Strassburger Münster, überall in Europa die Mode der astromischen Uhren – eine Kombination von städtischer Turmuhr, Planetarium, immerwährendem Kalender und Symbolen der Vergänglichkeit – ausbreitete. Die mechanische Uhr brachte schrittweise ein neues Zeitgefühl ins Leben der Städte. Vor die kirchlichen Feiertage, die immerhin ein Memento der Ewigkeit als Maßstab des Lebens sein sollten, schob sich eine gleichförmig fließende, in gleiche Einheiten eingeteilte und gemessene Zeit als das eigentlich Wichtige und Kostbare nun auch für den städtischen Menschen – während der bäuerliche Zeitrhythmus von der Natur bestimmt und rituell geprägt blieb. „Es gibt keine Sicherheit, wo sich keine mathematische Wissenschaft anwenden lässt“, hatte Leonardo da Vinci erklärt, für den das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben war und Gott nur mehr als primo motore galt. Über Malerei und Kunst hinaus, die er als Wissenschaft, nicht einfach Nachahmung der Natur verstand, war es aber nicht so leicht, die Regeln der Mechanik auf die menschlichen Beziehungen anzuwenden. Auch in Machiavellis ‚amoralischem‘ Geschichtsverständnis herrscht nicht nur Kausalität: Das, was sein sollte, ist zwar unmaßgeblich für das tatsächliche Geschehen; es dreht sich 66
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ständig das Rad der Fortuna, angetrieben von den immergleichen menschlichen Leidenschaften, die alles begehren und Überdruss an allem empfinden, was man schon besitzt, so dass sich am Lauf der Welt letztlich kaum etwas ändert. Den bequem und feige gewordenen Zeitgenossen und ihrer Ausrede, die Zeit heile alles, hielt der italienische Patriot die Rückkehr zur heroischen Moral der Römer als Mittel der Genesung entgegen: Man muss nur sein Vaterland mehr lieben als sein Seelenheil. Für den Uomo virtuoso ist die Schicksalsgöttin nur zur Hälfte die Herrin seiner Taten. Andere Geschichtsschreiber gingen in ihrer nüchtern-empirischen Kritik an den menschlichen Idealen noch weiter, bezogen aber, im Unterschied zu Machiavelli, das antike republikanische Pathos in ihre Skepsis mit ein. Die Menschen werden vor allem von Ehrgeiz und Machtwillen getrieben, auch wenn sie Freiheitsideale vorschieben, führt der schon erwähnte Francesco Guiccardini († 1540) aus, der die heroischen Selbsttäuschungen als Konstanten mensch lichen Verhaltens der Aufmerksamkeit der Historiker empfiehlt, mehr aber die vielfältigen Umstände, die circumstanze, die zu Vorsicht bei Vergleichen und Lehren aus der Geschichte mahnen: So hat nach seiner Meinung das wirkliche alte Rom mit den Verklärungen der Humanisten nicht viel zu tun. Vorschnelle Verallgemeinerungen führen in die Irre; so hatten die von Machiavelli positiv gewerteten Konflikte zwischen Plebejern und Aristokraten keine freiheitlichen Konsequenzen, sondern gerieten Rom nur zum Schaden. Guiccardini, dessen Vermögen die Republik Florenz konfisziert hatte und der später als Gouverneur in päpstliche Dienste trat, ist verständlicherweise kritisch gegenüber inkompetenten, selbstgerechten Volksvertretern, die zu Tyrannen werden, überhaupt gegenüber spektakulären politischen Aktionen; zwischen Absichten und Ergebnissen besteht kein direktes Kausalitätsverhältnis, sondern klafft in der Regel ein Abgrund, wie bei den Reformen der Gracchen, die zur Verschlimmerung der Übel führten, die sie beseitigen sollten. Statt der Rückkehr zu den vermeintlich guten Anfängen und statt humanistischer Tugendrhetorik ist Guiccardinis Wahl die machtgeschützte Freiheit (H. Münkler). Ungeachtet der Staatsform, begnügt sie sich mit der Herrschaft von Ordnung und Rechtssicherheit als Voraussetzung von bürgerlichem Wohlstand. „Die wahre Freiheit des Volkes besteht in nichts anderem, als das Eigentum in Sicherheit nutzen zu können“, erklärte analog der französische Jurist Jean Bodin, mit einer Spitze gegen die partizipatorische Freiheitsidee (über ihn weiter unten). Die Volksfreiheit lässt Unwürdige zu Amt und Gewinn kommen und vergisst in ständigen inneren und auswärtigen Konflikten, dass „Religion, Gerechtigkeit, Nächstenliebe,…alle Wissenschaften und Künste am besten gedeihen, wenn der Friede gesichert ist“ (Bodin: Six livres VI, 4 und V, 5). Ein neues, nicht-antikes Freiheitsverständnis unter dem Schutz des frühabsolutistischen Staates kündigt 67
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sich hier an, das in der Folge auch der Geschichtsschreibung neue Fortschrittsperspektiven bieten wird. Es ist bürgerlich in dem Sinn, dass der Friedensraum der Stadt zum Ziel der Politik erhoben, aber auch das Instrument seiner Durchsetzung, die bezahlten Söldnertruppen der Zentralmacht, durch die fortschreitende Monetarisierung ermöglicht werden. Die bürokratisch-militärisch gestützte Staatsmacht erweist sich durch ihr Gewaltmonopol den lokalen und ständischen Kräften überlegen, und die kann sich mit Hinblick auf ‚rationale Staatsinteressen‘ von traditionalen Bindungen dispensieren. Eine Reihe von Fürsten bildete nicht allein Ordnungszentren in chaotischen Zeiten, sondern gab auch einzelnen Humanisten, die der scholastischen und konfessionellen Streitereien müde waren, eine Zuflucht, in der sich allerdings das Preisen republikanischer Tugenden erübrigte.41 Immerhin konnte sich jetzt das Interesse am Diesseits und das Vertrauen in die Leistungen der eigenen Zeit stärker artikulieren. Der weltliche Machtstaat hatte sich oft die Kirche als Disziplinierungs- und Weltanschauungsinstanz dienstbar gemacht; analog gewannen Themen des Hier und Jetzt, der praktischen Lebensbewältigung und der sektoralen Verbesserungen einen Primat gegenüber Fragen nach dem Seelenheil: Die Gestaltung und Ausfüllung der Jetzt-Zeit hatte Vorrang vor der Erwartung einer von außen kommenden Zukunft. Die Zeitdiskurse verlagerten sich so vom „Transhistorischen“ immer mehr zum Innerweltlichen als der eigentlich maßgeblichen Tribüne. Die humanistische Orientierung schloss die Verachtung der dummen Masse bzw. satirische Seitenhiebe auf den unangebrachten Lärm eines geringen Lebewesens (animalculum) durchaus ein, das sich schnell wie Rauch auflöst, wie wir von Erasmus († 1536) hören. Dessen Menschenbild war geistaristokratisch, aber auch vom Vertrauen in die Bildungsfähigkeit des Menschen geprägt: „Wir dürfen nicht auf die Ausgießung des Heiligen Geistes warten, uns tut wissenschaftliche Bildung not.“ Das sollte keine bloße Anhäufung von Wissen aller Art sein, sondern die Erkenntnis des Sinnvollen und Vernünftigen, mit dem Ziel einer Durchbildung des ganzen Menschen, auch zu sittlicher Würde. Deshalb empfahl er dem Revolutionär Luther, „lieber mit beständigen und wirksamen Argumenten zu disputieren, als schroffe Behauptungen aufzustellen“, denn: „mitten im Streben nach Frömmigkeit drohen Fußangeln“ (Brief vom 30.5.1519). Fußangeln drohten dem humanistischen Bildungswerk überall, gerade in der sich abzeichnenden Bildungsperspektive, auf der Grundlage der Geschichte als einer riesigen Exempelsammlung weiter zu kommen als die Vorfahren, so der katholisch gebliebene spanisch-niederländische humanistische Pädagoge Juan Luis Vives († 1540), für den das türkische Vordringen nur der Uneinigkeit der Europäer zu danken war (De Europae dissidiis et bello turcico dialogus). Vives ermahnte nicht nur zur Einigkeit der Christen, sondern schlug einen internati68
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onalen Schiedsgerichtshof vor; ein anderer praktischer Entwurf war dem aktuellen Armenwesen gewidmet (De subventione pauperum, 1526). Wenn die humanistische Rhetorik verklang, war der Mensch auch ohne lutherisches Sündenbewusstsein eine Verkörperung der Unbeständigkeit, und so kamen manchen Zweifel, auch und gerade wegen der fortschreitenden Entdeckung und Beherrschung der Natur durch den Menschen, der selbst Bestandteil der Natur ist (Montaigne). Hatte nicht der unersättliche Entdeckungstrieb Europa die Syphilis beschert und eine verheerende Preisrevolution, hatte nicht das Schießpulver zur Verpöbelung und Verrohung des Kriegs, sogar die Erfindung des Buchdrucks zur Nivellierung und Absenkung der Bildungsinhalte, zur Verbreitung nur halbverstandener Gedanken im Volk geführt? Die schrankenlose Bejahung dieser Welt und der Selbstgenuss eines zur Destruktivität neigenden Wesens waren vielen ein Problem. Das zeigte sich nicht zuletzt auch am Territorialstaat, der die ihm zugedachten Erwartung der inneren Befriedung allzu oft enttäuschte. Aber die empirische Wirklichkeit als entschlüsselbarer Gesamtzusammenhang und der Mensch, wie er einmal ist, nicht, wie er sein sollte, waren die eigentlichen Themen der Zeit. Der Geschichtsbedarf des Publikums war, wie bei dem nach Berichten aus den neuentdeckten Kontinenten, erst einmal auf Erweiterung des Horizonts gerichtet, vermutlich auch auf außerkirchliche Belehrung in schwierigen Lebenslagen. Aus diesem Bedürfnis – und dem immer noch christlichen Glauben an die symbolische Einheit alles Menschlichen – waren die Adagia des Erasmus, Aussprüche berühmter Männer, zu einem der meistgedruckten Bücher seiner Zeit geworden. Jacques Amyot († 1593), ein Schützling der Margarete von Navarra, schrieb analog im Vorwort zu seiner Übersetzung von Plutarchs Lebensbeschreibungen, die Geschichte sei voller Beispiele von Tugenden und Lastern, von politischer Größe und Niedergang. Auch seine Übersetzung wurde ein großer buchhändlerischer Erfolg. Die Vielfalt des Menschlichen, auch ohne Transzendenz, sei es eine irdische oder die heilsgeschichtliche, war interessant an sich. François Rabelais († 1553), Arzt und Weltgeistlicher, bemerkte einleitend zu seiner phantastischen Zeit satire über den Riesen Gargantua, man solle nicht leichtsinnig schließen, die Geschichte bestehe nur aus Narreteien, Dummheiten und Windbeuteleien; entsprechend war das wachsende lesende Publikum gespannt auf die mannigfaltigen Formen menschlicher Existenz. Der theologischen Belehrungen satt, suchte es eher nach weltlichen Quellen und Beispielen, die dem Lebensgefühl einer gehobenen städtischen Leserschicht besser entsprachen. Das irdische Geschehen hatte im Rahmen der christlichen Heilsgeschichte einen absoluten Bezugspunkt im herkömmlichen Transzendenten besessen. Der Humanismus neigte oft zur Instrumentalisierung der christlichen Lehren: Das 69
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Christentum wird zu bloßer Ethik.42 Christus als Friedenskünder lässt Erasmus von Rotterdam Kriege unter Christen zum verbrecherischen Theater werden (Querela pacis, 1517). Und der schon genannte französische Staatstheoretiker Jean Bodin äußert kaltschnäuzig: „Selbst Atheisten stimmten damit überein, dass nichts den Staat besser stabilisiert, als die Religion.“ Damit wurde dem Christentum eine quasi zusätzliche Disziplinierungs- und Sublimierungsfunktion zugewiesen – ein blasser Rest jenes einstigen eschatologischen Zukunfts bezugs, der sich aus der ausgebliebenen Parusie ergeben hatte und noch im Täufertum und in der calvinistischen Idee des Fortschritts in der Heiligung der Gemeinde aufflackerte. Der Gedanke einer Gotteskindschaft aller Menschen und einer höheren Lenkung der irdischen Schicksale war auch in einer stark verweltlichten Gesellschaft nie ganz verlorengegangen. Es war empirisch kaum möglich, aus der verwirrenden Vielfalt menschlicher Historien eine einzige sinnvolle Gesamterzählung zu bilden oder auch nur zu einem zusammenfassenden Begriff für alle verschiedenartigen Leistungen der Menschen zu gelangen, und so behalf man sich, außer der beliebten Filiation von den Trojanern und Römern, mit der bequemen Annahme einer Koinzidenz der historia divina, humana et naturalis, wobei die vorausgesetzte göttliche Lenkung oft kaum mehr war als eine rhetorische Floskel, und der Ausblick nach vorn in dichten Nebel gehüllt blieb. Loys Le Roy († 1577), Lektor des Griechischen am Collège Royal, war keineswegs von der Höhe der Leistungen seiner Zeit überzeugt, sondern klagte mit einigem Recht über sittliche Verwilderung, doch wollte er seine Franzosen anspornen, zumindest in ihrem Erkenntnisstand über die Alten hinauszugehen (De la vicissitude, Von der Unbeständigkeit, 1575). Sein Menschen- und Geschichtsbild war durchaus von der traditionellen Überzeugung geprägt, das zeitliche Geschehen sei hinfällig, wechselhaft und unberechenbar, die Überzeugungen und Sitten in ständiger Wandlung begriffen. Doch meinte er geschichtliche Höhepunkte in Wissen, Künsten und Macht „en divers saisons“ und bei verschiedenen Völkern abwechselnd festzustellen: „où finit l’une, l’autre commence & est avancee par la ruine de la precedente“. Jede Nation hat durch höhere Fügung ihre große Zeit, aber keine dauert allzu lange. „Größe“ war ein nicht ganz eindeutiger Maßstab, aber indem sich die Leistungen der jeweiligen Zeit zur civilité, den bürgerlichen Tugenden und Künsten, verlagerten statt kriegerischen Ruhms, nahm die Lehre vom Nacheinander der Weltreiche eine neue Gestalt an. Auch das alte Rad der Fortuna erhielt ein korrigiertes Bild: Auf „kulturelle Fortschritte“, würden wir sagen, folgt zwar in der Regel der Niedergang; aber Le Roys Geschichtsschema ist nicht resignierend, antikzyklisch, denn ein Teil der progrez wird an andere weitergereicht. Auch weil die göttliche Lenkung des Ganzen etwas von ihrer Bedeu70
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tung behält, handelt es sich im Grunde um eine verweltlichte Variante der Heilsgeschichte (Hasslinger).43 Zugleich mit der beschriebenen Verweltlichung des Lebensgefühls und der zunehmenden Rationalisierung der bürgerlichen Lebensentwürfe hatte sich im 16. Jahrhundert auch das politische Geschichtsverständnis zumindest der staatsnahen Juristen und Beamten verändert. Jean Bodin († 1596), der schon erwähnte französische Staatsphilosoph, dem die Bartholomäusnacht von 1572 zu einer Art Damaskuserlebnis geworden war, suchte in seiner politischen Theorie den Staat sowohl von kirchlichen als auch privaten Interessen und traditionalen Bindungen zu emanzipieren. Im Konfliktfall galt für ihn die besitzbürgerliche Devise: erst die Sicherheit und dann die Moral. Anarchie und Bürgerkrieg sind in Bodins Augen, nicht anders als bei Guiccardini, die schlimmste Krankheit, die ein Gemeinwesen befallen kann. Deshalb ist das objektive Staatsinteresse der Rechtsordnung und den Regeln der Privatleute überzuordnen. „Zum Zweck der Staatserhaltung sollen die Untertanen nicht nur ihre Gegensätze hintanstellen, sondern auch ihr Eigentum aufgeben“ (Six livres 1, 8). Das war, 1576 formuliert, nur für den Notstand gedacht; als Regel galt es Bodin, fürstliche Willkür und Affekte ebenso ‚hintanzustellen‘ – zugunsten versachlichter, institutionalisierter, berechenbarer Macht. Bodin wusste: Es gibt nur wenige tugendhafte Fürsten (IV,1). Aber das Volk ist in noch höherem Maß „unbeständig, wankelmütig und nicht urteilsfähig“, weshalb die Monarchie in ihrer friedensstiftenden Rolle den übrigen Staatsformen vorzuziehen ist. Der Fürst steht über den positiven Gesetzen, die er nach Erfordernis kassieren oder verbessern mag, aber nur der Tyrann tritt auch die natürlichen und göttlichen Gesetze mit Füßen. Schon im Interesse der eigenen Glaubwürdigkeit hält sich der Herrscher an den Grundsatz „pacta sunt servanda“ und an das Beispiel der Natur, die weder Sprünge macht noch Extreme liebt. Der Fürst begnügt sich letztlich mit dem, was öffentlich ist und überlässt dem einzelnen, was privat ist (I,2, IV,3). Das war Empfehlung, nicht Beschreibung der gängigen politischen Praxis. Der Auflösung des normativen, aufs gute Leben verpflichteten Politikbegriffs und der Entsakralisierung der „Staatsraison“ entsprach eine nach Ort und Zeit verschiedene Norm, ebenso wie die tendenzielle Auflösung des einen, immer gleichen Menschenbildes, das den Humanisten ursprünglich vorgeschwebt hatte. Auch Bodin kannte die Verschiedenheit der menschlichen Natur und folgerte daraus, wie Guiccardini, die Gesetze den ‚circumstanze‘ der natürlichen Gegebenheiten anzupassen (V, 1, III, 4). Darüber hinaus haftete dem Natürlichen ein Rest von Normativität an, der es ermöglichte, eine Grenze gegen persönliche Willkür zu setzen: natürliche Vernunft, verstanden als Teil der Schöpfungsordnung. Wie wenig Bodin auf die Notwendigkeit eines solchen ‚natürlichen‘ Rahmens für das Staatsleben verzichten konnte,44 so wenig mochte 71
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er in der Geschichte allein relative Maßstäbe ansetzen. „Welches Volk ist so ungeschlacht und barbarisch“, fragt er (1566) in seinem Methodus, „dass es, hätte es nur die richtigen Führer gehabt, nicht zur Humanität geleitet worden wäre?“ Das zeigt ein Bewusstsein der eigenen säkularen Fortgeschrittenheit, das einen Maßstab für Humanität und Barbarei liefert. Der Methodus sollte einer besseren Erkenntnis der Geschichte (im Plural, „historiarum“) dienen. Postulativ wird darin das Ziel einer universalen Wissenschaft von der Geschichte ins Auge gefasst, wobei sich der Humanitätsbegriff als normativer Rest dem Gesetz historischer und lokaler Relativität zu entziehen scheint; Bodins Rekurse auf die autorié de la raison könnten aber auch zum unverbindlichen moralischen Dekor herabgestuft werden (de Rougemont). Zwar heißt es, die ganze Welt sei unter dem Schutz derselben Vernunft zu einer einzigen großen Stadt geworden; weil ihr aber der heilsame Zwang fehle, griffen die Fürsten immer wieder zu den Waffen. So waren Sinn und Ausrichtung einer empirischen Menschheitsgeschichte alles andere als klar. Bodin ist sich, wie viele seiner antiken Vorgänger, der primitiven und ignoranten Anfänge der Menschheit bewusst, und er stellt diesen principia ein anderes Prinzip, „die verfeinerten Sitten und die Einhaltung der Gesetze“ in der Gegenwart entgegen. Auch was das Wissen im engeren Sinn anbelangt, hätten die Griechen und Römer vieles entdeckt, aber manches unvollendet gelassen. „Blütezeiten“ und „Niedergang“ stellen, wie bei Machiavelli, quasi-naturgesetzliche Zyklen dar, und wie bei diesem, ist der souveräne Fürstenstaat ein Mittel, Zerfall und Dekadenz aufzuhalten. Ein irreversibler Fortschritt steht noch außerhalb von Bodins Horizont. *** Der Mensch der Humanisten taugte nur bedingt als Maßstab für die Realgeschichte, nota bene geschichtlichen Fortschritt, und erwies sich insgesamt eher als Problem. Der selbstherrlich als Schöpfer seiner selbst apostrophierte Gestalter seines Schicksals musste eine „narzisstische Kränkung“ hinnehmen: Nach dem Absturz aus dem Zentrum des Universums in die periphere Umlaufbahn des Sonnensystems, kam die von Guiccardini aufgestellte Regel vom Missverhältnis zwischen Intention und Ergebnis: Ist der Mensch Herr seiner Taten, so kommt dabei etwas anderes, als das Intendierte heraus. Tatsächlich war Luthers Freiheit des Christenmenschen im Dogmatismus obrigkeitlich geführter Landeskirchen versandet und die Suche nach dem irdischen Paradies in Übersee hatte zumindest den Indios die Hölle bereitet. So schlug auch das Vertrauen der Humanisten in die Wirkung der Bildung angesichts der Schrecken und entfesselten Leidenschaften der Gegenwart in den Ruf nach dem Zuchtmeister um – zumeist in 72
4. Weltlichkeit, Weltfrömmigkeit
Gestalt des fürstlichen Territorialstaats, der aber seinerseits den Ruf als Friedensbringer und Schutzherr bürgerlicher Interessen selten verdiente. Darüber hinaus drohte die schiere Vielfalt des Menschlichen die Idee des Menschen und den Rahmen der einen Menschheit zu sprengen. Vereinzelt tauchte der Terminus progrez auf, meist im Zusammenhang mit humanistischer Bildung; stärker war der Eindruck der Unbeständigkeit alles Menschlichen, der dazu neigte, das Neue mit Niedergang zu verbinden. Das Bild der Gegenwart blieb im besten Fall ambivalent: von kreativen Fähigkeiten wie verbrecherischen Energien, dem wirtschaftlichen Aufstieg der einen und dem Niedergang der anderen bestimmt, war am Zukunftshorizont kein vertrauenswürdigerer Leitstern in Sicht. Irgendeine Zielbestimmtheit war aus der Chronik säkularer Vorgänge nicht zu gewinnen, bestenfalls der Wille des Historienschreibers zur Offenheit: „demeurer universel et ouvert à tout“ (Pierre Charron, † 1603) und als eine Art Amtsschreiber Gottes zu wirken.
4. Weltlichkeit, Weltfrömmigkeit Agrippa von Nettesheim († 1535), Antwerpener Bibliothekar der niederländischen Statthalterin Margarete von Österreich, hielt in seinem Spätwerk wenig von den Künsten und Wissenschaften seiner Zeit: sie seien „allzeit zweifelhaft und aller Irrtümer und Zänkerei voll“. Auch die Philosophie sei vorwiegend eitle Spekulation, die Geschichtsschreibung voller Fabeln und die Moral von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit verschieden, somit eine unsichere Instanz. Seine Skepsis sparte die praktischen Berufe nicht aus – Soldaten, Theologen, Kaufleute und Ärzte. Karl V. ließ den Verfasser des Werks über die Eitelkeit der Wissenschaften (De incertitudine et vanitate scientiarum, 1530) aus der unruhigen Provinz ausweisen. Erfolgreicher war ein anderes Opus Agrippas, das seinen Ruf als Okkultist begründete und die Magie vom Geruch der Gottlosigkeit befreien wollte; es versprach, über die verborgenen Kräfte der Erde, der Sterne, der Zahlen Macht zu gewinnen. Dieser Publikumserfolg war kein Zufall. Die Erschütterung des mittelalterlichen Weltbildes setzte nicht in erster Linie rationale und nüchterne Wissenschaftlichkeit frei, sondern eine Flut von Magie, wirrer Zahlenmystik und Dämonenglaubens. Das Begreifen der zahlenmäßigen Struktur der Natur gab Anlass zu wüsten Spekulationen, ja versprach geradezu gottähnliche Macht: Der Schöpfer selbst ist Mathematiker und nur Mathematik gibt Einblick in sein Werk. Manche naturwissenschaftliche Entdeckungen entstanden tatsächlich aus Anstößen pythagoreischer Spekulation. 73
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Mathematik bot zweifellos einen Schlüssel zu greifbarem Erfolg, und die zahlreichen Mathematik-Lehrbücher der Zeit zeugen von Kalkulationsbedarf der aufstrebenden Handelszentren. Mit Hilfe der neuen logarithmischen Tabellen und Rechenschieber konnte man arithmetische Berechnungen außerordentlich beschleunigen; von den Entdeckungen und Erfindungen profitierten Schifffahrt und Bergbau, und natürlich die Kriegskunst. Nicht die gesamte Bevölkerung der Städte war vom Fieber der neuen Weltzugewandtheit erfasst, sondern hielt sich, wie noch Luther, an die Devise, ein jeder bleibe bei seiner Nahrung – und lasse die Gottlosen nach weltlichen Gewinnen streben. Auch die Kunst und der Schönheitskult gerieten eifernden Predigern in den Geruch von Kreaturvergötterung und Blasphemie. Aber der statische Zivilisationsrahmen war über die großen Handelszentren hinaus ebenso zerbrochen, wie die nachbarschaftliche ‚Reziprozitätsethik‘, einzelne Elemente verselbständigten sich, gingen in neue Synthesen ein, suchten nach stabilisierenden Faktoren und Kontinuitätslinien. Zum Weltbild der Astronomen und Mathematiker gehörte, dass natürliche und erzwungene Bewegungen denselben Gesetzen der Mechanik gehorchen; auch die Erkenntnis der Relativität von oben und unten – obwohl der Glaube an einen grundsätzlichen Unterschied zwischen „sublunaren“ und „himmlischen“ Gesetzen und an die Vollkommenheit der letzteren noch Kopernikus’ Annahme der Kreisförmigkeit der Planetenbahnen beeinflusste. Jetzt wurde die Welt zu einem unendlichen Raum ohne Zentrum, angefüllt mit entstehenden und vergehenden Himmelskörpern, die unserer Erde glichen. Die mathematisch begründete Theorie verdrängte schrittweise die Poesie einer beseelten Natur und den kindlichen Egozentrismus, wonach die gesamte Natur um des Menschen willen geschaffen war. Das musste nicht nur die Kirchenmänner verwirren, sondern auch das Empfinden der Laien: es bewog den Nürnberger Pastor Osiander zu seinem vorsichtigen Vorwort zu Kopernikus’ Hauptwerk (1543): Man solle die neue Theorie nicht schon für die Wahrheit halten. Das trug Osiander Beschimpfungen Giordano Brunos ein, er habe die umstürzenden Erkenntnisse des Werks verfälscht; allerdings war das Licht wahrer Erkenntnis auch nach dessen eigener Meinung nicht für die unwissende Menge bestimmt – die aus Angst vor dem Licht im Dunklen verharrt, in das sie schlechte Erziehung geführt hat (Das Aschermittwochsmahl, 1584). Das traditionelle Weltbild ließ sich denn auch durch die kopernikanische Revolution lange nicht erschüttern, und nicht nur Luther hielt den vielseitigen Frauenburger Domherrn, Dichter und Währungstheoretiker für einen Narren. Die Menschen blieben im 16. Jahrhundert – und noch lange danach – ohnehin eher an astrologischen Vorhersagen interessiert als an wissenschaftlichen 74
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Theorien, und fragten bei jeder Lebensentscheidung, ja schon beim Antritt einer Reise, nach dem Sternbild, der Konstellation, die das Leben auf geheimnisvolle Weise beeinflusste. Rationale Erkenntnis blieb somit, wie beim genialen Wunderarzt Paracelsus († 1541), kaum unterscheidbar in Okkultismus eingebettet. Die Wahrheit war für den Pantheisten nicht in den Büchern, sondern in der Natur, und die Erde ein einziger lebendiger Organismus, dessen Pulsschlag zu messen und dessen Geheimnisse durch eine einzige Formel zu enträtseln waren. Magie, Alchemie und Astrologie wiesen so, nach den Worten L. Mumfords, einen verkürzten Weg zu Wissen und Macht; mit ihrer Naturzugewandtheit, ihren Experimenten und Beobachtungen, ihrem Willen zu praktischer Nutzanwendung, wurden sie zu Vorreitern der modernen Naturwissenschaft und mit ihr eines neuen Fortschrittskonzepts. Die Reformation hatte kirchlich eingebundene Volksmagie, Abwehrzauber, Hagelgeläute, Heiligenkulte, Wallfahrten und Prozessionen, Zeremonien und Segnungen als „papistischen Aberglauben“ abgeschafft, aber sie hatte selbst weder naturwissenschaftliches Interesse entwickelt, noch der breiten Bevölkerung ausreichend Praktiken zur Bewältigung ihres Alltags bereitgestellt. Dem menschlichen Schuldbewusstsein wurden die Mittel zu einem periodischen Abreagieren entzogen: die Kluft zwischen Gott und der sündigen Menschheit war mit kirchlichen Sakramenten und frommen Werken nicht mehr zu überbrücken.45 Kriege, Teuerungen, Hungersnöte und Seuchen verstärkten die Verunsicherung der Menschen weiter; die Welt schien den Zeitgenossen in den Klauen des Bösen zu liegen, und der Teufel der eigentliche Herr dieser Welt zu sein. Aus Furcht und Disziplinierungswillen bildeten sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts politisch-konfessioneller Verfestigungen heraus, mit hasserfüllter Verfolgung Andersgläubiger und strenger Kontrolle der gesamten Lebensführung, Verbannung, Konfiskation und Todesurteil gerade in der „vollkommensten Schule Christi seit der Zeit der Apostel“ (so der schottische Reformator John Knox über Calvins Genf). Auch im katholischen Bereich eines nach-tridentinischen Disziplinierungswillens entstand ein analoger Druck aufs Alltagsleben, und mit ihm ein rasant um sich greifender Hexenwahn, der durch kirchliche und weltliche Kontrollen, juristische und theologische Systematisierung, Kriminalisierung paganer Überlieferungen, auch durch die institutionalisierte Folter, eine quasi-rationale Legitimation gewann. Vereinzelte Gegner des sich selbst bestätigenden Wahnsyndroms, wie der Klever Arzt Johann Weyer († 1588), klagten gerade im Zusammenhang mit den Verfolgungen über Rückfall in heidnischen Aberglauben und mangelndes Gottvertrauen; der Jesuit Friedrich Spee († 1635) bemerkte sarkastisch, Gott und die Natur täten heutzutage kaum noch etwas, sondern alles käme von den Hexen. Seine wohltuende frühaufklärerische Meinung war 75
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die, dass nicht der Teufel, sondern die Tortur die Hexen mache. Aber zu rationalem Weltvertrauen war noch ein weiter Weg. Zum Opfer eines exzessiver Ordungswillens der Autoritäten gegenüber ‚heidnischer‘ Weltzugewandtheit wurde der aufsässige Neuplatoniker Giordano Bruno, den man 1600 auf dem römischen Campo de Fiori verbrannte. Wenn es den Göttern gefallen hätte, hieß es sarkastisch in einem seiner Dialoge, uns über naturwissenschaftliche Theorien zu belehren, könne man sich auf die biblische Offenbarung verlassen; doch seien die heiligen Bücher wohl vor allem zu sittlicher Belehrung bestimmt. Viele Aussagen, die unwissende Interpreten als naturwissenschaftliche missverstanden, seien nichts als Gleichnis oder Metapher, und so dürfe man in Fragen der wissenschaftlichen Wahrheit nur der eigenen Vernunft vertrauen. Eine metaphorische Deutung der entsprechenden Bibelstellen war vor der Reformation durchaus zulässig gewesen und noch die gregorianische Kalenderreform (1582) beruhte auf Berechnungen des Kopernikus. Jetzt setzte eine verunsicherte Hierarchie auf Repression. Bruno lehrte die ewige Rotation der Erde als Ursache eines ständigen Kreislaufs auch der menschlichen Dinge; doch gelangte er gelegentlich zu Formulierungen, die die Idee eines geistigen Fortschritts vorwegnahmen. Schritt für Schritt hätten tätige Zeitalter, oft wie unwissende Boten, eine Erkenntnis zur anderen gefügt, bevor die Befreiung des menschlichen Geistes „aus Dunkelheit und Erniedrigung“ (durch Kopernikus) erfolgen konnte (La cena delle ceneri).46 Freigeister, Spötter oder Gegner der Prädestinationslehre, wie Jacques Gruet, Sebastien Castiello oder der Arzt Miguel Servet, konnten in Calvins Genf ähnlicher Härte begegnen, und Luthers Mitkämpfer Melanchthon billigte Servets barbarische Hinrichtung ausdrücklich. Auf dem Genfer Reformator Calvin († 1564), lag nach dem Schicksalsjahr 1547 die Führung der protestantischen Abwehrfront gegen die einsetzende Gegenreformation, aber das bestärkte den Reformator, der hochgestellten Persönlichkeiten – von Savoyen bis Ungarn – autoritative Empfehlungen erteilte, nur in seinem ausgeprägtem Sendungsbewusstsein. „Gott will nicht, dass wir als müßige Zuschauer seiner Wundermacht dasitzen“: deshalb fühlte er sich zu theokratischer Strenge, Disziplin und Maßregelung der Verworfenen verpflichtet. Zum Unterschied von Luther dachte Calvin nicht daran, die bestehenden Ordnungen ‚leidend zu ertragen‘, sondern wollte sie nach Gottes Willen zu einem neuen Israel, einer auf Gottes Gesetz gegründeten heiligen Stadt, neu gestalten. Das hieß, sich nicht mit dem einzelnen Seelenheil aufzuhalten, sondern aus sich herauszugehen und in Verantwortung für die schrittweise Verchristlichung aller menschlichen Beziehungen sich rastloser, zielbewusster Arbeit hinzugeben. Statt einer radikalen Leidens- und Liebesmoral, statt mönchischer Weltflucht, vertrat Calvin eine eher heroisch-diesseitige, progressive 76
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Vervollkommnung, die die Welt im Sinne der augustinischen Empfehlung benutzt, ohne sich ihr je genießend hinzugeben: Sinnlichkeit, Selbstliebe, weltliche Zerstreuung, Glück, Macht und Eigentum als Selbstzweck waren im Calvinismus ebenso verpönt, wie Trägheit. Eine rigorose Arbeitsgesinnung gewann als Mittel der Selbsterziehung und Selbstkontrolle dagegen eine religiöse Prämie. „Nachdem das Klosterwesen zerstört war, sollte die säkulare Welt in ein einziges gigantisches Kloster verwandelt werden“ (R. H. Tawney). Auch hier sehen wir eine Fortschrittsperspektive entstehen, die sich aus der Spannung zwischen der Vorstellung einer heiligen Gemeinde mit Christus als Haupt auf der einen und den zu gestaltenden Dingen dieser Welt herauskristallisiert. Die staatliche Ordnung war nicht einfach als Strafe hinzunehmen, sondern im Bewusstsein des Bundes mit Gott aktiv auszugestalten; dabei galt die pragmatische Regel: „Wenn wir nicht können, was wir wollen, müssen wir wollen, was wir können“. Das war keine Konzession an den Relativismus: Häretiker waren für den Führer einer Weltreformation Giftspritzer, die römische Kirche ein ‚Bordell Satans‘ und auch die Lutheraner vom Teufel geleitete Ignoranten. Das „Hineinziehen Gottes in den politischen Gewaltkampf“ (Max Weber) hatte überhöhte konfessionelle Abgrenzungen und blutige Kriege zur Folge, aber auch eine unerhörte zivile Dynamik: Das Relative, Zweckmäßige und Praktische, angefangen mit Zinsfuß und Kaufmannsethik, bis hin zur Bekämpfung der Armut, war in Calvins Sicht durchaus relevant für die Schaffung einer sich gegenseitig tragenden und ‚bessernden‘ Gemeinschaft. Die Genfer Realität geriet unter seiner Autorität zu einem bürgerlichen Glashaus unter ständiger rigoroser Kontrolle einer eifernden Sittenpolizei. Der alles reglementierende Staat war nach Calvin nicht Sache einer eigengesetzlichen Staatsraison, aber auch kein Ergebnis vertraglicher Abmachungen interessierter Privatleute; im Fall eines Versagens der obersten Amtsträger durften und sollten die magistrats inférieurs, im Bewusstsein der Verantwortung fürs Wohl des Ganzen und der Gleichheit aller vor Gott, aktiv werden. In katholisch regierten Ländern machte sich die Ständeopposition häufig den Calvinismus zu eigen, in diesem Fall um der fürstlichen Staatsgewalt Grenzen zu setzen. Spätere Calvinisten – von Theodor Beza bis John Knox – gingen in der Frage des Appells ans Volk, bis hin zur Absetzung einer tyrannischen Regierung, noch um einiges weiter. Individuelle Gewissensfreiheit galt aber auch ihnen als verdächtige Instanz. Von besonderer Tragweite war der Impuls, der von der calvinistischen Wirtschaftsethik ausging. Obwohl einzelne Wucherer auch in Genf vom Abendmahl ausgeschlossen wurden, war der Städter und Jurist Calvin dem Kaufmannsberuf und dem Kapitalverkehr gegenüber relativ unbefangen. Fern aller pietistischen Stimmungsfrömmigkeit sollte sich der ‚Krampf des Sündengefühls‘ (Weber), die 77
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durch keine Sakramente vermittelte innere Vereinsamung der Menschen in rastloser Berufsarbeit einer fides efficax abreagieren. Man glaubte nicht allein, in wirtschaftlichem Erfolg ein Zeichen göttlicher Erwählung zu erkennen, sondern auch einen Zusammenhang zwischen ökonomischem und sittlichem Fortschritt. Die Gründung von Manufakturen war erst einmal ein Mittel zur Beschäftigung der Armen, zu Selbstzucht, der Arbeit um der Arbeit willen; eventuell erzielte Überschüsse sollten in keinem Fall einem müßigen Rentnerdasein dienen, sondern dem weiteren Dienst im Beruf ad maiorem Dei gloriam, erst in zweiter Linie der Wohlfahrt, etwa der Schaffung von nützlichen Gemeindeeinrichtungen. Die sich selbst verstärkenden Folgen calvinistischer Arbeitsgesinnung mit Leistungsanreiz, Sparzwang und sozialer Einbindung der neuen Wirtschaftsdynamik waren nicht die Ursache des Kapitalismus, aber ein wichtiges verstärkendes Element bei der Herausbildung bürgerlicher Lebensformen, die sich später auch ohne religiöse Antriebe auf rein utilitaristischer Basis weiter entwickeln konnten.47 Lassen wir die Frage auf sich beruhen, ob die religiöse Aufladung den weltlichen Tätigkeiten auch immer gut getan hat. Calvins Wiederentdeckung eines lebendigen Gottes, der kein metaphysisches Prinzip sein sollte, sondern absoluter Wille, eine dynamische Ewigkeit, ließ seine Anhänger nach vorne blicken und rief auch die Dimension der unwiederbringlichen irdischen Zeit wieder stärker ins Bewusstsein. Die unmittelbare Beziehung zu Gott sollte, wie wir gesehen haben, die weltlichen Bereiche von Recht und Macht, Eigentum und Familie, die natürlichen Bedürfnisse und auch die humanistische ratio naturalis gerade nicht entwerten, sondern mit zielstrebiger Energie und Verantwortungsbewusstsein erfüllen. Auch wenn das 16. Jahrhundert nicht durchweg von religiösem Eifer erfüllt war, sondern eher vom Treiben der Kaufleute und Diplomaten, der Konquistadoren und Goldmacher, so dass auf eine Weise sowohl die ‚heidnische‘ Renaissance, wie die Reformation und die Gegenreformation gleichermaßen von Gott wegführten (E. Friedell), kann doch aus der Vogelperspektive eines nicht bestritten werden: Der aktivistische Geist Calvins übte auf wahlverwandte säkulare Kräfte, auf wirtschaftliche Interessen, auf bürgerliche Lebensführung, auf ständische Freiheiten, auch auf die Herausbildung bürokratischer Einrichtungen und staatlicher Ämter, eine intensivierende Wirkung aus, die dem Begriff Weltfrömmigkeit nahekommt. Von Max Weber, der diesem Geist viel Nachdenken gewidmet hat, stammt auch der Verdacht, das Ausschalten des Ethischen aus dem weltlich-politischen Räsonnement könne das „Reinlichere und allein Ehrliche“ sein. Die Auswirkungen eines zeitgleichen Phänomens, der Societas Jesu, waren noch weniger eindeutig. An Disziplin und Aktivität in der Welt gab sie dem Calvinismus in nichts nach,48 auch an erklärtem Willen, der Ehre Gottes jeden Eigenwillen zu opfern, dabei aber auf die Lebensbedingungen der Welt und die 78
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Gewohnheiten der Menschen, wie sie nun einmal waren, maximal einzugehen. „Wenn wir alles auf den göttlichen Dienst hinlenken, so ist alles Gebet“, schrieb der Ordensgründer Ignatius von Loyola († 1556), der erst mit dreißig, nach einer mit Luther vergleichbaren Suche, seiner Berufung, den Feldzug gegen „selbstischen Eigenwillen“ antrat. Als parallel könnte man seinen Grundsatz bezeichnen, der Mensch solle zwar auf Gnade vertrauen, aber müsse sich regen im Dienste des Heils, unter Anwendung aller natürlichen Mittel und Fähigkeiten. Der Orden benutzte diese Mittel auf eine flexible, unbefangene, oft skrupellose Weise zur Festigung der alten Kirche, der Ausweitung katholischer Macht durch Seelsorge und Missionierung, Schule und Wissenschaft. Die Jesuiten stellten sich bedingungslos in den Dienst des Papstes, aber ihre vielfältigen Tätigkeiten waren nicht einfach nur „rückwärtsgewandt“, wie kulturprotestantischer Fortschrittsstolz (J. Burkhardt) es sehen wollte; in Konkurrenz mit dem Neuen entwickelten sie ebenfalls Neues, bewahrten einiges Bewahrenswerte, das humanistische Bildungsideal, nicht zuletzt den Gedanken der Einheit der Menschheit – in Zeiten, die geneigt waren, die entstehenden Nationalstaaten und ihre Souveränität zu verabsolutieren. *** Der Traum von Dantes Weltmonarchie war schon zu seiner Zeit von Johann von Salisbury verworfen und von Robert von Neapel als angebliches scandalum für alle, die frei leben wollen, denunziert worden. Mit ihr verbunden gewesen war die Idee der friedlich geeinten Menschheit und der ihr eigenen aristotelischen Potenz zur Selbstentfaltung; ihre Zeit sollte wieder kommen. Jetzt hatte die Wendung zu den Dingen dieser Welt auch den einzelnen aufkommenden protonationalen Territorialstaaten das gute Gewissen zurückgegeben, sie jedenfalls auf ihre Gegebenheiten und Traditionen zurückgeworfen. In Florenz versuchte Leonardo Bruni die italienische Städtefreiheit nach rückwärts zu projizieren und wies die universalen Herrschaftsansprüche der Kaiser und Päpste als bloße Fiktion zurück; um 1500 interpretierte der Venezianer Sabellius-Cocceius das römische Altertum von einem national-italienischen Standpunkt aus. Deutsche Humanisten konzentrierten ihr Interesse auf einen angenommenen deutschen Nationalcharakter, der sich auch dem Reich aufgeprägt habe und aus eigenem Recht, d. h. ohne heilsgeschichtliche Tradition, eine weltliche Oberherrschaft über die Völker beanspruchen könne (Hartmann Schedel, 1493). Hier hat auch die Reformation zur Rechtfertigung und Festigung der Territorialstaaten einen wesentlichen Beitrag geleistet. In Frankreich, den Niederlanden, Schottland und in den habsburgischen Ländern Böhmen und Ungarn wehrten sich die protestantischen Stände erbittert gegen die Beschneidung ihrer 79
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Landesrechte durch den katholischen König und eine ‚amoralische‘ Staatsraison, oder suchten zumindest den entstehenden Absolutismus in Äquidistanz zu beiden konfessionellen Bürgerkriegsparteien zu halten, wie wir schon anhand von Bodins Staatsdenken sehen konnten.49 Im lutherischen Landeskirchentum fand der Fürstenstaat ein Instrument der Disziplinierung und konfessionellen Abgrenzung, den katholischen Kaiser eingeschlossen. Das Mittelalter war auch insofern tot, als die alte Idee der friedensstiftenden Universalmonarchie für viele eher zu einer Schreckensvision geworden war; es zog herauf das Zeitalter eines mechanischen Mächtegleichgewichts als ‚Freiheitsgarantie‘, mit dem rationalen staatlichen Interesse als Haupttriebfeder.50 Der Staat wirkte nach innen befriedend, ließ aber den auswärtigen Krieg eskalieren: die Steuerschraube und die der Staatsraison verpflichtete Bürokratie waren Machtinstrumente, ohne sie keine staatliche Souveränität, d. h. Gewaltfähigkeit im Wettbewerb nach innen und außen. Vergeblich suchte der geniale Grotius († 1645) mit seinem Natur- und Völkerrecht auch ohne kaiserliche und päpstliche Suprematie die res publica christiana durch eine humanistische Ethik des friedlichen Ausgleichs und der Toleranz wiederherzustellen (H. Hofmann), durch ein ius in bello dem Krieg Regeln zu geben bzw. die barbarischsten Erscheinungsformen zu nehmen: ein zweifelloses Fortschrittsziel. Angesichts der Greuel und entfesselten Leidenschaften beider Seiten mochte die Durchsetzung fürstlicher Souveränität mit Zustimmung rechnen, nämlich als Befriedung zumindest des staatlichen Binnenraums und der Schaffung eindeutiger territorialer Loyalitäten, und sie wurde von vielen mit einer gewissen Erleichterung, nämlich als Voraussetzung aller bürgerlichen Tätigkeiten, aufgenommen. In dieser Richtung wirkte auch ein neustoischer Pflichtenkanon, der sich als Beamtenethos nicht Sonderinteressen, und auch nicht fürstlicher Willkür, sondern dem Gemeinwohl verpflichtet fühlte. Michel de Montaigne († 1592), katholischer Bürgermeister von Bordeaux, war im Vergleich zu den Lobpreisungen der Renaissance skeptisch geworden zum Menschen, dem „zerbrechlichsten aller Geschöpfe“; er schien ihm voll Schwäche, Unbeständigkeit, Lüge, aber auch Überheblichkeit. Es wäre eine Illusion, ihn ändern, gar zum Ideal, jenem Maß aller Dinge, erheben zu wollen. Montaigne verstand sich nicht als bloßer Büchermacher, sondern als Lehrer richtigen Handelns, ohne sich dabei auch nur über sich selbst Illusionen hinzugeben: Nach seinen ironischen Worten zog er es vor, der gerechten Seite „nicht bis auf den Scheiterhaufen folgen zu müssen“. Aus konservativem Instinkt und Erfahrung misstraute der geadelte Aufsteiger Umstürzen und unruhigen Geistern, die nach Vollkommenheit streben, aber nur das Gegenteil des Gewollten erreichen, nämlich Ungerechtigkeit und Tyrannei. Er war auch kein katholischer Zelot und zog es vor, in einem konfes80
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sionell neutralen Staat zu leben, der es zudringlichen Eiferern nicht gestattete, sein Inneres in Beschlag zu nehmen. „Zu Zorn und Hass fühle ich mich nicht verpflichtet, wenn ich für Gerechtigkeit eintrete“ (Essais III, 1). Sicherheit, Gerechtigkeit und Maß sind die Maximen des Staates nach seinen Vorstellungen, also nicht parteiische Verbissenheit, die in der Regel nur egoistische Interessen und persönliche Leidenschaften verbergen. Mit Montaigne und Grotius war der Humanismus über moralisierende Klage hinausgegangen und hatte sich pragmatisch auf realgeschichtliche partielle Fortschrittsziele eingelassen. Das neue Staatsdenken hielt es für bedenklich, universale Normen oder Gesetze fremder Staaten ohne Rücksicht auf bestehende Verhältnisse einzuführen: Die Aufgaben des Staates sind wandelbar und müssen der Natur des jeweiligen Volkes entsprechen (Bodin). Auch Montaigne unterschied zwischen allgemeingültiger und „national beschränkter“ Gerechtigkeit; die konkrete Norm kennt unter Umständen Zwangslagen, in denen aus Staatsnotwendigkeit das Wort gebrochen und wegen eines großen öffentlichen Nutzens gegen Recht und Verpflichtungen verstoßen werden muss: Henri IV. wird sich an die Empfehlung halten, wenn er um des inneren Friedens willen zum Katholizismus übertritt. „Paris ist eine Messe wert“, d. h. der Frieden des Landes ist das höhere Gut gegenüber dem konfessionellen Gewissen. Für Montaigne ist dies allerdings „die krankhafte Ausnahme von den Regeln, die die Natur ansonsten vorschreibt“. Andere Anhänger der Lehre von der Staatsraison gingen über den Ausnahmecharakter der staatlichen Regelverstöße hinaus und glaubten eine politische Sondermoral vom Notstand her verallgemeinern zu können (Münkler). Die Fürsten handelten zwar von der (Privat-)Moral gesehen verwerflich, aber unter der unabänderlichen Tyrannei des staatlichen Interesses. Der Politiker, erklärte der republikanische Spötter Trajano Boccalini († 1613), „setzt die Füße auf den Hals aller anderen Werte der Erde und des Himmels“. Aber auch für ihn, den Verehrer und Kommentator des Tacitus, sind Religion und Moral nur politische Phänomene, stabilisierende Herrschaftsmittel oder – eine Gefahr. Die modernen Ketzereien werden folglich nicht durch Disputationen oder Dekrete, sondern in der Regel mit bewaffneter Macht entschieden: Im Staat ist nur eine Religion zulässig; Toleranz gefährdet die innere Stabilität. Der rein weltlich definierte Staat mit Machtkompetenz über den Bereich der Konfessionen, Gesinnungen und der Privatmoral wird so immer mehr zur obersten Instanz, die die heilsgeschichtliche Orientierung definitiv ablöst. „Nichts kann schimpflich erscheinen, was mit dem Heile des Staates verknüpft ist“. Es gab resignative Varianten der neuen Politikauffassung, die es zu dem, was wir hier ungenau unter dem Begriff ‚Weltfrömmigkeit‘ oder ‚innerweltliche Askese‘ zusammenfassen, sehr weit hatten, und die zu einem pessimistischen Geschichtsbild des „déjà-vu“ neigten. Von ‚Staatsfrömmigkeit‘, die das Beschränkte 81
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und Relative absolut setzt, war es schwierig, zu einer breiteren Geschichtskonzeption, gar einer menschheitlichen Zukunftsperspektive zu gelangen, auch wenn die protonationale Ersatzreligion sich erst am Horizont ankündigte. Dies können wir an einigen Beispielen humanistischer Historie darlegen. Der hochgebildete Historiker La Popelinière († 1608), Teilnehmer am ersten Hugenottenkrieg, musste nach der Bartholomäusnacht nach England flüchten, aber geriet infolge seiner vermittelnden Position, seiner Objektivität und Toleranz zwischen die Stühle; die hugenottische Nationalsynode von La Rochelle ging so weit, ihn zeitweise zu exkommunizieren. Die Geschichtsschreibung war für den fidelle secretaire de la memoire eine der wichtigsten menschlichen Tätigkeiten – als Spiegelbild des gesamten Lebens, der Religion und ‚police‘, also von Verwaltung und Gesetzen bis hin zu Kriegen, Verkehr und Seuchen der Völker. Die Geschichtsschreibung erfordert Erfahrung, Unparteilichkeit, Umsicht: raison und prudence; sie soll ein Bewusstsein der Zusammenhänge, der Ursachen und der Natur der Dinge vermitteln, soll aber auch Patriotismus wecken, den Sinn für Weltgeltung und Seefahrt. Dem sollte eine Geschichte der Entdeckungen seit der Antike (Les trois mondes, 1582) dienen. Popeliniarius, der Montaigne geistig nahestand, war ein Feind nicht nur fanatischer Konfessionspolitik, sondern auch blinder Verehrung der Antike; aus allen Zeitaltern könne man lernen. Was ihm vorschwebte, war eine universale ‚vergleichende Kulturgeschichte‘ oder ‚geschichtliche Morphologie‘ (E. Hassinger), mit dem Ziel, durch das Wissen von den Leistungen der verschiedenen Zeiten eine republique mondaine des Geistes herzustellen. Dabei ließ seine skeptische Weltanschauung, vielleicht auch ein Rest christlichen Sündenbewusstseins, keinen Gedanken an fortschreitende Vervollkommnung aufkommen: die Natur des Menschen werde sich mitsamt ihren Fehlern immer gleich bleiben und nur die äußeren Formen sich verändern. Ja der Stoiker glaubt, dass sich sogar der Zufall wiederholt: „chacun accident retourne“. Das war kaum in einem wörtlichen Sinn zu verstehen. Andere Humanisten des späten 16. Jahrhunderts (Le Roy) drückten den Gedanken der ewigen Wiederkehr mit dem Bild einander abwechselnder führender Nationen und Glanzperioden aus. Der alte Orient, so glaubte auch Bodin, habe eine besondere Begabung für kontemplatives Wissen hervorgebracht, die Griechen und Römer einen spezifischen Sinn für Staatswesen und Rechtsordnungen, schließlich die „Völker des Nordens“ (des europäischen Westens) die Vervollkommnung des Kriegswesens und mechanischer Fertigkeiten. Ungleichzeitigkeit, die in der Staatengeschichte herrscht, und das ist hier wesentlich, ermöglicht Späteren, von Früheren zu lernen. Von Perfektion im strengen Sinn kann in menschlichen Angelegenheiten natürlich keine Rede sein, schon weil geschichtliche Höhepunkte, Bürgertugend und 82
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Machtentfaltung, zeitlich kaum je zusammenfallen. Doch ist schon „geringere Unvollkommenheit“ ein realistisches Geschichtsziel – im klaren Bewusstsein, dass auch unsere Epoche samt ihren Vorzügen einmal vergehen muss: auf Ordnung folgen Wirren, auf Verfeinerung Rohheit und auf Wissen Ignoranz. Neue Barbaren werden nach dem Willen der Vorsehung – oder der Fortuna – unsere Städte und Künste vernichten. Der Zyklus kann von vorne beginnen. Auch deshalb ist eine „integra historia“ (F. Baudouin) wichtig und ein breiter kulturgeschichtlicher, tendenziell enzyklopädischer, Horizont erstrebenswert. Das zyklische Modell war selten konsequent zuende gedacht, sondern mit christlich-naturrechtlichen Aspekten durchmischt; vor allem klammerte man gerne die Aussicht auf den bevorstehenden Niedergang aus. Ein optimistischer Wille setzte sich gegen die deterministische Logik durch (J. B. Bury), vor allem das Bestreben, alles Wissenswerte, wie in die Arche Noah, vor kommenden Sintfluten zu retten.51 Meist waren patriotische Motive im Spiel, die die humanistischen Autoren eine säkularisierte Form der alten Idee von der translatio imperii verwerfen bzw. aufgreifen ließen, mit der eigenen Nation als vorläufig letztem der Hegemonen: ein Gedanke, den Hegel zwei Jahrhunderte später aufgreifen wird. Das Nationalbewusstsein hatte durch die antik geprägte humanistische Publizistik und ihren überzeitlichen Ruhmanspruch eine gewisse Eigendynamik entwickelt, aber auch einen ungewollten Beitrag zur Fortschrittsproblematik geleistet. Ausgehend von der wiederentdeckten Germania des Tacitus, hob der nachmalige Papst Enea Silvio Piccolomini – nicht ohne kuriales Eigeninteresse – den gegenwärtigen (1458) Wohlstand der natio Germanorum hervor: ein germanischer Zeitgenosse Cäsars würde heute sein Vaterland nicht wiedererkennen. Andere Humanisten nahmen die These vom Fortschritt durch die Einbeziehung in die christliche Gemeinschaft mit unterschiedlichem Vorzeichen auf. Konrad Celtis († 1508), Verfasser eines Lobs der Stadt Nürnberg und ihrer vorbildlichen Einrichtungen (einschließlich der nachahmenswerten Judenvertreibung) wies z. B. zornig den italienischen Überlegenheitsdünkel von sich und wollte in Kaiser Maximilian den Wiederhersteller des goldenen Zeitalters erb licken. Ulrich von Hutten († 1523), Bejubler der Fortschritte (O Jahrhundert, o Wissenschaft, es ist eine Lust zu leben!), fanatischer Verkünder eines patriotischen Romhasses und Entdecker des Arminius, stellte die Bildungsfrage noch eindringlicher unter nationalen Aspekt, nämlich als spontane Leistung eines kollektiven Genies. Solche nationale Rhetorik neigte dazu, den erreichten kulturellen Hochstand der eigenen Nation in die Vergangenheit zu verlegen, auswärtige Abhängigkeiten zu leugnen und empirische Vergleiche dem Prestige des jeweiligen Landes zu opfern. Die Fortschrittsidee war für die Humanisten von vornherein mit einer gewissen Ambivalenz behaftet: Die Anfänge übertreffen alles Spätere. In der Nach83
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folge des Annius von Viterbo verbeißt man sich in fragwürdige Stammbaum fragen, die die Überlegenheit der einzelnen modernen Völker aus ihrer Nachkommenschaft von Noah bzw. den Trojanern (der Briten von Brutus!) nachzuweisen suchen, oder nach Tacitus die Eigenständigkeit, Unvermischtheit und Sittenreinheit – vor allem der Deutschen – bezeugen: Jakob Wimpfelings Epitome Germanorum (1505) preist einen überzeitlichen deutschen Nationalcharakter, der sich in hervorragenden Eigenschaften und Taten der Vergangenheit ausdrückt und die Gegenwart verpflichtet. Auch Hutten blickt nach rückwärts. Der Eques Germanus hasst die neue Geldwirtschaft, die römischen Juristen und die das Reichsinteresse ignorierenden Landesfürsten, während er die altdeutschen kriegerischen Tugenden beschwört, die herrschten, als das Reich noch nicht unter römisch-päpstlicher Bevormundung stand. In anderen Ländern stellte sich die Frage nach der Bewertung ihres gegenwärtigen Zustandes zwar kaum weniger emotional, aber häufig selbstbewusster, ohne Zwang, aus der Not eine Tugend zu machen. Gegen die ältere Altertumshörigkeit setzte sich ein Gefühl für die Hochleistungen der eigenen Zeit durch. Giorgio Vasari († 1574) empfand das späte 15. Jahrhundert als absoluten künstlerischen Höhepunkt, und in Frankreich des 16. Jahrhunderts fühlte man sich in vielem den Römern ebenbürtig, wenn nicht überlegen; jedenfalls glaubten die Schriftsteller der verleumderischen Vorstellung von der Barbarei der Franzosen und ihrer Sprache widersprechen zu müssen. Die klassische Vergangenheit blieb dabei die eigentliche Inspirationsquelle und Geschichtslehrerin einer ansonsten stark von sich selbst eingenommenen Zeit. Im 18. Jahrhundert wird man wieder eine idealisierte Antike kritisch gegen höfisch-absolutistischen Luxus, Ehrgeiz und Unfreiheit wenden – doch kaum so sehr, dass dies die Überzeugung von der Überlegenheit der „Modernen“, jedenfalls den Willen, die „Alten“ in jeder Hinsicht zu übertreffen, ernsthaft in Frage gestellt hätte (J. Schlobach). Die humanistische Überzeugung von der Wiederholung der irdischen Herausforderungen und der Einheit der Maßstäbe ermöglichte es den Geschichtsschreibern, mit dem Anspruch pragmatischer Lehren aus ihren Erzählungen aufzutreten. Der Humanismus hatte den Stellenwert der Geschichte angehoben, aber sie war, schon durch die universitäre Zuordnung zu Bibelexegese, Rhetorik, Ethik, Politik oder Jurisprudenz, ein unselbständiges Fach geblieben, mit unsicherem, singulärem, kontingentem Wissen. Ihr Erkenntnisinteresse war außenbestimmt (U. Muhlack) und die Universitätshistorie als bloße Hilfsdisziplin auf die Erläuterung des Hintergrunds oder die Bereitstellung exemplarischen Stoffs für andere Fächer beschränkt. Auch wenn sich die Geschichtsschreibung der Unterordnung unter theologische Fragen zu entziehen vermochte, konnte sie keine autonome Wert- und Sachorientierung bieten, sondern blieb im Grunde angewiesen auf Fragestellungen von außerhalb der eigenen Disziplin. 84
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Jean Bodin wollte in seinem Methodus (1566), wie wir gehört haben, aus der Geschichte Normen für alles menschliche Verhalten und das Bild der Zukunft ziehen; das Problem lag aber bei den Kriterien, nach denen die Auswahl aus der historischen Vielfalt zu treffen, nicht zuletzt der Frage, wessen Geschichte zu erzählen war. Die Geschichte sollte, auch ohne notwendige und ewige Wahrheiten, Verstand und Lebensklugheit vermitteln – unter der nicht ganz einfachen Vorgabe, der Historiker dürfe sich nicht zum Sprachrohr parteiischer Tendenzen machen lassen.52 Eine solche unvoreingenommene Pragmatik ließ die Frage nach dem Primat der Alten bzw. der Modernen nüchtern offen. Alessandro Tassoni († 1635) etwa differenzierte: In manchem gebührt die Palme dem Altertum; andere Dinge, die mit dem ingenio fattive, den praktischen Kunstfertigkeiten, zusammenhängen, verstünden die Modernen besser zu leisten; auch die Astronomen wüssten heute mehr als Ptolemäus. Für eine allgemeine Höherentwicklung fehlen auch Tassonis Dieci libri die Fortschrittskriterien. Die folgende Zeit fast unaufhörlicher Katastrophen, angefangen von einem lebensbedrohlichen Klimawechsel (der „kleinen Eiszeit“), in ihrem Gefolge wirtschaftliche Depression, soziale und konfessionelle Konflikte, Pest, Hunger, Krieg, Hexen- und Judenverfolgungen auf dem Kontinent, war dann wenig geeignet, ein Gefühl allgemeiner Verbesserung und vernünftiger Selbstbestimmung aufkommen zu lassen. Eher machte sich Irrationalismus breit, Verunsicherung und die Empfindung, höheren (bzw. niederen) Mächten ausgeliefert zu sein. Verbreitete Druckschriften berichten über Zeichen am Himmel, hundsköpfige Monster und Kometen, so dass die Erwartung eher auf den Weltuntergang, als auf Fortschritt gerichtet ist. ***
Und alle unsre Gestern führten Narren …ein Märchen ists, erzählt Von einem Dummkopf, voller Klang und Wut, Das nichts bedeutet (Macbeth),
lautet die deprimierende Absage an jeden Fortschrittsglauben und Geschichtssinn aus der Feder von Tassonis berühmtem englischen Zeitgenossen:
Der Mensch, der stolze Mensch, In kleine, kurze Majestät gekleidet. …wie zorn’ge Affen, Spielt solchen Wahnsinn gaukelnd vor dem Himmel, Dass Engel weinen… (Maß für Maß). 85
II. Bausteine der Moderne
Die großen Fische fressen immer die kleinen, ja die Götter töten die Menschen einfach zum Spaß. Hurerei und Ehebruch sind nützlich für die Könige, die stets Soldaten brauchen, um wieder töten zu lassen. Falstaff-Shakespeare hat das destruktive Wesen des Krieges durchschaut und soldatische Ehre als Illusion erkannt. Einen christlichen Hintergrund hat Shakespeares radikaler Pessimismus kaum, und er scheint auch nicht an die Vorsehung zu glauben:
Nicht durch die Schuld der Sterne, lieber Brutus, Durch eigne Schuld nur sind wir Schwächlinge,
sagt Cassius in Julius Cäsar. Ist alles relativ und hoffnungslos in Shakespeares düsterem Geschichtsbild? Der große Psychologe kennt zumindest die antike Hybris, die noch auf Erden Vergeltung übt:
…den blut’gen Unterricht, der, kaum gelernt, Zurückschlägt, zu bestrafen den Erfinder (Macbeth),
oder an anderer Stelle:
Aus unsren Lüsten erschaffen sie (die Götter) Das Werkzeug, uns zu geißeln (König Lear).
Wie immer Shakespeares Gott ausgesehen haben mag, so ist jedenfalls Hamlets Gott „ein Autor, der Farcen und nicht christlich erbauliche Komödien schreibt“ (Harold Bloom). Für den Wittenberger Studenten Hamlet, erzogen vom Narren Yorick, ist aktives Handeln nicht nur konstitutionell schwierig, sondern in einer Welt des Spiels geradezu irrelevant. Vom großen Aufbruch des Landes scheinen Shakespeares Helden nichts zu halten. England hatte unter Elisabeths vorsichtiger Regierung 45 Jahre leidlichen inneren Friedens genossen. Die Königin hielt die Herrschsucht der Religionsparteien mit drastischen Mitteln kurz und mit Diplomatie und Entschlossenheit ausländische Einmischung fern – mit dem Ergebnis, dass Englands Seefahrt und Wirtschaftskraft, Reichtum, Wissen, Talente und Selbstbewusstsein, wie uns scheint, geradezu explodierten. Viele rühmten die große Zeit und ihre Entdekkungen, wie Richard Hakluyts vielgelesene Principal Navigations, Discoveries of the English Nation (1598–1600). Andere (John Donne) sahen sie eher skeptisch: 86
Mit neuen Übeln führen gegen uns wir Krieg, Mit neuer Physik und der Maschinen Sieg (!)
4. Weltlichkeit, Weltfrömmigkeit
Wer den säkularen Aufschwung Englands bejahte, war sich der Notwendigkeit bewusst, die alten moralischen Skrupel um des Erfolgs willen zu vergessen:
Ich achte Religion als kindischen Tand Und außer Unkenntnis gibts keine Sünde,
legte Christopher Marlowe im Juden von Malta (1590) dem fiktiven Machiavelli in den Mund. Die Moralisten fuhren zwar fort, ‚Old Nick‘ zu bekämpfen, aber in der Praxis hatten dessen – bzw. Shylocks – Lehren längst gesiegt und die herkömmlichen Glaubenswahrheiten sozusagen in die Fassade verbannt. „Zweierlei Wahrheit“ hatte schon die Spätscholastik gelehrt; auch die Humanisten wollten mit ihrer Zuwendung zum Profanen und Kontingenten das Heilsgeschehen den Theologen überlassen. In Zeiten eifriger Inquisitoren wurde dann die Schutzbehauptung lebenswichtig, nur ‚als Philosoph‘ gesprochen zu haben. Die Anerkennung theologischer Zuständigkeit war aber unter der Hand immer mehr zur Floskel einer nur mehr an weltlichen Dingen interessierten Bildungs- und Führungsschicht geworden. Francis Bacon († 1626), GeneralStaatsanwalt, Lordkanzler, Essayist von Rang, symbolisiert die Praxis dieser doppelten Wahrheit auf vielfältige Weise. Der Philosoph, der die Zurückgezogenheit des Weisen lobt, ist zerfressen von Ehrgeiz und Geltungsbedürfnis; als Politiker muss er viele seiner Grundsätze opfern, als Richter seinen Gönner Essex verurteilen. Er stellt z. B. fest, es gebe einen großen Unterschied zwischen bürgerlichen und wissenschaftlichen Angelegenheiten – insofern, als die Wissenschaft auf neue Erkenntnisse angewiesen ist, während der Staat notwendig auf Autorität, Übereinkunft und Meinung ruht, für die sogar Verbesserungen bedenklich sind (Novum Organon I,90, vgl. I,129). Das war eine Zweckbehauptung zugunsten der Freiheit der Wissenschaft, ebenso wie die spätere, dass die Erfindungen allen zugute kämen; dabei seien sie, wie behauptet, in ihren Auswirkungen einschneidender, als alle politischen und religiösen Veränderungen. Beide Behauptungen konnten nicht zugleich wahr sein. Manchmal kam der Wissenschaftler dem Zeitgeist („die Zeit ist die Mutter unserer Ansichten“) weit entgegen: Hundert Jahre nach Thomas More äußert der Philosoph, der das menschliche Wissen „platonisch“ von vorgefassten Meinungen, von sozial bedingten „Vorurteilsgötzen“ (den Idola) reinigen wollte, wenig zimperlich, ein ehrenhafter Krieg halte die Nation in Form, und Seeherrschaft – in der Praxis war es oft Piraterie – sei ein durchaus erstrebenswertes Ziel für sein Land.53 Zwar rät der geadelte Aufsteiger, die Kaufleute nicht zu sehr zu besteuern, aber seine Wertskala ist eher unbürgerlich, wenn er die Gewöhnung an Waffendienst und Krieg friedlicher Arbeit vorzieht. „Kein Körper bleibt auf Dauer gesund ohne 87
II. Bausteine der Moderne
Übung“; deshalb meint Bacon, im Frieden „verweichlicht der Mut, verdirbt der Charakter“ (Von der wahren Größe der Königreiche, in: Essays, 71). Andere Empfehlungen, etwa die notwendige Einheit nicht um den Preis der Menschlichkeit erzielen zu wollen, die Verfolgungen der Katholiken zu lockern und einen Kompromiss zwischen Anglikanern und Puritanern anzustreben, schienen dem StuartKönig zu kühn (oder zu weltfremd), um befolgt zu werden; Bacon hatte wohl, wie spätere Aufklärer, die Zählebigkeit der „Idola“ und der „unfruchtbaren Streitigkeiten um bloße Namen“ unterschätzt. Sein scharfer Geist neigte zu bildlicher Veranschaulichung, dabei wurde er oft missverstanden. Einer seiner berühmten Aphorismen, Geld sei wie Mist, wurde gerne von radikalen Kapitalismuskritikern zitiert, aber falsch: Der Kanzler meinte nur, es sei unnütz, wenn es auf einem Haufen liege, aber durchaus fruchtbar auf breitem Feld ausgestreut. In der Praxis musste Bacon seinen eigenen Einsichten zuwiderhandeln: die großen Monopole unterstützen und ‚Ketzer‘ verfolgen. Seine großen Wissenschaftsprojekte blieben zu seinen Lebzeiten auf dem Papier; nach seinem Sturz (1621) war der Selbstbewusste ein gebrochener Mann. Bacons Empirismus, sein unvoreingenommenes Herangehen an die Dinge, seine Warnungen vor subjektiver Wahrnehmung, hätten eine fruchtbare Methodik auch für die Geschichtsschreibung abgegeben. Zwar hieß es, „unsere Induktionsmethode umfasst alles ohne Ausnahme“ (NO I, 127), aber Bacons Wissenschaftsverständnis war ein naturwissenschaftliches, und so war es logisch, dass er vor dem „Auftürmen des Neuen aufs Alte“ warnte, d. h. dem Nachbeten veralteter Fragestellungen, im Grunde jedem Traditionalismus. Im Bewusstsein der unwiderstehlichen Neigung zu Gefühlsintervention und Wunschdenken in Dingen, die den Menschen unmittelbar angehen, wollte er Bereiche meiden, die vorwiegend von Gedächtnis und Autorität abhängen, und das war nun einmal der Bereich der Politik und der Geschichte. Bacon hielt das meiste bisherige Wissen für zufällig, von Irrtümern und falschen Begriffen verdorben; auch der griechische Beitrag zu den Wissenschaften sei reiner ‚Professorenstreit‘ geblieben, weil vermeintlich ohne Ausrichtung auf das praktische Ziel, den Zustand der Menschen zu verbessern, also zum Fortschritt beizutragen. Seine eigene originelle Leistung, vorgeblich ohne Vorgänger, verglich der Programmatiker mit der Vorarbeit eines Instrumentenstimmers, der kundigeren Händen das Spiel erleichtern sollte. In der Tat lag sein Beitrag zur Erkenntnis vorwiegend in methodischer Besinnung. Mit seiner radikalen Zukunftsorientierung war der Streit zwischen „Alten“ und „Modernen“ eigentlich entschieden: die Alten und Erfahreneren sind natürlich wir, die trotz verkehrter Anwendung des Gottesgeschenks der Vernunft in dürftigen Jahrhunderten, ungeheure Fortschritte in Erd-, Meeres- und Himmelskunde, sowie in den mechanischen Künsten, erzielt haben. Während die 88
4. Weltlichkeit, Weltfrömmigkeit
Griechen, die ‚ewigen Kinder‘, schwätzten, aber unfähig waren zu zeugen, haben wir unendlich mehr Erfahrungen angehäuft; vor allem sind wir dabei, den christlichen Grundsatz, den Glauben durch Werke zu beweisen (Jac.2, 17), auf die Philosophie anzuwenden: unser modernes Wissensinteresse ist praktisch. Schon Erfindungen, wie Schießpulver, Buchdruck und Magnetnadel, sind in Bacons Sicht meist durch bloßen Zufall gelungen – in einem sozialen Milieu, dessen Aufmerksamkeit auf leere Spekulationen und Abstraktionen gerichtet war.54 Der Unterschied wäre noch größer, äußert er, wenn unsere Bemühungen um bessere Erkenntnis und Beherrschung der Natur zielbewusst gelenkt und koordiniert worden wären. Dann winkten uns Entdeckungen von ungeahntem Ausmaß, die dem alten Kontinent mehr hinzufügen würden, als alle bisherigen überseeischen Entdeckungsfahrten (Advancement of Learning). Vielleicht, sagt er, besteht die Größe unserer Gegenwart darin, dass wir das bisher für groß Gehaltene als lähmendes Erkenntnishindernis durchschaut und uns statt des müßigen Anstaunens der Werke früherer Jahrhunderte den Erfahrungswissenschaften und der Erforschung der Ursachen der Dinge widmen. Zeitgenössische Erfindungen – Napiers Logarithmentafeln, Galileis Teleskop, Keplers Gesetz der Planetenbahnen beeindruckten nur eine dünne Schicht der Mathematiker und Naturphilosophen. Bacon warnt vor Aberglauben, vor blindem Religionseifer, der durch falsche Vermischung von Göttlichem und Menschlichem meint, Gott mit Lügen einen Dienst zu erweisen (NO 1,89), während doch ihm gegenüber nicht Wissen, sondern Staunen zieme, und man „nüchternen Sinnes dem Glauben lassen [solle], was des Glaubens ist“. Die Abgrenzung zwischen Heiliger Schrift und dem Buch der Natur hatte einen guten Sinn gegenüber dogmatischen Eiferern, die der Naturwissenschaft nicht lassen wollten, was der Naturwissenschaft war; es war aber keineswegs unchristlich, von Anthropomorphismen, Teleologien, Arche typen, letzten Wahrheiten Abschied zu nehmen und den Geist statt metaphysischer Spekulationen vorwärts aufs menschliche Handeln auszurichten. Was man vergessen hatte: Es war das Christentum, das mit der Trennung von Geist und Natur der Auffassung vorgearbeitet hatte, die Natur als das Andere, Nicht-Göttliche zu erkennen und unbefangen in den Dienst des Menschen zu nehmen: heute oft Anlass zu Vorwürfen gegenüber der naturverachtenden, ausbeuterischen modernen Zivilisation. Bacon, der seine Schriften dem ebenso gelehrten wie abergläubischen König Jakob I. adressierte, wusste sich an der Schwelle einer Revolution, wobei der Begriff noch die Bedeutung von Erneuerung und Rückkehr zum Ursprung besaß; dem entsprachen die rhetorischen Metaphern, in die er seine neue Methode kleidete. So wollte er sich dem „Buch der Schöpfung“ in Demut und Verehrung, Unschuld und Offenheit nähern, also ohne Belastungen durch anmaßendes Vorwissen, allein mit dem „Atem der Hoffnung, die uns vom Neuen Kontinent ent89
II. Bausteine der Moderne
gegenweht“. Das neue Reich betritt der Mensch nach Analogie des himmlischen, indem er wieder zum Kind wird und den Götzenbildern falscher Erkenntnis, Machwerken kollektiver Vorurteile (idola fori), abschwört. Das Programm der neuen Wissenschaft erscheint listigerweise, vielleicht aber auch bona fide, in biblisch-prophetischem Gewand eines Kampfes gegen Götzenbilder im Namen der „Hoheit und Macht des Menschen“. Zählte aber nicht gerade die Selbsttäuschung, wonach wir uns selbst zum Maß der Welt machten, zu den „Idola“? In einer immer noch stark von Dogmen und Autoritäten geprägten Epoche war es gewiss produktiv, einen empirischen Neuanfang setzen zu wollen; Bacon betrat im übrigen weniger Neuland, als er behauptete. Als problematisch mochte sich seine biblische Rhetorik erweisen, unbeschwert von subjektiven Voraussetzungen die Dinge ‚in Unschuld‘ anzuschauen: Wir sind nicht mehr im Paradies, und der „Sieg der Kunst über die Natur“ führt uns kaum dahin zurück, wie ja die Geschichte der menschlichen Fortschritte zeigt.55 Ohne Vorwissen, Hypothesen und praktischen Bedarf bleibt alle Empirie unfruchtbar. So heißt es auch bei Bacon entlarvend: Wenn man der Natur befehlen wolle, müsse man erst lernen, ihr zu gehorchen. Von Demut war in seiner Philosophie nicht viel zu spüren: um so mehr von Machtwillen – abgestuft nach persönlichem, nationalem und schließlich einer edleren Macht der gesamten Menschheit (NO I, 129).56 Zumindest formal-rhetorisch folgte Bacons radikale Instauratio dem Bild der Nachfolge auf den Spuren des Schöpfers, wenn nicht geradezu in der Nachahmung des Erlösungswerks (Ch. Whitney), so dass sich ins Säkulare und Moderne seines Ansatzes unverkennbar traditionelle Motive und zeitgenössische Endzeiterwartungen mischten. Der apostrophierte wissenschaftliche Fortschritt auf der Basis von systematischer Naturforschung, Analyse und Experiment sollte sich nicht allein durch nützliche Erfindungen legitimieren: „Die Wege des Könnens und Wissens laufen ineinander“, aber der Theorie, der Einsicht in die Ursachen der Dinge, gebührt letztlich doch die höhere Würde. Der Erkenntnisfortschritt wollte erklärtermaßen nicht in die Fußstapfen von Vorgängern treten, aber Bacon verwarf vernünftigerweise nicht alles bisherige Wissen, das nach seinen poetischen Worten „gleich Schiffen durch die weiten Meere der Zeit“ uns unaufhörlich anregt und an vergangenen Errungenschaften teilhaben lässt (Advancement); von Übel sind nur die „endlosen Wiederholungen“ ungeprüfter Behauptungen und eine Wissenschaft der bloßen Worte, die nichts als weitere Worte produzieren und bestenfalls die Phantasie der abergläubischen Menge ansprechen. Bacon wusste sehr wohl, dass kluge Denker in Vergangenheit und Gegenwart sich häufig wider besseres Wissen dem herrschenden Wortglauben beugen mussten und ihr Licht von den „Meinungen des Pöbels“ ausgeblasen wurde: Der Feuertod Brunos lag erst wenige Jahre zurück. 90
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Nicht zuletzt deshalb vertraute er eher einem König von Gottes Gnaden, als den ungebildeten und fanatischen Parteien.57 „Im Gebiete des Geistes ist all gemeiner Beifall immer sehr verdächtig“, erklärte er, nicht ohne vorsichtig hinzuzufügen, Religions- und Staatssachen seien natürlich von seinem Diktum ausgenommen. William Harvey, der Entdecker des Blutkreislaufs, meinte dazu ironisch, Bacon philosophiere eben wie ein Lordkanzler: im elitären Bewusstsein der Macht und des politisch Opportunen. Die richtige Anwendung der wissenschaftlich gewonnenen Macht wollte Bacon dem gesunden Menschenverstand und der Religion (sprich: der staatlich anerkannten Ordnung) überlassen (NO I, 129). Man mag sich fragen, ob sich die Philosophie von der Herrschaft der Theologen nur befreit hatte, um unter die staatlicher und kommerzieller Interessen zu geraten (Windelband). In seiner unvollendeten Utopie Nova Atlantis ist das „Haus Salomonis“ die höchste Autorität, die unbehindert vom trügerischen Dunkel der Überlieferung, wie von der Gewinnsucht des großen Haufens, die Forschung auf das wahre Ziel der Wissenschaft ausrichtet: die Bereicherung des Menschengeschlechts um neue Kräfte und Erfahrungen. Dem „non plus ultra“ der Alten stellt Bacon das „plus ultra“ einer fortschreitenden Naturerkenntnis ohne Grenzen entgegen: ein titanischer Ausblick, wenn auch ohne eigentliche historische Basis. Der wahrscheinlich von J. Valentin Andreaes Christianopolis (1614) angeregte Entwurf einer idealen Gesellschaft hat sich selbst keineswegs schrittweise entwickelt, sondern ist, wie die meisten Utopien, das Werk eines genialen Gesetzgebers, nach dem es nichts mehr zu verbessern gibt – ein Widerspruch zu Bacons Plus ultra-Programm. Die Säkularisierung der Werte in Bacons Philosophie führt insgesamt nicht einfach zu einer ‚entideologisierten‘ Welt, sondern lädt die profane menschliche Tätigkeit mit geradezu sakraler Würde auf, die ihre Legitimität, mehr als nur metaphorisch, aus einer verweltlichten Gotteskindschaft schöpft. Es zeichnet sich ab die Welt als ein eingelöstes Für uns, ein einziges Wirkzentrum und Chance der Selbsterlösung: eine immanentistische Eschatologie, die das Jenseits durch Ficinos Herrschaft des deus in terris ersetzt. Dabei steht Bacon erst an der Schwelle des eigentlichen Fortschrittsdenkens und bietet selbst keine Fortschrittstheorie. Das zumindest teilweise erzwungene Absehen von den gesellschaftlichen Bezügen, den politischen Institutionen und herkömmlichen Wertvorstellungen gibt seinem Wissenschaftsprogramm auf mehr als nur den ersten Blick einen modernen, utilitaristisch-szientistischen Anstrich. Ganz abgesehen davon, dass Bacon persönlich mit Frauen nichts anzufangen wusste, ist sein Projekt irgendwie auch dem Geist weltlicher Askese, wenn nicht franziskanischer Mystik, verpflichtet.58 Seine Methode der Zuwendung zu den 91
II. Bausteine der Moderne
unmittelbar gegebenen Dingen war, kaum zufällig, in einem Bedeutungsrahmen angesiedelt, der das Neue als Erneuerung eines Ursprünglichen interpretierte und die Fortschritte des Wissens und Könnens einbezog in den alten Sinnbezug des Fortschreitens auf ein Neues Jerusalem hin.
5. Fortschritt, Erneuerung, Vorsehung Der übergreifende historische Sinnbezug ist eine Erbschaft aus Zeiten, die das menschliche Geschehen nicht als Gegenstand bloßer Neugier oder exemplarischer Belehrung, sondern als schrittweise Selbstoffenbarung Gottes verstehen wollten. Die Deutung dieses Geschehens als einer einzigen großen Kette, mit doppelter Ausrichtung auf eine sinnvolle Vergangenheit und eine zukünftige Erfüllung, war durch die allmähliche Enttheologisierung der Wertvorstellungen und Lebensentwürfe problematisch geworden. Eine weltliche Alternative, die mehr gewesen wäre, als eine diskontinuierliche Sammlung bevorzugter Lichtepisoden in der langen „abstrakten Nacht“ der Zeiten und Räume ohne erkennbare Fortschritte, bot sich vorerst nicht an. Philipp Melanchthon erklärte 1518 in seiner Wittenberger Antrittsrede, unsere Erde könne eher die Sonne als Lebensprinzip entbehren, als unser bürgerliches Dasein die Geschichte. Das wäre rein säkular ein problematischer Satz gewesen. Seit Bacon und noch stärker seit Descartes († 1650) galt Tradition geradezu als Quelle aller Irrtümer; analog war nicht schrittweises Verbessern und allmähliches Finden philosophisch korrekt, sondern der intellektuelle Selbstentwurf, das clare et distincte percipere ohne Verunreinigung durch das Kontingente und Konfuse, ohne „kognitive Schulden“ (E. Gellner) bei unsicheren Autoritäten. Die gesamte Wirklichkeit sollte nicht mehr als vorgegebenes System objektiver, über sich selbst hinausweisender Zwecke aufgefasst werden, sondern als Objekt mathematisch begründeter Erkenntnis und praktischer Beherrschung. Die zweckmäßige, auf teleologische Ziele ausgerichtete Ordnung zählte zu Bacons „Idolen“: Was vor uns lag, war ein quantitativ erfassbares, mechanisches Naturgeschehen, ohne Unterschied von oben und unten, belebt und unbelebt. Was die Wirklichkeit der Geschichte betrifft, hilft sie nach Descartes, „vorsichtig gelesen“, das praktische Urteil zu bilden, aber insgesamt verbleibt sie im Trügerischen und für die Wahrheit Bedeutungslosen. Die baconsche Perspektive eines „maître et possesseur de la nature“ enthält jedoch die stillschweigende metaphysische Voraussetzung eines nach dem Unendlichen strebenden Wesens, das auf der Basis wachsender Erkenntnis sowie freier Entscheidung für das Wahre und Gute der Bestimmung zu Gottähnlichkeit näherkommt. Diese Voraussetzung, nebenbei 92
5. Fortschritt, Erneuerung, Vorsehung
Descartes‘ Gottesbeweis, steht auf recht unsicheren Beinen. Der Mensch, der lernt, die Natur zu beherrschen, ist kein anderer als der, der über seine Mitmenschen Schrecken bringt und die gewonnene größere Macht regelmäßig für seine beschränkten, egoistischen Zwecke benutzt. Schon eine durch individuelle Anstrengung erzielte ‚unbefleckte Erkenntnis‘ war im gegebenen sozialen Kontext kaum zu haben und bedurfte bei Descartes der Absicherung durch die Annahme eines göttlichen Aktes, der das erkennende Ich und die erkennbare Welt, res cogitans und res extensa, zweckmäßig aufeinander abstimmt. Die galileische Wissenschaft war im übrigen nicht einfach evident, sondern widersprach regelmäßig der alltäglichen Erfahrung des gesunden Menschenverstands; bei aller Mathematik war sie irgendwie auf Glauben angewiesen (v. Weizsäcker). Hinzu kam, dass sich der deklarierte erkenntnistheoretische Nullpunkt nur auf einzelne Wissensbereiche bezog, und die Einfallstore des Herkömmlichen schon aus soziologischen Gründen breit bleiben mussten: Die Sprecher der neuen Zeit standen trotz aller sektoralen Verweltlichung und allen methodischen Zweifels einer traditionalistischen großen Mehrheit gegenüber. Die Denker empfanden einen entsprechend starken Druck, geistige und institutionelle Surrogate zu entwickeln für die alten, allzu großen Fragen, „überanstrengende“ Fragen, die „gleichsam herrenlos und ungesättigt“ im Raum stehen geblieben waren (H. Blumenberg). Da waren immer noch Spuren jener offiziell bekämpften, ins Sektendasein abgedrängten, aber untergründig stets präsenten alten Eschatologie, die schon in Form von Volksprophetien die Phantasie der Zeitgenossen beschäftigte; vor allem aber verstand diese die Ereignisse der Menschengeschichte immer als Momente einer gerichteten, deshalb sinnvollen Zeit, mit dem Versprechen der Erfüllung als telos. Nur wie sollte man, ohne Überwindung des herkömmlichen Bruchs zwischen unmittelbarer rationaler Evidenz und wirrer Weltzeit, ohne Teilhabe an einem übergreifenden Geschichtslogos, die einzelnen Ereignisse und Erkenntnisse zu einem irreversibel fortschreitenden Ganzen zusammenfügen? Seit der Antike besaß man Begriffe oder zumindest Metaphern, um den „Gang der Zeiten“ zu deuten: Altern, Wachstum, Wiederkehr, Erneuerung etc. Es ging nicht nur darum, aus den wiederkehrenden Kreisläufen von Aufstieg und Verfall überzeitlich gültiges Wissen zu bewahren oder auch den „transhistorischen Erwartungsraum“ mit innerweltlicher Vernunft zu füllen, die organischen Metaphern zu „denaturalisieren“, also Verfall und Altern auszublenden (R. Koselleck).59 Es hieß vor allem, teleologische Begriffe, wie „Vervollkommnung“ allmählich aus ihrem theologischen Kontext zu emanzipieren und sie mit Vertrauen in die Macht säkularer Erkenntnis zu versehen. Die europäische Aufbruchszeit hatte den Kompass erfunden (bzw. von den Chinesen und Arabern übernommen), war aber einstweilen noch außerstande, 93
II. Bausteine der Moderne
auf eine supranaturale Ordnung als Garant und Notanker zu verzichten. Das betraf auch den historischen Erfahrungsraum, aus dem ohne die Tröstung durch ein versöhnendes Resultat nur „moralische Betrübnis“ entgegenwehte, und nichts als Schlachthäuser und eine verworrene Trümmermasse (Hegel) zu bieten schien. Die Vernunft selbst musste ihre Vertrauenswürdigkeit als Gabe Gottes rechtfertigen, bestimmt, das Buch der Natur zu studieren (Galilei), wenn nicht die Anbetung des Schöpfers mit Mitteln der Mathematik zu vollziehen. Descartes hatte das Postulat einer von Vorurteilen freien Gesellschaft aufgestellt: das mochte die Naturwissenschaftler inspirieren, taugte aber kaum als kultureller Kitt, vermittelte kein wirkliches irdisches Zu-Hause-Sein und keine symbolischen Vergewisserungen. Auch deshalb – und weil die bestehenden Mängel erträglicher seien, als ihre Veränderung – empfahl der radikale Denker vorsichtig, „den Gesetzen und Sitten des Vaterlandes zu gehorchen und die Religion standhaft beizubehalten (Discours de la méthode, 1637). Das war inkonsequent, aber nicht unüblich und auch nicht unvernünftig: Abgesehen von autoritären Instanzen, die unvorsichtigen Wissenschaftlern mit unorthodoxen Ansichten gegebenenfalls die Folterwerkzeuge zeigten, ist jede Kultur angewiesen auf ‚Vorurteile‘, auf Erzählungen, auf Wertkontexte, die nicht zur Verfügung stehen. Descartes sagt einmal, dass Völker, die aus dem „ursprünglichen Zustand halber Wildheit sich nur allmählich zivilisiert“ hätten, nicht so gute Einrichtungen besäßen, wie diejenigen, die der Anordnung eines einzigen weisen Gesetzgebers gefolgt seien. M. a. W., der Rationalist misstraut der Geschichte; sie war im Jahrhundert des Rationalismus noch nicht vorstellbar als immanentes Fortschreiten der Menschheit zum Besseren oder als Selbsterziehung durch die Entfaltung vernünftiger menschlicher Anlagen, auch nicht als schrittweise Verwirklichung rationaler Entwürfe (die ungeschichtlichen Utopien vorbehalten blieben), und schon gar nicht als säkulares Endgericht. In einer Welt voll Unsicherheit und Schicksalsschlägen neigte man eher zu Beschwörungen alter Denkfiguren – schon um der täglich bestätigten augustinischen series calamitatum und der Furcht vor der unberechenbaren Fortuna zu entgehen. Descartes wollte in den Komödien der Zeitgeschichte, wie andere katholische Humanisten, „lieber Zuschauer als Akteur“ sein; lieber sich selbst als die Weltordnung verändern. Auf den Schauplätzen des Dreißigjährigen Krieges gewann er die Erkenntnis, dass „nichts vollständig in unserer Macht ist als unsere Gedanken“. Um seinen Grundsätzen ein Echo zu verschaffen, brauchte es allerdings mehr, weshalb sich der Philosoph 1628 inmitten eines praktischen und einigermaßen toleranten Volkes niederließ, das „mehr für seine eigenen Angelegenheiten sorgt, als sich um fremde zu kümmern“, nämlich des niederländischen. Seinen Zeitgenossen, den böhmischen Reformer und Pädagogen KomenskýComenius († 1670) hatten die „Wirbelstürme des Zorns“ ebenfalls durch halb 94
5. Fortschritt, Erneuerung, Vorsehung
Europa getrieben, bevor er in den Niederlanden eine letzte Zuflucht fand. Auch Comenius war auf der Suche nach einer universalen Erkenntnismethode, einer „auf das Ganze bezogenen Weisheit“ und, wie Descartes, wandte er sich enttäuscht vom „Labyrinth der Welt“ ab, um im Ich, dem Paradies des Herzens, ein Asyl zu finden. Das passte in die Verzweiflung seiner verfolgten Brüder-Unität nach 1621 und klang wie eine Vorwegnahme des Pietismus. Es war wohl auch, wie die Vorstellung von der Pilgerschaft, eine barocke Metapher, aber der Gedanke eines forum internum war insofern modern, als im Medium des Subjekts die radikale Überwindung der Täuschungen und Verstrickungen (der „Brille der Verblendung“, analog den baconschen Idola) gefunden werden sollte.60 Auch für den Pädagogen ist im Menschen, wie in einem Mikrokosmos, schon alles enthalten; die verlorene Gotteskindschaft kann wiedergewonnen, aus der Harmonie der übrigen Schöpfung herausgelesen werden. Es muss nichts von außen in ihn hineingetragen, sondern nur erzieherisch entwickelt werden (involuta evolvi heißt es ausdrücklich in seiner Didactica Magna). Kein stoisches Ruhen im selbstgenügsamen Ich lautet die Aufgabe, sondern sich als Ebenbild Gottes im Werk der Erneuerung wiederzufinden: Das Moderne und das Traditionelle fallen zusammen. Comenius’ Ariadnefaden aus dem Labyrinth führt zu nichts Geringerem, als der „Instandsetzung“ der gesamten Welt, ihrer Rückführung zu Gott. Das war der religiöse Sinnhorizont seiner sehr modernen Pädagogik, seiner pansophischen, irenischen und ökumenischen Bemühungen, die den Menschen befähigen sollten, durch Erziehung und Einsicht am großen Reformwerk teilzuhaben. Descartes, dem der böhmische Exulant 1642 auch persönlich begegnet war, wandte ein, Comenius vermische vermessen Himmel und Erde, gestand aber ironisch zu, er, Descartes, befasse sich nur mit einem Teil, jener aber mit dem Ganzen. Die Einschränkung gehört zur neuzeitlichen instrumentalen Rationalität, die auf die Handhabbarkeit der Lebenswelt, in der Regel auf Teilbereiche, abzielt. Comenius bemerkte dazu mehrfach, die Reform eines Teils reiche nicht aus; es müsse „ein Universalmittel für den ganzen kranken Körper geben… und nicht bloß ein Pflaster auf den Kopf“ (Unum necessarium, 1668). Comenius kannte Bacons Programm der „Wiederherstellung“ der Wissenschaften, aber wollte sich keineswegs mit diesen begnügen; vor allem verabscheute er das übliche ‚asylum ignorantiae‘, das Spiel der Intellektuellen mit der zweifachen Wahrheit. Überzeugt von der Einheit des stufenförmig geordneten Seins, das Analogieschlüsse von einer Sphäre auf die andere ermöglicht (von seiner Lateindidaktik auf das Studium der Welt), ging es ihm konsequent um mehr als nur die Beherrschung eines Sektors der außermenschlichen Natur, sondern um eine Generalreform aller menschlichen Lebensbereiche – die ja die neue Methode Bacons und Descartes’ ausklammerte. Comenius’ Ruf gründet auf dem pädago95
II. Bausteine der Moderne
gischen Werk, doch sollte dieses nur ein Stück des Ganzen sein. Der spekulative Gedanke von der Welt als Schule der Gotteskindschaft und Werkstatt Gottes wird umgesetzt in Form eines umfassenden Bildungsideals als Werkzeug zur Verwandlung der Menschheit. Die verkehrte Welt sei resistent gegenüber der besten Schule, war eine realistische Einsicht innerhalb seines zweifellos utopischen Projekts.61 Comenius’ lange verschollenes siebenbändiges Werk De rerum humanarum emendatione (ab 1644), das Programm einer „Wiederaufrichtung“ der Dinge, konnte und wollte sich schon deshalb nicht mit weniger begnügen. Sein Erwartungsrahmen war die Mitarbeit an der Wiederkehr Christi durch die Reform der vom Menschen deformierten Schöpfung. Aus mechanischen Bewegungen der ‚entgeisteten‘ Natur war sein Fortschrittskonzept nicht zu gewinnen. Auch nicht die Gleichheit alles dessen, was ein menschliches Antlitz trägt, eine seiner Grundüberzeugungen. Der schwedische Kanzler Oxenstjerna hielt bei seiner Begegnung mit Comenius dessen Hoffnung für wenig realistisch und war, wie die Holländer, eher an dessen Sprachlehrbüchern interessiert, aber er enttäuschte den Exilpolitiker auch in der Realgeschichte, indem er 1648 auf die Hoffnungen der böhmischen Protestanten keine Rücksicht nahm.62 Comenius ist jedoch nicht nur als Politiker gescheitert. Auch in London, wohin ihn die „utopistische Internationale“ mit dem großen intellektuellen Makler und späteren Berater Cromwells Samuel Hartlib an der Spitze, eingeladen hatte, wird sein zunächst erwartungsvoll aufgenommenes Reformprojekt vom Parlament fallengelassen; der Samen geht auf andere Wiese, in Form der Royal Society auf (die Comenius jedoch wegen ihres ausschließlichen Interesses an Naturwissenschaften und Technik kritisiert). Seine Pläne einer antihabsburgischen Allianz mit dem siebenbürgischen Fürsten Rákóczi, dessen Schulen er vergeblich zu ordnen sucht und den er mit der Tochter des böhmischen Winterkönigs Friedrich vermählt, enden mit dessen frühem Tod; 1656 verbrennen in Lissa mitsamt Komenskýs gesamter Bibliothek auch die ungedruckten Manuskripte, die er hartnäckig rekonstruiert. Auch die realistischen Niederländer drucken bloß die didaktischen Schriften, die doch nur Vestibulum und Ianua (Vorraum und Eingangstor) zum eigentlichen Atrium der VIA bilden sollten. Noch an seinem Lebensende wird der Exulant vom einflussreichen Theologen Maresius als Chiliast und Umstürzler („Fanaticus, Visionarius et Enthusiasta in folio“) denunziert. Verzweiflung sei eine Beleidigung Gottes: Bei allem detailfreudigen Praktizismus ist das Handeln des letzten Bischofs der in alle Welt zerstreuten Böhmischen Brüderunität fest verankert in einem providentialen Horizont, ja seine Vorstellung von Geschichte gleicht geradezu einem Barocktheater mit Gott als Regisseur. Der Inhalt des Stücks ist „stufenweise zunehmendes Licht“, ein quasi96
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pädagogisches Fortschreiten vom Einfachen zum Höheren, vom Guten zum Besseren und Besten – ein Nachvollzug der Schöpfungstage. Die Theatermetapher meint keineswegs, dass der Mensch passiver Zuschauer eines göttlichen Spektakels bleibt, es bedarf seiner Mitarbeit, doch versteht er den vollen Sinn der Aufführung erst am Ende des Stücks (Panorthosia, All-Wiederherstellung). Die andere Metapher, das Licht, meint nicht nur, aber auch: profanes Wissen. Die Sehnsucht danach ist dem Menschenherzen eingepflanzt, und Gott tut bekanntlich nichts unnütz. Aber bloßes Wissen, Bacons „entsühnte Vernunft“, bleibt richtungslos, ja ist für ihn satanische Versuchung; Satan versprach uns, zu werden wie Gott, aber in Wirklichkeit wurden wir jenem ähnlicher und hielten das Böse für das Gute; sogar König Salomos Weisheit (eine Anspielung auf Bacons Nova Atlantis) ist eitel, weil wir uns von Teilwahrheiten irreführen lassen. „Zunehmendes Licht“ ist keine innerweltliche Fortschrittsmetapher. Aber „wer würde den Tag der kleinen Arbeiten verachten?“ Inmitten immer neuer Katastrophen nimmt Comenius’ Chiliasmus die Gestalt unermüdlicher Arbeit an, mit dem Ausblick auf vollkommene Wiederherstellung. Die Eschatologie gipfelt nicht im Weltuntergang,63 sondern, entsprechend der Vorstellung von menschlicher Mitarbeit an Gottes Werk, im ökumenischen Konzil. Der großen Versöhnung und „Allreform“ den Weg zu bereiten, ist der Sinn seiner immensen pansophischen, pädagogischen, irenischen und ökumenischen Bemühungen; auch die Sprachlehre dient der Verständigung in einer höheren Bedeutung des Wortes. (Comenius‘ bekanntestes Buch, Orbis sensualium pictus, war nur das „Vestibulum“ des größeren Werks.) Trotzdem sind Endzeitprophezeiungen (Lux in tenebris) der paradoxe Hintergrund von Comenius’ Bemühungen um irdischen Fortschritt: Der Mensch verrichtet auf Erden eben nicht nur sein eigenes Werk; die Irrwege des Labyrinths sind Teilstücke einer höheren Didaktik. Wie das New Learning der Puritaner die radikale Absage an die alte Ordnung anzeigt und die Pilger ins Gelobte Land jenseits des Ozeans Fortschritt verstanden als Loslösung von der alten korrupten Welt, so ist auch Comenius der Neuanfang durch Christus vorgezeichnet, der die menschliche Arbeit vom Fluch befreit und die Mitarbeit im Grenzbereich von regnum hominis und civitas Dei (Jan Patočka) ermöglicht hat. Die Welt ist wohl ein Jammertal, aber zugleich ein Ort der Bewährung, des progress im Sinne von John Bunyans späterer vielgelesener Schrift (1678). Pierre Bayles herber Tadel an Comenius’ Anfälligkeit für chiliastische Phantastereien (sein Artikel über Kotter, Drabicius und Comenius im Dictionnaire, 1697) schließt eine Parallelität dessen Reformentwurfs mit dem Francis Bacons nicht aus. Wie dieser, will Comenius von der Natur aller Dinge und ihrer Beobachtung ausgehen, wie der Brite will er praktisches Wissen: „Die griechischen Musen sind tatsächlich Musen und nichts mehr; unfruchtbare Jungfrauen, die 97
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zum praktischen Bedürfnis nichts als magere Grübeleien beitragen.“ Es war nicht sehr realistisch, das Collegium lucis, das nichts weniger als die gesamten gelehrten Bestrebungen Europas koordinieren sollte, ausgerechnet in Prag ansiedeln zu wollen (später hielt er Amsterdam für einen geeigneteren Ort; Comenius’ Enkel Jablonski ist drei Jahrzehnte nach dessen Tod führend an der Gründung der Berliner Akademie beteiligt). Es wäre auch nicht einfach gewesen, das oberste Gelehrtenkolleg (Dicasterium lucis) neben einem Weltkonsistorium der zänkischen Kirchen und einem obersten Schiedsgericht der Staaten (Dicasterium pacis) anzusiedeln. Aber die Bildungsreform war schwer vorstellbar ohne eine ökumenische Annäherung der Kirchen und ihrer Lehren, ebensowenig wie die Glaubensreform Bestand gehabt hätte ohne eine Neuordnung des zwischenstaatlichen Bereichs. Der Fortschritt in einer Sphäre ist angewiesen auf Fortschritte in den übrigen, und er brauchte nicht zuletzt metaphysische Abstützung und Ermunterung, die über Bacons und Descartes’ Wissenschaftsverständnis hinausgingen. Comenius verwirft konsequent Gewalt und Zwang als Mittel der großen Reform, sondern vertraut auf Einsicht und Verständigung: Gegen fremde Anordnung lehnt sich die menschliche Natur auf. Sie lässt sich lieber durch den eigenen, als den fremden Verstand leiten, und da niemand glauben will, von Vorurteilen geleitet zu werden, sei die Anerkennung unterschiedlicher Positionen bei der Suche nach der Wahrheit notwendig, ja heilsam im Interesse der Bildung. „Steuern wir also… das Ziel an, dem Menschengeschlecht Gedanken-, Religions- und Bürgerfreiheit wiederzugeben.“ Das Neue kommt auch bei Comenius im Gewand des Alten und wird im Begriff der restauratio und Gottes Lenkung verstehbar. Gewiss deckt sich Comenius’ Freiheitsverständnis nicht mit dem modernen, und auch nicht mit dem des Cartesius, der Willensfreiheit im Feld des Irrtums und der verworrenen Triebe ansiedelt. Sein übergreifendes Menschheitsziel, in das die partiellen menschlichen Fortschritte einmünden und in dem das einzelne Scheitern aufgehoben wird, bedarf der providentiellen Leitung. Nur so gilt: „Die Frucht der Jahrhunderte, die Erneuerung der Dinge lässt sich durch keine Macht aufhalten.“ Wie bei Althusius, Komenskýs Herborner Lehrer, beruht das Politische zumindest auf festen ethisch-moralphilosophischen Grundlagen; Macht ist keine autonome Staatsraison, sondern immer Dienst, und ist auf Zustimmung angewiesen. Auch was man Geschichte nennt, ist kein dem Menschen äußerliches, von außen hereinbrechendes Geschehen, sondern ein inwendiges, das sich im Menschen und durch den Menschen vollzieht, der zum Gehilfen am großen Werk berufen ist, ja der Hebamme sein soll bei der Geburt der großen Zeit (Panorthosia). Das „Geschichtsbild“ des Comenius ist also synergistisch im Sinn mensch licher Mitarbeit an Gottes Zielen; an einer Stelle gebraucht er das anschauliche 98
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Bild vom Gericht, bei dem Gott Vorsitzender ist und „wir alle seine gleichberechtigten Beisitzer“. Eine Panhistorie, die zur Pansophie gehört hätte, ist ungeschrieben geblieben: der Tübinger Freund Magnus Hessenthaler sollte sich der Aufgabe annehmen. Bekanntere zeitgenössische Autoren, wie Hermann Conring († 1681), der Helmstädter Polyhistor, zeigen aber, wie schwierig es war, empirische Staatenkunde bzw. Quellenkritik zu normativen Handlungsmaximen, gar Geschichtsperspektiven, zu verbinden (D. Willoweit). Eine Andeutung, wie stark sich der harmoniesüchtige Böhmische Bruder trotzdem auf die Säkulargeschichte einließ, bringt sein Angelus pacis (1667). Die Schrift entstand anlässlich des 2. englisch-niederländischen Bruderkriegs, über den Comenius begreiflicherweise entsetzt war. Engländer und Niederländer konnten in ihrem Kampf gegen den Despotismus nie besiegt werden, schreibt er, sollten sie einander jetzt gegenseitig vernichten? „Wenn ihr die gemeinsame Sache der Freiheit verteidigt (die eine Mitgift der menschlichen Natur ist), wer sollte euch überwinden?“ Die Meere gehören keinem, urteilt er nach Grotius; Seefahrt ist eine Gabe Gottes, auch wenn die Entdeckungsreisen Europa vermutlich nicht besser, sondern „in mancher Hinsicht schlechter gemacht haben“. Comenius denkt inmitten der holländischen Regsamkeit nicht daran, den sittlich neutralen Handel zu diffamieren, sondern nur möglichst von den Lastern der Habsucht, des Neides und Hasses zu befreien. „Wer nur sein Recht wahrnimmt, tut keinem ein Unrecht an“: blutiger Streit um Märkte und schnöden Gewinn ist ihm vermeidbarer Greuel. Comenius macht aus dem Handel kein Fortschrittsziel, aber er glaubt an die Vereinbarkeit von Wohlstand und christlichen Normen; anderenfalls, heißt es, drohe den modernen Völkern das Schicksal der antiken Handelsstadt Tyros. „Wenn ihr das nicht sehen wollt, werden die Historiker sprechen“. Diese sind eben doch keine selbstherrlichen Richter am Schöffengericht der Weltgeschichte, sondern oft nur resignierte Protokollanten eines gottfernen Geschehens. Dies wollte der Aktivist nicht werden. *** Die Historiker sprachen in der Tat eine andere Sprache als die der Hoffnung und des Fortschrittsglaubens. Georg Hornius († 1670), wie Comenius vertriebener Untertan Friedrichs von der Pfalz, der wie dieser in Holland einen Wirkungsort gefunden hatte, war nur ein unkritischer Kompilator mit einem breiten Geschichtsbegriff, der traditionell Geographie und Ethnographie einbezog. Immerhin dehnt sich sein Geschichtsinteresse auf die gesamte Menschheit aus, ja der universalistische Zusammenhang wird durch räumliche Universalität erschlossen und zumindest innerhalb der historia recentior China und die Völker 99
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Amerikas einbegriffen (1655, 1665). Die Wiederherstellung der ursprünglichen, seit der Sintflut verlorenen Einheit des Menschengeschlechts bildet bei Horn aber kein Geschichtsziel, es fehlt bei aller Bibelgläubigkeit ein übergreifendes Koordinatensystem, die Ausrichtung auf einen telos, die Integration des vielfäl tigen Geschehens. Seit dem Humanismus, und insbesondere dem Dreißigjährigen Krieg, war der Universalgeschichte vollends die institutionelle Basis verloren gegangen, schon weil katholische Kirche, Reich und römisches Recht nur mehr als partikulare Gebilde galten, wie beim erwähnten Hermann Conring, der in De Germanorum imperio Romano (1643) der Kontinuität von Heiligem Römischen Reiches Deutscher Nation und Imperium Romanum ein Ende setzte. Die Kirchengeschichte verlor entsprechend ihre strukturierende Kraft, allmählich herabgestuft zur bloßen Abteilung der Profangeschichte, die selbst über Einzelwissen hinaus keine allgemeine Orientierung zu vermitteln vermochte. Charles de Saint-Evremont († 1703), französischer Offizier, Literat, Moralist, der Glauben und Wissen strikt auseinander hielt und sich auf Empirie beschränken wollte, warf der zeitgenössischen Geschichtsschreibung (1669) bezeichnend nicht Mangel an geschichtsphilosophischer Ausrichtung vor, sondern fehlenden Kontakt zum praktischen Leben, geringe Kenntnis der Institutionen und Menschen. Saint-Evremont befasste sich selbst vorwiegend mit dem Altertum, und musste sich somit denselben Mangel an unmittelbarer Erfahrung mit dem Gegenstand seiner Darstellungen vorwerfen lassen: Nach einem Konflikt mit Kardinal Mazarin hatte er als Emigrant die Risiken der Zeitgeschichte, das ‚zu engen Kontakts mit der politischen Praxis‘, zu spüren bekommen. Sein Fazit war der im Späthumanismus verbreitete Topos einer Verschiedenheit von Sitten, Regierung, Religion und Geschmack zu verschiedenen Zeiten: Jede Epoche hat ihren Charakter, ihre Fehler und Vorzüge; so lautet seine keineswegs neue ‚historistische‘ These. Es gibt auch bei ihm einige wenige überzeitliche Regeln, aber nichts ist falscher, als die Antike als Ganzes unkritisch zu bewundern und ihre Gedanken nachzuplappern (Sur les Anciens, 1677/78; Reflexions, 1667/84). Die Eigentümlichkeit der Neuzeit wird bei ihm dabei alles andere als zur Behauptung einer allgemeinen „Höherentwicklung“. Saint- Evremont kennt die Milderung barbarischer Sitten, die Überwindung abergläubischer Vorstellungen, auch die Herausbildung einer „inneren Dimension“, die den Menschen im republikanischen Rom noch zu fehlen schien; aber eine Idee des proceeding in melius, not in aliud (Wandlung zum Besseren, nicht einfach zum Anderen, nach Bacon) wird daraus nicht, schon wegen der mit jeder Wandlung verbundenen Schattenseiten. Auch die weltlich orientierten großen metaphysischen Systeme des 17. Jahrhunderts bringen für den Fortschrittsglauben wenig Anhaltspunkte. Thomas 100
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Hobbes († 1679), dem der Terminus „progress“ an sich geläufig war, blieb die Idee einer irreversiblen geschichtlichen Aufwärtsbewegung fremd. Gewiss steht für ihn am Anfang die „raue Einfachheit“ der menschlichen Verhältnisse; das Leben ist gesetzlos und gewalttätig, „gefährlich, roh und kurz“. Aus seinem fiktiven Naturzustand mit dem Recht aller auf alles ergibt sich der Krieg aller gegen alle; aber seine Überwindung durch den Gesellschaftsvertrag ist kein gesichertes Ergebnis „der“ Geschichte, sondern eine bloße theoretische Formel. Vor allem ist der Vertrag nicht irreversibel: seine Gegenläufigkeit lehrt der zeitgenössische englische Bürgerkrieg mit seiner Infragestellung der friedensstiftenden königlichen Souveränität. Nach Hobbes, der menschliches Denken als Rechenvorgang verstehen wollte, der auf Handlung und Leistung hinausläuft, verdankte die Menschheit ihre Fortschritte technischem Wissen, während ihre Katastrophen aus der Unkenntnis der Ursachen und Folgen, der wahren Gesetze des bürgerlichen Lebens, herrührten. Die elementare Einheit, auf der das menschliche Zusammenleben letztlich beruht, ist Macht, die wie das Geld ein Äquivalent ist, nach dem sich alles messen lässt und das angestrebt wird, um im wölfischen Konkurrenzkampf des „Naturzustandes“ zu bestehen. Die Vernunft, eine rein instrumentale Kraft, weist aber dem Menschen einen kooperativen Ausweg aus der Wolfsgesellschaft bzw. aus der Piraterie in die Produktion. „…die Wurzel aller Nachteile und alles Unglücks, die durch menschliche Erfindungen vermieden werden können, ist der Krieg, vornehmlich der Bürgerkrieg“. (De corpore I, 1655). Die Erkenntnis der menschlichen Motive, wie sie Hobbes’ mechanistische Psychologie bietet, soll auch zur Neutralisierung einseitiger Normen, damit zu Frieden und Glück beitragen, während das, was die traditionelle Moralphilosophie lehrt, nach seiner Meinung nicht die Vernunft stärkt, sondern nur Vorurteile und Gefühle.64 Zur Einhaltung des Gesellschaftsvertrags und der Sicherung friedlicher Kooperation bedarf es bei ihm darüber hinaus einer absolutistischen, durch keine Gewaltenteilung eingeschränkten Instanz, der in einer sinnentleerten Welt das Entscheidungs- und Deutungsmonopol zukommt. Hobbes’ Menschenbild war nicht nur antimetaphysisch, sondern auch naturgeschichtlich-zeitlos, gab aber trotzdem dem Geschichtsdenken einen nicht überzubewertenden Anstoß. Obwohl er selbst Geschichte schrieb und häufig historische, ja auch biblische Beispiele zur Erläuterung seiner scharfsinnigen Gesellschaftskonstruktionen anführte, spielte die eigentliche Geschichte wegen ihrer unaufhebbaren Kontingenz in seinem rationalen Denken keine wesent liche Rolle. Analog ist Baruch Spinoza († 1677) überzeugt, dass das Wesen des natürlichen göttlichen Gesetzes, das für alle Menschen gleichermaßen gültig ist, „keinen Glauben an Geschichten irgend welcher Art nötig hat, (sondern) aus der Betrach101
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tung der Menschennatur sich von selbst ergibt“ (Theologisch-politischer Traktat, 1670). Spinoza betreibt aber sehr wohl rationalistische Traditionskritik, so war die Art der biblischen Offenbarung in seiner Darstellung insofern historisch, als sie immer der Denkweise und Fassungskraft der jeweiligen Adressaten entsprach, die von der eigentlichen Botschaft getrennt werden muss. Spinoza weiß: Auch heute wollen die Menschen lieber herkömmliche Geschichten hören, als eigene Betrachtungen anzustellen. Das Lesen solcher Geschichten mag auch recht nützlich sein, doch notwendig für Tugend und Glück ist es so wenig, wie die äußerlich frommen Bräuche und Symbole. Die große Menge mit ihrer mangelnden Vernunft und Voraussicht ist nicht zuletzt auch der Grund, warum Gott als Herrscher und strafender Gesetzgeber dargestellt wird: In Wirklichkeit „sind seine Befehle und Willensentschließungen ewige Wahrheiten“ (ebenda).65 Einen gewissen Ansatz zum Fortschrittsdenken bietet allenfalls die unter italienischen Historikern verbreitete Maxime, wonach wechselseitige Hilfe, Arbeitsteilung und Frieden die notwendige Bedingung sind für Künste und Wissenschaften; ohne sie wäre das Leben der Menschen armselig und elend. Der vernunftgeleitete Mensch ist freier im Staat als in der Einsamkeit, wo er nur sich selbst gehorcht, wie auch Spinozas Ethik (1677) konzediert; nur kann der Zweck des Staates nicht sein, Frieden um den Preis einer Verwandlung der Menschen in Sklaven herzustellen: „Frieden besteht nicht [allein] im Verschontsein von Krieg“ (Politischer Traktat). Gegen Hobbes wie die Frömmler, die Heuchelei prämiieren und das gegenseitige Vertrauen zerstören, erklärt Spinoza, die Gewährung öffentlicher Meinungsfreiheit schwäche den Zusammenhalt der Gesellschaft keineswegs, ja „der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit.“ (Theologisch-politischer Traktat). Dies, wie das Wesen der übrigen Dinge zu erkennen, ist jedoch eine Aufgabe, die Spinoza unabhängig von geschichtlichen Lernprozessen der Menschheit formuliert. Die Natur in ihrem Streben nach Selbsterhaltung bleibt sich auch im menschlichen Bereich ewig gleich. Der eigentliche Impetus zur Formulierung der Fortschrittsidee kam somit nicht einfach aus der Quelle der neuen Wissenschaftskonzepte, sondern vielmehr aus dem Zusammenspiel von Intellekt und aktivistischem Glaubensverständnis. Eine Gesellschaft mit starker individualistischer Prägung und abnehmenden korporativen Kontrollen, einem Land mit freier Bauernschaft und wachsenden Mittelschichten, mit hoher Bildungstradition und sektoraler Modernisierung, die die herkömmlichen Strukturen in Frage stellten, konnte sich nicht mit den herkömmlichen Antworten begnügen. Wesentlich war, dass die gewinnorientierte Wirtschaftshaltung vom aufkommenden Puritanismus kaum in Frage gestellt, sondern als im Grunde gottgefällig bestätigt, mit dem eigenen überbordenden Reformwillen verbunden werden konnte („to cast the 102
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Kingdoms old/ Into an other Mould“, hieß es in einem puritanischen Kirchenlied). Nachdem das Charisma der priesterlichen Funktion weitgehend einem egalitären Gewissenszwang Platz gemacht hatte, konnte die diesseitige Bewährung im Beruf zur entscheidenden sozialen Norm erhoben werden. Jenseitsorientierte Askese war auch früher nur einer Minderheit möglich gewesen; sobald das asketische Ideal große Teile der Bevölkerung ergreift, wenden sich diese produktiven Tätigkeiten zu, urteilt Ernest Gellner. Es ging den Puritanern nicht um Weltverneinung, wohl aber um Disziplin, Beständigkeit und Verlässlichkeit; nicht nur für eine Elite, sondern für jedermann. Nicht der Kreislauf von Sünde, Schuld, Reue und Vergebung, wie ihn die katholische Kirche lehrte, war ihr Leitbild, sondern die Erziehung zu ‚Innenlenkung‘. In diesem Sinn wurde die Freiheit von hierarchischen und ritualisierten Festlegungen zur Bedingung eines an Werkheiligkeit ausgerichteten, erfüllten Lebens. Das durch teuflische Intrigen verdorbene Paradies geht in Flammen auf, aber Satans Macht ist durch Christus gebrochen und mit ihr die Erbsünde: Dann lässt du ungern nicht dies Paradies, Du trägst in dir ja ein viel sel’geres (Milton: Paradise Lost. 1667/74) Die paulinische spirituelle Freiheit, in der Reformation zur Freiheit des Gewissens gegen äußeren Zwang zur politischen Kraft erhoben, säkularisiert sich nun in hohem Maß als soziale Gestaltungskraft, ohne dabei ihr religiöses Pathos einzubüßen. Der Dichter-Staatssekretär John Milton († 1674) forderte, überraschend modern, aber nicht zufällig analog zu Comenius, als Voraussetzung einer guten Gesellschaft die freie Religion, das freie Haus und den freien Bürger; die angeborenen Freiheitsrechte sollten auch nicht nur die Engländer, sondern alle Völker der Erde zurückgewinnen (1654). Frei entfalten sollte sich ausdrücklich auch der Wissensbereich; die Erwartung, dass das Heilswissen sich ausbreitet, bezieht sich auf das gesamte, insbesondere praktische Wissen, das oft geradezu millenarische Bedeutung gewinnt. Die Unterdrückung auch skandalöser Bücher wird zum Hemmnis der Wahrheit schon dadurch, dass sie unsere Fähigkeiten außer Übung setzt und künftige Entdeckungen verhindert (Areopagitica). Bücher mögen Drachenzähne sein, aus denen bewaffnete Männer hervorwachsen, doch ist es „fast eben dasselbe, einen Menschen oder ein gutes Buch zu töten“. „Die Umwälzungen von Jahrhunderten ersetzen nicht oft den Verlust einer verworfenen Wahrheit.“ In diesem Sinn erwartet der schon erwähnte Kreis um Samuel Hartlib nicht nur die heilsgeschichtliche Umgestaltung der Welt, sondern empfiehlt auch die 103
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Schaffung von „Instrumenten des allgemeinen Glücks“, die alle Bereiche des Staatswesens durch besseres Wissen reformieren sollen. Bischof Gilbert Burnets Progress of Providence erhebt den „Fortschritt“ in einem emphatischen Sinn zum universalen Gesetz der Menschengeschichte.66 Die 1660 gegründete Royal Society konnte auf eine Reihe von Wissenschaftlern des Cromwellschen Commonwealth zurückgreifen, die durchweg puritanisch geprägt waren und Hobbes’ kaltschnäuzigen Naturalismus missbilligten, aber ihre eigene Forschung in der Regel ohne direkten Bezug auf Theologie betrieben – es sei denn, mit der Absicht, Gott zu preisen, indem man seine Schöpfung besser zu erkennen und den Glauben in Wissen zu verwandeln lernte. Thomas Sprats Geschichte der Royal Society erklärte, die Wunder gehörten einer anderen Zeit an, während heute der Gang der Dinge seinen natürlichen Lauf von Ursachen und Folgen nehme. Die neue physikalische Wissenschaft ist auch für ihn im Geist Bacons die Mutter nützlicher Erfindungen; mit diesen Ansichten wurde Sprat Bischof von Rochester. Der calvinistische Vorsehungsglaube, schon von Milton in dem Sinn aufgeweicht, dass der Mensch, wie die Engel, die Freiheit zu fallen, aber auch die Möglichkeit der Erlösung besitzt, verwandelt sich in diesem Kontext beinahe bruchlos in allgemeines Vertrauen zu den Künsten und Wissenschaften als einer geradezu erlösenden ‚gnostischen‘ (E. Voegelin) Kraft. Das christliche Lichtsymbol (Erleuchtung) koexistiert mit dem säkularen, überträgt auf dieses die Glaubensgewissheit und die Vorstellung einer schrittweisen „Entwicklung“ und „Vervollkommnung“ der im Menschen angelegten göttlichen Potenz. Joseph Glanvills Plus Ultra or the Progress and Advancement of Knowledge fordert, im Geist von Bacon „zu suchen, zusammenzutragen, zu beobachten und einzubringen als Kapital kommender Jahrhunderte“. Der Sinn dieser Tätigkeit ist mehr als nur praktischer Nutzen. Das Vertrauen in die naturwissenschaftlichen Methoden sowie ein verbreiteter Individualismus und Utilitarismus der Lebensführung werden nicht zu Unrecht als Reaktion auf die unerträgliche ‚Herrschaft der Heiligen‘ interpretiert, aber die Restauration besaß daneben ein starkes Bewusstsein weltlicher Religiosität.67 Wie Sir Isaac Newton († 1727), setzte man eine naiv-selbstverständliche Gleichartigkeit (und Gleichwertigkeit) der biblischen und der natürlichen Wahrheiten voraus: die Bewegungsgesetze hatten gewissermaßen das Siegel der Orthodoxie (R. H. Tawney). Zusammen mit dem vormodernen Bewusstsein einer Überordnung des Rechts über die königliche Exekutive, der Stärkung des Common Law und der politischen Rolle der Londoner Kaufmannschaft, kam nach dem Ende der Ära Cromwell auch ein gestärktes Bewusstsein der Legitimität empirischer Wissenschaften auf. *** 104
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Die eigentliche weltliche Geschichte lag, wie wir gesehen haben, am Rande des Erkenntnisinteresses der neuen Wissenschaft. Man erwartete von ihr nach wie vor rhetorisch-moralische Belehrung und natürlich Aufschluss über konkrete (juristische, politische) Tatsachen und Zusammenhänge. Aber die Vernunft war nicht imstande, eine zwingende Wahrheit, ja auch nur eine Art regulative Idee oder einen verborgenen Sinn hinter den empirisch vermittelten profanen Geschichten zu entdecken. Das Bedürfnis danach war ein eher außerwissenschaftlich-psychologisches bzw. christlich-providentialistisches: der Wunsch, hinter der vordergründigen Irrationalität, der scheinbaren Sinnlosigkeit der menschlichen Tragödien und Komödien, Absichten einer höheren Intelligenz und Gerechtigkeit zu entdecken. Auch die Vielfalt und Mehrdeutigkeit der menschlichen Handlungsebenen in Krieg und Politik, Seefahrt und Handel, Kirchenleben und Wissenschaft waren ohne metaphysische Beihilfe nur schwer in ein einziges Koordinatensystem einzubringen. Nur das Vertrauen in die Macht der Vorsehung konnte das Heterogene zur Triumphstraße der einen Geschichte im Singular werden lassen. So kam der große Entwurf einer Universalgeschichte im 17. Jahrhundert denn aus der Feder des energischen Verteidigers der katholischen Kirche und Erziehers des Dauphins Bischof Jacques-Benigne Bossuet († 1704). Bossuet versucht noch einmal, im Abwehrkampf gegen die anmaßende Verselbständigung der weltlichen Bereiche, in den Fußstapfen Augustins, Geschichte sub specie aeterni zu schreiben. Ewigkeit ist ihm nicht, wie Spinoza, eine Verlängerung der irdischen Zeit ins Unendliche, sondern ein Maßstab, der die irdischen Wertvorstellungen relativiert: Unsere Größe und unser Glück bedeuten nicht viel vor dieser Instanz. Bossuet setzt sein erhebliches rhetorisches Geschick dazu ein, die Leidenschaften, die die historische Welt vordergründig beherrschen, als bloße Medien eines dessein éternel, einer göttlichen Absicht, erscheinen zu lassen, der erst den Sinn der einzelnen aneinander anknüpfenden Epochen erschließt. Ohne es zu wissen, erfüllen die Akteure der Geschichte einen verborgenen höheren Zweck. Sein Discours sur l’Histoire universelle (1681), der viereinhalb Jahrtausende biblischer und profaner Geschichte zusammenfasst („das Fortschreiten zweier Dinge, der Religion und der Reiche“), geht schon von seinem Zweck her, nämlich der Belehrung des französischen Thronfolgers, stark auf das eigengesetz liche profane Kausalgefüge ein, nicht zuletzt die Mission Frankreichs in Europa. Der Aufstieg und Niedergang der weltlichen Reiche bereitet sich oft unbemerkt in den vorangegangenen Epochen vor, immer aber ist der eigentliche Sinn der Erzählung ein transzendenter. „Es ist das Reich des Menschensohns, das Reich, das inmitten des Untergangs all der anderen bestehen bleiben soll und dem allein Ewigkeit verheißen ist.“ Irdische Größe vergeht nicht nur; sie dient letzt105
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lich durch eine liaison necessaire der Erhaltung des Gottesvolks bzw. seiner Nachfolgerin – der Kirche. Bossuets Werk ist mehr als nur traditionelle Apologetik. Es geht, wie gesagt, in hohem Maß auf innerweltiche Kausalzusammenhänge, auf Auswirkungen vorangegangener Ereignisse ein; es konzipiert, zweitens, die Geschichte als einziges interdependentes Geschehen mit der, nicht unbedingt einsichtigen, teleologischen Annahme, das unvollkommene, endliche Menschenwesen solle schrittweise der Teilhabe an Gottes Vollkommenheit entgegengeführt werden. Und es formuliert, drittens, die vom providentialen Hintergrund abkoppelbare These von der Diskrepanz zwischen menschlichen Absichten und dem geschichtlichen Ausgang: „Es gibt keine menschliche Macht, die nicht, gegen ihren Willen, andere Pläne als ihre eigenen fördert.“ (Discours III, 8): die Urform von Hegels List der Vernunft. Was bei Bossuets herrschaftlichem Verständnis von Kirche und Geschichte zu kurz kam, war das Thema des eigentlichen Fortschritts: Das Gottesreich war für ihn mehr oder weniger identisch mit der bestehenden autoritären, alle Reformversuche hasserfüllt abwehrenden Ecclesia triumphans. Sein Versuch, den Zerfall der menschlichen Erfahrungsräume mit einer integralistischen Geschichtsphilosophie aufzuhalten, konnte innerchristlichen Kritikern nicht genügen und musste schon im Hinblick auf die immer klarer ins europäische Bewusstsein tretende Vielfalt außereuropäischer Kulturen scheitern: Voltaire, der Bossuet schätzte (und sein universalistisches Schema mit seiner säkularen Vernunft auffüllte), spottete über „Universalgeschichten“, die zwei Drittel der Menschheit außer acht ließen. Der Ansatz war natürlich unvereinbar mit dem unpersönlichen Gott der Philosophen, der dem Weltuhrwerk vielleicht die Konstruktion und den ersten Anstoß gegeben hatte, aber danach nicht mehr in Erscheinung getreten war. Es war zumindest verständlich, nach Vorbild von Malebranches Okkasionalismus, einen Ausgleich zu suchen zwischen der eigentlichen Verursachung alles Geschehens durch Gott und den Zufälligkeiten der geschichtlichen Welt, zwischen den täglichen Übeln des Lebens und der Annahme, alles Böse sei ein notwendiges, nur scheinbar böses Element auf den Pfaden einer vernünftigen Vorsehung. Vielleicht ist völlige Folgerichtigkeit dem Menschen unerträglich: Lebensklugheit ist weise Inkonsequenz, und die abstrakte mechanische Logik der geschichtlichen Welt nicht angemessen. Die parallele Barockkultur mit ihrer Exaltiertheit und Theatralik, ihrem Schwelgen in Schmerz und Sehnsüchten, war sicherlich ein notwendiger Kontrapunkt zum trockenen Rationalismus der philosophischen Systematiker. Deren Annahme einer allgegenwärtigen göttlichen Kraft hinter den Dingen hatte nicht weit zur Annahme einer immanenten Göttlichkeit der Welt, doch die Anwendung dieser Idee auf die profane 106
5. Fortschritt, Erneuerung, Vorsehung
Geschichte der Menschheit wäre dem 17. Jahrhundert absurd vorgekommen. Wenn die Menschheit „voranschritt“, so folgte sie einem höheren dessein (Absicht), der von jenseits der immergleichen Natur und den immergleichen menschlichen Eigenschaften herkam. Vom Licht der christlichen Erleuchtung mochte mit Comenius etwas Glanz auf die kleinen menschlichen Lichter (lumières) fallen. Aber eine in Eigenverantwortung fortschreitende und sich ständig überholende Vorläufigkeit der Erkenntnis war noch nicht denkbar, und eine Geschichtsphilosophie, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eine konsequente innerweltliche Verbindung setzt, wurde schon gar nicht daraus.68 Die überall aus dem Boden schießenden Akademien mieden bewusst die Reizthemen Religion und Politik; dafür erhielten sie Schutz und Unterstützung von einzelnen Fürsten, die den Glanz ihrer Barockresidenzen durch eine Förderung der Wissenschaften und Künste zu erhöhen suchten. Aber das cartesianische Ideal der klaren und deutlichen Wahrnehmung war eben nicht ohne weiteres anwendbar auf Bereiche außerhalb des mathematisch-naturwissenschaftlichen Freiraums; seine stolze Absage an die kontingente Politik und an die Autoritäten war nicht zuletzt eine Absage an die Geschichte: ratio vincit, vetustas cessit (die Vernunft siegt, das Alte muss weichen). Das Nebeneinander von Säkularismus und traditioneller religiöser Einbettung, von naturwissenschaftlichen und praktischen Leistungen auf der einen Seite und der schwer erträglichen peripheren Stellung des Menschen im Universum auf der anderen, wird zur Konstruktion von ‚Ersatzvorsehungen‘ führen, die die halbwegs gesicherten Erfahrungsräume der Geschichte zu einer metahistorischen Heilserwartung ausweiten. Eine latente Wettbewerbssituation zwischen der neuen, mathematisch-instrumentalen Wissenschaft und der alten aristotelisch-scholastischen mochte dazu beigetragen haben, dass theologische Fragestellungen und metaphysische Denkmuster in die modernen Debatten eindrangen und die kontingente Vielfalt des innerweltlichen Geschehens zu einem stringenten Ganzen, ja schließlich zum Garanten eines eindeutigen Zukunftshorizonts erheben wollten. Die Neuzeit hat den traumatischen Verlust der zentralen Stellung des Menschen im mittelalterlichen Weltbild praktisch-technisch wettzumachen versucht und die Gestaltbarkeit der Lebenswelt durch methodisches Wissen und Experiment erfahren. Aber sie brauchte trotzdem Horizonte als Wegweiser für ihre Praxis, sollte es nicht eine ziellose Reise im Raum sein, nach der Devise von Diderots Jacques le fataliste: „Vorn ist, wo der Wanderer hinsieht“. Blaise Pascal († 1662) drängte sich die Frage auf, von welchem Punkt aus man eigentlich beurteilen könne, ob die auslaufenden Schiffe oder die Menschen am Ufer sich fortbewegen. Das war kein zenonisches Spiel des genialen Mathematikers mit der Relativität der Bewegung, sondern die Frage nach dem Sinn des 107
II. Bausteine der Moderne
Erkenntnisfortschritts. „Des sinnlosen Suchens nach der Wahrheit überdrüssig“, wird die Wahrheit der Wirklichkeitswissenschaften der existenziellen „Vernunft des Herzens“ das Feld überlassen, die Wahrheitssuche voluntaristisch bestimmen und danach die menschlichen Erwartungen ausrichten. Doch verteidigt Pascal anlässlich des „ewigen Schweigens der unendlichen Räume“ auch die Legitimität wissenschaftlicher Forschung und lehnt Synthesen von Philosophie und Glauben ab. Anderen bot sich die „herrenlos gewordene“ Auffassung vom Menschen als einem auf Unendlichkeit ausgerichteten, unendlich vervollkommnungsfähigen Wesen als Wegweiser an, um die Kreisläufe des Immergleichen zu durchbrechen und die Paradoxien der Realgeschichte durch ein weltliches Hoffnungsprinzip auszugleichen. Die Metapher vom progressus als perfectio spendet Trost, ermuntert zum Kampf gegen Übel und Unwissenheit, aber ist keine Erfahrungstatsache, sondern eine theologisch abgestützte Sollensaussage. Wie der antike Mythos etwas wie Weltvertrauen herstellt, so leistet auch die Neuzeit Versprechungen, die über die gesicherten und handhabbaren Fragmente hinausgehen, in die die Wissenschaftler die Welt geteilt haben. Dabei vermischt man aber „widerrechtlich Göttliches und Menschliches“ (Descartes‘ Einwand gegen Comenius). Die allzu simplen Gesetze der Mechanik rufen nach Ergänzung und Sinngebung; den Menschen ist es unheimlich, in völliger Eigenverantwortung, ohne die Krücke einer höheren Vernunft, denken und handeln zu müssen. Auch der aus der traditionellen Glaubensgewissheit entlassene Philosoph braucht Gott zumindest als Garanten einer verlässlich kalkulierbaren Welt, wenn nicht als Vorsehung, die die Menschen auf ihre Zwecke in Pflicht nimmt. Noch Gotthold Ephraim Lessing wird in seinem Spinoza-Gespräch erklären: „Ich begehre keinen freien Willen“.
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III. Die neuen Mächte 6. Disziplinierung und Freiheit Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte man den entscheidenden Einfluss der gesellschaftlichen Verhältnisse und konkreten Interessenlagen auf das Denken der Zeit besonders hervorheben. Sie sind aber kein homogenes Ganzes, sondern eine Konfiguration mit wechselnden Impulszentren (Wehler). Die Weltbilder, in der Regel auch eine Mehrzahl, spielen darin eine eigenständige Rolle als Interpreten des Geschehens und „Weichensteller“, die die Aufmerksamkeit der öffentlichen Diskurse auf bestimmte Fragen richten, die Wahrnehmung (oder Nicht-Wahrnehmung) der Dinge bestimmen.69 Durch Traditionspflege und Rechtfertigungsideologien tragen sie zur Akzeptanz bestehender Institutionen und ihrer Repräsentanten bei; oft werden sie zum Medium des Unbehagens an diesen, formulieren Gegenentwürfe und Zukunftserwartungen. Nachträglich kann der Eindruck entstehen, dass viele Selbstdeutungen der Epoche auf einem Missverständnis beruhten. Wir haben gesehen, dass die europäische Neuzeit in Form von Humanismus, Säkularismus, Staatsraison, naturwissenschaftlichem Rationalismus ein neues Bewusstsein hervorgebracht hat, das mit den herkömmlichen Kirchenlehren konkurrierte, von diesen aber auch eine Reihe von Fragestellungen und Denkgewohnheiten übernahm. Diese Übertragungen haben mit dem nach wie vor bestehenden Einfluss kirchlicher und anderer Autoritäten und mit der sozialen Schwerkraft kollektiver Mentalitäten zu tun, die die Philosophen zu Kompromissen, zu „falschen“ Fragen zwangen, oder sie zu verdächtigen Außenseitern abstempelten: die Wortführer des Neuen revanchierten sich oft mit Verachtung des „fanatischen Pöbels“, jenes vielköpfigen Tiers, dessen törichte Leidenschaften die konfessionellen Gegensätze bis zum blutigen Bürgerkrieg anheizen. Natürlich schöpfen die Denker nicht nur aus dem eigenen Denken und beziehen ihre Impulse auch nicht nur von anderen Denkern. Deshalb ist es legitim, die Frage nach dem „soziologischen Äquivalent“, nach den lebensgeschichtlichen Hintergründen der modernen Auffassungen zu stellen. 109
III. Die neuen Mächte
Seit Karl Marx ist die Vorstellung vom Primat der sozioökonomischen Verhältnisse im allgemeinen Bewusstsein. Obwohl es sich um keinen „Prozess“ im eigentlichen Sinn handelt, sind es Vorgänge, die nicht primär ideengesteuert, monokausal zu fassen sind, und auch nicht etwa auf ‚Ökonomisierung‘ der Wertvorstellungen reduziert werden können. Die Hochschätzung von Wirtschaft und Handel ist keine Erfindung der europäischen Neuzeit, und umgekehrt ist inmitten stark kommerzialisierter Verhältnisse der Gewinn kein Selbstzweck, sondern wird ‚feudalisiert‘, d. h. in Erwerb von Patronatsgütern, Privilegien, Luxus oder in fromme Stiftungen umgesetzt. Im späten Mittelalter haben einzelne Kleriker (P. J. Olivi, Bernardino di Siena) gegen die kanonische Lehre, Geld sei steril, die Berechtigung von Kreditzins vertreten; viele Humanisten beurteilten die Geldwirtschaft unbefangen als günstig für die Wohlfahrt. Anders nicht nur Savonarola, sondern auch Machiavelli, dessen Menschenbild säkular, jedoch negativ war (sie folgen „stets ihren bösen Neigungen, sobald sie Gelegenheit dazu haben“): der Wohlstand verdirbt nach seiner Meinung das Gemeinwesen und führt zum Untergang der Freiheit, schon weil die Bürger nicht mehr bereit sind, für diese im Feld zu kämpfen und stattdessen auf bezahlte Söldner zurückgreifen (Pocock, 1975). Das, was wir unscharf als Modernisierungsprozess bezeichnen, spiegelt somit nicht einfach die Expansion marktwirtschaftlicher Beziehungen, Kreditwesen und Konkurrenz wider: Entscheidend war das Verhältnis von Markt und Politik (Kocka), der Staat muss als eigenständige Kraft immer mitbedacht werden. Aus purem Machtinteresse drängte der sich herausbildende Territorialstaat die traditionale, ‚vertikal‘ geschichtete ständische Gesellschaft mit ihren spezifischen Rechten und Selbstregulierungen zurück – zugunsten einer ‚horizontal‘ strukturierten, bürokratischem Reglement unterworfenen Eigentümergesellschaft; kirchliche und ständische Institutionen wurden längerfristig ‚mediatisiert‘, d. h. den Zwecken des fürstlichen Machtmonopols untergeordnet. Weil die ständig wachsenden finanziellen Bedürfnisse der Zentralgewalt, insbesondere des Heers und der Repräsentation (der Luxus der Renaissancehöfe!), zur Steigerung der Einnahmen zwangen, wurden nicht nur die großen Kreditgeber gefördert und privilegiert, sondern unter staatlicher Initiative und Regie Rahmenbedingungen für die schrittweise Entfaltung eines rechenhaften kapitalistischen Subsystems geschaffen, das allmählich auf die übrigen Sektoren übergriff.70 Doch ist dieser kontinentale, merkantilistische Weg nur eine der möglichen Modernisierungslinien. Soziologen haben die Ablösung von Statuskriterien durch individuellen Kontrakt als konstitutives Merkmal der modernen Gesellschaft vorgeschlagen: Herkommen, Vergangenheit, die Autorität der Gemeinschaft, werden von individuellem Ehrgeiz, von interessegeleiteten Motiven und Leistungskriterien abgelöst. Das hat mit der Möglichkeit der Erwirtschaftung 110
6. Disziplinierung und Freiheit
von Überschüssen, mit Marktchancen und Innovationen zu tun; mit geweckten Hoffnungen auf individuellen Aufstieg, einer Lösung der Lebensentwürfe und Entscheidungen aus traditionellen korporativen Ordnungen, einem höheren Mobilitätsgrad. Die Wahl zwischen mehreren Optionen setzt ihrerseits eine differenziertere Gesellschaft voraus, eine fortgeschrittene Arbeits- und Funktionsteilung, die Chance von Berufswahl und Arbeitsvertrag, statt des Hineingeborenwerdens in eine hierarchische Ordnung von Status und Beruf. Erst diese strukturellen Veränderungen machen im übrigen die uns bekannte protestan tische Berufsethik zu der dynamisierenden Kraft, die zwar kaum selbständig kapitalistische Strukturen erzeugt, aber die neuen Differenzierungen und Loyalitäten innerlich abstützt, „Fremdzwänge“ in „Selbstzwänge“ verwandelt. Was letztlich zu der historisch keineswegs selbstverständlichen Höherbewertung des alltäglichen Lebens geführt hat, können wir nicht wirklich erklären: die Wiederbelebung des klassischen Altertums war es nicht (W. Reinhard). Natürlich spielen außerökonomische Motive bzw. Zwänge dabei eine wesentliche Rolle. Das hier skizzierte idealtypische Modell besitzt einen hohen Plausibilitätsgrad, auch wenn sich die tatsächlichen Wandlungen in einzelnen Ländern verschieden und auch nur sektoral, nie in Reinform und meist nur in langen Zeiträumen vollzogen haben. Max Weber hat schon vor hundert Jahren den Oberbegriff Rationalisierung für die Modernisierungsvorgänge eingeführt, aber zugleich betont, dass das Leben nach verschiedenen Gesichtspunkten und nach verschiedenen Richtungen hin rationalisiert werden könne: rationale Machtausübung, rationale Gewinnkalkulation, rationales wissenschaftliches Denken sind „wahlverwandt“, auch wenn die Handlungsentwürfe von unterschiedlichen Zwecksetzungen und Wertsystemen ausgehen. Weber untersuchte insbesondere die Formung des weltlichen Berufslebens durch das religiös-asketische Motiv, bei dem manchmal „die Heiligung des Lebens… den Charakter eines Geschäftsbetriebs“ anzunehmen drohte; eine gegenseitige Reduktion der verschiedenen rationalen Regelsysteme fand aber nicht statt. Zwischen Machiavellis Werten und denen Galileis oder der Fugger lagen Welten. Ein eher handhabbarer Begriff, die Disziplinierung, geht in seiner Vieldeutigkeit noch weiter; die konsequente Durchsetzung von Kloster-, Heeres-, Fabrikoder Beamtendisziplin hat jeweils unterschiedliche Regeln und Handlungsziele. Eine typische Disziplinierungsaufgabe lieferte z. B. das durch örtliche Übervölkerung entstandene Problem der städtischen Unterschichten: deren Flucht aus dem statischen Dorfverband, aus dem schiere Not die ‚Überschüssigen‘ seit dem Mittelalter in immer neuen Schüben in Kolonisierungsunternehmen oder in die städtische Kontraktgesellschaft trieb. Längerfristig war das durchaus ein Fortschrittsimpuls, aber für die meisten Zeugen durch die Jahrhunderte kein Anlass zu positiven Fortschrittsgefühlen. Eher empfanden die Beobachter, soweit sie zu 111
III. Die neuen Mächte
schriftlichem Ausdruck fähig waren, Angst und Widerwillen gegenüber der unberechenbaren Masse der Armen und riefen nach ‚polizeilichen‘ Maßnahmen und Disziplinierung, die dem Modell des freien Vertrags allerdings meist Hohn sprachen: Die eigenen auf Gewissens- und Eigentumsfreiheit beruhenden Wertvorstellungen bezogen sich mit einiger Selbstverständlichkeit nicht auf die Unterschicht. Wir kommen noch darauf zurück. Die Verwandlung der kleinräumigen geschlossenen Gemeinschaften in weiträumigere, lockere Netzwerke mit spezialisierten Teilbereichen hat außer Freiheitschancen auch aktuelle Verunsicherung, Ratlosigkeit und neue, komplexe Abhängigkeit geschaffen. Die Mobilität blieb, wie die der mittelalterlichen Scholaren, eine eingeschränkte, und der ‚freiwillige‘ Kontrakt war ein asymmetrischer, d. h. unterlag realen Zwängen. Die Verflechtung von Markt und politischer Macht blieb keine Ausnahme, und die potentielle Mehrfachzugehörigkeit zu identitätsstiftenden Gruppen eine eher nur theoretische Chance; auch aus vergleichsweise langen Handlungsketten und der Kooperation über große Entfernungen und Kulturen hinweg ergibt sich nicht die Auflösung der gewohnten kleinräumigen Gruppennormen und Feindbilder. Die Ansätze, den Verkehr unter allgemeinere rationale Regeln zu stellen, sollten das Misstrauen zwischen den Marktteilnehmern mindern, mehr Sicherheit in die Handels beziehungen bringen und dem individuellen Kalkül einen größeren Entscheidungsspielraum verschaffen, aber sie betrafen in der Regel nur Minderheiten. Auch Toleranz war nicht erzwingbar und die Privilegierung dieser oder jener Gruppe ließ die Mehrheit allein mit ihren Ängsten vor Veränderung in einem unüberschaubaren Handlungsgefüge sowie unkontrollierbaren anonymen Einbrüchen ins Gewohnte. Rückfälle in althergebrachte Ordnungsvorstellungen, auch neue kollektive Rituale und Abschottungen folgen so manchmal den Lockerungen und Differenzierungen auf dem Fuß. Dieses Verhaltensmuster der Menschen in überfordernden, anomischen Situationen, wie sie für Modernisierungsprozesse bezeichnend sind, wird umso wahrscheinlicher, als der Zwangsschlichter, der rational handelnde hobbessche Souverän, häufig selbst Partei ist. Die übergeordneten Instanzen sollten Frieden und Gerechtigkeit sichern, wie es der auf Gegenseitigkeit beruhenden alteuropäischen Ordnung theoretisch entsprochen hatte. In nicht mehr ausschließlich ständisch bestimmten Verhältnissen hätte das bedeutet, Prozeduren und Normen anzuwenden, die von Status und Konfession absahen; aber der nominell neutrale Schlichter war praktisch ein Wolf unter Wölfen, wie wir anhand der Machtpolitik und praktizierten Intoleranz des modernen Territorialstaats des öfteren sehen konnten.71 Wir sind auch schon auf die neuzeitliche Einstellung zur Natur gestoßen, die vom Lebensgefühl des modernen Europa her aus der Norm des Menschlichen 112
6. Disziplinierung und Freiheit
zum Objekt, dem Zu-Beherrschenden geworden war. In der Theorie war „Natur“ unter Abzug der Dimension „Gnade“ nach wie vor das Maß; in der Praxis der konkurrierenden Staaten war sie das zu unterwerfende dunkle Niemandsland, das der Mensch, sprich: der Europäer, nach Belieben in Besitz nehmen und für seine Zwecke nutzen sollte. Die Natur hat ihre unveränderlichen Gesetze, und diese zu erkennen, gibt Macht über ihre Kräfte, hatte der Earl von Verulam gelehrt: noch die Sterne versprechen dem Mutigen Gelingen, sie weisen den Konquistadoren den Weg in ferne Welten, zur Herrschaft über die „Naturvölker“ und deren Schätze. Auch im Inneren der Gesellschaft gibt es eine analoge bedrohliche, zu zähmende Natur: das unvernünftige Volk mit seinen noch weitgehend archaischen Sitten. Vernunft im Sinne von Berechenbarkeit wird hier, in Umkehrung der traditionellen Heiligung der Armut, dem Volk durch Bekämpfung von Müßiggang, Bettelei und Trunksucht, von oben auferlegt und damit – sekundär – zu Produktivität gezwungen.72 Der Vorstoß ins Unbekannte, in die von Dämonen beherrschten Regionen des Geheimnisvollen und Überraschenden, hieß vor allem, diese Bereiche den eigenen Kontrollen und Ordnungsvorstellungen zu unterwerfen; mythische Ängste, aber auch ethische Rücksichten, der eigenen Zweckrationalität unterzuordnen. Die Freiheit der Meere bedeutete immer auch: Freiheit von den herkömmlichen rechtlichen und moralischen Regeln – für viele eher ein Anlass zu Irritationen, als zu begründeter Hoffnung auf ein vernünftiges Reich des Menschen. Die Entdeckungsreisen und technischen Erfindungen entsprangen stets einem unbändigen Streben nach Macht und Reichtum; die Freiheit, die die Herrschaft über die Natur bot, hätte nach Beherrschung der Natur im Menschen selbst gerufen, aber dazu war die verblassende alte Metaphysik nicht mehr imstande; der vom Staat ausgehenden Disziplinierung war die Kontrollinstanz der übergeordneten universalen Werte abhanden gekommen. Abgesehen davon hätte es für die erfolgreiche Durchrationalisierung einer Gesellschaft bedurft, die die wissenschaftstechnischen Chancen gegenüber der Natur (im Sinne von Bacons Nova Atlantis) zu nutzen und zu assimilieren verstanden hätte. Eine solche Gesellschaft war aber im besten Fall nur sektoral vorhanden. Nicht nur Energiemangel und billige Arbeitskräfte standen der Einführung effizienterer Technik im Wege (Braudel). Die neuen Produktionen – Bergwerke, Hochöfen, Glashütten – neigten schon aus praktischen Gründen dazu, aufs Land auszuweichen; die Unternehmer mieden vor allem die Zunftvorschriften und städtischen Kontrollen. In Lewis Mumfords kaum überspitzter Formulierung: „Mechanische Fortschritte gediehen auf Kosten der menschlichen“; sie konnten in der Regel nicht kulturell verdaut werden und weckten Unbehagen. Der seit der Renaissance spürbare Drang zu individueller Selbstverwirk lichung, in Verbund mit dem Bewusstsein der Machbarkeit, hatte den europäi113
III. Die neuen Mächte
schen Geist erfasst und ließ ihn nicht mehr los. Trotz der nach wie vor überwiegenden Statik, Naturabhängigkeit und Subsistenzwirtschaft wich die Ergebenheit ins Schicksal und in ‚natürliche‘ Ordnungen bei wichtigen Gruppen allmählich dem Vertrauen in die umgestaltende Kraft rationalen Wissens und Leistens. Zwischen Gesellschaft und Natur hatte sich ein dichtes Netz aus künstlichen Einrichtungen und technologisch gesteigertem, auch kaufmännischem Können gebildet, das sich über die Normen des Herkommens hinwegsetzte. Die produktiven Möglichkeiten dieser neuen künstlichen Welt waren in der frühen Neuzeit aber bestenfalls im Genre phantastischer Utopien vorstellbar,73 die nicht nur soziale Übel beseitigen, sondern manchmal auch Machtphantasien (päpstlicher Weltherrschaft bei Campanella) dienen sollten. Die späterer Wohltaten, die aus wirtschaftlichen und technischen Fortschritten herrührten, etwa die Befreiung von der täglichen Sorge ums Überleben, bessere Ernährung und Bekleidung, ein höherer Standard von Medizin und Hygiene, geringere Kindersterblichkeit etc., waren aber noch lange nicht in Sicht. Ein anderer Aspekt wachsender menschlicher Macht war durchaus gegen wärtig: die Disziplinierung und Anpassung an neue Leitbilder, an neue zwischenmenschliche Beziehungen, Produktions- und Machtverhältnisse. Mit anderen Worten, die Übermacht der Natur und ihrer Launen wurde durch Abhängigkeiten anderer Art ersetzt: von gesellschaftlichen Zwängen, die sich nicht einfach aus der Notwendigkeit gegenseitiger Abstimmung ergaben. Auch den bisherigen ständischen und kirchlichen Autoritäten hatte es nicht an Willen zu Zucht und Ordnung gefehlt, wohl aber an Durchsetzungskraft gegenüber einer in tradi tionellen Verhältnissen lebenden Bevölkerung. Der sich herausbildende institu tionelle Flächenstaat knüpft an ältere Bemühungen und Disziplinierungen von der Art der rigorosen calvinistischen Lebensmethodik an, nimmt die alten lokalen Institutionen in Pflicht für seine Ordnung. Und er verfügt vor allem über effizientere finanzielle und personale Instrumente, um die rationale Durchdringung eines differenzierten großen Raums durchzusetzen.74 Michel Foucaults dämonisches Bild der modernen Gesellschaft als einer einzigen Anstalt zur Produzierung gehorsamer und funktionierender Rädchen im großen sozialen Mechanismus wollte natürlich durch exzessive Übertreibung den Mythos vom freien Individuum der Lächerlichkeit preisgeben: Die moderne Freiheit ist ein Produkt vorheriger Konditionierung. Für Foucault galt das als Makel, aber ist die Norm grundsätzlich „lebensfeindlich“? Positive Aspekte, typischerweise die Ersetzung monströser Strafrituale durch rationalere Methoden der Prävention, der Ermittlung und Resozialisierung des Straftäters galten ihm als bestenfalls ambivalent, wenn nicht verdächtig: fair is foul, and foul is fair, lautet der dazu passende Kommentar der Hexen in Macbeth. Dennoch enthält die Provokation, wie ich glaube, eine Menge fruchtbarer 114
6. Disziplinierung und Freiheit
Ansätze, die das progressistische Schema von den zunehmenden Freiheitschancen zumindest differenzierter sehen lassen. Der moderne Disziplinierungsprozess war weder geradlinig noch teleologisch-zielgerichtet, sondern eine komplexe, in Schüben und Gegenbewegungen ablaufende Wellenbewegung, die in verschiedenen Bereichen unterschiedliche Gestalt annahm und manche Bevölkerungsteile kaum oder erst viel später erreichte. Da war z. B. die Verhöflichung des Adels: primär ein Ausdruck des Verlusts seiner militärischen und politischen Funktion und der Anpassung an höfische Rituale als Kompensation. Von da ging aber auch eine gewisse Hebelwirkung auf weitere aufstrebende Schichten aus, eine ständige Verhaltenskontrolle und kulturelle Verfeinerung, eine Tabuierung des Vulgären, eine vorrückende „Peinlichkeitsschwelle“ (Norbert Elias). Man mag diesen Prozess für fragwürdig halten, als Verstellung denunzieren bzw. für bürgerlich-borniert, ja zwanghaft erklären, aber er liefert ein streckenweise brauchbares Fortschrittsschema: Das Elementare wird hinter die Kulissen der zivilisierten Lebensformen verdrängt, sei es Sexualität oder offene Gewalt, sei es das Schlachten von Tieren, körperliche Funktionen oder bäuerische Sitten. Die Konstruktion einer derartigen Einbahnstraße leidet zumindest teilweise an Erklärungsdefizit, es sei denn, man unterstellt Fassade und Maske als allgemeines Kulturmuster der Zeit: Etikett statt Ethik (Münkler). Eine durchgehende Motivation als Triebkraft des Ganzen wird auch nicht vom Pflichtbewusstsein der neugeschaffenen Beamtenschaft nachgeliefert. Dieses passte zur Abhängigkeit des nur zweckrationalen politischen Instruments: man entwickelt eine überschießende Dienstgesinnung und Disziplinierungsdrang aus neustoizistischer Moral, einer Bewunderung römischer Strenge, Disziplin und Autorität (etwa bei Justus Lipsius, † 1606, dessen Ansichten über Affektkontrolle, Drill und Einübung von Gehorsam in der oranischen Heeresreform, aber auch im Ethos der preußischen Führungsschichten zur Geltung kamen). Ein von dieser „leistungsbereiten und leistungsfordernden“ Schicht eingeleiteter Transformationsprozess (Winfried Schulze) zielte natürlich auf Einordnung in eine homogenisierte Untertanenschaft und auf polizeiliche Kontrolle auch noch der privaten Bereiche. Es war gewiss kein Siegeszug der Vernunft, sondern primär verdichtete Herrschaft und die Brechung traditioneller Volkskultur; ein permanenter Druck zur Umgestaltung der menschlichen Verhaltensmuster nach dem Leitbild von Zucht und Arbeit, der Bekämpfung von Faulheit und Triebhaftigkeit. Wenn man als ursprüngliches Ziel die Zähmung des Adels und die Anhebung der Steuerleistung annimmt, dann ist das Ergebnis ein unverhältnismäßiges: die Formung des Selbst in der doppelten Bedeutung von Subjekt, nämlich Unterworfensein, aber sich zugleich als ‚Verursacher seiner Handlungen‘ zu fühlen; 115
III. Die neuen Mächte
die Erziehung zu Leistungsbewusstsein und Selbstkontrolle verselbständigte sich jedenfalls vom ersten Impuls. Wohlverstandener individueller Eigennutz schien darüber hinaus, wie wir noch sehen werden, für die Gesamtheit zuträg licher, jedenfalls produktiver, als die altständische Zuteilung von angemessener „Nahrung“.75 Und es war realistischerweise nicht so, dass die meisten Menschen dazu spontan mental imstande gewesen wären. Die neuen Landes-„Policey“-Ordnungen wiesen Übereinstimmungen mit der traditionellen Fleißpredigt und der städtischen Bekämpfung von Bettelei, Spiel und Ausschweifung auf, ja noch mit der methodischen Arbeits- und Zeitdisziplin der Klöster, sowie einer bis in die Antike reichenden topischen Denktradition. Christian Thomasius, der in diesem Sinn gegen „Wohllust und Ehrgeitz“ wettert, meint auf der anderen Seite, das Glück „dependiret…nicht allemahl von der Beschaffenheit der Gemüths-Neigungen“, sondern eher vom Zufall, „der denen Regeln Menschlicher Klugheit und Verstandes nicht kann zugeschrieben werden“ (Ausübung der Sittenlehre, 1697), Glück ist natürlich nicht das primäre Ziel der Sittenpolizei. Mit dem steigenden Maß obrigkeit licher Regulierungen änderte sich allerdings das Verständnis von Politik. Diese hatte in der traditionellen aristotelischen Konzeption die auf das „ganze Haus“ bezogenen Tätigkeiten ausgespart. Das Gemeinwohl hatte mit Gerechtigkeit, Tugend und Frieden zu tun, aber nicht mit ökonomischem Nutzen. Jetzt griffen die Verhaltensmuster des „Hauses“, des oikos, mit einiger Selbstverständlichkeit auf weitere Bereiche des Zusammenlebens über und der merkantilistische Territorialstaat machte sich ihre Einübung – und die Bekämpfung entsprechender ‚Laster‘ – zur politischen, polizeilichen Aufgabe. Mit einigem Recht konnte sich der Beamtenstaat auch auf das öffentliche Wohl und die Sicherheit der Untertanen als seinen Zweck berufen; der heraufkommende Absolutismus bezog seine Raison aus den unvergessenen Schrecken von Krieg und Bürgerkrieg. Daran ändert wenig, dass die Leitvorstellung nicht mehr die vorgegebene Harmonie einer vernunftrechtlichen guten Ordnung war, sondern primär die Machtsteigerung nach außen und innen durch rationale Praxis – die Methode Galileis von der Natur auf die Gesellschaft angewandt. Ohne Furcht vor Sanktion, so argumentierte Thomas Hobbes, reicht der von allen geteilte Wunsch nach einem sicheren Leben nicht aus: der natürliche Selbsterhaltungstrieb, die antizipierten Bedürfnisse und Befürchtungen führen eher zum permanenten Kriegszustand als zu einem vernünftigen Nebeneinander. Erst eine rechtliche Zwangsordnung entschärft die Situation einer ständigen Bedrohung durch ungeregelte Machtkonkurrenz und den Kampf um knappe Güter. Doch hält sich der fürstliche Zwangsschlichter nicht immer an traditionelle Vorstellungen vom summum bonum: Was als Diebstahl, Totschlag oder Ehebruch zu gelten hat, bestimmt nicht das Naturrecht, sondern der Staat, der das 116
6. Disziplinierung und Freiheit
„Recht aller auf alles“ aufhebt zugunsten von ihm bestimmter und garantierter künstlicher Regeln. Das rationale Selbstinteresse ist die ursprüngliche Motivation des Verzichts der Menschen auf ihre „natürlichen Rechte“, und es bleibt – in Klammern – auch das tragende Fundament des Unterwerfungsvertrags: es ist vorteilhaft, Kooperation zu wählen statt der ständigen Gewaltbereitschaft. Der Leviathan beruht somit im Grunde auf einem „Vertrag aller mit allen“ und ist von daher verpflichtet, seine Ordnung zum Schutz von Leben, Sicherheit und Nutzen der gegenseitig Unterworfenen einzusetzen. Die faktischen Träger der neuzeitlichen Staatsmacht hielten sich wie gesagt nicht unbedingt an Hobbes’ Vorbehaltsklauseln zum Rechtsverzicht, obwohl ihre politische Logik eine analoge war. Die Einebnung und Unterordnung ständisch-konfessioneller Einrichtungen unter den zentralisierenden Beamtenstaat und die effizientere Erfassung der Bevölkerung erfolgten aus zweckrationalen Überlegungen und einem hobbesianischen Macht- und Konfliktbewusstsein, nicht einfach aus dem Geist des Militarismus, bürokratischer Bevormundung und Reglementierung als Selbstzweck. Die Schaffung einer tendenziell einheitlichen Untertanengesellschaft anstelle der bisherigen Personenverbände aus Privilegierten und Abhängigen war primär durch Leistungsdruck erzwungen, nicht zuletzt der Konkurrenz der europäischen Mächte. Sie war von vielfältigen Widerständen und diesbezüglichen ideologischen Rechtfertigungen begleitet, aber entsprach längerfristig auch echten Bedürfnissen und Interessen.76 Mit dem Regelungsbedarf der aufgebrochenen, dynamisierten Gesellschaft und ihrer neuen, utilitaristischen Berufs- und Lebensauffassung ging ein spezifisches funktionalistisches Staatsverständnis einher, und das beruhte weniger auf traditionellen Wahrheiten, wie auf deren Ausklammerung. Es war trotzdem kein pures Missverständnis, wenn sich das neuzeitliche Freiheitsideal auf die mittelalterliche Immunitäts- und Privilegienpraxis und die grundsätzliche Bindung der Macht an Recht und Billigkeit berief.77 Im Freiheitsverständnis der englischen Mittelschichten flossen mehrere Traditionen zusammen: die alte Adelsfreiheit, als „Recht aller Engländer“ ausgeweitet; die lutherische Gewissensfreiheit, die man auf das bürgerliche Leben projizierte; das holländische Beispiel unbehinderter Marktorientierung; die florentinische Erfahrung gemeinschaftlichen Handelns gleichberechtigter Bürger zum Wohl des Vaterlands (J. O. Appleby, O. Patterson). Die bürokratische Herrschaft fördert längerfristig die Entwicklung zu rationaler Sachlichkeit, zum Berufs- und Fachmenschentum, wie Max Weber gezeigt hat; das bedeutet vor allem entpersönlichte Amtsführung und objektive Rechtsordnung, den Aufstieg einer Schicht von Fachleuten auf der Basis von Ausbildung statt des Geburtsprinzips, schließlich die Schaffung einer privaten 117
III. Die neuen Mächte
Rechtssphäre und einer nicht mehr korporativistischen, sondern individua listischen Rechtskultur. Das war kein vorgezeichneter ‚Entwicklungspfad‘ und auch kein alternativloser Fortschritt, aber doch eine produktive Chance: Auf dieser Grundlage einer friedlichen Arbeitsgesellschaft und größeren Erwartungssicherheit konnte sich ein neuer Bürgerbegriff, eine Marktgesellschaft und noch später die moderne Chancengleichheit entwickeln. Ohne die Rückbindung an die „alteuropäischen Werte“, das wusste gerade Max Weber, wäre der Weg des rationalen Berufs menschentums in die ‚Versteinerung‘ eines modernen Fellachentums ein reibungsloserer und schnellerer gewesen. Werner Sombart glaubte einen faustischen Geist der Unrast und der Zerstörung aller Gebundenheit am Werk, aus dem sowohl die neue Wissenschaft, der neue Staat wie die neue Religion entstanden waren, und dieser greift auch auf die übrige Gesellschaft über. Heute spricht man eher von einem „Amalgan von Handel und Krieg, einer aggressiven Gemengelage aus Machtstreben, kapitalistischer Dynamik und gesetzloser Gewalt“ (J. Kocka). Immerhin könnte man sagen, dass erst die Zerstörung der korporativ-patrimonial verfassten hierarchischen Sozialstrukturen die Herausbildung einer marktorientierten, auf „individuellem Zweckhandeln“ beruhenden Gesellschaft ermöglicht hat. Mit anderen Worten, der aus den durch Herkommen geregelten Zusammenhängen herausgerissene, bindungslos gewordene Mensch wird in seiner Verunsicherung ein geeignetes Objekt für die Eingriffe der Verwaltung, die mit ihrem Gewaltmonopol ein friedlich-diszipliniertes Verhalten erzwingt, einübt und den Menschen paradoxerweise fit macht für den Kontrakt als neue Form sozialer Gestaltung. Beides stimmt bis zu einem hohen Grad, ergänzt sich gegenseitig. Zwischen erzwungener Konformität des Untertanen und bürgerlicher Selbstbestimmung liegt gewiss ein Bruch, aber auch ein historischer Zusammenhang; die geweckten Kräfte wehren sich möglicherweise nur gegen überflüssig gewordene Reglementierung. Und ebenso hat die nur ‚halbe Rationalisierung‘ durch den Beamtenstaat die Aufklärung als ungeduldige Reaktion einmal geweckter Erwartungen hervorgerufen, und mit ihr eine Kraft, die nicht zuletzt die politischen Einrichtungen auf ihre Legitimität, ihre Leistung für individuelle und kollektive Zwecke befragen wird.78 Die Obrigkeit zur Rechenschaft zu ziehen, dazu war die Masse der Bevölkerung zunächst so wenig imstande, wie zuvor die metaphysische Legitimation der herkömmlichen Ordnung einzuschätzen. Die zweckrationale, utilitaristische Durchdringung der Gesellschaft von oben kam erst einmal auch nur kleinen Gruppen risikobereiter Unternehmer, rational kalkulierender Kaufleute und aufstrebender Bildungsbürger zugute, aber sie brachte sekundär auch breitere Schichten in Bewegung, nicht selten aus Protest. Der Modernisierungsprozess 118
6. Disziplinierung und Freiheit
war nicht aus einem Guss und vermittelte weder ein einheitliches Bild noch gleiche Chancen für jedermann, bildet aber trotzdem ein Gesamtsyndrom aus Bewegung und Bewahrung, aus Affirmation und Negation. Es gibt das uns bekannte foucaultsche Bild einer fundamentalen Disziplinierung durch Gefängnis und Armenhaus, Kaserne, Spital, Schule und Fabrik als einem einzigen säkularen, repressiv auferlegten Rationalisierungsprozess. Darin liegt ein Stück Wahrheit, von Adorno und Horkheimer vorgedacht im Mythos von Odysseus und den Sirenen. Der Herr hindert darin, um die zweckrationale Weiterfahrt des Schiffes zu ermöglichen, die Ruderer und sich selbst daran, sich der Verlockung durch den Triebwunsch hinzugeben. Die Logik entspricht einem aus dem 16. Jahrhundert belegten Spruch: die Mehrheit müsse „zu ihrem Nutzen gezwungen werden“. Das zeitgenössische Denken traut Vernunft nur wenigen zu. Man fragt sich, ob die Staatslenker zu diesen zählten, aber man sollte Bossuets Dialektik im Auge behalten, wonach Intentionen und Ergebnisse unseres Handelns regelmäßig divergieren und auch die Treibenden Getriebene sind. Wir haben gesehen, dass die Disziplinierung insbesondere den zahlreichen unterständischen, marginalen Schichten der Bettler, Vagabunden, Waisen und übrigen „Außerhäusigen“ eine ihnen unbekannte methodische Zeitdisziplin anerziehen, oft wortwörtlich einprügeln, wollte. Viele sahen sich neuen Abhängigkeiten und Zwängen gegenüber, andere verfeinerten Methoden der Domestizierung menschlicher Affekte und Emotionen. Die Erziehung zu Pünktlichkeit, Sparsamkeit und Fleiß, die Verpönung von Aufwand, Genuss und Zeitvergeudung, die Gewöhnung an Selbstkontrolle, wie sie in extremer Form in den Hallenser pietistischen Stiftungen praktiziert wurde, stellte einen Bruch mit den bisherigen Lebensgewohnheiten und Volksmentalitäten dar, obwohl sie bestimmten Traditionen entgegen kam. Sie war auch den außereuropäischen Zivilisationen eher fremd, insofern diese Disziplinierung auf Militär, Beamtenschaft und Klerus beschränkten, während man die Volksschichten in ihren traditionellen Lebensrhythmen und magisch- rituell geprägten Alltagspraktiken beließ. Auch im modernen Europa erfolgte die Durchrationalisierung und die Durchsetzung einer „bürgerlichen“ Zeitökonomie nur sektoral, und die kulturelle Kluft zwischen den gesellschaftstragenden Schichten und der Bevölkerungsmehrheit scheint sich zunächst noch ausgeweitet zu haben. Gleich, wie tief die spezifische Disziplinierung und die pädagogischen Diskurse der normsetzenden Eliten griffen: die Koordinierung des sozialen Handelns durch sanktionierte Regeln war natürlich die Voraussetzung seiner Berechenbarkeit. Damit bildete sie aber die Bedingung jeder rationalen Erwartungssicherheit, die Beherrschung und Nutzung der Naturkräfte eingeschlossen, die die neue Wissenschaft anvisiert hatte; es war die Voraussetzung einer 119
III. Die neuen Mächte
Entfaltung von Wirtschaft, Handel und Kultur. Es gibt, wie bei allen großen Veränderungen, Verlierer: Gruppen die etwa die Kommerzialisierung als Zusammenbruch ihrer ‚gewachsenen‘ Lebenswelt erfahren. Aber im Sog der von Staat und Markt ausgehenden Umformung, einer manchmal skrupellosen Dynamik, bilden sich Freiräume, die Gruppen wie einzelnen Aufstiegswilligen die Artikulierung ihrer Interessen ermöglichen und die Schaffung effizienterer Instrumente zur Bewältigung der Lebenswelt . An diese Chancen des widersprüchlichen Modernisierungsprozesses wird ein neuer Fortschrittsglaube anknüpfen, mit dem wir uns noch zu befassen haben. *** Die kontraktualistische, utilitaristische Definition des Staatszwecks als Abkommen auf Gegenseitigkeit war alles andere als unumstritten: Sie hätte bedeutet, dass die politische Macht auf allgemeinen Nutzen verpflichtet und nach transparenten, einklagbaren Regeln ausgeübt worden wäre. Dazu wären die Inhaber der Staatsgewalt auch dann nicht bereit gewesen, wenn sie auf ein patriarchalisches und theologisch legitimiertes Selbstverständnis verzichtet hätten. Aber auch die ‚Gesellschaft‘, zumindest ihre aktiven, institutionalisierten und privilegierten Teile, weigerte sich meist, die Neuerungen der „Staats/Vernunft“ hinzunehmen, insbesondere wenn diese an kirchlichen Verhältnissen und/oder Gruppeninteressen rühren wollte. John Locke († 1704), Arzt, Philosoph, Pädagoge, politischer Theoretiker, stammte aus dem puritanischen Mittelstand, neigte aber ursprünglich einer hobbesianischen Rechtfertigung des ordnungsstiftenden Absolutismus zu. Tyrannei und Anarchie sind die ärgsten Geißeln der Menschheit, heißt es in seinem wenig bekannten Traktat über die Obrigkeit (1660), und „es gibt keine Hoffnung, dass die menschliche Klugheit sich dagegen so weit schützen werde, dass ihre Wiederkehr nicht zu befürchten wäre“ – solange nämlich ehrgeizige und unzufriedene Menschen in ihren Studierstuben Streit und Unordnung aushecken. Die landläufigen Verfechter der allgemeinen Freiheit sind für den jungen Opportunisten der gerade einsetzenden Restauration „am stärksten auf deren alleinigen Besitz erpicht“; ihre Herrschaft liefe auf die Tyrannei selbstermächtigter Eiferer hinaus. Locke berief sich neben dem natürlichen Recht auf Selbsterhaltung alternativ und in fließendem Übergang auf biblisch-stoische Naturrechtslehren, die sich bei ihm später in eine Art „zusätzlich im Himmel aufgehängter Eigentumsbegründung“ verwandelten (H. Klenner). Der Schwerpunkt seiner Argumentation verschob sich im Zuge seiner Oppositionshaltung gegenüber den Stuarts tatsächlich zur naturrechtlichen Argumentation, die vernunftbegabten Wesen auch ohne transzendente Fundamente einsichtig sein sollte. Im Unterschied zu Ablei120
6. Disziplinierung und Freiheit
tungen der absoluten Herrschaft von Adam interpretiert Locke den Staatszweck als rationale Einrichtung zum Schutz des Eigentums (wenn auch in einem breiteren Sinn von lives, liberties and estates); staatliche Gewalt war primär das Ergebnis eines gegenseitigen Vertrags der Eigentümer zum Schutz ihrer natürlichen Rechte. Locke war durch Medizinstudium und seine Zusammenarbeit mit Naturforschern, wie Robert Boyle und später Isaac Newton, zur empirischen, naturwissenschaftlichen Methode bekehrt worden; seine radikale politische Theorie oszillierte dabei, wohl auch aus taktischen Gründen, zwischen praktisch-weltlicher Zweckmäßigkeit und traditionellen Gerechtigkeitslehren. Das Recht selbst bleibt der Willkür entzogen: es wird nicht vom Staat, sondern von Gott gestiftet. Nach dem Naturgesetz war jedermann Eigentümer seiner selbst und der Arbeit seiner Hände, aber es lehrte auch, dass sich niemand von den Gütern der Natur mehr aneignen dürfe, als er benötigt, und auch nicht so viel, dass für den Bedarf der anderen nicht genügend übrig bleibt.79 Das Naturgesetz ist jedoch im vorstaatlichen Zustand nicht erzwingbar, folglich seine Normen unsicher und das Leben gefährlich. Durch den Abschluss des Gesellschaftsvertrags wird es modifiziert, aber – im Unterschied zu Hobbes – keineswegs aufgehoben. Zwar unterwerfen sich die Menschen einem neutralen Richter, aber Leben, Freiheit und Eigentum bleiben sakrosankt: dem Staat werden klare Grenzen gesetzt, und die Aufgabe, für Sicherheit und den Genuss des Eigentums (im Sinn von suum) zu sorgen. Die Civil Society bleibt nicht statisch-unverändert, so treibt die Erfindung der nicht-verderblichen Ware Geld die Güterproduktion voran, auch die Eigentumsunterschiede: ein zusätzlicher Grund für den Gesellschaftsvertrag. Dieser beruft sich auf die unveräußerlichen most sacred rights, auch wenn der Staat im Grunde eine säkulare Einrichtung ist. Gegen die staatskirchliche Verfolgung der Dissenter (nicht der selbst intoleranten Katholiken) unterstreicht Locke, es sei nicht Aufgabe des Staates, den Weg in den Himmel zu weisen: das Seelenheil der Menschen gehe ihn schon deshalb nichts an, weil er über dieses nicht besser Bescheid wisse, als der einzelne: eine Einbruchstelle in die traditionelle Staatsauffassung. Der Staat ist weiter eingeschränkt durch die Lockesche Trennung von Exekutive und Legislative; ein Missbrauch der Vollmachten, indem etwa die Exekutive Gesetze erlässt oder Parlamentswahlen verhindert, kommt einer Kriegserklärung, einer Rebellion von oben gleich und führt dazu, dass die Macht (eine bloße Ermächtigung) in die Hände des wahren Souveräns zurückkehrt. Diese Lehre galt allerdings auch den Befürwortern der Absetzung Jakobs II. als zu radikal und wurde durch Kontinuitätsthesen verschleiert (Brocker). In der Praxis der konstitutionellen Monarchie verhinderten die beiden einander einschränkenden 121
III. Die neuen Mächte
Gewalten in der Regel die Entstehung einer freiheitsgefährdenden Machtkonzentration; beide durch trust miteinander verbundenen Gewalten waren grundsätzlich zur Zusammenarbeit gezwungen (Euchner). Lockes government by consent ist kein bloßer Nachtwächterstaat. Gewiss wurde durch die Revolution von 1688/89 ein bürokratischer Absolutismus kontinentaler Prägung verhindert, bezeichnenderweise auch ein effizienter königlicher Schutz der ländlichen Unterschichten. So blieb der größte Teil des Volkes auch für unseren Freiheitstheoretiker mit einiger Selbstverständlichkeit ohne politische Rechte und nur Objekt von Regulierungen. Schon die puritanische Revolution hatte ein reines Grundbesitzer-Wahlrecht eingeführt und auch die radikalen Leveller wollten darüber hinaus nur Pächter, unabhängige Handwerker und Händler, nicht aber die Masse der Lohnempfänger, Bediensteten, Häusler und Bettler, zu Aktivbürgern machen. Lockes Ansichten sind um einiges konservativer: das einfache Volk hat weder Zeit noch Gelegenheit, seine Gedanken auf etwas anderes, als den bloßen Lebensunterhalt zu richten. „Wo die Hände an Pflug und Spaten gewöhnt sind, erhebt sich der Kopf nur selten zu erhabenen Gedanken…“ Dass es deshalb Interessenvertreter braucht, fiel dem Freiheitstheoretiker nicht ein: die Volksschichten benötigen seiner Meinung nach einfache Regeln und Weisungen, nicht zuletzt den Glauben an Autoritäten: „Der größte Teil der Menschheit kann nicht wissen und muss daher glauben.“ (The Reasonableness of Christianity, 1695). Das war keine Absage an die Universalität der Vernunft, aber doch an die gleiche Vernunftfähigkalt der Menschen; noch Voltaire wird nicht anders denken. Vernunft ist wesentlich praxisorientiert, man bestellt seinen Garten, bewältigt die Probleme der jeweiligen Lebenswelt. In diesem Sinn hatte Locke in seinem philosophischen Hauptwerk nüchtern festgestellt, dass das kurze Lot menschlicher Erkenntnis nicht dazu bestimmt ist, die tiefsten Meeresgründe zu erkunden, sondern allenfalls unser Schiffchen sicher um bedrohliche Klippen und Untiefen zu lenken, was aber zu vernünftiger Lebensführung ausreicht (Essay Concerning Human Understanding, 1689): ein berücksichtigenswerter, aber eher konservativer Lehrsatz. Es gibt weiter verschiedentliche Äußerungen Lockes, die das Lebensgefühl der Mittelschichten getroffen haben: dass etwa die Erde den Fleißigen und Vernünftigen gehört, die vor den Streitsüchtigen, Unvernünftigen und Begehrlichen geschützt werden müssten – sofern diese auf andere Weise als durch Arbeit zu Eigentum zu gelangen wünschten. Das musste noch nicht bedeuten, dass der Ideologe der Glorious Revolution die eigentumslose Mehrheit des Volkes zur unabänderlich unvernünftigen, verfügbaren Ressource des Staats der Eigentümer deklariert hätte. Doch unsere Frage, was für Chancen die zur Arbeit gezwungenen ‚unterbürgerlichen‘ Schichten durch den Verkauf ihrer 122
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„Ware“ erhalten, war nicht die Frage Lockes. Ihre Vernunft bestand sozusagen darin, zu arbeiten. Die elisabethanischen Armengesetze hatten die ärmsten Schichten des Landes in Notlagen vor den allerschlimmsten Konsequenzen bewahrt, und dadurch von kollektiven Verzweiflungstaten abgehalten; aber die Gemeinden stöhnten unter der Last der Armensteuer und suchten diese möglichst zu verringern. Die Bedürftigen sollten wenigstens zu einem Teil selbst für ihren Unterhalt aufkommen. Dieser Stimmung kam auch Locke, Mitglied des Trade Board, entgegen: Die derzeitige Arbeitslosigkeit sei nicht anders zu erklären, als durch die Lockerung der Disziplin und die Sittenverderbnis – sind doch Tugend und Fleiß genauso treue Verbündete, wie Laster und Faulheit auf der anderen. Die vorhandenen Armenhäuser sind nach Lockes drastischen Empfehlungen verschärfter Zucht und strenger Arbeitspflicht zu unterwerfen, auch Bettelei von Kindern ist durch Einweisung in Arbeitsschulen zu unterbinden. Mit derartigen rigorosen, dem Calvinismus verpflichteten Maßnahmen würde „solcherlei Gesindel…rasch auf eine sehr geringe Zahl reduziert, wenn nicht gänzlich ausgemerzt“ werden (Scheme for Setting on Work the Poor, 1698). Der Vater des Liberalismus scheint also in Bezug auf die Unterschichten eine andere Moral als gegenüber den vollwertigen Mitgliedern der Civil Society aufzustellen. Ohne große humanitäre Skrupel macht er sich keine Gedanken um deren unveräußerliche Freiheitsrechte, sondern allein darum, dass die Armen bei dem „faulen und losen“ Leben, das sie führen, für gewöhnlich genauso wenig Ahnung von Religion und Moral, wie von fleißiger Arbeit haben. Locke spricht in seinem Vorschlag gewiss nicht von der Masse der Working Poor, den zwei Dritteln der englischen Bevölkerung, die ihr Brot durch abhängige Arbeit verdienten. Standen diese aber nach seiner Auffassung von bürgerlicher Gesellschaft nicht zwangsläufig außerhalb des Gesellschaftsvertrags? Politische Rechte kamen den Unvernünftigen keine zu; aber Locke ging davon aus, dass sie dem Kontrakt zumindest stillschweigend zugestimmt hätten und sehr wohl die Vorteile der bürgerlichen Kontraktgesellschaft genössen. Nicht nur prinzipiell ist der Verkauf der Ware Arbeit in garantierten Rechtsverhältnissen der Armut und Unsicherheit des ‚Naturzustandes‘ vorzuziehen: der stillschweigende Konsens vollzieht sich tagtäglich durch jede ihre Handlung. – Das war zumindest etwas einseitig gedacht. Die Masse der Dorfarmen und Häusler, die durch die Zerstörung von Ökonomie und Moral der traditionalen bäuerlichen Gesellschaft zu Lohnarbeitern abgesunken waren, hatten keine Möglichkeit, den ‚Naturzustand‘ zu wählen, und sie besaßen auch kaum noch Schutz durch die königliche Verwaltung: Die lokalen Behörden und das Parlament waren in den Händen einer marktorientierten Gentry oder Aristokratie, 123
III. Die neuen Mächte
und diese zögerte nie, das für sie Vorteilhafte durchzusetzen.80 Locke zieht dagegen nur die tatsächlich höhere Produktivität der kommerzialisierten Landwirtschaft und Lohnarbeit in Betracht; die Aussichten und die Lebensqualität der durch Not Disziplinierten zählen kaum. Arbeit macht auch in seiner Gesellschaftskonstruktion nicht frei, aber sie erzeugt höheren Wohlstand des Ganzen, bewirkt unzweifelhaften Fortschritt. John Locke hat keine Fortschrittstheorie entwickelt, aber doch Elemente einer solchen bereitgestellt. Neben der Annahme steigender Produktivität von Boden und Arbeit, wenn sie sich in Waren verwandelten, hat sich seine ideologische Aufladung der Glorious Revolution mit bestechenden Formeln als äußerst folgenreich erwiesen. Unveräußerliche Rechte, Regierung als Treuhandschaft der Gesellschaft, Freiheit und Eigentum (in einem gewiss eingeschränkten Verständnis) als eigentlicher Staatszweck, eine Reihe praktischer Maximen, wie Mehrheitsentscheidung und Toleranz, die arbeitsbegründende Konzeption von Eigentum und seinen naturrechtlichen Grenzen, erwiesen sich als offen für weitergehende Interpretationen. Entgegen den immer nüchtern-beschreibenden Intentionen ihres Autors, waren sie geeignet, Hoffnungen zu wecken und die Civil Society mit emanzipatorischer Programmatik zu befrachten.
7. Ökonomie und Moral Vordenker des europäischen Geistes waren, wie wir wissen, im Begriff, sich von der antiquierten Idee einer natürlichen Ausrichtung des Handelns auf vorgeordnete Urbilder der Vollkommenheit zu lösen. Die Welt ist wie sie ist, sollte nicht auch der Mensch sich selbst genügen? Statt teleologischer Vorgaben oder Spekulationen über die Erhaltung der Welt durch Gottes creatio continua, orientierten sich die ‚Modernen‘ zunehmend an reiner Selbsterhaltung eines metaphysisch nicht-festgestellten Menschen (Blumenberg). Der selbstverständliche Willle zu sich selbst, die natürliche Eigenliebe, äußert sich, ohne einen letzten Endzweck, als weltlicher Erfolg, als Meisterung von Gefahren oder Streben nach Überlegenheit. Bezeichnend dafür ist Hobbes’ nüchterne Auffassung vom rationalen Selbstinteresse als Grundstein des Gesellschaftsvertrags, ein voluntaristisches und komparatistisches, genau besehen: „kompetitives“ Menschenbild (G. Buck). Das war die aus der modernen Marktgesellschaft geschöpfte Vorstellung eines ständigen Wettrennens zwischen schwer kontrollierbaren Leidenschaften, den appetites and desires, den Ängsten und Machtgelüsten der Menschen, die den Gesellschaftsvertrag oder die Unterwerfung unter die Staatsraison notwen124
7. Ökonomie und Moral
dig erscheinen lassen. Die Vernunft gerät dabei in den Verdacht, letztlich im Dienst grundlegenderer Motive zu stehen, somit als bloß instrumentale Vernuft zu wirken; analog wird jeder Wert zur subjektiven Wert-Schätzung: Alles beruht auf gesellschaftlicher Anerkennung; jede Würde, Ehre oder Tugend ist letztlich subjektiv, ja eine Funktion im unaufhörlichen Machtwettbewerb der Menschen. Das säkulare Menschenbild brachte häufig mit sich eine Verharmlosung der menschlichen Grundtriebe. In dieser Richtung wollte schon Descartes’ epikureischer Ansatz die menschlichen Affekte entdämonisieren; sie seien nicht an sich böse, sondern nur manchmal fehlgeleitet. Man könne die Triebe nicht unterdrücken, äußerte auch Spinoza, wohl aber sie klug gegeneinander auswiegen und unaufgeregt in den Dienst der Selbsterhaltung stellen: die Legitimierung eines auf sich gestellten Menschen durch die neueren Philosophen. Ihrer Neigung zum selbstreferentiellen Ich entsprach der Ausbruch des ökonomischen Eigeninteresses aus dem System der traditionellen Tugendlehren. Die aristotelisch-scholastische Preistheorie war z. B. dem Ideal der kommutativen Gerechtigkeit, der Norm des ‚äquivalenten Tauschs‘, verpflichtet: durch Zins entsteht jedoch Geld aus Geld – die Urform von Marx‘ Mehrwertlehre. „Diese Art des Gelderwerbs ist…gegen die Natur“, hieß es bei Aristoteles. Auch Thomas von Aquino († 1274) ging in seinen ökonomischen Überlegungen analog nicht von der communis estimatio fori, dem Marktpreis aus, sondern von der inneren Güte einer Ware (plus den in sie investierten Aufwendungen an Arbeit, Kosten und Risiko). Trotz eines oft recht unbefangenen Umgangs der Scholastiker mit Geldsachen, blieb ihr Denken durch außer-ökonomische, naturrechtliche Normvorstellungen bestimmt. Deshalb war ihnen das Ziel des Kaufmanns: möglichst billig einzukaufen und teuer zu verkaufen, verdächtig, wenn nicht ein ebenso verdammenswertes Laster, wie der Darlehenszins. Weil Geld kein Geld produzieren kann (pecunia pecuniam parere non potest) sondern nur symbolisches Tauschmittel ist, versetzte auch Dante die Bankiers konsequent als Wucherer in den siebenten Kreis der Hölle.81 Die moraltheologischen Grundsätze wurden schon immer in der Praxis umgangen; so galt z. B. ein mäßiger Gewinn für die Beschaffung von Geld als zulässig auch dann, wenn der Transport des Geldes nicht mit Anstrengung und Risiko verbunden war, sondern in Form einer Anweisung stattfand. Die Idee eines stoffwertlosen Geldes war seit langer Zeit in den oberitalienischen Städten geläufig; die Tätigkeit großer Clearing- und Depositenbanken (Amsterdam, Hamburg, Venedig) verwandelte den realen Schatz aus Edelmetall in einen Buchhaltungsposten und stieß zugleich auf den unsoliden, revolutionierenden Gedanken, die vorhandene Geldmenge durch beschleunigte Zirkulation (R. Cantillon) zu erhöhen. Die zunehmende Verwendung von Wechseln und 125
III. Die neuen Mächte
Banknoten, die die Menge des umlaufenden Metallgelds in manchen Ländern schon um ein Mehrfaches übertrafen (F. Braudel), verabstrahierte das Wirtschaftsleben und ließ die scholastischen Lehren und die kirchlichen Kontrollen zunehmend wirklichkeitsfremd werden. Leon Battista Alberti († 1472), schriftstellerisch tätiger florentinischer gentiluomo und Renaissancearchitekt, gilt wegen seines Trattato della Famiglia (1434/41) als Vorgänger Benjamin Franklins. Tatsächlich heißt es bei ihm, der Mensch sei nicht geboren, um sein Leben zu verschlafen, sondern um ständig tätig zu sein (wobei der Architekt ausdrücklich die Arbeit der Handwerker hervorhebt). Anders als Aristoteles, erklärt er auch das Mehr-Haben-Wollen über den bisherigen Besitz hinaus für natürlich; allerdings bilden ihm Familienehre, das antike Maßhalten und der patriarchalisch geordnete, möglichst autarke Haushalt den übergeordnete Rahmen.82 Die Versuche, die Wirtschaft aus dem traditionalen Zusammenhang moralischer Handlungen herauszulösen, stellen kein Ende außerökonomischer Eingriffe ins Geschäftsleben dar, sondern nur einen Wechsel der intervenierenden Instanz: für den merkantilistischen Staat etwa war die Wirtschaft ein Bereich landesfürstlicher Direktiven, und als ein solcher unterlag sie ordnungs- und machtpolitischen Gesichtspunkten. Statt nach moralisch erlaubtem und verwerflichem Verhalten zu unterscheiden, lautete das Kriterium: richtig oder falsch für das staatliche Machtinteresse. Der Tugendbegriff wird gewissermaßen ‚herrschaftstechnisch‘ umdefiniert. Ein Primat der staatlichen Kollektivpersönlichkeit vor den lokalen und korporativen Interessen wird deutlich; der Staat tritt auch als Wirtschaftssubjekt auf, so dass die Tauschakte nicht als private, sondern als quasi nationale erscheinen. Das vordringende mechanistische Denken legt es dabei nahe, das Geschehen in Quantitäten zu erfassen und die Aufgaben des Staates ständig zahlenmäßig auszudrücken – in Bevölkerungs-, Finanz-, Handels- oder Flottenstatistiken (E. Heckscher). Weil man jedoch von der erfahrungswidrigen Vorstellung eines konstanten Reichtums der Welt ausging, war schon Francis Bacon typisch mit seiner Behauptung, jedes Wachstum an inländischem Besitz gehe auf Kosten der Ausländer; was immer irgendwo gewonnen wird, geht woanders verloren (On Seditions and Troubles, 1625). Auch die Staaten begriffen sich „kompetitiv“, also nicht primär aus sich und inneren Bedürfnissen heraus, sondern in einer Macht relation zum Nachbarn. Der Kameralist von Hornigk hat das in seiner bekannten Schrift Oesterreich ueber alles Wann es nur will (1684) mit den Worten ausgesprochen: „…ob eine Nation mächtig und reich seye oder nicht, hanget nicht ab von der Menge oder Wenigkeit ihrer Kräfte…, sondern fürnehmlich ab deme, ob ihre Nachbarn deren mehr oder weniger, als sie, besitzen.“ Das statische Gesamtbild des Wirtschaftslebens hing vor allem mit dem überwiegend agrarischen Charakter der damaligen Welt zusammen und den 126
7. Ökonomie und Moral
kaum wachsenden Erträgen der Landwirtschaft; auch der Außenhandel fand im Rahmen protektionistischer Vereinbarungen bzw. kolonialer Monopolstellungen statt. Colbert († 1683), Finanzminister Ludwigs XIV., ging eigenartigerweise nicht nur von einer Konstanz der Silbermengen in der Welt aus, sondern sogar einer etwa gleichbleibenden Zahl europäischer Schiffe, und obwohl er alles tat, um die Wirtschaftskraft und Bevölkerungszahl Frankreichs anzuheben, ließ sich im nicht immer konsequenten Gedankensystem seiner merkan tilistischen Welt nichts von der Art einer ökonomisch basierten allgemeinen Fortschrittsidee entwickeln. Keiner gewinnt etwas, hatte schon Montaigne († 1592) gelehrt, ohne dass ein anderer Schaden dabei nimmt; in der Konsequenz dieses moralischen Nullsummenspiels hätte man alle Arten von Gewerbe eigentlich für ‚unmoralisch‘ halten müssen: Der Bauer profitiert von der Teuerung des Getreides, der Richter bereichert sich an Prozessen, der Arzt an Krankheiten, der Priester lebt von den Lastern und dem Tod seiner Mitmenschen. Das Gesetz, wonach das Wachstum des einen auf dem Verderben des anderen beruht, schien Montaigne auch die Natur zu lehren. Das so interpretierte Naturgesetz war den merkantilistischen Staatsmännern jedenfalls verständlicher als das alte Sittengesetz, das sich bekanntlich nicht für die Beziehungen zwischen souveränen Staatswesen eignete. Pointiert gesagt: Statt des individuellen Seelenheils war für sie die Produktivität des volkswirtschaftlichen Ganzen getreten, ebenso wie statt des mittelalterlichen Feierns und Betens die nüchterne Arbeitsethik und statt des Sündenregisters – die Handelsbilanz. Doch hatte sogar der unverdächtige Bischof und Geschichtsphilosoph Bossuet geäußert, „unter Colbert habe Frankreich sich selbst kennengelernt“. Tatsächlich nahm unter Colberts strengem Regiment (das im 20. Jahrhundert nicht nur Othmar Spann gefiel) das französische Gewerbe einen großen Aufschwung; man kann sagen, dass erst von diesem Zeitpunkt an zumindest tendenziell von einer volkswirtschaftlichen Einheit Frankreichs gesprochen werden kann. Colbert ersetzte die fehlenden Initiativen von unten durch Ordonnanzen und Reglements; staatlich angekurbelte Tätigkeiten wurden durch Privilegierungen ermuntert und durch ständige Überwachung auf hohem Qualitätsgrad gehalten. Für Colbert selbst waren diese Eingriffe kein Selbstzweck, sondern vor allem Erziehungsmittel – was seine Nachfolger und ausländischen Nachahmer oft nicht verstanden. Die fainéantise: Müßiggang, Gleichgültigkeit, Schlamperei, waren auch für den Katholiken das Laster schlechthin;83 das Wachstum der Bevölkerung weniger Ziel, als Mittel, das durch ein reichliches Angebot an Arbeitskräften die Löhne, und damit die Preise der französischen Produkte, niedrig halten sollte (nach Heckscher). Wir müssen die Nationen mit unserer Industrie bekriegen und mit unserem Geschmack überwinden: damit brachte der Generalkontrolleur der Finanzen 127
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seine – in erster Linie gegen die verhassten Holländer gerichtete – Politik auf eine Formel. Das Ziel war somit nicht eigentlich Wohlstand, sondern Macht im Wettbewerb der europäischen Staaten, und höhere Finanzkraft, Flottenstärke, Manufakturgründungen, administrative und legislative Vereinheitlichung des Landes, waren Colberts Waffen. Natürlich sollte die Machtpolitik Frankreich einen größeren Anteil an den Reichtümern der Erde sichern; aber die gewonnenen Ressourcen flossen sofort der weiteren Expansion bzw. königlicher Prachtentfaltung zu. Die Reglementierung wurde in der Praxis zur Routine, und das hieß, dass der staatskapitalistische Dirigismus flexible Entscheidungen behinderte: bei den von oben geschaffenen Handelskompanien, wie bei der Erschließung der französischen Kolonien. Vor allem haben die maßlosen Machtambitionen Ludwigs XIV., die zu ruinösen Kriegen führten, schließlich Colberts weitsichtiges Entwicklungsprogramm zum größeren Teil scheitern lassen. Trotzdem hat das Beispiel seiner energisch vorangetriebenen Politik, im Verein mit der glanzvollen Fassade des Sonnenkönigs, überall in Europa fasziniert, und nicht zuletzt den Glauben an die Möglichkeit eines von oben initiierten nationalen Fortschritts verbreitet. Lujo Brentano hat seinerzeit mit Recht das Nicht-Ethische, Machiavellistische der merkantilistischen Grundsätze hervorgehoben, für die es herzlich gleichgültig war, was die Menschen tun sollten, während man rein kausal und mechanistisch auf Stärke und die egoistischen Grundimpulse vertraute. „Der Mensch ist von Natur gierig nach Gewinn“, war Colbert wohl bewusst, wenn auch als Instrument seiner Staatspolitik. Das Schwergewicht lag ganz beim Staatlichen und Gesamtwirtschaftlichen, und privatwirtschaftliche Gesichtspunkte blieben diesem völlig untergeordnet; der Widerstand der Kaufleute gegen ihren eigenen Vorteil sollte von oben überwunden werden. Bezeichnend ist Colberts, Stalin vorwegnehmender Appell an die Gerichtshöfe, im Interesse der „Ökonomie“, sprich: des Staates, möglichst viele Verbrecher zu Galeerenstrafen zu verurteilen. Menschen zählten als schiere Quantität, als Material staatlicher Statistiken; die Peuplierungspolitik nannte Schiffsladungen von Frauen und von Vieh für die Kolonien in einem Atem. Hier standen dem merkantilistischen staatlichen Interesse häufig traditionelle kirchliche Wertvorstellungen im Wege: der Zölibat, kirchliche Feiertage, das Almosengeben, bis hin zur Einwanderung andersgläubiger Fachleute. Die Nützlichkeit der Toleranz wurde von merkantilistischen Autoren (William Petty, Josiah Child) immer wieder durch den Gegensatz von holländischer und spanischer Praxis veranschaulicht, hier Fleiß und Wohlstand, dort Stagnation und Aberglauben. Die Vorreiter der Aufklärung kamen auf dem Rappen des staatswirtschaftlichen Interesses geritten und die an der Vordertür abgewiesene Moral 128
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kehrte in neuem Gewand, gewissermaßen durch den Hintereingang, wieder zurück. In Anbetracht der Nützlichkeit der Juden lockerte der merkantilistische Staat zeitweise sogar die gegen sie gerichteten Schikanen. Auch die calvinistischen Holländer, die mit ihren riesigen leistungskräftigen Flotten die Weltmeere beherrschten, ließen sich im 17. Jahrhundert ganz undoktrinär von nationalen Kollektivinteressen leiten. Die großen Handelskompanien besaßen quasistaatliche Kompetenzen, einschließlich des Rechts, Krieg zu führen, und die Einnahmen aus dem Kaperkrieg übertrafen manchmal die aus der Handelstätigkeit. Willem Usselincx war nicht allein mit seiner Ansicht, der Kaperkrieg gegen die Spanier sei einem Frieden vorzuziehen, weil auf diese Weise die immensen Reichtümer der Silberflotten aus den spanischen Kolonien direkt in holländische Häfen zu leiten waren (Lespeyrès). Jan P. Coen schrieb 1614 aus Batavia an das Direktorium der Holländischen Ostindischen Gesellschaft: „Wir können Handel nicht ohne Krieg treiben und Krieg nicht ohne Handel führen.“ Vielleicht war es die holländische Handelshegemonie, die diese Maxime veralten und zur Doktrin des freien Handel übergehen ließ (die Brüder de la Court). In den 1650er Jahren schlugen beide auch die Ausdehnung des Wahlrechts auf alle (nicht-bediensteten) Einheimischen vor, verstanden somit ökonomische und politische Freiheit als Einheit.84 Von Theorien, wie dem Mare liberum, ließ man sich im übrigen in Amsterdam nicht über Gebühr beeindrucken – sowenig wie von der traditionellen Rhetorik der Pamphletisten gegen unrechten Gewinn, Schmuggel, Preisabsprachen und internationalen Waffenhandel, am wenigsten von der Luxusfeindlichkeit der Prediger: die Genussfreude und der Luxuskonsum der Holländer im 17. Jahrhundert waren sprichwörtlich, und sie griffen sogar auf die wohlhabende, kommerziell orientierte Bauernschaft über.85 Auch ohne Theorie wusste man: Sparen ist kontraproduktiv, weil es das Geld der Zirkulation entzieht; wenn alle mehr ausgeben, erhöht sich die Umlaufgeschwindigkeit, und auf die kommt es an, nicht auf angesammelte Schätze – von denen im Himmel ganz zu schweigen. Das Beispiel Hollands wirkte – auch ohne Theorie – durch seinen durchschlagenden Erfolg. Der zum Katholizismus konvertierte Kameralist und Projektemacher Johann Joachim Becher († 1682) wollte die einheimischen Gewerbe fördern und hätte gerne alle ausländischen Produkte in Deutschland verboten, die das „verfluchte Thier la Mode“ ins Land holte. In seinem Kaiser Leopold I. gewidmeten Politisch Discurs (1668) pries er vor allem die „Commercien“: sie hätten Holland volckreich und nahrhafft gemacht. „Die Nahrung, sag ich, ist ein Angel oder Humen, wodurch man die Leut herzu locket, dann wann sie wissen, wo sie zu leben haben, da lauffen sie hin, und je mehr hin lauffen, je mehr können auch von einander leben“ – er erkennt die gegenseitigen Bedürfnisse als 129
III. Die neuen Mächte
Wirtschaftsmotor. Wichtig scheint Becher die holländische Tatkraft, die er bei seinen Deutschen vermisst: sie halten sich aus Angst vor dem „Versauffen“ lieber ans Saufen und wagen sich nicht auf See. Becher misstraut aber auch den mächtigen Kaufleuten, ihren Monopolia und Propolia, Kartellen zum Zweck von Preisabsprachen. Staatlich geschaffene Provianthäuser sollten diesen Vorkauf ver hindern und die Preise stabil halten. Analog sollten die Handwerker ihr multifunktionales Werck/Haus haben, das „der Statt so nöthig (ist) als ein Rathaus…, den Reichen ein Mittel, mit gutem Nutzen ihr Gelt anzuwenden, den Armen ein Gasthaus, asylum und Zuflucht, ein stück Brot zu verdienen“. Das war so wenig wie Colberts Generalhospitäler als Akt christlicher Caritas gedacht, sondern des ‚wohlverstandenen kollektiven Eigeninteresses‘. Der Dieb signalisiert ein Versäumnis der Obrigkeit, während das Werkhaus ein wohlfeiles Präventivmittel gegen Delinquenz darstellt. „…was nutzt ein Dieb, der um funfzig Gulden ist gehenckt worden,… da er doch im Werckhaus in einem Jahr wol viermal so viel wieder verdienen kann?“ (Politisch Discurs, 245). Wieder scheint hier Moral im Gewand wirtschaftlichen Kalküls zurückzukehren. Becher will die Menschen nicht sich selbst überlassen, auch wenn „die Gemein nicht umb der Obrigkeit, sondern die Obrigkeit umb der Gemeine willen da (ist)“. Das holländische Beispiel lässt einen jeden seine ‚Nahrung‘ (sein Auskommen) finden. Dies ist aber kein sich selbst tragendes „Voneinander-Leben“; bezeichnenderweise nennt Becher die dortigen Proviant-, Zuchtund Werkhäuser begeistert in einem Atem. Die unterschiedlichen Bedingungen der kleinen Handelsrepublik und der Agrarstaaten Mitteleuropas sind ihm nicht entgangen, aber die holländische Erfahrung verwandelt sich in seinem Kopf zu einer eigentümlichen Mischung aus moderner Funktionalität und obrigkeitsstaatlichem Dirgismus, einer durchorganisierten autoritären Wirtschaft und Gesellschaft. Deren Rationalität kennt kaum disfunktionale Werte, keine Freiheitsräume bzw. Grenzen für polizeistaatliche Eingriffe: der Untertan kann und soll von der Obrigkeit durchaus zu seinem Glück gezwungen werden (Louise Sommer).86 Der Fürst kommt zu seinem Nutzen am besten durch die Förderung der Untertanen, wie der Tenor der merkantilistischen Publizistik lautet. Er kann nur nehmen, wo etwas zu nehmen ist: Eines „klugen Fürsten Herden“ reimte Wilhelm von Schröder († 1688), können „glücklich leben/ Und dem Regenten Wolle geben/ Doch wer sogleich das Fell abzieht/ Bringt sich um künftigen Profit“. Dabei hegte er wenig Illusionen über Eigeninitiative und Vernunft der Untertanen: „Der unterthanen gemüther seynd hinckende hunde, mit welchen man keine gewissen hasen fangen kann“, meint seine ganz auf den Staatsabsolutismus zugeschnittene Fürstliche Schatz- und Rentenkammer (1686). Das Gemeinwohl ist dem Hobbesianer Regierungszweck und diese Maxime macht alle 130
7. Ökonomie und Moral
machiavellistischen Schlichen überflüssig: aber das Wohl wird von oben definiert. Der Fürst behält das Heft ungeteilt in der Hand und spielt auch im Wirtschaftsleben, z. B. als wechselherr, also durch eine Staatsbank, eine zentrale Rolle. Dazu braucht er eine „staatsbrille“, nämlich genaue Statistiken zu fiskalischen Zwecken; auch die Armen sollen genau erfasst und strengen Gesindeordnungen unterworfen werden. Die kameralistischen Theorien entsprachen mit einiger Wahrscheinlichkeit den tatsächlichen Bedürfnissen des vom Dreißigjährigen Krieg verwüsteten Mitteleuropa. Hier war die Bevölkerung dezimiert, das herrschende Wertesystem weitgehend aristokratisch-militärisch bzw. traditional geprägt und der Kaufmannsberuf folglich wenig geschätzt; „ein ieder dintenlecker (werde) einem rechtschaffenen handwercksmann und künstler vorgezogen“ (Schröder). Ein konsquent zweckrationales Umdenken von oben hätte längerfristig zu Mentalitätswandlungen in der Gesellschaft führen können, aber die Neuorientierung war eine sehr zögerliche. Schon Ansätze zur Schaffung eines „Universalcommerciums“, also eines einheitlichen staatlichen Wirtschaftsgebiets auch nur innerhalb der habsburgischen Länder, wurden regelmäßig abgeblockt; von fern herbeigeholte Fachkräfte stießen auf den Widerstand lokaler Zünfte („die ärgste pest von ganz Teutschland“, die – wieder nach Schröder – „die multiplication der arbeiter verhindern will“; analog auch Hornigk, dessen Pamphlet noch im 18. Jahrhundert wegen seiner unverminderten Aktualität immer wieder aufgelegt wurde). Schon weil hier ein wohlhabendes Bürgertum als Basis unternehmerischer Tätigkeit meist fehlte, mussten fast alle Initiativen vom absolutistischen Staat ausgehen, der Verlegern und Fabrikanten unter die Arme griff, den Arbeitern sogar Gewissensfreiheit und Befreiung vom Militärdienst gewährte, bestimmten Manufakturprodukten ein Monopol auf dem Binnenmarkt sicherte, Chausseen baute, das Land „peuplierte“, die Einweisung von Asozialen in Arbeitshäuser verfügte usw. Sein Motiv war ein sehr banales: der ständige fürstliche Geldhunger, und die Kameralisten empfahlen sich als die zeitgemäßeren, nicht unbedingt erfolgreicheren, Nachfolger der Alchemisten. Auch das von Becher und Hornigk verfolgte Autarkieziel wurde trotz aller Bemühungen nicht erreicht – wegen der zu aufwendigen Kontrollen, aber auch der niedrigen Qualität der einheimischen Produktion, nicht zuletzt der Gegenmaßnahmen der Nachbarländer. Eine neue Sicht der Dinge kam nur allmählich auf mit der Erkenntnis, dass sich künstliche Verbote und Monopole schädlich auswirken und man ein Geschäft nicht nach der Aussaat, also schon nach seinem Anfang, beurteilen dürfe. Ein „freies Commercium“ und der durch eine staatliche Wechselbank intensivierte Kapitalumlauf waren schon für Schröder das bessere Rezept, aber 131
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Widerstände aller Art ließen es in Mitteleuropa noch lange nicht zum Zuge kommen. Die von den Kameralisten empfohlene bürokratische „Wohlstandspolizei“ war vom Gesichtspunkt der herkömmlichen Ständeautonomie und Zunftherrschaft natürlich eine Gefährdung der Freiheit. Gott hat „dem volck …. keine freyheit über gelassen“, hatte es bei Schröder geheißen. Andererseits war die anvisierte Arbeits- und Commerzgesellschaft auf utilitaristische, ‚wirtschaftsbürgerliche‘ Werte ausgerichtet und der Modernisierungsschub des merkantilistischen Absolutismus auf Fortschritt bedacht, also kein überflüssiger Aktionismus, der allein der fürstlichen Kasse zugute kommen sollte. Der Fortschritt war allerdings erst einmal ein „Wegschritt“ von den alten solidarprotektionistischen Strukturen und Normen; kein determinierter Prozess, sondern ein riskantes Sich-Einlassen auf ein unbekanntes und ungesichertes Terrain. Es ging nicht einfach um Beschleunigung einer vorgegebenen Entwicklung, sondern um trial and error, das Erproben von Neuem und Kontingentem, wobei sich die Vorgänge gegenüber dem Impuls von oben allmählich verselbständigten und manchmal außer Kontrolle gerieten. Aus den gestiegenen Macht- und Marktchancen entwickelte sich aber dann, man kann sagen: bei Strafe des Untergangs, ein Zugzwang im Spiel der europäischen Staaten. Erst in diesem Zusammenhang verstehen wir richtig die protonationalistischen Aufholjagden der „Modernisierer“,87 ebenso wie die Hassliebe der Merkantilisten zu den erfolgreichen Vorreitern – den ‚falschen Welschen‘, den ‚korrupten‘, ‚skrupellosen‘ Holländern. Auch England wurde zu einem solchen Vor- und Hassbild. Im 17. Jahrhundert führte es noch eine typisch merkantilistische Politik – angefangen mit Wollausfuhrverboten zum Schutz der inländischen Tuchproduktion (der Schatzkanzler saß nicht umsonst symbolisch auf einem Wollsack!), sowie erzwungenen handelspolitischen Verträgen, mit denen man die irische und portugiesische Weberei lahmlegte, bis hin zu den Navigationsakten von 1651 und 1661, die reine Kampfmaßnahmen gegen die überlegene niederländische Flotte darstellten. Der Hass gegen das erfolgreiche Wirtschaftswunderland bestimmte englische Handelsschriften von Thomas Mun bis George Downing, die typischerweise zugleich die Bedeutung kaufmännischer Tätigkeit gegenüber ignoranten und faulen Grundherren herausstrichen (Schulin). Die englische Wirtschaft profitierte stark von der Zuwanderung holländischer Reeder, Kaufleute, Manufakturbesitzer, Handwerker und Gärtner, nach der unklugen Aufhebung des Edikts von Nantes durch Ludwig XIV. (1685) auch französischer Hugenotten. Der dritte Krieg mit Holland (1672–74) war schon äußerst unpopulär, und die Stimmung der Londoner City schlug danach vollends um: die Pamphlete betonten jetzt die alte Lehre von der verbindenden Funktion des Handels, für den die Weltmeere ausreichend Platz böten. Handel, 132
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so ein gewisser Slingsby Bethel, „is no reason for any to be angry with others, because they exceed them in those virtues“; die Vernichtung des holländischen Handels wäre für England kein Vorteil, sondern geradezu eine Katastrophe.88 Hatte sich Thomas Mun († 1641) noch in kämpferisch-merkantilistischem Ton an die Devise gehalten: „One man’s loss is the other man’s gain“, so kamen jetzt harmonisierende Töne auf: Die Welt sei dazu da, um befahren zu werden und (nach J. O. Appleby) – segensreichen Wetteifer in Navigation und Handelskunst zu wecken, wie Holländer und Engländer zu ihrem Vorteil erkannt hätten (John Evelyn, 1674). Krieg und Handel werden für William Temple aus einem alternativ einsetzbaren Mittel zur Übervorteilung des Auslands zu Gegensätzen: der Krieg schädigt den Handel. Und Roger Coke, der die Mathematik und die cartesianische Methode in die ökonomische Literatur einführte, wies auf diese Weise die Schädlichkeit der Navigationsakte (des Verbots, nicht-englische Schiffe zu Handelszwecken zu benutzen) zumindest für den englischen Holzhandel nach. Niedrige Zölle und das Absehen von konfessionellen Gesichtspunkten, so Coke, seien die Hauptursachen des holländischen Erfolgs. (In Wirklichkeit war das wohl vor allem ihre Fähigkeit, als Großhändler mit riesigen Vorratshäusern – Bechers ‚Propolium‘ – eine günstige Preisentwicklung abwarten zu können und, wie F. Braudel dargelegt hat, aus den Preisrelationen zwischen Erzeuger- und Verbrauchermarkt maximale Vorteile zu ziehen). Handel und Wirtschaft begannen sich unter günstigen Bedingungen von staatlicher Vormundschaft ebenso zu emanzipieren, wie schon zuvor von den traditionellen Normen, einschließlich des puritanischen Evangeliums der Sparsamkeit und Luxusfeindschaft. Das Bauen belebt den Ehrgeiz anderer, erkannte Nicholas Barbon (1690), wie überhaupt Konsumfreudigkeit im gehobenen Bereich, nicht so sehr die gewöhnlichen Bedürfnisse, einen wichtigen Wirtschaftsfaktor darstellt: „Fashion is the Spirit of trade“. Barbon begnügte sich nicht mit Wirtschaftstheorie. Dem Handel kommt eine zivilisatorische, fortschrittsfördernde Funktion zu; anders als die Militärmonarchien, werden kommerziell bestimmte Völker friedlicher, verkündet Barbon, nicht zufällig im Augenblick der Absetzung der Stuarts (Schulin: Handelsstaat England). Das war zu einem Großteil Ideologie, aber der Liberalismus hatte mit dem Gegensatz von Militär und Handel bis in den 1.Weltkrieg hinein ein zugkräftiges Thema gefunden. Idealtypisch war der Gegensatz von völkerverbindendem Handel und zerstörerischem Krieg, zwischen Austausch und Ressourcenvernichtung, Öffnung und Abschließung, nicht falsch. Aber Handel war nicht gleich Handel. „All trade is a kind of warfare“, vermerkte ein englischer Handelsschriftsteller der Restaurationszeit; und Sklavenhandel galt noch lange als ehrbares Geschäft. Auch die Folgen des durch Fernhandel und Plantagenwirtschaft 133
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gewonnenen Reichtums erwiesen sich nicht überall als ein Segen: Spanien, dessen Wirtschaft ‚in Gold und Stolz erstickte‘, war die aktualisierte Version der alten Midassage. Auf der anderen Seite haben die machtpolitischen Auseinandersetzungen nicht nur destruktive, sondern mitunter stimulierende Auswirkungen auf Wirtschaft und Sozialstruktur ausgeübt. Die nach Übersee ausgreifenden europäischen Staaten waren durchaus kommerziell orientiert; sie betrieben die ‚Erschließung‘ der neuen Territorien durch die eigene Kaufmannschaft, aber möglichst unter monopolistischen Bedingungen, also unter Fernhaltung der Konkurrenten und der Einschränkung gewerblicher Tätigkeiten in den Kolonien. Somit konnte gerade der gerühmte douce commerce zur Quelle permanenter blutiger Auseinandersetzungen werden. Überhaupt zeigten sich die Kaufleute und Bankiers in der Praxis kaum fried licher als die aristokratischen Grundherren; auch später fanden sich statt des dynastischen Ehrgeizes immer neue plausible Gründe für Krieg und Hass. – Parallel zu Barbon veröffentlichte Josiah Childe († 1699), Heereslieferant und Direktor der britischen East India Company, einen Discourse of Trade. Seine äußerst erfolgreiche Praxis, in Kombination mit wechselnden politischen Überzeugungen, hatte ihm den Titel eines Baronets sowie ein enormes Vermögen eingebracht. Er war auch in wirtschaftlichen Dingen kein Doktrinär, und die Gewinne seiner Gesellschaft blieben ein Leitstern der von ihm empfohlenen ökonomischen Grundsätze. Nichtsdestoweniger glaubte der Praktiker an den Handel als höheres Prinzip: Restriktionen sind illusorisch, weil die Wirtschaft eigenen, immanenten Gesetzen, nämlich der Gewinnerwartung, folgt. In diesem Sinn mussten etwa Geldausfuhren kein Nachteil für das Land sein, schließlich sei Geld „eine Ware wie jede andere“: ein Sakrileg für Merkantilisten. Auch weitere Empfehlungen Childes, wie die erleichterte Einbürgerung von Ausländern, sogar Juden, oder die unbegrenzte Einstellung von Arbeitern, entsprechen der Vorstellung eines eigengesetzlichen Wirtschaftslebens. Schon vor ihm hatte William Pettys Political Arithmetic die These von mathematisch formulierbaren, quasi natür lichen Gesetzen, funktionalen Verkettungen des Handels, verfochten.89 Die Praktiken der von der Regierung unabhängigen East India Company waren dabei alles andere als doktrinär-freihändlerisch. Doch nicht deshalb war sie in England umstritten, so dass man vorschlug, sie dem Parlament zu unterstellen; englische Weber, die unter Seiden- und Kattunimporten litten, demolierten sogar ihren Londoner Sitz. 1694, nach der Glorious Revolution, wurde der ostindische Handel schließlich für frei erklärt, d. h. entmonopolisiert; es passte dazu, dass zugleich die Pressezensur und das königliche Münzrecht aufgehoben sowie die privatwirtschaftliche Bank of England gegründet wurde – ein Meilenstein. Obwohl die Tories der Freisetzung der Wirtschaft zunächst skeptisch gegen134
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überstanden, bildeten sich zwischen ihnen und den nunmehr tonangebenden Whigs, auch zwischen landed und moneyed interest, unzählige Querverbindungen. „While religion divided, trade united the nation… The Bible had now a rival in the Ledger /dem Hauptbuch/“. (G. M. Trevelyan). Der Spanische Erbfolgekrieg schürte nun die nationalen Ressentiments gerade der Whigs, so dass sich die Positionen verkehrten. Daniel Defoe, Autor eines breiten Spektrums von Schriften verschiedener Art und Ausrichtung, hatte bisher gegen den ‚Unterdrücker der europäischen Freiheit‘ und die für das europäische Gleichgewicht zu große Macht Ludwigs XIV. geeifert, nun (1711) schrieb er im Auftrag des gemäßigten Tory-Ministers Harley ein Pamphlet zugunsten einer schnellen Beendigung des zu teueren Krieges. 1713 scheiterte der in Utrecht ausgehandelte Niedrigzollvertrag mit Frankreich vor allem am Widerstand der Whigs. Das Land glaubte an einen Primat der Handelsinteressen, aber hatte sich noch lange nicht zum Freihandel bekehrt.90 Im 18. Jahrhundert wurde dann Frankreich zum Hauptgegner und wichtigsten Bezugspunkt der englischen handelspolitischen Diskurse, während die Niederlande sich, wie Venedig, im Niedergang zu befinden schienen. Das whiggistische Frankreich-Klischee zeigte ein despotisches Land, das konsequenterweise auch in Handel und Gewerbe unterlegen sein sollte, aber nicht wirklich war: manche Kritiker der englischen Politik empfahlen gar das französische merkantilistische Vorbild als Remedium gegen den drohenden Abstieg und zum Schutz englischer Interessen (Picht).91 *** John Lockes politische Philosophie hatte die Staatsgewalt vom Gottesgnadentum auf die Konsensbasis der (als Eigentümer verstandenen) Bürger herabgeholt und die hierarchische normative Ordnung durch den Vertrag abgelöst, dessen Modell der Markt war. Weil Lockes Denken den tonangebenden Schichten oft zu radikal war, füllte er den neuen Wein des Selbsterhaltungs- und Eigentumsrechts häufig in die alten Schläuche traditioneller Sozialphilosophie mit ihren ewigen göttlichen Gesetzen und einer harmonischen Schöpfungsordnung, wir haben es im vorigen Kapitel gesehen. Der modern-zweckrationale Gedankengang will den gegebenen Zustand der Bedürftigkeit durch „Arbeit, Kunstfertigkeit und Gedanken“ verbessern und Bequemlichkeit und Reichtümer vermehren, aber er wird gekoppelt ans biblische Arbeitsgebot: Gott gab die Erde bekanntlich den Fleißigen und Vernünftigen. Nur: „ohne Unbehagen würden wir weder unseren Körper bewegen noch unseren Geist betätigen.“ Locke hat kein Verständnis mehr für das antike Ideal der Muße als Voraussetzung von Freiheit und Gegensatz zur Sucht des unersättlichen Mehr-Haben-Wollens. 135
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Arbeitslosigkeit wäre ein Zustand permanenter Lethargie und Trägheit, der Gottes Bestimmung des Menschen zu Tätigkeit und Arbeit zuwiderläuft. Nicht zuletzt entsteht durch die Arbeit meiner Hände Eigentum: Aus der Natur wird etwas herausgelöst, durch Eingrenzung (enfencing) und Bebauung zwar dem Gemeingut entzogen, aber durch Aneignung nützlich gemacht. Das hat gewisse naturrechtliche Grenzen, etwa die spoilage limitation: Es ist moralisch unzulässig, sich mehr anzueignen, als tatsächlich genutzt werden kann. Anderseits höhlt Locke die moralische Bestimmung insofern ökonomisch aus, als mit der Erfindung eines unverderblichen Warenäquivalents, eines allgemeinen Pfandes, nämlich des Geldes, der Anreiz entsteht, über den Eigenbedarf hinaus zu produzieren. Dieser dynamisierende Faktor Geld zerstört die ursprüngliche Gleichheit des Naturzustandes, eine Gleichheit in Armut, wie Locke sofort hinzufügt, und weckt Fleiß, Initiativen, Wettbewerb. Dieser säkularisierte Sündenfall führt zu Besitzunterschieden, Lohnarbeit und kommerzialisierter Wirtschaft. Das fragwürdige Streben, mehr zu besitzen als man bedarf, bedeutete nach der alten Regel, auf Kosten anderer reich werden zu wollen. Hier hat Locke Theorie eine neue Perspektive eröffnet. Die Güter der Erde können nämlich durch Aneignung und Arbeitsteilung unendlich vermehrt werden, so dass die Ungleichheit angesichts der größeren Effektivität und Produktivität nicht ins Gewicht fällt und die moralische Abwertung der Bereicherung zumindest abgeschwächt wird.. Die alten naturrechtlichen Bestimmungen werden relativiert, und anstatt des summum bonum tritt das je verschiedene irdische Wohl und Glück des einzelnen; vor allem wird es utilitaristisch.92 Dabei hat Lockes Sprache die Radikalität des Paradigmenwechsels vernebelt und die neuen Elemente seiner Lehre als Hochschätzung von Arbeit, Fleiß und Genügsamkeit zum traditionalen Tugendkanon, wenn auch nicht zu puritanischer Arbeitsethik, zurückgebogen (W. Euchner). Noch die Ansätze zu einer wirtschaftsbasierten Fortschrittslehre werden vom späten Locke merkantilistisch zurückgenommen: man müsse die inländischen Produkte fördern und vor allem mehr produzieren als konsumieren, um Exportüberschüsse zu erzielen: das Bild des sparsamen, tugendhaften Kaufmanns, der Moral und Kapitalakkumulation zu verbinden weiß, auf den Staats-Oikos übertragen. Die Antinomien von Reichtum und traditioneller Moral, Geld und Religion, materieller Selbstbehauptung und Seelenheil, hatten sich im englischen öffentlichen Bewusstsein natürlich keineswegs aufgelöst, wie man etwa an den Diskrepanzen von Daniel Defoes († 1731) mannigfaltigen Schriften beobachten kann. Der vielgelesene Journalist, der umstrittene politische Publizist, Verfasser erfolgreicher conduct manuals und Romane preist durchwegs den Kaufmannsberuf als nützlichste, interessanteste und im Grunde edelste menschliche Betätigung.93 Zugleich ist Defoe nicht nur fasziniert, sondern bestürzt über die Macht des 136
7. Ökonomie und Moral
eldes, das sich die Rolle eines vehicle of Providence anmaßt und über die gesellG schaftliche Stellung der Menschen, ja den Gang der Welt, entscheidet. Defoes Romanhelden (Moll Flanders, 1722) leiden unter sozialer Verwahrlosung und materieller Not, die sie skrupellos das Geld als Mittel des Aufstiegs verwenden lassen: das Laster scheint dabei unausweichlich, und erst der schließlich erlangte Wohlstand lässt die Protagonisten bereuen bzw. Moral und Religion wiederentdecken. Niemand dürfe sich seiner Ehrbarkeit rühmen, heißt es in Defoes Review (1711), der frei ist von Not, denn „necessity is the parent of crime“. Waren die Widersprüche letztlich doch unauflöslich? Stellte der Aufstieg zum Gentleman nur eine Satire auf die Herrschaft des Scheins dar, hinter dem sich der Zwang zur Missachtung moralischer Regeln verbarg?
Wie hats ein solches Land doch gut, Wo Macht ganz auf Verbrechen ruht,
spottete Bernard Mandeville, Defoes Zeitgenosse. Auch Robinson Crusoe (1719) bleibt für unterschiedliche Interpretationen offen. Man kann im Leben des Inselhelden ein Lob besitzbürgerlicher indivi dueller Selbstverwirklichung erblicken: eine exemplarische Geschichte vom Triumph rationaler Tatkraft über die Widrigkeiten der Natur, letztlich auch der überlegenen europäischen Zivilisation über Wildnis und Wilde, Indienstnahme und Bekehrung eingeschlossen. Die zeitgenössische Lesererwartung dürfte aber auch Robinson als homo religiosus ernstgenommen haben, für den die Insel Gefängnis und Bewährungsprobe war, Strafe für sein leichtsinniges, eigenmächtiges Verhalten und reumütiger Neuanfang ohne die Anfechtungen und Versuchungen seines vorherigen Lebens (Gertrud Kalb). Defoe war ein praktisch denkender Mann und gläubiger Dissenter in einem; er propagierte die Erschließung außereuropäischer Märkte, hohen Konsum und hohe Preise wegen ihres Beschäftigungseffekts. Zugleich war er sich jedoch der Laster als dem eigentlichen Motor der Wirtschaft94 bewusst, wie an der arbeitsplatzschaffenden und kornverarbeitenden, doch das Volk vergiftenden Ginproduktion dargelegt werden kann. „Unser Handel beruht auf einem Bündnis mit dem Teufel“ /Our whole commerce now depends on a confederace with the Devil/, vermerkte seine Review. Das sollte nicht einfach als neupuritanische Heuchelei entziffert werden, die die Arbeit als Segen, wenn nicht Heilsmittel preist, aber die Arbeit des Knechts meint und die eigene Akkumulation; die analog die Sklaverei in den Kolonien in Begriffen des Eigentumsrechts fasst, so dass sie mit dem eigenen Freiheitsverständnis in keinen Widerspruch gerät.95 Die Rechte und Freiheiten, die man als unveräußerlich proklamiert und einfordert, legitimieren sich aus dem religiösen Fundus, der Berufung aller Menschen zur 137
III. Die neuen Mächte
freien Erfüllung der Gottesgebote: die unabdingbaren Freiheiten und der fast obsessive Individualismus sind sozusagen nur der äußere Ausdruck eines ständigen Mit-sich-selbst-Beschäftigtseins (D. Fischer, nach O. Patterson). Defoe lässt keinen Zweifel an der Fragwürdigkeit eines ungebundenen Individualismus und an der grenzenlosen Freiheit des einzelnen, symbolisiert durch das Meer, auf dem alle Grenzen, auch die von Handel und Piraterie, verschwimmen. Aber der weniger durch sein Gewissen beschwerte als von Bilanzen und Kalkül besessene Puritaner preist auch die Vielfalt der Erde und den gegenseitigen Nutzen ihrer Teile, die den Welthandel mit teleologischem Sinn aufladen, ihn zum Akteur der Vorsehung (und die Kolonien zum beliebten Ort der Umkehr und Bewährung seiner gestrauchelten Helden) werden lassen. Trotz dieses aus zeitgenössischen Bekehrungsschriften bekannten Motivs der Rückkehr des verlorenen Sohns als einer nachträglichen sinngebenden Klammer rein weltlicher bzw. krimineller Biographien, wirkt der göttliche Heilsplan, der dem Geschehen nicht nur bei Defoe als kontemplativer Bezugsrahmen übergestülpt wird, auf uns wenig überzeugend. Die Integration des ökonomischen, sittlichen und religiösen Erfahrungsraums gelingt in Europa, nicht wirklich. Sie wäre aber die Voraussetzung für die Herausbildung einer überzeugenden Fortschrittsidee gewesen.
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IV Aufklärung und Revolution 8. Mehr Licht Francis Bacon hatte die Lichtmetapher bewusst in der Schwebe gehalten zwischen Gottes Schöpfungsakt und dem Licht der Sinne und der Vernunft; Licht war den Menschen immer schon positiv, Dunkel verdächtig, aber der Inhalt alles andere als eindeutig. Das Lichtsymbol hat eine alte Geschichte und wurde auch außerhalb der christlichen Bibel auf Gott bezogen, der im Licht wohnt. Christus ist das „Licht zu erleuchten die Heiden“ (Luk.2, 32). Descartes’ Suche nach Klarheit und Deutlichkeit stützte sich auf die „lumières naturelles“; aber auch Comenius suchte die Via lucis, und die Pietisten stellten die persönliche Erleuchtung in den Mittelpunkt ihres verinnerlichten Gefühlschristentums. Ungeachtet der neuen Forschungen über die Natur des Lichts (Newton, Huygens) machte das 18. Jahrhundert von der alten Symbolik einen fast exzessiven Gebrauch. Alexander Pope († 1744) dachte nicht nur an die Naturwissenschaften, wenn er in überschwänglichen Versen die wissenschaftliche Erkenntnis mit Gottes Willen zur Erleuchtung in Verbindung brachte:
Nature and Nature’s laws lay hid in night. God said, let Newton be! and all was light.
Philosophisch brachte die Aufklärung kaum Neues gegenüber den griechischen Sophisten, mit denen sie die Abwendung von metaphysischen Spekulationen und die Zuwendung zum Menschen als dem eigentlichen Gegenstand der Erkenntnis teilte. Kulturell und soziologisch drückte sie ein neues Lebensgefühl aus, das die Verlagerung der Diskurse von den Klerikern zur Welt der Laien widerspiegelte und die Frage nach dem Seelenheil in die nach dem persönlichen Glück übersetzte (Peter Gay). Nach Ernst Troeltsch lag die eigentliche Stoßrichtung der Aufklärung im Kampf gegen die Offenbarung, während ihr positiv eine rationale Ordnung des Lebens im Dienst allgemeingültiger praktischer Zwecke vorschwebte; eine „nüchtern zergliedernde Verständigkeit“ und ein „reformlustiger Utilitarismus“ waren erfüllt von einzigartigem Selbständigkeitsgefühl und unbe139
IV Aufklärung und Revolution
grenztem Optimismus. Der geforderte Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und den Kokon aus „selbstverschuldeter Unmündigkeit“ abzustreifen, war nicht angekränkelt vom Bewusstsein historischer Relativität der Vernunft: ihre Sätze galten unabhängig von den sich wandelnden Umständen. Zwar sind sich die Aufklärer nicht einig, wieviel Vernunft vermag: Instinkt irrt nie, tut Dienst zu jeder Zeit, Vernunft kann irren, und sie reicht nicht weit (Pope). Aber sie ist eine vertrauenswürdige Instanz, wohl auch ein würdiges Ziel, dem sich die individuellen Menschen, ebenso wie die Menschheit als Ganzes, umso mehr annähern sollte, als von richtiger Erkenntnis auch ihr Glück abhing. Aufklärung war nicht identisch mit Kritik, und strebte außer religiöser Toleranz und persönlicher Freiheit in der Regel auch praktische Selbstbestimmung an, bürgerliche Selbstentfaltung eingeschlossen. Grundlegend war das Motiv der Aufhebung von Täuschungen und Selbsttäuschungen, von ungeprüfter Fremdbestimmtheit mittels Selbstverständigung – ohne dabei die Instanz Vernuft selbst in Frage zu stellen. Nietzsches Verdikt, wonach ein vollständig erkanntes Phänomen tot, historisch machtlos ist, bezogen radikale Aufklärer gern auf die herkömmliche Religion; die meisten blieben jedoch problemlos „Bürger zweier Welten“. Vernunft ist Erkenntnisquelle und zugleich das wichtigste Instrument menschlicher Emanzipation aus Abhängigkeit, aber ist sie „natürlich“? Vernunft hat nach Ansicht der Aufklärer durchaus mit „Natur“ zu tun: Ausgehend von der grandeur de la réalité positive (Leibniz), soll das nur dunkel gefühlte Gesetz zur Bewusstheit gebracht und damit die Menschen zu „selbstbewussten“, auch sittlich autonomen, Individuen erzogen werden. Die Philosophie war kein Sache reiner Theorie; sie sollte folgerichtig aus dem Hörsaal ins Leben getragen und in den Dienst des allgemeinen Wohls gestellt werden. Kant war sich im Klaren, dass sich einige Bereiche des Lebens, nicht allein Religion und Politik, der „freien und öffentlichen Prüfung durch die Vernunft“ zu entziehen suchen und die Kritik allenfalls in den Tempelvorraum, nicht ins Allerheiligste hereinlassen: zahllose weitere Felder des Wissens und der zwischenmenschlichen Beziehungen leben von Autoritäten und geglaubten Bewertungen, von kritikloser Hinnahme, im Bannkreis des Tradierten, oder von inkonsistenten Umdeutungen des Neuen im Sinn älterer Teleologien. Sehen wir hier ab von der Frage des Mephisto, ob der Mensch nicht von der Vernunft überfordert wird und sie für problematische Ziele einsetzt („er nennts Vernunft und brauchts allein, um tierischer als jedes Tier zu sein“), anders formuliert, ob jener ‚unbegrenzte Optimismus‘, der Glaube an die Perfektibilität des Menschen nicht den Blick verstellt 140
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vor seiner archaischen Triebstruktur, seinen Aggressions- und Machtgelüsten, die den aufklärerischen Vernunftglauben Lügen strafen. Goyas Bild Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer ist auch deutbar als Warnung vor menschenfeindlichen rationalen Konstruktionen, die in Perversion umschlagen: Fluch und Segen des Fortschritts sind untrennbar miteinander verknüpft (L. Kołakowski). Doch sind das spätere Überlegungen. Wesentlich scheint mir eine weitere Frage, die wir schon in den vorigen Kapiteln gestellt haben: inwiefern die Geltung vernünftiger Erkenntnis abhängt von lebensweltlichen Konditionen, also bedingenden Strukturen, die sich den Menschen einer bestimmten Gesellschaft in dieser oder jener Weise aufprägen. Im 18. Jahrhundert war z. B. die Verteilung der Wissensvorräte noch „ständespezifisch“ bestimmt; immer noch entschied die Alltagspraxis durch starre Konventionen und Kommunikationsformen darüber, was die Zeitgenossen wissen, vielleicht auch was sie empfinden konnten. Ein erheblicher Faktor bei der Durchsetzung der Aufklärung war überall der säkulare Verstädterungsprozess mit seinem neu artigen Beziehungsgeflecht und einem allmählichen Übergang von dörflichen Gemeinschaft zur individualistischen Konkurrenzgesellschaft, von der traditio nalen Oralkultur zur städtischen Schriftkultur, mit der sich eine neue Art Lektüre verband, die sich nicht auf Katechismus und Kalender beschränkte. Wenn wir absehen würden vom Stand der Alphabetisierung, dem Interesse an und dem Zugang zu Gedrucktem, der Erschwinglichkeit von Büchern, von Zensurverhältnissen, Priesterausbildung, der Nachfrage nach Bildung und dem Prestige des Gebildeten, würde eine bloß-ideengeschichtliche Behandlung des Themas Aufklärung ein verzerrtes Bild liefern. Die Ideengeschichte ist eingebunden in ein Bedingungs- und Interdependenzgeflecht von Herrschaft, Wirtschaft und Kultur, dessen Funktionieren wir auf keine einfache Kausalitätsformel bringen können. Es genügt nicht, die Aufklärung auf ihre verbalen Formen, etwa gedruckte Texte, zu beschränken; um die Texte zu verstehen, ist es notwendig, ihre Vermittlungen und Blockierungen, ihre gesellschaftliche Relevanz deutlich zu machen, nicht zuletzt die sich wandelnde Mentalität von Erwartungs- und Verhaltensdispositionen. So muss die „Vorwegnahme der Aufklärung“ durch kleine Zirkel von Gelehrten, Künstlern, Ärzten, weltlichen Herren auf ihre wahren Proportionen gebracht und kultursoziologisch relativiert werden: es handelte sich in Wahrheit nur um „epikuräisch angehauchte Inseln des Freidenkertums“ (F. Valjavec) inmitten eines noch weitgehend stillen Gewässers unangefochtener kirchlicher Autorität. Das gilt auch vom theologischen Rationalismus und Deismus der Humanisten, für die oft alle Religionen gleichwertige, wenn nicht gleich korrumpierte Ausdrucks formen einer ‚natürlichen Offenbarung‘ darstellten: Breite Teile der Bevölkerung hätten sie dafür gesteinigt. Auf kleine Minderheiten beschränkten sich vorauf 141
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klärerische Ansätze einer Bibelkritik; die 1658 aus Polen vertriebenen Sozinianer waren der bescheidenen Meinung, die Heilige Schrift sei zumindest teilweise Menschenwerk. Verboten und verdammt wurde das Pionierwerk des französischen Ordensgeistlichen Richard Simon († 1712) Histoire critique du Vieux Testament, der die Bibel noch stärker als Spinoza historisch-kritischen Kriterien unterwarf. Ein breiteres Publikum mochten Ehrenrettungen verfolgter religiöser Außenseiter erreichen (etwa Gottfried Arnolds Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie /1699/ mit ihrer Botschaft einer „wohlthat der Christlichen Tolerantz und freyheit in gewissenssachen“). Für Arnold († 1714), immerhin preußischer Hofhistoriograph, war Ketzerei ein Schreckgespenst, das aus Herrschsucht und Beschränktheit von Kirchenvorständen erfunden wurde: Die Frohe Botschaft ist an keine bestimmte Institution gebunden (nach E. Winter). Von einiger praktischer Bedeutung waren subjektive Frömmigkeitsformen, die dogmatischer Streitigkeiten müde geworden waren, wie A. H. Franckes († 1727) pietistische Stiftungen in Halle. Von dieser praktisch-reformerischen Richtung des Pietismus geprägt war der schon erwähnte Leipziger Jurist Christian Thomasius († 1728), der noch gegen Reste des Hexenwahns ankämpfen musste. Er konnte sich auf Argumente des Amsterdamer Predigers Balthasar Bekker stützen, der die Teufelsangst als heidnisch, jedenfalls als mangelndes Vertrauen in die Macht der erlösenden Liebe angeprangert hatte (1681), also die Vernunft als innerchristliche Tugend einforderte. Ein weiterer Strang seiner kritischen Reformbemühungen richtete sich gegen die immer noch praktizierte Folter als gängiges Instrument des Justizwesens. Weitere Pietisten, etwa das Ehepaar Petersen, trugen zur Rationalisierung religiöser Vorstellungen bei und interpretierten z. B. die Hölle nicht als Ewigkeitsstrafe, sondern eine Art ‚Besserungsfeuer‘ (Kittsteiner) mit eschatologischer Aussicht: Letztlich würden auch die Verdammten dem Teufel entrissen, alles werde von Gott neu gemacht und die Erde geheiligt. Es ging der Aufklärung also nicht einfach um die Herausforderung des herkömmlichen Weltbildes durch die moderne Naturwissenschaft, die für die dem Menschen angeboren Sittlichkeit eher gleichgültig blieb. Die Explosion neuer Erkenntnisse war im übrigen verschieden interpretierbar: der Begründer der Chemie und führende Mann der Royal Society Robert Boyle († 1691) glaubte, dass die Naturkunde die göttliche Allmacht und Weisheit nur besser erkennen lasse; auch Isaac Newton († 1727) befasste sich immer wieder nicht nur mit Alchemie und okkulter Naturphilosophie, sondern auch theologischen Fragen. Anderseits glaubten manche an die Möglichkeit, den experimentierenden Verstand weit über das mathematische und physikalische Gebiet hinaus anwenden zu können. Leibniz’ Ars inveniendi ließ auf Entdeckungen newtonscher Art im Bereich der Ethik, der Justiz und vielleicht sogar der Theologie hoffen. 142
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Trotz des starken Anthropozentrismus kamen dem Bedarf der Zeit auch Hymnen an die Natur entgegen, die diese als ein quasi personifiziertes Wesen verstanden und deren Schönheit und Harmonie priesen. Das Natürliche wurde zumindest für eine schmale Bildungsschicht, die sich der offenbarten Religion entfremdet hatte, zu einer Art neuer Gottheit, dem wahren Sein, einer intakten Quelle von Wahrheit, Moral und Hoffnung (P. Kondylis). Damit funktionierte der Naturbegriff als säkularisierte Theologie mit polemisch-emanzipatorischer Funktion, die praktischerweise unter Berufung auf unmittelbare Evidenz geltend gemacht werden konnte. Leeuwenhoeks Beobachtungen des unendlich Kleinen unter dem Vergrößerungsglas, astronomische Entdeckungen des unendlich Entfernten, physikalische Experimente, die Erweiterung des geographischen Raums und Berichte über die Sitten der sogenannten Naturvölker, schienen ein einziges zusammenhängendes Bild der natürlichen Welt zu liefern. Der Naturbegriff enthielt, wie schon ausgeführt, zugleich Elemente des So-Seins und des Sollens, der Immanenz und Transzendenz in einem, mit der Tendenz, alle Erscheinungen auf Naturgesetzlichkeit zu reduzieren und zugleich das Naturgesetz als ein imperatives darzustellen. Kritiker wandten nicht ganz zu Unrecht ein, der naturgesetzliche Determinismus setze gerade die Freiheit aufs Spiel, die er gegen willkürliche Eingriffe Gottes bzw. seiner Vertreter gewinnen wollte.96 Die eigentlich ahistorische, gegen die bisherige Erfahrung gerichtete Orientierung der Naturbegeisterten setzte nichtsdestoweniger eine folgenreiche historische Dynamik frei, auch ein neues Fortschrittsbewusstsein im Sinn erweiterten Wissens und Könnens, abbröckelnder Vorurteile und verblassender außerweltlicher Wertvorstellungen. Gott könne die Natur, eine über alle Streitigkeiten erhabene Instanz, nicht willkürlich ändern; deshalb sind nach Pierre Bayle († 1706) „alle moralischen Gesetze ohne Ausnahme jener natürlichen Gerechtigkeit unterworfen, die jeden Menschen erleuchten“ – eine polemische Behauptung, die mit Bayles eigentlich pessimistischer Ansicht von der Schwäche menschlicher Vernunft gegenüber Vorurteilen und Leidenschaften in einem spannungsreichen Verhältnis stand. Der Sohn eines im gegenreformatorischen Kerker ums Leben gekommenen hugenottischen Predigers aus den Pyrenäen, zweimal konvertierter Jesuitenzögling und Philosophielehrer am Gymnasium in Sedan, bekam seinen ersten Ärger 1680, wegen eines Kommentars zur Erscheinung eines Kometen, den er spöttisch aus der Sphäre übernatürlichen Bedeutungen unter die erklärbaren Naturdinge zurückstufte. Die Vertreibung aus seiner französischen Heimat spülte Bayle auf den großen europäischen Flüchtlingsarchipel, doch fühlte er sich im frankophonen Milieu von Rotterdam nicht in der Fremde. Das Schockerlebnis der konfessionellen Säuberungen unter der unheilvollen Trias „une foi, une loi, un roi“ ließ ihn zum hartnäckigen Kämpfer gegen religiösen Wahn und Dragoner als Glau143
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bensboten werden. Bayles Überzeugung, wonach jeder Zwang in Glaubenssachen verbrecherisch sei, führte ihn schließlich zum Bruch auch mit allzu eifrigen Glaubensgenossen, die ihm, wie ihre athenischen Vorgänger Sokrates, vorwarfen, die Jugend zu verderben. Bayle zog sich zurück und verschärfte seinen cartesianischen Grundsatz, man könne und müsse an allem zweifeln: de omnibus dubitandum. Das Ergebnis war das überaus erfolgreiche Historische und kritische Lexikon, dessen erster Band 1695 erschien – eine unsystematische Sammlung von schließlich über 2000 subjektiv gehaltenen Kritiken, Biographien und Charakterskizzen, mit der zentralen These: Jede Handlung, die gegen das ‚Licht des Gewissens‘ verstößt, ist von Übel. Bayles historische Kritik beansprucht einen gleichen, wenn nicht höheren Evidenzgrad gegenüber den geometrischen Wahrheiten, doch ist der menschliche Verstand „ein Prinzip der Zerstörung“ und die Einsichten des Gewissens auch nicht das tatsächlich bestimmende Prinzip des menschlichen Handelns; schon gar fehlt dem Skeptiker die säkulare Glaubensgewissheit, dass alles, was dem Gewissen und der Vernunft widerspricht, vor diesem unaufhaltsam vorrückenden Licht tatsächlich historisch zurückweicht. Das Dictionnaire, das sich an ein Publikum wandte, das „Geist besitzt, ohne Gelehrte zu sein“, geriet, ähnlich wie Gottfried Arnolds zeitgleiche Kirchenund Ketzerhistorie, die die „Historien“ seit dem Ende der Urgemeinde aus lauter „Fehlern, Torheiten und Sünden“ bestehen ließ, zu einer einzigen Anklageschrift gegen Irrtümer, Absurditäten, Betrügereien und Verbrechen, die es sorgfältig auflistet und nachdrücklich der Erinnerung empfiehlt. Vor der Gewissensinstanz konnten Eroberer, wie Alexander der Große, so wenig bestehen, wie die europäische Expansion nach Übersee. Aber woher nahm Bayle die Souveränität seiner vermeintlich immergleichen Gewissensinstanz? Jeder Diskurs, und gerade der aufklärerische, hängt ab von sozialen Vorgegebenheiten, von „Logiken des Alltags“, die auch das Psychische formen: Das Ich-Gefühl hat immer damit zu tun, wie ich konkret behandelt und zur Rechenschaft gezogen werde, was für Wertvorstellungen mir vermittelt worden sind. Das Gewissen des 18. Jahrhunderts erscheint als ein lumen naturale, ein göttlicher Instinkt, ein ins Menschenherz geschriebenes Gesetz und unbestechlicher Richter. Aber das war Ideologie, ebenso wie das von Leibniz ausgehende Streben aller Dinge nach Vollkommenheit; auch die übrige Philosophie Bayles stützt diese Sicherheit wenig. Auch die Vernunft, sagt er, könne sich ihrer Behauptungen nie ganz sicher sein, sie kann das absurde Schauspiel der Welt weder ganz verstehen noch sinnvoll eingreifen. Bayles Bild der Vergangenheit war wenig ermutigend, und eine weniger trostlose Zukunft wagte der Skeptiker nicht zu entwerfen; es mochte, wie bei Arnold, immer die gleiche Tragödie, nur mit neuen Akteuren, werden. Von der obersten 144
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Instanz waren kaum Eingriffe zu erwarten, der Himmel werde sich wegen eines so jämmerlichen Geschöpfes, wie es der Mensch ist, nicht in Unkosten stürzen. Im Hinblick auf die herrschenden Leidenschaften und infolge unvermeidbarer Sympathien und Antipathien der Chronisten war für Bayle die erzählte Geschichte eine fragwürdige Instanz, „ein Bogen Papier voll falscher Kniffe“ (P. Hazard). Der Zweifel bot ein gutes Erkenntnisprinzip, aber wohl keine ausreichende Lebens orientierung. Gott ist für Bayle das höchste Gut im Rahmen einer natürlichen Ordnung, aber wir haben gewiss auch die Freiheit, gegen diese Ordnung zu verstoßen. Gegen die Religion habe der Verfasser des Dictionnaire zwar keine einzige Zeile geschrieben, vermerkte sein Bewunderer Voltaire, aber auch keine Zeile, die nicht zum Zweifel führt. Schon früher galt eine Institution wie die Londoner Royal Society als Beweis für historischen Fortschritt, und zwar über den engeren Bereich der Naturwissenschaft hinaus: einen Fortschritt, der ausging von der Überlegenheit der mathematisch-experimentellen Methode gegenüber antiken wie scholastischen fixen Ideen. Sie sollte die Philosophie „wieder in menschliche Sicht und Praxis herabholen“, und dieser produktive Vernunftgebrauch werde nicht verlorengehen, solange Menschen Augen und Hände benutzen. – Wie der Außenseiter Hobbes, so verkündete auch der Historiker der Royal Society Thomas Sprat († 1713) eine Absage an die herkömmlichen spekulativen Wissensbereiche und an die „pestilenzialischen Konsequenzen von Begeisterung und parteiischem Eifer“. Der Naturwissenschaftler nimmt sich selbst zurück, verzichtet nicht nur auf Metaphysik und alte Legenden, sondern auch auf Phantasie und Gefühle; die eigene Begeisterung für angewandte Naturwissenschaft und Erfindungen jeder Art war davon ausgenommen. Von diesen versprach er sich das Ende des überflüssigen Streits um Worte: Mechaniker würden philosophische Köpfe bekommen und Philosophen mechanische Hände – eine Vorwegnahme der technischen Zivilisation, lange bevor diese zur Wirklichkeit wurde. Anders als im katholisch-absolutistischen Frankreich, mussten in der relativ offenen englischen Gesellschaft derartige Lobreden auf die experimentelle Wissenschaft nicht als Kampfansage des Lichts gegen die herrschende Finsternis, rationaler Erkenntnis gegen Aberglauben, erscheinen. Lockes Schüler Shaftesbury († 1713) bekämpfte zwar auch Aberglauben und Intoleranz, aber im Namen einer in Gott begründeten Ordnung der Dinge, der ein natürliches Gefühl von sich aus entgegenkommt: Der voll ausgebildete Mensch lebt in Einklang mit sich und dem Ganzen. Weil es aber zugegeben auch unnatürliche Neigungen gibt und überdies einzelne Neigungen durch Übersteigerung ins Verderben führen, hielt Shaftesbury das Gleichgewicht der Gefühle und die Achtung der Gesellschaft für ein wichtiges Regulativ: Sittlichkeit ist nach seiner Auffassung erweiterte Selbstliebe, und findet ihre Grenzen in Sympathie und Ehrgefühl. 145
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Lord Bolingbroke († 1751), aus politischen, nicht philosophischen Gründen verfemt und nach Frankreich geflüchtet, ging in seinen Gedanken noch über Shaftesburys natürliches Wohlwollen hinaus und ließ nicht nur Selbstliebe und soziale Passionen im Gehorsam gegenüber dem Naturgesetz zusammenfallen, sondern schränkte auch die Möglichkeit einer Erkenntnis Gottes auf Erkenntnis der Natur ein. Der gestürzte Kriegsminister, der sich auch über den Niedergang von Religion und Regierungen durch Aberglauben, Tyrannei, falsche Erziehung und Misstrauen zur Vernunft nonkonforme Gedanken machte, wurde von Georg I. begnadigt, seine Schriften erschienen sicherheitshalber erst posthum. Shaftesburys und Bolingbrokes Ideen variiert das überaus erfolgreiche Lehrgedicht Alexander Popes, Essay on Man (1733/34), eine beliebte Lektüre noch Immanuel Kants. Auf den ersten Blick ist Popes Denken von der Harmonie natürlicher Gefühle für das Gute und Schöne weit entfernt. Der Mensch ist „born but to die and reasoning but to err“, beherrscht von Selbstliebe, die seine Vernunft nur unvollkommen zügelt. „All unser Denken wächst aus Hochmut nur“ und es
schenkt Natur uns – dankbar wolln wir sein – die Tugend eng mit Laster im Verein
– ein unsicherer Wegweiser, aber vielleicht verlässlicher als die alte Teleologie: Des Königs Robe wärmte einst den Bär. Der Mensch behauptet: Alles ist für mich. Der Mensch dient mir! ruft stolz der Gänserich. Das Popes Nachbarn St. John, also Bolingbroke, gewidmete Werk enthält eine versteckte kleine Geschichtsskizze, die Verlust und Wiedergewinnung der natürlichen gottgewollten Harmonie zum Thema hat. Pope bestreitet, neue Wege zu gehen: Kein neues Licht – das alte wurd‘ entfacht, lautet seine Absage an utopische Fortschrittsprojekte und müßigen Streit um Glaubensfragen oder Regierungsformen. Sein scheinbar einfaches Rezept ist die wohlverstandene Eigenliebe und der natürliche Sozialtrieb; statt falschen Heldentums und absurder Sektenvorurteile empfiehlt er die Erkenntnis der großen Kette der Natur, deren Bestandteil, nicht unbedingt Zweck, wir sind. Pope kommt Mandevilles Sarkasmen von der positiven Wirkung der Laster manchmal sehr nahe, wenn auch in unzulässiger Verharmlosung97: 146
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In faith and hope the world will disagree but all mankind’s concern is – charity.
Die fehlende Zensur, die weitgehende Toleranz und der alles durchdringende Pragmatismus ließen in England wenig militanten Säkularismus aufkommen, eher die Hoffnung, das Vernünftige, zumindest den pursuit of happiness, innerhalb der bestehenden Institutionen und Spielregeln zu erreichen. Die Kommerzialisierung der gesellschaftlichen Beziehungen, die praktische Orientierung durch eine verbreitete Zeitungslektüre und das übliche Commonsense-Denken kamen einer allgemeinen Zweckdienlichkeitsphilosophie („whatever is expedient, is right“) nahe. Ausländische Beobachter wollten in zahlreichen britischen Regelungen und sozialen Haltungen schon die Herrschaft aufgeklärter Wertvorstellungen erblicken.98 Viele Aufklärer auf dem Kontinent wurden so zu Verkündern des englischen Evangeliums, und nicht nur Diderot erklärte: Ohne die Engländer würden Vernunft und Philosophie noch ganz in den Kinder schuhen stecken. In Frankreich hatte Ludwig XIV. († 1715) die cartesianische Philosophie verboten, wenngleich er in Form absolutistischer Staatsgeometrie eine gewisse Parallele zu ihrer selbstherrlichen rationalistischen Alleinherrschaft praktizierte (E. Friedell). Die katastrophalen Folgen des staatlichen Apriori, sei es des Vereinheitlichungs- und Regulierungswahns, sei es die der europäischen Hegemonialpolitik waren noch nicht in vollem Umfang sichtbar geworden, taten dem Selbstgefühl und der Eitelkeit des Grand Siècle jedenfalls keinen Abbruch. In Fontenelles frühen Dialogues des morts (1683) äußert ein fingierter Montaigne noch skeptisch, wie Vögel immer wieder in Fangnetze flögen, so hätten auch die Menschen nichts aus ihrer Geschichte gelernt.99 Doch neigte man in Paris eher zu Panegyriken über die Gleich- oder Höherwertigkeit der Modernen gegenüber den Alten. Fontenelle († 1757) wagte die These, die antiken Orakel beruhten meist auf Priesterbetrug, aber auch die alten Philosophen verdienten nicht die unkritische Bewunderung, die ihnen entgegen gebracht werde. Einen Durchbruch hätte Fontenelles „evolutionistische“ Vermutung bilden können, die amerikanischen Ureinwohner, hätte es ihnen die Zeit gestattet, wären zu gleich rationalem Denken wie die Griechen gelangt. Das war gegen das noch immer herrschende Dogma von der Einzigartigkeit der antiken Klassiker gerichtet und enthielt eine das 19. Jahrhundert vorwegnehmende Hypothese. Sie passte jedoch in die Überzeugung der Epoche von der Natürlichkeit wahrer Kultur. Das Vertrauen des Königs und seiner jesuitischen Berater zum rationalen Denken und zur natürlichen Inklination der Völker zu diesem war weniger ausgeprägt; die Academie der Wissenschaften, 1666 ins Leben gerufen, war ursprünglich kollegial konzipiert und an Bacons Haus Salomonis orientiert gewesen; nach 1700 147
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wurde sie hierarchisiert, strikt gelenkt und überwacht, das Journal des sçavans zeitweise eingestellt. Sogar private Lesungen von Descartes wurden verboten und dem Hofhistoriker de Mézeray die königliche Pension gestrichen, sobald er mehr Selbständigkeit im Urteil zeigte, als die Atmosphäre allgemeiner Lobhudelei ertrug; ausländische Mitglieder der Akademie, wie Ch. Huygens, hielt es nicht lange in Frankreich. Dennoch erwies sich die Indienstnahme durch den Staat und die Umformung nach dem Vorbild der französischen Ständegesellschaft nicht unfruchtbar – durch Privilegierung und Förderung, aber vor allem Disziplinierung der Wissenschaftler, ihre praktischer Orientierung an wissenschaftlich-technischen Aufgaben: medizinischen, astronomischen, physikalischen, chemischen, metallurgischen, nicht zuletzt militärischen (die Ecole Royale du Génie in Mézières, die Ecole royale des ponts et chaussées, die Ecole des mines etc.); auch die an die königlichen Manufakturen angeschlossene Labors waren ein Beispiel für bewusste staatliche Interventionspolitik, von der ein erheblicher Modernisierungsschub ausging. Auch für den Märchensammler Charles Perrault († 1703) war der augusteische Glanz von Versailles, das vermehrte Wissen und Können der Neuen Anlass zur Vermutung, nach Zeiten der Barbarei und Unwissenheit, in denen der Fortschritt unterirdischen Flüssen glich, bringe die Menschheit unter günstigen Umständen alles Verlorene wieder hervor und lerne aus Irrtümern und Sackgassen der Vergangenheit noch hinzu. Die organizistische Analogie zu den Lebensaltern des Menschen wird in Bezug auf die Gegenwart ausgeklammert: Die Fortschritte sind definitiv („les hommes ne dégénereront jamais“.)100 Andersartige Fortschritttskriterien standen dem eher an schönen Künsten als an Naturwissenschaft interessierten Perrault nicht zur Debatte, und praktische Fragen, etwa nach der gesellschaftlichen Relevanz des Wissens einer schmalen Geisteselite, oder nach den Kosten des Versailler Glanzes, kümmerten ihn ebensowenig wie die, was nach Erreichung des Gipfels von Vernunft und Geschmack weiter geschehen würde; ja er äußerte, bei den Nachkommen werde es wohl nicht viel zu neiden geben. Dem etwa neunzigjährigen ‚ewigen Akademiesekretär‘ Fontenelle soll einmal eine besonders reizende junge Dame vorgestellt worden sein. „Ich bin untröstlich“, scherzte der alte Charmeur, „dass ich nicht mehr siebzig bin.“ Trotzdem war er überzeugt davon, dass die größere Erfahrungsbasis (und die leichtere Übertragbarkeit von Gedanken) einen objektiven Positionsvorteil der Späteren ausmache. Es ist nach Fontenelle immer derselbe Geist der Menschheit, der sich während der Zeit „entwickelt und verbessert“ hat: Zwar ändert sich dabei das menschliche Herz überhaupt nicht, aber man kommt aufgrund einer langen Reihe von Irrtümern der Vorgänger zu einer unendlichen – zumindest wissenschaftlichen – Reife.101 148
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„Alles strebt zur Perfektion“, hatte auch Leibniz († 1716) gelehrt. Er meinte damit nicht nur den Ausgang der menschlichen Vernunft aus dem Dunkel verworrener Perzeptionen zur Klarheit gültiger Gedanken: Jede Monade schließt die ganze Unendlichkeit in sich, und gelangt nach eigenem Gesetz zu ihrer spezifischen Vollkommenheit. Ohne eine Basis angeborener Ideen und vorangegangener „Apperzeptionen“, argumentierte Leibniz gegen Lockes Sensualismus, könnten wir mit der Flut auf uns einstürmender Sinneseindrücke nichts anfangen. Leibniz’ Philosophie war alles andere als historisch angelegt; doch gewann durch sie der Gedanke eines unendlichen Erkenntnis- und Perfektionsprozesses auf der Grundlage vorhandener Einsichten (und einer einheitlichen Menschheitsaufgabe) viel an Plausibilität. Nichts geschieht auf einmal; die Natur macht keine Sprünge, lehrte er, aber wir würden in Philosophie wie Politik sehr irren, übersähen wir die unmerklichen Fortschritte. Als der irische Konvertit John Toland 1697 den Primat der Modernen vor den Alten auch auf die Interpretation der Bibel anwenden wollte, entgegnete Leibniz, die Gesetze des Fortschritts (der ‚Moderni‘) bezögen sich nur auf die Wissenschaften, nicht aber auf die Religion. Leibniz war, wie Bayle, besessen von Neuigkeiten aus dem Reich der Wissenschaft, aber der französische Skeptiker war vorsichtiger geblieben gegenüber der Metaphysik und Menschen, die „zu Fanatikern werden, weil sie allzu eifrig gewisse Meinungen aufsaugen“ und, gebannt von einem Übel, sich geblendet ins nächste stürzen. Das bewahrte ihn vor Zukunftsprognosen und Grenzüberschreitungen zur Politik. Seine kritische Tätigkeit erstreckte sich auf fast alle Gebiete des Wissens; Kritik und Vernunft werden geradezu identisch, indem der Kritiker sich als Anwalt der Vernunft fühlt (R. Koselleck).102 Bayles Republik der Vernunft und Wissenschaften beschränkte sich konsequent auf den freien Binnenraum einer kritischen Minderheit; immerhin konnte der „Bürger der Welt…im Dienst der Wahrheit“ vom Ertrag seiner Schriften leben – beides die Berufsbeschreibung einer neuen Spezies, des modernen Intellektuellen. Es war zugleich auch Indiz für ein Publikum mit Nachfrage nach Kritik an den traditionellen Meinungen. Das hatte mit dem Niedergang und schließlichen Scheitern der Politik Ludwigs XIV. zu tun. Ältere Moralisten, wie La Rochefoucauld, hatten sich begnügt, in immer neuen Wendungen die offiziell verkündete Tugend als puren Schein und Maske der Eitelkeit zu entlarven: der Eigennutz spricht alle Sprachen und spielt alle Rollen, sogar die des Uneigennützigen, lautet einer seiner Aphorismen. Insbesondere der Hof, sein Zeremoniell, sein System aufwendiger Vergnügungen, galt als Trugbild, als Unterwerfungsritual und falsche Fassade, als Grab echter Gefühle (La Bruyère). In Fénélons Erziehungsroman Télémaque (1699) wird die glückliche Einfachheit, Bedürfnislosigkeit und Gleichheit des Fabellandes Baetica als Naturzustand der Weisheit gepriesen; seine Einwohner verwerfen Eroberungskriege, aber auch die Schifffahrt, und verachten die unglücklichen, verderb149
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ten Nationen, die Sklaven falscher Bedürfnisse geworden sind: Hier haben wir ein echtes alternatives Vollkommenheitsideal, und das 18. Jahrhundert wird noch unzählige weitere utopische Gegenbilder liefern. Fénélon, Erzbischof von Cambrai und Erzieher des Thronfolgers (der zu früh starb, um mit der Kulturkritik seines Lehrers Ernst zu machen), glaubte an eine Respublica Christiana, die einen Krieg um französische Hegemonie nicht wünschenswert erscheinen ließ. Gegen die ruinöse Eroberungspolitik Ludwigs hatte der Abbé de Saint-Pierre 1713 ein noch weit radikaleres Projekt eines europäischen Völkerbundes und ewigen Friedens vorgelegt: „Der Krieg wirft die bestverwalteten Staaten in die Barbarei zurück.“ Seine Kriterien waren Nützlichkeit und Glück: in diesem Sinn war ein Baudenkmal wie Notre Dame von geringem Wert gegenüber einer gewöhnlichen Brücke. Eine nur im Frieden mögliche Vervollkommnung der Bildung und Erziehung würde die großen Männer seines immer noch kindlichen Zeitalters gegenüber den kommenden wie Schulbuben erscheinen lassen.103 Das war zweifellos ein Fortschrittsprogramm; trotz des Appells ans wohlverstandene Eigeninteresse der Staaten ein von den Politikern nur belächeltes. Vielleicht wäre sein Einfluss größer gewesen, hätte er über einen besseren Stil verfügt, meinte J. B. Bury ironisch. Mit ihm griff die französische Aufklärung auf das Feld der Politik über. Der Marquis d’Argenson († 1757), zeitweise sogar Außenminister Ludwigs XV., modifizierte den scheinbar weltfremden Plan Saint-Pierres realpolitisch in Richtung einer französischen Schiedsrichterrolle, einer Pax Gallica, die französische Machtansprüche und die europäische Friedensidee enger verkoppeln wollte: man müsse die Europäer, vor allem die verhassten Habsburger, notfalls zu Frieden und Glück zwingen. Aber auch solche Anbiederung bei der Macht half nicht, den Abstand zwischen Vernunft und politischer Wirklichkeit zu überbrücken. Ebensowenig praktikabel erwies sich d’Argensons Idee einer Reform der Monarchie auf der Grundlage selbstverwaltender magistrats populairs; ein übertriebener Zentralismus habe die Untertanen, die „zahlreichsten und fleißigsten Staatsbürger“, ins Elend gestürzt. Voltaire verspottete den Mitschüler am Pariser Jesuitenkolleg wegen seiner mangelnden Gewandtheit als „d’Argenson-la bête“; das von ihm empfohlene Königtum auf breiter bürgerlicher Grundlage blieb – kursierendes – Manuskript. Im Gegensatz zum colbertistischen Dirigismus, prägte der Anglophile das Prinzip des Laissez-faire, das sowohl für die Landwirtschaft, wie für die Manufakturen, ja sogar den Außenhandel, gelten sollte. Überwachung und Reglementierung seien kontraproduktiv, deshalb sollte man „alles bereinigen, damit die Menschen frei über ihre Interessen beraten“ könnten. Das war noch kein völliger Verzicht auf staatliche Intervention, auch kein uneingeschränktes Votum für bürgerlichen Wohlstand als Motor der Zivilisation, nur ein aufblitzen150
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der Einfall, der aber auf fruchtbaren Boden fiel. Eine konsistente Theorie hat d’Argenson nicht vorgelegt und auch an einen längerfristigen Fortschritt glaubte der klassisch gebildete Minister noch kaum: „Die Staaten haben ihre Zeiten des Aufstiegs und des Verfalls. Wer würde einstmals gesagt haben, dass die Römer das werden würden, was, die Italiener heute sind?“104 Die Vernunft formte sich häufig als Kritik am Bestehenden, und das hieß konkret, dass die über ein halbes Jahrhundert währende Ära Ludwigs XIV. die Negativfolie abgab für die Diskurse der Literaten, der Salons und der philosophes. Montesquieu († 1755) war kein Doktrinär, aber doch der Überzeugung, dass die Gesetze eines Landes mit den Sitten und Bedürfnissen der jeweiligen Nation übereinstimmen müssten. Das war unter Ludwig nicht der Fall, aber der Vernunftmonarchist glaubte an keine Totalveränderung, sondern an das Prinzip der Mäßigung und Selbstkontrolle. Der bekannteste seiner Einwände galt der Konzentration königlicher Macht: in der Nachfolge Lockes erkannte er die Trennung der Gewalten und den Wettbewerb der Staaten als Grundlage europäischer Freiheit. Schon zuvor hatte er in seinen Lettres persanes (1721) die Herrschaft der ‚Derwische‘ als Ursache der Lethargie im Lande angeprangert. In einer weiteren – in den Salons beklatschten – augenzwinkernden Parallele zum zeitgenössischen Frankreich wurde der Niedergang Roms auf dessen ständige Expansion zurück geführt: die immer größeren Ausmaße des Reiches hatten den Römern nicht zuletzt den Sinn für Freiheit und Gesetz genommen (Considérations sur les causes de la grandeur des Romains… /1734/). Montesquieu war kein Verkünder einer übergreifenden Wahrheit, aber seine Bücher waren voll explosiver Gedanken. Der Geist der Gesetze (1748), sein lange vorbereitetes Hauptwerk, rühmt zum Beispiel den Handel als Motor der Völkerverständigung, denkt aber nicht daran, das englische Vorbild zum Patentrezept zu erheben: Frankreich sei von Natur kein Handelsland, und der Adel insbesondere solle die Hände von kommerziellen Dingen lassen. Der Handel ist nicht nur minderwertig gegenüber republikanischer Tugend, sondern unter Umständen gefährlich, wie die Niederlage der Handelsrepublik Karthago gegenüber Rom beweist. Diejenige Regierung sei vorzuziehen, die ihre Ziele zu möglichst geringen Kosten erreicht und sich nicht von den bestehenden Sitten ihres Volkes entfernt.105 Das war eher konservativ und relativistisch gedacht: Der Herrscher spart M ittel der Unterdrückung, wenn er sich ans Gewohnte hält, was immer das ist. Montesquieus Engagement für Frieden und Freiheit war subjektiv von Antipathien gegen Kardinal Mazarin geleitet, doch argumentierte er mit den angeblichen dispositions civiles des gesitteten Europa, die die Vorherrschaft einer Nation über die anderen unerträglich erscheinen und den Ruin der einen zum Ruin auch der anderen werden lassen. Sicher war er sich jedoch in seiner Diagnose des „fortgeschrittenen“ Europa keineswegs. 151
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Auch nach innen ging es ihm relativistisch um die Erhaltung der Vielfalt, die sich gegenseitig kontrolliert und korrigiert. Dieses Gegen- und Miteinander war, wie man seit den konfessionellen Bürgerkriegen wusste, nicht ungefährlich, aber der Preis der Freiheit war in Kauf zu nehmen gegenüber der Friedhofsruhe des Despotismus. Zweifellos enthielt das Werk Montesquieus viele Elemente einer liberalen Programmatik, aber sie fügten sich – schon wegen seines Milieudeterminismus106 – immer noch zu keiner historischen Fortschrittskonzeption zusammen. *** All diese kritischen Ansätze waren nicht durchwegs „aufklärerisch“ im engeren Sinn, und schon gar nicht „bürgerlich“. Man hat, nach den Worten Peter Gays, dem Bürgertum zu viel angehängt, als dass die allzu breite Kategorie noch für Erklärungen taugte. Der zum Klischee gewordene Begriff stammt, wenn man von der Sittenpredigt der Kirchenmänner absieht, häufig aus der projektiven Hassperspektive von Künstlern, die Eigennutz, Habgier, Selbstsucht und Borniertheit (oft die angebliche ihrer Väter!) anprangerten. Die tatsächliche Vielfalt der Mittelschichten lässt sich in keinen Idealtypus zwängen, gleich ob wir ihn negativ akzentuieren oder eher mit positiven Eigenschaften besetzen: Fleiß, Pünktlichkeit, Nüchternheit, rationale Lebensführung und Familiensinn. Wir pflegen beim Aufkommen von neuen Wertvorstellungen, wie: individuelle Leistung gegen Geburtsprinzip, Argumente statt Autoritäten, „savoir faire“ statt „savoir vivre“, „negotium“ statt „otium“, nach sozialen Strukturwandlungen zu fragen, die hinter solchen Mentalitätsverschiebungen und Akkulturationsprozessen stehen. Aber das Chercher le bougeois (E. Labrousse) geht dabei meist in die Irre: die wenige echte Bourgeoisie im alten Frankreich war in der Regel gut angepasst an die bestehenden Strukturen und verschwindend klein im Vergleich zu der Masse der traditionell lebenden und denkenden Handwerker und Ladenbesitzer: Nirgends fanden die Sozialhistoriker jene „dynamische, selbstbewusste Klasse, die die Industrialisierung vorantrieb“ (Robert Darnton) bzw. im Konflikt mit der Aristokratie stand. Natürlich gab es zahlreiche Diskurse um „bürgerliche“ Werte, betont nicht-höfische Literatur, sozialkritisches Theater, Lob des nützlichen Mittelstandes, aber der kurzschlüssige Bezug auf eine sie tragende ‚progressive Klasse‘ erweist sich als recht problematisch – es sei denn, man nimmt eine noch nicht stattgefundene Entwicklung vorweg und projiziert diese in die Vergangenheit. Auch das andere Zeichen der Zeit, die antikirchliche Stimmung und Agitation, scheint, zumindest für Fraunkreich der ersten Jahrhunderthälfte, nur geringe soziale Breitenwirkung vorzuweisen. Man hat einen Bildungsschub beim franzö152
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sischen Klerus und niederen Adel festgestellt und eine zunächst stagnierende Buchproduktion sowie einen überraschend hohen Anteil religiöser Literatur in den Privatbibliotheken; zugleich eine immer noch steigenden Zulauf beim Priesternachwuchs, insgesamt eine ungebrochene Barockfrömmigkeit aller Klassen. Noch im späten Ancien regime bestanden die Bibliotheken der Handwerksmeister größtenteils aus religiösen Erbauungsschriften (Lüsebrink); die eigentliche Aufklärung drang also nicht bis zu ihnen hinab. Die zunehmende Alphabetisierung in den Jahren 1730–60 ging dabei auf den Klerus zurück und sollte einer verstärkten Lektüre religiöser Schriften dienen; zur Aufgabe des Klerus zählte aber auch die Bekämpfung des Aberglaubens und archaischer Sitten. Man hat um 1750 eine Kampagne gegen die Gefahr einer verweltlichten Bildung festgestellt: allein für 1740–69 wurden in Frankreich 370 Apologien des Christentums gezählt. Ihre Notwendigkeit signalisiert wohl eine veränderte Situation, die nicht zuletzt ein steiler Anstieg der Buch- und Zeitschriftenproduktion charakterisiert, die sich in der zweiten Jahrhunderthälfte immer mehr steigert, und durch ein Netz von Logen, Provinzakademien, Lesegesellschaften und weiterer Multiplikatoren ein relativ breites Publikum erfasst. Noch sind wir aber nicht so weit. Wie ist es schließlich mit der sogenannten Ungeschichtlichkeit der Aufklärung? Ernst Troeltsch hat dazu schon 1897 bemerkt, das könne nur heißen, dass die Aufklärer die Geschichte nicht um ihrer selbst willen pflegten, sondern um der aus ihr zu entnehmenden Beweise oder Angriffsmöglichkeiten – meist in negativer Abhängigkeit von christlichen Traditionen. So spottete Voltaire, nach Meinung Bossuets sei „alles, was sich einst in den großen Reichen der Welt ereignete, nur zur Belehrung der Bewohner Palästinas“ geschehen. Babylonier, Perser, Römer, Türken „tauchen nur auf, um diese liebenswerten Leute zu strafen“. Bossuets biblische Triumphstraße war nicht wirklich universal und musste durch Erkenntnisse aus der ägyptischen, chinesischen, arabischen Kultur relativiert werden; aber lässt sich Bedeutsamkeit, lässt sich ein gültiges Kriterium zur Beurteilung von geschichtlichem Sinn letztlich anders als durch subjektive Wahl finden?107 Hier bot sich erst einmal die traditionelle heilsgeschichtliche Struktur zu Kritik und Umdeutungen an. Es war nicht schwer, den Sündenfall aus dem Anfang der Geschichte wegzuspotten und sich einen anderen Urzustand zu konstruieren – sei es eine Gesellschaft ohne Staat und Privateigentum, sei es ein Südseeparadies mit sexueller Freizügigkeit (für Männer), oder auch nur die Vorstellung einer allgemein-verbindlichen „natürlichen“ Moral, natürlicher Religion und natürlichen Rechts, von denen nur Bosheit und Pfaffenbetrug die Menschen abweichen ließen. Von daher war aber eine positive, nicht nur polemisierende und enthüllende Geschichtsbetrachtung kaum weniger schwierig, als von der Position des rein deduktiv-analytischen Wahrheitsbegriffs der Cartesianer. 153
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Für Voltaire († 1778) war, schon aus Bedürfnis nach Provokation, die Versuchung groß, ein mechanistisches Geschichtsbild aus den causes physiques zu konstruieren: Die Realgeschichte bestimmt die Sollvorstellungen („Le physique gouverne toujours le moral.“) Aber ein solcher Reduktionismus gab keinen passenden Hintergrund ab für den fortschreitenden Kampf der Vernunft gegen die Unvernunft, um den es Voltaire zu tun war; ein Panorama aus immergleichen Kräften musste einen entmutigenden Eindruck hinterlassen. Andererseits wäre es wohl nach dem Erdbeben von Lissabon 1755 frivol gewesen, eine unmittelbare göttliche Lenkung der Welt behaupten zu wollen. Der Essai sur les moeurs, 1740 begonnen, ab 1756 als Universalgeschichte konzipiert, gleicht einer Profantheologie mit einem ewigen Kampf zwischen Licht und Finsternis als Inhalt. Seine die judäo-christliche Tradition ridikülisierende Grundposition ermöglicht die gleichberechtigte Einbeziehung der außereuropäischen Zivilisationen, wenngleich in erster Linie zu polemischen Zwecken. Die eine Moral und die eine Vernunft scheinen für Voltaire nicht das Ergebnis einer langen Kulturentwicklung zu sein, sondern sind immer schon potentiell vorhanden; seine histoire raisonnée ist auf den ersten Blick kein sinnvoller Lernprozess, sondern gewissermaßen eine Naturlehre, eine histoire naturelle, wie sie zu gleicher Zeit der große Naturwissenschaftler Buffon lehrte. Jedenfalls sucht und findet Voltaire überall nur seine eigenen, scheinbar zeitlosen Vorstellungen, ebenso wie die ewig gleichen Leidenschaften und Laster. Gerade das macht ihm die Einheit der Menschheit aus, aber vielleicht auch eine gewisse Chance, aus den Fehlern anderer zu lernen. Die Aufmerksamkeit aller Zeiten lohnten nach wie vor in erster Reihe die Wissenschaften, Künste und Gesetze – das, was in Voltaires Augen Anlass zu Stolz und Genugtuung seiner eigenen Zeit bot; Anlass zu selbstgewissen Blicken über seinen zeitlichen und geographischen Rahmen hinaus, ein Normenfilter, durch das er die vielfältigen Erscheinungen passieren und als ‚barbarisch‘ hängenbleiben ließ. Wie stark sich das Zeitalter der lumières, wie weit sich der Ehrgeiz der Könige und der Aberglaube der Massen von den sektoralen Fortschritten ihres Jahrhunderts durchdringen ließ, bleibt bei Voltaire unsicher: der philosophe ignorant, als der er sich stilisierte, weiss von der Irrationalität großer, von der Vernunft kaum berührter Bereiche, und die große Zukunftsperspektive ist seine Sache nicht: Er empfiehlt weise, „den eigenen Garten zu bestellen“ – was den Kampf des Philosophen gegen das organisierte Infame einschließen mochte.108 Gerade aus dem Bewusstsein kultureller Verfeinerung der eigenen Zeit war ihm allerdings das antike Denkmodell des künftigen Niedergangs wahrscheinlicher als der progressus in infinitum. Einen anderen Ansatz bietet im „Candide“ der Greis in seiner Pomeranzenlaube; er hatte sich sein Lebtag nicht um die große Politik gekümmert, sondern 154
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immer nur seine Früchte in der Stadt verkauft: „Arbeit verscheucht die drei schlimmsten Feinde von uns, die Langeweile, das Laster und den Mangel.“ Das war scholastischen Arbeitsbegründungen nicht unähnlich, und doch formulierte Voltaire mit der Kategorie ‚Arbeit‘ vor allem eine Absage an die herkömmliche Geschichte der großen Eroberer als im Grunde Schädlingen der Menschheit; man konnte darin auch die Idee des produktiven Schaffens und Machens erblicken, und die Verbesserung der Lebensverhältnisse als nicht nur kognitiven, sondern praktischen Maßstab in die Geschichtskonzeption einziehen lassen. Voltaire, der sich in der aristokratischen Welt des Ancien regime durchaus zu Hause fühlte, hat den Arbeitsbegriff, ein säkulares, scheinbar objektives Kriterium ohne normative Dimension, aber trotzdem nicht zum Eckpfeiler seiner Geschichtsphilosophie gemacht. Das war und blieb sein eigener Kampf gegen Vorurteile und Fanatismus. An Friedrich II. von Preußen, mit dem er gern Sottisen austauschte, schrieb er einmal, unter den zwanzig Millionen Franzosen könne man mit zweitausend aufgeklärten Männern rechnen; vielleicht ließe sich deren Zahl mit der Zeit auf vierzigtausend erhöhen. Später ist Voltaire, auch unter dem Eindruck seiner eigenen nicht nur literarischen Erfolge, etwas optimistischer geworden: „Jeden Tag trägt die Vernunft in Frankreich ihr Licht in die Läden der Kaufleute und in die herrschaftlichen Paläste“ (1764). Von ihm ging der Anspruch einer übergreifenden säkularen Sinngebung aus, der eine nicht nur sammelnde und allein quellenkritische, sondern auch erklärende Geschichtsschreibung zuarbeiten sollte. Ein empirisch-rationaler Gesamtzusammenhang alles Menschlichen schien im Bereich des Erreichbaren zu liegen. Voltaire hat diese Art philosophischer Geschichtsschreibung programmatisch wirkungsvoll angekündigt, aber kaum selbst vollzogen. Unstrittige Kriterien für eine sinnvolle Allgemeingeschichte hat auch der erst im 19. Jahrhundert wiederentdeckte Neapolitaner Giambattista Vico († 1744) nicht zu liefern vermocht. Die zivile Geschichtstheologie der Szienza nuova, einem schwierigen und lange unverstandenen Buch des selbstbewussten Rhetoriklehrers, wollte den Gegensatz von individualisierender Geschichte und verallgemeinernder Wissenschaft überwinden, aber Vico war sich bewusst, dass die cartesianische Methode auf dem Gebiet des menschlichen Handelns, in Ethik, Politik, Recht, wenig taugte. Der Bereich der Geschichte ist wissenschaftlicher Erkenntnis sehr wohl zugänglich, aber nur, wenn das Werkzeug stimmt. Nicht more geometrico wird die Lebenswelt erschlossen, sondern durch geduldige empirische Studien; nicht durch Deduktion aus selbstevidenten Grundsätzen, sondern durch den Vergleich überlieferter Berichte und relativer Wahrheiten, der nichts mit mathematischer Gewißheit, sondern mit Beobachtung und Wahrscheinlichkeit zu tun hat und das Irrationale, die Mythen der Völker, einschließt. Nur so öffnet sich der Zugang zur Welt der Geschichte, den der Mensch nicht, 155
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wie die ihm fremde physische Natur vorfindet, sondern selbst handelnd hervorbringt: „Es kann nirgends größere Gewissheit geben, als da, wo derjenige, der die Dinge schafft, sie auch erzählt“, lautet die berühmte vichianische Formel, deren Crux allerdings das nur hypothetische Kollektivsubjekt Mensch ist und das Missverstehen des jeweiligen Zeitgeists; der forschende und erzählende Historiker bleibt meist durch einen Abgrund vom handelnden Geschichtssubjekt getrennt. Vico will aus den überlieferten Geschichten und Mythen (die Descartes nicht interessierten) ein neues Sinngefüge, spezifische Prinzipien und Verlaufsmodelle bilden, eine Art Ökonomie der zivilen Dinge, die keine mechanische Kette von Ursachen und Wirkungen ist; deshalb möchte er ja das unbezweifelte Wirken einer höheren Vernunft nicht im Bereich der Natur, sondern im würdigeren Bereich menschlicher Handlungen nachweisen. Seine Geschichtsschreibung ist teleologisch insofern, als er den Unterschied zwischen den beschränkten, selbstsüchtigen Zielen der einzelnen und den ungewollten allgemeineren Ergebnissen thematisiert: Die Staatstugend der Römer war in seinen Augen nichts anderes als „ein guter Gebrauch, den die Vorsehung von …wüsten Privatlastern machte“: die „ganz aufs Besondere gerichteten Geister der Menschen“ konnten das Allgemeinwohl nicht begreifen, das nichtsdestoweniger aus ihren Aktionen hervorging.109 Der Gedanke war den Briten geläufig, aber Vico entwickelte ihn wohl aus älteren Quellen. Hinter der Vielfalt der Erscheinungen glaubt Vico eine Entwicklung vom Primitiven zum Zivilen auszumachen („erst waren die Wälder, dann die Hütten, dann die Dörfer, dann die Städte und zuletzt die Akademien“). Bemerkenswert ist dabei, dass er eine parallele Entwicklung der jeweiligen Strukturen in Familie und Religion, Staat und Recht, Sprache und Literatur voraussetzt. Es entsteht ein gemeinsamer Epochenstil, der den „historisch zeitgleichen“ Schöpfungen anderer Kulturen entspricht: Das gegenwärtige Japan erinnert ihn an das Rom der punischen Kriege, und die gleichen Bedürfnisse und Interessen haben im gegenwärtigen Europa die Werte der griechischen Stadtstaaten zur Geltung gebracht. Vico entwirft ein ideales Schema (das er mit zahlreichen Ausnahmen durchlöchert): auf das Notwendige folgt das Nützliche, auf dieses das Bequeme und schließlich der Luxus, der das Erbe zerstört; auf heroische Zeitalter folgen klassische (sie pflegen Denken statt Phantasie, Prosa statt Poesie, Handel statt Krieg, um nach Erschöpfung ihrer kreativen Fähigkeiten, auch durch „reflektierte Bösartigkeit“, in noch schlimmere Barbarei zu verfallen, als es die ursprüngliche war: Allerdings mag unter Umständen der Rückfall in die Einfachheit die Menschen vor Selbstzerstörung retten (Löwith). Hinter dem tatsächlichen Geschehen wirkt die Providenza, die aus dem Chaos auch wieder Ordnung schafft. Vico war aber kein Anhänger einer strikten Zyklentheorie antiker Art, weshalb er keine Niedergangsprognosen, aber auch keine hoffnungsvollen Zukunftsbilder, 156
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entwarf (Burke). Er vermied es, die historischen Wandlungen explizit theologisch abzustützen und war sich der Ambivalenz der Fortschritte, der corsi, klar bewusst, etwa des mit diesen verbundenen Verlusts poetischer Potenz oder des an Barbaren verliehenen römischen Bürgerrechts, das die Vaterlandliebe untergrub – ein Motiv, das später bei Herder oder Schiller eine Rolle spielen wird. Wir dürfen vermuten, dass Vico den stillschweigenden Verdacht gehegt hat, zumindest das Alte Testament sei nur eine Sammlung „heroischer“, also barbarischer, Mythen. Das Menschengeschehen wird jedoch, wie er annimmt, von einer höheren Intention beherrscht, einer geschichtlichen Vernunft oder vielleicht einem überlegenen Geist, der sich die beschränkten Zwecke der Akteure für seine eigenen zunutze macht und alles Negative zum Durchgangsstadium des Neuen werden lässt. Eines Tages würde der Egoismus der Nationen, wie bei Saint-Pierre, einem allgemeinen Bündnissystem weichen. Vico hat, ähnlich wie Bayle, der Vielfalt des Menschlichen angehangen, wenngleich mit weniger Interesse an der Relativität der Sitten, wie die unzähligen modischen Reiseberichte des Jahrhunderts (mit der impliziten Absicht, den Monopolanspruch der europäisch-christlichen Moral zu unterlaufen). Indem er die Geschichten aller Völker keinem gemeinsamen idealtypischen Schema unterwarf, schuf er, nicht anders als Voltaire, Voraussetzungen für eine universale Geschichtskonzeption auf säkularer Basis. Seine Betrachtungen waren nicht angewiesen auf komplizierte Harmonisierungen der Chronologie, die die Anhänger der „Diffusionstheorie“ vornehmen mussten (Lafitaus gleichzeitige Beobachtungen über die Ähnlichkeit der Sitten von Herodots Thrakern und den kanadischen Irokesen ließen ihn auf Wanderungen schließen). Vico nahm dagegen an, dass letztlich alle Völker analoge Entwicklungen durchlaufen, etwa wären die Amerikaner ohne Kolumbus mit der Zeit zu ähnlichen Fortschritten wie die Europäer gelangt. Vicos Zukunftshorizont war dennoch eher verhangen – wegen der ricorsi, die auf die corsi im Doppeltakt zu folgen pflegen, aber auch weil er sich nicht auf die Erfolgsstory der Wissenschaften beschränken wollte. Er gehört somit nur indirekt zu den Vorreitern des Fortschrittsglaubens, vor allem mit der resttheologischen Annahme einer höheren Regie, die die Handelnden in ungewollte, aber wohl sinnvolle Richtungen lenkt. In seiner Autobiographie sagt Vico, er sei zum Gelehrten geworden, weil er in Italien und nicht in Marokko zur Welt gekommen sei. Damit hatte er unsere moderne Frage nach dem sozialen und kulturellen Umfeld, den Rahmenbedingungen, Abhängigkeiten und nicht-kognitiven Impulsen für Wissen und Forschen aufgeworfen. Das waren in seinem Fall nicht allein die aristokratischen Gönner und die Furcht vor der Inquisition. Das waren vor allem die privilegierten Räume, die „Spielwiesen der Aufklärung“, die Akademien mit ihrer égalité academique, die 157
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in einer noch immer rigiden Ständegesellschaft soziale Herkunft, religiöse oder nationale Zugehörigkeit zumindest zeitweise vergessen ließen. Bildung bot einen Ersatzstand, eine Aufstiegs- und nicht zuletzt Machtchance, und sie lockte mit dem ambitiösen Ziel, die bisherige „Sinngebungselite“ zu ersetzen. *** In der Auseinandersetzung mit den herrschenden Wertsystemen und Denkstrukturen sind einseitige Urteile unvermeidlich, aber es kommt wie gesagt auch unter der Hand zu Übernahmen ‚ungedeckter Geltungsansprüche‘. Schon die behauptete Allmacht der Vernunft war eine Entlehnung aus der Scholastik, die diese auf Gott bezog: Die Vernunft setzt, wie dieser, einen absoluten Anfang, wodurch das Vergangene zur Sammlung unmaßgeblicher Vorurteile absinkt (Blumenberg). Aus der Sphäre logisch-mathematischer Deduktionen und Abstraktionen wird – über die legitime Funktion der ‚Existenzerhellung‘ und Verminderung der herrschenden Unvernunft hinaus – eine quasi Atlasgestalt geschaffen, die Mensch und Welt auf ihren wenig robusten Schultern tragen soll. Alternativ wird die Natur apostrophiert als kaum weniger abstrakte Berufungsinstanz gegen die ‚Unnatur‘ der Gesellschaft und der Theologen, die statt der Liebe und Eintracht nur Hader, Verfolgungen und Bürgerkriege zustandebrachten. Die Natur hat in allen ihren Teilen scheinbar schon die Vernunft in sich, sei es als Leibnizsche Monade oder als allen Menschen inhärentes Moralgesetz. Die eben noch leere res extensa des Descartes, durch Quantifizierung und Mathematisierung zum Objekt wissenschaftlicher und technischer Verfügbarkeit geworden, wird vielfach zur eigentlichen Substanz der Welt erhoben (Patočka) und soll durch Zirkelschluss die Allmachtsphantasien der Vernunftgläubigen bestätigen. Natur und Vernunft waren gewiss Kampfbegriffe, deren Plausibilität aus der dogmatischen Erstarrung einer privilegierten Sinnstruktur durch das Über natürliche herrührte. Aus der babylonischen Gefangenschaft eines unduldsamen kirchlichen Wahrheitsmonopols entkommen, erwies sich der neue Gerichtshof der Vernunft als keineswegs souverän; zumindest waren seine Urteile befangen (Gellner). Der junge Marquis de Vauvenargues gab mehr als nur ein Bonmot zum besten, wenn er die Befürchtung äußerte, „das Joch der Vernunft“ könne seiner Liebe zur Unabhängigkeit „noch unerträglicher werden als das der Vorurteile“. Die Vorkämpfer und Lobredner der ‚natürlichen Vernunft‘ instrumentalisierten diese häufig für ihre partiellen, und nicht immer uneigennützigen Zwecke. Sie wurde vor allem zum verselbständigten Garanten eines säkularen heilsgeschichtlichen Dramas erhoben, dessen Inhalt ein manichäischer Kampf ‚der‘ Aufklärung gegen ‚die‘ Finsternis war. Am Sieg des Lichts konnte es keinen Zweifel geben, 158
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obwohl die Lichtmetapher auch von den klerikalen Erzfeinden der philosophes beansprucht wurde. Wir haben gesehen, dass sich die neuen mathematisch-naturwissenschaftlichen Methoden zunächst nur auf Teilbereiche der menschlichen Welt bezogen und ihre Träger eine winzige Gemeinde europäischer Gelehrter waren; aber die république des sciences et des lettres mit ihrer Vorliebe für abstrakt-rationales, sachlichdistanziertes Denken glaubte fest an die Überlegenheit ihres Instrumentariums und an die fortschreitende produktive Anwendung der Newtonschen Methode auf weitere Bereiche.110 Trotz Pascals Zweifel, ob „diese abstrakten Wissenschaften dem Menschen gemäß sind“ (Ideen 209), kam den meisten überhaupt nicht in den Sinn, dass eine Reduktion der lebensweltlichen Wirklichkeit auf eine quantifizierbare Objektwelt, die Unterordnung des Menschen unter natürliche causes générales, in einen Widerspruch geraten könnte zur Bestimmung des Menschen zu Freiheit und Würde. Die Formulierung historischer Gesetze nach dem Leitbild der klassischen Mechanik war schon deshalb kaum zu vollziehen, weil diese vom Modell eines statischen Gleichgewichts bestimmt war und letztlich gleichgültig bleiben musste gegenüber der zeitlichen und moralischen Dimension des menschlichen Handelns; konsequenterweise sind Montesquieus „notwendigen Beziehungen, die sich aus der Natur der Dinge herleiten“ (Geist der Gesetze I,1) statischer Art. Trotz des Lobs nützlicher Gewerbe und der Verdammung von Fanatismus und Krieg war auch in Voltaires „bürgerlicher“ Geschichtsphilosophie letztlich keine wirkliche Fortschrittstheorie enthalten. Voltaire wehrte sich gegen die traditionelle Verklärung bestimmter Völker und Epochen, aber mit gleichem Sarkasmus auch gegen eine Aufwertung der geschichtlichen Verbrechenschronik zum Roman Gottes: „Ich will lieber einen beschränkten Gott anbeten als einen bösen.“ In der Geschichte herrschen nach seiner Meinung Kausalitäten, nicht finale Zwecke, Leidenschaften, aber keine weise Vorsehung.111 Die Geschichte als aufsteigende Gerade darzustellen, setzte ein erhebliches Maß an Abstraktion voraus, ein Absehen von den Irrationalitäten, den Widrigkeiten und Zufällen der Realgeschichte. Auch Vico hatte die Vielfalt der Geschichte auf einige Grundprinzipien reduziert. Aber von seinem Werk war kein archimedischer Punkt zu gewinnen, von dem aus sich ein klarer Horizont ergeben hätte und die Möglichkeit, das Geschehen positiv oder negativ auf diesen zu beziehen. So war es für ihn wie andere zeitgenössische Diskurse bezeichnend, dass man – bewusst oder unbewusst – auf theologische Hilfsbegriffe zurückgriff. Sie gehörten zum herkömmlichen Bildungsgut und lieferten auch der entstehenden Doktrin eines säkularen Fortschritts die fehlende Struktur. Ewigkeit erschien Pascal inkommensurabel mit dem Menschenleben; aber die transzendentale Idee der Ewigkeit und der Bestimmung des Menschen zu unend159
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licher Vervollkommnung hat es der entstehenden Geschichtsphilosophie erleichtert, die Perspektive unaufhörlicher irdischer Fortschritte aufzustellen. Aber für die Leistungen außerhalb der Naturwissenschaften fehlte der Maßstab für das realiter voranschreitende ‚Licht‘. Die perfectibilité der Menschheit als Ganzes brauchte überempirische gedank liche Stützen, auch um dem angemeldeten ideologischen Herrschaftsanspruch der weltlichen Clercs mit Hilfe gewendeter Interpretationen der Geschichte eine Vergewisserung der eigenen Werte und Identitäten zu liefern. Der ‚Ideologieverdacht‘ ist kein nur nachträglicher und auch kein zwingend disqualifizierender. Die auf Vernunft und Freiheit gerichtete Aktion bedarf der Perspektiven. Aber schon Zeitgenossen fragten sich manchmal verunsichert, ob die Konstruktion einer auf vernünftige Ziele zugeschnittenen Universalgeschichte nicht nur das Produkt „philosophischer Köpfe“ sei, die selektiv ihre Wertvorstellungen ins Chaos der historischen Erscheinungen hineintrugen.112 Es war keineswegs sicher, diese in einem göttlichen Plan oder auch nur einer schöpferischen Naturordnung verankern zu können: Indem einem „Aggregat von Bruchstücken“, statt Ursache und Wirkung, Absicht und Mittel unterstellt werden, bringt der Mensch selbst „einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte“, wird Friedrich Schiller eher hoffnungsvoll äußern.
9. Wohlstand und Zivilisation Nach Voltaires vielzitierter Bemerkung wandten sich die Franzosen um 1750 von Versen, Tragödien, Historien und überspannten moralischen Reflexionen Gedanken über – Getreide zu. Die Salons waren sozusagen weiß vor Mehl und das ganze Land diskutierte über Weizenhandel, mit Ausnahme der Landwirte selbst. Die sarkastische Anspielung betraf natürlich die sogenannten Physiokratrn, deren Lehren sich in den fünfziger und sechziger Jahren großer Beliebtheit erfreuten. Die Krise des intervenierenden absolutistischen Staates hatte mit Nachdruck Reformen auf die Tagesordnung gesetzt, und die Physiokraten beeilten sich, mit ihren scheinbar evidenten Einsichten und unfehlbaren Rezepten der Nachfrage nach rettenden Lösungen entgegenzukommen. Das Haupt der Schule, der theoretisierende Leibarzt der Pompadour François Quesnay († 1774) schrieb mit Autorität über vieles, das sein Wissen überstieg, darunter eine Abhandlung über den Despotismus in China. Überraschend widersprach er darin nicht dem staatlichen Absolutismus, sondern der Meinung, dass alles auf dieser Erde beständigen Wandlungen unterworfen sei und auch die Staaten ihren Anfang und ihr Ende haben müssten. Den Gegenbeweis lieferte die stabile Ordnung Chinas: hier werde jener 160
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ordre naturel beachtet, in dem die physischen, die politischen und moralischen Gesetze tendenziell zusammenfallen. China lieferte im 17. und 18. Jahrhundert überhaupt ein beliebtes Kontrastbild zum intoleranten Europa, nicht zuletzt wegen der konfuzianisch geschulten Mandarine als „philosophischer Staatslenker“, mit denen sich die europäischen Intellektuellen identifizierten. Quesnay ging es um keine satirische Europakritik von der Art der Perserbriefe Montesquieus, um keine exotische Infragestellung des Bestehenden, sondern um ein anschauliches Beispiel für das vermeintliche Zusammenfallen von „positiver“ und „natürlicher“ Ordnung. Quesnays Wahlspruch: Ex natura ius, ordo et leges, ex homine arbitrium, regimen et coërtio, kurz: von der Natur kommt die Ordnung, vom Menschen die Willkür, konnte kaum als Fortschrittsparole verstanden werden, ebensowenig wie die physiokratische Zielvorstellung einer statischen, autarken Gesellschaft. Der Freundeskreis um Quesnay glaubte sich jedoch vollmundig im Besitz eines Schlüssels zur Zukunft, eines umfassenden Reformprogramms auf der Basis einer science nouvelle, die alle Gebrechen der Gegenwart beheben werde – so man sie anwandte. Das war fortschrittlich, wenn auch nicht historisch, gedacht: die Reform sollte nicht aus zufälligen Erfahrungen der Vergangenheit abgeleitet werden, sondern unmittelbar aus den immergleichen Naturgesetzen. Das französische Aufklärungsdenken verdankt den Physiokraten einen anderen wichtigen Impuls: die Wendung zur Praxis im ökonomischen Sinn. Es ging zunächst um eine praktische Verlagerung staatlicher Förderung von den künstlich hochgezüchteten städtischen Luxusgewerben und dem Außenhandel zum vernachlässigten und doppelt ausgebeuteten Agrarsektor (der im 18. Jahrhundert für Frankreich noch immer von ausschlaggebender Bedeutung war). Das erwachte öffentliche Interesse an der Landwirtschaft wurde dann von einem nicht nur modischen Enthusiasmus für das einfache Volk weitergetragen, einem Bewusstsein des pauvre paysan, pauvre royaume, der Abhängigkeit des gesamten Landes vom Wohl der Bevölkerungsmehrheit. Der wissenschaftliche Anspruch der Lehre ließ Wirtschaftsfragen als quasi-medizinische verstehen und als eine Art staatlichen Blutkreislauf interpretieren. Die Suggestion eines natürlichen Organismus zog weitere Fragen in ihren Sog: Erziehung und Moral, Freihandel und Eigentum, Einzel- und Allgemeininteressen; in dieser Atmosphäre erhielten Leitbegriffe, wie Zivilisation und Fortschritt, ihre klassische Ausprägung.113 Der Popularisator der Lehre, Dupont de Nemours († 1817) hat dem verehrten Versailler Docteur als besondere Leistung das realistische Ausgehen von Interessen, statt Grundsätzen der Gerechtigkeit, zugeschrieben; wir wissen aber, dass die Engländer das seit geraumer Zeit taten und dass Mandevilles Bienenfabel diesen Reduktionismus nur halb ironisch zum System erhoben hat. „Interest will not lie“ war dort eine alte Maxime, die gegenüber schwankenden Launen und Gefühlen, 161
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geschweige denn unsicheren moralischen Abstraktionen, das Rationale und Längerfristige im natürlichen Verfolg von Macht und Wohlstand betonte (Hirschman). In Frankreich hing am homme inéressé nach wie vor eine abwertende Bedeutung; es überwog erhebliches Misstrauen gegenüber der Vorstellung, wonach sich soziale Harmonie aus dem Zusammenspiel egoistischer Einzelinteressen ergeben sollte. Für den intérêt général waren bei den Physiokraten, wie auch J. J. Rousseau, normative Werte von Politik und Erziehung zuständig. Mit politischen Rezepten, die sich gleichfalls auf Interessen beriefen und das Staatsganze empirisch aufweichen wollten, sei es die Teilung der Gewalten, oder Kontrollen und Gegengewichte der Anglophilen, konnte der Arzt Quesnay trotzdem nichts anfangen. Er glaubte nur an eine einzige zutreffende Diagnose – seine eigene, und die durfte nicht dem Zufall unaufgeklärter, willkürlicher Entscheidungen überlassen werden. Quesnay betonte gewiss die Selbstsucht als Produktivkraft, wollte jedoch Partikularinteressen und ein normativ verstandenes Gemeinwohl grundsätzlich voneinander trennen. Die Kenntnis der einfachen ökonomischen Gesetze wies den Weg zur Harmonie, nicht aber zu ‚natürlicher Selbstregulierung‘; sein Programm war der wissenschaftlich beratene „legale Despotismus“ à chinois sowie eine allgemeine Tugenderziehung. Das recht unklare Leitbild einer natürlichen Ordnung sollte dennoch Wirtschaft, Politik und Ethik auf einer gemeinsamen Grundlage vereinen. Karl Pribram meinte in Quesnays Tableau das scholastische Ideal kommutativer Gerechtigkeit wiederzuerkennen, bei dem auch der gerechte Preis und das Misstrauen zum selbstsüchtigen Kaufmann nicht fehlen durften. Eher scheint mir bei Quesnay ein szientistischer Rationalismus am Werk, der an selbstevidente, mathematisch formulierbare Regeln des menschlichen Zusammenlebens glaubt. Er mochte mit der starken cartesianischen Tradition in Frankreich zusammenhängen: Bezeichnenderweise befasste sich der Docteur in seinen letzten Lebensjahren mit Geometrie. Die Tradition wird sich im 19. Jahrhundert im Positivismus Auguste Comtes fortsetzen. Ohne hier auf weitere Einzelheiten der physiokratischen Lehre eingehen zu können, soll doch auf zweierlei hingewiesen werden. Erstens, musste die Ökonomisierung der öffentlichen Debatten keinen Verzicht auf Moral bzw. emanzipatorische Wirkung nach sich ziehen. So argumentierte Quesnays Mitstreiter Mirabeau d. Ä. († 1789), die bisherige Kolonialpolitik beruhe auf „unrentabler“ Eroberung und trage allein zur Bereicherung einer kleinen Clique von Monopolinhabern bei. Ebenso „ökonomisch falsch“ seien Sklavenwirtschaft und Leib eigenschaft: Die Arbeitsproduktivität steigt mit der Freiheit und der eigenen Ver fügung über den Gewinn. Als freie Arbeiter würden die Menschen aktiv und intelligent werden, prophezeite der schon erwähnte Dupont de Nemours, der später als Wirtschaftsberater in Baden, Schweden und Polen seine Maximen 162
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erproben durfte. Die philosophes-économistes wollten das bestehende politische und gesellschaftliche System erklärtermaßen nicht abschaffen, nur effizienter gestalten und die Menschen innerhalb seiner Strukturen „reich und glücklich“ machen. Nicht nur bei den Mächtigen mochten solche Argumente eher Gehör finden, als grundsätzliche Kritik oder rhetorische Appelle ans Mitgefühl. Ihre Wirksamkeit stieß trotzdem an Grenzen.114 Zweitens, war die physiokratische Lehre abstrakt-unhistorisch – insofern, als sie ein vermeintlich „natürliches“, von unterschiedlichen sozialen und kulturellen Verhältnissen unabhängiges Rezept auf der Grundlage „unabänderlicher“ Gesetze formulierte, das nota bene zu einem statischen sozialen Gleichgewichtszustand führen sollte. Dennoch trug der ökonomische Ansatz, wie wir noch sehen werden, eher als die bisherigen natürlich-mechanistisch konstruierten Gesellschafts modelle von Hobbes bis Montesquieu zu einer realistischeren Fundierung der allzu ideenlastigen literarischen Fortschrittskonzepte bei. Die „Naturalisten“ hatten im 17. Jahrhundert versucht, das staatliche Handeln aus elementaren Wirkfaktoren, wie dem Selbsterhaltungstrieb, dem Machtstreben etc. abzuleiten, aber das Ergebnis waren zwangsläufig statische, „fensterlose“ Systeme ohne geschichtliche Verwurzelung und Entwicklungsperspektive. Die Figur des „Naturzustandes“ als theoretischer Ausgangspunkt für den Gesellschaftsvertrag war aber ein Gemeinplatz, meist auch die Einsicht in dessen Armseligkeit: there was no place for industry (Hobbes) und in the beginning all world was America (Locke). Daraus ergab sich eine Verbindungslinie zwischen der eigenen barbarischen – oder paradiesischen – Vergangenheit und den gegenwärtigen – primitiven oder glücklichen – „Wilden“. Man empfand eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den griechischen Fabeln und den Erzählungen der amerikanischen Indianer (Fontenelle, 1724); die Analogie der Sitten und Institutionen von Irokesen und den von Herodot beschriebenen Barbaren (Lafitau, 1724) ließ gleiche Ahnungen aufkommen. Ansätze einer nicht-kontraktualistischen, protosoziologischen Erklärung ergaben sich aus der schrittweisen Aushöhlung gemeinschaftlicher Besitzverhältnisse zugunsten des Privateigentums (Pufendorf, 1672); aber noch fehlte eine schlüssige Sequenz der Kulturstufen.115 Das erwachte Interesse an ökonomischen Zusammenhängen sollte dafür ein Kriterium liefern. Einen wichtigen, zeitlich parallelen Schritt über Voltaires Geschichtsphilosophie hinaus hat der junge Anne-Robert J. Turgot († 1781) noch vor seiner Tätigkeit als hoher Verwaltungsbeamter und Reformminister und vor seiner Bekehrung zum Physiokratismus getan. Bedeutsam war schon seine Erkenntnis einer historisch bedingten Vernunft: Der menschliche Geist ist keineswegs souverän, sondern eingebettet in vorrationale Ordnungen, auf die er reagiert. Er gelangt zu seinen Wahrheiten nicht durch Vernunftschlüsse a priori: „Die Menschen sind insgesamt für die tastenden Versuche der Erfahrung geschaffen“. Wie die Fort163
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schritte des Geistes individuell von Zufällen der Geburt und Erziehung abhängen, so gelingen auch im kollektiven Bereich gute Gesetze eher „durch glückliche Umstände als durch Leistungen eines glänzenden einzelnen Intellekts.“116 Turgot kennt noch weitere elementare Triebkräfte der Vernunft: Ohne das Irrationale, ohne Leidenschaften und Umwälzungen des Bestehenden wäre die Gattung in Mittelmäßigkeit stecken geblieben. Die Wandlungen, glaubt Turgot trotzdem hoffnungsvoll, lassen die Menschen längerfristig immer menschlicher werden, d. h. wohl, dem Guten und Wahren näherzukommen. Das wäre ein sehr subjektives Werturteil, wenn nicht reine Geschichtsteleologie, stünde es nicht im Kontext des Nachdrucks auf menschliche Praxis, insbesondere die Vorteile der Arbeitsteilung, des Handels und der Kapitalbildung, nicht zuletzt als Voraussetzung der Überlegenheit des christlichen Europa über die barbarischen Völker.117 Daran knüpft bei Turgot unmittelbar die Laissez-faire-Formel, die etwa gleichzeitig auch bei anderen (d’Argenson, de Gournay, Adam Smith) auftaucht: man solle die „weise Ökonomie der Natur“ beachten, die sich der Interessen und Bedürfnisse der einzelnen bedient, um ihre allgemeinen Absichten, sowie das Glück aller zu erreichen. Die säkularisierte Vorsehungsidee findet man bezeichnenderweise in Turgots Vortrag über die Vorteile der Entstehung des Christentums für die Menschheit (1750). Der Nachdruck liegt dabei auf Praxis, und insbesondere auf Freiheit, die in Verbindung mit weiteren günstigen Bedingungen die Entfaltung der im Menschen schlummernden Potenzen ermöglicht. Das war nur scheinbar eine Anleihe aus der Begrifflichkeit der Naturkunde, die ja die Entfaltung vorgegebener Anlagen zu ‚vollkommenen‘ Einzelwesen voraussetzt. Zur Teleologie der Natur musste eine spezifisch kulturelle bzw. historische hinzukommen: Auch wenn wir den bossuetschen, providentiellen Klang der Rede über hören, hätte sich auf der Basis biologischer Bedürfnisse als einem permanenten Arbeitsantrieb noch keine Fortschrittsperspektive für die Menschheit als Ganzes ergeben. Turgot hatte angenommen, dass „das Bedürfnis das Gerät vervollkommnet“; hinzu kam eine spezifische Fähigkeit, durch Zeichen Erfahrungen an die nächste Generation weiterzugeben. Die einfache Voraussetzung einer Erweiterung und Verfeinerung der menschlichen Bedürfnisse (Rohbeck) hätte jedoch durch eine nicht-naturale Teleologie, eine Perspektive sekundärer Vervollkommnung, abgestützt werden müssen. Freiheit ist die eigentliche, primär nicht-kognitive Leitidee des jungen Turgot, die epochenübergreifend an ihrer Früchten dargestellt wird: der Vielfalt der griechischen Stadtstaaten nicht anders als am analogen Pluralismus des italienischen Spätmittelalters, der Wiege der Bürgerfreiheit und in der Folge der Wissenschaften und Künste. Kleine Nationen sind überschaubarer, und es fehlen darin die Mittel, die Menschen gegen ihren Willen zum Gehorsam zu zwingen; 164
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Stadtrepubliken tendieren zu Demokratie und nur selten zu Eroberungen. Dagegen verewigte der despotische Orient allein seine Irrtümer und erfand nach Turgots Meinung nichts hinzu. Zum Unterschied von Quesnay heißt es, der Despotismus „verlängere die Unwissenheit und die Unwissenheit den Despotismus“. Insbesondere der Islam stellt dem „natürlichen Gang der Vervollkommnung“ eine Mauer des Aberglaubens, der Sklaverei und der weiblichen Unfreiheit entgegen; noch die heutigen Türken kennen nur Gewalt, aber weder Wissenschaften noch Gewerbefleiß (Erste Abhandlung über die Bildung der Regierungen; Untersuchungen über die Ursachen der Fortschritte… ). Aber Turgots „natürlicher Gang der Vervollkommnung“ war kaum mehr als eine ideologische Worthülse, eine Zweckbehauptung, bestenfalls eine geniale Hypothese, deren Wahrheitsgehalt noch zu beweisen war. Das Nebeneinander zivilisierter und barbarischer Völker hatte dem jungen Turgot, zusammen mit Debatten über die Analogie der frühgeschichtlichen und der überseeischen Barbaren, die Idee chronologischer „Gleichzeitigkeit des (kulturgeschichtlich) Ungleichzeitigen“ eingegeben. Die angenommene Vervollkommnungsfähigkeit aller Menschen brachte ihn zur Verzeitlichung und Dynamisierung des räumlichen Nebeneinanders unterschiedlicher Kultur- und Wirtschaftsformen, somit zur Annahme eines logischen zeitlichen Nacheinanders von Jäger-, Hirten-, Bauern- und Stadtgesellschaften. Das ergab eine leicht hingeworfene und auf die Antike zurückgehende Vier-Stadien-Theorie, die unabhängig von Turgot auch von Smith formuliert und bei den Schotten eine große Rolle spielen wird. Stärker als bei Vico, den er kaum kannte, sind für Turgot die „mechanischen“, also technischen, Künste von entscheidender Bedeutung: sie entfalten sich unabhängig von den eigentlichen Wissenschaften und Künsten, auch in Zeiten deren Verfalls, und sie nehmen sekundär Einfluss sogar auf die Wissenschaften im engeren Sinn, wie stimulierende mechanische Erfindungen beweisen, etwa das Fernrohr, der Buchdruck, die Windmühle, das Papier oder die mechanische Uhr. Damit sollte Turgot kein Determinismus der Technik und der Ökonomie als den einzig bestimmenden geschichtlichen Kräften unterstellt werden.118 Erfindungen wurden immer noch primär als Erkenntnisvorgänge betrachtet und nicht als Movens der Lebenspraxis, die den Menschen real von der Naturabhängigkeit befreit. Um 1750 war der Umsturz der Verhältnisse durch die industrielle Technik auch in England noch nicht in Sicht, immerhin postulierte man verschiedentlich den Zusammenhang der „schönen“ und der „mechanischen“ Künste (Hume, d’Alembert). Turgot hat nicht zuletzt Ambivalenzen des Fortschritts festgestellt. Zivilisierte Völker werden zwar reicher und friedlicher, aber auch verweichlicht und nach außen verletzbar. Gewiss kommt „der Geist der Gleichheit aus dem Geist des Handels“, aber auch die Sklaverei und die Etablierung der Vielweiberei hingen 165
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nach seiner Meinung mit größerem Reichtum zusammen. Unsere allzu willkürlichen Einrichtungen ließen uns die Natur vergessen, schrieb Turgot 1751, in Anlehnung an Rousseau, in einem Brief an Madame de Grafigny, und wir ließen uns von unseren eigenen Hervorbringungen zum Narren halten; doch sei es lächerlich, die Wilden zu verherrlichen. Mehr noch: der gelernte Theologe stellt fest, dass das Christentum eine enorme zivilisierende Wirkung auf die Menschheit ausgeübt habe, schon durch seinen Primat der Lebenspraxis vor der Theorie. Die großen antiken Denker hätten sich mit der Grausamkeit des Krieges, mit Sklaverei, Kindesaussetzungen und barbarischen Gladiatorenkämpfen abgefunden, ja den Unterschied zwischen Monarchie und Tyrannei, Freiheit und Anarchie missachtet. Das Christentum habe innere Kontrollen geschaffen, die stärker waren als die nur äußerlichen bürgerlichen Gesetze; heute hätten diese, hofft Turgot etwas zu optimistisch, als Folge langer Zivilisierung (police) aufgehört, Werkzeuge der Unterdrückung zu sein, sondern strebten das Glück der Untertanen, den Ausgleich zwischen Starken und Schwachen an. Der Reformminister wird 1776 scheitern, wenn er mit seinem Zweck optimismus Ernst machen will.119 Obwohl Turgot das Mittelalter als durchaus barbarisch betrachtete, fand er darin auch zahlreiche Keime der neuzeitlichen Zivilisation, die über den engeren Bereich der Wissenschaften und schönen Künste hinausgingen. Es waren somit unterschiedliche, keineswegs nur technisch-ökonomische Kräfte, die sich in seiner Skizze einer Universalgeschichte der menschlichen Gattung von 1751 bündelten. Turgot wollte alle Zeitalter durch eine Kette von Ursachen und Wirkungen miteinander verbinden, mit den Leidenschaften als Triebkräften, aber auf einer Vielzahl von Ebenen, die Wissenschaften, Künste, Moral und Gesetzgebung einbegriffen. Der Hochmut der Vernunft wird gedämpft, indem man ihr die Subsistenzweise vorordnet und Vernunft aus Unvernunft, Gerechtigkeit aus Lastern, Wissen aus Fehlern entstehen lässt. Eine umgekehrte, die Fortschritte pervertierende Möglichkeit zieht Turgot langfristig nicht in Erwägung. Kaum infolge der wirtschaftlichen Fundierung der Geschichte: eher übertrug sich seine praktisch-reformerische Einstellung auf das gesamte Geschichtsbild. Die Menschen sind immer und überall perfectibles, fortschrittsfähig. Es mochte mit Buffons eben formulierter „demütigenden Wahrheit“ zusammenhängen, wonach der Mensch zur Familie der Tiere zählt und mit diesen verglichen werden muss (Histoire naturelle, 1749ff), wenn Turgot auf die grundlegenden natürlichen Motive rekurriert. Doch sind diese teleologisch angelegt: seine Universalgeschichte ist, wie die Vicos, nur eine säkulare Spielart von Bossuets Dialektik. *** 166
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Auch in Schottland hatte sich, ausgehend von der Metropole Edinburgh, dem „britischen Athen“, seit den 1750er Jahren ein neues geistiges Klima herausgebildet. Unser eigentliches Interesse gilt der von David Hume († 1776) so genannten Wissenschaft vom Menschen, einem empirisch und säkular angelegten Bestreben, die moralischen, wirtschaftlichen und politischen Grundlagen menschlicher Existenz nach dem Bild der neuen Marktgesellschaft zu verstehen. Die Verschiebung der Fragestellungen der kulturellen Eliten vom abstrakten Naturrecht, der herkömmlichen Morallehre und Politischen Theorie zu einer weniger normativ und stärker vom „Commonsense“ geprägten Sprache, hatte vor allem mit den schnellen Wandlungen der schottischen Gesellschaft seit der Union mit England (1707) zu tun, auch mit englischen gedanklichen Einflüssen. Bis dahin hatte die Fletchersche Devise gegolten, dass Handel, weltliche Bildung und Luxus ein Element der Korruption, des Niedergangs politischer Tugend darstellten, wobei der Bürokratie, dem stehenden Heer und dem englischen Hof das heftigste Misstrauen entgegengebracht wurde; nun argumentierte Hume, der Luxusbegriff sei höchst relativ und der Niedergang Roms sei anderen Ursachen zuzuschreiben, als kultureller Verfeinerung. Die Freiheiten Großbritanniens sind nach Humes Feststellung nie gefestigter gewesen, als in der gegenwärtigen Zeit des Fortschritts der „Künste“: Industrie, Wissen und Humanität sind nicht allein für das Privatleben vorteilhaft, sondern „verbreiten ihren wohltätigen Einfluss auf das Gemeinwesen“, ja „Gewerbefleiß, Wissen und Humanität /sind/ wie mit einer Kette untrennbar miteinander verbunden“ (Of Refinement in the Arts, 1752) Schottland hatte seine eigenen politischen Institutionen verloren, aber profitierte zweifellos vom Freihandel mit England und dessen Kolonien; Wohlstand, private Geselligkeit, Journale, Bildung und Verfeinerung der Sitten boten einen anderen Begriff von Bürgerlichkeit, Freiheit und Moral als die traditionellen Tugenddiskurse. Der wirtschaftliche Aufstieg durch Kolonialhandel, intensive Landwirtschaft und Protoindustrie hatte soziale und mentale Konsequenzen; der Einfluss kalvinistischer Eiferer in der schottischen Kirche nahm ebenso ab, wie die alten Ehrbegriffe der Klan- und Adelsgesellschaft. Ein dichtes Netz der Salons, Klubs und Kaffeehäuser bildete das Rückgrat zunehmend weltlicher Debatten über Sittenreform, moderne Wirtschaftsformen und einen neuen Bildungskanon: „Hochadel und Gentry, Richter, Geistliche, Professoren und Kaufleute – alle wollten dazugehören“ (Graf Ballestrem). Die Neustadt von Edinburgh erschien als „in Stein gehauer Geist der Aufklärung.“ Von der polis verschob sich das Interesse dabei zur politeness, wie J. G. A. Pocock es treffend formuliert. Die schottische Aufklärung polemisierte auf eine Weise weniger gegen das Christentum, wie gegen die Antike, ihr ganzheitliches Politikverständnis, ihre heroische und holistische Norm. 167
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Den Bildungswünschen der Aufsteiger kam die Universitätsreform der dreißiger Jahre entgegen. In der presbyterianisch verfassten schottischen Kirche hatten sich allmählich mehr Toleranz und Bildung durchgesetzt und zahlreiche der Aufklärer waren Geistliche. Nichtsdestoweniger wurden Humes Bewerbungen um Philosophielehrstühle in Edinburgh und Glasgow noch 1745 und 1751 abgelehnt; mehr Erfolg genoss er zunächst in Frankreich, wo er sich wiederholt jahrelang aufhielt (und in beiden Richtungen vermittelte). Humes erkenntnistheoretischer Skeptizismus und Psychologismus, wonach Gewohnheit als wichtigster Weg weiser im menschlichen Leben galt,120 war für Traditionalisten ebenso schwer zu verkraften, wie seine utilitaristisch bedingte Sittlichkeitsauffassung („Tugend als jene geistige Tätigkeit…, die einem Beobachter das angenehme Gefühl der Zustimmung gibt; beim Laster das genaue Gegenteil“: Enquiry, 1751). Auch von Humes psychologisch bestimmtem Menschenbild scheint es zunächst kaum möglich, eine Fortschrittstheorie aufzustellen. Der Mensch ist in allen Zeiten derselbe und die Geschichte kann im Grunde nichts erzählen, was nicht in den allgemeinen Grundsätzen der menschlichen Natur enthalten wäre, heißt es wie bei Voltaire. Trotzdem entwickelt Hume auf der Basis einer eigentlich konstanten Motivstruktur (Leidenschaften, Selbstliebe, Eitelkeit, aber auch Freude am Tätigsein) eine über das ältere englische Lob des Handels hinausgehende Erkenntnis der Triebkräfte der Marktgesellschaft als Fortschrittsparadigma. Die Negativfolie für sein Bild der kapitalistischen Fortschrittsdynamik bilden die bis dahin bewunderten kriegerischen Kleinstaaten der Antike, deren wichtigster Antrieb Ehre und Rache war, während ihren freien Bürgern Gewerbefleiß und Gewinn zweitrangig blieben. Große Umwälzungen der Neuzeit, die Hume nicht präzisiert, obwohl es sich vor allem um die Schaffung friedlicher großer Binnenräume zu handeln scheint, haben Gewerbe, Handel und Künste ermöglicht und mit ihnen die Ausrichtung der menschlichen Motive auf Arbeit und Erwerb: Faulheit und Barbarei, the habit of indolence, waren natürlich, solange es keinen Anreiz gab, Überschüsse zu erzeugen und diese „gespeicherte Arbeit“ gegen andere auszutauschen. Mit Gewalt, ohne sicheres Eigentum, wird der Bauer nicht motiviert, dem Boden mehr abzuringen, als er benötigt, er wird es aber freiwillig tun, wenn es materielle wie immaterielle Anreize dafür gibt. „Alles in der Welt wird durch Arbeit erworben“, betont Hume stärker als Locke und die französischen Physiokraten, „und einzig unsere Leidenschaften sind die Ursache dieser Arbeit.“ Diese bleiben zwar auf anthropologischer Ebene die gleichen, und nichts kann einen Affekt unterdrücken, als ein anderer Affekt, doch unterscheidet sich das soziokulturelle System, und mit diesem ihre konkrete Ausprägung, was insbesondere am Ehrgeiz dargestellt werden kann. Ein mit kriegerischem Geist erfüllter Staat möchte derartige natürliche Triebe als vermeintlich schädlich unterdrücken, aber freigesetzte, ja prämiierte Habsucht und Luxus 168
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bedürfnisse erweisen sich als produktiv und durchaus vereinbar mit dem Glück und der Macht des Ganzen. Sie überwinden die vorindustrielle Arbeitsunwilligkeit und die entsprechende Neigung zu Gewalttätigkeit, sie nähren den auf Wettbewerb und Nachahmung beruhenden Geist des Marktes und verfeinern schließlich die kulturellen Bedürfnisse. „So werden die Menschen vertraut mit den Annehmlichkeiten des Luxus und dem Handelsgewinn. Und sind Lebensverfeinerung und Gewerbefleiß /industry/ in ihnen einmal erwacht, treiben sie diese zu weiteren Verbesserungen…“ (Of Commerce, 1752). Die Früchte der Zivilisation in diesem Verständnis sind keineswegs Korruption (wie das Gegenbeispiel des wirtschaftlich wenig entwickelten, aber als korrupt geltenden Polen zu beweisen scheint!), sondern Mäßigung: der Streit der Parteien ist weniger unversöhnlich, Umstürze sind weniger tragisch, „Autorität weniger streng und Aufstände weniger heftig. Sogar auswärtige Kriege verlieren ihre Grausamkeit.“ Auch politisch sind die Konsequenzen der Marktgesellschaft positiv: Die Bauern werden reich und unabhängig, die Mittelschichten, jene „beständige Grundlage der Freiheit des Gemeinwesens“, sichern sich durch parlamentarische Vertretung gleiche Rechte und bewahren das Land vor jeglicher Tyrannei (Refinement in the Arts). Damit hatte Hume ein einfaches und verallgemeinerungsfähiges Schema geschaffen, das sich ohne größere Probleme zur wirtschaftszentrierten Vier-Stadien-Theorie seines Freundes Adam Smith († 1790) ausweiten ließ. Smith, seit 1751 Professor für Logik und Moralphilosophie in Glasgow, hatte schon in seinen frühen Arbeiten die Meinung geäußert, die Fixierung des individuellen Eigentums beim Übergang von der Jäger- zur Hirtengesellschaft stelle einen der wichtigsten Schritte im Fortgang (progression) der Menschheit dar. Von da datiere die Unterscheidung von Arm und Reich, sozialer Macht und Abhängigkeit; die meisten seitherigen gesetzlichen Bestimmungen dienten entsprechend dem Schutz der Besitzenden vor Übergriffen der Armen.121 Das war nicht unkritisch gedacht. Smith hegte einige Sympathien für das in Schottland immer noch starke egalitäre Tugendideal und machte in seiner Theory of Moral Sentiments von 1759 auch keine Gleichung zwischen Wohlstand und Glück. Er wies aber trotzdem in einer Besprechung von 1755 Rousseaus antimodernistischen Diskurs über den Ursprung der Ungleichheit als bloße Gefühlsrhetorik zurück. Die immense Produktivität der Arbeitsteilung ließ ihn die republikanische Sollvorstellung des Handwerkers, Staatsmanns und Kriegers in einer Person als antiquiert und nicht wiederherstellbar zurückweisen. Das Leben in klassenlosen Gesellschaften war möglicherweise gerechter, aber primitiv und armselig: egalitäre Barbarei. Während die Aufklärer auf dem Kontinent Zivilisation in der Regel mit Wissenschaft und Bildung verbanden (instruire une nation, c’est la civiliser, erklärt auch Diderot 1776), deckt sich der Begriff bei Smith eher mit fortgeschrittener 169
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Arbeitsteilung. So werden die Bewohner gezwungen zu tauschen, wodurch sich die Gesellschaft in ein Interdependenzgeflecht bezahlter Dienstleistungen verwandelt („mercenary exchange of good offices according to an agreed valuation“, lautet die Formel schon in den Moral Sentiments). Smith neigt, wie sein Lehrer Hutcheson, dazu, Tugend und Interesse, Privat- und Gemeinwohl zu harmonisieren, aber wichtig ist auch der Umstand, dass das Spiel der Interessen trotzdem nicht-ökonomischer Regulatoren bedarf, die dem Verfolg egoistischer Vorteile Grenzen setzen. Dazu zählen schon Begriffe aus der Werkstatt Humes, wie Sympathie und Unparteiischer Zuschauer, die sich zur Vorstellung einer ‚uneigennützigen Öffentlichkeit‘ verdichten. Das individuelle wirtschaftliche Erfolgsstreben wird bei Adam Smith ohne Zweifel idealisiert; es ist nicht erst vom Ergebnis her ungewollt wohltätig, sondern von Anbeginn sozial ausgerichtet: „Woher entsteht also jener Wetteifer …und welche sind die Vorteile, die wir bei jenem großen Endziel menschlichen Lebens, das wir Verbesserung unserer Verhältnisse nennen, im Sinne haben? Dass man uns bemerkt…, dass man mit Sympathie, Wohlgefallen und Billigung von uns Kenntnis nimmt…“ (Ebenda). Der Sozialneid war eine quantité négligeable, der Klassenkampf für Smith nicht in Sicht. Die Grundlage sowohl wirtschaftlicher Tätigkeit, wie auch der gesellschaftlichen Bindungen ist danach eine gemeinsame: sie wird gewiss nur unter anderem, getragen von der menschlichen Fähigkeit, sich in die Lage eines anderen zu versetzen, und ohne dieses fellow feeling kann kein geordnetes Gemeinwesen bestehen. Das könnte als fragwürdige Annäherung von Selbstsucht und Altruismus interpretiert werden, Smith ist aber kein Vereinfacher und er will auch nicht glauben machen, die Fähigkeit zum Abstand vom eigenen Verhalten und die Regeln des Pflichtgefühls seien schon allein imstande, unsere Eigenliebe und Leidenschaften im Zaum zu halten. Self-command mag durchaus nützlich und mit sozialökonomischem Erfolg verbunden sein, aber die Gesellschaft kommt nicht ohne erzwingbare Regeln der Gerechtigkeit aus, die den Menschen daran hindern, etwa Richter in eigener Sache zu sein. Smith hat auch Lectures on Justice, Police and Arms gehalten und an diesen zeitlebens geqarbeitet, aber sein Erkenntnisinteresse hat sich nach Veröffentlichung der Moral Sentiments, unter tendenzieller Ausklammerung moralischer und politischer Diskurse, zu den eigengesetzlichen ökonomischen Zusammenhängen verschoben. Sein Fortschrittskonzept beruht trotzdem auf keinem selbstläufigen Wirtschaftsmechanismus: Der sich selbst regulierende Markt erfordert zumindest Sicherheit, inneren Frieden und Freiheit, während die Menschen in despotisch regierten Ländern ihre Schätze vergraben, statt Gewinn anzustreben (Wealth of Nations, Buch II). Auch Smith’ Vier-Stadien-Theorie, das andere Zeitgenossen zu Smith‘ Ärger übernahmen, ruht nicht allein auf menschlicher Subistenzweise, 170
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diese bildet nur den losen Rahmen, in dem auch politische und militärische Faktoren eine wichtige Rolle spielen (D. Winch). Vor allem stoßen wir immer wieder auf die Denkfigur unbeabsichtigter Ergebnisse unserer Handlungen: „Zwei Bevölkerungsschichten, die nicht im mindesten die Absicht hatten, dem Allgemeinwohl zu dienen, /haben/ eine Revolution von größter Bedeutung für die Wohlfahrt ausgelöst“. Es waren eitle Grundbesitzer und eigennützige Kaufleute, die zu Vätern des Fortschritts wurden, der alles Bisherige in den Schatten stellt. Die klassischen Zielvorstellungen der Politik: das gute Gesetz, Gerechtigkeit und Frieden, sollten damit keineswegs überflüssig werden.122 Auf dem Kontinent, den Smith durch seinen langen Frankreichaufenthalt als Tutor in Herzogsdiensten kannte, dachte man gerade in Wirtschaftsfragen noch traditionell interventionistisch. Eine breite öffentliche Meinung hielt im allgemeinen staatliche Eingriffe für unverzichtbar, wobei etwa Getreide als „politisches Gut“ galt, das deshalb nicht dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage überlassen werden durfte. Weil man reales, nicht virtuelles Brot aß (Hont-Ignatieff), hatte eine „angemessene Versorgung“ der Armen in der Regel Vorrang vor Mutmaßungen über eine mögliche stimulierende Wirkung des Freihandels. Gegen die verbreitete staatsinterventionistische Meinung, die auch Diderot teilte, hielt Smith Preisregulierungen für ebenso falsch, wie Jeremiaden über die vermeintlich parasitären Städte. Er war trotzdem kein dogmatischer „man of system“ nach Art der Physiokraten, kein Reißbrett-Theoretiker des Laissez-faire und auch kein einfacher Apologet des britischen Status quo. So äußerte er häufig Misstrauen gegenüber Gruppeninteressen, etwa dem feudalen Großgrundbesitz oder eigensüchtigen Manufakturbesitzern (die meist an wettbewerbsfeindlichen Monopolen festhielten); es war für ihn nicht nur ungerecht, sondern kontraproduktiv, einen großen Teil der Bevölkerung in Not und Elend leben zu lassen (Wealth, I-11 und I-8). Smith’ Einstellung gegenüber dem Großgrundbesitz war eindeutig negativ; anderseits sah er realistisch, dass die Herstellung einer agreable equality nur von kurzer Dauer wäre oder die Wettbewerbsmechanismen der Kommerzgesellschaft lahmlegen würde (ebenda III-2). Sein Kriterium war nicht das Naturrecht, und auch nicht die Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung, sondern die Einhaltung von Verträgen nach relativen Maßstäben der Gerechtigkeit. Kontraproduktiv schien ihm auch die Privilegierung des Mutterlandes in den Kolonien: das Monopol britischer Kaufleute im Kolonialhandel schaffe überflüssige Konflikte und störe das natürliche wirtschaftliche Gleichgewicht. Die heiligsten Interessen der Kolonien wie des Mutterlandes würden Gruppenprivilegien geopfert (ebenda, IV-7): die Ursachen des entstehenden Konflikts mit den nordamerikanischen Kolonien, in den das Mitglied der Zollkommission für Schottland guten Einblick hatte. 171
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Anderseits, ja gerade deshalb, kannte Smith keine Alternative zur Marktgesellschaft: nur Wettbewerb und der konsequente Verfolg individueller Interessen könnten langfristig Wohlstand und Fortschritt sichern, nicht Wohlwollen und schon gar nicht „listenreiche und schlaue Geschöpfe, gemeinhin Staatsmänner oder Politiker genannt“. Er geht so weit, zu erklären: „Alle, die jemals vorgaben, ihre Geschäfte dienten dem Wohl der Allgemeinheit, haben meines Wissens niemals etwas Gutes bewirkt“ (ebenda IV-2). Das sollte aber doch nur heißen, dass investitionslenkende Maßnahmen lediglich den – angenommenen – ‚natürlichen Fortschritt‘ eines Landes zu Wohlstand und kultureller Blüte verzögerten, statt ihn zu beschleunigen. Man hat Adam Smith manchmal vorgeworfen, mit seinem Wirtschaftsdeterminismus jede politische Orientierung zugunsten vorpolitischer Selbsterhaltung, wenn nicht einer Kapitulation vor der englischen Parlamentsoligarchie, aufzugeben (J. Cropsey). Tatsächlich glaubte er nicht an Fortschritte, die von politischen Aktionen ausgingen oder gar vom Umsturz bestehender Institu tionen; Sinnvoll und vernünftig schienen ihm nur schrittweise Verbesserungen, bei denen dem Wirtschaftsbereich eine entscheidende Rolle zukam. Das war eine Warnung vor überzogenen in die Politik gesetzten Erwartungen, bedeutete aber nicht, grundlegende Aufgaben der Politik (und der Justiz) zu leugnen. Bei aller Parallelität der Eigentumsverhältnisse und Herrschaftsformen bedeutet Politik in Smith‘ Verständnis nicht einfach die Besitzenden vor den Armen zu schützen, sondern „jedem Menschen (zu) erlauben, sein Interesse auf seine Weise zu verfolgen“ (WN IV-16). Wenn Smith zögerte, die Grenze zum reinen Ökonomismus zu überschreiten, dann war die übrige schottische Aufklärung dazu noch weniger bereit – schon wegen des theologischen Hintergrunds der meisten ihrer Sprecher (der auch keinen Antiklerikalismus französischer Spielart zuließ). Der neo-harringtonsche civic patriotism spielte immer noch eine gewisse Rolle, weil die Existenz der schottischen Nation von ‚Bürgertugend‘ abzuhängen schien. John Logan, der Dichter der Empfindsamkeit, der 1781 auch einen geschichtsphilosophischen Versuch veröffentlichte, war nicht allein, wenn er der (nach 1745 abgeschafften) Miliz eine große ethische Bedeutung beimaß. Dies hinderte ihn nicht an der Wertschätzung des gegenwärtigen Fortschritts der Nation in Sensibilität, Sympathie und Menschlichkeit gegenüber den rauen Sitten der gotischen Jahrhunderte. Die Debatten in den schottischen Klubs wollten allerdings gegenüber Hume zwischen nur äußerlich verfeinerten Sitten (manners) und wahren Gefühlen bzw. echter Tugend unterscheiden (H. Blair); deren präromantisches Paradigma vermittelte Macphersons berühmter Hochlandbarde Ossian. Adam Ferguson († 1816), Moralphilosoph wie Smith, erkannte wie dieser die epochale Bedeutung der Arbeitsteilung, vollzog aber nicht den Schritt zur auto172
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nomen Volkswirtschaftslehre, ja hegte erheblichere Zweifel an den Folgen von Kommerzialisierung, Verfeinerung und Luxus. Zwar konzedierte Ferguson, dessen frühe Version des Essay on the History of Civil Society (1768) schon 1759 Hume vorgelegen hatte, dass Handelsgeist und Gewerbe manchmal „der politischen Weisheit den Weg gebahnt haben“ (Essay 6–5), doch konnte er nicht den Verdacht ausräumen, dass sich das zu große Gewicht privater Interessen auf den Geist der Nation schädlich auswirken müsse. Eine Versammlung von Privatleuten, von Profitgier und Neid korrumpiert, sei wohl kaum kompetent für politische Entscheidungen. Frieden und Bequemlichkeit sind in seinen Augen zwar heilsame Früchte guter Regierung, aber auch Versuchungen (ebenda). Ferguson argumentiert gegen Zuvielregiererei ähnlich wie Smith (3–4), aber will in Handel und Wohlstand keineswegs den Hauptzweck eines Staatswesens sehen. Ohne Sparta oder den „edlen Wilden“ zu idealisieren, glaubt er in einfacheren Verhältnissen ein patriotisches Ethos am Werk, das in verfeinerten Gesellschaften verloren zu gehen droht. Die Barbaren, konzediert er in Anlehnung an Hume, pflegten eher mit Schweiß als mit Blut zu sparen, und die Umkehrung der Formel in der Neuzeit ist in seinen Augen ein echter Fortschritt – unter der Bedingung, dass politischer Gemeinsinn und Wettstreit unter freien Bürgern erhalten bleiben. Jedenfalls würde eine Unterdrückung der Parteien, die sich einander widersetzen und gleichzeitig in Schranken halten (eine Erkenntnis Montesquieus, aber wohl auch eine Anspielung auf die britische Schottlandpolitik) auf keine wohltätige nationale Einheit, sondern auf das Vorspiel zu Schlimmerem hinauslaufen (Essay 6–4) – nämlich Friedhofsruhe. Der Weg von der Rohheit zur Zivilisation ist für Ferguson (wie Smith) oft naturwüchsig und blind; er ist auch auf keine einzige Triebkraft zurückzuführen. In seinen Folgen widersprüchlich, entsteht die Gefahr, dass die von keinem Gemeinschaftsgeist zusammengehaltenen Einzelinteressen das Ganze vergessen. Die an sich produktive Arbeitsteilung kann unter Umständen zur Beherrschung der waffenlosen Menschen durch „Kriegsspezialisten“ führen: dieser Gefahr einer Unterdrückung der civil society sollte die vieldiskutierte Milizidee vorbeugen – ein Gegengewicht zu Verweichlichung und sittlichem Niedergang. Ferguson baut keinen prinzipiellen Gegensatz von Reichtum und Bürgertugend auf, wie man ihm manchmal unterstellt, aber er will auch die Geschichte nicht in Eigengesetzlichkeit einer physical science entlassen: sie ist moralphilosophischer Norm und politischer Korrektur ständig bedürftig. Vier Jahre nach Fergusons Essay erschien ein anderes Werk aus ähnlichem Geist: John Millars Distinction of Ranks (1771, revidiert 1773 und 1779). Der Glasgower Rechtslehrer († 1801) verbindet seines Lehrers Smith’ Sinn für die ökonomischen Lebensbedingungen mit Humes Verständnis für die Formen menschlicher Selbstzivilisierung, dem Fortschritt vom Nichtwissen zum Wissen, von rohen 173
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Bräuchen zu kultivierten Sitten und entsprechenden Gesetzen. Die Fähigkeit zur Vervollkommnung seiner Anlagen ist dem Menschen inhärent; ausgehend von der allerersten Sorge um die Sicherung der Grundbedürfnisse (Distinction I-6), bringt sie überall analoge Erscheinungen hervor. Millars spezifisch schottischer Historismus (W. Lehmann) war keine histoire-pour l’histoire, sondern wollte, wie die Geschichtswerke Willliam Robertsons, dazu beitragen, sich in der Gegenwart besser zu orientieren. Nicht ohne eine gewisse Selbstzufriedenheit über die gegenwärtigen „schönsten Entdeckungen in Kunst und Wissenschaft“ sowie die Vollendung von Sitte, Umgang und Bildung, will er an die bisherigen Fortschritte anknüpfen und sie in einem ‚liberalen‘ Sinn weitertreiben. Ein bezeichnendes Kriterium, an dem Millar die Fortgeschrittenheit einer Gesellschaft misst, ist die Stellung der Frau. Anders als Rousseau, gegen dessen Zweiten Diskurs (über die Entstehung der Ungleichheit) sein Buch stillschweigend polemisiert, sieht er nach diesem Maßstab in primitiveren Gesellschaften ein eigentlich beschämendes Bild der Rohheit und Barbarei: in einem Milieu, in dem allein Stärke und Mut zählen, werden Frauen als ‚Mägde und Sklavinnen‘ behandelt. Eine Verbesserung ihrer Lage tritt schrittweise ein – nicht nur durch größeren Wohlstand, bessere Techniken der Lebensbeherrschung, die Möglichkeit, Eigentum zu besitzen, die Anerkennung typisch weiblicher Talente und Beschäftigungen, eine Verfeinerung der Umgangsformen, ungezwungenere gegenseitige Beziehungen, aber auch die Tradition ritterlichen Frauendienstes; schließlich wird die Frau zur „Gefährtin und Partnerin des Mannes“ (Distinction I-3 und I-5).123 Ein anderes Kriterium des Juristen ist das Interesse der Beherrschten gegenüber den Trägern gesellschaftlicher Autorität. Die Macht der Anführer hängt in Millars Sicht immer vom Zustand der jeweiligen Gesellschaft ab. In Verhältnissen ständiger Gefahr und Kriegsbereitschaft ist sie relativ groß; anderseits beruht sie auf Gegenseitigkeit. Auch verhindert die allgemeine Armut die Entstehung allzu großer Machtfülle. Der Hauptstrang der Argumentation läuft auf die These zu, kriegerische Gesinnung verliere sich allmählich, wenn eine reguläre Regierung für Schutz und Ordnung sorgt. Der Aufschwung von zivilen Gewerben bietet bessere Chancen für die Gewinnung von Reichtümern als der Krieg, der von der bürgerlichen Gesellschaft zunehmend als Last empfunden wird: gegen steuer liches Entgelt überlässt man ihn gern spezialisierten Söldnern. Diese und die Entstehung einer besoldeten Beamtenschaft vergrößern zwar erst einmal die könig liche Macht, doch ist diese als Friedensstifterin funktional; ohne eine die Gesetze sanktionierende Staatsgewalt, das weiß der Jurist, unterdrückt der Stärkere immer den Schwächeren (II-1, V-1). Die Möglichkeit eines selbständigen Unterhalts macht in Millars Sicht aber auch die Aussicht auf eine „demokratische“ Entwicklung wahrscheinlich. Nicht 174
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nur kommt durch die Unabhängigkeit von Herrendienst und herrschaftlicher Protektion eine „Gesinnung der Freiheit“ auf; die alten Großgrundbesitzer verschulden sich, weil sie gezwungen werden, sich die notwendigen Dienstleistungen zu kaufen: typischerweise wechseln die großen Besitztümer in Handelsnationen häufig ihre Herren. Dadurch wird die Chance, zu Vermögen und Ehren zu gelangen, breiter gestreut, und während Adelsprärogative allmählich abgegraben werden, verteilt sich soziale Macht, „des Wohlstands Begleiterin“, bis zu einem gewissen Grad auf alle Glieder des Gemeinwesens (V-2). Auch Millars Gedankengebäude kommt nicht ganz ohne einzelne teleologische Bauelemente aus, etwa die Annahme von Keimen einer Höherentwicklung im Frühzustand der Menschheit, wie in der menschlichen Natur überhaupt; auch die Annahme einer Allgemeingültigkeit der Beobachtungen aus örtlich und zeitlich getrennten Kulturen, aber es zeichnet sich bei ihm eine relativ schlüssige säkulare Fortschrittshypothese auf empirischer Basis ab. Sie misst im Vergleich zu den älteren Aufklärern nicht nur den realen wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Aspekten der Geschichte eine hohe Bedeutung bei, sondern liefert auf der Grundlage aneinander anknüpfender Gesellschaftsstrukturen ein evolu tionäres Fortschrittsschema. *** Die Erkenntnisvorteile einer soziologischen und wirtschaftlichen Fundierung der aufklärerischen Fortschrittskonzeption überwogen zunächst die Unklarheiten und Einseitigkeiten des verblüffend einfachen und zugleich universalen „natur geschichtlichen“ Modells, zumal seine schottischen Protagonisten, bei aller Skepsis gegenüber der historischen Macht bloßer Ideen, keinen ökonomischen bzw. technologischen Reduktionismus vertraten.124 Eingedenk der Lehre von der Ökonomie der konstanten menschlichen Affekte, sahen die Autoren meist ab vom abstrakten, aber in der Praxis wenig relevanten Sollen, und richteten in humescher Art ihre ganze Aufmerksamkeit auf das tatsächliche Verhalten in der jeweiligen konkreten Gesellschaft; anderseits predigten sie – mit Unterschieden – noch alles andere als das triste Evangelium eines wirtschaftlichen Geschichtsautomatismus. Das wirtschaftlich Vernünftige galt ihnen als produktive Chance, die unter Umständen sogar mit dem Moralischen zusammenfallen mochte, aber man musste sie keineswegs ergreifen. Widersprüche zwischen Sein und Anspruch bemerkte Millar (wie schon Smith) zwischen der politischen Rhetorik der aufständischen amerikanischen Kolonien, die sich auf unveräußerliche Menschenrechte beriefen, aber große Teile ihrer Bevölkerung bedenkenlos in rechtlosen Verhältnissen beließen. Damit werde eine „edle liberale Idee der Lächerlichkeit preisgegeben“ und zugleich der traurige 175
IV Aufklärung und Revolution
Beweis geliefert, wie wenig sich der Mensch nach rationalen, auch ökonomischen, Einsichten richtet (VI-4) – aber wohl auch, wie wenig Verlass auf automatischen geschichtlichen Fortschritt – und auf die Demokratie – ist. Der eigene „Moralismus der Hintertür“ verbarg sich – wie bei den Physiokraten – hinter Argumenten wirtschaftlicher Nützlichkeit; Sklaverei und Leibeigenschaft seien durch ihre korrumpierende Wirkung nicht nur schädlich für das sittliche Wesen eines Volkes, sondern behinderten seine materiellen Fortschritte. Während etwa auf den Antillen die Sklaverei die Hauptursache bilde, warum produktivitätssteigernde Geräte keine Verwendung fanden, zeigten die Fortschritte in freien Ländern die Vorteilhaftigkeit der Arbeit auf eigene Rechnung. Die Entfaltung von Handel und Gewerbe in der europäischen Neuzeit habe auf dieser Grundlage eine „Revolution von größter Bedeutung für das Glück der Gesellschaft“ herbeigeführt, die große Menge eingeschlossen, „deren menschenwürdiges Dasein man niemals aus den Augen verlieren sollte“ (ebenda). Obwohl das keine Reduktion von Moral auf Ökonomie bedeutete, kam den Schotten eine andere Art Revolution und Fortschritt nicht in den Sinn. Bürgerkrieg war für sie – wie schon für Hobbes – das schlimmste aller Übel; soweit sie die französischen Turbulenzen von 1789 noch erlebten, lehnten sie diese zumeist ab.125
10. Beschleunigte Aufklärung Ein epochales Ereignis von der Art der Französischen Revolution ist im wört lichen Sinn ein Haltepunkt, von dem aus man zurückblickt auf das Vorangegangene und seine Protagonisten. Das Geschehen erscheint nicht als möglicherweise kontingenter Ereigniszusammenhang (der also völlig anders verlaufen konnte), sondern als Vorgeschichte eines einzigartigen geschichtlichen Umbruchs, deren wahre Bedeutung sich erst durch das Folgende erschließt: Der Gipfel gibt den Mühen der Bergbesteigung den Sinn. Die historische Wirklichkeit ist vielschichtiger und weniger teleologisch angelegt, als das Bild von den Bergsteigern suggeriert. Sie klettern gewissermaßen in verschiedener Richtung und wollen gar nicht auf denselben Berg, sie verlieren die Orientierung und gelangen in andere Gegenden, als die angestrebten, oder sie stürzen ab. Der Absturz kann von ‚schlechten Wanderkarten‘, also unrealistischen Zielsetzungen, herrühren; die Misserfolge der Geschichte sind das Ergebnis von häufig vermeidbaren Fehlentscheidungen, aber auch dem Zusammentreffen unkalkulierbarer Zufälle. Gleich, ob die Revolution von 1789 als ‚herrlicher Sonnenaufgang‘ idealistischer Erwartungen gilt oder mit anderen Metaphern als Sackgasse bzw. Zusammenbruch einer produktiven Entwicklung interpretiert wird: Sie wirft ihre 176
10. Beschleunigte Aufklärung
Schatten auf das vorangegangene, und wohl auch das folgende, neunzehnte Jahrhundert. Man fragt sich zwangsläufig, inwiefern dieses oder jenes politische, kulturelle, ökonomische Geschehen schon in Beziehung zum „Haltepunkt“ von 1789 gesetzt werden muss. Ebenso mag man sich fragen, ob sich spätere Revolutionäre mit Recht auf das große Vorbild berufen (und negative Entwicklungen des neunzehnten Jahrhunderts nicht auf den misslungenen Umbruch des achtzehnten zurückgehen). Diese Perspektive, die „Besessenheit von 1789“ (Furet), ist nicht illegitim, kann aber in die Irre führen. Ein möglicherweise zufälliger Zusammenlauf von Problemen verschiedener Art und Ausrichtung wird als einziges Heilsdrama ideologisiert, aufgewertet zum geschichtlichen Schlüsselereignis, das Heterogenes zusammenbindet und das Jahrhundert geradezu eschatologisch auf das eine Ziel hinlaufen lässt. Eigenständige Phänomene verabstrahieren sich zu einem einzigen Syllogismus, mit der Großen Revolution als Endpunkt oder weltlichem Jüngsten Gericht, das auch auf die Zukunft hin die Schafe von den Böcken scheidet. Die Moderne hatte in ihren aufklärerischen Sprechern auf außerweltliche Heilserwartungen zunehmend verzichtet, sich aber auch kaum auf eine innerweltliche Erlösung ausgerichtet. Man trug die eigenen Vernunftpostulate in die Vergangenheit hinein und hoffte auf die Möglichkeit ihrer Durchsetzung, aber diese bildete keine vorwegnehmende Sinngebungsinstanz, die die Geschichte mit einer klaren Zielvorstellung strukturiert. Schon gar nicht war dieses Ziel eine politische Revolution. In der calvinistischen Tradition war Widerstand gegen den Tyrannen oft gerechtfertigt und der Bruch alter Ordnungen mitunter sogar als „Fortschritt des Reiches Christi“ interpretiert worden. Noch im 17. Jahrhundert mochte man revolutionäre Umwälzungen, im Bewusstsein der Einheit des Vernünftig-Natürlichen und des Moralisch-Politischen, analog zu den kreisförmigen Bewegungen der Himmelskörper als ‚naturnotwendig‘ deuten: als Rückkehr zur ursprünglichen guten Ordnung nach einer Zeit der Wirren. Analog verstanden sich die kirchlichen Neuerungen als renovatio bzw. reformatio. Im Zuge der fortschreitenden Säkularisierung des Denkens, aber auch einer stärker verrechtlichten, die Gewalt eindämmenden Gesellschaft musste sich zwangsläufig auch das Revolutionsverständnis verändern. Der Terminus Revolution wird manchmal in einer eher wertneutralen Bedeutung für Umwälzungen gebraucht, die sich von ephemeren Verschwörungen, Aufständen und Revolten vor allem in der Dauerhaftigkeit der Wandlung unterscheiden (Abbé de Vertot, † 1735). Man will sie möglichst vermeiden, weil sie einer Entfesselung von Elementargewalten, also Naturkatastrophen, nicht unähnlich sind. Die Wechselfälle der Staatswesen verbleiben in der Regel im Bereich des schwer zu kalkulierenden Schicksals und einer immer noch zyklisch 177
IV Aufklärung und Revolution
aufgefassten Geschichte: auf eine Verbindung von Revolution in diesem zerstörerischen Sinn und der Durchsetzung von Vernunft kommt noch niemand. Der Ausdruck wird auch erst durch die unblutige englische Glorious Revolution von 1688 gebräuchlich. Der politische Klassiker Montesquieu († 1755) war bekanntlich eher an sozialer Statik als an Dynamik interessiert und hielt Willkür und Gewalt in jeder Form für verderblich: die lois fondamentales sollten deshalb nicht beliebig sein, sondern dem jeweiligen „natürlichen“ Hintergrund, den Sitten und Lebensformen einer Nation, entsprechen. Es konnte dem Theoretiker der Vielfalt des historischen Lebens weder darum gehen, das abstrakt-Vernünftige zu dekretieren, noch dieses für die Zukunft zu prognostizieren, sondern dem Gesetzgeber die Nähe zu den vorgegebenen gesellschaftlichen Grundlagen und Wertvorstellungen zu empfehlen, den Ausgleich mit diesen zu suchen. „Nichts tun wir so gut, wie das, was wir unserer natürlichen Begabung folgend, in Freiheit tun“ (Esprit des lois XIX-5). Allerdings muss Freiheit entsprechend den konkreten Sitten, Gebräuchen und Institutionen verstanden werden. Freiheit ist nicht Willlkür, sondern findet immer statt in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft, deren jeweilige Regeln nicht unterdrückt oder miteinander vermischt werden dürfen.126 Für Montesquieu ist die republikanische Tugend mit ihrer Liebe zur Gleichheit und zur Gemeinschaft im Grunde auf die Antike beschränkt und kaum wiederherstellbar. Die Tugenden der Römer waren vor allem kriegerische und „Plünderung das einzige Mittel… reich zu werden“, wie es in seinen Überlegungen über Größe und Niedergang der Römer heißt. Die Destruktivität gegen andere kehrte sich schließlich nach innen und zerstörte die Grundlagen der Republik. Wenn der Akademiepräsident von der Monarchie als der dem gegenwärtigen Europa angemessenen Regierungsform spricht, dann kommt darin seine Abneigung gegen Gewalt zum Ausdruck, die Warnung vor unzeitgemäßer Miss achtung der Gesetze und Zwischengewalten, auch vor der Ausschaltung des Wettbewerbs um Ehre zugunsten der Furcht, die Menschen im Despotismus eigen ist. Montesquieu idealisiert die Monarchie keineswegs. Ehrgeiz, das Streben nach Anerkennung, kann mit Müßiggang und Missachtung des Gemeinwohls einhergehen. Aber die Vorteile des ständestaatlich gebremsten monarchischen Gleichgewichts überwiegen und zeigen sich nicht zuletzt bei Volks erhebungen. Während sich das Volk bei Aufständen und Bürgerkriegen in Despotien seinen blinden Leidenschaften hingibt und nicht den Abgrund der Anarchie sieht, in den es den Staat stürzt, ist es ständischen Zwischengewalten in der Regel möglich, die zerstörerischen Extreme zu vermeiden: Man vergleicht sich, steckt zurück, berichtigt sich. Montesquieus Satz, unsere Geschichte sei voll von Bürgerkriegen ohne Revolutionen (Esprit des lois V-11), kann in einem konservativ-liberalen Sinn als Ablehnung zerstörerischer Gewalt ohne konst178
10. Beschleunigte Aufklärung
ruktives Ergebnis gelesen werden. Der Umsturz kann aber auch von despotischen Herrschern ausgehen (‚Revolutionen ohne Bürgerkriege‘). Es werde bald zu einer Revolution in diesem Sinn kommen, sollte es einer Regierung einfallen, die Sitten zu ändern (EL XIX-12). Gegengewalt als Reaktion auf den Despotismus ist verständlich, aber bleibt diesem letztlich zugeordnet. Sie mit geschichtlichem Sinn zu befrachten, möglicherweise für ein Zugpferd der Geschichte zu halten, fällt Montesquieu gleichwohl nicht ein. Einen anderen Akzent hatte Voltaires Geschichtsphilosophie eingeführt, indem sie indifferenten, kurzfristigen politischen Erschütterungen die gegenwärtige révolution des esprits gegenüberstellte. Mit dieser „schönen Revolution“ der Aufklärung verband Voltaire nicht allein weitere Fortschritte der Wissenschaften und Künste, sondern auch die Hoffnung auf ein allmähliches Nachlassen von Fanatismus, Barbarei und schlechtem Geschmack. Zwischen der neuartigen Revolution der Geister und unaufgeklärten Volksbewegungen bzw. blutigen Umstürzen sah der Philosoph allenfalls eine negative Verbindung. Diese Verbindung hat Jean-Jacques Rousseau († 1778) zwar nicht hergestellt, aber mit seinem leidenschaftlichen Widerspruch gegen Voltaires Zivilisationsperspektive radikale Kritik munitioniert und in der pessimistischen Ansicht von der Verderbtheit der Verhältnisse bestärkt. Wie Sokrates das perikleische Athen mit seinen Sophisten entlarvt, so denunziert der Citoyen, dessen eigentliches Vaterland nicht Genf, sondern Sparta ist, die Pariser Kulissenwelt mit ihren Bewohnern. Unter dem Schein einer Blüte der Wissenschaften und Künste wird ein bloßes Maskenspiel ohne inneren Wahrheitsgehalt inszeniert, mit Attrappen und künstlichen Leidenschaften, die die Entfremdung vom Wahren, Sittlichen und Natürlichen verdecken. Der Mensch ist sich selbst unkenntlich geworden. Was die Aufklärung als Erwachen der Vernunft und Wiedergeburt der Künste rühmt, bezeichnet auch Rousseau als Revolution, jedoch als fragwürdige. Wissenschaften, Literatur und Künste winden Blumenkränze um die Ketten, in denen die Menschen liegen, und „lassen sie ihre Sklaverei lieben“. Höflichkeit, Anstand, Geschmack und Verfeinerung sind nur der Schein aller Tugenden, ohne eine einzige zu besitzen (Diskurs über die Wissenschaften und Künste, 1750). Man kennt nach Rousseau viel Überflüssiges, nicht aber sein sittliches Wesen, lebt nicht aus sich, sondern in den Augen der anderen, in Abhängigkeit von deren Meinungen. Künste und Wissenschaften fördern die menschliche Eitelkeit und Selbstsucht, aber lassen Tugend und Sinn für das Gemeinwesen verkümmern. „Er ist nicht Vater, nicht Bürger, nicht Mensch, er ist Philosoph.“ (Vorrede zu N arcisse, 1752). Auch der einfache Glaube wird von vernünftelnden Dogmatikern verfälscht und von philosophischen Schwätzern untergraben. „Früher hatten wir Heilige und keine Kasuisten. Die Wissenschaft breitet sich aus und der Glaube verschwindet.“ (an Raynal, 1751). 179
IV Aufklärung und Revolution
Rousseau macht einen weiteren Schritt und verurteilt mit dem gelehrten Müßiggang und Luxus auch die Ursünde der Ungleichheit, der Unterscheidung von Arm und Reich, die sich gegenseitig ebenso bedingt, wie sich die Reichen und die Gelehrten gegenseitig verderben, Der Luxus mag nun einmal zu großen und reichen Staaten gehören; Rousseau interessiert das nicht: Er will nicht von Reichtum und Größe reden, sondern von Sitten und Tugend. Der Luxus gibt den Armen Beschäftigung, wusste man schon vor David Hume: „Allein, wenn kein Luxus da wäre, gäbe es auch keine Armen.“ Die Laster waren vor den Wissenschaften da, wandte Diderot ein; wollten wir die Akademien abschaffen, so hätten wir zur Sittenverderbnis noch die Barbarei. Rousseaus radikale Antwort: Sind die Menschen von Natur böse, ist es Wahnsinn, ihnen mit der Wissenschaft Waffen in die Hände zu geben (Letzte Antwort an Bordes, 1752). Der Moralist lehnt somit nicht nur die parasitären höfischen Konsumzentren mit ihren künstlichen Bedürfnissen, ihrer Zerstreuung und Prachtentfaltung ab, sondern auch den ständigen bürgerlichen Konkurrenzkampf, der das vermeintliche natürliche Wohlwollen der Menschen in einfacheren Gesellschaften zerstört und Neid und Missgunst herrschen lässt: all die Gaunereien, die Handel und Gewerbe nach sich ziehen (und die Montesquieus Monarchie zur erträglichen, der Gegenwart angemessenen Herrschaftsform machen). In seinem Diskurs über die Entstehung der Ungleichheit (1755) setzt Rousseau den geschichtlichen Sündenfall beim Übergang vom ‚glücklichen‘ autarken Hirtendasein zur arbeitsteiligen Eigentümergesellschaft an: Eisen und Getreide haben die Menschheit revolutioniert; sie symbolisieren das Ende der Unschuld. Ausdruck der neuen Epoche ist ein betrügerischer Gesellschaftsvertrag: in Wirklichkeit ein einseitiger Unterwerfungsvertrag, der allein den Schwachen Fesseln anlegt und einen Zustand einleitet, in dem die angehäuften Reichtümer Mittel sind, noch größere zu erwerben, während derjenige, der nichts hat, auch keine Erwerbschancen erhält. Für Voltaire war die Gegenwart durch Philosophie, Künste und Recht eine einigermaßen erträgliche Zeit geworden („tout n’est pas bien, tout est passable“); Rousseau blieb empört, wie weit „unser vernünftelndes Jahrhundert… die Verachtung der Pflichten des Menschen und Bürgers getrieben hat“. Voltaire glaubte an keinen heilsgeschichtlichen und auch an keinen säkularen Sündenfall; seine illusionslose Anthropologie ging von einer überzeitlich gültigen, angeborenen Neigung aller Menschen zu Faulheit und zu Herrschaft über andere aus – weshalb er mit den Schotten die marktgesellschaftlichen Zwänge für segensreich und die Gleichheit für alles andere als wünschenswert hielt. Auch der Provokateur Rousseau sah im Grunde keine Alternative zum Privateigentum: Es bildet nicht zuletzt die Basis aller politischen Rechte. Gewiss heißt es, nur schlechte Regierungen ließen die Armen in ihrem Elend und die Reichen in ihrer Usurpation (Cont180
10. Beschleunigte Aufklärung
rat social, I-9). Aber sein erträumter Staat ist weder Interessengemeinschaft noch Wohlfahrts- und Glücksmaschine, sondern ein rigoroser ethischer Imperativ, eine fast klösterliche Erziehungsanstalt, die nicht die Armut abschafft, sondern ungleiche Rechte und Pflichten. Voltaire waren die realen Übel dieser Welt ein Hohn auf die Idee einer gütigen Vorsehung; auf sein anklagendes Gedicht über das Erdbeben von Lissabon entgegnete Rousseau, man könnte es als Strafe für die Schaffung überflüssiger parasitärer Metropolen betrachten: Kant wird diese Provokation als ‚Rechtfertigung Gottes‘ würdigen. Allerdings zweifelt der Zivilisationskritiker dann, ob man die fehlgeleitete Geschichte, das Heraustreten aus der Natürlichkeit, wieder zurücknehmen und einer radikalen Korrektur unterziehen könne. Vielleicht hat der Naturzustand historisch nie existiert, gibt Rousseau zu, und ist nur ein individu elles Wunschbild ohne gesellschaftliche Wirklichkeit. „Ihr modernen Völker, ihr habt keine Sklaven, aber … ihr bezahlt deren Freiheit mit der euren.“ Auch sein Contrat social, der Versuch einer Verwandlung des ich-zentrierten Menschen in einen gemeinwohlorientierten Bürger (K. F. Herb) ist nur Nostalgie, jedoch kein Zukunftsprogramm. Das Zeitalter der Tugendrepublik ist definitiv vorüber. Rousseaus Ideal des selbstgenügsamen „glücklichen Mittelmaßes“ wäre in arbeitsteiligen, individualistischen Gesellschaften, auch in Verbindung mit einer von ihm empfohlenen Zivilreligion, patriotischer Erziehung, als Zwang zur Freiheit, kaum durchzusetzen. Völker wieder gut zu machen, die es nicht mehr sind, ist eine Aufgabe, die dem Schicksal der Atriden des Aischylos gleicht – alles, was sie zu ihrer Rettung unternahmen, wurde ihnen zum Verhängnis. Wir verfügen nur über Substitute, Masken des Wahren, und sie könnten den Fortgang des Unheils bestenfalls abbremsen: ein gesittetes Betragen statt Tugend, ein Schein von Ordnung als Alternative zu totaler Verwirrung. Könnte aber der Neuanfang nicht von Völkern an der europäischen Peripherie ausgehen, die weniger depraviert sind als die zivilisierten und weniger erfasst von der verderblichen Dynamik der Marktgesellschaft? Der „Newton der sittlichen Welt“ (Kant) misstraut nicht anders als Montesquieu Veränderungen als möglicher Depravation: Vor allem sollten keine Reichtümer aufkommen. Stabilität wird gesichert durch Autarkie und Außenhandelsverbot, sowie ein hohes Maß an sozialer Homogenität; trotzdem bleibt die Besitzordnung in seinen Gesellschaftsentwürfen bestehen, ja die Besitzlosen werden dem Hausvater unterstellt.127 Rousseau dachte an Polen, Korsika, die Schweiz als Experimentierfelder für die Erziehung zum Gemeingeist. Spätere europamüde Romantiker werden andere exotische Experimente verklären. Rousseau hat in diesem Zusammenhang wiederholt den Revolutionsbegriff benutzt. Zwar ist die Rückkehr zur ursprünglichen Gleichheit und die Zerstörung der Quellen des Lasters im Grunde wünschenswert, heißt es in der Entgegnung 181
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an einen Kritiker, aber das revolutionäre Heilmittel „wäre vielleicht ebenso zu fürchten, wie das Übel, welches dadurch geheilt werden könnte“ (an Raynal, 1751). Und in einem anderen Zusammenhang, zum Europaprojekt des Abbé de Saint-Pierre (1756): „…niemand ist im Ungewissen darüber, wie gefährlich in einem großen Staat der Augenblick der Anarchie und der Krise ist, der notwendig einer Neukonstituierung vorausgeht“; die Massen würden in „konvulsivische Eigenbewegung“ geraten und einen Erdrutsch auslösen. Die eine Revolution, die voltairesche der Geister, ist verderblich, aber unwiderruflich, vor der anderen, der radikal-rückwärtsgewandten, schreckt der Moralist zurück.128 Gegen Ende seines Diskurses über die Entstehung der Ungleichhheit hat Rousseau ein geradezu endzeitliches Bild der Gesellschaft im Despotismus entworfen: Rechte und Freiheiten werden mit Füßen getreten, der Tyrann fragt nicht nach Tugend, sondern nur nach blindem Gehorsam; es herrschen extreme Ungleichheit, Misstrauen und Hass. Die Unterdrückung bewirkt Furcht und führt zur Auflösung des Gesellschaftsvertrags, der auf Gegenseitigkeit beruht: man gehorcht allein der Macht des Stärkeren. Der Despot, indem er sich an keine Gesetze hält, hat einen neuen Naturzustand herbeigeführt, nämlich die hobbes’sche Wolfsgesellschaft. Das Gesetz des Stärkeren muss aber nicht ewig zugunsten des Herrschers wirken, der zum Feind des Vaterlandes geworden ist. Doch nichts deutet darauf hin, dass Rousseau mit dem Sturz des Despoten eine positive Wende im geschichtlichen Niedergang der Menschheit verbindet.129 Robespierre wird sich zu Unrecht auf den heimatlosen Republikaner berufen. *** Vom großen Gemeinschaftswerk der französischen Aufklärung hielt Robespierre dagegen wenig. Die „Sekte der Enzyklopädisten“ habe zwar zur Zerstörung der religiösen Vorurteile beigetragen und zuweilen den Despotismus angeprangert, aber sich auch von Despoten Pensionen erteilen lassen. In den Augen der Jakobiner hatte es den Männern um Diderot († 1784) und d’Alembert († 1783) an politischer Entschlossenheit gefehlt: aber auch Voltaire und Rousseau, die man ins Pantheon überführte, waren keine Volkstribunen. In der Tat waren die vielfältigen Bestrebungen der Enzyklopädisten, bei aller offenen oder listig-versteckten Kritik an manchen Aspekten des Ancien régime, keineswegs auf politischen Umsturz gerichtet; man glaubte zwar an die Vernunft, aber weniger an radikale und praktikable Gesamtlösungen.130 Es mag nicht viel bedeuten, wenn der auf wenige Zeilen beschränkte Artikel Revolution diesem Phänomen keine große Bedeutung beizumessen scheint; mehr spricht die Tatsache, dass 38 Autoren der Enzyklopädie, die noch die Revolution von 1789 erlebten, diese durchwegs ablehnten und in ihrer jakobinischen Phase verhaftet oder ins Exil getrieben wurden. 182
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Die Vernunft und ihre Tochter, die Wahrheit, hatten sich, so Voltaire, angesichts der Fortschritte des menschlichen Geistes in der veränderten Landschaft dieser Erde niederlassen wollen, doch unter Vorbehalt; „wenn die Stürme aufkommen, kehren wir in unser Brunnenloch zurück“ (Eloge historique, 1775). Stürmische Zeiten gefährden das Wirken der Philosophie. Damit ist über die später von der Gegenrevolution immer wieder angeprangerte – explosive – Wirkung der Philosophie natürlich noch nichts gesagt.131 Gleiche Worte können in veränderten Zeiten Verschiedenes bedeuten, und das gilt auch vom Wort als Privatäußerung und als Bestandteil einer öffentlichen Kommunikation, die alles nach Kriterien der Nützlichkeit überpfüft; der Zusammenhang zwischen Ideen und nicht-diskursiven Praktiken der Gesellschaft ist überhaupt ein komplexer, schwer übersetzbarer. Auch von der Herausbildung eines räsonierenden Publikums, Cochins „Laboratorien demokratischer Soziabilität“ zur Jakobinerherrschaft führt kein direkter Weg. Bei der Durchsicht einiger politisch relevanter Artikel der Encyclopédie scheint sich die Ambivalenz der Einstellung einer immer stärker meinungsführenden Elite gegenüber den Verhältnissen um die Jahrhundertmitte zu bestätigen: sie erschienen nicht nur reformbedürftig, sondern auch reformfähig. – Vom Artikel Privileg hätte man möglicherweise eine Kritik an der Rechts- und Steuerleichheit der Stände erwartet, der Autor beschränkt sich jedoch auf eine Erörterung der antiquierten Vorrechte von Außenhandelsgesellschaften, Manufakturen und Zünften und auf ein Plädoyer für die segensreichen Folgen der Gewerbefreiheit. Ähnlich folgt der Verfasser des Artikels Eigentum (Band XIII, 1765) keineswegs Rousseaus Verurteilung der Ungleichheit, sondern empfiehlt vernünftigen Herrschern, die Besitztümer ihrer Untertanen zu achten. Der Artikel über Politische Autorität (von Diderot, Band I, 1751) scheint auf den ersten Blick von einiger Radikalität zu sein: Macht, die sich auf bloße Gewalt stützt, wird durch Gewalt gestürzt; der erwähnte Gedankengang Rousseaus von 1755 ist hier vorweggenommen. Rechtmäßige Gewalt findet ihre Schranken im Gesetz und der Zustimmung der Untertanen; der Staat gehört nicht den Fürsten, sondern der Fürst dem Staat, und wenn der Vertrag zwischen ihnen aufgekündigt wird, tritt die Nation wieder in ihre Rechte ein. – Das war sicher gewagt, aber ein nicht unüblicher Topos rhetorischer Despotenschelte, und kluge Repräsentanten der Monarchie mussten sich davon nicht provoziert fühlen. Nicht zuletzt bemerkt Diderot trocken, man habe durch Widerstand noch nie einen Fürsten verändert, sondern dem bestehenden Unglück „nur eine neue Stufe hinzugefügt“. – Eine Rechtfertigung politischer Umstürze hätte das prekäre Unternehmen der Enzyklopädie zweifellos zu einem vorzeitigen Ende gebracht, aber dies entsprach auch nicht den Wünschen und Erwartungen ihrer Autoren. 183
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Aufschlussreich ist der umfangreiche Artikel über Luxus (aus der Feder von Saint-Lambert, Band IX, 1765). Der Autor wägt zunächst die Vor- und Nachteile übermäßigen Reichtums gegeneinander ab und findet die Ursachen des Niedergangs der Nationen weniger in diesem, wie in einer falschen Regierungsweise, also nach Montesquieus Vorbild in militärischer Expansion, Despotismus und Feudalismus. Das Streben nach Wohlstand ist, analog Hume, nicht verwerflich, im Gegenteil. Gewiss haben Handel, Gewerbe und Wettbewerb zur Anhäufung von Reichtümern geführt, aber Korruption, Verschwendungssucht und Verelendung des einfachen Volkes sind Folgen verfehlter Politik; Luxus und Unterdrückung der Schwachen gibt es darüber hinaus unabhängig vom Zivilisationsstand der jeweiligen Nation. Deshalb würde es nur der Barbarei und Ohnmacht den Weg bereiten, wollte man Europa zur früheren Einfachheit zurückführen. Der Verfasser rät deshalb weder zu Luxusverboten noch zu Agrargesetzen, sondern zur Entlastung der Landbevölkerung132 und zu einer Politik der Ermunterung von Fleiß und „ein wenig Luxus“; dadurch würde die Kluft zwischen Arm und Reich allmählich geringer, der Sinn für Selbständigkeit, die Achtung der Gesetze und die patriotischen Gefühle gestärkt; Aufklärung und Pflichtbewusstsein würden sowohl auf die Großen als auch auf das einfache Volk ausstrahlen. Schon aus den wenigen Proben zeichnet sich eine politische und soziale Gestimmtheit ab, der eher Reformerwartungen von oben als eine radikale Infragestellung der Ordnung als Ganzem entsprachen. Die Enzyklopädie, erst mit königlichem Privileg, dann ohne dieses, dafür mit steigenden Abnehmerzahlen, nach Band VII zwar vom Pariser Parlament untersagt, wurde aber mit Rücksicht auf Verlegerinteressen geduldet. Malesherbes, der königliche Direktor des Buchhandels, der die insgesamt wohltätige Freiheit der Presse mit der des Getreidehandels parallelisierte und für die Tolerierung unumgänglicher kleinerer Missbräuche plädierte, ging so weit, nicht ausgelieferte Exemplare der Enzyklopädie vor der drohenden Konfiskation in seinem Haus zu verstecken.133 Sie konnte noch nach Abschluss des eigentlichen Textteils (1765) weitergeführt werden und kam bis 1780 auf die stolze Zahl von 35 Bänden mit insgesamt 72 000 Artikeln (5000 schrieb allein Diderot). Trotz des Rücktritts von d’Alembert als Mitherausgeber, des Zerwürfnisses mit Rousseau und des hohen Subskriptionspreises, wurde das Unternehmen ein großer buchhändlerischer Erfolg und erreichte mit einer billigeren Quartausgabe, wie Robert Darnton nachgewiesen hat, zwar nicht den eigentlichen Dritten Stand, so doch die höhere Beamtenschaft und geistig interessierte Provinznotabeln. Die Enzyklopädie war natürlich kein herkömmliches Nachschlagelexikon, sondern der angemeldete Herrschaftsanspruch der „Philosophen“, bzw. kritischen Literaten, die mit ihrer Meinungsführung die definitive Ablösung der Heilsgeschichte und der theologisch vermittelten Wahrheiten verbanden. Die „Natur der 184
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Dinge“ und evidente Grundsätze sollten, statt Zufall und Konventionen, den Leitfaden für einen Zyklus, ein konsistentes Ganzes des Wissens, liefern, das nach d’Alemberts Worten von einem Gesichtspunkt aus geradezu nur ein einziges Faktum und eine große Wahrheit bilden sollte. Während die Theologie, die einstige Königin der Wissenschaften, zusammen mit der Geschichte, dem unsicheren Gedächtnis zugeordnet und der kritischen Vernunft untergeordnet wird, rückt die Offenbarung in die Nähe von Magie und Aberglauben. Man ist nur selten zufrieden mit sich selbst, wenn man keinen Gebrauch von seiner Vernunft gemacht hat« (Artikel Glaube, Band IV, 1754). Die Vernunft, heißt es in einem anderen Artikel, soll die Ursachen erkennen, nach Gründen handeln, nicht voreilig urteilen, gegebenenfalls die Dinge unentschieden lassen (Artikel Philosoph, Band XII, 1765). Im Mantel scheinbarer Bescheidenheit erhebt der Philosoph in Wahrheit den Anspruch, die Grenzen des Wissbaren zu bestimmen und das Nicht-Wissbare, Nicht-Veröffentlichbare aus dem neuen Universum zu verbannen. Diderot hat seine Gedanken ironisch mit Straßendirnen verglichen, die sich mit allen einlassen, aber keine feste Verbindung eingehen wollen, sich nicht dogmatisch festnageln lassen. Die Absage an die Metaphysik war dennoch eindeutig; den Aufenthalt in den Wolken wollte er den Gänsen überlassen (Rameaus Neffe). Diese areligiöse Wendung wird durchaus als das Werk einer historischen Spätzeit verstanden, die mit dem Fanatismus auch so mancher Tugend verlustig geht: es herrscht kaum noch Begeisterung, wenn es viel Aufgeklärtheit gibt; „Begeisterung ist meistens die Regung einer Seele, die mehr Leidenschaft als Wissen besitzt.“ (Artikel Gesetzgeber, Band IX, 1765). Ein reduzierter Sinnhorizont wird auf den scheinbar einfachen Imperativ gebracht: „Handle so, dass alle deine Handlungen auf deine Selbsterhaltung und auf die Erhaltung der anderen abzielen: das ist der Ruf der Natur…“ (Artikel Erhaltung, Band II, 1752). Trotz der Einbettung in scheinbare Natürlichkeit gefällt sich der Philosoph in der elitären Rolle eines Fackelträgers der Zivilisation, die vorwiegend als das Werk der großen Denker, Forscher und Erfinder erscheint. – „Möge die Geschichte des menschlichen Geistes und seiner Erzeugnisse von Zeitalter zu Zeitalter immer weiter fortschreiten“ (Prospekt der Enzyklopädie, 1750). – Ganz sicher in Bezug au die gestalterischen Chancen der Vernunft im historischen „Pantomimenspiel der Bettler“, im Kampf um Macht, Ansehen und Wohlleben, war man sich aber doch nicht.134 In der Ankündigung von 1765 kehrt noch einmal der Begriff Umwälzung wieder: einmal als Rückfall in die Barbarei (auch das wäre eine Revolution, doch ein einziges erhaltenes Exemplar der Enzyklopädie würde helfen, den Weg aus Unwissenheit und Finsternis wiederzufinden); das andere Mal als „glückliche Umwälzung“, der auch die Herrscher zuarbeiten könnten – im Bewusstsein, dass ihre Sicherheit durch die Bildung ihrer Untertanen, die Zurückdrängung des 185
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Fanatismus, nur gewinnen würde. Der Zukunftshorizont blieb offen für beide Optionen, aber doch nur insofern, als man den Fortschritt allenfalls aufhalten oder beschleunigen konnte. Trotz der ständigen Berufung auf die nature des choses war die Perspektive der Enzyklopädie nicht einfach „naturalistisch“, sondern in hohem Grad anthropozentrisch, somit in Wirklichkeit ungesichert. In der Nachfolge Bacons hatte sich das Erkenntnisinteresse zur Praxis, dem Machen, den menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen, verlagert. Dem entsprach die Neigung, die ‚natürlichen‘ Dinge als Objekte menschlicher Verfügung zu betrachten und in einem Prozess allmäh licher Aneignung, der connaissance d’appropriation, darzustellen. Das illustrieren vor allem die Passagen der Enzyklopädie, die Handwerk und Technik gewidmet sind: auf eine Weise, meint Roland Barthes, werde das Wesen der Humanität geradezu durch die menschlichen Hände vermittelt – eine Art Schöpfungsakt, den nicht allein die Abbildungen der Werkzeuge und Herstellungsverfahren suggerieren, sondern auch die gesamte Auffassung der Natur: Ohne den handelnden Menschen ist sie, wie schon Vico wusste, in Schweigen gehüllt. Sie wird interessant und schön erst als gezähmte, beherrschte, angeeignete Natur. Ist sie dann aber noch Norm? Was der Mensch mit seiner derart gewonnenen Macht unternimmt, darüber zerbricht sich die optimistische, in Wahrheit reduzierte, Fortschritts perspektive nicht den Kopf. Die reale Welt des Menschen bleibt unaufhebbar den Kontingenzen der Geschichte ausgeliefert. Gewiss ist es nützlich, sich alle Fehler, Verbrechen und Katastrophen der Vergangenheit als Warnung immer wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, aber in der Geschichte gibt es, trotz unseres angewachsenen Wissens und Könnens, eben keine Gewissheit, nur Wahrscheinlichkeit (Artikel Geschichte, von Voltaire).135 *** Die erhoffte glückliche Umwälzung durch eine aufgeklärte Regierung war ausgeblieben, obwohl sich Frankreich in den Jahrzehnten vor 1789 in einer Phase beträchtlichen Aufschwungs befand, ja die „unsichtbare Macht“ der öffentlichen Meinung nach den Worten Neckers (1784) bis in den Palast des Königs zu dringen schien. Der Terminus „öffentliche Meinung“, seit 1750 belegt, zielte auf die kritische Instanz einer kompetenten, unabhängigen debattierenden Klasse – im Gegensatz zur Heimlichkeit von Kabinettspolitik und privilegierten Meinungen der Kirche; noch größer war der Gegensatz zur ‚leidenschaftsgetriebenen‘, blinden und lärmenden Mehrheit ohne Urteilsvermögen. Dieses war eher einer aufgeklärten Beamtenschaft zuzutrauen, weshalb etwa die physiokratischen Publizisten (Le Trône), wie wir wissen, den absolutistischen Regierungsapparat keineswegs 186
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zerschlagen, sondern in den Dienst ihres Programms stellen wollten. Politische Gegengewichte und überlieferte Rechte galten ihnen hingegen als Hindernisse auf dem Weg zur Verwirklichung der einen vermeintlich „natürlichen“ Ordnung, zumindest eines wirtschaftlichen Fortschritts.136 Auch wenn Turgots Reformprogramm scheiterte, kam diese Philosophie in mancher Hinsicht dem Bewusstsein einer leistungsorientierten Beamtenschaft entgegen. Die schwächelnde Staatsmacht hielt schon aus Unsicherheit an den absolutistischen Kulissen und strengen Bestimmungen fest, duldete aber ihre Umgehung in der Praxis. Sie war aus permanentem Geldmangel auf Effizienzsteigerung angewiesen und fühlte sich auf eine Weise auch dem Volkswohl verpflichtet; bei Unruhen wurde zunehmend Zurückhaltung geübt. Die Umsicht und Mäßigung von Polizei und Regierung können gar nicht genug gelobt werden, vermerkt vermutlich aufrichtig der sozialkritische Publizist und Utopist Louis-Sébastien Mercier in seinem Tableau de Paris aus den 1780er Jahren. Die Institutionen seien monarchisch, doch die Sitten ‚republikanisch‘ geworden, glaubt Hippolyte Taine in idealisierender Rückschau. Wir wollen nicht so weit gehen. Der Adel dachte bei aller Anglomanie nicht daran, seine Privilegien aufzugeben: wenn er das in der Nacht zum 4. August in einem Rausch der Generosität tun wird, dann vor dem Hintergrund seiner brennenden Schlösser. Dennoch kann den Eliten im vorrevolutionären Frankreich, die sich in Gesinnung und Lebensweise gegenseitig relativ stark angeglichen hatten, ein gewisses Maß an Gutwilligkeit, gewiss aus Verunsicherung, kaum abgesprochen werden.137 In den Akademien, Logen und Lesegesellschaften übte man das berühmte „Spiel der Gleichheit“ ein, das danach in den politischen Debattierklubs der Revolution fortgesetzt wurde, und lernte nicht zuletzt, sich den Kriterien von Vernunft und Nützlichkeit unterzuordnen. Das hatte Grenzen – im nur beschränkten sozialen Aufstieg der Aufklärer ins Establishment, aber auch in den krampfhaften Bemühungen zahlreicher kleiner Provinzadeliger, in einer wirtschaftlich schwierig gewordenen Lage alte Vorrechte zu reaktivieren. Frankreich war in vielen Bereichen in Bewegung geraten, die das alte Gleichgewicht gefährdete und nicht zuletzt den bestehenden Strukturen die sakrale Weihe nahm. Dem Vordringen der Aufklärung und des Prinzips der Nützlichkeit als sozialer Imperativ entsprach ein aufkommendes Gefühl der Machbarkeit der menschlichen Verhältnisse, dem ja gerade die Enzyklopädie Ausdruck verlieh. Zwischen der wachsenden Zuversicht, einer Erwartungshaltung vor allem der städtischen Eliten, und den halbherzigen Reformschritten von oben musste sich oft Ungeduld und Frustrationen ausbreiten. Doch war da das Problem einer unterschiedlichen Ausrichtung des Willens zum Fortschreiten: Während sich die Regierungen zögernd am Leitbild der wirtschaftlichen Liberalisierung und Modernisierung orientierten, hielten die großbürgerlichen oligarchischen Parla187
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mente an ihren Prärogativen als Freiheitspanier fest und wurden durch eine Flut von Flugschriften im Stil englischer Parlamentsrhetorik gegen die „despotischen“ Eingriffe der Regierung unterstützt. Die aufsteigenden Mittelschichten drängten die Reformminister auf Rechtsund Steuergleichheit sowie gleichen Zugang zur Offiziers- und Beamtenlaufbahn, fühlten sich aber zugleich, etwa durch den Kauf von Ämtern, Grundherrschaften und Staatsrenten mit dem Ancien régime durchaus verbunden. Die städtischen Volksmassen konnten dagegen weder mit Freiheiten der Privilegierten noch mit Liberalisierung etwas anfangen, sondern forderten billiges Brot, also staatliche Preisregulierungen. Auch auf dem Lande verliefen die Konflikt linien uneinheitlich. Die Vorstellungen, die die Öffentlichkeit am Vorabend der Revolution erörterte, waren also nur bedingt auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, obwohl Parolen, wie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit allgemein Akzeptanz fanden: sie meinten jedoch Verschiedenes. „Klerus, Adel und Dritter Stand erhoffen alles von den Generalständen, aber sie erhoffen nicht das gleiche“ (Furet-Richet). In einer frühen Phase hätte eine zielbewusste Regierung die wildwuchernden Parolen aufnehmen und verbindlich definieren, die Rolle des Schiedsrichters im Kampf einander widersprechender Interessen und Fortschrittskonzepte spielen können, aber sie versäumte ihre Chance. In das entstandene Machtvakuum drangen bis dahin unpolitische Kräfte der Gesellschaft, die vom Glauben an politische Gestaltbarkeit aller Dinge sowie dem Willen zum Bruch mit der „gotischen Unordnung“ erfüllt waren. Ihr voluntaristischer Glaube „stößt auf keine Hindernisse oder Grenzen mehr, sondern nur auf Gegner, vorzugsweise Verräter“. Tatsächlich entsprach das affektiv aufgeladene Schlagwort vom Despotismus so wenig der Wirklichkeit, wie der Anspruch der Literaten auf die ungeteilte eine Wahrheit (van der Heuvel). Wenn die französische Monarchie sich als unfähig zu durchgreifenden Reformen erwies, dann war das ironischerweise dem Umstand zu verdanken, dass sie kein monolithisches Machtgefüge war, sondern auf eine Vielzahl montesquieuscher ‚Zwischengewalten‘ Rücksicht nehmen musste, die ihrerseits Freiheit aus ihren Interesselagen heraus verstehen wollten. In einer gereizten Atmosphäre täuschte die Parole der Parlamentsoligarchien über den eigentlich rückwärtsgewandten Charakter ihres Freiheitsbegriffs hinweg. Als Kanzler Maupeou 1777 im Zuge einer Gerichtsreform die Parlamente samt dem Institut der Ämterkäuflichkeit auszuschalten versuchte, wurde das zum Staatsstreich gegen die Grundgesetze und tradierten Freiheiten hochstilisiert, und nur der greise Voltaire, der die antiabsolutistische Demagogie durchschaute, hielt die Reform für vernünftig. Der Versuch wurde im Mai 1788 von Brienne wiederholt und geriet zum unmittel baren Auslöser der Revolution. 188
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Wir kennen die Ambivalenzen des wirtschaftlichen Fortschritts. So hatte der Freihandelsvertrag mit England von 1786 zwar den französischen Weinexport belebt, aber die bisher geschützte Textilindustrie durch Überschwemmung des französischen Marktes in große Schwierigkeiten gebracht; auch die von den größeren Grundbesitzern ausgehende Kommerzialisierung der französischen Landwirtschaft nach englischem Vorbild löste heftige Reaktionen der Dorfgemeinden aus. Missernten und ein ungeregelter Zustrom der wachsenden länd lichen Unterschicht in die Städte vergrößerten die Versorgungsprobleme sowie die Protestbereitschaft der unterbürgerlichen Stadtbevölkerung, die sich naturgemäß gegen die Liberalisierung des Handels richtete. Das hieß ab 1789, in Ernst Schulins einprägsamer Formel: Was die Bürger machten, war nicht im vollen Sinne Revolution. Was Revolution war, war zum Teil gegen die Bürger gerichtet.138 Die eine „bürgerliche Revolution“ ist eine „verworrene Idee“. Leerformeln und Gemeinschaftsrituale täuschen eine Zeitlang über die vielfach inkompatiblen Ziele hinweg und lassen auch nachträglich Heterogenes als „einzigen Block“ erscheinen. Eine wichtige katalysierende Rolle im Kräftefeld der Revolution, beim Umschlagen der Revolution der Geister, von der die Aufklärung geträumt hatte, in eine Revolution der bewaffneten Volksmassen, hatte ein ständig wachsendes literarisches Proletariat gespielt. Das war eine trotz der hohen Nachfrage nach Gedrucktem ökonomisch ungesicherte zornige Masse ehrgeiziger kleiner Publizisten, die die etablierte Gesellschaft, die Kultureliten eingeschlossen, mit immer neuen Schmähschriften, Hasstiraden und Enthüllungen überschüttete. Rousseaus pessimistische Gegenwartsdiagnose wurde von ihnen zum pathetischen Freiheitspathos umgemünzt, in dessen Licht alle tatsächlichen oder suggerierten Probleme der Menschheit politisch bedingt und politisch lösbar waren. Ihre wütenden Attacken zeichneten das Bild einer korrupten und entarteten Herrschaft privilegierter Verbrecher, während sich die in ihren Methoden wenig wählerischen Verfasser in der Rolle entrüsteter Volkstribunen gefielen: die Brutstätte eines radikalen Jakobinismus.139 D’Alembert hatte vor der Gefahr gewarnt, die Ordnung und Klarheit des Denkens durch ein Übermaß chaotischer Gefühle zu verlieren. Im Medium der „Subintelligentsia“ geriet die Aufklärung in einen Sog von Emotionen; der alte Traum vom gewaltfreien Diskurs der Vernunft und Wahrheit lieferte sich massen psychologischen Leidenschaften aus und artikulierte sich in einer Sprache der Klischees, des Zorns, der Angst und der Destruktion. Vielleicht war das das zwangsläufige Opfer für die Ausweitung der Diskurse über den engen Kreis des gebildeten Publikums hinaus, die Besetzung des öffentlichen Raums durch von elementaren Bedürfnissen und irrationalen Ängsten getriebene Massen (Hannah Arendt). Es führte auch inhaltlich in Bereiche jenseits der eigentlichen Aufklä189
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rung, nicht zuletzt zum unerfüllten säkularen Erlösungsversprechen, das die Revolution begleitet und auf das das neunzehnte Jahrhundert reagieren wird. Danach werden den Zeitgenossen – zu Recht oder Unrecht – auch die Abstrak tionen der Aufklärung weltfremd und politisch untauglich erscheinen; der durchaus liberale Publizist Benjamin Constant wird trocken feststellen, dass überspannte Meinungen nur eigennützigen Interessen den Weg bereitet hätten. Die Argumente der Philosophen hatten sich abgenutzt, und vom Willen, die Welt der Vernunft dienstbar zu machen, glaubte man nicht mehr als den nackten Willen am Werk (J. Starobinski). *** Eine kurze abschließende Untersuchung einiger der revolutionären Begriffe soll das Bisherige durch das Selbstverständnis der Akteure, ihre Interpretation des Geschehens, illustrieren. Dabei ist durchaus zu erwarten, dass die Begriffe der engagierten Intellektuellen die Realität eher vernebeln als diese in ihren tatsäch lichen Dimensionen erfassen. Das Deklamatorische und das Mythologische stechen in die Augen, und das heißt, dass die Grenze zwischen Bühne und Leben, zwischen Mythos und Realgeschichte, undeutlich wird. Dem Pathos der Akteure ist, wie es scheint, nicht weniger zu misstrauen als dem alten Glauben, den sie als Selbsttäuschung und Hindernis der Freiheit bekämpfen.140 Fragwürdig ist insbesondere die Stilisierung der Revolution zum übermenschlichen Kampf dämonischer Kräfte und verselbständigter Ideen. Der Rückgriff auf die mythologische Requisitenkammer als Deutungsmuster, bis hin zu Vorstellungen wie Reinigung und Erlösung durch das Blutopfer, produziert Riten und Bilder, die die geschichtliche Ausnahmesituation markieren sollen und das kritisch-empirische Erbe der Aufklärung, Maßstäbe des gesunden Menschenverstands, de facto außer Kraft setzen. Der Kampfbegriff Freiheit, plausibel durch zahlreiche lästige Behinderungen wirtschaftlicher, publizistischer, sozialer oder religiöser Art, wird zur Speerspitze im quasi heilsgeschichtlichen Ringen gegen das apokalyptische Tier des „Despotismus“. Die ursprünglich gut nachvollziehbare konkrete Freiheitsforderung wird zur abstrakten Absage an die Regeln und lädt sich pseudoreligiös und national immer mehr auf, sodass der von unterschiedlichen sozialen Interessenten getragene Gedanke zum disponiblen Schlagwort mutiert und den Zusammenhang mit dem realen Hintergrund verliert. Angesichts der Unvereinbarkeit der verschiedenen Freiheitsforderungen denunziert man deren empirische Träger als Verräter an der chimärischen volonté générale, bedroht sie mit Liquidierung und unterwirft sie einem terroristischen Dirigismus. Das Kollektivsubjekt Volk, am Vorabend der Revolution häufig im Plural (les peuples) und vertikal bzw. negativ definiert, nämlich als Objekt der Fürsorge, nicht 190
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Subjekt der Politik (so Jaucourts Enzyklopädieartikel), wird analog zum eher erkenntnishemmenden Begriff, der häufig nur mehr als Beschwörungsformel und Legitimierung willkürlicher Forderungen fungiert. Das horizontale Band der einen und unteilbaren Nation überlagert mit Ritualen der Brüderlichkeit die tatsächliche Verschiedenheit und fehlende Einmütigkeit, und der „rituelle Vatermord“ am König schafft die Stunde Null, den notwendigen Bruch für die revolutionäre Gestaltung. Das aufgelöste königliche Gewaltmonopol bildet sich dabei um in einen spiegelverkehrten Absolutismus des in dieser Form nicht-existenten neuen Souveräns. Die symbolischen Akte des Gemeinwillens werden von Anbeginn Lügen gestraft durch eine nicht abreißende Folge von Verdächtigungen, Ausschlüssen und Säuberungen (katharsis wird zu katharesis, „Säuberung“ zu „Zerstörung“), wobei die jeweils an der Macht befindliche revolutionäre Gruppierung vorgibt, den wahren Willen des Volkes zu vollstrecken. Auch weitere Begriffe und legitimatorische Formeln der Revolution können nicht unbesehen übernommen werden. Sie sollen die realen Probleme, die schwierige Lebensbewältigung und die eigene Unsicherheit überspielen und noch irrationale Gewaltakte der Straße auf eine Ebene höherer Gerechtigkeit, d. h. suspendierter Alltagsnormen, anheben. Der später hingerichtete Joseph Barnave ruft im Juli 1791 nach einer Beendigung des revolutionären Ausnahmezustands und warnt vor künstlich geschaffenen, chimärischen Gefahren, die das Volk in Dauererregung versetzen sollen, doch die Ereignisse gehen gewollt über alle Konsolidierungsversuche hinweg. In der Atmosphäre eines grenzenlosen Voluntarismus und moralischen Rigorismus, einer manichäischen Spaltung des politischen Bewusstseins in Revolution und Konterrevolution, scheint die Ideologie abzuheben von den Realitäten und den ursprünglichen Anliegen; statt Interessen und rationaler Abwägung der Mittel und Zwecke herrscht ein Phantasiegebilde der Politik, ein Kampf auf dem Kräftefeld revolutionärer Semiotik, auf dem sich derjenige durchsetzt, der den mythischen Volkswillen mit seiner radikalen Rhetorik zu mono polisieren und den Massen den Feind zu zeigen versteht (F. Furet). Die Revolutionsideologie suggeriert ein Bewusstsein der Unumkehrbarkeit (der „verbrannten Schiffe“) und Unbesiegbarkeit; sie vergewissert sich ihrer Errungenschaften durch Revolutionskalender, patriotische Kulte und Heldenpantheon. Aber die Diskrepanz zwischen dem eigentlich geschichtslosen republikanischen Ideal bzw. einer von der Gegenwart nicht fassbaren Sprache (Metz) und dem tristen, häufig brutalen Alltag bleibt unüberbrückt, und weder das antike Heldenpathos noch der Perfektibilitätsglaube der rousseauschen StaatsbürgerFeste ist imstande, den Traum von der Tugend und Gleichheit Wirklichkeit werden zu lassen. Die jakobinische Akkulturation bleibt eine kurzlebige. Als eine vorübergehende oder partielle hat sich, etwa nach Michel Vovelle, die politische Mobilisierung und Säkularisierung der Bevölkerung erwiesen. Den Kult der 191
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ernunft und der Märtyrer der Revolution löst bald ein Kult der Generale ab. V Aber auch der Modernisierungsschub durch die Aufhebung dysfunktionaler Privilegien wird aufgefressen durch die Erschütterungen des sozialen Systems und eine immense Kapitalvernichtung. Damit ist die Frage nach den konkreten Fortschrittsimpulsen der Französischen Revolution selbstverständlich nicht beantwortet. Es bedarf bekanntlich eines unverhältnismäßigen Kraftaufwands, um auch kleine Fortschritte durchzusetzen. Andererseits ist die Frage nicht abzuweisen, ob die revolutionäre Beschleunigung nicht die Energien der Nation in zweifelhafte Bahnen gelenkt und eine weniger spektakuläre, ruhige Entwicklung englischen Typs verhindert hat. Es ist eine bezeichnende Tatsache, dass der Mythos Revolution, als Fortschrittssymbol oder Schreckbild, das folgende Jahrhundert immer wieder in seinen Bann schlagen wird. Das dürfte mit der angedeuteten deklamatorischen und metahistorischen Art ihrer Interpretation zusammenhängen, die hier durch zwei geschichtsphilosophische Versuche aus der Frühzeit einer euphorischen Erwartungs- und Aufbruchsstimmung verdeutlicht werden sollen. Der erste von ihnen stammt von C. F. de Volney († 1820), einem berühmten Orient- und Amerikareisenden, Agrarreformer und Schulpolitiker, ursprünglich den Jakobinern nahestehend, dann aber nur knapp der Hinrichtung entgangen, von Napoleon zum Grafen und schließlich von Ludwig XVIII. in den Pairsstand erhoben. Volney gehörte zu den Enthusiasten der ersten Stunde, die von der Revolution das Praktischwerden der Aufklärung, und zwar im Weltmaßstab, erwarteten. Sein Revolutionskatechismus (1793) war stark antiklerikal motiviert: Der Glaube sei eine „vertu des dupes“ und der Selbsterhaltungstrieb die Grundlage aller Moral; man müsse jedoch lernen, zwischen augenblicklichem und langfristigem Nutzen zu unterscheiden. Im übrigen gilt: Travailler c’est prier. Trotzdem kann der Erzieher nicht auf ein Höchstes Wesen verzichten und entsprechend pathetisch spricht auch der Genius der Geschichte in seinen phantastisch-theatralischen Ruinen (1791). Diese hat ein anderer von der Revolution ebenso begeisterter, dann aber enttäuschter Welt reisender, nämlich Georg Forster, schon im folgenden Jahr mit einer nicht unkritischen Einleitung in Deutschland herausgebracht; Forster glaubt bereits vor neuen tyrannischen Fixierungen warnen zu müssen, die sich hinter der Larve einer allgemeinen Vernunft verbergen und das immer subjektive Urteil ähnlich behindern, wie der vorige Despotismus. Volney stellt angesichts der traurigen Überreste untergegangener Weltkulturen die Frage, „nach welchen Grundursachen Reiche emporsteigen und fallen“, sowie „auf welchen Grundsätzen…der Friede der Gesellschaften und das Glück der Menschen sich gründen soll“. Die Geschichte scheint darauf keine befriedigende Antwort zu besitzen, schon gar eine das Altertum verklärende Geschichte, 192
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die aus Gegenwartshass der Vergangenheit eine falsche Vollkommenheit zuschreibt. Aber auch die Natur kann in die Irre führen: Selbstliebe, Verlangen nach Wohlbefinden, Abneigung vor Schmerzen, die den philosophischen Entwürfen der Holbach und Helvétius zugrunde lagen, sind zwar einfache, ursprüngliche Gesetze, ein Leitfaden auch in der moralischen Welt, jedoch verwildert, in Kombination von Gier und Unwissenheit, führen sie in ein Labyrinth von Irrtümern, das die Menschen sowohl voneinander wie von den wahren Gesetzen der Natur scheidet. Verträge, die ein natürliches Gleichgewicht auf der Basis aufgeklärter Selbstliebe herstellen, haben nach Volney in der Vergangenheit durchaus Fortschritte und Wohlstand bewirkt; Herrschsucht, Priesterbetrug, häuslicher Despotismus haben dieses Gleichgewicht aber wieder zerstört und auch die Nationen durch Vorurteile der Unwissenheit und wilden Hass getrennt. Auch Luxus der einen und Elend der anderen bilden Fehlentwicklungen, sodass der Erfindungsgeist erlahmt und der Gemeingeist erlischt. Die Aufklärung muss deshalb in mehrfacher Hinsicht radikal und praktisch werden: „Weil sie auf der Erde Tyrannen hatten, vermuteten sie auch welche im Himmel“ – Unwissenheit, Aberglaube und Fanatismus verstärkten die Verkehrung der Natur in den zwischenmensch lichen Beziehungen. Das Ergebnis, Verderbtheit der Regierenden und Niedertracht der Beherrschten, bilden ein gemeinsames Syndrom, einen Teufelskreis, aus dem kein Weg herauszuführen scheint. Auch wenn man die Unterdrücker stürzt, glaubt Volney, kommen andere an ihrer Stelle, so dass „nur die Tyrannen, nicht aber die Tyrannei“ sich ändern. Die Betrachtungen verharren zunächst in allgemein-aufklärerischer Begrifflichkeit und einem melancholischen, rousseauschen Rahmen geschichtlicher Dekadenz, den Volneys Pathos nicht wirklich durchbricht: „O erniedrigte Völker, erkennt eure Rechte! Alle Gewalt kommt von euch, alle Macht ist euer“, gehen ins Leere. Auch Sätze, wie „Die Torheit des Menschen stürzt ihn ins Verderben, seine Weisheit muss ihn daraus erretten“, hätten rein rhetorischen Charakter, wäre da nicht der deus ex machina eines geistigen Fortschritts der letzten Jahrhunderte, der dem Aufklärer teuer ist, aber dem unbewusst sogar der ‚Despotismus‘ zuarbeitete: die Leidenschaften, von der politischen Bahn verwiesen, wenden sich den Künsten und Wissenschaften zu und geben der Menschheit eine neue Chance. Wie Aufklärung und Zivilisierung dadurch eine neue Qualität gewinnen, ist nicht klar, es entsteht aber höhere Geschichtsrelevanz schon quantitativ dadurch, dass die neuen Erkenntnisse sich immer schneller übertragen lassen und nicht, wie in der Antike, wieder verloren gehen. Eine entscheidende Brücke zwischen Erkenntnis bzw. kognitiven „Revolutionen“ und der Praxis schlägt der Aufklärer durch die Verweltlichung des Moralischen: Man habe begriffen, dass weise und gut zu sein, von Vorteil ist, und das Glück des einzelnen und das der Gemeinschaft untrennbar zusammenhängen. Es sei quasi nur ein „Rechenfehler“, auf 193
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Kosten der anderen genießen zu wollen: Wir erkennen die typischen Denkfiguren des Jahrhunderts – von den unbeabsichtigten Ergebnissen menschlicher Handlungen bis zur „Moral der Hintertür“. Aber lässt sich das Licht dieser révolution utile verallgemeinern und ist der Utilitarismus eine tragfähige Grundlage für die Republik? Volney gibt der Zukunftsvision einen beschwörenden Charakter, indem er sie dem fiktiven Genius der Geschichte in den Mund legt, während die Ich-Person aus Kenntnis der bisherigen Geschichte Zweifel daran hegt, ob Freiheit aus dem Schoß von Tyrannen hervorgehen und Wahrheit innerhalb von Glaubenssystemen entstehen könne, die die freie Forschung verbieten. Die Antwort gibt ein Idealbild der gegenwärtigen Revolution, die mit der Feststellung der Privilegierten beginnt: Wir sind verloren, der große Haufen ist aufgeklärt; dieser aber antwortet: Wir werden unsere Stärke nicht missbrauchen, wir könnten befehlen, wir wollen aber nur frei sein. Gerade weil das Volk aufgeklärt ist, tut es nach Vorgabe des Menschenfreunds nur, was die Vernunft eingibt. Volneys idealistisches Heilsdrama schließt mit einem neuen Gesellschaftsvertrag, den der überzeugte Weltbürger durch einen Völkerkongress ergänzt; von diesem geht eine Entzauberung der Religionen aus und der Beschluss, die „natürliche Ordnung der Dinge“ zur Richtschnur der Gesetzgebung zu nehmen. Im Bewusstsein, dass alles, was sich der Prüfung durch unsere Sinne entzieht, ohne Belang für die bürgerliche Verfassung bleiben muss, entsteht – durch den Rückschluss auf ein gemeinsames Urbild in der Natur – ein Gesetzbuch für alle Nationen.141 Volneys Betrachtungen sind nur bedingt historisch verankert und laufen eher auf einen Sprung aus der Geschichte ins Reich der Vernunft und Freiheit hinaus, als auf eine empirisch gesättigte Prognose: Der „Genius“, vielleicht das Urbild von Hegels Weltgeist, vermittelt nicht wirkliches Wissen, sondern eine immer vorhandene Hoffnung auf rationale Gestaltung. Voltaires Wunschbild einer „Revolution im guten Sinn“ wird den französischen Ereignissen von 1789 übergestülpt, aber das Neue und Offene der Situation im Verständnis der Zeit zurückgebogen durch die Figur der Rückkehr, der Ableitung des Wahren aus dem Ursprünglichen. Damit wird aber die Realgeschichte mit ihrem Prinzip des trial-and-error als Maßstab des Möglichen und Basis des Fortschritts entwertet; das Bild der Revolution entgleist ins Utopische, wenn nicht Eschatologische. Man kannn sich allerdings mit einigem Recht fragen, ob sich etwa die Erklärung allgemeiner Menschenrechte auf der Grundlage der empirischen Geschichte begründen ließ: das „Natürliche“ ihrer Idee ist gerade nicht das Faktische, sondern der ewige Maßstab, der sich menschlicher Willkür entzieht. „Das Recht und das von der Natur verfolgte Ziel werden zu einer Einheit“ (B. Groethuysen). Das hieß aber, zu einer vormodernen, teleologischen Natur zurückzukehren, zur Vor194
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stellung eines Systems sinnvoller Zwecke, zu denen auch die Bestimmung des Menschseins zu Freiheit und Gleichheit gehört.142 Ein breiter geistesgeschichtlicher Hintergrund bildet auf den ersten Blick den Hauptunterschied zwischen Volney und dem Tableau historique menschlicher Fortschritte des Antoine Nicolas de Condorcet († 1794) – einen Schlusspunkt der klassischen Wissenschafts- und Fortschrittsdiskurse, Rechenschaftsbericht und Zukunftsentwurf in einem. Der Mathematiker und ständige Akademie sekretär, Lobredner des methodischen Zweifels, der Erfahrung und rationalen Analyse, weiß, dass es in den menschlichen Dingen keine Gewissheiten gibt, sondern nur Wahrscheinlichkeit, allerdings zureichende. Die Wissenschaften und die auf ihnen beruhende Philosophie weiten in seinen Augen legitimerweise ihre Zuständigkeit auf den Staat aus: in diesem Sinn hatte er schon früh (1782) für eine Verbindung der physikalischen und der Gesellschaftswissenschaften plädiert. Die als göttlich apostrophierte Raison der Aufklärung ist bei Condorcet normative Instanz, die Gegenspielerin nicht nur des ‚Aberglaubens‘, sondern auch der falschen Staats-Raison. Der Verfasser eines Werks über den Denker und Reformer Turgot (1781) zeigt große Affinität zum einstigen Vorgesetzten und Freund, auf den er sich auch in den Betrachtungen über die Sklaverei der Schwarzen (1781) beruft; in seinen Fußstapfen legt er 1792 eine Reihe von Memoranden zur Organisation der öffentlichen Erziehung vor, als Konventsmitglied tritt er im folgenden Jahr mit einem demokratischen Verfassungsentwurf hervor, dann wird er Opfer des Terrors. Der einstige Jesuitenzögling und Voltaire-Herausgeber ist voll Abscheu gegen jede Art des Aberglaubens und Fanatismus, doch wird sein heroischer moralischer Wille und sein ungebrochener Glaube an die grenzenlose Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen durch das Hilfsgerüst aus rationalen Argumenten nicht so sehr begründet, wie in seiner Ungesichertheit verhüllt. Trotz aller zugegebenen, aber für vorübergehend erklärten Rückschläge des einen Fortschritts gibt es für Condorcet am Sieg der Wahrheit keinen Zweifel – und darunter ist nicht nur die Zunahme von exaktem Wissen gemeint, sondern in gleichem Maß Freiheit, Tugend und Menschenrechte. „Les progrès de la vertu ont toujours accompagné ceux des lumières…“ Diese Parallelität, eine projektive Wunschvorstellung, ist natürlich fragwürdig: die kognitive Wahrheit ist überlastet mit dem alten Erlösungsversprechen, und die modernen Gesellschaftsverträge haben den gesellschaftlichen Frieden sogar abhängig gemacht von der Hintanstellung der konsensunfähigen Wahrheitssuche. Die parallele Vervollkommnung aller Lebensbereiche scheitert am Eigensinn von Politik und Moral, schon an der Verschiedenartigkeit der Erkenntnisinteressen; die lineare Kette der evidenten Wahrheiten bzw. ausgeschalteten Irrtümer missversteht den Charakter der geschichtlichen Wirklichkeit und verbirgt nicht zuletzt einen 195
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Machtanspruch – die Arroganz der intellektuellen Eliten kann despotischer werden als das Ancien régime je war. Auch wenn wir die Verbindung von Wissenschaft mit Freiheit, Tugend etc. primär als Absichtserklärung oder Wunschtraum verstehen, bleibt die Befähigung der Wissensträger außerhalb ihrer eigentlichen Sphäre ein Problem, Diderot hat nicht zu Unrecht vor der „Dirnenhaftigkeit“ der Vernunft gewarnt. Condorcet ist sich bewusst, dass gerade die zivilisatorisch fortgeschrittensten Völker häufig von „Raffgier, Grausamkeit, Verderbtheit und Vorurteilen“ geprägt waren, und er versucht das mit dem Hinweis auf den ‚Despotismus verderbter Herrscher‘, den korrumpierenden Eroberungsgeist und den Einfluss herrschender ‚Priesterkasten‘ zu erklären. Es ist aber die Frage, wer wen verdirbt: Despoten fürchten die Wahrheit und hassen Talente, gewiss; aber das Wahrheitsmonopol lässt umgekehrt zu Despoten werden. Die eine ‚Wahrheit‘ fasst bei Condorcet verschiedene wünschenswerte Dinge zusammen. Einzelne ‚Wahrheiten‘ waren, mitsamt den ‚Talenten‘, von den Machthabern schon immer leicht zu vereinnahmen; große Kunst gedieh an Höfen von Tyrannen, die sich oft gern als Volksbeglücker feiern ließen; technische Fortschritte waren, wie Condorcet wusste, häufig Nebenprodukte von Kriegen. Die erstrebenswerte Verwissenschaftlichung der Politik bleibt ebenfalls ambivalent: mit oder ohne politischen Umsturz, wird sie jedenfalls die Kontrollchancen der jeweiligen Machteliten vergrößern. Condorcet rühmt seinen Lehrer und Freund Turgot als Entdecker des Fortschrittsgesetzes. Er übernimmt auch dessen auf der Subsistenzweise beruhenden geschichtlichen Entwicklungsphasen, aber sein Hauptinteresse gilt nicht so sehr den Lebensbedingungen, wie dem Intellekt. Die geistigen Impulse wirken selbständig, wenngleich nicht säuberlich von der gesellschaftlichen Praxis geschieden. Sie sind die entscheidenden Faktoren, obwohl Condorcet, wie die Schotten, auch jene ungewollten Fortschritte kennt, die aus einem Zusammenspiel von „Irrtümern“ zur „Wahrheit“ gelangen: Kriege im Namen des Aberglaubens haben dazu beigetragen, diesen zu durchschauen, und Entdeckungsreisen aus Habsucht und Fanatismus haben sich als Motor von Seefahrt und Industrie erwiesen. So hat auch die europäische Reformation zwar nur „bequemere Gefängnisse und längere Ketten“ geschaffen, aber doch die Formulierung von Freiheitslehren gefördert. Auf sie geht nicht zuletzt die Entdeckung einer neuartigen, der Antike fremden, unveräußerlichen und allgemeinen Freiheit zurück, auch die eines „dem Menschengeschlecht inhärenten, gleichen Rechts“. War das aber, wissenschaftlich gesprochen, nicht auch ein bloßer Glaube? Die Einheit der diversen Fortschritte wird bei Condorcet garantiert durch die Rückbindung an eine umgreifende Natur: es sind somit tatsächlich Entdeckungen, nicht Erfindungen des menschlichen Geistes, die die Menschheit voranbringen 196
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und die weit schneller erfolgen könnten, wären da nicht die Behinderungen durch Despotismus, Aberglauben, Angst und Leiden. Die ungleichmäßigen Erfolge in Wissenschaft und Industrie, Wohlstand, Bildung und bürgerlicher Freiheit, die Inseln der Zivilisation in einem Meer der Barbarei, haben einen einzigen, teleologisch vorgegebenen ‚natürlichen‘ Hintergrund und scheinen eben deshalb in gemeinsamer Richtung zu weisen. Noch die Bestimmung des Menschen zu Freiheit und Würde glaubt der naturalistischen Wendung des 18. Jahrhunderts, bis hin zur Einbeziehung des Menschen in die Stufenleiter der übrigen Lebewesen, nicht zu widersprechen: Die Natur ist das Tatsächliche und das Wahre in einem. So ergibt sich auch die Rechtsgleichheit aus der Ausstattung aller Menschen mit gleichen physischen und psychischen Anlagen, denen die kulturellen Verhältnisse nur angepasst werden müssen. Hier hatten die französischen Materialisten, die Holbach und Helvétius, mit ihrer polemisch motivierten Verwischung der Grenze zwischen Natur und Gesellschaft vorgearbeitet, mit der die Verachtung der bisherigen Geschichte einherging, aber auch der Glaube, man könne den Menschen durch Gesetze und Erziehung zu dem formen, was die Philosophen für seine ‚natürliche Bestimmung‘ hielten. War die Natur als das allgemeine Muster der Künste und Wissenschaften die eigentliche Lehrmeisterin der Menschen, so galten auch die Erfindungen als bloße Realisierungen natürlicher Anlagen im Menschen: der Zwecke setzende Mensch und die Ideologie der umfassenden Natur werden in eine allzu innige Verbindung gebracht, wenn nicht identifiziert. Überhaupt werden das institutionelle Gefüge der Zivilisation, die Notwendigkeit von sozialem Gleichgewicht und Rückbindung an geschichtlichen Erfahrungsraum, die Beschränktheit und Störanfälligkeit von Vernunft, Wissenschaft und moralischen Wertvorstellungen, mit der Behauptung ihrer Natürlichkeit sträflich unterschätzt: die Herrschaft der Gerechtigkeit und des allgemeinen Glücks war eine Konstruktion in vacuo (J. B. Bury). Louis-Sébastien Merciers († 1814) utilitaristische Utopie L’An 2440, die 1770 das französische Publikum faszinierte , entsprach dem herrschenden Natürlichkeitsideal, indem sie alles unpraktische Wissen, Geschichte und Jurisprudenz eingeshlossen verbot, ebenso wie Muße, Luxus, Außenhandel und der Bürgertugend unzuträgliche Kunst und Literatur. Der Naturbegriff, der früher in der Regel die hierarchische statische Ordnung aller Dinge zu rechtfertigen hatte, wird hier zur Legitimationsformel für die Konstruktion eines eigenartigen Fortschritts im Singular . Diese widersprüchliche, aber sich in ihren Komponenten gegenseitig aufladende Natur zeigt sich auch in Condorcets ‚natürlicher‘ Lehre vom Menschen, des von Aberglauben und Herrschsucht freien art social, Soziallehre und Sozialtechnik in einem, die das Zusammenleben auf der Grunderkenntnis gleicher Rechte und Interessen gründen will. 197
IV Aufklärung und Revolution
Die Hauptintention seines Konzepts könnte, im Vergleich zu den eher repressiven Utopien der Zeit, geradezu als ‚liberal‘ bezeichnet werden, da seine Kunst auch lehrt, die eigenen Interessen zu erkennen und wahrzunehmen, somit staatliche Eingriffe letztlich überflüssig zu machen. Condorcet erwartet von seiner wissenschaftlichen Menschenkunde auch im Bereich der Moral und Politik, der Gerechtigkeit und Gefühlsanalyse so sichere Erkenntnisse, wie in der Naturwissenschaft,143 so dass für eigene Entscheidungen und unterschiedliche Standpunkte kaum ein Spielraum übrig bleibt – um so mehr für ein Diktat im Namen „der Vernunft“. Das wäre plausibel in Bereichen städtischer Hygiene oder medizinischer Vorsorge, man kann aber nicht umhin, auch angesichts späterer Erfahrungen, solchen Szientismus als unzulässige Grenzüberschreitung vom Faktischen zum Normativen zu empfinden: Unter dem gemeinsamen Dach einer scheinbar universalen Methode beugen wir uns in jedem Bereich dem Spruch der Hauptverwaltung der einen Wahrheit. Auch die Zukunft ist in diesem wissenschaftlichen Weltbild eindimensional vorgegeben; die Distanz zwischen den immer relativen Tatsachenaussagen und den notwendigen Wertoptionen wird von einer teleologischen Naturauffassung nur scheinbar schlüssig überbrückt. Der Mathematiker weist mit Recht auf mögliche Anwendungen der Wissenschaft im sozialen und sogar ethischen Bereich hin, etwa die statistische Berechnung der Folgen einer Handlung, aber er täuscht sich über die Vermeidbarkeit subjektiver Urteile: Die Ursachen aller Irrwege in der Geschichte, ebenso wie in der Moral, sind eben nicht unbedingt Irrtümer intellektueller Art, oder gar „erreurs physiques“. Condorcet war sich schmerzlich bewusst, dass die Aufklärung immer noch Sache einer Minderheit war und auch die europäische Bildung nur einen bescheidenen Teil der Erde beherrschte; aber an der Überlegenheit dieser Bildung gegenüber den ‚Partialkulturen‘ und deren Werten bestand für ihn in gut christlicher Tradition kein Zweifel. Der Siegeszug „des Geistes“ werde zur Reduzierung von Unwissenheit und Elend, Unfreiheit und Verwahrlosung, nicht zuletzt der Ungleichheit zwischen den Völkern, führen – ein ehrenwertes Programm. Die allgemeine Vervollkommnung der Menschheit soll sich aber mit Notwendigkeit vollziehen, in vermeintlicher Analogie zur Gesetzmäßigkeit der übrigen Naturvorgänge. In Wirklichkeit bestand die Entdeckung der „beschleunigten“ historischen Zeit in der Abkoppelung von den naturgebundenen Leitrhythmen (Koselleck).144 Die Rückbindung des historischen Fortschritts ans Naturgesetz ergab sich hauptsächlich aus dem legitimatorischen Bedürfnis, die eigenen Werte und Erwartungen als quasi-natürliche abzustützen; sekundär auch aus der revolutionären Metaphorik der entfesselten Elementargewalten, die scheinbar objektiven Gesetzen folgten. 198
10. Beschleunigte Aufklärung
Die voltairesche Revolution der Geister ist eine Sache und die leidenschaftlichen Deklamationen der Klubs eine andere. Vor 1789 war auch Condorcet der Ansicht gewesen, die politischen Umstürze blieben folgenlos und würden ohne die Wirkung der Aufklärung als Desaster verpuffen; der letzte der Enzyklopädisten traktierte überhaupt jeden enthousiasme exageré mit Verachtung. Jetzt drückt der Diskurs der Revolutionsideologen auch den undurchsichtigen und gewalt samen Ereignissen der Gegenwart die Marke des Vernünftigen, Unumkehrbaren und Gesetzmäßigen auf. Aus dem allmählichen, friedlichen Strukturwandel, den Aufklärer, wie der Chevalier de Chastellux und auch der späte Voltaire als schrittweisen Rückzug von Unwissenheit, Gewalt und Unrecht apostrophiert hatten, wird geradezu metaphysische Gewissheit. Die revolutionären Peripetien können sich diesem Fortschrittsgesetz nicht nur nicht entziehen, sondern beschleunigen den Strom des Unvermeidlichen: das kleine Schiffchen der fortschreitenden Menschheit steuert aus den ruhigen Wassern in rasende Stromschnellen. Die Elementargewalten gehen über Einzelschicksale, wie die Condorcets selbst, hinweg, aber sie unterliegen einem höheren Vernunftgesetz. Die Revolutionen der Völker, so glaubt der Rationalist bis zuletzt, sind quasi-Naturvorgänge; nach Maßgabe der Regierenden können sie friedlich oder gewalttätig ablaufen, aber ihrem Inhalt nach sind sie keineswegs kontingent. Der aufklärerische emanzipatorische Wille bewegt sich auf der vorgezeichneten Bahn einer zwingenden Logik mathematisch formulierter Naturgesetze. Condorcets Zukunftsperspektive, konkreter als die Volneys, beruft sich auf die Natur als Klammer für Wahrheit, Glück und Tugend. Sie beeindruckt durch eine Reihe aktiver sozialtechnischer Vorhaben: Volksbildung, Entwicklungshilfe, die Verringerung von Eigentumsunterschieden, Familienplanung, die Abschaffung von Kriegen, die witzigerweise als „Beleidigung der Natur“ gelten, bis hin zu übernationalen Konföderationen, Freihandel, Gleichberechtigung der Geschlechter usw. Die Durchsetzung seines noblen Fortschrittskatalogs hat sich als schwieriger gezeigt denn die Proklamation oder die literarische Utopie; die Menschen folgen nicht unbedingt vernünftigen Argumenten, selbst wenn sich diese auf die Natur und menschliches Eigeninteresse berufen.145 Wir tun das zwar heute angesichts von Verstößen gegen den Menschenrechtskatalog auch, haben aber inzwischen das Vertrauen in die natürliche Güte und Vernunft der Menschheit (und in absolute Wahrheitsinstanzen) verloren. Deshalb ziehen wir es vor, Condorcets und andere wünschenswerte Ziele als zivilisatorische Korrekturen, also künstliche, ungesicherte Eingriffe in den natürlich-unbarmherzigen Gang der Dinge zu betrachten. Menschenfreundliche Visionen erweisen sich nicht selten als durchaus praktikabel, als selbsterfüllende Prophezeiungen und als Ansporn für poli tisches Handeln bzw. praktische Reformtätigkeit; um Fortschrittstheorien oder zwangsläufige Prozesse handelt es sich nicht. Die Zukunftsgewissheit, die sie zu 199
IV Aufklärung und Revolution
vermitteln suchen, kann sich, umgekehrt, in den Händen machtbesessener Epigonen, die sich im Besitz der einen Wahrheit wähnen, gegen die großherzige Intention des ursprünglichen Entwurfs wenden.
11. Die Erziehung des Menschengeschlechts Die Idee der Vervollkommnung entspringt oft einem kompensatorischen Wunsch, und ihr Ausgangspunkt ist das Gefühl der Enge, des Mangels, eines Defekts. Schon immer waren Menschen aus der Schwere des Alltags in Gegenwelten geflüchtet, hatten in Ritualen, Rausch und Versprechungen, Jenseitskulten Trost gesucht, die das eigene Elend eine zeitlang vergessen ließen. Auch in differenzierteren Kulturformen spielt das Kompensatorische und Illusive eine herausragende Rolle; die vorgestellte Vollkommenheit mochte dabei auch negativ auf die Wahrnehmung des Vorhandenen zurückwirken. Utopische Gegenwelten aus harmonischen Tönen, Bühnenzauber, farbenfrohen archaischen Bild szenen leben vom Kontrast zwischen dem grauen Alltag, seinen Versagungen, und dem „schönen Schein“; Interpretationen der Welt als Abglanz einer idealen und des Leids als Bestandteil eines sinnvollen Geschehens, Revokationen vergangener Größe, sind nur verschiedener Ausdruck der menschlichen Sehnsucht nach dem Anderen und Vollkommenen. Diese Sehnsucht erfährt in der Aufklärung eine Verwandlung. Es ging nicht eigentlich darum, die Transzendenz abzuschaffen. Voltaires Ansinnen, Gott zu erfinden, wird im Nebensatz ironisiert: wenn es ihn nicht schon gäbe. Die Erwartung des Anderen muss nicht neu erfunden werden, unterliegt aber vernünftiger Prüfung, die als Daueranspruch gedacht ist: Vernunft als ständiger Prozess und nicht als ein Haben.146 Keine Idee ist vor ideologischer Vereinnahmung, gar Degradierung zum politischen Schlagwort, gefeit, und bei vielen schrillen die Alarmglocken schon, wenn der Transmissionsriemen des Erziehungsgedankens auftaucht: Man wittert eine Instrumentalisierung für nicht hinterfragte Zwecke. Auch die ins Vernünftig-Innerweltliche herabgeholte praktische Transzendenz lebt von der alten Spannung zwischen dem Vorhandenen und dem Absoluten, dem Sein und dem Sollen. Aber erst wenn die Übel der Welt nicht mehr das Selbstverständliche und Normale sind (Marquard), kann sich der mit der christlichen Lichtmetapher verbundene Erlösungsgedanke in vernunftbedingte Selbsterlösung verwandeln. Im deutschsprachigen Raum ist dieser Gedanke häufig auf dem fruchtbaren Boden des Pietismus gewachsen, seiner Strenge und methodischen Zielgerichtetheit, dem Nachdruck auf fromme Lebenspraxis und gemeinnützige Berufsaskese, statt des Dogmen- und Wunderglaubens. Diese Tendenz war bezeichnend noch 200
11. Die Erziehung des Menschengeschlechts
für die deistisch beeinflussten Neologen (J. F. W. Jerusalem † 1789), die die Offenbarung nur mehr für eine zusätzliche Bestätigung der natürlichen Religionswahrheiten hielten; aus dem Gedanken, jeder Mensch trage in seiner Vernunft das Bild des Schöpfers in sich, zogen sie den Impuls für ihre mannigfaltigen erzieherischen Aktivitäten. Man wusste darüber hinaus: Wie der einzelne zur Vervollkommnung seiner Anlagen gebracht werden kann und soll, so verfolgt Gott auch mit der Menschheit als ganzer einen stufenweise fortschreitenden Erziehungsplan. Nicht so sehr von Rousseaus inspirierendem, jedoch pädagogisch schwer umsetzbaren Grundgedanken, wonach das Kind der eigentliche Mensch ist, wie von der Halleschen Tradition eines berufsbezogenen Arbeitsunterrichts, ging Johann Bernard Basedows († 1790) Dessauer Philanthropin von 1774 aus. Gemeinsam war die Idee, im Kind eine ungenutzte große Chance zur Neugestaltung der Gesellschaft zu sehen. Basedow war ein Arbeits- und Ordnungsfanatiker, der seine Zöglinge einer ständigen Kontrolle und rationalen Lebensgestaltung unterwarf; Gartenarbeit, Drechseln, Glasschleifen und Holzfällen waren probate Mittel gegen physische und moralische Schwäche. Seine Erziehung zu bürger licher Brauchbarkeit stand trotz mancher Parallelen quer zu Rousseaus utopischem Erziehungsideal, das die Anbefohlenen vor der Verderbtheit der Gesellschaft möglichst zu bewahren suchte. Gemeinsam war das Ziel einer Umschaffung und Modellierung zu neuen Zwecken und Werten – gegen Furcht, Aberglaube und Faulheit, die der Bestimmung des Menschen widersprachen und zugleich eine wesentliche Ursache von Armut und Rückständigkeit der Gesamtgesellschaft darstellten. Damit war der aufgeklärte Staat als Verbündeter und Protektor der Reformpädagogen angesprochen. Tatsächlich wollten sich Staat und Erzieher gegenseitig in Dienst nehmen, doch waren es erst einmal Absichtserklärungen, die an Geld- und Lehrermangel scheiterten, oft auch an der verbreiteten Überzeugung, Schulunterricht für Bauernkinder sei reine Zeitverschwendung. Ein erstes Lehrerseminar entstand bezeichnenderweise im pietistischen Halle. Der bürokratische Anstaltsstaat verlor diese Disziplinierungschance gegenüber der Masse seiner Untertanen gleichwohl nicht mehr aus den Augen. Die pädagogische Traktatenflut, die sich in der zweiten Jahrhunderthälfte auch über die unteren Volksschichten ergoss, wollte die Selbstentfaltung, Leistungs fähigkeit und „Glückseeligkeit“ der Menschen fördern und die erreichte Aufklärung über ihre dünne Trägerschicht hinaus ausweiten; die deutschen Philanthropen hofften damit sogar die Standesgrenzen zwar nicht zu überwinden, aber durchlässiger zu machen. In der Praxis nahm das Erziehungsprogramm gegen Aberglauben und zur Erleuchtung des Verstandes, der Anleitung zu Fleiß, Rechtschaffenheit und Gemeinnützigkeit aber sehr wohl den realen Zustand der Bevölkerung zum Ausgangspunkt. Jede Vollkommenheit, erklärte der Erziehungs 201
IV Aufklärung und Revolution
theoretiker Peter Villaume (1785), ist ein Verhältnis, d. h. der Erzieher muss „allemahl auf den sozialen Stand seines Zöglings Rücksicht nehmen; ermutigt man ihn zu höheren Zielen, als die Verhältnisse gestatten, macht man ihn nur unglücklich“ (nach U. Herrmann).147 Auch im katholischen Bereich wurde die Idee eines verbesserten Elementarschulwesens (Ignaz Felbiger) und einer Nützlichmachung der Predigtkanzel durch entsprechende Priesterausbildung aufgegriffen. Symptomatisch war der konfessionell übergreifende Gedanke einer Bildung der Volksschichten im Sinn einer Erziehung zu rastloser Tätigkeit, Regelmäßigkeit, Pünktlichkeit, Nüchternheit, Sparsamkeit (die sog. Industrieschulbewegung Ferdinand Kindermanns in Böhmen, die sich aus Einnahmen der aufgelösten frommen Bruderschaften und der konfiszierten Jesuitengüter finanzierte).148 Analog erklärte ein anderer Propagator der Industrieschule, Schulen der Faulheit, der Stupidität und der Unbrauchbarkeit fürs Leben sollten in praktische Lehrstätten von „Sparsamkeit, Fleiß, Indüstrie und wohlgeordneten Erwerbungstriebs“ verwandelt werden (J. H. Campe). Die Praxis blieb hinter dem emanzipatorischen Entwurf ein großes Stück zurück, Hilfe zu Selbsthilfe zu leisten, aber die Industrieschule war mehr als nur eine „Hilfsagentur des Manufakturkapitalismus“. Die Begeisterung für den Erziehungsgedanken war jedenfalls aufklärerisch motiviert, wie sich umgekehrt die Aufklärung in Deutschland als Lern- und Erziehungsprozess in einem verstand. Immanuel Kant, der Basedows vielfach nachgeahmtes Philanthropin als Erziehungsmethode begrüßt hatte, die ihm aus der Natur selbst gezogen zu sein schien, meinte später, der Mensch könne nur durch Erziehung Mensch werden: „Er ist nichts, als was Erziehung aus ihm macht.“ Diese solle sich aber nicht am gegenwärtigen unvollkommenen Zustand der Menschheit ausrichten, sondern am zukünftig möglichen, nämlich der Idee der Menschheit bzw. deren Bestimmung. Kants „Naturabsicht“ ist dabei, wie wir noch sehen werden, nicht auf Wohlbe finden, überhaupt naturale Zwecke ausgerichtet, sondern auf das generationsüberschreitende „Sich-Hervorarbeiten“, also quasi die geschichtliche Selbst erziehung der Gattung. Das liefert ein teleologisches Schema für die Geschichtsbetrachtung und vice versa. Jede „ächte Menschen-Kenntniß“ sei historisch, erklärte z. B. Ch. M. Wieland († 1813), und meinte damit analog zu den Göttinger Historikern Kenntnisse über „die Stufe der Cultur, Aufklärung, Humanisierung, Freiheit, Thätigkeit und Emporstrebung zum Bessern“ (1785).149 Mit seiner These, die historische Wissenschaft vom Menschen sei die Grundlage aller philosophischen Wissenschaft, trat der führende deutsche Publizist dem alten Zweifel am Erkenntniswert der Geschichte entgegen. Im deutschen Kulturraum war man sich natürlich nach wie vor bewusst, dass die Geschichtsschreibung auf subjektiven, zufälligen Zeugnissen beruhte und keine Vernunftwahrheiten von der Art mathematischer Sätze liefern 202
11. Die Erziehung des Menschengeschlechts
konnte. Als Teil der Rhetorik hatte sie die Aufgabe, das Denken zu schulen und moralische Exempla zu liefern, magistra vitae zu sein; durch antiquarisches Wissen konnte sie zur Auslegung der biblischen Texte und der Pandekten beitragen. Die Nützlichkeit historischer Untersuchungen im konfessionell gespaltenen Reich ergab sich schon aus dem ständigen Streit der Theologen, der, in protestantischen Ländern früher, in katholischen mit einiger Verspätung, philologische Textanalysen, Quellenkritik, historisch begründete Ansprüche und Apologien förderte. Das polemische Gegeneinander schärfte die Instrumente des Geschichtshandwerks und führte allmählich zur Verwissenschaftlichung vor allem der Kirchengeschichte, hob das Ansehen der Zunft und untermauerte ihren Anspruch, mehr als nur „ödes Gedächtniswerk“ (Schlözer) zu vermitteln. Von Speners pietistischem Gefühlschristentum kam Gottfried Arnolds schon erwähnte Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie (1699/1700), den nicht eigentlich Aufklärung, sondern ein frommer Wille zu Gerechtigkeit gegenüber den verfolgten Schwärmern dazu bewog, den eifernden Dogmenglauben der Anstaltskirche anzuprangern. Seit Christian Thomasius († 1728) und dem von Gottsched übersetzten Pierre Bayle ging es dann bei historischer Kritik über den konfessionellen Streit hinaus darum, das überlieferte „Beiwerk“, Lessings unnötige „Emballage“, aus zeitbedingten Vorurteilen, Aberglauben und Fanatismus, vom eigentlichen Kern der Botschaft zu trennen. Lessing äußerte nur scheinbar antihistorisch, aus zufälligen Geschichtswahrheiten könne kein Beweis notwendiger Vernunftwahrheiten werden (und ebenso verlören Nachrichten von erfüllten Weissagungen und Wundern durch das Medium der Geschichte ihre Überzeugungskraft). Das war weniger traditionelle Geschichtsskepsis des Philosophen oder Kritik an der Historisierung des Christentums durch „Stümper und Halbphilosophen“, wie Polemik gegen die Dogmatisierung des Zufälligen durch „Orthodoxisten“. Absolutheitsansprüche jeder Art mussten tatsächlich durch eine sich allmählich durchsetzende quellenorientierte pragmatische Geschichtsschreibung ins Säurebad der Relativierung geraten. Dabei waren die Historienschreiber nicht über Nacht zu ausschließlich säkularen Ursachen- und Faktendarstellungen übergegangen. Die antiken und die biblischen Geschichten namentlich waren nach wie vor als privilegierte Leitvorstellung im Bewusstsein präsent: die meisten Universitätshistoriker waren gelernte Theologen und viele mussten daneben das Lehramt des klassischen Philologen an Gymnasien ausüben. Der Erlanger Wolffianer J. M. Chladenius-Chladni (Allgemeine Geschichtswissenschaft, 1752) reklamierte allzu früh für die Geschichte den Charakter einer Wissenschaft, also eines mehr als nur kontingenten, nämlich reflektierten Wissens, das sich immer die Frage nach seiner Perspektive, dem „Sehepunckt“ stellt. Doch ließ die Verselbständigung der Geschichte als Universitätsfach (1764 entstand in Göttingen das erste 203
IV Aufklärung und Revolution
historische Seminar) noch auf sich warten – samt der alten, nie durchgehaltenen sine-ira-et-studio-Maxime, also der Norm, als Historiker von Glauben, subjektiven Überzeugungen und politischen Interessen abzusehen. Die ursprüngliche Abhängigkeit von Theologie, Rhetorik, Jura und Staatswissenschaften verringerte sich nur schrittweise, schon weil dem historischen Interesse jenseits des etablierten Wissenskanons der Antike ein klar abgegrenztes Erkenntnisfeld fehlte. Das sich allmählich durchsetzende Gefühl einer Entfremdung der Gegenwart von den klassischen und biblischen Geschichten, nicht zuletzt von der thukydideischen selbstverständlichen Einheit des religiösen und patriotischen Bewusstseins, führte jedoch zur allmählichen Verdrängung des humanistischen Modells (Hardtwig), ebenso wie der speziellen kirchlich-ständischen, genealogischen, militärhistorischen Themen. Das heraufkommende Geschichtsinteresse war getragen von sich wandelnden Gegenwartserfahrungen und einem Bedürfnis nach Selbstvergewisserung, dem die schwerfällige bisherige Geschichtsschreibung nicht genügen konnte (Vierhaus). Von Göttingen aus ging der Versuch, zum Teil im Anschluss an Voltaires zivilisationsgeschichtliches Programm, aber auch unter Kritik an d iesem, eine genuine Universalgeschichtsschreibung zu wagen – ohne translatio-imperiiIdee, ohne heilsgeschichtliche Schemen150 oder spekulative Einschübe, aber doch als übergreifendes Orientierungswissen. Wie Voltaire, wollten die Göttinger das Eigentliche und Wesentliche der Geschichte nicht auf „Haupt- und Staatsaktionen“ beschränken, sondern das politisch-militärische Geschehen in einen breiten interdependenten Zusammenhang kultureller, ökonomischer, juristischer Verhältnisse einbinden. Auf diese Weise entstand – oft in Form epochaler Querschnitte, mit denen der Erzähler die Ereignisgeschichte regelmäßig unterbrach, ein zivilisatorisches Bezugssystem, zugleich ein Fortschrittskriterium, an dem die politischen Leistungen und Fehlleistungen der Zeit gemessen werden konnten. Der kosmopolitische Maßstab einer aufgeklärten Zivilisation, den die Historiker zugegeben etwas unsensibel in die Vergangenheit hineintrugen, rief nach einer breiten, im Ansatz universalen, Fundierung: Dem „Aggregat der Specialhistorien“ fehlte der allgemeine Blick, von dem aus sich die Auswahl des Wesent lichen ergeben sollte. Weltgeschichte ist nach August Ludwig Schlözer († 1809) „weder Staats-, noch Religions-, noch Handels-, noch Kunst- und Gelehrtengeschichte; sondern aus allen borget sie…Begebenheiten, die den Grund erheblicher Revolutionen des menschlichen Geschlechts enthalten.“ (Vorstellung der Universal-Historie I, 1772): unter „Revolutionen“ waren Fortschritte wie Rückschritte nach Maßgabe des Vernünftigen und Nützlichen zu verstehen. Der vielgereiste Schlözer, wegen seiner Verdienste um die russische Geschichte vom Zaren in den Adelsstand erhoben, war ein unglaublich vielseitiger Historiker und aufklärerischer Publizist, u. a. Herausgeber der überregional gelesenen Staats204
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Anzeigen. Ihm und Gatterer schwebte ein „nexus rerum universalis“ vor, ein allgemeiner Zusammenhang, dessen utilitaristisch-moralisches Auswahlkriterium die „Vermehrung und Verbreitung nützlicher Kenntnisse“ bestimmen sollte – mit dem Ziel einer Erweiterung der eigenen begrenzten Erfahrung. Das war ehrenwert, aber nicht tragfähig genug, so dass Lessing zu Recht einwandte, „nützlich und verderblich /seien/ ebenso relative Begriffe, als groß und klein“; aber die Zeit des Historismus war noch nicht gekommen. Immerhin: Das Einzelne gerät durch Zusammenhang und Vergleich in ein neues Licht, man kommt ab von blinder Bewunderung bloßer Teile, nicht zuletzt vom Geschmack an „Mordgeschichten“; es entsteht eine für die bürgerliche Gesellschaft relevante Geschichte, bei der der Zukunftsbezug die Vergangenheit „selegiert“ (U. Becher). Für den Weltbürger gibt es kein Vaterland, keinen Nationalstolz und kein Volk Gottes als Leitgedanke; dafür bietet sich nach Schlözer der bislang vernachlässigte Bereich menschlicher Erfindungen, neben der Erkenntnis einer „frappanten Übereinstimmung und Ähnlichkeit menschlicher Handlungen“, als das entschieden Lehrreichste, was die Geschichte zu bieten hat. Die Hochschätzung von Erfindungen und Entdeckungen war, wie wir wissen, kein Novum. Schon vor Voltaire und Diderot hatten Gelehrte, wie der Zürcher Arzt und Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer († 1733), mit Begeisterung dargelegt, wie diese „von Zeit zu Zeit nach Gottes allweiser Providenz in diesen oder jenen Saeculis aus der Finsternis an das Licht gebracht werden“; Scheuchzer hatte – wie Bacon – auf die technischen Möglichkeiten der Erfindungen hingewiesen, aber auch auf ihre Übereinstimmung mit den Intentionen der Bibel; es seien im Grunde Phasen unserer Erkenntnis Gottes aus der Natur. Die „nützliche“ Auslegung der biblischen Geschichte wird von einem breiten Publikum zunehmend als überflüssig empfunden, allerdings finden die Historiker für die christlich-providentiale Klammer keinen rechten Ersatz. Vernunft ist in der Geschichte zu unsicher und ungleichmäßig verteilt, um als Achse des Geschehens zu taugen. Und Erfindungen als Maßstab der Fortgeschrittenheit neigen zu Kulturblindheit, also zur Ausblendung dessen, woran sich die Menschen primär orientieren. Zwischen Entwurf und Verwirklichung, abstraktem Räsonnieren und additiver Einzeldarstellung, klafft auch bei den Göttingern ein Abgrund, der nicht empirisch aufgefüllt werden kann151. Schlözer stützt sich anthropologisch nicht auf die Allerweltsformel „Natur“, sondern auf Lockes tabula rasa, der die Außenwelt ihre Impressionen aufdrückt, und verficht die Ansicht, der Mensch sei von Natur nichts, aber könne durch „Conjuncturen“ alles werden. Wesentlich sei nicht, dass er Vernunft hat, schreibt er in seiner Vorbereitung zur Weltgeschichte für Kinder (1791), sondern „dass er Vernunft kriegen kann“. Die Unbestimmtheit ist sein eigentliches Wesen, und so erwacht unter günstigen Umständen die Vernunft, während weniger günstige diese zum Stillstand oder Rückfall bringen. 205
IV Aufklärung und Revolution
Das ist, allgemein gesehen, gewiss der Fall, aber lässt allzuviele Fragen unbeantwortet. Es gibt „Conjuncturen“ für Verschiedenes im Menschen, auch für seine destruktiven Potenzen; man sollte sie, denke ich, als Herausforderungen, nicht als eindeutige Determinierungen, verstehen. Herausforderungen setzen etwas Herauszuforderndes und ein Stück Freiheit voraus, ohne die Neues nicht verständlich wird: dass unsere Erfindungen und kulturellen Artefakte Reflexe der Umwelt sind, sagt nicht viel aus, entsprach aber seit Montesquieu der Richtung des Zeitgeistes. Auch die vermeintliche Unbestimmtheit und didaktische Formbarkeit des Menschen galt im 18. Jahrhundert als positive Chance; sie wird durch die Zähigkeit alter und ältester Prägungen widerlegt. Der Zürcher „Menschenfreund“ Isaak Iselin († 1782) konnte sich bezeichnend eine Weltgeschichte ohne Determinierungen anderer Art, nämlich eine teleologische Struktur, nicht vorstellen: der geschichtliche Fortschritt verhilft in seiner Konzeption nur einer vorgegebenen menschlichen Natur zum äußeren Ausdruck. Iselins Buch Philosophische Mutmaßungen über die Geschichte der Menschheit (1764) stellt sich die Aufgabe, den Fortgang der Menschheit „von der äußersten Einfalt zu einem immer höheren Grade von Licht und Vollkommenheit“ darzustellen. Er begnügt sich mit diesen Metaphern und der Chiffre eines angeborenen ‚Triebs zur Vollkommenheit‘, immerhin manifestiert sich dieser Trieb in Form von drei „Hauptclassen“, die zugleich als Entwicklungsstufen der Menschheit figurieren. Während die erste, die natürliche Einfalt, unter der Herrschaft der Sinne steht, ist die Barbarei der „Tyranney der Einbildung“ ausgeliefert; die höchste, Gesittung genannt, wird von der Vernunft beherrscht. Iselin sieht die drei Typen, wie Turgot und die Schotten, sowohl in zeitlichem Nebeneinander, wie in der aufsteigenden Linie eines weltgeschichtlichen Prozesses, dessen Höhepunkt das gegenwärtige Europa bildet: „glücklich durch unzählige Vorzüge, welche ihm in den meisten vorigen Jahrhunderten versagt waren, und stolz auf Hoffnungen, welche erst die folgenden erfüllen können“. Zu diesen Hoffnungen und „Träumen eines Menschenfreundes“ zählte die Befreiung von der „Tyrannei der Einbildungen“; doch hielt der Zürcher Stadtschreiber bezeichnend den bürgerlichen Erwerbstrieb für die „niedrigste und schlechteste Neigung der menschlichen Seele“: Inkonsequenzen, die seiner Popularität beim Publikum keinen Abbruch taten. (Auch Schlözer kritisierte den „Geldadel“ als Macht, die „jede Regierung untergräbt“ und die Welt erschüttert“; die antike Tugendrhetorik war trotz Hume noch intakt.) – Die Gegenwart erschien der Aufklärungshistorie in weit stärkerem Maß als eine gewordene und werdende; sie ermunterte didaktisch eine Wendung von der Herkunft zur Zukunft. Von der Idee einer vernünftig-voraussetzungsfreien Gestaltung dieser Zukunft war man jedoch noch weit entfernt. Die Zukunftsvorstel206
11. Die Erziehung des Menschengeschlechts
lungen der Zeit waren vom ‚Gewordenen‘, von einem normativen Menschenbild und einem herkömmlichen Vertrauen in die Vorsehung, stärker geprägt, als die Vorkämpfer der Vernunft wahrhaben wollten. *** Dass Geschichte als magistra vitae didaktischen Zwecken dient, wurde schon immer behauptet; dass sie als Ganzes eine höhere pädagogische Veranstaltung sein könnte, war eine von Gotthold Ephraim Lessing († 1781) aufgestellte, aber auch nicht ganz originelle Vermutung. Damit wurde der populäre Erziehungsgedanke auf den amorphen Geschichtsbereich übertragen – ein Anstoß, diesen in einer einheitlichen Perspektive zu sehen. Der vielseitig engagierte große Polemiker wollte keine Weltgeschichte schreiben, sondern nur seinem Streit mit der lutherischen Orthodoxie einen leicht ironischen Schlusspunkt hinzufügen. Der hochgebildete Kenner der Antike wie der Kirchengeschichte war sich nicht zuletzt der Vorläufigkeit jeder menschlichen Wahrheit bewusst. „Es sei, dass noch durch keinen Streit die Wahrheit ausgemacht worden: so hat dennoch die Wahrheit bei jedem Streite gewonnen.“ (Wie die Alten den Tod gebildet, 1769). Die offene Auseinandersetzung verhindert Verkrustungen, schafft eine Atmosphäre kreativen Denkens: das aufrichtige Bemühen, das trotz des notwendigen Nebeneffekts, sich ständig zu irren, erstrebenswerter ist als der stolz und träge machende Besitz von Wahrheiten.152 Nur Toren wollen den Sturmwind aus der Natur verbannen, wirft Lessing dem Hamburger Hauptpastor Goeze entgegen, den frischen Luftzug, der das Gärtchen zerzaust, in dem man sich selbstzufrieden niederzulassen gedachte (Anti-Goeze, 1778). O seid ihr alle drei Betrogene Betrüger! Eure Ringe Sind alle drei nicht echt. Der echte Ring Vermutlich ging verloren (Nathan der Weise, 1779) Die äußeren Tatsachen bilden nur Schalen, Verkleidungen um den Kern, der Humanität ist; analog verbirgt sich hinter der sichtbaren Kirche die nicht fixierbare eigentliche Gemeinde. Lessing weiß auch: „Welcher Geschichtsschreiber wäre jemals über die erste Seite seines Werks gekommen, wenn er die Belege aller…Bestimmungen jedesmal hätte bei der Hand haben müssen?“ (Eine Duplik, 1778). Mit anderen Worten, Geschichtsschreibung erfordert das Risiko der eigenen aktiven Denkleistung, die sich weder auf Quellen noch auf dogmatisierte Interpretationen verlassen 207
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darf. In einem privaten Brief an den Bruder beansprucht Lessing den Freiraum des gymnastikos, also den Boden des Vorläufigen, auf dem Interpretationsversuche zur Diskussion stehen (A. Schilson) – was nicht heißt, sich mit dem Relativen und Unverbindlichen abzufinden. Jeder sage, was ihm die Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen! ist Lessings Grundhaltung, die auch seinen geschichtstheologischen Versuch, Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) charakterisiert. Der knappe Entwurf einer „Geschichte im Horizont der Vorsehung“ grenzt sich ab sowohl von der tradierten Heilsgeschichte der Theologen seit Eusebius von Cäsarea, wie von rein innerweltlichen, empirischen Darstellungen, die die Sinnfrage, das metaphysische Woher und Wohin, ausklammern. Die Tatsache der Anwesenheit Gottes in der Geschichte wird überhaupt nicht angezweifelt: Lessing steht allein die Art und Weise seiner Eingriffe (der Offenbarung) zur Debatte. „O Geschichte! O Geschichte! Was bist du?“ hatte er in einer anderen Schrift (Ernst und Falk, 1778) ausgerufen. Ist Sinn darin oder ist sie nur ein abderitisches Possenspiel von ständigem Bauen und Niederreißen? Hier liegt die Antwort vor: die schrittweise Erziehung der Menschheit, das große langsame Rad, welches das Geschlecht seiner Vollkommenheit näher bringt“ (92). Der Vollkommenheitsbegriff wird von Lessing vorwiegend moralisch verstanden: während der Mensch „auf der niedrigsten Stufe seiner Menschheit“ nicht Herr seiner Handlungen ist und das Sittengesetz nicht versteht (74), besteht das eigentliche Ziel der Erziehung darin, die Tugend nicht aus Eigennützigkeit des Herzens und aus Furcht vor Strafe, sondern um ihrer selbst willen zu lieben, das Gute zu tun, weil es das Gute ist (85). Schon aus dem kaum zu verwirklichenden Erziehungsziel geht hervor, dass es sich um einen „Leitfaden für die Arbeit“, also eine regulative Idee handelt, um ein Kriterium, nach dem Lessing die Ereignisse beurteilen will – ohne deren Inhalt auf das Moralische zu reduzieren.153 Seine Geschichtstheologie ist aber gewissermaßen doppelbödig bzw. hat ein säkulares Einfallstor. Erziehung, heißt es, „gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte“ (4); die schrittweise erfolgenden Offenbarungen stellen nur Beschleunigungen des großen Gangs der Menschheit dar. Der letzte Sinn des Ganzen kommt von Gott, doch Gott ist so auf den Menschen angewiesen, wie dieser auf ihn: Gott tut Gutes durch uns (Nathan der Weise), ist zugleich Garant unserer Freiheit wie unserer Verpflichtung zur Mitwirkung am Großen Erziehungsprozess. Das waren kühne, verwirrende Gedanken; für die Orthodoxie geradezu unerträglich klang aber Lessings Historisierung der Offenbarung im Sinne der Neologen: Die pädagogischen Eingriffe Gottes, insbesondere die beiden „Elementarbücher“ des Alten und Neuen Testaments, waren dem mentalen Kindheitszustand ihrer Adressaten angepasst, dienten der „Erziehung der Erzieher“ 208
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der übrigen Menschheit: des „ungeschliffensten“, nichtsdestoweniger auserwählten Volkes. Die göttliche Didaktik beschränkt sich in Lessings Interpretation nicht auf die religiösen Vorstellungen; die großen Elementarbücher haben auch der menschlichen Vernunft einen „Richtungsstoß“ gegeben. Die offenbarten Wahrheiten waren keine Vernunftwahrheiten im strikten Sinn, „aber sie wurden geoffenbart, um es zu werden“ (76). Das heißt aber: Die Sprache der Erwachsenen ist eine andere als die der frühen Entwicklungsstufen. Eine Absage schließlich an die ungeduldigen „Schwarmgeister“, die sich nicht auf frühere Jahrhunderte beschränken, sondern den Typus des modernen Revolutionärs vorwegnehmen. Der Erziehungsgang lässt seine konkreten Manifestationen hinter sich, wie der Schmetterling den Kokon oder der Neue den Alten Bund und der Erwachsene seine Kinderbücher. Aber das dritte Zeitalter der Freiheit, das der Schwärmer mit Recht erwartet, bricht nicht ohne lange Vor bereitung herein. Er möchte das Kommen der Zukunft beschleunigen, der geschichtlichen Erziehung nachhelfen: Wozu sich die Natur Jahrtausende Zeit nimmt, soll in dem Augenblicke seines Daseins reifen. Aber die kürzeste Linie ist nicht immer die gerade (90, 91). Lessings theologisierende Begrifflichkeit war nicht nur seinen Gesprächspartnern bzw. Gegnern geschuldet; sie war aber säkularisierbar, ohne das Grundschema aufzugeben. Das soll zunächst anhand von Immanuel Kants († 1804) geschichtsphilosophischen Entwürfen erläutert werden. Auch die Philosophie könne ihren Chiliasmus haben, heißt es in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte der Menschheit in weltbürgerlicher Absicht (1784). Die Erwartung eines Endzustands, der alle menschlichen Anlagen zur Vollkommenheit bringt, könnte als Widerspruch zum realistischen Menschenbild verstanden werden, dem Kant im allgemeinen zuneigt („der Mensch ist ein Tier, das einen Herrn nötig hat“). Doch lesen wir später, die Menschen „zu nehmen, wie sie sind“, hieße sich „damit abzufinden, wozu wir sie durch ungerechten Zwang… gemacht haben“ (Streit der Fakultäten, 1798). Das Handeln des Menschen lässt sich aus Kausalitäten nicht verstehen, die Sollenskategorie ist aus ihm nicht wegzudenken. „Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen!“ Kant unterscheidet darüber hinaus zwischen den natürlich selbstsüchtigen Individuen und der fortschreitenden, durch Kunst und Vernunft sich emporarbeitenden Gattung, auf die der Mensch aber von Anbeginn bezogen ist. In diesem Sinn gilt: Wenn er Mensch bleiben will, muss er sich seiner Vernunft und Moral bedienen. „Zyklopische Gelehrsamkeit“, „Weisheitsdünkel mit Maulwurfsaugen“, der die menschliche Bestimmung ignoriert, ist für Kants teleologische Geschichtsauffassung so inakzeptabel, wie die trostlose Vorstellung einer zwecklos spielenden Natur. Kant hat zwar die Metaphysik der „Dinge an sich“ aus der wissenschaftlichen Erkenntnis ausgeklammert und auch die Naturabsicht, die er hinter den geschicht209
IV Aufklärung und Revolution
lichen Erscheinungen vermutet, für unbekannt erklärt, doch glaubt er, nicht allein die individuellen biologischen Anlagen seien bestimmt, sich voll zu entfalten, sondern eben auch die Anlage der menschlichen Gattung zur Vernunft. Diese erfordert eine generationenübergreifende Weitergabe des Gelernten – die „künstliche“ Überlieferung und kulturelle Weiterentwicklung zu einer keineswegs willkür lichen und auch nie erreichten Vollkommenheit. Im Hinblick auf die Freiheit der menschlichen Handlungen und die Unbeständigkeit eines guten Willens gibt es keine Gewissheit, nur das „Calcul der Wahrscheinlichkeit“, und allerdings Fortschritt als Maxime der praktischen Vernunft. Kant verbietet sich zwar einen ‚Geschichtsroman‘, einen utopischen Entwurf nach vorgefassten Ideen, wie der Wettlauf vernünftigerweise aussehen sollte; noch weniger möchte er sich aber mit einem planlosen Aggregat disparater Handlungen ohne eindeutiges Muster begnügen. Die Endabsichten der „Natur“ könnten nur vermutet werden, aber doch als hypothetischer Leitfaden für die empirische Geschichtspraxis dienen: der Suche nach einer Verlaufsrichtung zu schrittweiser systematischer Verbesserung der menschlichen Einrichtungen. Ein solches Geschichtsbild verspricht über bloße intellektuelle Befriedigung hinaus Tröstung, Zufriedenheit mit dem großen Gang der Dinge („eine Rechtfertigung der Natur – oder besser der Vorsehung“). Sogar politische Prognosen, „politische Wahrsagekunst“, also Orientierung für den Staatsmann, scheinen möglich; zumindest als Aufforderung, in diesem Sinn zu handeln. Kants Geschichtsphilosophie verstand sich explizit nicht als verweltlichte Geschichtstheologie, wie Manfred Riedel betont, aber sie war, als Teil der praktischen Philosophie, primär als Anleitung zum Handeln gedacht: deshalb das rein wissenschaftlich seltsam anmutende Argument der „Trostlosigkeit“ und gelehrten Barbarei einer Geschichte ohne Perspektive, quasi aus Zufallstreffern epikureischer Wirbel. Auch Kant tut sich schwer mit der optimistischen Aussicht eines Fortschreitens; es ist kein Wissen, nur ein „heuristischer Vorschlag“. Die Kultur „nach wahren Prinzipien der Erziehung zum Menschen und Bürger zugleich“ habe vielleicht noch nicht recht angefangen; der Gang der Menschheit zu ihrer Bestimmung scheint auch unaufhörlich durchbrochen und in kontinuierlicher Gefahr zu sein, in die alte Rohigkeit zurückzufallen“ (Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte, 1786). Auch die Gefahr, statt des regelmäßigen Aufwärtsgangs in eine „Hölle in gesitteter [= zivilisierter] Form“ oder in barbarische Verwüstung zu gelangen, ist nie völlig auszuschließen. Der Mensch ist „aus krummem Holz gemacht“, voll Ehrsucht, Habsucht und Herrschsucht, und wird Freiheit und Vernunft immer missbrauchen. „Geschäftige Torheit ist der Charakter unserer Gattung.“ Bei allem Realismus ist die gesamte Anlage von Kants Geschichtsphilosophie jedoch eindeutig providentialistisch, und Lessings Erziehungsprojekt in vieler 210
11. Die Erziehung des Menschengeschlechts
Hinsicht verpflichtet. Sie teilt schon dessen Absage an die untätige Genügsamkeit des bloßen Habens und seine Einsicht in die Produktivität von Zwietracht, Streit und Widerstand. Die anthropologische Anlage zu „ungeselliger Geselligkeit“, die Kräfte weckt, den Hang zu Faulheit und passivem Genuss überwindet, Talente entwickelt, müsse – auch ohne eigentlich moralische Triebfeder – als Anordnung eines weisen Schöpfers, nicht eines in dessen Werk pfuschenden „bösartigen Geistes“, gedeutet werden.154 Die Idee des produktiven Wettbewerbs selbstsüchtiger Leidenschaften war den Schotten entlehnt, dagegen kam Kants erkenntnisleitendes regulatives Prinzip der Freiheit unter Gesetz, die höchste weltbürgerliche Aufgabe einer Moralisierung der bisherigen historischen Fortschritte155, Lessings Erziehungsidee recht nahe: das Gute um seiner selbst willen zu lieben. Lessing hatte nur allgemein von schrittweiser Vervollkommnung der menschlichen Anlagen gesprochen, Kant betonte konkreter das Sich-Hervorarbeiten vom Gängelwesen des Instinkts in den Stand der Freiheit, bis – historisch spät – durch „so manche Revolutionen“, immer neue, auch gescheiterte, Anläufe, ein nach innen und außen bestmöglicher Zustand erreicht wäre („der, einem bürgerlichen gemeinen Wesen ähnlich, wie ein Automat sich selbst erhalten kann“). Dieses mögliche Endziel ist, wie gesagt, keineswegs sicher, aber auch nicht willkürlich, also kein Ideal oder eine bloße Utopie. Lessings wie Kants vernünftige Teleologie gerade auch der historischen Welt ist bei ihrer Verwirklichung auf die eigenverantwortliche Zusammenarbeit des Menschen angewiesen: „jeder (ist)… so viel in seinen Kräften steht, beizutragen durch die Natur selbst berufen“ (Mutmaßlicher Anfang). Auch der Friedenszustand kommt nicht von selbst, sondern „muss gestiftet werden“ (Zum ewigen Frieden, 1795). Heinrich Heine hat Kant zum radikalen ‚Vernichter Gottes‘ erklärt und über Robespierre gestellt, der „nur“ einen König töten ließ. Man sollte gleichwohl die Bedeutung eines traditionellen Geschichtsdenkens bei der Herausbildung der Fortschrittsidee nicht unterschätzen. Kant hat zur Deutung der historischen Existenz mehrfach auf Lessings altes ‚Elementarbuch‘ zurückgegriffen, wobei der Deutung des Sündenfalls als Heraustreten aus der instinktgeleiteten Natur sowie der Sonderstellung der Menschheit als Ganzem (der Gleichheit aller Vernunftwesen als Selbstzweck) besondere Bedeutung zukommt.156 Das Leben in Sorge und Mühe, Todesfurcht und Zukunftserwartung ist dem Menschen in der Geschichte einzig angemessen. Auch in anderen Werken (Das Ende aller Dinge, 1794) haben Kant eigentlich theologische Kategorien zur Entwicklung seiner geschichtsphilosophischen Gedanken gedient. Der Bruch der Einheit mit der übrigen Schöpfung hat den Menschen – „gleichweit entfernt vom Sklavensinn und von Bandenlosigkeit“ – in einen Zustand gestörten Gleichgewichts versetzt. In den Fortschritten des mensch 211
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lichen Geschlechts, heißt es da, eilt die „Kultur der Talente“, die Entwicklung der Geschicklichkeit und des Geschmacks, der Moralität auf gefährliche Weise vor: dabei entsteht die Angst, gleichsam am Rande des Abgrunds zu stehen. Die Menschheit verfügt jedoch über die Orientierungshilfe einer „Concurrenz göttlicher Weisheit zum Laufe der Natur“ als praktisch-moralisches Leitseil (ebenda). Die erzieherische These vom Primat des Moralischen macht Kants Philosophie auf den ersten Blick wenig tauglich, dem materiellen geschichtlichen Fortschritt gerecht zu werden. Wachsender Wohlstand und individuelles Glück zählen wenig gegenüber dem Kriterium, sich des Glücks (und der Freiheit) würdig zu erweisen: dies ist „von der Geschicklichkeit, sich ein Glück zu erwerben, gänzlich unterschieden“ (Gemeinspruch, 1793). Nicht zuletzt sind die Glücks vorstellungen (bzw. ‚der Wahn, worin jemand seine Glückseligkeit setzt‘) widersprüchlich und veränderlich, „zum Prinzip der Gesetzgebung…untauglich“ (ebenda), somit untauglich auch als Fortschrittskriterium. „Wohlfahrt hat kein Prinzip“; dem Menschen kann der „Genuss der Lebensannehmlichkeit“, nach dem Bild einer wohlgefütterten und beschützten Herde, nicht genügen (Streit der Fakultäten, 1798). Das scheint eine Absage an den Utilitarismus der Hume und Smith zu sein, für die Wohlstand nicht alles, aber doch Voraussetzung von Zivilisation und Verfeinerung war. Die von Kant angesprochene Diskrepanz von Realgeschichte und Moral weist aber auf ein echtes Problem. Wir können aufgrund unserer wissenschaftlichen und technischen „Geschicklichkeit“ in der Regel mehr als wir sinnvollerweise dürfen, oder wir vergeuden unsere Ressourcen für destruktive Zwecke. Kant spricht, wie Rousseau, mit Despekt von bloß sittenähnlicher gesellschaftlicher Artigkeit, von einem durch Kunst kultivierten schimmernden Elend, auch einem bloßen „Anschein äußerer Wohlfahrt“. Er bemerkt vor allem die potentielle Gefahr ungebundener Freiheit des äußeren Staatenverhältnisses. Der kriegerische Naturzustand zwischen den Völkern, der schon durch ständige Rüstungen die inneren Fortschritte wieder zunichte macht, beruht in Kants Verständnis auf einem Missbrauch der menschlichen Vernunft (die zuende gedacht, der Moral nicht widersprechen kann); doch er begnügt sich nicht mit dem Lamento der Sittenprediger. Der Antagonismus der Staaten wird, wie der Wetteifer der Habgier im Inneren, zum Instrument der „Künstlerin Natur“, nämlich: die Vernunft in der Geschichte voranzutreiben. Der Wettbewerb der Staaten erfordert bürgerliche Freiheit von Handel und Gewerbe, die Aufhebung von Einschränkungen aller Art, so dass selbst die Machtgelüste der Herrscher zum Fortschritt beitragen können. Die Regierungsgrundsätze mögen sich derart sogar aus selbstsüchtigen Herrscherinteressen bessern: schon angesichts des unsicheren Ausgangs aller Kriege, der Schuldenlast und 212
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Erschöpfung, aber auch der immer engeren Verknüpfung aller europäischen Staaten, die den Ruin des einen zu dem der anderen werden lassen – wie man seit Montesquieu und Voltaire wusste. Andererseits fragt sich Kant, ob nicht die latente Kriegsgefahr auf eine Weise das einzige ist, was den Despotismus mäßigt und ein immerwährender Friede sich nicht unbedingt als heilsam erweisen müsse. Ein Leben in reinem Genuss, Üppigkeit und kindischem Spiel würde zu Überdruss führen, statt des heilsamen Zwangs, ihm „durch eigene Handlungen einen Wert zu geben“ (Mutmaßlicher Anfang). Deshalb soll der ewige Friede eben nicht durch einen despotischen Weltstaat, sondern von einem Bündnis freier Staaten gesichert werden. Der übergreifende staatsbürgerliche Zustand des ewigen Friedens bleibt für Kant nur eine „regulative Idee“, ein quasi didaktischer Leitfaden, dem das menschliche Handeln bestenfalls annähernd folgt. Die Möglichkeit des Fortschritts ist kein Gesetz des realen Fortschreitens: eher ein Sollen und Können als ein echtes Wissen.157 Vor allem sollte man sich nach Kants Einschätzung von moralischer Besserung der Menschheit nicht zu viel versprechen; kein wachsendes Quantum an Moralität sei zu erwarten, wohl aber eine „Vermehrung der Produkte ihrer Legalität“. Man könnte aber sagen: die Moralität kommt zum Ausdruck in Werken der Legalität (Walter Euchner) – gute Handlungen, wenn auch nicht immer aus sittlichen Motiven. Also doch die schottische Formel: Der vorrückende Handelsgeist und die wachsende Geldmacht sind auch kantische Fortschrittsinstrumente. Das rationale Eigeninteresse der Fürsten gebietet, wie wir gehört haben, die natürlichen Rechte ihrer Untertanen zu schonen, ja republikanisch zu regieren, d. h. nur solche Gesetze zu erlassen, denen die Bürger hätten in Freiheit zustimmen können. Das Argument des Interesses wird verstärkt durch das naturrecht liche: der „unpädagogische“ Grundsatz, die Untertanen für grundsätzlich freiheitsuntauglich zu halten, sei ein Eingriff in die Regalien der Gottheit selbst (Religion innerhalb der Grenzen, 1793). Beide Maximen mussten nicht überzeugen. Es gab aber noch andere. Die allgemeine, geradezu enthusiastische Anteilnahme der europäischen Öffentlichkeit am französischen revolutionären Geschehen verrät in Kants Augen zwar keine Lust, die Franzosen nachzuahmen, wohl aber ein Geschichtszeichen, ein prognostikon, das die moralische Anlage der menschlichen Natur zum Fortschritt verrät. Auch wenn der Zweck der französischen Staatsumwälzung gegenwärtig nicht erreicht werde, sei anzunehmen, dass die Verwirk lichung einer naturrechtlich begründeten Verfassung früher oder später wieder aufgenommen werde. Kant glaubt demnach realhistorisch wie moralisch einigen Grund für die Prognose zu haben, der Staat werde sich von Zeit zu Zeit selbst reformieren und statt Revolution Evolution versuchend, zum Besseren fortschreiten. Dazu gehört die Erwartung, er werde, gewissermaßen von Rippenstößen 213
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einer höheren Didaktik beflügelt, die negative Weisheit aufbringen: den Krieg schrittweise einzugrenzen und schließlich die weltbürgerliche Aufgabe einer zwischenstaatlichen Rechtsordnung zu vollziehen. *** Mit Kant in lebenslänglichem Disput verbunden war Johann Gotttried Herder († 1803), der stärker von Gefühl und Intuition bestimmte Entdecker der Poesie als „Muttersprache des menschlichen Geschlechts“. Seine Hochschätzung der Dichtkunst als einer aus ursprünglichen Quellen schöpfenden Macht beruhte nicht zuletzt auf der Vorstellung, der Dichter sei Schöpfer seines Volkes und habe die menschlichen Seelen in seiner Hand (Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten, 1778). Sein geistliches Amt verstand er als „Demopädie“, nämlich „Weisheitsschule“ für jenen „ehrwürdigen Teil der Menschen, die wir das Volk nennen“. Bloß für „Stubengelehrte und ekle Rezensenten“ zu schreiben, sei dagegen ein Zeichen des Niedergangs, des Verlusts der freien Öffentlichkeit (Ursachen des gesunkenen Geschmacks, 1773/75). Der jüngere Herder insbesondere neigte zu heftigem Widerspruch gegen eine besserwisserische rationalistische Selbstgefälligkeit, bis hin zur Verachtung einer Epoche, in der das Freidenken Ersatz geworden ist für „Herz, Wärme, Blut, Menschheit, Leben“. Straßenraub ist darin abgeschafft, aber staatliche Ausplünderung geblieben: bequemer ists, sich besolden zu lassen. Die Sklaverei ist in Europa gleichfalls verschwunden, aber nur, weil sie weniger einbrachte als freie Arbeit; im übrigen wurde sie in den Kolonien beibehalten. Und der vielgerühmte aufklärerische Kosmopolitismus mitsamt seiner „bürgerlichen Klugheit, philosophischem Deismus., Toleranz, Artigkeit, Völkerrecht“, ruht genau besehen auf den Trümmern jüngerer, authentischer Kulturen. Das war emotionale Fortschrittskritik aus den Magazinen Rousseaus. Herders eigenständiger Beitrag war ein kultureller Relativismus. Das menschenfreundliche Jahrhundert, bemerkt spöttisch „Bruder Humanus“ (wie ihn Goethe nannte), gönnt jeder entfernten Nation gern „unser eigen Ideal“; doch jedes Zeitalter und jede Kultur wird nur, was sie die Umstände werden ließen, mit allen notwendigen Einseitigkeiten und glücklichen Vorurteilen: außerhalb ihres Gesichtskreises sind sie mit Blindheit geschlagen. „Alle Vergleichung ist misslich“. Trotzdem verkündet Herder keinen konsequenten Historismus, sondern einen organischen Entwicklungsgedanken, zu dem die alte Lebensaltertheorie gehört. Danach entfaltet jede Kulturstufe neue, dem Lebensalter der Menschheit angemessene Aspekte, die Älteres umformen, aber auch abstoßen. So stellt das Mittelalter gegenüber dem „erschöpften, entnervten, zerrütteten“ Römischen Reich ein belebendes Element dar, eine Zeit produktiver Gärung und Kräfteübung. „Das menschliche 214
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Gefäß ist…keiner Vollkommenheit fähig, muss immer verlassen, indem es weiter rückt. Der Mensch muss alles lernen, durch Fortgänge gebildet werden“ (Auch eine Philosophie der Geschichte, 1774). Wenn dieses Vorrücken der Menschheit ohne den ‚Narzissmus‘ der europäischen Gegenwart als Ganzes begriffen werden soll, muss es als göttliche Veranstaltung, möglicherweise Schauplatz der Gottheit gelten, und ein früher Einfluss Spinozas auf Herder ist durchaus denkbar; auch sein pietistischer Mentor Hamann kannte die Idee des gotterfüllten Seins und die Offenbarung Gottes in seinen Werken. Die göttliche Bestimmung, die man durch das Panoptikum rein weltlichmenschlicher Triebfedern hindurch ahnen mag, sollte dabei nicht als Fiktion einer allgemeinen Höherentwicklung missverstanden werden. Herder fühlt die Ambivalenzen des Neuen, etwa die Folgen der modernen Erfindungen, auch stört ihn die eudämonistische Gleichung von Fortschritt und zunehmendem Glück. (Kant hat seinen Einwand, wie wir gehört haben, noch vertieft: Glück ist kein Geschichtskriterium. Die Disparatheit von menschlichem Glück und historischer Existenz, das Missverhältnis zwischen den Fortschritten der Gattung und dem Einzelleben, sollte aber so wenig verabsolutiert werden, wie der Eigenwert der autochthonen Nation, die ja, wie das individuelle Glück, häufig unter die Räder der fortschreitenden Geschichte gerät.) Herder, der die Idee des Volkes und Volkstums ursprünglich aus dem Beispiel des Gottesvolks im Alten Testament schöpft und für den „die Harfe Ossians die Harfe Davids“ ist (Schöffler), schwankt zwischen einer Auffassung der Welt geschichte als göttlicher Erziehung, und der Neigung, in den historischen Erscheinungen gewachsene Individualitäten mit kaum vergleichbaren individuellen „Maxima“ zu bewundern. Sein Historismus, auch sein Gerechtigkeitsgefühl empört sich gegen die implizite Annahme einer Geschichtsphilosophie à la Hume und Voltaire, die älteren, unvollkommenen Epochen seien der Piedestal, wenn nicht Dünger, für die fortgeschritteneren: wenn die Nachkommen tatsächlich höher stünden, heißt es später nach Vico, dann als quasi Zwerge auf den Schultern von Riesen. Ja ein Zuviel an Licht in unserem Jahrhundert mache blind für den Eigenwert anderer Epochen: „Hätte euch der Himmel die barbarischen Zeiten nicht vorhergesandt – armes poliziertes Europa…, wie wärest du mit all deiner Weisheit – Wüste!“ Hatte sich die Weltgeschichte bisher, etwa bei Raynal, aus dem selbstverständlichen Blickwinkel des fortgeschrittenen Europa, konkret: der Entdeckung und Erschließung der überseeischen Territorien, dargeboten, so erhebt Herder Einwände gegen die Perspektive einer „kalten Europäischnordischen Abstraktion“, deren Denken in Mechanik entartet ist und deren Reduktionismus Gefahr läuft, im Namen der Menschheit die Menschlichkeit zu verlieren (Marquard). Herder misstraut übergreifenden Maßstäben in der Geschichte und neigt dazu, den Mittel215
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punkt der Glückseligkeit jeder gewachsenen Kultur in ihr selbst zu suchen. Es sei Unfug, die ägyptische oder die gotische Kunst nach griechischen Maßstäben zu beurteilen bzw. unsere aufklärerischen Kriterien in andere Epochen hineinzutragen.158 Anderseits kann er nicht leugnen, dass Geschichte gerade aus Weitergabe kulturell unspezifischer Güter entsteht, die unser modernes Europa zum Schwamm fremder Impulse werden lassen – kein Anlass, auf vitalere Epochen mit Hochmut zurückzublicken. Herder weiß überdies, dass sich „Geschichte“, trotz der allmählichen Einbeziehung des größten Teils der Erde in ein einziges Interdependenzgeflecht, nur auf einen Teil der Menschheit beschränkt, während die Mehrzahl der „Naturvölker“ jenseits des Fortschreitens verbleibt: diese Unterscheidung wird später, in der Folge einer stärkeren Naturalisierung seines Denkens, fallengelassen und sogar der Begriff des ‚Barbaren‘ ausgemerzt; doch bis zur Preisgabe aller zivilisatorischen Maßstäbe wollte der in Ansätzen steckenbleibende, vor seinen eigenen Einfällen zurückschreckende Philosoph dann doch nicht gehen. Die Versuche, den Gang der Geschichte in rationale Begriffe zu fassen, scheinen Herder zunächst fragwürdig: „alles ist großes Schicksal, von Menschen unüberdacht, ungehofft, unbewürkt“; Intentionen und Ergebnisse klaffen weit auseinander. Das schafft Raum für providentialistische Deutungen: eine fürsorg liche mütterliche Kraft, heißt es, habe Grundsäulen und Keime alles Späteren in die Kindheit der Menschheit gelegt. „Der menschliche Geist bekam die ersten Formen von Weisheit und Tugend mit einer Einfalt, Stärke, Hoheit, die… in unsrer philosophischen, kalten europäischen Welt nichts, gar nichts ihresgleichen hat (Auch eine Philosophie). Später entwickeln sich aus ihnen in gegenseitigem Kampf „edlere“ Lebens- und Kulturformen. Seit 1776 war Herder in Weimar, in tagtäglichem Austausch mit Goethe159 und dessen Missverhältnis zur Geschichte, was seine Gedankengänge stärker auf die Natur lenkte, die weder Vergangenheit noch Zukunft kennt und „sich nichts aus den Individuen macht“. Das Ergebnis der neuen Fragestellungen war Band 1 seiner Ideen zu einer Philosophie der Geschichte (1784). Zwar verlautet parallel, er verwende das Wort Natur nur, um den Namen Gottes nicht zu missbrauchen, aber auch: „Präformierte Keime, die seit der Schöpfung bereit lagen, hat kein Auge gesehen“; „die Philosophie der Endzwecke hat der Naturgeschichte keinen Vorteil gebracht.“ Die traditionelle Begrifflichkeit (die Idee einer providentialen „Erziehung des Menschengeschlechts“) tritt jetzt zurück zugunsten der gött lichen Immanenz; der Mensch wird als Teil eines Naturganzen begriffen, dessen alle Teile als organische Kräfte eine göttliche Bestimmung besitzen und schon deshalb nie als Mittel für Zwecke außerhalb ihrer selbst betrachtet werden dürfen (Ideen, Buch IX). Die Vielfalt der Geschichtsphänomene wird von einer Klammer zusammengehalten, die auf den ersten Blick säkular zu sein scheint, in mancher Hinsicht 216
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aber eher mystische Qualität besitzt (Stadelmann). ‚Humanität‘ gilt einmal als universale Substanz aller historischen Gestaltungen, ein Ruhepunkt zwischen den Pendelschwingungen der Ereignisse, ein andermal als Grenze, die als Hybris Überschreitungen mit fast naturgesetzlicher Folgerichtigkeit bestraft, aber auch wieder als Erziehungsideal, das sich schrittweise verwirklicht. In der Geschichte sind häufig Leidenschaften und Wahn am Werk, doch korrigieren sich die Gegensätze, läutern sich im Lauf der Zeit. Zerstörerische Kräfte dienen ungewollt den erhaltenden, werden zum Vehikel des Guten; die geleugnete Teleologie kehrt damit durch die Hintertür zurück. Schicksal und Natur erhalten einen ethischen Akzent: als „naturwidrig“ gilt, was Herders ethischen Vorstellungen widerspricht (Meinecke). Herders Begriffe schwanken zwischen einem Verständnis der Humanität als dem „Göttlichen in uns“, als Maß aller Dinge“, ihrer Verwirklichung als mora lischem Gebot, und auf der anderen Seite genetisch-naturaler Fundierung. Auch die Ausbildung der Humanität in und durch die Geschichte bleibt eine widersprüchliche Aussage: die bewunderte antike Kultur ruht auf ruchloser Unter drückung, vielleicht ist das der Grund ihres Untergangs; jedenfalls stellt Herder die Frage, ob „diese schönen Früchte eines erpressten Goldnen Alters solchen Aufwands werth“ waren. Auch später sind seine Sympathien auf der Seite der Verlierer und Unterdrückten der Geschichte. Der Eindruck der Inkonsequenz war nicht allein Herders „lebhaftem Genie“160 zuzuschreiben, sondern auch seiner Redlichkeit. Die harten Realitäten wollen sich nicht der pantheistisch-neuplatonischen Idealisierung fügen, Welt und Geschichte als Manifestationen Gottes zu betrachten: „Es muss…Fortgang sein im Reiche Gottes, da in ihm kein Stillstand, noch weniger ein Rückgang sein kann.“ Humanität gerät zum deus ex machina einer großen pädagogischen Utopie (E. Adler). Aber die tragischen Antinomien der Geschichte lassen sich nicht auf Feld- und Wiesenformeln von der Art „Widerspruchsnatur des Höherentwicklungsprozesses“ oder gar Grundgesetz wachsender Humanität (W. Förster) bringen. Herder ringt um begrifflichen Ausdruck für die Vorstellung einer Entwicklung göttlicher Anlagen im Individuum, den Völkern und der Menschheit. Das Erkennen und Lieben Gottes, heißt es traditionell, helfe uns, über das Schicksal Herr zu werden, anderseits gilt: „Die Gottheit hilft uns nur durch unsern Fleiß, durch unsern Verstand, durch unsre Kräfte“, also als Synergie, und das bedeutet ganz kantianisch, dass „unser Geschlecht selbst aus sich machen muss, was aus ihm werden kann und soll“ (Buch XV der Ideen). So verschwommen Herders Humanitätsidee auch sein mochte: sie führte nicht zu quietistischer Hinnahme der Geschichtsantinomien, sondern wurde immer wieder zum Motor einer Progressivität besonderer Art, zumindest zu schroffen Urteilen über Staat, Krieg oder die Diskriminierung von Teilen der Menschheit 217
IV Aufklärung und Revolution
(„Anfangsregungen eines bürgerlich-politischen Grollens noch mehr als Wollens“, hat das Friedrich Meinecke genannt). Der schweigende Kontrakt, auf dem die meisten Staaten beruhen, lautet nach Herder: „Der Stärkere nimmt, was er will, und der Schwächere gibt oder leidet, was er nicht ändern kann.“161 Kant hatte die Notwendigkeit von Zwang in der Geschichte auf die drastische Formel gebracht, der Mensch brauche einen Herrn, der seinen (bösen) Willen breche; Herder missverstand den einstigen Lehrer wahrscheinlich bewusst und antwortete pathetisch: „Im Begriff des Menschen liegt der Begriff eines ihm nötigen Despoten nicht“; „der Mensch, der einen Herrn nötig hat, ist ein Tier; sobald er Mensch wird, hat er keinen eigentlichen Herrn mehr nötig.“ Kants Menschenbild war pessimistischer als das Herders, aber Menschsein in einem emphatischen Sinn war für beide keine empirische, keine historische Feststellung, sondern eine pädagogische „regulative Idee“ bzw. Projektion. Über den Weg dahin mochte man verschiedener Meinung sein, doch lagen beider konkrete Erwartungen nicht so weit auseinander – wie sich etwa in ihrer Haltung zur Französischen Revolution zeigen sollte. „Mit hüpfender, kindischer Freude“, bemerkte Herder in einem (zurückbehaltenen) Brief von 1792, „nahm ich an ihr nie teil. Indessen tröstete mich der Gedanke, dass wir unter einer höheren Haushaltung leben, die auch aus dem Bösen das Gute…zu bereiten weiß“ (Briefe zur Beförderung der Humanität 1793–97).162 *** Was die Einstellung zu jenem französischen Experiment mit „beschleunigter Aufklärung“ anbelangt, war diejenige Friedrich Schillers († 1805), nach anfänglichem Zögern, die denkbar negativste. So verführerisch der Versuch ursprünglich schien, die Vernunft als alleinige und absolute Gesetzgeberin über Dinge entscheiden zu lassen, die „sonst nur das Recht des Stärkeren und die Konvenienz“ entschieden: die Praxis hat das Unvermögen, die Unwürdigkeit der Akteure an den Tag gebracht und „ein ganzes Jahrhundert in Barbarei und Knechtschaft zurückgeschleudert“. Der Augenblick fand eine verderbte Generation, so dass Schillers Fazit lautet, die Menschheit sei wohl „vormundschaftlicher Gewalt noch nicht entwachsen“. Nicht reif zu bürgerlicher Freiheit ist, „wem noch so vieles zur menschlichen fehlt“ (An Herzog F. C. von Augustenburg, 1793). Goethe mochte Recht haben, wenn er den Freund, immerhin Ehrenbürger der Französischen Republik, ironisch für einen ‚größeren Aristokraten‘ als sich selber erklärte: 218
Majestät der Menschennatur! Dich soll ich beim Haufen Suchen? Bei wenigen nur hast du von jeher gewohnt.
11. Die Erziehung des Menschengeschlechts
Als Historiker hat sich Schiller vor allem mit dem Freiheitskampf gegen spanischkatholischen Absolutismus befasst, so dass seine Werke auf eine Weise zur WhigGeschichtsschreibung gezählt werden können (G. Mann). Dabei neigt sein Urteil über die Akteure meist zu Pessimismus: „Denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht“, lässt er Wallenstein monologisieren – eine Gestalt, die dem Idealisten auch in ihrem sterngläubigen Fatalismus eigentlich fremd war. Der Kampf um mehr Freiheit bildet für ihn auch keine Geschichtsachse, sondern wird von Anbeginn relativiert durch moralische Zweideutigkeit, einschließlich der großen Akteure, wie Wilhelm von Oranien. Trotzdem bleibt hinter all dem Ehrgeiz, Eigennutz und Machttrieb, auch der Hysterie und Barbarei der Massen, die Ahnung eines Arrangements der „großen Natur“.163 Dies wird noch deutlicher in Schillers Jenaer Antrittsvorlesung am Vorabend der Revolution: hier wird die Suche nach einem vernünftigen Zweck, einem „teleologischen Prinzip in der Weltgeschichte“ geradezu zum Programm erhoben. Allerdings muss da, ganz wie bei Voltaire, die als positiv empfundene Gegenwart den Schlüssel zu den voran gegangenen Jahrtausenden liefern, deren Resultat sie ist. Durch eine Anbindung an unser „menschlicheres“ Jahrhundert fügt sich das Aggregat von Bruchstücken zum übereinstimmenden Ganzen, während sich die Geschichtsschreibung zur „unsterblichen Bürgerin aller Nationen und Zeiten“ aufwirft. Anders als Herder, stört Schiller nicht, dass die Errungenschaften unserer Kultur das Ergebnis von „Fleiß, Genie, Vernunft und Erfahrung vieler Generationen“ ist; wir sind im übrigen verpflichtet, dieses Vermächtnis vermehrt an die nächste weiterzugeben. Fortschritt ist demnach in erster Linie ein Sollen, zumindest ein Werturteil, das ausgeht von positiv gewürdigten Erscheinungen der Gegenwart und das einen großen Zusammenhang herstellt zu Ansätzen in der Vergangenheit sowie einer künftigen Weiterführung der Stafette, die Wahrheit, Geist und Freiheit an die Nachfolger überträgt. – Unverbunden damit steht bei Schiller Kants „ungesellige Geselligkeit“, die Denkfigur der ungewollten Ergebnisse: „vervielfältigte Begierden“ beflügeln den Erfindungsgeist, die Schranken der Nationen werden aus ebendiesen Motiven durchbrochen und entfernte Völker zu Nachbarn gemacht; analog entsteht mitunter ein dauerhafter Friede aus dem Gleichgewicht bewaffneter staatlicher Egoismen. Es scheint die smithsche Regel zu gelten, dass „der selbstsüchtige Mensch niedrige Ziele zwar verfolgen kann, aber unbewusst vortreffliche befördert“ (Was ist zu welchem Ende studiert man Univeralgeschichte?,1789). Dem Sollen kommt in der Geschichte eine höhere Natur zu Hilfe und gebraucht die niederen Formen ebendieser Natur („rohe Triebe“, die „Notdurft der Materie“) dazu, bloße Naturalität in Kultur zu verwandeln. Die Wahrheit, heißt es später in Vorwegnahme von Karl Marx, muss zur Kraft werden, sich auf den Trieb stützen, denn in der Welt der Sinne sind „Triebe die einzigen bewegenden Kräfte“. 219
IV Aufklärung und Revolution
Der Verlauf der französischen Revolution hat Schillers optimistische Grundstimmung erst einmal in ihr Gegenteil verkehrt. Seine harte Verurteilung zumindest der jakobinischen Phase variiert Kants paulinischen Satz von der Notwendigkeit der Obrigkeit: das Alte Regime habe nicht so sehr freie Menschen unterdrückt, wie einen „wilden Despotismus der Triebe“ an „heilsame Ketten“ gelegt; nach dem Zusammenbruch aller bürgerlichen Ordnung könne dieser ungehindert seine Scheußlichkeiten verüben. Die „Weltgeschichte ist das Weltgericht“, aber die Hoffnung auf ein goldenes Zeitalter ist ein „Wort des Wahns“. Schiller war jedoch viel zu sehr Freiheitsdichter, viel zu sehr Erzieher, um sich mit dem allzu einfachen reaktionären Rezept „heilsamer Ketten“ zu begnügen und, mit seinen eigenen Worten, von der Freiheit erschreckt, sich einer bequemen Knechtschaft in die Arme zu werfen. In seiner Ankündigung der Horen (1794) sagt er sich zwar los von unreinem Parteigeist, überhaupt beschränkten Gegenwartsinteressen und dem „allverfolgenden Dämon der Staatskritik“, aber nur um die zerrissene Welt unter der Fahne eines höheren Interesses, dem Ideal des Wahren und Schönen, wieder zu vereinigen: Davon hänge letztlich auch die Verbesserung des gesellschaftlichen Zustandes ab.164 Schillers Programm wird systematisch ausgeführt und vertieft in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung (1795). Die Gegenwart verdüstert sich darin in jeder Hinsicht. Nicht nur widerstehen die menschlichen Gemüter der Aufklärung und verbleiben aus Trägheit des Herzens „im Dämmerlicht dunkler Begriffe“, während die Masse des Volkes, ermüdet durch den alltäglichen Lebenskampf, sich gezwungenermaßen mit Formeln des Glaubens begnügt. Die Aufklärung selbst wird fragwürdig, bewirkt zumindest keine Veredelung der Gesinnung, sondern allenfalls noch größere Nichtswürdigkeit: durch Vernünftelei sind die Völker von der Natur abgefallen, ohne durch Vernunft zu ihr, nämlich einer höheren Natürlichkeit, zurückgeführt zu werden. „Mitten im Schoße der raffinierten Geselligkeit hat der Egoism sein System gegründet.“ Eine solche Gegenwart taugt somit trotz allem zu keinem echten Neuanfang und auch nicht als Fortschrittskriterium. Die Dynamik der Geschichte, deren Akteure stets das Böse wollen und doch das Gute schaffen, scheint kompromittiert zugunsten eines statischen, dunkel getönten „Gleichgewichts des Schlimmen“. Hatte es früher geheißen, der Abfall vom Instinkt sei die größte Begebenheit in der Menschengeschichte, denn er habe den Menschen zu Fleiß und Nachdenken gezwungen (Etwas über die erste Menschengesellschaft), so vertraut Schiller nur mehr dem subjektiven Teil von Kants Geschichtsphilosophie, nämlich der Idee einer sich durch Kunst emporarbeitenden Gattung. Was bei Adam Smith ein beheb barer Kollateralschaden des Fortschritts war, nämlich die Folgen der Arbeits teilung, wird nun von Schiller zur Pathologie der Gegenwart hochgespielt: Die menschlichen Kräfte sind zersplittert und entfalten nur Teile ihrer Anlagen; „ewig 220
11. Die Erziehung des Menschengeschlechts
nur an ein einzelnes Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus“; er wird zum bloßen Abdruck seines Geschäfts oder Amts und entwickelt nur fragmentarische Erfahrung, mechanische Fertigkeiten, einen tabellarischen Verstand oder auch nur sein Gedächtnis, während der spekulative Geist zum Fremdling in der Sinnenwelt wird und der herrschende Geschäftsgeist das freie Ganze aus den Augen verliert. Nicht zuletzt ist der Staat, ein „mechanisches Uhrwerk“, den Menschen fremd geworden; er wird deshalb als bloße Partei gehasst und hintergangen (Über die ästhetische Erziehung). Schillers pessimistisches Panorama des ausgehenden 18. Jahrhunderts, bevölkert von verkrüppelten Teilmenschen mit pedantisch eingeschränktem Horizont und unentwickeltem Empfindungsvermögen, bildet aber den Ausgangspunkt eines großen Erziehungsprogramms, das echten Fortschritt möglich machen soll. Dieser kann nicht vom gegenwärtigen „Naturstaat“ ausgehen und auch nicht von der herrschenden Wertvorstellung: dem Nutzen als „Idol der Zeit“; der Epikuräismus erstickt alle Energie und jeden Charakter. Die auf roher Natur gegründete Politik mündet allein in Usurpation oder Insurrektion, und der Faustkampf entscheidet, zumindest beendet, den Streit der Prinzipien. Anderseits will der Idealist durchaus vermeiden, dass bei der Verwandlung des Naturstaates in einen moralischen das natürliche Bedürfnis außer Acht gelassen wird, in Schillers Diktion: dass der sittliche Charakter sich nicht unter Aufopferung des natürlichen behauptet. „Um der Würde des Menschen willen (darf) seine Existenz nicht in Gefahr geraten“: die bemerkenswerte Absage an eine Utopie ohne praktische Bodenhaftung, eine barbarische Herrschaft der Grundsätze, die das Mannigfaltige und Subjektive der Doktrin opfert. Goethe hat über die erratische Erscheinung des verstorbenen Freunds geäußert, er habe nichts Gemeines berührt, ohne es zu veredeln, seinem Geist waren die Schattenseiten des Lebens quasi unzugänglich. Schillers Gegenentwurf wollte die sinnliche Natur keineswegs unterdrücken, sondern auf einer höheren Ebene mit der Vernunft zusammenfallen lassen. Das Naturgesetz der Willkür, Selbstsucht und Gewalt sollte nicht einfach verdrängt, sondern kultiviert werden, um eine vernünftige bürgerliche Freiheit und Selbsttätigkeit zu sichern und der verstümmelten menschlichen Natur die „Totalität“ wiederzugeben. Enttäuscht vom Entgleisen des politischen Experiments in Frankreich, schlägt Schiller den lessingschen Umweg über die Erziehung des Menschen vor, um durch Selbstkultivierung die Fähigkeit zur Freiheit zu entwickeln; auf eine Formel gebracht, will er „die Schönheit der Freiheit voranschicken“. Bloße Theorie, eine philosophische Berichtigung der Begriffe, erzeugt Licht ohne Wärme, wenn die Reinigung der Gefühle durch ästhetische Kultur unterbleibt. Das war schon der Sinn jener „Gerichtsbarkeit der Bühne“, die tiefer und dauernder wirkt als Moral und Gesetz (Die Schaubühne als eine moralische Anstalt 221
IV Aufklärung und Revolution
betrachtet, 1784.165 Wie wahre Schönheit und wahre Anmut keine Begierde erregen (Über Anmut und Würde, 1793), so wird auch echte menschliche Größe sich nicht als Despotismus äußern und moralische Selbsttätigkeit unterdrücken, sondern „edle Bildung des physischen und ethischen Menschen“, die Einigkeit mit sich selbst anstreben. Erst die Fähigkeit, als sittliches Wesen zu handeln, macht schließlich politische und bürgerliche Freiheit sinnvoll. Schillers Abhandlung fand die Zustimmung des späten Kant. Es war natürlich keine „realpolitische“ Antwort auf die französische Herausforderung, aber trotz des theoretischen Aufschubs, der Bedingung politischer Freiheit durch eine – kaum je erreichbare – moralische Reife, auch keine Weichenstellung in Richtung eines deutschen Sonderwegs, den Schiller, so wenig wie Kant und Herder, in Betracht zog: schon für nur eine Nation schreiben zu wollen, schien ihm ein „armseliges, kleinliches Ideal“. Wohl aber bildet Schillers Versuch einen pathetischen Schlussakkord zur großen Erziehungsdebatte des 18. Jahrhunderts. Ihr Bezugspunkt ist das Humane, das Göttliche im Menschen, eine überzeitliche Natur, häufig verkörpert im idealisierten Griechentum („Und die Sonne Homers, siehe! sie lächelt auch uns“). Die Natur, in die schon Herder sein ethisches Humanitätsideal eingebracht hatte, fungiert auch als Restbestand des alten Vorsehungsgedankens. Sie kommt dem blinden Handeln der Protagonisten der Geschichte bald in die Quere, bald zu Hilfe, läßt deren Egozentrik an ihren Gesetzen scheitern und bewirkt manchmal, dass aus den trostlosen Kreisläufen des Ewiggleichen Neues entsteht und Menschenverachtung in Menschheits glauben umschlägt.
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V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie 12. Nach dem Sturm Die Revolution als ‚verwirklichte Aufklärung‘ und Garant eines vernunftgeleiteten neuen Geschichtsäons schien vielen schon tot zu sein, bevor noch die Macht in Paris auf die Generäle übergegangen war. Die humanitären Verheißungen und die ‚erhabene Rührung‘ der Anfänge hatten das Feld vor den ältesten Mächten der Geschichte geräumt: Gewalt, Furcht, Krieg, Ehrgeiz, kollektiven Emotionen. Auch wohlwollende Beobachter der Anfänge konnten sich kaum mehr vorstellen, dass sich diese noch als ungewollter Motor des Fortschritts in einem übergreifenden, humanitären Sinn entpuppen könnten. Ruhige Bildungsarbeit, Erziehung, Handel und Wohlstand, Reformbereitschaft der Oberschichten, auf die das späte 18. Jahrhundert gesetzt hatte, waren fast überall zum Opfer von Revolutionsfurcht, Invasionen, allgemeiner Zerrüttung geworden. Das Gnadengesuch des Begründers der modernen Chemie Lavoisier soll mit den törichten Worten: „La république n’a pas besoin des savants“ (Die Republik benötigt keine Wissenschaftler) abgelehnt worden sein. Auch wenn noch große Wissenschafts- und Bildungsprojekte zum Tragen kamen, galt die kritische Philosophie mit ihren Trägern, den unabhängigen gens de lettres, nun als gefährlich und inkompetent. Die ‚Metaphysiker‘ waren Napoleons bête noire (ein Greuel), und folgerichtig ließ er schon 1803 die Klasse für politische und moralische Wissenschaften am Institut de France auflösen. Die Nation, ihre Macht und Kollektivsymbolik, sollte das Erbe der Aufklärung antreten und im 19. Jahrhundert die Phantasie der Menschen zunehmend in ihren Bann schlagen. Die Revolution hatte sich, trotz aller Bemühungen noch der brumairianischen Intellektuellen um Kontinuität zu ihren bürgerlichen Anfängen, wieder als Kreisbewegung, nicht als Aufbruch zu neuen Ufern, erwiesen. Der Leviathan, Hobbes’ Macht- und Polizeistaat, wurde gerade im nachrevolutionären Frankreich auf eine Weise zum Leitsystem einer ernüchterten, ideologie müden Generation. Wozu Freiheit, wenn die Befreiten diese nur zur Zerstörung der bürgerlichen Ordnung und Zivilisation nutzten und der irrationale 223
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
große Haufen (toujours enfant, toujours fou et toujours absent) eher der Zügel und des täglichen Brots bedurfte, als schwärmerischer Deklamationen? Das Chaos wurde gebändigt durch eine Mobilisierung gegen den äußeren Feind, die Nationalisierung der Geister und die Droge Gloire. Die schrittweise wiederkehrende Ordnung ruhte damit auf dem unsicheren Fundament einer bis zum Zynismus illusionslosen, nur-instrumentalen Vernunft. Das Gebäude, das sich auf den Trümmern der alten Ordnung und ihrer Fiktionen erhob, sollte durchaus Platz haben für einzelne Wissenschaften, Künste, Industrie und Erziehung, jedoch als spezialisierte Funktionen im Dienst einer soldatisch verengten, agonalen Wirklichkeitsauffassung, ohne den Luxus einer freischwebenden intellektuellen Existenz. Das Politische hatte sich im neuen Verständnis vom verspotteten ‚Ideologischen‘, aber auch vom Bürgerlich-Zivilen abgespalten, und die Gesellschaft primär zum Verwaltungs- und Rekrutierungsobjekt wirden lassen. Die fortgesetzte Rationalisierung und Zentralisierung verfolgte als hauptsächlichen Zweck die bessere Erfassung und Effizienzsteigerung: eine polizeilich-ingenieurhafte Verengung des modernen Glaubens an die Machbarkeit des Fortschritts. Es war wohl lebensgeschichtlicher Anschauung zu verdanken, wenn Cuvier, der Begründer der Paläontologie, die entdeckten fossilen Arten durch große Erdkatastrophen und folgende Neuschöpfungen von unserer Artenwelt trennte. Edmund Burke († 1797) hatte mit dem frühen Scharfblick des Hasses in Frankreich eine barbarische Philosophie, ohne Geschmack und Weisheit, am Werk gesehen, eine „Missgeburt kalter Herzen“. Was den konservativ-liberalen Oppositionspolitiker und langjährigen Kämpfer gegen die Diskriminierung der Iren sowie Übergriffe der britischen Krone am französischen Geschehen irritierte, war gewiss auch die Beschneidung alter Privilegien, die er aus englischer Sicht als Freiheitschance und nicht als Freiheitshindernis zu interpretieren suchte. Eine sinnvolle Revolution, wie die englische von 1688, eigentlich eher eine verhinderte Revolution, orientierte sich nach seiner Überzeugung nicht an abstrakten, naturrechtlichen Grundsätzen, sondern an ererbten Rechten und Freiheiten. Der Geist der Neuerungen, der alles verachtet, was das Land schon besitzt, galt ihm als „Attribut kleiner Charaktere und eingeschränkter Köpfe“. Vor allem führt ein derart spekulatives Politikverständnis von königlicher Willkür direkt in einen nicht weniger verheerenden Despotismus des Volkes. Für dieses ist „Freiheit nicht anders vollkommen, als wenn es keine Sicherheit für das Eigentum gibt“ (Betrachtungen über die französische Revolution, 120). Alles ist Sache der Umstände, die ein Prinzip wohltätig oder verderblich werden lassen, hieß es im Geist Montesquieus. Es wäre absurd, erklärte Burke rhetorisch, einen Wahnsinnigen oder einen Straßenräuber zur wiedererlangten Freiheit zu beglückwünschen: Freiheit ist kein Wert an sich, es kommt darauf 224
12. Nach dem Sturm
an, was die Menschen mit ihr anzufangen wissen. Statt Rechte a priori zu proklamieren und sich hochmütig gegen praktische Erfahrung abzukapseln, wird der wahre Staatsmann in längeren Zeiträumen denken und vor notwendigen Korrekturen z. B. untersuchen, was für Auswirkungen die Reform auf Staats finanzen, Religion, Eigentum und öffentliche Ordnung hat. Analog ist abstrakte Gleichheit, die über Rechtssicherheit hinausgeht, für Burke eine bloße Grille weltfremder Schulweisheit, die einen fiktiven Naturzustand zur Norm der zivilisierten Gesellschaft machen möchte; die menschliche Natur ist in Wahrheit die Gesellschaft und die Geschichte, gerade mit ihren „künstlichen“ Differenzierungen und kulturellen Leistungen. Art is man’s nature. Alle Menschen sind In der Tat Rechtsteilnehmer, aber sie haben nicht das Recht auf dasselbe. Die Gleichheitsapostel, die sich ja nicht auf Frankreich beschränkten, sondern etwa mit Richard Price oder William Godwin166 auch in England radikale Reformen forderten, verkehren nach Burke die eigentlich natürliche Ordnung und drohen den schon einmal durch Sektiererfanatismus ausgelösten Bürgerkrieg neuzuentfachen. Die bürgerliche Gesellschaft im klassischen Verständnis entspricht eher dem Bild einer unkündbaren Aktiengesellschaft ungleicher Teilhaber, unterschiedlicher Rechte, Interessen und Meinungen. Das Kräftespiel hält sich gegenseitig in prekärer Balance, aber es bedarf auch des partnerschaftlichen Vertrauens, politischer Mäßigung, und nicht zuletzt eines Schatzes an Erfahrungen, Traditionen und – Vorurteilen.167 Die praktische Erfahrung, auf die sich Burke berief, war allerdings die der alten Oberschichten, und Freiheit war deren Privileg; dennoch ist sein Votum für Kontinuität und seine Missbilligung des Diktats politischer Mathematik, die über das historisch Überlieferte verächtlich hinweggeht, nicht einfach Ressentiment, sondern auf eine Weise fortschrittsrelevant. Die Gesetzgeber dürften sich, so glaubt er, nicht als souveräne Herren aufspielen, denn sie verwalten nur quasi treuhänderisch ein altes Familienkapital, das sie zu vermehren und weiterzu geben und nicht irrlichternden Rezepten zu opfern haben. In diesem Sinn repräsentiert den wahren Willen der Nation nicht die Augenblickswillkür einer gerade herrschenden Gruppe, sondern ein permanent covenant der Lebenden, Toten und noch Ungeborenen. Entsprechend ist die Verfassung eines Landes keine willkürliche Konstruktion noch so kluger Gesetzgeber, sondern eine organische, ständig sich erneuernde, historisch geprägte institutionelle Ordnung, deren Vernünftigkeit sich nicht nach ‚unpraktischen Abstraktionen‘ misst, sondern nach der Tatsache ihrer Bewährung. Erst diese Rückbindung ist imstande, nicht zuletzt durch die Brille unhinterfragter Konventionen und ‚nützlicher Vorurteile‘, ein tragfähiges Fundament für politisches Handeln (also auch Fortschritte) zu vermitteln. Damit ist es Burke ernst: „Ein Staat, dem es an allen Mitteln zu seiner Veränderung fehlt, 225
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entbehrt die Mittel zu seiner Erhaltung“ (Reflections). Burkes äußerst einflussreiche Schrift bildet eine Wasserscheide des Zeitgeistes, der in Europa erst einmal das Vertrauen in die konstruktive Kraft menschlicher Vernunft verloren hat und nicht nach vorne blickt, sondern dazu neigt, die Vernunft im Tradierten zu suchen. Dämme werden errichtet gegen hereinbrechende Fluten, andere flüchten aus der unerfreulichen, hässlichen Gegenwart in romantische Gegen welten.168 Willliam Blake († 1827), Maler, Graveur, Dichter, Prophet des „Jungen England“, klagt über die Verwüstung des Menschen durch den Menschen, den gottlosen Materialismus und die „dunklen Mühlen des Teufels“ (die Industrialisierung); er ersehnt die Rückkehr des grünen England, aber träumt zugleich von der Ablösung der Herrschaft Jehovas und seiner betrügerischen Priester, nicht zuletzt von der Befreiung der Geschlechter. Ein anderer englischer Romantiker, der Aristokrat Percy B. Shelley († 1822) apostrophiert Prometheus als das schöpferische Prinzip, das ohne den alten Tyrannen-Gott alles Übel aus der Welt vertreibt. Als 1819 ein großes Arbeiter-Meeting bei Manchester blutig zusammengeschossen wird, protestiert Shelley gegen „Peterloo“ mit einem Gedicht, das Castlereagh als Mörder anklagt, der seine Bluthunde mit Menschenherzen füttert (vgl. Heer, Europa, 30f). Aber der romantische Protest verpufft in Weltschmerz. Den aufkommenden Pessimismus und das Bedrohungsgefühl in England bringt auf ganz andere Weise die Bevölkerungstheorie des jungen Thomas Malthus († 1834) zum Ausdruck. Zum Thema der zunehmenden Armut hatte sich übrigens auch der vielseitige Publizist Burke in seinen Thoughts on Scarcity (1795) geäußert und das Problem bezeichnenderweise nicht im Sinne seiner organizistischen politischen Philosophie behandelt, sondern der Selbstregulierung durch den Markt überlassen; der Praktiker (Marx meinte: der käufliche Sykophant) siegte da über den Konservativen. Malthus, Sohn eines Bewunderers von Rousseau und Condorcet, schlug in dieselbe Kerbe und widersprach den Gedanken des radikalen Vaters, ebenso wie den Reformvorschlägen der englischen Volksfreunde. Wie Burke der Maßlosigkeit einer ungebundenen Vernunft misstraute (und die Armut als Wirtschaftsfaktor aus dem Bereich politischen Handelns verwies), so fürchtete auch der anglikanische Geistliche eine alle Ordnung sprengende Kraft, allerdings war es der ungezügelte Geschlechtstrieb des Volkes und dessen destruktive Folgen. Der Merkantilismus hatte in einer wachsenden Bevölkerung die wichtigste Quelle des Reichtums eines Landes sehen wollen; Malthus’ Essay von 1798 kehrte – in der Atmosphäre eines sich auf Slums konzentrierenden, somit stärker sichtbaren – Elends, auch wachsender Armensteuern, die Bewertung um. Er glaubte in einer „in geometrischer Reihe“ wachsenden Bevölkerungszahl die Hauptgefahr für den smithschen Fortschritt, einen nur langsam wachsenden 226
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Wohlstand des Landes, erkannt zu haben. Die eigentlich wünschenswerte moralische Selbstbeschränkung, ein prudential check durch den „General Reason“, war von der unbeherrschten Masse des Volkes realistischeweise kaum zu erwarten, und so blieb ihm als heilsame Bremse nur – der Hunger. Versuche, diese rationale Sperre durch ‚übertriebene Wohlfahrtspolitik‘ zu umgehen, wenn nicht aufzuheben, denunzierte Malthus als unsinnig und zerstörerisch. Sein Pessimismus war eine kaltschnäuzige Absage an naturrechtliche Gleichheitsdoktrinen (nach seiner späteren Formulierurig blieb beim „großen Fest der Natur“ für viele der Tisch eben ungedeckt), auch an traditionelle Formen der Caritas und sogar die elisabethanische Armengesetzgebung. Ein neuer Konservatismus war hier im Entstehen, der sich nicht, wie der burkesche, an Lehren aus der Geschichte orientierte, sondern am „ehernen Marktgesetz“ bzw. der jetzt als „unerbittlich“ apostrophierten Natur. Man konnte Malthus trotzdem auf eine Weise progressiv interpretieren, weil der geschichtliche Fortschritt, getragen von unternehmerischer Tätigkeit und kapitalistischer Akkumulation, ihm gefährdet schien durch den unaufhörlichen Zustrom kaum disziplinierbarer, verelendeter, kinderreicher Massen, sowie durch „sentimentale“ Bemühungen, diesen einen vermeintlich gerechten Anteil am neugeschaffenen Wohlstand zukommen zu lassen.169 Der pessimistische Massendiskurs war der Aufklärung nicht fremd gewesen; das Volk galt als abergläubisch und faul, eher Objekt als Subjekt der Geschichte. Jetzt entzündete er sich an einem bis dahin nur lokal wahrgenommenen Aspekt, der die herkömmliche Gesellschaft bedrohte, aber auch die Aussicht auf wachsenden Wohlstand der Gesamtgesellschaft. Ein Aufschrei der Empörung erhob sich gegen Malthus’ provozierende, aber schwer widerlegbare Thesen, bis heute ein Menetekel für Fortschritte in der „Dritten Welt“, die von einem ungebremsten Bevölkerungswachstum aufgefressen werden, oder durch den Überschuss perspektivloser zorniger junger Männer in Fanatismus und ethnische Gewalt versinken. Auf dem Kontinent war die konservative Wende noch markanter als auf der britischen Insel, wenn auch nur selten in der fundamental-traditionalistischen Form eines Joseph de Maistre († 1821). Für den langjährigen Gesandten des von Napoleon besetzten Königreichs Sardinien in Petersburg waren Aufklärung und Revolution radikal böse, eine wesentlich zersetzende Macht. Schon der Protestantismus galt ihm als „Vater der Anarchie“ und Ursache aller modernen Übel, aber er hasste auch den griechischen Genius, der Frankreich im 18.Jahrhundert verführt hatte. Konsequent hielt der Wahlfranzose den Verrat an der französischen katholischen Weltmission für die politische Ursünde, für die das Land jetzt büßen müsse. Eine weitere Sackgasse war die Entzweiung von König und Adel. Doch schließt die Revolution die Vergangenheit definitiv ab: Was folgen muss, ist ein Nouveau Régime, das statisch ist wie das alte Ägypten mit seinen 227
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imponierenden Bauten der Macht und das Volk zusammenballt zu heroischen Anstrengungen. Voraussetzung ist das heilige Amt des Henkers, so lehrt der „gelehrige Schüler der terreur“ (F. Heer). De Maistres Legitimismus hat nichts mit romantischem Ästhetizismus und Verklärung des Mittelalters, nicht einmal mit einer Wiederbesinnung auf das Christentum zu tun. Die Religion ist kaum mehr als der Zement des Gebäudes und de Maistres Religion rein politisch; man könnte darin eine katholische Version von Rousseaus ziviler Religion wiedererkennen, die lehrt, fürs Vaterland zu sterben. (De Bonald erklärt parallel, er mache aus der Religion eine Sache der Politik, weil er in der Politik eine Sache der Religion, „une grande et importante affaire de la religion“, sehe.) Sogar der orientalische Despotismus war in diesem Sinn kein Schreckbild, sondern geradezu Gegenstand der Bewunderung: Der Monarch ist als Institution die symbolische Garantie staatlicher Einheit und Dauer, Spitze einer aristokratisch strukturierten Pyramide, deren Grundlagen in keiner Weise vom Willen einer Volksversammlung abhängen, sondern allein von ungeschriebenen Rechten und göttlichen Gesetzen: „Kein Volk kann sich die Freiheit geben, wenn es sie nicht besitzt.“ Das las man in Emigrantenkreisen gern. De Maistres Hass gegen die Aufklärung lief auf eine Entwertung der zersetzenden Vernunft als Handlungsprinzip hinaus, nicht zuletzt eine Disqualifizierung des „Philosophengesindels“ auf dem Feld der Politik; im Unterschied zu einzelnen Fachdisziplinen und sozialen Funktionen, überschreitet der geschwätzige demi-savant (Halbgelehrte) diese Grenzen und bringt damit die Ordnung der Gesellschaft in Verwirrung. Dagegen bestehe der Ruhm der katholischen Kirche gerade darin, nicht zu argumentieren: wer diskutiert, ist fast schon Rebell. Vieles, das besser in heilsames Dunkel gehüllt bleibt, könnte man verstehen, wird durch mutwillige Diskurse zerstört (Du Pape). Vor allem ist natürlich die Infragestellung des kirchlichen Heilswissens und des göttlichen Charakters der Monarchie ein Übel. Für unser Thema von Belang sind auch de Maistres provokante Betrachtungen über den Krieg. Hatte das Denken des 18. Jahrhunderts diesen durchweg als Geißel der Menschheit und Gefährdung der Zivilisation angesehen, so hielt der Savoyarde den Krieg für ein göttliches Weltgesetz, das die Völker erst zu echter Größe führt. Nicht nur ist der Krieg ein Ventil gegen Übervölkerung: Verweichlichung, Unglauben; Laster und Überkultur können nur durch Blut wieder aufgefrischt werden (Considérations sur la France, 1797). Das ist keine resignierende Feststellung eines Misanthropen, der die humanitären Bemühungen um eine Ächtung des Krieges als vergebliche Liebesmüh verspottet. Humanismus und Aufklärung sind in seinen Augen selbst fehlgeleitet, kontraproduktiv. Die Gegenposition zu den Träumereien Condorcets, der „sein 228
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Leben damit zubrachte, das Unglück des jetzigen Geschlechts vorzubereiten“ (ebenda.), lautet: Le genre humain rétrograde (Das Menschengeschlecht schreitet nach rückwärts)! Letztlich glaubte de Maistre nicht an die Dauerhaftigkeit, ja nicht einmal die Realität der gottlosen Moderne samt ihrer optimistischen Schönfärberei. Das Böse insbesondere der Revolution kann nichts Positives bewirken, es ist rein verneinend, zerstörerisch, aber nicht wirklich in einem höheren Seinsverständnis; deshalb arbeiten die Ungeheuer der Revolution allein an der Restauration der Monarchie. „Gelehrte Barbarei, systematische Grausamkeit und berechnende Verderbtheit…haben nie etwas hervorgebracht.“ De Maistres quijotesker Emigrationsliteratur war zunächst ein größeres Echo versagt; nur der Zarenhof holte sich manchmal beim Hasser des griechischen Geistes Rat. Erst als sich seine Gedanken naturwissenschaftlich drapierten (P. R. Rohden), wurden sie eine Waffe in den Händen der antirepublikanischen französischen Rechten. Im deutschsprachigen Raum hat der scharfsinnige Publizist und spätere Sekretär des Wiener Kongresses Friedrich Gentz († 1832) in besonderer Weise zum Paradigmenwechsel beigetragen. Sein bedeutendstes Werk war eine Übersetzung und kongeniale Weiterführung der Revolutionskritik Edmund Burkes. Der Kantschüler war kein Romantiker geworden, auch kein laudator temporis acti, und er stellte auch die Werte der Aufklärung nicht in Frage, aber er rela tivierte sie. „Das Übermaß des Wissens kann der Menschheit so verderblich werden, als es die Unwissenheit war“, lautete die übliche konservative Klage über Bücherwut und inkompetente Kaffeehausphilosophie, die praktische Interessen (und Frömmigkeit) vernachlässigt. Gentz’ Kritik galt vor allem ehrgeizigen Literaten, die im Bann papierener Vorstellungen die Gegenwart unerträglich erscheinen lassen und die geradezu krankhaft nach Macht, Ruhm und Hauptveränderungen dürsten. Die „herrschsüchtige Rotte“ der Literaten verbündet sich mit dem armen und unzufriedenen Teil der Gesellschaft, und das ist nach Gentz das „Lebens-Princip aller großen Revolutionen“ (Über den Einfluss politischer Schriften und den Charakter der Burkischen). Mit Gentz’ und de Bonalds Ideologieverdacht gegenüber den radikalen Publizisten war die Devise der Aufklärung, nichts habe Anspruch auf Autorität, was sich nicht freier und öffentlicher Kritik aussetzen könne oder wolle, nicht vom Tisch. Auch die neuen revolutionären Autoritäten waren ja selten bereit, ihre Macht öffentlich in Frage stellen zu lassen, und so konnte Gentz argumentieren, die Regierung drohe in die Hände nichtiger Marktschreier zu gelangen, die sich allein auf „Pöbelgunst“ stützten: deshalb dürften gerade die Anhänger von Vernunft und wahrer Philanthropie nicht zu dieser politischen Gefahr schweigen. Ursprünglich wollte Gentz die Freiheit also nicht denunzieren, sondern sie auf ein praktikables Maß zurückführen, sie vor falschen Freunden retten, die unter 229
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ihrer Parole in Wirklichkeit Geistessklaverei und Barbarei („ein Reich, ein Volk, ein Glaube, eine Sprache“) herbeiführen (ebenda): eine scharfsinnige Diagnose des Umschlagens radikal-aufklärerischer Bestrebungen in Ersatzreligion, auch eine präzise Ahnung kommender Gefahren für die Moderne. Zu Gentz’ bemerkenswerten politikwissenschaftlichen Beiträgen zählt auch die Unterscheidung bürgerlicher und politischer Freiheit, wobei ihm die bürger liche als das eigentlich Erstrebenswerte galt, während er die politische, ‚das Recht Gesetze zu machen‘, zum bloßen Mittel dazu herabstufte. Das Votum für das Private, für den vor Willkür geschützten Binnenraum, war nicht unverständlich nach der jakobinischen Erfahrung, und es lag im Zug der Zeit, Frankreich eingeschlossen, den Rechtsstaat und die freie Entfaltung der Kräfte der besitzbürgerlichen Gesellschaft der demokratischen politischen Partizipation überzuordnen. In diesem Sinn kann bürgerliche Freiheit ohne alle politische existieren, und umgekehrt politische Freiheit zum größten aller Übel werden: nämlich Despotismus von unten. Natürlich kommt es auf die Qualität des Gesetzes an und nicht so sehr auf tatsächliche Teilnahme aller an der Beschlussfassung, aber die konservative Polemik gegen eine missbräuchliche Ausweitung der Freiheit auf die ‚inkompetente‘ Masse ignorierte wesentliche Aspekte der bürgerlichen Moderne, die sich eben nicht auf Wirtschaftsgesellschaft und ein polizeilich geschütztes Biedermeier beschränken lässt (Über den Unterschied zwischen bürgerlicher und politischer Freiheit, 1795). Gentz’ Polemik gegen „Total-Revolutionen“ beruhte nicht zuletzt auf einer Kritik des mechanischen Mehrheitsprinzips, das in seinen Augen die Interessenvielfalt entwickelter Gesellschaften ebenso missachtet, wie die Tatsache, dass manchmal gerade Minderheiten Recht haben und bei revolutionären Wirren sogar die Mehrheitsmeinung gar nicht zu ermitteln ist. Bezeichnenderweise kommt auch die Furcht vor dem großen Haufen der Besitzlosen zum Tragen, die ihre zahlenmäßige Mehrheit zur Kriegserklärung gegen die Besitzenden, zu Anarchie und Umverteilung des Eigentums benutzen könnten. Die Volksmassen waren Gentz nicht geheuer, sogar als potentielle Verbündete gegen Frankreich; deshalb riet er, besser auch den nationalen Dschin in der Flasche zu lassen. Sein nicht strikt konservatives Hauptargument richtete sich aber gegen die revolutionäre Diskontinuität. Weil die Totalrevolution das Ganze zerstört, in einander bekämpfende Bürgerkriegsparteien („abgesonderte Factionen“) auflöst, fehlt jeder Maßstab, jede Erwartungssicherheit, jede Grenze zwischen Gut und Böse, Patriotismus und Hochverrat. Ohne einen solchen verlässlichen Rahmen gibt es keine Kulturarbeit, und eben auch keinen Fortschritt: es bleiben nur Gewalt und Terror als Mittel, um der Auflösung entgegenzutreten. Diese Konsequenz de Maistres zu vermeiden bedeutet, den festen Grund der bisherigen, 230
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unvollkommenen Gesellschaft, ihrer bestehenden Loyalitäten und der vorsichtigen kleinen Reformschritte nicht wegen ‚metaphysischer Hirngespinste‘ und luftiger Projekte aufzugeben.170 Gentz’ sehr britischer Pragmatismus kam noch in weiteren Werken, etwa seiner späteren Friedensschrift, zum Ausdruck. So sehr er die kantische Ächtung des Krieges als Forderung der Vernunft anerkannte, so wenig hielt er von den gegenwärtigen Mitteln zur Verwirklichung der Friedensidee. Die Universalmonarchie, die sich in Form einer französischen Hegemonie über Europa ankündigte, schien ihm der unerträglichste Despotismus zu werden, schlimmer als alle Kriege, denen sie möglicherweise ein Ende bereiten würde. Seine andere Absage ist für unser Thema noch aufschlussreicher. Sie richtete sich gegen Fichtes gerade erschienenen Geschlossnen Handelsstaat, der ja alle Reibungsflächen zwischen den Nationen vermieden hätte. Auch hier wäre nach Gentz der Schaden größer als der Nutzen: Wenn sich alle Staaten gegeneinander abschlössen, kehrte die Welt in ihre Kinderjahre zurück, denn allein die „durchgängige Gemeinschaft unter den Bewohnern dieser Erde ist die oberste Bedingung aller… Kultur.“ Die Ruhe der Regression in den Zustand bloßer Subsistenzerhaltung wäre ein zu hoher Preis des Friedens; erst gegenseitige Berührung und kosmopolitische Erziehung machen die Menschlichkeit des Menschen aus (Über den ewigen Frieden, 1800). Es ist hier nicht möglich, auf Gentz’ weitere Einwände einzugehen. Wesentlich ist die Einsicht, dass seine Absage an die Utopie eines ewigen Friedens trotz einiger Parallelen weit entfernt ist von de Maistres Verklärung des Krieges als ewigem Weltgesetz. Wie das innerstaatliche Recht stets unvollkommen bleiben muss, so kann nach Gentz‘ Meinung auch die Staatengemeinschaft nur Ansätze einer rechtlichen Bändigung der Anarchie entwickeln.171 Der Unterschied zwischen bürgerlicher Gesellschaft im Inneren und den Beziehungen zwischen den Staaten wird in kantscher Tradition als ein nur gradueller dargestellt; beide sind unzulänglich, doch beide sind einer fortschreitenden Verbesserung fähig. *** Die Kritiker der Französischen Revolution waren zweifellos einseitig, weil sie als emotional Beteiligte am Streit meist nicht unterscheiden konnten zwischen unmittelbarer Erscheinung und längerfristigem Impuls, auch zwischen englischen Maßstäben und kontinentalen Realitäten. Ihre „Negation der Negation“ stieß aber auf Elemente einer Geschichtsauffassung, die die Aufklärungshistorie korrigieren und, ungeachtet des fundamentalistisch-restaurativen Wertakzents eines Bonald,172 um durchaus produktive Aspekte bereichern konnte. Das war z. B. die Einsicht in die unverzichtbare Rolle des Vor-Rationalen und Tradi 231
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
tionalen, auch die Erkenntnis der mentalen Prägungen und realgeschichtlichen Grenzen der Träger aufklärerischer Ideen. Natürlich lässt sich deren messianistischer Ehrgeiz nicht auf das Bestreben armer Literaten reduzieren, selbst eine geachtete Rolle in der Gesellschaft zu spielen (Charle), aber von da datieren Ansätze einer Soziologie der Revolution und der Intellektuellen, die sich ja nie in einem sozialen Vakuum bewegen. Nicht nur hatte man den Abgrund zwischen theoretischer Einsicht und trüber Wirklichkeit klarer erkannt, den weder Begeisterung noch Terror zu überbrücken vermochten; die Idee als geschicht liche Macht hatte erst einmal ein großes Stück Glaubens an ihre „magische“ Bewegerfähigkeit eingebüßt. Und da war schließlich die Erkenntnis aufgekommen, dass für echten Fortschritt ein Element der Bewahrung und kulturellen Kontinuität von einiger Bedeutung war, sollte man nicht ungewollt von idealistischen Höhenflügen in Chaos und allzumenschliche Niederungen abstürzen. Die konservativen Warner vor der politischen Revolution haben paradoxerweise eine viel weitergehende Umwälzung hinter ihrem Rücken wenn nicht übersehen, so nicht in ihrer epochalen Bedeutung erkannt. Das Fabriksystem, das aus der industriellen Revolution hervorgegangen war, beruhte auf einer großen Zahl älterer Erfindungen und unspektakulärer kleiner Verbesserungen, die sich im Verlauf von Jahrzehnten zu qualitativen Wandlungen kumulierten. Im Prinzip wurde damit die menschliche Hand durch die schneller und regelmäßiger arbeitende Maschine abgelöst, Wasser-, Wind- und Tierkraft durch Dampfantrieb, und schließlich der knapp gewordene universale Rohstoff Holz durch neue Rohmaterialien ersetzt. Es war kein Zufall, dass gegen Ende des Jahrhunderts die Beschäftigung mit Energie (für die noch der Begriff fehlte) in den Vordergrund des Interesses rückte. Newcomens Dampfmaschine war noch kaum brauchbar für praktische Zwecke, und erst Watts Weiterentwicklung (ab 1777) ermöglichte eine vielseitige Verwendung. Wichtig war die Konzentration der Arbeitsprozesse in einem mechanisierten Großbetrieb, der erhöhte Disziplinierung und Rationalisierung ermöglichte, ebenso wie ungeahnte Akkumulation des fixen Kapitals. Es kam eine immense Steigerung der Transportkapazität hinzu und eine immer weitergehende Spezialisierung und Arbeitsteilung, schließlich ein wachsender Konkurrenz- und Innovationsdruck. Ging das die politischen Publizisten etwas an? Die Folgen der industriellen Umwälzung beschränkten sich aber nicht auf den eigentlichen Produktionsbereich. Die neue Technik und die verfügbaren Energiequellen ermöglichten es, die Produktion sowohl aus ihren natürlichen Bedingungen und erneuerbaren Ressourcen, als auch ihren sozialen Zusammenhängen, den traditionellen Gewerbezentren, herauszulösen. Bergbau, Eisenund Glashütten, Hausweberei und Spinnarbeit waren seit langem außerhalb der städtischen Kontrollen angesiedelt gewesen, die neuen Technologien verstärk232
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ten diese Tendenz zur Entstehung traditionsloser Industriedörfer. Um Kanalisation, Straßen, menschenwürdiges Wohnen kümmerte man sich ebensowenig wie um Einschränkungen der Arbeitszeit, der Nacht- und Kinderarbeit, und Koalitionen der verelendeten Arbeiter wurden unter strenge Strafe gestellt. Das Selbstverständnis der Briten wurde durch die regionalen industriellen Umwälzungen lange Zeit nicht wesentlich herausgefordert. Die isolierten, aber wachsenden sozial verwahrlosten Zentren einer „eotechnischen“ Industrie auf Kohle- und Eisenbasis (Lewis Mumford) waren zweifellos ‚Barbarei auf der Grundlage fortgeschrittener Technik‘ – ohne eine kulturelle Dimension der Erinnerung und auch ohne Verantwortung für die sozialen und natürlichen Folgen des eigenen Raubbaus. Wer Burkes „Vertrag zwischen den Lebenden, den Toten und den Ungeborenen“ ernst nahm, dem musste diese auf kurzfristigen Vorteil reduzierte Philosophie eigentlich ein Greuel sein. Eine totale Rücksichtslosigkeit gegenüber der Umwelt und den menschlichen Ressourcen verkehrte die natürliche Werteskala: Die zerstörte Landschaft und der Niedergang handwerklicher Fähigkeiten waren abstrakt und vermeintlich zu vernachlässigen, während nur die quantitativen, in Produktionszahlen und Gewinn auszudrückenden Faktoren als real empfunden wurden.173 Erasmus Darwin besang schon 1791 den siegreichen Dampf als Schrittmacher des Fortschritts; die Verkrüppelungen an den Menschen zählten nichts für eine ausschließlich auf technische Produktivität, Innovation und Gewinn ausgerichtete Rationalität. Längerfristig ruhten die technischen Fortschritte sehr wohl auf älteren, und zwar spezifisch europäischen Grundlagen, die andernorts, trotz hochentwickelter Gewerbetraditionen fehlten. Wenn wir absehen von der säkularisierten jüdisch-christlichen Zukunftserwartung und der Degradierung der Natur zum Objekt menschlicher Herrschaft bzw. Erlösung, auch den calvinistischen Prämien auf Fleiß und innerweltliche Askese, dann fällt durchaus ins Gewicht die galileische Verbindung von Wahrnehmung, Messung und mathematischer Deduktion, das reproduzierbare und verifizierbare Experiment, nicht zuletzt der in der Entwicklung der Uhrmacherei sichtbare Sinn für Präzision und Zeit. Man könnte die Tradition des öffentlichen Streitgesprächs hinzufügen, die wissenschaftliche Konkurrenz und gelehrte Öffentlichkeit, die konträr ist zur älteren – und außereuropäischen – Geheimhaltung des Wissens und Könnens (David Landes). Die praktische Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse war gewiss älteren Ansätzen verpflichtet; Watts Dampfmaschine war nur das letztes Glied einer langen Reihe von Untersuchungen seit Guericke, Torricelli, Boyle und Papin. Was die konkrete englische Initialzündung zur industriellen Revolution betrifft, so mussten weitere Umstände und Auslöser hinzukommen: eine gesteigerte Leistungsfähigkeit der kommerzialisierten und teilmechanisierten Land233
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
wirtschaft174, die sowohl die Ernährung einer wachsenden Bevölkerung sicherstellte, als auch die Abwanderung freigesetzter Arbeitskräfte in die industriellen Zentren. Relevant war eine starke Individualisierung und Mobilisierung der britischen Gesellschaft mit relativ offenen Grenzen und Chancen für Aufsteiger; ein entwickeltes Netz von Wasserstraßen, Küstenschifffahrt und anderen Transportwegen, schließlich der überseeische Handel, insbesondere mit den westindischen Inseln. Von Bedeutung waren schon der einheitliche Markt, die hohe Rechtssicherheit, die nur geringen Widerstände gegen technische Innovationen und Massenproduktion, überhaupt eine breite, wohlhabende Mittelschicht als Konsument von Waren gehobenen Bedarfs und Träger einer liberalen Wirtschaftsgesinnung mit moralischen Prämien auf ökonomischen Erfolg. Bei Versuchen, die Engländer zu imitieren, zeigte sich schnell, dass meist einige dieser Bedingungen fehlten. Schon Turgot hatte behauptet, dass sich die mechanischen Künste unabhängig von Wissenschaften, Künsten und Kultur entwickeln können. Die Erfinder der neuen Technologien waren in der Tat keine Philosophen, sondern probierende Praktiker, wie der analphabetische Weber Hargreaves mit seiner Spinning Jenny (nach 1770) oder der bastelnde Landpfarrer Cartwright, der Vater des mechanischen Webstuhls (nach 1790). In den Händen meist ebenfalls unge bildeter, robuster Unternehmer (viele von ihnen waren Dissenter) fanden die Erfindungen dann eine günstige Atmosphäre gegenseitiger Annäherung von Theorie und Praxis. Damit setzte sich eine sich verselbständigende Dynamik ineinandergreifender Impulse und unvorhergesehener Folgen in Gang – wenngleich nur schubweise und nicht als plötzliches Take-off. Eine „zweite Natur“ hatte den Menschen schon immer begleitet, und es war abzusehen, dass sie mit der Zeit stärker ‚künstliche‘, von der ersten Natur abgehobene, Züge annehmen würde. Die neue Technologie wird auf ungeahnte Weise die Fähigkeit steigern, natürliche Ressourcen und Kräfte für menschliche Zwecke zu nutzen, aber auch ihrerseits Menschen in den Dienst der Maschine zwingen: Deren Rhythmus bestimmt über die wirtschaftlichen Austauschprozesse hinaus Sozialstrukturen, Alltag, Kultur und politische Entscheidungen. Er gibt sogar der Theorie die Aufgaben vor: Nur was praktisch umsetzbar, technisch machbar ist, lohnt auch erforscht zu werden. Funktionieren, besseres Funktionieren, Effizienz wird zum eigentlichen Maßstab, während die Frage nach dem Wozu als sekundär fast aus dem Blickfeld gerät. Das Instrument emanzipiert sich, wird vielfach zum Selbstzweck, der die Bedürfnisse und die menschlichen Optionen prägt175 und kraft seiner immanenten Logik einen Rattenschwanz weiterer Handlungszwänge nach sich zieht. Die englischen Ober- und Mittelklassen hatten früh gelernt, die Freiheit von Beschränkungen und Regulierungen als Voraussetzung von Wohlstand und 234
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Fleiß zu schätzen, während man korporativen Interessen meist mit Misstrauen begegnete. Das bewährte Prinzip des Free trade und Laissez-faire wurde auch auf das entstehende Fabrikwesen übertragen, ohne die neue Herausforderung zu erkennen, weshalb das britische Parlament schon 1768 drastische Strafen auf Zerstörungen von Maschinen (auch Einhegungen auf dem Land) verhängte: man war offen für alle Fortschritte, die mehr Leistungen und Geld einbrachten, und schützte das Eigentum auch patentrechtlich. Hinter Demolitionen und ludditischen Protesten standen im übrigen weniger die eigentlichen Fabrik arbeiter, wie kleine Handwerker, die wegen der billigen Konkurrenz um ihre Existenz bangen mussten. Doch auch die beginnende Arbeiterbewegung war rückwärtsgewandt insofern, als sie – im Sinn Burkes – die alten Freiheiten des englischen Volkes, vor allem die vor dem ‚normannischen Joch‘, aber auch die elisabethanische Gesetzgebung mit ihren Regulierungen der Gewerbe idealisierte, darüber hinaus das Recht auf gleichen Anteil an Boden und einen agrarischen Gemeindeföderalismus propagierte. Thomas Spence, ein in den 1790er Jahren in London tätiger Agitator, verurteilte den Großgrundbesitz als Raub und Ursache des herrschenden Schachergeistes; jeder habe einen Anspruch auf eine Parzelle zur Bestreitung des Lebensunterhalts. Auch der Armenarzt Charles Hall (The Effects of Civilisation, 1805) verdammte Manufakturen, Außenhandel und unnütze Luxusgüter als eigentliche Ursache der wachsenden Verelendung der Arbeiter, und orientierte sich an der selbstgenügsamen Gemeinde mit dem unveräußerlichen Familienhof. Wie die Kritiker der französischen Revolution sich auf ältere Schichten menschlicher Erfahrung beriefen, so dachten auch die Frühsozialisten, man könne das Teufelswerk des Industrialismus mit dem Bild einer verklärten dörflichen Gemeinschaft bannen. Das wollte die Mehrheit der britischen Gesellschaft natürlich keineswegs, aber die Aufgabe, die entfesselten Kräfte der Fabriken zivilisatorisch zu bändigen und kulturell zu verankern, war eine höchst aktuelle, und sie sollte auf die Idee des Fortschritts im 19. Jahrhundert einen differenzierenden Einfluss nehmen. Die Attacken gegen den Kommerzialismus und das Industriesystem gingen nur selten, etwa bei Robert Southey, auch von der herrschenden Klasse aus, andererseits waren auch die Radikalen in ihrer Grundintention liberal und individualistisch geprägt. So äußerte der radikale Demokrat Thomas Paine († 1809), Vorkämpfer der amerikanischen Unabhängigkeit, Gegner Burkes und Freund Condorcets, die Ausschreitungen der französischen Revolution seien nur durch schlechte Beispiele, drastische Strafen des alten Regimes zu erklären; überhaupt sei der „unwissende Mob“ eine Konsequenz schlechter Regierung, die „einige Menschen in unnatürlicher Weise erhebt… und andere auf unnatürliche Weise erniedrigt“ (The Rights of Man, 1792). Regierung sei nur in wenigen Fällen not235
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wendig, wo nämlich die Gesellschaft bei der Aufgabe, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, versagt; Paine hielt sich dabei an Adam Smith’ Lehre, wonach die Vielfalt der Bedürfnisse und der gegenseitige Vorteil eine „große Kette des Zusammenhangs“ bilden, die durch Eingriffe der Regierung in der Regel nur gestört werde. Armut, Unzufriedenheit und Aufruhr, „Mangel an Glück“ erklärten sich meist aus zu hoher und ungerechter Besteuerung (ebenda). Jeremy Bentham († 1832), ein anderer Radikaler, dessen Nützlichkeitslehre auf dem gleichen Glücksprinzip beruhte und der analog empfahl, den Staat auf einige wenige negative Funktionen zu beschränken, sah im Nutzenkalkül das einfache Kriterium dafür, ob die Vorteile einer Herrschaft die Nachteile des Widerstands gegen sie überwogen: In einer perfekten Gesellschaft würden aus diesem Grund alle Anordnungen ohne Zwang befolgt. Die vielgerühmte britische Verfassung war davon natürlich weit entfernt, dennoch hielt Bentham Revolutionen für sinnlos und nur den Rechtfertigungsdruck durch eine funktionierende Öffentlichkeit (Hofmann) für zweckmäßig. Ebenso sah er im Privateigentum einen wesentlichen Ausdruck des angestrebten „Glücks“ und lobte den wohltätigen Geist der Zivilisation; durch wirtschaftliche Freiheit, hoffte er, werde mit der Zeit die ärgste Ungleichheit verschwinden (während ein egalitäres levelling system die Sicherheit zerstören und die Zivilisation gefährden würde). Das Privateigentum, meinte er wie Voltaire, sei schon deshalb unumgänglich, weil es „den natürlichen Widerwillen gegen Arbeit überwindet“ (Principles of Morals & Legislation, 1789). In anderen Schriften legte er besonderen Nachdruck auf Erziehung als wichtigstes Mittel, die moralische und intellektuelle Lage der Menschheit zu verbessern; sie sollte sich dabei auf die Wirkung assoziativer Mechanismen stützen, die ein „Gesetz vom Fortschritt der Sympathie“ sichtbar werden lassen. Das ahistorische Denken der von Bentham beeinflussten Utilitarier knüpfte an den Naturalismus und Hedonismus französischer vorrevolutionärer Philosophen an, die geglaubt hatten, im Lustprinzip eine quasi-naturwissenschaft liche Formel für das menschliche Handeln und das Funktionieren der Gesellschaft gefunden zu haben. Benthams Reduktionismus übersah, wessen sich Burke, aber auch die Schotten des 18. Jahrhunderts, einschließlich Adam Smith, noch bewusst waren, nämlich die Einbettung der Glücksvorstellungen – und der ökonomischen Gesetze – in ein funktionales Netz sozialer Beziehungen und kultureller Wertvorstellungen. Dieser Rahmen aber setzt den scheinbar plausiblen, aber oft skurrilen einfachen Formeln, Glücksrezepten und Erziehungsplänen immer wieder Grenzen; schon der ordre naturel der Physiokraten war daran gescheitert.176 Dass die Grundhaltung auch der englischen Radikalen eine freiheitliche war, kann – mit Einschränkungen – am nonkonformistischen Prediger, dem ethi236
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schen Anarchisten William Godwin († 1836) beobachtet werden. Nach seiner Meinung besitzt der Mensch keine angeborene Neigung zum Bösen, alle Laster entstehen aus falschen Einrichtungen der Gesellschaft, die, vom Staat geschützt, die Vernunft verdunkeln, Irrtümern Macht verleihen und ihrerseits die ungleichen Bedingungen verewigen. Niemand ist verantwortlich für seine Taten. Die Abschaffung aller ungerechten Einrichtungen, zu denen für Godwin auch das Privateigentum zählt, werde die Glückseligkeit aller, die größtmögliche Freiheit und Tugend hervorbringen, die Zerstörung der Vorurteile, den Drang, Besseres zu leisten, ohne das Bedürfnis, Reichtümer anzuhäufen. Nicht zuletzt erwartet der Gatte der Frauenrechtlerin Mary Woolstonecraft eine Ehe ohne Zwang, auf der Basis von Freundschaft und Zuneigung. Man darf Zweifel äußern an der Praktibilität einer ausschließlich auf individueller Vernunft und permanenter Diskussion beruhenden egalitären Gesellschaft ohne Eigentum und sanktionierte Institutionen; Malthus‘ Kampfschrift von 1798 war durch ihn provoziert. Schon was die Einführung seiner gerechten Gesellschaft betrifft, blieb Godwin allzu optimistischer (um nicht zu sagen: naiver) Aufklärer. Anders als die klassenkämpferische Rhetorik der London Corresponding Society der neunziger Jahre, die auf öffentlichen Versammlungen mit 30 000 Teilnehmern der ‚Tyrannei‘ der Regierung mit gleichen Waffen begegnen wollte, waren der Appell an Vernunft und Gerechtigkeitssinn das einzige Mittel, um zu Godwins aufgeklärt-anarchischer, dabei harmonischer Gesellschaft zu gelangen: das Gute kennen, heißt das Gute zu wollen, klang es wie bei Lessings Erziehungsideal. Dieses Argumentationsmuster bestimmt auch die Tätigkeit des Industriellen, patriarchalischen Reformers und frühsozialistischen Theoretikers Robert Owen († 1858). Owen verstand es, unternehmerischen Erfolg mit philanthropischer Sozial- und Erziehungsarbeit zu kombinieren; später wurde er zum immer unversöhnlicheren Kritiker des kapitalistischen Systems und zum Propheten einer rationalistischen Sozialreligion. Im Unterschied vom rückwärtsgewandten traditionellen Agrarsozialismus, ging Owen von der ihm wohlbekannten Fabrikwelt aus, die er humanisieren und deren Kräfte er in den Dienst seines visionären Fortschrittsglaubens zu stellen gedachte: ein Paradigma. Wie Bentham und Godwin, so glaubt auch Owen gleichzeitig an die Macht der sozialen Umwelt (die er als Fabrikherr weitgehend selbst bestimmen konnte) und an die menschliche Vervollkommnungsfähigkeit „im Hinblick auf Körper, Geist, Moral und Glück“, und zwar allein durch Vernunft und Erziehung. Weil der Mensch nur durch äußere Einflüsse böse und unglücklich wird und die Verhältnisse bisher alle Generationen der Menschheit zu unvernünftigen Geschöpfen gemacht haben, ist auch für Owen jedes Moralisieren fehl am Platz und Rachsucht gegenüber den Besitzenden ebenso unangebracht, wie die Bestrafung von Verbrechern: Aus dem Sumpf des Determinismus hilft nur 237
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Münchhausens Zopf. Das Elend aller Klassen, die Erkenntnis, dass das eigene Glück ausschließlich im Einvernehmen mit den anderen zu erreichen ist, müsste auch die Privilegierten dazu bewegen, mit den Reformern zusammenzuwirken (A New View of Society, 1813). Owen begnügte sich nicht mit klugen Teilrezepten, wie der Anhebung der Löhne und damit der Konsumkraft der Arbeiter als Mittel zur Belebung der Wirtschaftsflaute, mit Verbesserung der Lebensverhältnisse seiner Arbeiter, die mit gestiegenem Gewinn durchaus vereinbar war, Argumenten gegen Malthus’ Theorie des grundsätzlich eingeschränkten Nahrungsspielraums, oder Vorschlägen zur Abschaffung des Handelsprofits durch die Einführung eines nichtakkumulierbaren Tauschgelds auf der Basis durchschnittlicher Arbeitsmenge. Seine vermeintlich ‚selbstevidenten‘ Wahrheiten, wie ein Naturgesetz angewandt, dem niemand widerstehen kann, versprachen einen untrüglichen Weg in die neue moralische Welt ohne Armut und Verbrechen. Es war einfacher festzustellen, dass die gegenwärtigen Verhältnisse Elend und Laster produzieren, als diese Verhältnisse so zu verändern, dass sie Überfluss, Tugend und Glück garantierten. Man weiß aus der Eschatologie: die Vision wird zum Motor, unabhängig von der Realisierbarkeit der Prophezeiung. Aber das Ergebnis, so wenig es der Vision glich, mag dennoch Sinn machen. Statt Streiks, Aufständen und Klassenhass, auch „demokratischen Irrtümern“, hatte der Pragmatiker in Owen zunächst genossenschaftliche Siedlungen empfohlen, die die verelendeten Armen mit geringen Zuschüssen aus Steuergeldern in nützliche und disziplinierte Untertanen verwandeln würden; das fand Zustimmung bis hin zum britischen Thronfolger und dem Erzbischof von Canterbury. Eine „Nationalerziehung“ sollte hinzukommen und die natürlichen Neigungen der Menschen mit mathematischer Genauigkeit so leiten, dass sie das Glück aller befördern. Nach 1819 ließ die Begeisterung für Owens Reformvorschläge bei den Großen der Welt nach, und so kamen auch ihm Zweifel an der Methode vernünftiger Überredung als Mittel, um einen Sprung aus der Welt des extremen Determinismus in die freie Entscheidung für eine bessere Gesellschaft anzuregen. So entschied sich Owen 1824, seine Argumente mit Hilfe eines anschaulichen Beispiels zu verstärken: der autoritär geführten sozialistischen Kolonie New Harmony in Nordamerika, in die er einen Großteil seines Vermögens investierte. Aus seiner Erfahrung als Fabrikherr im schottischen New Lanark kannte der Reformer die Formbarkeit junger Menschen in den Händen eines zugleich strengen und wohlwollenden Chefs;177 aber strukturelle wie personelle Probleme brachten das Experiment, und auch zahlreiche weitere, zum Scheitern. Der alte Adam hatte wieder einmal über die vernünftige neue Ordnung gesiegt. Owen entwickelte eine dem Anspruch nach wissenschaftliche Lehre von der genossenschaftlichen Kooperation, die die gespaltene Gesellschaft des Profits, 238
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des Neids, des Massenelends und Aberglaubens in eine Welt der Kooperation, des Glücks und des Überflusses verwandeln sollte. Das benthamsche „größte Glück der größten Zahl“ erforderte nach Owen die Ausschaltung des ökonomischen Individualismus, der Konkurrenz; mit der Zeit würden auch die übrigen Übel: Privateigentum, Monarchie, Ehe und Religion folgen. Sein Gesellschaftsmodell war das autonome Gemeinschaftsdorf von etwa 800–1200 Mitgliedern, in dem sich Land-, Fabrik- und Hausarbeit harmonisch verbinden sollte. Die Verachtung der bisherigen Geschichte als einer zu vernachlässigenden Ansammlung von Irrtümern und Verbrechen sowie der Glaube an die Chance, sich davon in kürzester Zeit befreien zu können, gab Owens „wissenschaftlichem“ Programm ein prophetisches Pathos, einen messianischen Ton. Statt der ohnehin schwierigen Aufgabe, die Welt mit Hilfe von Teillösungen ein bisschen weniger ungerecht zu machen, setzt sich der selbstgewisse Propagandist über alle kleinlichen Bedenken hinweg und will mit Hilfe eines Patentrezepts schnurstracks ins gelobte Land der Wahrheit, der Liebe, des Überflusses und des vollkommenen Glücks auf Erden. Hatte der erfolgreiche Manager mit seinen Visionen ursprünglich das Interesse der Mächtigen gefunden, so wandte er sich in einer späteren Phase enttäuscht vorwiegend an die Arbeiter mit einem Programm genossenschaftlicher Selbsthilfe. Die Zivilisierung des wildwüchsigen Manchesterkapitalismus war eine Aufgabe von hoher Priorität, wenngleich Owens Zielvorstellungen vermutlich die Dynamik des industriellen Fortschritts zum Erliegen gebracht hätten. Doch fanden sich in seinem Repertoire auch praktikable Projekte, wie Unterstützungs- und Gewerkschaftsvereine, Basare zum Austausch von Produkten, Kooperativen, Leseklubs und Vereine für Frauenemanzipation, die dem Owenismus noch einmal zur Blüte verhalfen. Das war in seinen Augen kein Rückfall in Flickwerk-Politik: Ansätze zur Umgehung der harten Marktgesetze, der Abschaffung des Profitmotivs, der Bildung einer allgemeinen Gewerkschaft, gaben seinem alten Traum von der Gerechtigkeit und Gegenseitigkeit neuen Auftrieb und der Fortschrittsidee neue Akzente. In den letzten Jahren des Propheten war jedoch der Owenismus zur Sekte zusammengeschmolzen: „der Rationalist und Gegner jeglicher Religion /war/ bestrebt, eine kirchenähnlche Institution zu begründen“ (F. Bedarida). *** Im noch stark agrarisch geprägten Frankreich spielte die Industrielle Revolution noch in den ersten Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts keine mit England vergleichbare Rolle. Der traumatisierende Hintergrund, vor dem die Gedankenwelt Claude-Henri de Saint-Simons († 1825) entstand, war deshalb nicht in ers239
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ter Linie das Elend der Industriearbeiterschaft, wie der gesellschaftliche Zerfall, die fehlgeleiteten politischen Umstürze, die Unfähigkeit der politischen Klasse, dem Land eine stabile Ordnung und eine produktive Verwendung seiner Ressourcen zu gewährleisten. Die nationale Reorganisation, die Saint-Simons zahlreiche Schriften seit 1803 anstreben, blickt nicht zurück in eine verklärte Vergangenheit, sondern voran in das kommende goldene Zeitalter eines friedlichen Industrialismus; trotzdem hat man nicht ganz zu Unrecht bei ihm Parallelen zu den konservativen Kritikern der Revolution gefunden.178 Saint-Simons Geschichtsbetrachtung knüpft an Turgots und Condorcets Schema der Aufeinanderfolge einheitlicher, später als „organisch“ bezeichneter, Zeitalter, Epochen des Gleichgewichts von sozialer Organisation und entsprechenden Ideen, auf die „kritische“ Perioden folgen, die dieses Gleichgewicht verloren haben und statt Koordination Isolierung und gegenseitigen Kampf der Individuen aufkommen lassen. Die Revolution von 1789 war der – misslungene – Versuch, dieses Gleichgewicht wiederherzustellen; die überwiegend politischen (bzw. „metaphysischen“) Interessen der Akteure missverstanden die eigentliche historische Aufgabe: die industrielle Organisation der Gesamtgesellschaft, die „Entwicklung der Zivilisation und Wohlfahrt“: Unter „Industrie“ war bei Saint-Simon allerdings nicht das Fabriksystem im engen Sinn, sondern die Gesamtheit nützlicher, produktiver Tätigkeit zu verstehen. Schon unter dem Direktorium lautete die Antwort auf eine Preisfrage des Institut de France, es sei unnütz, sich mit Moral zu befassen, ohne den allgemeinen Wohlstand anzuheben. So erklärt auch Saint-Simon, der Reichtum sei „die wahre und einzige Grundlage jedes politischen Einflusses“; aber die Vorherrschaft spekulativer Theorien über die positiven verhindere, den „gesetzmäßigen Gang der Zivilisation“ zu erkennen und daraus die notwendigen Folgerungen zu ziehen. Die Advokaten und „Metaphysiker“ neigten nach seiner Ansicht dazu, sich mit Formen und Prinzipien eher als mit den Dingen selbst zu befassen, und die Phrasendrescher waren es auch, die die Revolution auf Abwege gebracht hatten. Politische Freiheit und Gleichheit, unbestimmte Ideen, widersprechen der gegenseitigen Abhängigkeit durch Arbeitsteilung, auf der jeder Fortschritt der Zivilisation beruht. Deshalb haben auch Umverteilungen des Eigentums keinen Sinn; es kommt allein auf die Steigerung des Wohlstands der Gesamtgesellschaft an. Statt der politischen Skribenten, meint er, hätte man die industriels (im breitesten Sinn) mit der Leitung der Gesellschaft betrauen sollen: das Wohlergehen Frankreichs sei allein die Auswirkung der Fortschritte in Wissenschaften, Künsten, Handwerk und Gewerbe (Erster Auszug aus dem Organisateur, 1819). Mit diesem Programm fand der Prophet des Industrialismus zunächst viel Zustimmung. In Analogie zur Entwicklung des einzelnen, meinte Saint-Simon, führen auch gesellschaftliche Krisen unter Umständen zu beschleunigter Entwicklung, und 240
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so hat die Revolution, ungeachtet der wirtschaftlichen Schäden durch Unordnung und Krieg, die französische Nation auf dem Pfad des Fortschritts, nämlich der Überwindung historisch antiquierter (feudal-kriegerisch-theologischer) Orientierungen, vorangebracht (Über die Gesellschaftsordnung, 2. Fragment). Das Blutbad unter den Privilegierten, glaubt der angebliche Nachkomme Karls des Großen, habe jedoch nur zum Wechsel der Herren, nicht zur Abschaffung der Herrschaft geführt. Immer noch ließen sich die Menschen durch Gewalt und List täuschen, und immer noch würden die Fähigen von den Unfähigen (den „reichen Müßiggängern“) beherrscht: an der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide sieht Saint-Simon viel „vergoldeten Gips“. Worauf es im 19.Jahrhundert ankommt: Die Erfinder, Wissenschaftler, Technokraten, Bankiers müssten die führenden Eliten bilden und unfruchtbare politische Herrschaft über Menschen von einer Verwaltung der Dinge als dem Industrialismus adäquate Methode abgelöst werden. Die Industrie braucht kein Kommando; anderseits lässt wissenschaftliche Lenkung auch keine Meinungsvielfalt zu; der Parlamentarismus ist deshaslb eine im Feudalismus gründende überholte Einrichtung. Der Primat der Verwaltung, deren Maßstab die Produktivität ist, eine funktionale Leitung und „Meritokratie“, zeigt einen autoritären Grundimpuls und wenig Sinn für politische Freiheit, gar Demokratie. Gewiss hat nach Saint-Simon eine Entwicklung der Zivilisation stattgefunden, durch die das Volk an Arbeit, Weitblick, Selbstbeherrschung und Umgang mit Eigentum gewöhnt wurde; damit entfiele größtenteils die Notwendigkeit polizeilicher und militärischer Zwangsgewalt – unproduktive Ausgaben und zu hohe Steuern, keineswegs aber hierarchische Ordnung, Planung und Lenkung. Nicht das Volk hat das Wort in Saint-Simons organischer Ordnung, sondern der ‚Wissensklerus‘ der Künstler, Wissenschafter und Industriellen, die die von ihm vorgeschlagenen Kammern (chambre d’inventions) besetzen sollten. Jede Entscheidung wird danach Gegenstand „wissenschaftlicher“ Beweisführung aufgrund einer vollkommen vorhersehbaren Zukunft, einer bewussten Annäherung an die einstige Vorstellung einer göttlichen Vorsehung; Gesetzbücher der Interessen und der Gefühle regulieren das Handeln. „Die Zeit der „Illusionen“ ist vorbei, aber auch die der Kritik (Gesellschaftsorganisation, 6. Fragment). Eine neue Gebundenheit kündigt sich an, die Übergangsperiode der Willkür und des sozialen Zerfalls schließt sich. Der Widerspruch zwischen dem Anspruch auf wissenschaftliche Leitung und dem Kritikverbot bleibt den Nachfolgern erhalten.179 Saint-Simon, aus uraltem picardischen Adel, während der Jakobinerherrschaft als „citoyen Bonhomme“ getarnt, war durch Bodenspekulationen vorübergehend zu Reichtum gelangt und anschließend wieder völlig verarmt, aber stets von ungetrübtem Sendungsbewusstsein. Ab 1803 präsentierte er den jeweils 241
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Herrschenden Pläne zur Reorganisation der Gesellschaft auf der Basis wissenschaftlicher Planung, aber weder Napoleon noch Ludwig XVIII. waren für seinen friedlichen Industrialismus und seinen Plan zur Reorganisation der europäischen Gesellschaft180 zu gewinnen: die Regierungen, notierte er enttäuscht, klammerten sich an die Vergangenheit, wiewohl der Strom der Zivilisation die Wurzeln des herrschenden Systems, samt dem Einfluss des Hochadels, der Kirche und des Militärs, schon lange unterspült habe (4.Fragment). In seinen letzten Lebensjahren propagierte Saint-Simon, wie Owen, eine neue Sozialreligion, den Nouveau Christianisme als eine Art Kitt der Epoche des Industrialismus zumindest für eine Übergangsperiode; analog forderte er auch die Verbesserung der physischen und moralischen Lebensbedingungen der arbeitenden Schichten. Der Saint-Simonismus wollte keinen Klassenkampf, aber man fühlte sich als Sprecher, protecteurs nés de la classe ouvrière. Aus systematisierten und dogmatisierten Lehren des autoritären „Chefs“ entstand, noch extremer, eine Sekte mit Prosper Enfantin († 1864) als einer Art Papst und auffallend vielen Ingenieuren als Anhängern.181 *** Wir haben gesehen, dass die konservativen Kritiker der französischen Revolution das Geschehen meist in toto verwarfen – analog, wie man sie später als „Block“ feiern und mythisieren wird. Bei aller Unfähigkeit zu differenzieren, erkannte man aus der Hassperspektive auch manche Schwächen des epochalen Dramas, etwa den Glauben der Akteure, von einem unwiderstehlichen Fortschritt des menschlichen Geistes als quasi Libretto des von ihnen aufgeführten Stücks getragen zu werden; umgekehrt sah man die drohende Barbarei, die Gefährdung der Zivilisation, für deren labiles Gleichgewicht die Revolutionsgläubigen blind waren. Wie bedeutsam die Konstrukte der philosophes auch für die kritische Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit waren, der tatsächliche Fortschritt gründete nicht auf Fiktionen und Wortzauber, sondern blieb auf die Dauer abhängig von robusteren Kräften und massiven Interessen, nicht unbedingt rationalen, wie die Schotten wussten, und allerdings von disziplinierenden Einrichtungen. Ein anderer säkularer Durchbruch, der industrielle, mochte liberalen Zeitgenossen als produktive Alternative zur französischen politischen Katastrophe erscheinen: Er hatte die wirtschaftliche Überlegenheit Englands ins Immense gesteigert, ohne zunächst die politischen und sozialen Strukturen des Landes in Frage zu stellen. Die Verwahrlosung und Entwurzelung nicht unerheblicher Bevölkerungsteile (die Armut selbst war nicht neu), die Faszinierung der Phantasie durch die Maschine und die Verengung der Fortschrittsperspektive auf 242
12. Nach dem Sturm
technisches Können, ebenso wie die Reduzierung der menschlichen Beziehungen auf cash nexus, waren nicht unkommentiert geblieben. Die Proteste dagegen nährten sich nicht selten aus agrarromantischem Gedankengut, mit der verklärten autarken Dorfgemeinschaft als Leitbild: Sozialkonservative Ideen verbanden sich so mit sozialem Radikalismus, der die herrschende liberale „Schweinephilosophie“ (Thomas Carlyle) mit Vorstellungen einer harmonischen Gesellschaft, sei es der Vergangenheit, sei es einer vorweggenommenen Zukunft, unterwanderte.182 In Frankreich hatte die Revolution zur Folge, dass sich der Staat aus der Wirtschaftssphäre zurückzog und der Korporativismus des Ancien Régime von einem grundsätzlichen Individualismus abgelöst wurde. Die frühsozialistischen Programme forderten, die Freisetzung der Wirtschaftsgesellschaft zurückzunehmen und gemeinschaftliche Bindungen und Kontrollen wiederherzustellen – bis hin zum Entwurf eines egalitären Kommunismus auf agrarischer Basis (Babeuf). Der Rückgriff auf eine vorrevolutionäre Erfahrung stellt eine paradoxe Analogie zur konservativen Kritik der Revolution dar; doch war die antiliberale Strömung eine nicht wegzudenkende Triebkraft gerade der revolutionären Ereignisse gewesen.
Ihr sät das Korn für andre nur, Durchwühlt für sie nach Gold die Flur,
rief Percy Shelley (1822) den Männern Englands zu. Der Schwiegersohn William Godwins und Mary Woolstonecrafts besang in einem anderen Werk, dem Versdrama Der entfesselte Prometheus, den Fortschritt als Selbstvollendung des Menschen. Weniger romantisch geprägte englische Radikale waren kaum nüchterner und wollten die antiquierten Einrichtungen der gegenwärtigen Gesellschaft durch Erziehung zu Vernunft und die Verpflichtung auf das „Glück der größten Zahl“ beseitigen. Mit dem richtigen Rezept in der Tasche war die bisherige Geschichte, eine bloße Quelle von Verirrungen, für sie bedeutungslos geworden; der Appell an natürliche menschliche Neigungen, die Kenntnis tatsächlicher oder vermeintlicher Gesetzmäßigkeiten, sollte die verfahrene Gesellschaft auf eine gesündere, auch moralischere, Basis stellen. Die zum großen Teil berechtigte Kritik gerät jedoch fast zwangsläufig in utopische Gewässer: Sie verabsolutiert ihre Kriterien, das nicht hinterfragte „Glück“ (das nach Kant „als Prinzip der Gesetzgebung untauglich“ ist). Das gilt auch von der nur scheinbar eindeutigen Wissenschaftsinstanz (die politische Entscheidungen in Wirklichkeit keineswegs überflüssig macht, Politik nicht auf „la science de la production“ reduzieren kannn). Sie bekämpft kein relatives Übel neben anderen, sondern glaubt, mit seiner Beseitigung (bei Fourier der Ehe, des 243
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
Handels) das Gute schlechthin zu erreichen. Das gegen praktische Einwände immunisierte große Projekt fasziniert die Zeitgenossen, sensibilisiert und mobilisiert sie gegen bestehende Missstände, so dass es unter Umständen zum ungewollten Motor pragmatischer Reformen wird. Ungeachtet dessen erweist sich der Glaube an eine wissenschaftlich beratene totale Formbarkeit des Menschen, auch ohne Erbsündenbewusstsein, als insgesamt fragwürdig. Weil die menschliche Welt mehrdeutig und vielfältig bleibt, jedenfalls nicht teleologisch auf Glück angelegt, und auch das Wissen der Reformer und Erzieher, entgegen ihrem eigenen Anspruch, grundsätzlich beschränkt ist, läuft das große Projekt ins Leere oder erstarrt dogmatisch zur Sektendoktrin. Einzelne Impulse, vom Sozialstaat und dem Recht auf Arbeit bis zur „Emanzipation des Fleisches“, von Kanal- und Eisenbahnprojekten, Konsumgenossenschaften bis zur Idee der Gartenstadt, haben sich aus dem Gehäuse des utopischen Gesamtentwurfs mitsamt seinem Anspruch auf die Totallösung herausgelöst und sind im 19.Jahrhundert zu befruchtenden Elementen einer realen Fortschrittsperspektive geworden. So hat man nicht unzutreffend festgestellt, wir seien inzwischen alle zu Saint-Simonisten und Fourieristen geworden (Thilo Ramm).
13. Von Hegel zu Marx Hegel († 1731) gehört ohne Zweifel zu den Theoretikern der Nach-Revolution, für die die turbulenten Zeitereignisse die wichtigste Herausforderung ihres Lebens und in mancher Hinsicht den Angelpunkt ihres Denkens bildeten. Hegels ursprüngliche Begeisterung für das „ächt philosophische Schauspiel“ der französischen Revolution wich angesichts der Schrecken des Negativen einer skeptischeren Betrachtung, dem Bewusstsein der Gefahren, die mit der „Erhebung der absoluten Freiheit auf den Thron der Welt“ verbunden sind. Doch blieb das Problem der Verwirklichung der Freiheit, als Bedingung des Menschseins auch jenseits des Politischen, das zentrale Element seiner Geschichtsphilosophie. Der Zweck des Erdenlebens, hatte Fichte in seinen Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters (1805) gelehrt, sei der, alle menschlichen Verhältnisse „mit Freiheit nach der Vernunft“ einzurichten; das freie Machen der Geschichte und das vernünftige „Sich-Selbst-Setzen“ des Menschen galten Fichte als Leitidee, von der die bisherige Geschichte, und gerade das gegenwärtige Zeitalter der Selbstsucht und des Eigennutzes, noch weit entfernt waren. Erst wenn der Mensch 244
13. Von Hegel zu Marx
weiß, was er ist, so lehrt auch Hegel, dann ist er wirklich. „Ohne dies ist die Vernunft, die Freiheit nichts.“ Das Wissen beginnt bei keinem Nullpunkt subjektiver Reflexion: die produktive Bedingung eines lebendigen Geistes ist Geschichte in einem emphatischen Sinn, die das Bewusstsein der Einheit von Freiheit und Menschsein voraussetzt. „Der Mensch soll sich selbst ehren und sich des Höchsten würdig achten,“ also trotz allem von seiner Bestimmung her verstehen. Geschichte ist in Hegels Auffassung auch keine Sammlung zufälliger Begebenheiten, kein kulturhistorisches Kuriositätenkabinett, sondern der Entwicklungsgang der sich verwirklichenden Idee der Freiheit, zugleich das allmähliche Sich-Begreifen des Geistes. Dies ist Hegels Geschichtsprojekt, sein durchaus teleologisches Kriterium von Geschichtlichkeit. Die Geschichtlichkeit der menschlichen Vernunft und die Vernünftigkeit der Geschichte bildet auch eine gewisse Parallele zu Edmund Burke. Der „Historismus“ beider richtete sich gegen voluntaristische und utopische Projekte, die die Vergangenheit als Ballast hinter sich lassen und die Zukunft ohne Bezug zur Herkunft entwerfen wollten. Die denunzierte Selbstherrlichkeit des nur subjektiven ‚Meinens‘, das nur abstrakt-Verständige, die negative Freiheitslehre der Aufklärung, dies alles taugt nicht als Kompass und erscheint ihm als Gefahr von Willkür und Anarchie; doch wäre es für Hegel ebenso verkehrt, Rechte aufgrund eines verschwundenen Zustandes einfordern zu wollen. Geschichtliches Alter an sich verbürgt noch keine Legitimität, im Gegenteil: Restaurationsbestrebungen sind verfehlt, substanzlos, stehen im Widerspruch zum geschichtlichen Prinzip der Gegenwart: dem Selbstsein-Können des Menschen, das keine spontane Freisetzung des Unterdrückten ist, sondern das Ergebnis langer, disziplinierender Arbeit der Weltgeschichte. Vernunft und Freiheit sind auch nicht als bloßes Postulat zu verstehen, nicht als kontextfreies Sollen oder normatives Ideal. Das Absolute wird aus dem ‚leeren Jenseits‘ herabgeholt ins Zeitliche und Endliche; das Sein löst sich in Werden auf. Gott hört sozusagen auf, festes metaphysisches Subjekt zu sein, doch seine Prädikate werden zum Wesen eines sinnvollen Prozesses (Phänomenologie, 1806, Vorrede). Das Wahre ist der mit Hilfe des Menschen zu sich kommende Geist: ein immanenter, werdender Gott.183 Hegels kühner Gedanke, der auf den ersten Blick der aufklärerischen Entmachtung eines transzendenten Gottes, nämlich seiner Identifizierung mit der Vernunft entspricht, lässt dabei in deutlich heilsgeschichtlicher Tradition hinter den Kontingenzen der äußeren Geschehnisse eine Teleologie als das eigentliche Wesen erkennen, dem gegenüber die ‚verworrenen Trümmermassen‘, das zufällige menschliche Wollen und Leiden, völlig unmaßgeblich sind. Sinn des Ganzen ist eben, dass der Geist auf dem Wege des Fortschritts sein volles Selbstbewusstsein gewinnt; umgekehrt kommt der Mensch nur in dem Maß zu 245
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
sich, wie er sich als Werkzeug des Geistes begreift. Das kann als verzweifelter Versuch begriffen werden, Gott durch den Gang der Weltgeschichte zu rechtfertigen, aber auch als maßloses Apriori des Philosophen, der die eigene Reflexion zum Kriterium von Geschichtlichkeit erhebt. „Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an“ (Philosophie der Geschichte, 1822/28, weiter GPh). Erst das gegenwärtig erreichte Bewusstsein macht dieses vernünftige Anschauen der Geschichte möglich. Damit wird alles, was nicht als „progressive Stufe einer Entwicklung der Menschheit zu sich selbst“ interpretiert werden kann, geschichtlich belanglos, gehört den ewigen Kreisläufen der immergleichen Natur an und behindert nur den Marsch des Geistes. Es klingt nach Augustinus, wenn der gelernte Theologe erklärt, das allein Wesentliche und Beständige im Wechsel der Begebenheiten sei, „was Gott mit der Welt will“ – aber es ist doch nur ein Kürzel dafür, was Hegel selbst in die Geschichte projiziert, um sich in ihr wiederzufinden. Gegen die „Kleinkrämerei“ der herkömmlichen frommen Demut auf der einen Seite, und die blinde Ahnungslosigkeit des historischen Agnostizismus auf der anderen, entwirft der „Grossist“ die Vernunft als das „Schlechthin Mächtige“, das er mit den „Wegen der Vorsehung…in der Geschichte“ gleichsetzt (ebenda). Dieses titanische Projekt ging weit über Kants und Fichtes geschichtsphilosophische Ansätze hinaus, für die der Sollensbezug in stärkerem Maß entscheidend war; sie wagten nicht die Übertragung einer teleologischen Naturabsicht auf das Ganze der Geschichte, sondern folgerten nur aus der angenommenen menschlichen Bestimmung, alles Gegebene zu transzendieren, die Pflicht zu vernünftigsittlicher, kultureller Vervollkommnung. Die kantische Geschichtsphilosophie war, wie wir gesehen haben, in praktisch-erzieherischer Absicht entworfen, und die Vernunft der Geschichte eine weniger konstatierende, wie vielmehr postulatorische (E. Angehrn), nicht zuletzt eine politisch herzustellende, weltbürgerliche Aufgabe. Für Hegels postrevolutionäre Philosophie wird Geschichte nur in zweiter Linie aus der Perspektive des Handelnden verstanden, der durch Reflexion des Vergangenen ein Bewusstsein für die Aufgaben der Gegenwart gewinnt; es ist eher die rückwirkende Einsicht in den Charakter des geschichtlichen Werdens – durch das ‚Zu-sich-selbst-Kommen‘ des Geistes. Geschichtsphilosophie ist nicht primär auf aktive Zukunftsgestaltung, wie auf versöhnende Erkenntnis gerichtet. Zum Belehren, gar Handeln, kommt die Philosophie immer zu spät; wie für die Eule der Minerva, ist ihre Zeit die Abenddämmerung, wenn die Arbeit des Tages getan ist.184 Die Vergangenheit wird durch die Gegenwart, aber auch die Gegenwart (die Revolution!) erst als Vergangenheit verständlich. Trotzdem möchte Hegel durchaus wirken: zumindest um die verantwortungslosen Staatsverbesserer samt ihren nur-subjektiven, unhistorischen und außer246
13. Von Hegel zu Marx
staatlichen Vorstellungen zu entlegitimieren, nicht zuletzt den aus (Freiheits-) Begeisterung und Gefühl zusammengerührten „Brei des Herzens“ der deutschen Patrioten, und die umgekehrte kosmopolitische, abstrakte Humanität und „Rednerei von der Pflicht um der Pflicht willen“ (Rechtsphilosophie [weiter RPh], 1821, § 135). Nach einem Jahrzehnt Erfahrungen mit dem „blinden Geschrei der Freiheit“ hatte sich nach den Worten des ernüchterten Enthusiasten der Zauber der Revolution verflüchtigt; „in diesem blutigen Spiel ist die Wolke der Freiheit zerflossen“. In Elend gestürzt, haben die Völker begriffen, „dass eine feste Regierung notwendig (sei) zur Freiheit“ – nicht ohne zeitgemäße repräsentative Körperschaft bei Angelegenheiten, die das Allgemeine betreffen (Verfassungsschrift, 1799/1802).185 Fichtes Geschichtsbetrachtungen waren auf die Errichtung eines vernünftigen Staates ausgerichtet – mit der quasi-eschatologischen Bestimmung, sich als Zwangseinrichtung schließlich überflüssig zu machen. Der Gedanke, wonach in der Geschichte überflüssig wird, was seinen Zweck erfüllt hat, war Hegel geläufig, wiewohl sich sein Machtstaat vor allem durch die Pflicht zur Selbsterhaltung zu definieren schien. Der erbarmenswürdige Zustand des Deutschen Reiches um 1800 hatte ihn aber gelehrt, dass dem Staat, wenn er diesen Namen verdient, eine über alle verfestigte Satzung erhabene Rolle, eine überrechtliche Würde zukommt. Mit anderen Worten, der Staatsgedanke darf sich nicht vertraglich-naturrechtlich aufweichen und auf eine „staatsfremde“, private Gerechtigkeitsnorm verpflichten lassen. Es geht Hegel nicht um neuheidnische Staatsvergötzung, um den Staat als Selbstzweck, doch ist die „machtvolle Allgemeinheit“ jeder individuellen Sittlichkeit, Kants abstrakter Idee der Autonomie, übergeordnet; die Verfassung darf kein Ergebnis besserwisserischer Spekulation oder zufälliger Wahlentscheidungen sein. Staat und Volk sind geschichtlich bestimmte individuelle Totalitäten, und das heißt: durch überpersonale, schicksalhafte Aufgaben bestimmt. Weil das „absolute Aufgenommensein des Besonderen im Allgemeinen“ den objektiven Maßstab für Sittlichkeit liefert (Hermann Heller), ist auch vom bloßen Schutz des Eigentums und individueller Interessen her kein – guter – Staat zu machen. Um zu einer höheren Stufe der Freiheit zu gelangen, die die äußeren Zwänge als ein von den Menschen selbst Gewolltes, ja ihr eigenes Produkt erkennt, muss sich der individuelle Wille an ein übergeordnetes Gutes binden. Aber auch die ‚moralische Freiheit‘ bleibt defizitär und erfordert die ‚Aufhebung‘ im eigentlich politischen Staat als lebendiger, organischer Einheit. Wir erinnern uns an Burkes und Gentz’ Attacken gegen den Einbruch von Fanatismus und Willkür zugunsten eines geschützten kulturellen Binnenraums (ebenso wie gegen die Chimäre des ewigen Friedens); zu beiden finden sich Parallelen in Hegels politischer Philosophie.186 Der Staat ist ‚objektiver 247
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
Geist‘, in göttliches Wesen gegründet, obwohl er in einer Zeit gebrochener Kontinuität, der Entzweiung und Zerrüttung, seine antike ‚beseelte Einheit‘ verloren hat; dem entgötterten Reich des Positiven steht ein wirklichkeitsloses Jenseits gegenüber. Nur in der Subjektivität haben sich Reste des Authentischen bewahrt: im Rückzug aus dem Wirklichen „verglimmt in sich“ die Sehnsucht nach dem Absoluten. Aber weder aus Theologie und Metaphysik noch aus fruchtlosen kosmopolitischen Sollvorstellungen von den Rechten der Menschheit, aber schon gar nicht aus dem „aufgewärmten Kohl“ abgestorbener Ordnungsprinzipien kann die verlorene Einheit des Menschen mit seinem Wesen wiedergewonnen werden. Der Gegenwart adäquat ist nur eine Philosophie, die illusionslos „ihre Zeit in Begriffe fasst“, d. h. sich weder mit den endlichen Erscheinungen begnügt, noch damit, das Ewige im subjektiven Innenraum zu suchen: Im Rhodus von heute muss sie beweisen, dass sie zu tanzen versteht. Was sie dabei hindert, ist das kleinliche „Versenktsein …in die Interessen der Not und des Tages, andererseits die Eitelkeit der Meinungen (Berliner Antrittsrede, 1818). Es wäre jedoch ein Irrtum, vom Gang der Geschichte nur die Diagnose der Gegenwart, die Vernunft des Hier und jetzt, übrig zu lassen; Hegel spielt ein mystifizierendes Doppelspiel mit der „Wirklichkeit“;187 analog wird die proklamierte Geschichtsmündigkeit des Menschen wieder eingefangen durch den Weltgeist als Ersatz für den vakanten Thron des Herrn. Vor allem ist die menschliche Einsicht der Notwendigkeit zu schwach, um sich direkt in vernünftiges Handeln umzusetzen; deshalb muss Einsicht „durch die Gewalt gerechtfertigt werden, …dann unterwirft sich der Mensch“ – leider auch einer uneinsichtigen Gewalt. Der staatliche Deus ex machina als unwiderstehlicher Wille wird zum Agenten – nicht seiner Bürger, denn der allgemeine Wille ist kein Resultat der Einzelwillen188, sondern der vagen Instanz „geschichtlicher Vernunft“. Sed quis iudicabit? Wer, mit Ausnahme des Philosophen selbst, verfügt über das Gütesiegel der Wesentlichkeit? Welche Einsicht, welche Geschichtserfahrung berechtigt Hegel, seine eigene Interpretation gegenüber anderen, älteren wie zeitgenössischen, als nicht-subjektiv zu deklarieren? Wenn der wahre Staat hochtönend als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ definiert wird, als das „an und für sich Vernünftige“ (RPh § 257, 258), dann mag das als Abwehr der Beliebigkeit des gesunden Menschenverstands hingehen, vielleicht sogar als Kritik restaurativ-romantischer Bemühungen, geschichtliche Herkunft oder Konfession zum Staatszweck zu erheben: „Nur die Gegenwart ist frisch, das andere fahl und fahler.“ Hegels Anspruch ist dabei relativ banal. Der Staat wird herausgehoben aus bloßer Naturalität und durchgeistigt, ja zur ethisch-historischen Macht deklariert, sofern er Rechtsgleichheit und eine protestantisch-sitttliche Ordnung 248
13. Von Hegel zu Marx
repräsentiert. Für die Kirche und die übrigen Bereiche des objektiven Geistes – Wissenschaft, Kunst und Sittlichkeit – entsteht in seinem Rahmen ein Äquivalent der verlorenen Totalität des Ganzen in neuen Bedingungen; nicht anders für den einzelnen, der im Staat das tragende Element seiner Existenz, die Bedingung seiner Freiheit erkennt. So gewinnt der Staat, wenn er im hegelschen Verständnis auf der Höhe seiner Zeit ist, Legitimität und Unwiderstehlichkeit dadurch, dass er die lebendigen Gegensätze der Gegenwart als Einheit erfasst, ihnen zu vernünftiger autonomer Geltung verhilft (J. Ritter). Kontingente „Willlkürfreiheit“ bedarf gewiss der intersubjektiven Anerkennung durch andere, aber nicht jeder Staat gewährt „Substanzialität“, die Einheit von Freiheit und Vernunft. Nur der Wille, der einem vernünftigen Code gehorcht, gilt als wahrhaft frei; das Freiheitsbewusstsein setzt somit institutionalisierte „sittliche Mächte“ voraus. Es ist auch in kantischer Tradition geradezu die Definition des Staats, dass er Willkür und unmittelbare Begierden einschränkt und die menschlichen Leidenschaften und divergierenden Interessen unter seinem Dach disziplinierend zusammenzwingt. Kants Forderung, dass die Elemente des äußeren Zwangs mit einer zustimmungsfähigen Idee des Guten vereinbar sein müssten, ist aber nicht Hegels Sorge. Wenn seine „Vernunft“ fordert, dass nicht Willkür, sondern das Substanzielle in Handeln und Gesinnung zur Geltung kommt, so kann auch in der Weltgeschichte nur von Staatsvölkern die Rede sein (GPh § 56): eine nicht ungefährliche These. Hegels Substanzialisierung des Staates als eigentlicher Träger der allgemeinen Bewegung, als „Feiertag des sittlichen Lebens“ gegenüber dem trüben Werktag der Gesellschaft, seine Degradierung bloß-subjektiver Gesinnungen und Gefühle, musste einer simplifizierenden Ansicht entgegenkommen, wonach der Staat aus eigenem Recht ‚Geschichte macht‘. Das wäre ein Missverständnis: die weltgeschichtlichen Völker sind alles andere als Selbstzweck und entgehen nicht der Vernichtung, wenn der Träger eines neuen Prinzips auftaucht. Hegel war aber von seinem antiken Politikverständnis her schon früh geneigt, individuelle Freiheit und Moral, ebenso wie den Bereich der Wirtschaft und des Privatrechts, als eine dem Staat gegenüber mindere Form der Sittlichkeit abzuwerten;189 analog war die „schale Erfindung“ der allgemeinen Menschenliebe für ihn geschichtlich irrelevant und Perioden des Glücks ohnehin leere Blätter der Weltgeschichte. „Wenn sich allgemeine Vernunft vollführt“, sei es ums empirisch einzelne „nicht zu tun“, und weil unterschiedliche Formen der Sittlichkeit ihr eigenes Recht haben (RPh § 30), so ist auch in der Beziehung von Bürger und Staat das Zweck-Mittel-Verhältnis „nicht passend“ . War die Freiheit der höchste Wert in Hegels Geschichtsphilosophie, dann kam hier allerdings eine bedenkliche Tendenz zum Ausdruck, von Autonomie wieder in Heteronomie zu 249
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verfallen (Marquard), also die moderne Errungenschaft der Individualisierung wenn nicht zurückzunehmen, so doch erheblich zu relativieren. Das mochte damit zusammenhängen, dass Tugenden, verglichen mit Leidenschaften, mit Selbstsucht und Bedürfnissen, bei Hegel „in unbedeutendem Verhältnis zur Welt“ stehen. Das hatten Voltaire und die Schotten nicht viel anders gesehen; aber es fehlte bei diesen meist die moralische Herabsetzung der privatbestimmten Bühne unserer Komödie des Sittlichen, auf der der Mensch bei jedem Vorhaben seinen partikularen Willen, seine Vorstellungen von der Nützlichkeit einer Sache, zur Geltung bringen will, und „nichts ohne das Interesse“ zustande kommt. Die begriffliche Scheidung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft ist in voller Schärfe erst bei Hegel vollzogen, aber spielt das Theater der „Raison d’État“ nach höheren Regeln als der einzelne Bürger? Gewiss: nur der Staat ist imstande, die auseinanderstrebenden Einzelwillen zu zähmen und zu versöhnen. Hegel bestreitet gar nicht, dass der Staat, wie alles Große, auch von Leidenschaften und egoistischen Absichten angetrieben wird, ohne von höheren Zwecken zu ahnen. Er greift dabei auf den alten Gedanken von den irrationalen Triebkräften der Vernunft und auf die Figur der unbeabsichtigten Folgen des menschlichen Handelns zurück, die von Bossuet bis Adam Smith eine zentrale Rolle in der Geschichtsbetrachtung spielen. Ganz wollte er sich jedoch nicht mit organischer Teleologie begnügen, die aus der jeweils verbrauchten historischen Gestalt, wie der Schmetterling aus der Puppe, eine neue hervortreiben lässt, sobald ihre Zeit gekommen ist. Das hätte bedeutet, das Kriterium reflektierter Existenz und staatlicher Vernunft, den eigentlichen Unterschied zu den „geschichtslosen Völkern“, wieder zurückzunehmen. Das naturteleologische Modell wird der realen Geschichte mit ihren Diskontinuitäten und Zufällen, ihrem Scheitern und Neuanfängen, auch ihrem Lernen aus Fehlern, in keinem Fall gerecht. Entwicklung im strikten Sinn setzt das Zu-sich-Kommen eines keimhaft Vorhandenen voraus und kann die Kontingenz des Neuen, auch die Vielfalt der Abläufe, nicht adäquat erfassen. Seit der Romantik driften Natur und Vernunft wieder auseinander, und Hegels Denken sucht die Vernunft im geschichtlichen Werden. Während in der Natur „nichts Neues unter der Sonne“ geschieht und Entwicklung hier das unmittelbare, „harm- und kampflose“ Hervorgehen einer Gestalt zum Inhalt hat, findet bei geistigen Hervorbringungen, also in der eigentlichen Geschichte, harter Kampf und „unwillige Arbeit“ statt. Der Geist ist nur, wozu er sich selbst macht, dennoch steht das Ergebnis fest: er macht sich „zu dem, was er an sich ist“ (GPh 75). Auch auf der Ebene staatlichen Handelns setzt Hegel eine solche Teleologie oder höhere Instrumentalität voraus, so dass aus ihm geradezu der Gang Gottes in der Welt vernehmbar wird. Hegel besteht seit seiner polisbegeisterten Jugend auf der herausgehobenen Rolle des politischen Ganzen als Ort der Freiheit und 250
13. Von Hegel zu Marx
der Vernunft, wiewohl der Staat vordergründig auch nur seinen eigenen beschränkten Interessen nachgeht. Die großen Beweger, Hegels weltgeschichtliche Individuen, verfolgen durchaus egoistische Ziele, aber sie vollführen damit, was „not an der Zeit“ ist und werden zu unwiderstehlichen „Seelenführern“, halb- oder unbewussten ‚Geschäftsführern des Weltgeistes‘ (GPh 46). Die großen Akteure sind in Wirklichkeit Getriebene, die wollen, was sie wollen müssen, und zugleich etwas anderes verwirklichen, als sie selbst meinen. Das ist natürlich eine zutreffende Beobachtung, aber implantiert, wie uns scheint, der trüben Geschichte auf unzulässige Weise eine esoterische Logik. Die als eine Art Theodizee gedachte Behauptung, wonach die Vernunft die Wirklichkeit beherrsche, „dass es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei“, setzt eine breite Vernunftvorstellung voraus, mag aber auch auf schellingschen theosophische Spekulationen beruhen, die Wirklichkeit aus Verwirklichung von Gottes Ideen entstehen lassen und Geschichte aus deren Rückbesinnung auf ihren göttlichen Ursprung (Windelband, Lehrbuch, 531f). Hegels Denken war in erster Linie auf das Verstehen des Gewordenen gerichtet, aber es war nie unpolitisch. Seine Idee der großen Agenten der Weltgeschichte öffnet dabei beinahe zwangsläufig politischem Missbrauch Tür und Tor, wenn im Namen geschichtlicher Vernunft mitunter zweifelhafte Anliegen „historische“ Weihe erhalten. Hegel selbst hat dem Missbrauch schon dadurch zugearbeitet, dass er die sogenannte „Kammerdiener-Perspektive“, den Neid des Thersites, der keine Helden kennen will, verächtlich macht; sie verleumdet alles Große, weil dieses, höherer Notwendigkeit gehorchend, keine Rücksicht auf die Kleinen nimmt und „manche unschuldige Blume“ zertritt. Unter dem negativen Etikett setzt Hegel das bürgerliche Nützlichkeitsdenken herab, das verabsolutierte Menschenglück und die Wohlstandsperspektive: historisch illegitime Werte, die seichte Aufklärer seit Voltaire und Hume über die aristokratische Kriegerethik erhoben hatten. Hegel, der privat zu bürgerlicher Behäbigkeit neigte, verfocht mit einigem Recht das Tragische in der Geschichte: unaufhebbare Antinomien, die kein Eudämonismus überbrücken und kein Utilitarismus aus der Geschichte hinauseskamotieren kann. Aber es ist keine pessimistische Bilanz eines Realisten, der angesichts des Eigengewichts des Wirklichen alles private Wünschen für unangemessen hält. Es ist vor allem die Absage an die Alltagsmoral als Kriterium der Politik, an die machtkritische Tradition der Aufklärung, für die der Staat nur ein Mittel sein sollte zur Beförderung individueller naturrechtlicher Zwecke. Hegel belächelt nicht nur nachträgliche moralisierende Schulweisheit; er scheint überhaupt keine sittliche Berufungsinstanz im blinden Kampf der Leidenschaften und „Volksgeister“ zu kennen, die sich „aneinander abarbeiten“ müssen, um neue Manifestationen des Geistes hervorzubringen. Der Unterschied zwischen 251
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dem historisch Höheren, das Substanzielles darstellt, und faulen, zufälligen Existenzen, „Pygmäen“, die von den historischen Völkern zermalmt werden, ergibt sich erst aus dem nachträglichen Urteil des „Weltgerichts“ (RPh § 340).190 Ob dieses allerdings keine vernunftlose antike Tyché ist, sondern einer höheren Logik gehorcht, bleibt eine unbewiesene Annahme. Die widerspenstige Ereignisgeschichte wird damit in luftige Höhen einer dialektischen Sequenz von Begriffen angehoben, als Syllogismus von innerer Notwendigkeit interpretiert, der im Reich der realen Dinge vermutlich keine Gültigkeit besitzt. Im empirischen geschichtlichen Verlauf kommen Kausalitäten zur Geltung, aber nicht eigentlich teleologische Entwicklungen, die die inneren Anlagen der Dinge „logisch“ zur Entfaltung bringen. Der Untergang der einen und der Aufstieg der anderen bringt oft Neues und Unvorhergesehenes zutage, nicht aber in der Folge von Blüte und Frucht, oder als logisches Resultat aus einer Prämisse. Steht das „Resultat“ eo ipso geschichtlich höher, ist es gar „freier“? Gehen Vernunft und Freiheit in der Geschichte tatsächlich Hand in Hand, wie es im Zeitalter aufklärerischer Reformen zu sein schien, oder sind sie nicht letztlich Gegensätze? Um Vernunft in die Geschichte zu bringen, bedarf es des Lernens aus Fehlern, doch dieser produktive Umgang mit der Vergangenheit ist nicht der Hegels. Wie sonst soll man sich aber die Negation eines geschichtlichen Bewusstseins vorstellen, „welches so aufhebt, dass es das Aufgehobene aufbewahrt und erhält“, wie es Hegel in der Phänomenologie formuliert? Tatsächlich sind sich die Zeitgenossen nur selten des historischen Orts ihrer Gegenwart bewusst bzw. einig in ihrer Einschätzung, und halten für Fortschritt, was nur Destruktion, und für ein Unglück, was sich als produktiver Schub erweisen wird. Was den „Charakter eines Zeitalters“ ausmacht, wird erst nachträglich klar, wie Hegel wusste, aber es wird im Diskurs der Betrachter, „ausgehandelt“: Es gibt den Sinn nicht unabhängig von diesem subjektiven Diskurs. In Hegels geistreicher Konstruktion durchdringen sich gegenseitig der verweltlichte Vorsehungsglaube seines schwäbischen Pietismus mit überbordendem Weltvertrauen, das zuweilen in Rechtfertigung des jeweils letzten Atemzugs der Geschichte umschlug. Das erklärt seine geradezu verdächtige Bereitwilligkeit, dem Zeitgeist zu „parieren“, wenn er, wie ihm schien, das „Kommandowort zu avancieren“ gegeben hatte. Ein solches Beispiel liefert Hegels Deutung Napoleons. Der ‚große Staatsrechtler in Paris‘ war für ihn nicht nur der Überwinder revolutionärer Anarchie, die nach dessen Behauptung außerstande war, zu einer stabilen Verfassung zu gelangen: er sollte als quasi Retter des Grundgedankens der Revolution vor dieser selbst erscheinen – wobei sich der Freiheitsimpuls allerdings nur in reduzierter, entpolitisierter Gestalt retten ließ. 252
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Der zynische Eroberer und Zertrümmerer des morschen Reiches galt Hegel vor allem als Initiator heilsamer Reformen in Deutschland. Wenn, wie es heißt, der Begriff der öffentlichen Meinung ein Widerspruch in sich selbst ist, und das Volk denjenigen Teil des Staates darstellt, der nicht weiß, was er will, mag eine von außen und oben gesteuerte Bürokratie unter Umständen den vernünftigen „Allgemeinwillen“ repräsentieren. Der große Wirklichkeits- und Tatmensch war für Hegel durchweg im Recht gegenüber der bleiernen Schwerkraft des Positiven und Mittelmäßigen – zumindest bevor ihn diese, übrigens zu Hegels ungläubigem Erstaunen, erdrückte (F. Rosenzweig). Auch für spätere Inkarnationen des Weltgeistes, etwa den preußischen Beamtenstaat als Synthese der vorangegangenen These und Antithese brachte der Philosoph viel Verständnis auf: vielleicht ein aristotelisches Motiv, wonach der Mensch nur in der Polis zur Erfüllung seines Wesens gelangt, vielleicht auch bloß der goethesche Wunsch nach Anlehnung des Vernünftigen an eine wohlwollende Regierungsautorität.191 Das Preußen, das Hegel nach Berlin berief, war gewiss kein erstarrter Polizeistaat mehr, aber es war auch nicht gerade die Avantgarde des geschichtlichen Fortschritts. Das „Nationelle“ Preußens lag, so Hegels Schüler Eduard Gans, nicht im Physischen, sondern in einem geistigen Band, das von Beamtenschaft, Heer und Schule ausgehend, der übrigen Bevölkerung vermittelt werden sollte: nur mit einiger Gewalt als „Zu-sich-Kommen des Geistes“ zu stilisieren. Hegels Bürokratie als allgemeiner Stand und Träger des Reformgeistes sah sich von den realen Problemen immer mehr überfordert und „auf die Technizität ihrer Tätigkeit verwiesen“ (Koselleck). Gesinnung als Ersatz fehlender Ressourcen wurde zur Blankoformel des Positiven, hinter der sich manchmal nur polizeilich definiertes Wohlverhalten versteckte. Hegel hielt viel von Disziplinierung, doch bloße Dressur und Unterdrückung mussten, wie er in einem anderen Zusammenhang bemerkte, statt des Vertrauens, den Verdacht zum Staatsprinzip erheben.192 Hegels hohe Meinung vom Reformbeamtentum als Vermittler des Staatssinns hatte mit seiner Analyse der bürgerlichen Gesellschaft zu tun, deren kollidierende Interessen einer über den Seiten stehenden Regulierung und Vorsorge bedürfen. „Die Gewerbefreiheit darf nicht von der Art sein, dass das allgemeine Beste in Gefahr kommt“: eine aktuelle Einsicht. Auch die Mechanisierung der Arbeit, in Deutschland vorerst selten, aber aus England wohlbekannt, bewirkt, dass die an diese Arbeit gebundene Klasse häufig „unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise“ herabsinkt. Das kann durch direkte staatliche Eingriffe nicht verhindert werden – worin Hegel Adam Smith folgt. Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft ist aber nicht der Hauptgrund der Auflösung des bisherigen Erfahrungsraums und der Vorstellung einer neuartigen geschichtlichen Bewegung. Sein eigentliches Problem ist auch nicht die Armut an sich, sondern 253
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
eher eine Gesinnung der Empörung gegen die Gesellschaft, verursacht durch den Verlust „des Gefühls der Rechtlichkeit und Ehre, durch eigene Tätigkeit zu bestehen“. „Bei dem Übermaße des Reichtums“, lautet sein vielzitierter Satz, ist die sich selbst überlassene Gesellschaft außerstande „der Erzeugung des Pöbels zu steuern“ (RPh § 243–245). Der bürgerlichen Gesellschaft als Gegenüber des Staates kommt dennoch eminente Bedeutung bei der Bestimmung der Gegenwart zu. Schon in Hegels Jenaer Rechtsphilosophie wird, im Anschluss an die schottischen Denker, vor allem die hohe Bedeutung der Arbeit erkannt. Nicht nur ermöglicht sie es, die Natur dem Menschen dienstbar zu machen: der Mensch kommt durch Arbeit zu sich selbst und befreit sich aus natürlicher Unmittelbarkeit. Aus „gehemmter Begierde“, wie es in der Phänomenologie hieß, entstehen Produkte, die die Tätigkeit des einzelnen zur Arbeit für die Bedürfnisse anderer werden lassen. So bildet sich Gesellschaft und mit ihr die Chance, dass das Ich im Anderen zu Selbstbewusstsein gelangt. Das hat auch negative Konsequenzen für den Menschen, der „je mehr er sie /die Natur/ unterjocht, desto niedriger wird er selbst.“ Die Überlegung mündet aber nicht in rousseauschen Zivilisationspessimismus, sondern in eine Bejahung des in der Negation enthaltenen dialektischen Fortschritts. Der Tauschprozess führt zu gegenseitiger Anerkennung, die ihrerseits der Vertragssicherheit bedarf und somit der Sanktion durch Gesetze, bzw. die „erhabene Gewalt großer Menschen“. Die wuchernde Sphäre des Privaten, der schon die „staatsauflösende“ christliche Religion des individuellen Seelenheils vorgearbeitet hatte, erfährt später Hegels höhere Würdigung gegenüber der für immer entschwundenen Antike. In der Emanzipation des Subjektiven und der vormals in Tradition eingebundenen Bereiche hat die Neuzeit eine eigene Legitimität und ein eigenes Pathos der Erlösung auch der äußeren Daseinswelt entwickelt: die allmähliche „Durchdringung, Durchbildung des weltlichen Zustands“ durch das Freiheitsprinzip. Doch ist die säkularisierte Arbeitsgesellschaft, die sich auf den „trüben Werktag“ der menschlichen Bedürfnisse konzentriert, nach Hegels Ansicht außerstande, von ihren besonderen Anliegen zum Allgemeinen zu gelangen; auch das gesellschaftliche Wohl setzt keine substanziellen Ziele. Das „Aggregat des Privaten“ gilt als „Zustand der Unredlichkeit, Unsittlichkeit und der Unvernunft“ (Encyclopädie). Die bürgerliche Gesellschaft kann also von sich aus nicht erkennen, was in der Gegenwart „not an der Zeit ist“. Immerhin setzt sie Grenzen des Möglichen, z. B. insofern, als unfreie Arbeit ihrem Prinzip zuwiderläuft (RPh § 238, 245). Diese punktuelle Übereinstimmung mit den Physiokraten und den Schotten macht Hegels Absage an den Liberalismus nicht ungeschehen: Der Staat bleibt unverzichtbare lutherische Ordnungs- und Disziplinierungsmacht nach 254
13. Von Hegel zu Marx
innen. Mehr noch: Ohne das äußere „normfreie Gegeneinander“ staatlicher Machtwillen, den ständigen Streit um Anerkennung und Bewährung am Anderen, käme auch der Freiheitsgang der Weltgeschichte zum Stillstand. Nicht die restaurative Wiedereingliederung der einzelnen Sphären menschlicher Selbsttätigkeit – Recht, Moralität, Kultur, Religion, Wirtschaft – ist aber die Aufgabe von Hegels Staat, sondern vor allem den Rahmen zu schaffen für ihr „Sich-aneinander-Abarbeiten“, als möglicher Motor eines „Über-sich-Hinausgehens“. Gerade weil sich das Gesetz der bürgerlichen Gesellschaft nur mehr am Bedürfnischarakter der menschlichen Existenz orientiert, werden die einzelnen Bereiche des Geistes frei, d. h. kommen durch Trennung zu sich selbst. Religion, Wissenschaft etc. sind keine politischen, keine staatlichen Funktionen mehr: Die moderne Entzweiung und Entfremdung des Geistes, seine Differenzierung in gesonderte Sphären und die gegenseitige Spannung zwischen ihnen, soll nicht negiert, sondern aufgehoben werden, sie bietet authentische, produktive Chancen. Ob und wie der Weltgeist weiterschreitet, will Hegel nicht mehr untersuchen. In jüngeren Jahren hatte er über die traumatisierende Auswirkung der Sintflut auf den menschlichen Geist, nämlich den Vertrauensverlust gegenüber der Natur, nachgedacht (Geist des Judentums). Angesichts der europäischen Turbulenzen von 1830/31, der „Unwissenheit, Gewalttätigkeit und bösen Leidenschaften“, die Hegels letztes Lebensjahr beschatteten, war dem Philosophen der Vernünftigkeit des Wirklichen ein Stück seines Wirklichkeitsglaubens abhanden gekommen. Zweifel an der Tragfähigkeit des staatlich garantierten Gleichgewichts stellten sich ein; damit musste auch das ungebrochene Vertrauen in die Zukunft verlorengehen. *** Hegel war geneigt, die historische Praxis in Denken aufzulösen und bestand darauf, die Philosophie als Bewahrerin des heiligen Lichts abzusetzen gegen das an die gemeine Wirklichkeit gebundene Interesse, sogar gegen die praktische Aktualisierung des Weltgeists durch seine Geschäftsführer. Die philosophische Versöhnung der Gegensätze – Wesen und Dasein, Vernunft und Wirklichkeit – sollte keine direkte Anleitung sein für eine praktische Aufhebung der Entfremdung durch das ‚amphibische‘ Leben in unterschiedlichen Sphären. Eine von Hegel beeinflusste jüngere Generation philosophierender Literaten sah sich enttäuscht von der Art der Ausmündung des Weltgeschehens in der Gegenwart im preußischen Beamtenstaat: Die Hegelsche Synthese war unglaubwürdig geworden, aber das Vertrauen in die Rationalität der eigentlichen geschicht lichen Bewegung war geblieben. Ihr nachzuhelfen, als Agent des Besseren, war 255
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
ihre eigene Legitimationsbasis. Nach dem Diktum Heinrich Heines, die Männer der Tat seien nur „Handlanger der Gedankenmänner“, glaubten sie praktische Konsequenzen aus der erkannten Wahrheit ziehen zu müssen: die absolute Idee sollte vom Elfenbeinturm selbstzufriedener Spekulation herabsteigen in die politischen Niederungen des Tageskampfes. Hegels Akzeptanz der modernen Entzweiung wird so abgelöst vom Willen zur „Wiederherstellung“ der verlorenen Totalität des Menschseins; statt die Vernunft in der Wirklichkeit zu suchen, wird die Forderung ihrer noch ausstehenden Verwirklichung erhoben. Statt des Eulenschreis der Dämmerung sollte der „Hahnenschlag des anbrechenden Tages“ erklingen (so der Hegel-Herausgeber C. L. Michelet). Die ihrer selbst gewisse Vernunft, eine „in Objektivität umschlagende Subjektivität“, fordert, nach den Worten des Karl Marx-Freundes K. F. Köppen, das Positive solle rational und das Rationale positiv werden (1840). Das war eine verständliche Forderung im Hinblick auf den viel zu langsamen Wandel der preußischen Verhältnisse, und doch ein Bruch gegenüber dem Meister. Nicht so sehr wegen der Anmaßung eines nicht vorhandenen Wissens vom innersten Wesen der Zeit, aber doch einer angestrebten Rolle der aktivistischen Intellektuellen bei der Durchdringung der Wirklichkeit mit ‚dem‘ Gedanken. Entscheidend war bei ihnen ein Gefühl der Enttäuschung, vor allem der in den preußischen Staat gesetzten Hoffnungen, die in Denunzierung umschlug: Der Staat, ein „sich selbst abhanden gekommenes Preußentum“, beschränke sich auf das Gewordene, auf „bewusstlose“ Zustände, statt teilzuhaben an der historischen Bewegung. Die Junghegelianer, oft gescheiterte Bildungsbürger, proklamierten sich dabei nach Karl Rosenzweig „mit renommistischer Voreiligkeit zu den Siegern des Tages“ und „verwechselten Wirtshausgezänk mit Schlachtendonner“. Mit dürftigen Mitteln stellten sie maßlose Ansprüche und präsentierten effektvolle Manifeste, aber kein gehaltvolles Ganzes (Nach Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, 66ff). Es ging nicht nur um persönliche Ambitionen: In ihren Augen vergisst Preußen seine vermeintliche welthistorische Mission (sprich: sich zum Mittelpunkt eines europäisch bedeutenden, freien Deutschlands zu machen). Es tritt als ein ‚Jenseits‘ der bürgerlichen Gesellschaft auf und schließt die „Laien“, dh. die nicht-Beamteten, von der aktiven Teilnahme am Staatsleben aus. Statt der Mündigkeit und selbstheilenden Kraft des Geistes zu vertrauen, beansprucht es eine ‚unprotestantische‘, geradezu katholische Vormundschaft über diesen und seine Bürger. Dem erstarrten Preußentum fehle der Mut, frei zu sein, schalt Arnold Ruge († 1880), Herausgeber der Hallischen Jahrbücher, in einer Polemik von 1839. Das Hauptmissverständnis des Hegelschen Systems bestehe darin, so Ruge in einem anderen Aufsatz, sich selbst für absolut, also für den Abschluss der geistigen Entwicklung der Menschheit zu halten. Das Absolute, das auch auch 256
13. Von Hegel zu Marx
bei Ruge ausschließlich Frucht der Geschichte ist, bleibt ein nur relativ Absolutes in dem Sinn, dass es vom weiterschreitenden Geist korrigiert, „negiert“ wird. Ruge hat deshalb nur Verachtung übrig für Männer, die sich an das Erreichte klammern, statt sich an der im freien Geist begründeten Theorie zu orientieren oder auch an dem „sich selbst durchsichtigen“ freien Staatswesen als Endzweck. Nur geistige Verwahrlosung, die Verzweiflung an Geist und Wissenschaft, findet sich ab mit einem Staat, der hinter der „Einsicht der Zeit“ zurückgeblieben ist: Diese Einsicht beanspruchten die zornigen jungen Privatdozenten allerdings für sich. Auch Hegel hatte gelehrt, dass der Gang der Freiheit angewiesen sei auf das Bewusstsein der Freiheit; aber er wollte diesen Gang vorsichtig mit dem monarchischen Rechtsstaat abschließen. Diese bestenfalls relative Wahrheit sah sich jetzt – wenn auch nicht von einem repräsentativen Bewusstsein der Mehrheit – ihrer Negation ausgesetzt. Hegels bloß begreifendes Hinterherkommen, das sich das Sollen verbat, war dem praktischen Idealismus einer frustrierten Generation, die sich mit dem weiterdrängenden Weltgeist identifizierte, unerträglich. Die am Hegelschen Monismus geschulte Totalität der Theorie ließ keine Frage nach historischen Alternativen und unterschiedlichen Wahrheiten zu, sondern empfand allein die ethische Spannung zwischen einem selbstzufrieden spekulierenden „Brahmanentum“ und der reformerischen Tat, deren Ausrichtung festzustehen schien. Ruges von keinen Zweifeln geplagter Progressismus fand konsequent politischen Niederschlag, indem er Hegels Skepsis gegenüber den Vielen und der Willensbildung durch Wahlen optimistisch revidierte: Die Wissenden, urteilte er voreilig, würden auf die Dauer nie von der Majorität verlassen.193 Hegels Vertrauen in die Vernunft der Wirklichkeit führt so bei seinen ungeduldigen Nachfolgern zum Brückenschlag zwischen Geschichtsphilosophie und radikaldemokratischer Politik. Die Irrtümer der Mehrheit, so stellt Ruge fest, seien ebenso relative, wie die Zufälligkeiten der Weltgeschichte, aber in beiden Fällen komme schließlich das Vernünftige zum Vorschein (Zur Kritik des gegenwärtigen Staats- und Völkerrechts, 1840). Ruge unternimmt einen weiteren Schritt über Hegel bzw. die liberale einfache Freisetzung des „Systems der Bedürfnisse“ hinaus. Es sind zwei neue geistrelevante Geschichtsfelder: die Industrie und das Proletariat. Konservativen Bedenken über die verheerenden Folgen kapitalistischer Spekulation und Industrialisierung entgegnet Ruge, das Ärgernis des ‚Pöbels‘ bestehe nicht einfach in materieller Armut, sondern vielmehr im Zustand seines apathischen Dahin vegetierens, folglich sei der Dampfwagen kein „Schrittmacher des Pöbels“, sondern gerade eine Form des Kampfes gegen diesen, nämlich gegen Trägheit und Verzicht. „Mit und ohne Dampf hat der Geist… die Rohheit von reichem und 257
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
armem Pöbel immer mehr zu unterwerfen.“ Die Arbeit, heißt es an anderer Stelle, ist das eigentliche schöpferische Prinzip; sie „schafft die Menschheit alle Tage von neuem“ (zit. Ruge: Aus früherer Zeit IV). Alle Arbeit ist Dienst am Geist, und so sollte die Anregung zu industriöser Arbeit durchaus als geistige Mobilmachung der Menschheit verstanden werden. Der Geist verkauft sich dabei nicht einfach an schnöde materielle Interessen, sondern versenkt sich gewissermaßen in Eisen und Feuer als Fortschrittskräften; er erzeugt nicht zuletzt den großen „idealistischen Beweger“: Dampf, den Überwinder von Schwere, Raum und Zeit: So schwärmt Ruge am Rand von E. M. Arndts Erinnerungen (1840). An der Auffassung der Industrie als „eiserner Verkleidung des Geistes“, von Dampf und Geld als quasi Ersatz von Hegels „welthistorischen Individuen“, vor denen alle Säulen des Sichtbaren wanken, war neu vor allem der hegelianische Kontext. Die Begeisterung für technische Erfindungen war auf den Kontinent übergesprungen, wo die transportierten „englischen“ Gedanken in noch höherem Maß zu Impulsen eines politischen Radikalismus wurden. Auch Ruge erklärt, das Problem des „Pöbels“, als Produkt technischen Fortschritts, sei nur zu lösen durch Demokratie. Nach seiner Überzeugung sind Verbrechen, Faulheit und Verwahrlosung durch industrielle Disziplin allein nicht zu beheben, sondern nur so, dass sie zur öffentlichen Angelegenheit des freien Gemeinwesens, zur Sache aller Bürger werden. Der „Notstaat“ der bürgerlichen Gesellschaft ist als „Freistaat“ zu konstituieren, ja der freie Geist drängt von sich aus zu diesem hin. Die Aufgabe, nicht zuletzt die Aufhebung der Standesschranken und der zwischen Wissenden und Unwissenden, ist für Ruge keine nur praktische, sondern potenziert sich gut hegelianisch zu einer weltgeschichtlichen. Es geht um nichts weniger, als die Verwirklichung des eigentlichen Kerns des Christentums, des Glaubens an die göttliche Vernunft, die alle Menschen erlösen will. Das neue Bewusstsein, das die Welt mit unwiderstehlicher Gewalt umgestaltet, „wird Religion sein“ (Eine Selbstkritik des Liberalismus, 1843). Die geradezu endzeitliche Verankerung war mehr als eine nur rhetorische Anleihe aus dem biblischen Vokabular, sondern war der teleologischen Struktur des Hegelschen Denkens entsprungen. Auch andere Hegelianer verstanden die Vorstellung, die bisherige ‚bewusstlose‘ Geschichte sei an ihr Ende gekommen, als Aufgabe, nicht irgendwelche Verbesserungen, sondern das Absolute nun auch im Bereich der gesellschaftlichen und sittlichen Verhältnisse zu verwirklichen; „…die Entwicklung der Wahrheit in der concreten Tätigkeit, das ist das künftige Los der Philosophie überhaupt“ (Czieszkowski). Der prophetische Gestus, die Autosuggestion einer Erneuerung des Christentums auf der Basis des „absoluten Wissens“, den Himmel auf die Erde herabzuholen und die Entfremdung des Menschen von seinem behaupteten Wesen zu 258
13. Von Hegel zu Marx
überwinden, verlieh den Vorkämpfern eines radikalen Fortschrittsdenkens das Pathos und die Gewissheit des Kampfes für die heilige Sache. Daran änderte auch Ludwig Feuerbachs († 1872) Anthropologisierung der Philosophie und Religion erstaunlich wenig. Hegels Chiffre, wonach „Gott im Menschen von sich weiß“, wurde von Feuerbach in dem Sinn radikalisiert dass die Wahrheit des Subjekts (Gottes) im Prädikat liegt. Den Prädikaten: Güte, Weisheit, Gerechtigkeit, Liebe, kommt eigenständige weltliche Bedeutung zu; insbesondere ist Liebe Gott selbst „und außer ihr ist kein Gott“. Der Mensch vergegenständlicht sein angebliches Wesen und macht dann „sich“ zum Gegenstand dieses personalisierten Wesens. „So bezweckt der Mensch nur sich selbst in und durch Gott.“ (Das Wesen des Christentums, 1841). Das war eine Umkehrung von Hegels bzw. Schellings Idee der Weltgeschichte als Entfaltung der Natur Gottes, auch der alten Vorstellung von Philosophie als Gottesdienst. Der Mechanismus des Anthropomorphismus war altbekannt und empirisch nicht unplausibel, doch blieb die Frage nach dem Maßstab, den Kriterien des „menschlichen Wesens“, der Selektion derjenigen Eigenschaften, die in den anthropomorphen Gott projiziert werden (R. Schröder). Feuerbachs romantischer Naturalismus war philosophisch nicht allzu bedeutsam, ja markierte eine Verengung und Enthistorisierung der Hegelschen Thematik; dennoch war sein Einfluss groß und verstärkte den kritisch-emanzipatorischen Trend des linkshegelianischen Lagers. Die „Entfremdung“ wird nicht mehr als produktive Phase im dialektischen Prozess des Fortschritts aufgefasst, sondern als zu überwindendes Defizit, nämlich religiöse Existenz. „Um Gott zu bereichern, muss der Mensch arm werden“; umgekehrt soll die Verneinung des Jenseits die humane Bejahung des Diesseits zur Folge haben (ebenda). Feuerbachs humanistische Korrektur an fehlgeleiteten kulturellen Energien wollte die Aufmerksamkeit von den übersinnlichen Glaubenswahrheiten, auch vom nur-denkenden Ich, auf das sinnlich-konkret Du des Mitmenschen verlagern: Die Einheit von Ich und Du ist für ihn nichts weniger als Gott. Als erstes und letztes Prinzip der Philosophie gilt Feuerbach die Einheit des Menschen mit dem Menschen; es verrät aber ein weltfremdes, schwärmerisches Verhältnis zur Praxis, wenn es weiter heißt, die Religion der Gegenwart äußere sich geradezu als Politik (Philosophie der Zukunft, 1843). Politik findet im Bereich des Relativen statt und verträgt keine Verabsolutierung. Die humanistische Deutung der Religion verbarg die Schwäche ihrer Argumentation hinter gefühlsmäßig nachvollziehbaren Appellen, sodass alle „über Nacht zu Feuerbachianern“ wurden (F. Engels). Das Menschliche galt dem 19. Jahrhundert als ethisch tragfähig und das Unmenschliche nicht erst seit Leibniz als eigentlich unwirkliches, nur zeitweiliges Versagen der im Menschen angelegten positiven Möglichkeiten; das Böse war nur ein dialektischer Moment, der letztlich der Vervollkomm259
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
nung des Menschen dient. Feuerbachs verschwommen-romantisches „Sich-Versenken des Ich im Du“ war aber so wenig eine Garantie gegen das Irrationale und Destruktive, wie Ruges Sich-Versenken des Geistes in Eisen und Dampf eine Bürgschaft für sinnvollen Fortschritt. Die Richtung mochte trotz der rhetorischen Unschärfe eine Zeitlang stimmen. Die „Entlarvung“ des Christentums als Ausdruck der Unmündigkeit und Unfreiheit der Menschheit war in noch radikalerer Gestalt das Anliegen des „Robespierre der Theologie“ Bruno Bauer († 1882). Die im Christentum bzw. im christlichen Staat vermeintlich vollendete Entfremdung von allem, was den Menschen zum Menschen macht, die darin ins Extrem getriebene Verneinung von Natur und diesseitigen Interessen, sollte die Basis bilden für eine totale Wiedergewinnung aller Kräfte der Menschheit. Die Gegenwart galt in diesem Sinn als weltgeschichtlicher Wendepunkt, als letzter Kampf um freie Selbstbestimmung und menschliche Identität, die nicht nur keines Gottes mehr bedarf (Die Posaune des jüngsten Gerichts, 1841), sondern – in Radikalisierung Feuerbachs – erst durch die Befreiung von den Illusionen und Fesseln der Vergangenheit ihre volle Schöpferkraft entfaltet. Die christliche Revolution hatte einst, wie Bruno Bauer glaubt, die Antike zertrümmert, das christliche Ich hatte die äußere Welt „in sich zurückgenommen“, aber dem auf sich selbst gestellten Bewusstsein hatte vor der gewonnenen Freiheit gegraut, so dass statt Weltgestaltung Weltflucht und die Projektion des Wahren ins Übersinnliche zustande kam. Das Diesseits wurde damit wesenlos, in der Chimäre Gott verneinte sich der Mensch, vergewaltigte sich die Natur und hinterließ Leere, Unglück, Passivität, Furcht und Elend. Die Geschichte scheint sich aber zu wiederholen: Die Entfremdung ist bei Bauer, wie Horst Stuke gezeigt hat, Durchgang im ewigen schöpferischen Kreislauf von Produktion und Destruktion. Dieser Widerspruch ist die Triebkraft des Fortschritts und die Revolutionen heben den bisherigen positiven Zustand antithetisch, „vandalisch“ auf, um danach ihrerseits dialektisch negiert zu werden. Das Verhältnis von Vernunft und Geschichte scheint uns allerdings, ohne behutsamen Umgang mit den ‚Sedimenten des Weltgeistes‘, unter gleichzeitiger dezidierter Leugnung jeder metaphysischen Garantie eines sinnvollen Gesamtverlaufs, ein äußerst prekäres zu sein. Bauer nimmt an, dass sich, im Unterschied zu den bisherigen nur partiellen Revolutionen, gegenwärtig eine totale Umwälzung aller Lebensverhältnisse abzeichnet, eine Befreiung von allem irrelevanten historisch Gewordenen, für die ein Terrorismus der wahren Theorie den Weg bereitet (Bauer an Marx am 28.3. 1841). Die Avantgarde einer „tribunalisierten“ Geschichte kokettiert mit der Rolle Robespierres. Es ist nicht nur das Christentum, das nach Bauer den Menschen an der Selbstverwirklichung hindert; auch der immer noch „christliche“, d. h. heteronome, 260
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unfreie Staat bildet durch fehlenden „Mut zu sich selbst“, die Selbsttäuschung über seine freiheitliche Bestimmung – wie bei Ruge – die Wurzel des Unglücks. Auch hier muss eine radikal aufklärende, zur Praxis drängende Theorie („die Theorie ist jetzt die stärkste Praxis“) den Auftakt bilden zur vollkommenen Veränderung der wirklichen Welt. Bauer konzediert, dass es keinen Sinn macht, zu praktischer Gewalt zu greifen, ohne vorherige Vollendung der theoretischen Revolution in den Köpfen der Menschen. Das war nicht als realistische Rückbindung des Neubaus der Welt an herangereifte Aufgaben der Geschichte zu verstehen, wie es Hegels Denken entsprochen hätte:194 Bruno Bauers totale Revolution der Vernunft verstand sich – nicht ganz zu Ende gedacht – als voraussetzungslos-utopischer Neubeginn, den eine intellektuelle Elite aus sich heraus vollziehen sollte. Der radikale Extheologe hatte eine hohe Meinung von der gestaltenden Macht des Geistes behalten; die Zukunft mochte ohne den Ballast der bisherigen Realgeschichte auskommen. Es war deshalb nur konsequent, wenn bei ihm von Hegels ‚Aufhebung‘ in der Bedeutung von Bewahrung und Vollendung der vorangegangenen Fortschritte nur die einfache Negation geblieben war. Um praktische Fragen musste sich der frustrierte Privatdozent keine Sorgen machen. Eine schwärmerische Erwartung des Gottesreichs war für Moses Hess(† 1875) in hohem Maß die primäre Tatsache; sie strahlte auch auf die Vergangenheit als Piedestal der Wahrheit aus: die Idee einer „heiligen Geschichte der Menschheit“ wurde dem Spinozajünger, den der orthodoxe jüdischer Großvater erzogen hatte, zur zentralen Sinnkategorie.195 Schon 1837 hatte der Autodidakt die Geschichte mit der Vision eines Neuen Jerusalem ausmünden lassen, eines neuen heiligen Bundes, in dem Kirche und Staat versöhnt zusammenfallen und die divergierenden Interessen der Völker und Gruppen „innig verschmelzen“ würden. Die chiliastische Erlösungssehnsucht – in Verbindung mit der noch frischen Unrechtserfahrung des Gettos – hatten Hess’ Sensibilität gegenüber der unheilen Gegenwart, dem herrschenden Materialismus und Egoismus, auch dem gegenseitigen Hass der Völker, überaus geschärft, jedoch die freiheitliche Errungenschaft der Trennung von Staat und Religion verkennen lassen. Der Sohn eines jüdischen Aufsteigers hegte keine großen Illusionen über mechanische Erfindungen bzw. wachsenden Gewerbefleiß als Fortschrittslokomotive; sie führten allein dazu, die bestehende Ungleichheit zu steigern. „Sie treiben den Gegensatz des Reichthums und der Armuth auf seinen Gipfel“. Hess vertraute aber auf eine mystische coincidentia oppositorum: Nach den Intentionen des Heilsplans muss es vom Gipfel der Entfremdung zum dialektischen Umschlag in Harmonie und Gleichheit kommen – sei es friedlich, sei es durch revolutionäre Katastrophen (Heilige Geschichte der Menschheit, 1837). 261
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
Einige Jahre später sah Hess die Rolle der Technik positiver: im Anschluss an Aristoteles’ Einsicht in den Zusammenhang von Sklaverei und Unvollkommenheit der mechanischen Geräte wird umgekehrt die Vervollkommnung der Werkzeuge in der Neuzeit und die Perspektive ihrer weiteren Verbesserung Anlass zur Feststellung, „dass lebende und vernünftige Geschöpfe um so weniger zu… Maschinen herabgewürdigt zu werden brauchen, je vollkommener die todten sind“. Diesen grundlegenden Unterschied gegenüber dem Altertum will Hess als „das Reale der Entwicklungsgeschichte des Weltgeistes“ festhalten (Europäische Triarchie, 1841, 91f). Die noch bestehenden Formen menschlicher Unfreiheit und Ungleichheit sind durch den realgeistigen Entwicklungsgang überholt, zum Ärgernis geworden. Das Geschichtsziel, die ‚Wiederherstellung‘ vollkommener Gleichheit und Brüderlichkeit, ja Gottgleichheit, bleibt ein providentiales, obgleich sich die Menschheit im Vollbesitz der Wahrheit „selbst erlösen“ muss: es soll erklärtermaßen das Werk ihrer eigenen, freien, bewussten Tätigkeit sein. Die Philosophie, die diese Gegenwartsdiagnose fällt, glaubt praktisch zu werden, denn: „Ein Geist, der sich in keiner Weise verleiblichen kann, ist steril und leblos.“ Die Menschheitsgeschichte bleibt auch in weltlicher Begrifflichkeit heilsgeschichtlich fundiert und behält nicht zuletzt die Figur des spezifischen Trägers als Sauerteig ihrer Epoche. Die Rolle des biblischen heiligen Geschichtsvolkes wird von Hess zunächst auf das Heilige Römische Reich übertragen, aber geht dann überraschend auf die ganz weltliche europäische Triarchie über, nämlich Deutschland, Frankreich, England als quasi Arme der Vorsehung. Der Kolonialismus der Zivilisation erhält eine metahistorische Mission: Von hier, dem „Mittelpunkt und Seele der cultivirten Welt“, wird heute das Schicksal der übrigen Menschheit gelenkt. Die deutsche Reformation und die französische Revolution figurieren als die beiden ersten „Auferstehungstage“, der dritte wird vom praktischen und industriell entwickelten England ausgehen; im Zusammenwirken der drei großen Völker soll sich das Gottesreich einer heiligen Völkerfamilie verwirklichen (Triarchie, 145). Scheinbar konträr zu Feuerbach, wird bei Hess weltliches Geschehen zur Stufe der Offenbarung Gottes; der Fortschritt ist, wie bei den Kirchenvätern, stufenweise wachsende Gotteserkenntnis, Läuterung des Menschen, bis hin zu einer von Gott durchdrungenen einigen und freien Menschheit. – In den folgenden Jahren hat sich Hess’ Denken äußerlich säkularisiert und dabei weiter vom politischen Liberalismus entfernt:196 Aufklärung und französische Revolution hätten zwar die ärgsten Missstände in Staat und Kirche beseitigt, heißt es in einem Aufsatz von 1843, seien aber halbherzig beim Rechtsstaat und der Vernunftreligion stehen geblieben. Herrschaft und Knechtschaft, bloße Gleichheit vor dem Gesetz, ebenso wie Geistesknechtschaft durch die Jenseitsreligion, hätten heute in beiden Ländern die parallelen Befreiungs262
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schritte Kants und Robespierres überlebt und die definitive „Entüblung“ der Geschichte versäumt. Hess’ schwärmerische Geschichtsteleologie scheint nun zum bloßen Zeitgeist geschrumpft, der – in Gestalt der nach-hegelschen Philosophie und des französischen „wissenschaftlichen Communismus“ – die absolute Geistesfreiheit und die absolute Gleichheit auf die Tagesordnung setzt. Die innere Unfreiheit der Geister stützt noch die äußere Unfreiheit in Staat und Gesellschaft und vice versa; deshalb muss „die Lüge der Religion und Politik mit Einem Schlage und schonungslos entlarvt“ werden. Hess‘ prophetisch inspirierter Radikalismus willl sich nicht mit liberalen Halbherzigkkeiten begnügen. Der ‚heiligen Trias‘: Liberté, Egalité, Unité hat der deutsche und der französische Geist getrennt vorgearbeitet, heute aber stellen die Namen Hegel und Fourier nur Momente eines einzigen Prinzips dar: „Es ist eine wesentlich gleiche Arbeit, die der deutsche und der französische Geist über sich genommen“ (Socialismus und Communismus, in: Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz, 1843, 163). *** Die Enttäuschung durch den preußischen Staat war ebenso verständlich, wie durch das französische Bürgerkönigtum nach 1830: Sie wollten so wenig der Bestimmung des „an und für sich Vernünftigen“ entsprechen, wie sich gegenüber den partikularen Bestrebungen der bürgerlichen Gesellschaft überlegen erweisen. Der Staat, anstatt an der Spitze des Fortschritts zu schreiten, trat so als Garant sehr unvollkommener Zustände und Privilegien auf; doch war die Frustration proportional zu den übermäßigen Erwartungen der Radikalen. Ein überschwängliches Denken war außerstande die kleinen realen Fortschritte zu würdigen, ebenso wenig aber sich mit dem pragmatischen Vorgehen der liberalen Opposition zu identifizieren. Das Ferment, das die Geschichte vorwärtstreiben sollte, wurde von den radikalen Publizisten parallel auf mehreren Feldern, wie der freien Öffentlichkeit (vornehmlich als Plattform für das eigene Denken), der Demokratie (einer eher rhetorischen Formel) und – ansatzweise – im industriellen Wachstum, gesucht; doch neigten die jungen Intellektuellen schon aus Praxisferne zu elitärer Überheblichkeit. Der entscheidende Akteur war für sie die „Philosophie der Tat“ als Demiurg des Weltgeistes, während sich die übrigen Faktoren im Trüben nur partieller Bewusstheit und innerer Widersprüche bewegten. Wie sich der „ständig fortwirkende Maulwurf des wirklichen philosophischen Wissens“ (Marx) der Praxis mitteilt, bleibt das Hauptproblem. Das verbreitete Gefühl der Schule, ans Ende der gedanklichen Möglichkeiten gelangt zu sein, verdichtet sich zu einer Endzeitstimmung, für die die bisherigen Maßstäbe und 263
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geschichtlichen Erfahrungen unmaßgeblich werden und das vermeintliche „absolute Wissen“ nichts weniger als das totale Vernunftreich – in der Sprache der Schwärmer: die Erlösung von den geschichtlich entstandenen Entfremdungen – gelten lassen will. Die Begriffe und Erwartungen der linken Hegelianer, auch ihre Enttäuschungen und Ressentiments, bildeten den unverzichtbaren Grundstock des Denkens auch von Karl Marx († 1883). Von unbändiger Leidenschaft zu wirken erfüllt, stellte sich ihm von Anfang an die Grundfrage nach der Verwirk lichung der Philosophie, im Prinzip: seiner eigenen radikal-hegelianischen Ideen. Der genialische junge Mann verwarf den Gedanken, einen „Friedenstraktat mit den realen Bedürfnissen“ der bürgerlichen Gesellschaft abzuschließen, oder, in einer poetischen Metapher seiner Doktordissertation, wie der Nachtschmetterling nach Sonnenuntergang, das „Lampenlicht des Privaten“ zu suchen. Wenn die Philosophie sich als „Wille gegen die erscheinende Welt“ kehrt, dann war das nicht als subjektiver Willensakt zu verstehen, sondern meinte einen weltgeschichtlichen Augenblick wahrzunehmen, ein Philosophisch-Werden der Welt als die andere Seite des „Weltlich-Werdens der Philosophie“ (Dissertation von 1840). Wie sollte aber die reale Welt den Philosophen entgegenkommen? Außerhalb der hegelianischen Begrifflichkeit konnte damit am ehesten eine revolutionäre Katastrophe gemeint sein, die parallel zur kritischen Theorie reinen Tisch macht. Die teleologische Konstruktion sollte jedenfalls, wie bei Hegel, einen Brückenschlag bilden von Vernunft und Wirklichkeit, mit dem Unterschied, dass nicht das Gewordensein, sondern das kommende „Vernünftig-Werden“ betont wurde. Die linken Hegelianer hatten „Wirklichkeit“, nicht viel anders als der Meister selbst, eher als Schlagwort benutzt, ohne viel Ahnung von den praktischen Lebenszusammenhängen zu haben; der tatsächliche Materialismus der rheinländischen Philister war ihnen ein Greuel. Auch für den jungen Marx war die bestehende „Wirklichkeit“ ein einziger fundamentaler Mangel, und die Wahrheit des Diesseits, die er proklamierte, keine Feststellung dessen, was war, sondern die kritische Entlarvung des Falschen, in Konfrontation mit der Möglichkeit des Authentischen.197 Somit gilt auch die freie Presse, die der 25jährige Chefredakteur als „Spiegel des Allgemeinen“ apostrophiert, geradezu als Instrument, um die materiellen Kämpfe zu geistigen anzuheben, also der Abwendung vom politischen Leben in der bürgerlichen Gesellschaft und der „Verwandlung des Volkes in Privatpöbel“ entgegenzuwirken. Während ihm der Staat immer noch als potentielle Verkörperung der Sittlichkeit und objektiven Freiheit gilt, verrät Gleichgültigkeit diesem gegenüber Eigensucht, Immoralität und Beschränktheit: keine realistische Plattform für ein linksliberales Oppositionsblatt. 264
13. Von Hegel zu Marx
Natürlich erfüllte die preußische Staatsempirie nicht die Bestimmung einer „Wirklichkeit der sittlichen Idee“, sondern schien kaum mehr als eine besondere, bürokratische Sphäre jenseits der anderen beschränkten Sphären zu sein; aber „Bestimmung“ bedeutete für die philosophierenden Literaten, die beschränkte Existenz am Wesen zu messen, in der Erwartung, eine inhärente Dynamik dränge von sich aus zur Verwirklichung und entwickle sich zur realen historischen Kraft. Der Telos der Staatssittlichkeit mochte auf dem Wege der Demokratie dazu führen, den Menschen in ein „allgemeines“, nämlich ein Gattungswesen zu verwandeln. Erst wenn die öffentliche mit der privaten Existenz zusammenfällt, erfüllt sich die Idee des Gemeinwesens, also der res publica. Man erkennt Rousseaus antikes Bürgerideal, das die Identität von Bürger und Mensch postuliert, als Hintergrund von Marx’ Kritik des Hegelschen Staatsrechts (1841/42): ein rückwärtsgewandtes, gleichwohl explosives Ideal, das bezeichnend für den bürgerlichen Alltag, für Erwerb und Handel, nur die verächtliche Bezeichnung einer „gedankenlos genießenden Tierwelt der Philisterei“ hat. Der Bürger-Philister stellt im übrigen alles andere als den Gegensatz zur fürstlichen Gewalt dar, sondern bildet gerade „das Material der Monarchie“; woraus für den zornigen Journalisten nur folgen kann: rücksichtslose Kritik alles Bestehenden. Dazu wollte nicht passen, dass man keine dogmatische Fahne aufzupflanzen, keine neuen Doktrinen zu verkünden, sondern nur der Welt zu erklären gedachte, worum sie „eigentlich“ kämpfe. Ganz hegelianisch sollte es, unter scheinbarer Vermeidung jeder Willkür, um die epochale Selbstverständigung gehen, die Feststellung dessen, „was an der Zeit ist“. Das Politische behielt dabei seinen Primat, sein Privileg des historisch Relevanten gegenüber den Bereichen der bürgerlichen Gesellschaft (Ein Briefwechsel, 1843).198 So weit so gut Marx’ junghegelianische Ansätze, an deren Praxistauglichkeit allerdings gleiche Zweifel angebracht waren, wie am Anspruch auf Objektivität der Analyse im Hinblick auf den immer wieder beobachteten Marxschen Wesenszug einer schroffen intellektuellen Arroganz und Neigung zur Rechthaberei („jeden, der ihm widersprach, behandelte er mit kaum verhüllter Verachtung“, erinnerte sich z. B. Carl Schurz). Das kurze Zwischenspiel einer pragmatischen Zusammenarbeit mit der liberalen rheinländischen Opposition war ebenso zu Ende, wie die akademischen Berufspläne, und Marx’ „von wütendem Ehrgeiz getriebener Geist“ (G. Mann) ging fortan eigene Wege, markiert von „galliger händelsüchtiger, weitschweifiger Polemik“ (F. Mehring) gegen die bisherigen beschränkten Bundesgenossen. Fast ohne inneren Bruch klingen neue Töne an: im Zusammenhang mit seiner Kritik an der Menschenrechtsdeklaration der Revolution von 1789. Ruges demokratischer Staat gilt jetzt als bürgerlicher Staat, der sich mit nur politischer, nach Marx neuer Einsicht: halber, Emanzipation begnügt, nämlich gleichen 265
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
politischen Rechten. Die Differenzierungen der bürgerlichen Gesellschaft, die der Geburt und des Standes, der Bildung und Konfession, vor allem die des Privateigentums, bleiben außerhalb der „spiritualistischen“, unwirklichen Sphäre des politischen Lebens bestehen und zeigen auf eine egoistische Trennung des Menschen vom Menschen, wie vom Gemeinwesen. Feuerbachs Purgatorium der Gegenwart, die Forderung einer Zurücknahme der religiösen Entfremdung, der Einheit von Ich und Du, Hess’ schwärmerische Erwartung einer über die halbherzige französische Revolution hinausgehenden egalitären Revolution, das waren Impulse, die Marx’ Sicht der Dinge vorantrieben und insbesondere die politische Demokratie als unzureichend erscheinen ließen. In dieser gelte zwar der Mensch als souverän, aber nur der durch die bisherige Geschichte verdorbene Mensch, „sich selbst verloren, veräußert, unter der Herrschaft unmenschlicher Verhältnisse“. (Zur Judenfrage, 1843). Dass die Revolution keinen neuen Menschen geschaffen hatte, ja die von ihr proklamierte Freiheit durch Willkür und Leidenschaften der verdorbenen alten Gesellschaft erstickt wurde, war von Kritikern der Revolution schon immer vorgebracht worden. Marx stößt in dieses Horn insofern, als die politische Emanzipation, die zugleich eine Emanzipation des staatsuntauglichen bürgerlichen Egoismus von der Politik war, nicht den „Gattungsmenschen“ zur Herrschaft gebracht habe, sondern isolierte, gegeneinander abgeschottete Monaden, zusammen mit der anonymen Macht des Geldes, das den Menschen beherrscht und die menschlichen Beziehungen verfälscht. Das von historischen Studien noch unbeschwerte Bild der Revolution und des entfesselten Kapitalismus war nicht falsch; fragwürdig war der romantische Begriff „Gattungsmensch“, der sich nicht mit Marx’ hegelianischem Programm vertrug, keine Doktrinen zu verkünden, sondern das Sollen immanent aus dem rationalen Geschichtsprozess zu entwickeln; fraglich auch, ob Feuerbachs romantischer Naturalismus als Emanzipationsinstrument taugte und nicht auf eine kollektivistische Zurücknahme der zivilisatorischen ‚Entfremdungen‘ abzielte. Nicht zuletzt war da ein Gegensatz zwischen Marx’ neuer quasi naturwissenschaftlicher Attitüde und seinem prophetischen Zorn über den Götzendienst am Mammon; das apokalyptische Gefühl scheint durch die säkulare Verkleidung hindurch und ist noch aus einem scheinbar relativierenden Historismus nachzufühlen, der die Revolution von 1789 einer bestimmten, nämlich bürgerlichen, Entwicklungsstufe zuordnet. Sansculottische Methoden, die die Spaltung zwischen dem citoyen und dem bourgeois aufheben wollten, bedurften – der Guillotine, und konnten nach Marx’ Meinung infolge des Widerspruchs zu den gegebenen Lebensbedingungen nur vorübergehender Art sein (ebenda). Wirklichkeit ist durch Wirken zu erschließen, aber bloßer revolutionärer Elan kann den Zeitgeist nicht überlisten; Geschichtsphasen lassen sich gerade nach 266
13. Von Hegel zu Marx
Marx‘ Ansicht nicht überspringen. Das schien jetzt die Figur des „Entgegenkommens der Wirklichkeit“ zu bedeuten – als naturwüchsige Logik der Geschichte. Die französische Revolution, so glaubt Marx, konnte noch keine ‚menschliche‘ Emanzipation herbeiführen, diese bleibt aber einer späteren Phase vorbehalten. Das historische Fortschreiten verläuft nach dem Muster der Entwicklung naturteleologischer Anlagen; zumindest besitzt die Wirklichkeit Prozesscharakter und jeder Zustand hat, bei allem Unheil, seine immanente Vernunft als Durchgangsstadium eines sinnvollen Gesamtverlaufs. Die hegelsche Anerkennung der jeweiligen Stufen des objektiven Geistes wird bei Marx zur unhintergehbaren Basis materieller Lebensbedingungen als Voraussetzung jedes Handelns und Denkens. Der Geschichte, deren Chiffre die Selbsterzeugung des Menschen durch Arbeit ist, aber den Menschen immer wieder zum Spielball selbstgeschaffener, entfremdeter Kräfte werden lässt, wird trotzdem eine emanzipatorische Dynamik zugeschrieben. Die vorweggenommene Zukunft. die die Geschichte letztlich strukturiert und die Gegensätze der unversöhnten Gegenwart aufzuheben verspricht, nimmt dabei eine ungewollte Ähnlichkeit mit Feuerbachs illusorischem Jenseits an, jener als Wunschvorstellung entlarvten Kompensation des realen Elends.199 Marx wollte die junghegelsche Ideenakrobatik, die zwar auf Wirklichkeit rekurrierte, aber diese doch nur „anders interpretierte“, hinter sich lassen, und er hatte deshalb seine Philosophie als praktisch eingreifendes Organon einer konkreten sozialen Wirklichkeit zugeordnet, die sich ihrerseits „zum Gedanken drängte“: Hegels Zu-sich-selbst-Kommen des Geistes in Gestalt einer utopischen Gemeinschaft ohne Zwänge der Arbeitsteilung und Entfremdung. Die Konstruktion der Zukunft sei „nicht unsere Sache“, schrieb er 1843 an Ruge, doch sein Bild eines eigengesetzlichen Entwicklungsprozesses war trotz aller Dementis auf ein letztes harmonisches Geschichtsziel bezogen: die Beseitigung einer Gesellschaft, in der der Mensch ein erniedrigtes und geknechtetes Wesen ist. Das war Marx durchaus zugute zu halten, aber widersprach seinem kaltschnäuzigen Verbot von Werturteilen und „Gesinnungsexerzitien“ (H. Fleischer), die nichts zur Klärung der Wirklichkeit beitrügen. Es war nur zu verständlich, dass der alles entlarvende Philosoph der historischen Praxis (die nichts mehr als die „Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen“ sein wollte), die eigene Religion der Zukunft nicht als Projektion durchschaute.200 Den Menschen von seinen Illusionen befreien, damit er als enttäuschter, zu Verstand gebrachter Mensch denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte (Marx), war besser gedacht, als in der Praxis durchzuführen. Und der Standpunkt der vollendeten Einsicht, als Einheit von emanzipatorischem Willen und objektivem Geschichtsprozess, war der Illusionen größte. Marx stellte als Hauptzug der bisherigen Geschichte das „Sich-Festsetzen der sozialen Tätigkeit zur 267
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
Gewalt über uns“ fest (Deutsche Ideologie, 1846); die Ideen waren bloße „Sublimate des materiellen Lebensprozesses“; als bloßes „bewusstes Sein“ besaßen sie gar keine eigene Geschichte und blieben der Übermacht der „materiellen“ Verhältnisse ausgeliefert. Wie die denunzierte ordinäre Religion, so bedurfte auch Marx’ Religion der Zukunft der Verstärker durch Illusionen und Vermittler, die die vermeintliche Wahrheit in die Sprache der Leidenschaft und des Interesses übersetzten. Die Idee habe sich immer blamiert, hieß es später, sobald sie sich vom Interesse unterschied. Deshalb sollte sich die Leidenschaft in Marx’ Kopf in den „Kopf der Leidenschaft“ verwandeln, sollte seine philosophische Kritik zur „Kritik im Handgemenge“ werden, zur materiellen Gewalt einer Revolution radikaler Bedürfnisse. Hegels weltgeschichtliches Volk kehrt wieder als negativer Repräsenant der bürgerlichen Gesellschaft, der alle Mängel dieser Gesellschaft in sich konzentriert: ein Stein des Anstoßes, der dazu bestimmt ist, zum Eckstein des Neuen zu werden (Einführung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1843). Es war eine kühne Behauptung, das Proletariat, sozusagen die vollendete Entfremdung, zur „materiellen Waffe“ des radikalen Denkens zu erheben, seine stufenweise demokratische Befreiung für unmöglich zu erklären und, umgekehrt, einen Zustand des „Unrechts schlechthin“ in totale Emanzipation – des Proletariats, wie der übrigen Gesellschaft – umschlagen zu lassen. „Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proleteriats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“ Die Realität war differenzierter an beiden Polen des Marxschen Imperativs. In weniger mystische Sprache übersetzt, mochte die Formel bedeuten: ein Sieg des liberalen Bürgertums würde das Lohnverhältnis, und damit die Klassengesellschaft, bestehen und die Geschichte banal versanden lassen.201 Aber war die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln das „Ende aller Entfremdung“? Zweitens war es die inkonsequente, aber zukunftsträchtige Einsicht, das reale Proletariat brauche einen philosophischen Vormund, eine Avantgarde, die die spontane Neigung zu kleinen Verbesserungen innerhalb des bestehenden Systems, bzw. die zerstörerische Arbeit der sozialen Revolution, ins Flussbett einer „wahrhaft menschlichen“ Emanzipation lenkt. Die Nachgeborenen sind durch Schaden klüger geworden. Andere Marxsche Formulierungen lassen hoffen, dass der Mensch, immer das Erzeugnis seiner eigenen Arbeit, somit auch die revoltierenden Massen, im Zuge der Aufhebung der deformierenden Verhältnisse sich selbst erziehen: die Erwartung freier Selbstentfaltung, dem mystischen Ineinander-Umschlagen der Gegensätze nicht unähnlich. 1852 sprach Engels von den Mitstreitern im „Bund der Kommunisten“ als einer „Bande von Eseln, die auf uns schwört, weil sie uns für ihresgleichen hält“ (nach Th. Stammen, 258). – Die Menschheit 268
14. Positivismus und Liberalismus
stellt sich immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, behauptet Marx später, im berühmten Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie (1859), aber hinter der „Menschheit“ steckt der Diagnostiker bzw. enttäuschte Revolutionär Marx, der seine Wunschvorstellungen abgesichert sehen will durch vorhandene „materielle Bedingungen“, als Lösungen, die schon „im Prozess ihres Werdens begriffen“ sind. Das war Beschwörung in pseudowissenschaftlichem Gewand, kantisches „Fürwahrhalten in praktischer Absicht“, das der Gängelung der Geschichte durch den „subjektiven Faktor“ bedurfte (den man zuvor zum Überbau-Epiphänomen erklärt hatte). Die „Widersprüche zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen“, das „Gesetz zunehmender Verelendung“ etc. sollten an seiner Statt den objektiven Gang der Geschichte weitertreiben, bis zur Eroberung der Staatsmacht, gegenwärtig ein reiner „Ausschuss der Bourgeoisklasse“ und ihrer Ersetzung durch die Diktatur des Proletariats. Die anschließende Umfunktionierung des Staates im Dienst des Proletariats war nicht mehr Gegenstand von Marx‘ Überlegungen: Zwar sollte gelten: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen (Kritik des Gothaer Programms, 1875), aber auch der Grundsatz, wonach sich Freiheit „jenseits der eigentlichen materiellen Produktion“ verwirklicht.
14. Positivismus und Liberalismus Das Erlebnis der Revolution, die ja nicht einfach die beschleunigte Durchsetzung der Vernunft in der Tradition Condorcets zum Inhalt hatte, sondern mit einem Vierteljahrhundert von Krieg und Gewalt verbunden war, einer „Selbsterfindung der Nation durch kollektive Anstrengungen“, bildet eine entscheidende Wegmarke im französischen Geschichtsdenken. Katholische Ultras diabolisierten die Revolution und verurteilten die Vermessenheit, Staat und Gesellschaft ohne Rücksicht auf Tradition und christliches Sündenbewusstsein, wie eiserne Brücken auf dem Reißbrett, entwerfen zu wollen; höhnisch zog man die Lehren aus dem vermeintlichen Scheitern „der Aufklärung“. Der noch nicht dreißigjährige Emigrant François-René de Châteaubriand († 1848) denunzierte – lange vor seiner Entdeckung des Génie du Christianisme und der Ästhetik des Mittelalters – den revolutionären Voluntarismus als typischen Ausdruck von Ignoranz: der Gang der politischen Welt folge nicht weniger strengen Gesetzen als der der Gestirne; wenn die Geschichte etwas lehrt, dann die ewige Wiederkehr des Gleichen. Den Zyklen der Geschichte entsprächen Analogien, wie die zwischen Mazedonien und Preußen, oder zwischen griechischer und franzö sischer Aufklärung, Athen und Paris, Platon und Rousseau, Spartanern und 269
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
Jakobinern. Die Gesetzmäßigkeiten wirken unbewusst: Die egalitaristische Tyrannei wurzelt in Tendenzen der alten Ordnung, deren Absolutismus von der Revolution ins Unerträgliche gesteigert wird; doch sind die Revolutionen nach Châteaubriand so unvermeidlich wie der auf sie folgende Wiederaufstieg (Essai historique…sur les révolutions anciennes et modernes, 1797). Dies war aber so wenig die Hauptlinie des französischen Denkens zu Beginn des Jahrhunderts, wie de Maistres Verständnis der Revolution als Werk der strafenden Vorsehung. Spätestens seit dem 18. Brumaire zeigte sich der gemeinsame Zeitgeist in der Ablehnung von Subjektivismus, in der Suche nach einer wissenschaftlichen nicht-willkürlichen Ortsbestimmung der Gegenwart. Diese Tendenz äußerte sich häufig als Ablehnung von Voltaires „fliegenden Fischen“ – der vermeintlich inkompetenten freischwebenden Philosophen, die man jetzt Ideologen nannte und für das Abgleiten der Revolution verantwortlich machte. Wie de Bonald alle egoistischen Einzelwillen und Sonderinteressen im Keim ersticken und beruflich-körperschaftlich zu integrieren empfahl, so sollten praktische Wissenschaften die Metaphysik der „littérateurs sans véritable science“ beerben. J. Mallet du Pan († 1800), ein anderer französischer Emigrant, verband mit der Revolution einen willkürlichen Einbruch der Barbarei: einen Rückschritt auch insofern, als Revolution und Krieg nicht zu trennen sind und in der Tat mit tieferen Zäsuren verbunden werden können als ein bloßer Elitenwechsel. Das 18. Jahrhundert glaubte, wie wir gehört haben, dass das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft, Arbeit und friedlicher Tausch, die schrittweise Vermeidung von blutiger Gewalt das Gesetz des Fortschritts bildet. Nach diesem Kriterium beurteilten viele, am wirksamsten der liberale Publizist Benjamin Constant († 1830), auch das neue Kaiserreich. Die Revolution habe das Gesetz der Moderne missverstanden und nicht bemerkt, dass der neuzeitliche, im wesent lichen private Freiheitsbegriff dem antiken, öffentlichen Freiheitsverständnis widerspricht. Analog beruhte nach Constants Meinung Napoleons Herrschaft mit ihrem anachronistischen Prinzip militärischer Gloire und Eroberung auf einem Missverständnis, einem Verkennen des Zeitgeistes mit seinen maßgeblichen bürgerlichen Werten. Das einzige Ziel moderner Nationen ist Ruhe, mit dieser zugleich Wohlstand und als Quelle des Wohlstands der Fleiß (De l’esprit de conquête et de l’usurpation, 1813).202 Constant hatte mit den Denkern der ultraroyalistischen Gegenrevolution wenig im Sinn; individuelle Freiheit, persönliche Meinungs- und Gewerbefreiheit galten dem Vater des kontinentalen Liberalismus jedoch mehr als aktive Teilnahme an kollektiver Willensbildung; der Macht gegenüber blieb Constant misstrauisch, auch oder gerade wenn sie auf Volkssouveränitat beruhte: deshalb war Machtkontrolle durch einander gegenseitig im Gleichgewicht haltende Institutionen für die neuzeitliche Freiheit entscheidend.203 Wenn Constant das 270
14. Positivismus und Liberalismus
Wahlrecht an Privateigentum band, dann entsprach das einer verbreiteten nachjakobinischen Überzeugung, dass erst materielle Unabhängigkeit selbständiges politisches Urteil ermöglicht, während die Herrschaft besitzloser Klassen Staat und Gesellschschaft in Willkür und Niedergang stürzt (Principes de politique, 1815). Diese „sozialdefensive“ Interpretation des Liberalismus (H.-G. Haupt) war das Ergebnis der Erfahrung mit einer entgleisten Revolution, wohl auch Ausdruck eines hohen Sicherheitsbedürfnisses, einer Mentalität, die zwar nicht unbedingt einem ruhigen Rentnerdasein zuneigte, aber doch vor Experimenten, Neuerungen, auch unternehmerischem Risiko, zurückscheute: entsprechend war die französische Industrialisierung bis 1830 nicht über erste Anfänge hinausgekommen; die notwendigen Kapitalinvestitionen gingen in ausländische Eisenbahnen und Gaswerke. Die französische kapitalistische Wirtschaft glich einem Überbau auf dem Fundament einer unbeweglichen bäuerlich-kleinbürgerlichen Gesellschaft (Hobsbawm). Die politische und gesellschaftliche Desorientierung durch wiederholten Kontinuitätsbruch rief über die politischen Lager hinweg nach Verarbeitung und Integration der jüngsten Erfahrungen, nach Verständigung der Öffentlichkeit über die Bedingungen des gegenwärtigen Handelns. Parallel zum Glauben an die Wissenschaft, bot sich die Geschichte an, gewiss manchmal als Medium einer romantischen Flucht aus der heillosen Gegenwart, doch vorwiegend als politische Orientierungshilfe. Die Restauration der Bourbonen und der reaktionäre Kurs der zwanziger Jahre veränderten dabei die Ausrichtung der Kritik und mit wachsendem Abstand auch die Einstellung zur Revolution, deren ursprüngliches Anliegen nun rehabilitiert wurde. Das Revolutionsgeschehen emanzipierte sich für eine neue Generation allmählich von der Verbindung mit dem ‚überflüssigen‘ Schrecken und wurde zum Paradigma eines zwar dissonanten, aber letztlich einzigen Fortschritts. Wenn Germaine de Staël die Jakobinerrepublik als „fünfzig Jahre verfrüht“ kritisierte, erklärte sie damit die hässliche Tyrannei Robespierres, das „Abgleiten in Dantes Hölle“, durch das Missverhältnis zum Bewusstsein des Volks, äußerte aber zugleich ihren Glauben an fortschreitende freiheitliche Bildung.204 Der noch neue „Entwicklungs“begriff versöhnte zwar nicht die Protagonisten (Benedetto Croce), aber führte zumindest dazu, der Vergangenheit als Ganzem gerechter zu werden. François G. Guizot († 1874), südfranzösischer Calvinist, dessen Vater selbst dem jakobinischen Terror zum Opfer gefallen war, glaubte dennoch an eine weise Vorsehung und als deren Ausdruck die marche progressive de la civilisation. Damit waren nicht allein Fortschritte im wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlicrien Bereich gemeint. Die „Zivilisation“ war für Guizot allgemeine Norm, Bestimmung der Menschheit, zentrale Leitvorstellung und Wertmaßstab für den Historiker wie den Politiker. Der Akzent lag auf 271
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
Recht und Freiheit im bürgerlichen Verständnis von Justemilieu; im Zuge einer nationalen Sammlung durfte der stolze Nachdruck nicht fehlen, dass Frankreich stets das Zentrum, le foyer de la civilisation de l’Europe, gewesen sei. Der Zivilisationsbegriff, vor der Revolution noch ein Neologismus, besaß, trotz rhetorischer Degradierung zum abstrakten Schlagwort, traditionell einen aufklärerischen Impuls, ein Element aktiven Strebens zu praktisch-ziviler Vernunft und der Befreiung von Abhängigkeiten jeder Art.205 Beim Juristen Guizot verlagerte sich der Schwerpunkt stärker zum notwendigen institutionellen Gefüge als Dach und Sanktion des menschlichen Handelns. Der gemäßigte Liberale bewunderte den englischen Weg zur konstitutionellen Freiheit und hielt sogar viel von der Philosophie Kants, glaubte aber gerade deshalb auch an die Wichtigkeit institutioneller Festlegungen. An der französischen Geschichte meinte er das gegenseitige Durchdringen der für die Zivilisation konstitutiven antiken, germanisch-feudalen, munizipalen und kirchlichen Elemente am besten aufweisen zu können; trotz des erfolgreicheren England sei die geistig-soziale Umgestaltung des übrigen Europa doch eher von Frankreich ausgegangen (Histoire de la civilisation en France, 1829/31). Guizots Vorlesungen, eine Wiederaufnahme des Anliegens von Voltaires Essai sur les moeurs, doch ohne dessen kirchenfeindliche Spitzen, sind um große Prinzipienpaare zentriert, gleichwohl keine reine Ideengeschichte, sondern vorwiegend auf deren praktische Auswirkungen bezogen, die seine eigenen Bemühungen rückversichernd abstützen. Geschichte ist in Guizots Verständnis, wie bei Hegel, kein Kultur-Panoptikum, sondern ein großer zielgerichteter Prozess, der kaum den Zufall kennt: „Zu logisch, um wahr zu sein“, spottete Sainte-Beuve. Die nach-aufklärerische Wendung zur Gesellschaft und ihren realen Einrichtungen meinte keine Eliminierung des moralischen Urteils, im Gegenteil: Es war gerade bezeichnend für Guizot, dass er, manchmal auf penetrant-schulmeisterhafte Weise, Moral und Realpolitik zu verbinden suchte (R. Stadler). Sein Wille zu fester Ordnung, bei Vermeidung von Willkür, forderte die Eingrenzung monarchischer Macht nach innen und außen: ein Fazit von Guizots Beschäftigung mit der englischen Revolutionsgeschichte in didaktischer Absicht. Auf der Insel war es, anders als in Frankreich, schließlich gelungen, ein Gleichgewicht der inneren Kräfte, revolutionärer Freiheit und tradierter Ordnung, herzustellen, nicht zuletzt Klassenkampf und überspannte Forderungen der Volksschichten einzudämmen. In der Julirevolution von 1830, die den Historiker in diverse Ministerämter hob, begrüßte dieser mit Genugtuung den anstehenden politischen Schlussstein: die französische Version der Glorious Revolution von 1688. Damit hielt Guizot, wie Hegel der zwanziger Jahre, den vernünftigen Teil des Revolutionszyklus für abgeschlossen; in den 1840er Jahren wird er zum Kon272
14. Positivismus und Liberalismus
servativen, der seine Zeit nicht mehr versteht. Was ehemals Demokratie war, würde jetzt Anarchie sein. 206 Weniger an allgemeinen Prinzipien, dafür stärker an Einzelheiten interessiert und „provozierend objektiv“ war Adolphe Thiers († 1877), Advokat, Journalist, Historiker, Minister, schließlich Staatspräsident der III. Republik. Thiers, der, wie Guizot, aus Südfrankreich stammte, war ebenfalls anglophil, aber in einem weniger doktrinären Sinn: im Grunde Anhänger der jeweiligen Ordnungsmacht, die napoleonische eingeschlossen. Als Historiker fehlte dem nüchternen Nacherzähler vordergründiger Ereignisse jedes Verständnis für geschichtsphilosophische Betrachtungen (ebenso wie für alles, was den nationalen Horizont überstieg), nichtsdestoweniger war er vom historischen Recht und der Folgerichtigkeit des kollektiven, auch des revolutionären, Geschehens, voll überzeugt. Nicht unkritisch gegenüber der Irrationalität der unterbürgerlichen Massen, hielt er trotzdem Leidenschaften für ein Attribut geschichtlicher Größe, die er den Jakobinern nicht absprechen wollte. Auch ohne Guizots Vorsehungsglauben sah er im Verständnis seiner bürgerlichen Werteskala einen logischen Pendelschlag der Ereignisse, der von den Extremen stets zur vernünftigen Mitte zurückschwingt; insgesamt, erklärt Thiers kämpferisch, habe die Revolution Frankreich um Jahrhunderte vorangebracht. Der Fortschritt ist nicht zimperlich in der Wahl seiner Zugpferde (später wird man von Lokomotiven sprechen. Aber man sollte immer genauer hinsehen). Thiers’ Histoire de la Révolution française (1823/27), die nach Meinung Fueters den Scharfblick für die Nähe mit Mangel an Weitsicht und Sinn für die breiteren Zusammenhänge verbindet, wurde mit 200 000 verkauften Exemplaren ein Riesenerfolg. Die spätere vielbändige Geschichte des Konsulats und des Kaiserreichs (ab 1845) ließ den Liberalen zugunsten des Bewunderers nationaler Machtpolitik zurücktreten; sie wurde zur Hauptquelle der Napoleonlegende. Thiers’ Freund François Mignet († 1874) war noch stärker von der inneren Notwendigkeit der revolutionären Ereignisse überzeugt, „die es ebenso unmöglich war zu vermeiden, wie sie zu leiten“. Auch der dritte Südfranzose unter den liberalen Revolutionshistorikern begann seine Karriere in den Salons der Pariser Opposition, der er mit seinen Geschichtswerken Stichworte lieferte. – Châteaubriand, der von seinem frühen strikten Determinismus abgekommen war, warf der Schule der Revolutionshistorie nun seinerseits vor, sie schaffe persön liche Verantwortung aus der Welt; andere Beobachter fühlten sich geradezu an – Bossuets Vorsehungsglauben erinnert. Das war übertrieben, aber Mignet glaubte analog zu den Ultras, die subordination des hommes aux choses erkannt zu haben, eine Eigengesetzlichkeit des Geschehens, das den Akteuren über den Kopf wächst, die logische Verkettung und den letztlich unaufhaltsamen Gang der Ereignisse: nicht ganz falsch, aber letztlich doch ein romantischer Mythos, der nicht nur Karl Marx beeindruckte. 273
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
Mignets ‚gesetzmäßiges Revolutionsgeschehen‘ weist eine Abwärtskurve, einen inneren Abnutzungseffekt auf: Anfangs triumphiert die Idee der Freiheit, die verdrängt wird vom Glauben an Gleichheit und Republik; „zu Beginn des Direktoriums glaubte man an nichts mehr“. Später wird es heißen: „Die Franzosen warfen sich dem Kaisertum in die Arme, wie früher der Revolution.“ Das praktische Lehrstück mit bedacht, sollte das allerdings zu denken geben über den unsicheren Freiheitsimpuls von radikalen Bewegungen. Dennoch war Mignet von der Unverlierbarkeit der großen Ideen der Revolution und dem schließlichen Triumph „der Wahrheit“ so überzeugt, wie die zeitgenössischen Physiker, die das Gesetz von der Erhaltung der Energie formulierten: einer von ihnen war Sadi Carnot († 1832), der Sohn des Revolutionsgenerals. Sechs Übersetzungen von Mignets Histoire de la Révolution française (1824) überzeugten die Deutschen trotzdem nur wenig.207 Die Einstellung zur Revolution hatte auch in Frankreich nicht nur mit Mentalitäten, sondern auch Interessen und ganz konkreten Berufschancen zu tun. Der Weg für ehrgeizige Aufsteiger aus den Mittelschichten führte, wie auf dem übrigen Kontinent, meist über den staatlich normierten Bildungsweg und von da häufig wieder in den Bereich staatlicher Verwaltung. Der Staat schien doppelt verantwortlich für ihre schlechten Karrierechancen zu sein: indem er, schon aus Furcht vor einem akademischen Proletariat, den Zugang zu den Universitäten begrenzte, und daneben durch Zensur, polizeiliche Kontrollen und Patronage die Selbstverwirklichung der ungeduldigen jungen Gebildeten behinderte (Ch. Charle). Aufgrund dieser Interessenlage hatte Freiheit für sie auch die Bedeutung gleicher Aussichten im Staatsdienst. Die Integration der vielen Ehrgeizigen gelang aber nirgends, obwohl das extrem bürokratisierte Frankreich dies seit der Julirevolution in Ansätzen versuchte, nicht zuletzt als Institutionalisierung und Professionalisierung der Geschichte; die Initiatoren waren politisierende Historiker, wie Guizot und Thiers.208 Geschichte wurde dadurch zu einer staatlich organisierten und geförderten nationalen Institution; eine Société de l’Histoire de France sowie ein Comité des travaux historiques sorgten nicht zuletzt für den patriotischen Charakter der Diskurse; 1830 wurde der Agrégé, das Staatsexamen für Geschichte, eingeführt. Guizot betraute Thierry mit der Herausgabe von Dokumenten zur Geschiche des Dritten Standes; Mignet als Direktor des Archivs für auswärtige Angelegenheiten beschäftigte so manchen bei weiteren Quelleneditionen. Allein 1834–38 erschienen vierzig Bände Quellenmaterial zur Revolution. Das erwachte Selbstbewusstsein der Historiker, ihre Überzeugung, über eine objektive Methode der Wahrheitsfindung zu verfügen, ruhte vor allem auf der Erwartung, auf der Basis präzise ermittelter historischer Tatsachen Orientierung und Legitimierung der gegenwärtigen Praxis bieten zu können. „Chaque 274
14. Positivismus und Liberalismus
fait est le signe d’une idée“ , deklarierte Augustin Thierry (über ihn weiter unten). Das konnte aber nur heißen, dass die historischen Fakten gerade keine neutralen, „naturwissenschaftlichen“ Phänomene waren, sondern über strukturelle und kausale Erklärung hinaus Sinn beanspruchten – und folglich nur als Zeichen, als Wertbeziehung, im kulturellen Kontext des nationalen Diskurses, erschlossen werden konnten. Das wurde aber nicht reflektiert, sondern eine historische Spielart des positivistischen Wissenschaftsglaubens praktiziert, ein Objektivismus, der „ein Ansich von gesetzmäßig strukturierten Tatsachen vorspiegelt“ (Jürgen Habermas), ohne sich deren vorgängiger Konstituierung bewusst zu sein. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden zusammen gehalten nicht nur durch ein verbürgerlichtes historisches Bildungsideal, sondern auch den Glauben an die wissenschaftlich erschließbare eine Wirklichkeit. Mit dem Vordringen des naturwissenschaftlichen Denkens verschob sich im Bewusstsein fortschreitender Verfügungsmacht des Menschen, das Interesse an der Vergangenheit in Richtung Gegenwart, bzw. auf Comtes „Wissen um vorherzusehen“. Die Industrie wird zum „neuen König der Welt, der sich die Materie unterwirft“, erklärte auch Jules Michelet († 1874), Historiker, Vico-Übersetzer und antiklerikaler französischer Patriot. Der Mensch war für ihn sein eigener Prometheus und die Menschenrechte, ein säkulares Evangelium, die Proklamation seiner angeborenen Werte. Anders als E. Quinet, für den die Revolution einen pseudoreligiösen Aufruhr darstellte, kritisierte der Demokrat die Jakobiner vor allem wegen ihrer Nachahmung katholischer Praktiken. Es war fragwürdig, der Geschichte als quasi Naturprozess eine freiheitlich-emanzipatorische Dynamik zu unterstellen oder auch nur von erhöhtem technischen Wissen und Können tragfähige gesellschaftliche Lösungen zu erwarten; auch aus komplettierter Kenntnis der Vergangenheit entsteht noch keine Handlungsanweisung für die Gegenwart. Die „Lehren aus der Vergangenheit“ – liberale, patriotische, progressistische, legitimistische – wurden allesamt in diese hineingelesen. Michelet war stolz darauf, sein Geschichtswerk erstmals auf der Basis ungedruckter Quellen, also scheinbar authentischer Erkenntnis verfasst zu haben, aber er war kein „Positivist“ im Sinn bloßer Deskription; er wusste, dass ein Historiker, der versucht, sich selbst auszulöschen und zum bloßen Knecht seiner Urkunden wird, aufhört, Historiker im kreativen Sinn zu sein. Das bedeutete nicht nur verfeinerte Methodik bei der Rekonstruktion des Vergangenen, sondern immer auch: Auswahl des Relevanten, Integration des Disparaten, Streit um die richtige Entscheidung, Einsicht aufgrund des Wissens vom Weitergang der Geschichte (das den Akteuren selbst fehlt). Michelets Fortschrittsbegriff ist entsprechend differenziert: in dem Maß, in welchem die menschliche Fähigkeit zur Beherrschung der Natur wächst, steigen nach seiner Beobachtung auch Empfindlichkeit und Problembewusstheit. Somit kann z. B. gerade die Reduzie275
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
rung realer Existenzsorgen von mehr Klagen und Zukunftsängsten begleitet sein (eine Erkenntnis Tocquevilles); die Übertragung eines späteren Bewusstseins auf frühere Zeiten wäre schon deshalb ein problematisches Vorgehen . Solche Einsichten blieben vereinzelt; man zögerte vor allem keinen Augenblick, das eigene hohe Nationalbewusstsein in die Vergangenheit hineinzutragen und für Gegenwartsfragen zu instrumentalisieren. „…ich glaube, dass unsere Vaterlandsliebe viel an Reinheit und Festigkeit zunehmen würde, wenn die Kenntnis der Geschichte bei uns allgemein verbreitet… wäre“, äußerte Augustin Thierry († 1856), romantisch inspirierter Historiker des französischen Dritten Standes. Thierry hatte sich nach dem Sturz Napoleons für die Idee einer europäischen Reorganisation begeistert und die Nationen als friedliche Industriegesellschaften regieren wollen; das Lob der städtischen Mittelklasse und der Erfinder verband sich bei ihm mit dem Hass auf die Eroberer sowie der Aussicht auf ein Goldenes Zeitalter vor uns. Nach Thierrys Bruch mit Saint-Simon und den liberalen „Industrialisten“ nahm sein bürgerliches Selbstbewusstsein („Il y a aussi une gloire pour la roture“, es gibt auch bürgerliche Arten von Ruhm) kämpferisch-völkische Züge an; der Gegensatz von Privilegierten und Unterdrückten schien ihm ein ethnischer zu sein. Der vorrevolutionäre Streit zwischen Dubos und Boulainvilliers wurde zu neuem Leben erweckt und von Thierry auf die These gebracht, der zivilisatorische Fortschritt sei ausschließlich das Werk des Dritten Standes: die Zivilisation hatte ihre Städte, wie die Barbarei ihre Schlösser. So erschien ihm auch die puritanische Revolution in England als quasi Klassenkampf zweier Ethnien: „Alles übrige war nur Schein, diente nur als Vorwand“: Im Geist der ‚ewigen Nation‘ und der Solidarität mit der unterdrückten Mehrheit, ja eines ethnischen Klassenkampfes (der bald auf die Propheten und „Erwecker“ weiterer Völker überspringen sollte), wollte Thierry die Geschichte Frankreichs neu schreiben. Die Revolution von 1789, die in diesem Verständnis nur als Wiederaufleben des alten Kampfes der gallo-romanischen städtischen Kommunen gegen die fränkische Oberschicht galt, gewann damit zwar Bodenhaftung im Volk und eine lange Tradition des Freiheitskampfes, aber büßte einiges von ihrer universalistisch-antiken Selbstinterpretation ein.209 Hatte sich die politische Sprache der Revolution noch klassisch-römischer Begriffsinstrumente zur Selbstvergewisserung bedient, so verblasste nun der antike Horizont (Hölscher) zugunsten nationalromantischer Rückwärts-projektionen. Jules Michelet, der selbst einen kollektiven Mythos, ja einen messianismus des Volkes von Frankreich für die Menschheit predigte, widersprach nur insofern Thierrys „tyrannischer“ Stammesideologie, als die Rasse nach seiner Auffassung höchstens in den barbarischen Anfängen eine Rolle gespielt habe, während nach der Nationsbildung die „schöpferische Arbeit an sich selbst“ zivilisatorisch entscheide (Vorrede von 276
14. Positivismus und Liberalismus
1869 zur 24bändigen Histoire de France). Aber auch Michelet glaubte von lauter tückischen Feinden Frankreichs umgeben zu sein, Völkerverbrüderung à la Lamartine sei nur Selbsttäuschung (Le Peuple, 1846). An Michelet, dessen Vorlesungen am Vorabend der Revolution von 1848 bis zu 1200 Zuhörer besuchten, schieden sich lange die Geister. Spätere Historiker, wie Gabriel Monod († 1912), lehnten den „Magier“ und homme d’imagination ab – im Namen eines leidenschaftsloseren Umgangs mit der Vergangenheit und einer neutralen Handhabung methodischer Regeln. Generalisierungen, politische oder religiöse Leidenschaften waren dem reinen Positivismus ebenso suspekt, wie ein „blinder Kult der Französischen Revolution“; damit wandte sich die an Gegenwartsfragen weniger interessierte akademische Geschichtsdisziplin auch vom großen Publikum ab (Ursula Becher). Die naive positivistische Erwartung, durch die Eliminierung falscher Fragen und Scheinprobleme zur objektiven Wahrheit und auf rein faktografischer Basis zu moralischen und politischen Aussagen, möglicherweise auch zu rationalen praktischen Lösungen, zu gelangen, täuscht wie gesagt über das unvermeidbare Maß intervenierender Erkenntnisinteressen und ideologischer Projektionen hinweg. Wie schon der frühere Sensualist und Beobachter des Seelenlebens Maine de Biran († 1824) wusste, erfordert jede Erkenntnis aktive Anstrengungen, ja es gelte die Formel „j’agis, dont j’existe“. Dagegen lehrte die Schule Condillacs, die vom Konvent zur französischen Staatsphilosophie erhoben wurde, das Bewusstsein sei nur eine Ansammlung passiver Eindrücke.210 Dem entsprach das Credo der Historiker, die einerseits philosophische Fragen mieden, anderseits ihrer auf Tatsächlichkeit eingeebneten Lehre durchaus Werturteile zumuteten. Geschichtliche Erkenntnis kann sich natürlich noch weniger als die Naturwissenschaften mit passivem Registrieren von „Fakten“ begnügen, da ihre Fakten ja nicht unmittelbar gegeben vorliegen. Geschichte muss versuchen, ursächliche Zusammenhänge zu erklären, sie kann Teilbereiche systematischer Beobachtung unterwerfen, aber die Feststellung von Sinnzusammenhängen und Fortschritten ist unvermeidlich eine Sache der Wertung. Der prinzipiell nie abgeschlossene Erkenntnisgang wird zwangsläufig von neuen Wertungen, neuen Einseitigkeiten und neuen Vorurteilen begleitet; die angekündigte politische Orientierungshilfe der Geschichte erweist sich nur zu häufig als bloße selbstbestätigende Prophezeiung. *** In Anknüpfung an naturalistische Neigungen der Aufklärung, etwa des Holländers Pieter Camper († 1789), hatte sich seit den 1790er Jahren eine naturwissenschaftlich orientierte Anthropologie herausgebildet, die dualistische Auffassun277
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
gen vom Menschen als „Roman“ oder metaphysische Vorurteile ablehnte und alles Wissen auf Beobachtung und Vergleich gründen wollte. Anatomische Studien hoben die Nähe des Menschen zu den übrigen Lebewesen hervor, anderseits aber auch die rassischen Unterschiede innerhalb der menschlichen Spezies. Pierre-G. Cabanis († 1808), médecin-philosophe, Mitglied des Institut de France, wollte den „moralischen Menschen“ wie den physischen aus dem einheitlichen Blickwinkel der Physiologie erklären; die neue beobachtende Menschenkunde, die sich unter Napoleon konstituierte, empfahl sich programmatisch als praktisch relevante, angewandte Wissenschaft mit Kompetenz in Medizin und Hygiene, der Analyse von Gefühlen und intellektuellen Fähigkeiten, bis hin zu Erziehung, Ökonomie und Gesetzgebung (Sergio Moravia). Eine interdisziplinäre Gesellschaft für empirische Menschenkunde wollte nach den Worten ihres Gründers L. F. Jauffret unter der Parole Erkenne dich selbst Tatsachen sammeln, Beobachtungen erweitern und „alle leeren Theorien, alle verwegenen Spekulationen beiseite lassen“. Sie schloss in ihren Interessenbereich auch die Geschichte ein, wollte diese unter ethno-anthropologischen Gesichtspunkten betrachten, doch auch nicht ohne den Aspekt kultureller Wirksamkeit, die aus der Menschheit „eine abgesonderte Art macht, die die ganze Erde beherrscht“. Unter der Suggestion dieser Gedanken glaubte auch Henri de Saint-Simon (siehe das vorige Kapitel), aus den ideologischen Sackgassen und falschen Gegensätzen des bisherigen Denkens ausbrechen zu können. Überzeugt von der Naturgesetzlichkeit aller menschlichen Phänomene, wollte der sendungsbewusste Graf auch ohne revolutionäre Gewalt die gesamte Organisation der Gesellschaft auf (natur)wissenschaftliche Basis stellen. Allerdings blieb sein „Gesetz der historischen Entwicklung“ nicht viel mehr als ein Programm: das fragmentarische, unsystematische historische Wissen ist nicht annähernd auf eine exakte Gesetzesbasis zu bringen – es sei denn, man hielte geographische und rassische Hypothesen oder Turgots und Smith’ historisches Drei-StadienSchema für ein echtes Gesetz. Mehr Programm als wissenschaftliche Prognose war auch Saint-Simons Option für das Industriesystem als Schlüssel zum Verständnis der europäischen Neuzeit und Sinnhorizont der Geschichte. Die capacité industrielle, jahrhundertelang im Schoß der mittelalterlichen Gesellschaft herangereift, werde schrittweise die feudalen und militärischen Gewalten ersetzen: Die Schotten, Condorcet und Constant hatten das ähnlich gesehen, aber erst Saint-Simon formulierte in bewusstem Gegensatz zur liberalen Rhetorik und bloß individueller Befreiung die praktisch-technische Gestaltung der Welt als „Gesetz der Zivilisation“.211 Die Revolution von 1789 schien dem romantischen Technokraten (J. L. Talmon) nur insofern sinnvoll, als sie die überfällige Ablösung der unproduktiven 278
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Eliten der Geistlichkeit und des Adels vollzog; aber sie scheiterte, weil ihre falschen „metaphysischen“ Grundsätze: Freiheit und Gleichheit ‚notwendig‘ in Anarchie führten. „Keinerlei System…kann durch die Kritik ersetzt werden, die es untergrub“, erklärte Saint-Simon in der Voranzeige seines „Organisateur“ von 1819. Die Leitung der Gesellschaft hätte statt streitsüchtigen Juristen und Philosophen den industriellen Klassen anvertraut werden sollen, einer neuen Elite des Wissens und Könnens, die Politik als „Wissenschaft von der Produktion“ begriff. Wie Frankreichs Gedeihen allein auf dem Fortschritt von Wissenschaft und Kunst, Handwerk und Gewerbe beruht, so sei seine Stagnation der Vorherrschaft von „konjekturalen“, auf bloßem Glauben beruhenden Theorien und diesen entsprechender Willkür, Unfähigkeit und Intrige zuzuschreiben. Am Tage nach der Revolution hätte man den Begriff des Fortschritts präzisieren und das Ziel einer neuen universellen Ordnung ins Auge fassen müssen. Freiheit war somit der falsche Weg, auch der der freien Konkurrenz und der Demokratie: Ordnung, Organisation, Wissen wären die richtigen Parolen und Wegweiser in eine harmonische Zukunft gewesen, die Ersetzung der herrschenden Willkür durch Grundsätze und wissenschaftliche Beweisführung, die zu Entscheidungen „nach der Natur der Dinge“ führen (Zweiter Auszug, 1819/20). Der Opposition gegen die Bourbonen passte das technokratische Programm nicht, aber Napoleon III. werden derartige Inspirationen helfen, sein Zweites Kaiserreich zu legitimieren. Die kritische Philosophie des 18.Jahrhunderts war nach Saint-Simon befangen in falschen Gegensätzen und nicht fähig, die wissenschaftliche Reorganisation der Gesellschaft nach dem Kriterium der maximalen Bedürfnisbefriedigung und der Aufstiegschancen für die Tüchtigen durchzuführen. Das Frankreich der Restauration war zu einem Großteil eine Gesellschaft von Parvenus, seine Kultur ließ jedoch mit neuen Protagonisten viele Züge des Ancien régime wiederauferstehen: Die Bourgeoisie schielte nach den Formen des Frankreich von Louis Seize. Die Klatschpresse, die Reklame ebenso wie das Warenhaus waren keine englischen Entwicklungen, und auch eine Reihe Erfindungen, wie die Photographie, der Sodaprozess oder die Chlorbleiche erblickten im noch technisch rückständigen Frankreich die Welt. Paris war auch ohne viel Industrie ein Raum gesteigerter Interaktion, nichtsdestoweniger stellte es für die vielen jungen Männer aus der Provinz, mit dem berüchtigten Mémorial von St. Helena unter dem Kopfkissen, eine vorwiegend frustrierende Erfahrung dar. Philosophie, auch wenn sie sich wissenschaftlich geriert, kann die bestehenden Verhältnisse nur im Bündnis mit Emotionen und Interessen umstürzen, was Saint-Simon allerdings vermeiden wollte. Ein Gefühl der Unterdrückung und der entsprechende Ruf nach Freiheit kommt nach seiner einschlägigen Erfahrung nur unter unfähigen Führern auf, in schlecht integrierten, ihre Energien 279
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
verschwendenden Gesellschaften. Auf diese Sackgasse sollte die „Philosophie des 19.Jahrhunderts“ nicht hereinfallen: eine dem Charakter und den expertokratischen Bedürfnissen der werdenden industriellen Gesellschaft entsprechende schöpferische und organische Philosophie. Ihr Konzept war nicht allzu klar. ‚Organische‘ Epochen sind, wie später die saint-simonistischen „enfants progressistes de la paix“ (Bazard) betonten, religiös in der Bedeutung von Gemeinschaftlichkeit, geistiger Disziplin, sozialer Hierarchie, nicht zuletzt der Vermeidung von Konkurrenz zwischen einzelnen und Nationen, auch der Ausbeutung der Schwachen. Lief die Zukunft auf eine solche Gesellschaft hinaus? Die fortschreitende Kenntnis der „Bewegungsgesetze des Universums“, so behaupteten die Saint-Simonisten, weise auf eine näherrückende Epoche, in der die Menschheit in friedlicher Verbrüderung alle ihre Kräfte der Unterwerfung der Natur, nicht anderer Menschen, widmet, in der jeder nach seinen Werken belohnt wird und eine Erziehung von der Wiege bis zur Bahre die Menschen gelehrt hat, dasjenige zu lieben, was sozial zweckmäßig ist und getan werden muss. In dieser Richtung, hofften sie, bewege sich die soziale Welt, wie auch die menschlichen Vorstellungen, einschließlich des nur scheinbar ewigen Naturrechts. Und so würden auch die Eigentumsordnung und die gegenseitigen Beziehungen der Geschlechter allmählich den Grundsätzen der neuen harmonischen Weltgemeinschaft unterworfen. Die Saint-Simonisten blieben eine Sekte, aber viele ihrer Impulse fielen auf fruchtbaren Boden. Auguste Comte († 1857) verfasste seine erste Schrift 24jährig im Auftrag Saint-Simons und in starker Abhängigkeit von dessen Ideen, obwohl er sich persönlich im selben Jahr, angeblich abgestoßen von dessen Herrschsucht und religiösen Neigungen, von ihm trennte. Getrieben von persönlichem Ehrgeiz und nur oberflächlich gebildet, habe der Graf auf den jungen Mathematiker einen eher schädlichen Einfluss ausgeübt, behauptete er später; die Saint-Simonisten in ihrer intellektuellen Mittelmäßigkeit hätten umgekehrt Comtes bahnbrechende Ideen von 1822 falsch verstanden und streuten nun Verdächtigungen hinsichtlich deren Originalität aus, schrieb der an Verfolgungswahn leidende Entdecker des „großen Gesetzes von der Gesamtheit der menschlichen individuellen wie kollektiven Entwicklung“ in seiner Vorrede zu Band 6 des Cours de philosophie positive (1842). An Bewusstsein der eigenen epochalen Bedeutung mangelte es weder SaintSimon noch Comte, obwohl beide dazu neigten, Gedanken aufzugreifen, die vielen ihrer Zeitgenossen geläufig waren – sei es der antimetaphysische Glaube an eine allgemeine Naturgesetzlichkeit und die alleinige Zuständigkeit naturwissenschaftlicher Methoden, die fortschreitende Unterwerfung der Natur als eigentlicher Inhalt des Fortschritts, oder die Stabilisierung der nachrevolutionären, von Gegensätzen zerrissenen Gesellschaft mit Hilfe eines Patentrezepts. 280
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Von paradigmatischer Bedeutung für die Zeit war die 1794 gegründete École polytechnique als – ursprünglich militärische – Pflanzstätte des technokratischen Geistes; die von ihr ausgehende Ingenieurphilosophie begeisterte das 19. Jahrhundert und inspirierte seine Absolventen mit der rauschhaften Idee der Gestaltbarkeit, ja Machbarkeit des Schicksals. Hier hatte Auguste Comte die Grundlagen seines Denkens empfangen und später auch ein kümmerliches Auskommen als Mathematikrepetitor gefunden, nachdem der Minister Guizot es abgelehnt hatte, den Schwierigen, für den die Universität eine „verfaulte Narrenkorporation“ war, mit einem Lehrstuhl für die Geschichte der exakten Wissenschaften zu honorieren. Comtes nicht ganz neuer Gedanke war die logisch aufeinander aufbauende Hierarchie der Wissenschaften und ihr quasi hegelianisches Zusichkommen in einem positiven Stadium der Entwicklung; die Feststellung, auch die Politik werde nach Durchlaufen ihrer theologisch-militärischen und metaphysisch-juristischen Phase, als letzte, dieses „positive“ Stadium erreichen, war ebenfalls schon bei Condorcet vorgedacht. Statt nutzloser „metaphysischer“ Fragen nach dem Warum, nach Ursprung und Sinn, wollte Comte die Aufmerksamkeit ausschließlich auf das Wie richten, auf Beobachtung, Relationen, Berechung, Experiment und die Formulierung von empirisch nachprüfbaren Gesetzen. Innerhalb gewisser Grenzen war das ein produktiver Ansatz, der die Forschung auch außerhalb Frankreichs befruchtete. Aber damit wollte sich Comte nicht begnügen. Das Gesellschaftliche sollte im Grunde nicht mehr kulturell, aus sich selbst heraus verstanden, sondern auf eine dahinterstehende Natur bezogen werden, so dass prinzipiell kein Unterschied bestehen sollte zwischen physikalischen, biologischen oder sozialen Notwendigkeiten, die alle nur eine einzige sachlich richtige Lösung zulassen (F. Jonas).212 Aber wie wollte man aufgrund naturwissenschaftlicher Gesetze, die nichts wirklich Neues zulassen, zuverlässige Urteile in Bezug auf die menschliche Zukunft fällen? Comtes Reduktion der historischen Fakten auf eine einzige (im Grunde westeuropäisch-neuzeitliche) Sinnlinie betonte die wachsende Macht der naturwissenschaftlichen und technischen Fähigkeiten, aber glaubte auch, die egoistischen Triebe, Militarismus und Krieg würden dadurch letztlich zurückgedrängt. „Les idées gouvernent et bouleversent le monde“, klang es recht idealistisch (Cours I, 1832), aber gemeint war der anonyme Geist, nicht das individuelle Denken, Fühlen und Handeln. Der tatsächlichen geschichtlichen Vielfalt wird von Comte die Gießform einer Naturgeschichte als ‚gesetzmäßig fortschreitende‘ Rationalisierung übergestülpt. Die intellektuellen Fortschritte der Menschheit sind kein Zufall, sondern korrelieren mit dem jeweiligen Stand der sozialen Organisation, stellen ein notwendiges Instrument der Anpassung und zivilisatorischen Bewältigung der 281
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
Lebensbedingungen dar. Das führt Comte nebenbei, wie schon Turgot, dazu, das Mittelalter nicht als Dunkelzeitalter zu verdammen, sondern, parallel zu den katholischen Ultras, als grandioses Beispiel einer das gesamte Leben durchdringenden erzieherischen Macht zu rühmen; noch die Unfehlbarkeit des Papstes wird verteidigt als sinnvolle Einschränkung individueller Inspiration (die der Protestantismus leider nicht begriff: Cours V, 250).213 Der Geist ist bei Comte quasi hegelianisch richtungweisend;214 seine Antriebe bilden immer eine Einheit mit der ‚sozialen Evolution‘, sind nur aus der sozialen Organisation ihrer Zeit zu verstehen und auf gesellschaftliche Zwecke bezogen, doch eher geschaffen, zu mäßigen, als selbst zu befehlen („pour modifier, non pour commander“). Die Ursachen der sozialen Dynamik sind nicht immer auf einen Nenner zu bringen, immerhin bewirkt der Fortschritt der Wissenschaften, der Industrie und der Künste den Verfall des theologischen und militärischen Systems; er prägt sich heute sogar den Gegnern dieses Fortschritts auf, die als Verteidiger des geistlichen Regiments genau besehen nur die eigene Vernunft anerkennen. Die „metaphysische“ Epoche der Kritik und Diskussion sei aber letztlich negativ geblieben, habe ein bloßes Interregnum eingeleitet, einen unglücklichen Zustand intellektueller, moralischer und politischer Anarchie, in dem die Sozialwissenschaften mit ihren Wortspielereien und vagen Spekula tionen noch in den Kinderschuhen stecken und das neue positive System nur allmählich heranreift.215 Die eigentliche Befreiung des Geistes, von niemand anderem als Comte selbst, dem Galilei der Sozialwissenschaften eingeleitet, stellt einen epochalen Bewusstseinswandel der Menschheit dar, eine sich mit Notwendigkeit vollziehende neue unité mentale. Das war eine reichlich kühne Behauptung; doch entsprach die nach den Worten Theodor Lessings „dürftigste aller Geschichts klitterungen“ einer fortschreitenden ‚Entzauberung‘ und rationalen Organisation zumindest der großen Kommunikationszentren Westeuropas. Das Freiheits versprechen der Aufklärung durch Desillusionierung schlug dabei vielfach in Anpassungszwang und Verinnerlichung einer eindimensionalen Tatsächlichkeit um: somit kam den Thesen des verkannten Genies ungewollt ein hoher diagnostischer Erkenntniswert zu (Otwin Massing). Nicht nur das alte Herrschaftssystem ist nach Comte obsolet geworden: auch die liberale Kritik wird zum Hemmschuh des Fortschritts, schon weil sie die Regierung als Macht über der Gesellschaft grundsätzlich mit Argwohn verfolgt und deren Befugnisse einzuschränken sucht, statt die fällige soziale Reorganisation in Angriff zu nehmen und Politik als ‚exakte Wissenschaft‘ zu begreifen. Die neue Lehre betrachtet das Individuum wie gesagt nicht als primär, sondern als Abstraktion, als Produkt der Gesellschaft, somit ist das geistige und moralische Leben nur soziologisch zu erfassen. Die illusorische Philosophie des 282
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Gesellschaftsvertrags und der verabsolutierten Rechte des einzelnen verkennt in Comtes Sicht diesen Primat der Gesellschaft und führt zwangsläufig zu geistiger und politischer Anarchie. Gewissensfreiheit und gegenseitige Machtbegrenzungen, die nur der kritischen Epoche ohne einheitliche, synthetische Gedanken und Prinzipien entsprachen, werden dysfunktional, sobald „die“ Wissenschaft Gewissheit zu vermitteln vermag. Positive Politik wird sich auf wissenschaft liche Erforschung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten stützen, was auch immer das sein mochte; ihre Zielsetzungen sollten jedenfalls nicht auf Phantasie beruhen, sondern auf „Entdeckungen“. Soweit Comtes Zeitdiagnose, der man nicht vorwerfen sollte, bloßes Projekt, gar nur die Empfehlung des Autors für ein autoritäres Amt darzustellen; doch ist kein Zweifel, dass seine Theorie gerade nicht auf der propagierten positiven Tatsachenforschung beruhte, sondern eine abstrakt-deduktive, willkürliche Geschichtskonstruktion war, mit deutlich antiliberaler Tendenz. In der Tat lag der Schwerpunkt von Comtes Betrachtungen auf der Schaffung einer neuen Autorität: „le dogmatisme est l’état normal de l’intelligence humaine“. Das wäre fatal für die Perspektive eines innovativen Fortschritts, aber psychologisch nicht falsch: die Menschen verlassen sich in der Praxis immer auf das Urteil von Autoritäten dieser oder jener Art. Es kommt aber auf deren Kontrolle und gegenseitigen Wettbewerb an, auf die Verhinderung von monopolisiertem Herrschaftswissen. Mit der Vielfalt vorgegebener individueller wie kollektiver Überzeugungen, Interessen und Lebensformen tat sich der szientistisch und utilitaristisch argumentierende Philosoph schwer. Er hätte Jeremy Bentham zugestimmt, nach dessen Ansicht Menschenrechte „rhetorical nonsense“ waren. Die liberale Anerkennung „rechtfertigungsunbedürftiger“ Optionen (Hermann Lübbe) schien der wissenschaftlichen Menschheitsbeglückung, dem einheitlichen Marsch ins Universale, im Weg zu stehen. Comte neigte, wie das 18. Jahrhundert, zur Unterschätzung der vorrationalen, kulturellen Prägungen der Menschen, und er übersah auch die seiner eigenen Theorie. Sein Gesellschaftsentwurf enthielt berücksichtigenswerte Gedanken, wie die wissenschaftliche Politikberatung oder die Idee eines geistigen Gegengewichts zu den materiellen Interessen der bürgerlichen Gesellschaft; ohne dieses werde das Recht des Stärkeren nur durch einen Despotismus der Reichen abgelöst. Nicht zuletzt war die Parole „Ordre et progrès“ vernünftig; die traditionale Ordnung war zerstört, aber es fehlten der nachrevolutionären Gesellschaft die angemessenen Institutionen. Wenn Comte erklärte, „die Lehre, die die gesamte Vergangenheit ausreichend erklärt“, aufgrund dessen „die geistige Führung der Zukunft erhalten wird“ (Système de politique positive), dann täuschte er ein weder vorhandenes noch vermutlich zu erreichendes exaktes Wissen vor. Der ubiqui283
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
täre „Entwicklungs“-Begriff suggerierte einen gesetzmäßigen Prozess nach der Art organischen Wachstums, der weder echtes Handeln noch geschichtlichen Zufall kannte, nur „Oszillationen“, die den einen Fortschritt beschleunigen oder gegebenenfalls verlangsamen. Seinem père spirituel Condorcet, der diesen fortschreitenden Prozess der neuzeitlichen Menschheit einige Jahrzehnte zuvor skizziert hatte, warf Comte bezeichnend vor, das Nacheinander der Zivilisationsphasen nicht als gesetzmäßigen Zusammenhang erfasst zu haben. Aber wir wissen: Die Fakten, auf die sich beide stützten, reichten auf keinen Fall aus, um aus ihnen ein echtes Gesetz zu formulieren, das vergleichbar wäre mit Gesetzen der eigentlichen Naturwissenschaften, ja auch nur verlässliche Prognosen („savoir-pour-prévoir“) aufzustellen. Obwohl sich Comte nicht von der normativen Kraft der faktisch fortgeschrittenen Nationen beirren lassen wollte, extrapolierte er de facto gerade bestimmte Tendenzen, „Sinnlinien“ einer zeitlich und räumlich beschränkten, modernen Epoche auf die gesamte Geschichte der Menschheit (P. Leuschner). Die Perspektive der Aufklärung geht immer von der scheinbar selbstverständ lichen Übernahme der eigenen gedanklichen Errungenschaften durch die weniger Aufgeklärten aus; deren unerwartete Widerspenstigkeit schlägt mitunter auf die universalistische Avantgarde zurück und lässt sie dadurch häufig aufs Niveau der ‚Barbaren‘ regredieren.216 Comtes „Historismus“ bezog sich, analog zu Hegel, nur auf die Vergangenheit, während er naiverweise glaubte, die Zukunft szientistisch, mehr oder weniger definitiv und konfliktfrei gestalten zu können. Seine These, die „künstliche“ Ordnung der Gesellschaft ruhe notwendig auf einer natürlichen Ordnung, die außerhalb unserer Gestaltungsmöglichkeiten liegt, wäre banal, hätte Comte nicht auch den komplexen ordre artificiel naturgesetzlich bestimmen wollen – was hieß, die zivilisatorische Dynamik gewissermaßen auf die Invariablen ‚sozialer Statik‘ zu beziehen, wenn nicht zu biologisieren. Kritiker werfen ihm mit einigem Recht vor, etwa die Geschlechter- und sozialen Klassenbeziehungen als unabänderliche natürliche donnés hinzunehmen: das eherne Lohngesetz oder Malthus’ Bevölkerungsgesetz illustrieren solche scheinbar natürlichen Determinanten der Zivilisation.217 Mit noch größerem Recht ist ihm die Missachtung der Individualität und der Subjektivität vorzuwerfen; er stellte sich gegen die Anerkennung der Psychologie als Wissenschaft, und die Macht der individuellen Gesinnung war ihm anarchieverdächtig. Die Komplexität der sozialen Beziehungen und die Zersplitterung der Erkenntnisbereiche machen die Gesellschaft gewiss störanfällig; deshalb wollte der Begründer des Positivismus nicht auf wissenschaftliche Einsicht und spontane Entwicklung vertrauen, sondern das Vernünftige verbindlich festschreiben und durch den „soziolatrischen“ Kitt einer Menschheitsreligion verfestigen. Dem einstigen Kritiker der Religion und 284
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utopischer Phantasien imponierte das von der Romantik gepriesene Mittelalter mit seinem Ständewesen und vor allem seiner autoritären Verwaltung der Wahrheit durch eine spezielle Trägerschaft; nachahmenswert schien ihm die Teilung der Herrschaft in weltliche und geistliche Autorität, die Indienstnahme der Künstler für ästhetische Formung und „industrielle“ Bedürfnisse, nicht zuletzt der Kult der Frau als Hüterin des Gefühlslebens. Comtes Spätwerk (Système de politique positive I–IV, 1851–54) war deshalb wohl keine bloße Verirrung des großen Theoretikers, sondern dachte nur einzelne Aspekte und Widersprüche des ursprünglichen Entwurfs zuende. Die Nichtigkeit des Individuums gegenüber dem Ganzen der einen denkenden Menschheit war darin ebenso enthalten, wie die Alternativlosigkeit der scheinbar unilinearen gesetzmäßigen Entwicklung. Über den nur partiellen intellektuellen Fortschritt hinaus sollte die Organisation der invariablen menschlichen Gefühle folgen, die Verdrängung der egoistischen Triebe zugunsten der „alt ruistischen“ bzw. sympathetischen. Das war nicht Kants naturwüchsig dialektische „ungesellige Geselligkeit“, die die asozialen Leidenschaften für höhere Ziele einspannt: Die positivistische Avantgarde müsse, nach der Erfahrung schwerwiegender gesellschaftlicher Störungen, den Fortschritt in die eigenen Hände nehmen und die geistigen Führer der Menschheit sich des Erziehungssystems und der Leitung der wissenschaftlichen Arbeiten bemächtigen. Nach der Reorganisation der Meinungen folgt die der Institutionen, die Schaffung einer Art positivistischer Diktatur, die Ersetzung der Rechte durch die Pflichten und sogar die Installierung eines Kults des Grand Ě’tre: Der lange Weg der Menschheitsgeschichte gelangt damit zu einem rationalen Endzustand. Comtes ‚totalitärer‘ Entwurf einer durchorganisierten, von allen historischen Residuen und subjektiven Zweifeln befreiten, von einer positivistischen Religion bis in den letzten Winkel durchdrungenen Gesellschaft musste auf liberale Geister abschreckend wirken, obwohl die Zeit der Schönen Neuen Welt noch nicht angebrochen und die entsprechenden Erfahrungen einem fortgeschritteneren Jahrhundert vorbehalten blieben. Technokratische Köpfe waren von der szientistisch-utilitanstischen Perspektive angetan. *** Einige Jahre nach Comtes Tod stellt John Stuart Mill († 1873) fest, dessen Philosophie sei, unabhängig von diesem selbst, zum Gemeingut des Zeitalters geworden (Comte and Positivism, 1865). Gemeint war die verbreitete Ablehnung metaphysischer Theorien und „willensmäßiger Deutungen“, einer herkömmlichen Verwechslung von Fiktionen und Realitäten; man beschränkt die Diskurse auf den Bereich des positiven Wissens, und die Definition von Sinn ist der 285
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
issenschaft vorbehalten. Mill war geneigt, Comte in vielen Punkten zu folgen, W einschließlich seines Primats intellektueller Fortschritte bei der Entwicklung der Menschheit: Herbert Spencer hatte diesen bestritten und behauptet, die Welt werde durch Ideen ‚weder regiert noch umgestürzt‘, bestenfalls durch Gefühle und Leidenschaften, denen Ideen als Aushängeschild dienten. Die Stärke emotional verankerter Meinungen und die Bezogenheit des Intellekts auf ein bestimmtes soziales System sowie auf relativ konstante menschliche Eigenschaften kam auch Mills Überzeugung nahe, andererseits schien dem Kämpfer gegen viktorianische Heuchelei eine Apotheose der Triebe der „schädlichste aller falschen Kulte der Gegenwart“ zu sein (Hörigkeit der Frauen, 1869). Dagegen legte er Wert auf die auslösende, lenkende, verstärkende Rolle von Ideen, auch bei den noch ausstehenden großen Umwälzungen der Zukunft. Gegen Comtes sehr französischen Rationalismus wandte er realistisch ein, dieser habe sich zu sehr auf die Vorhut der Menschheit beschränkt, so dass die soziale Wirklichkeit seinem Schema oft widerspreche. Mill war in erster Linie Logiker; für unseren Zusammenhang kommt davon in Frage, dass er die Methode der Naturwissenschaften trotz der Vielfalt der Kausalfaktoren auch auf die Geschichte und die übrigen social sciences anwenden, und gesellschaftlichen Fortschritt mit der Durchsetzung menschlichen Willens (und individueller Freiheit) durchaus verbinden wollte. Dabei hielt er ‚mittlere Axiome‘ der „politischen Ethologie“ für nützliche Erklärungsinstrumente, die ein Grad Berechenbarkeit auch im menschlichen Handlungsbereich gewährleisten sollten. Mehr als Comte folgte Mill den älteren schottischen Theoretikern des Fortschritts auf der Grundlage von Arbeitsteilung, Tausch und einer darauf basierenden Entwicklung von sozialen Interessen, Regsamkeit, Wohlstand und Verfeinerung. Stärker als diese empfand er dabei die Ambivalenzen der Moderne, nicht allein den verkümmerten Gemeingeist; in Anschluss an die Diagnose Tocquevilles († 1859), sorgte er sich um den Bestand des Individuums im Zeit alter der Massen. Da die Erfolge der modernen Zivilisation auf fortschreitender Disziplinierung und Organisation beruhten, waren die Freiheit des einzelnen und die gegenseitige Toleranz zumindest keine selbstverständlichen Früchte des Fortschritts. Mill verabscheute, anders als Comte, die Neigung zu Standardisierung und Uniformität, die Gleichförmigkeit der Hoffnungen und Befürchtungen, den wachsenden Druck eines kollektiven Mittelmaßes, der jede Initiative und alles selbständige Denken zu ersticken und die Menschen in eine Herde apathischer Schafe zu verwandeln droht (Über Freiheit, 1859). Doch ließ er von Anbeginn keinen Zweifel an der Überlegenheit einer hochproduktiven, unvergleichlich reichen, rechtssicheren und wissenschaftlich leistungskräftigen modernen Zivilisation, die sich schon aufgrund ihrer Fähigkeit zur Kooperation in ständigem 286
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Fortschritt befindet (Essay Civilisation, 1836). Mills Korrekturen kamen konsequent aus dem Inneren der Gesellschaft selbst, nicht von einer über ihr stehenden Autorität, wie es in der Tradition eines kontinentalen Technokratismus, Zentralismus und bürokratischen Dirigismus sowie einer wenig entwickelten Bürgerkultur lag. Die wissenschaftliche Erziehung der Jugend schien auch ihm wünschenswert, doch eine von Comte vorgeschlagene autoritäre Körperschaft zur Lenkung der Meinungen und Gewissen könne nur in lähmenden geistigen Despotismus führen. Mill glaubte, wie alle Aufklärer und Utilitaristen, an die Erziehung als eine nahezu grenzenlose Macht: „Es gibt keine natürliche Neigung, die einzuschränken sie nicht stark genug wäre“ (Die Nützlichkeit der Religion, 1850). Umso mehr kam es ihm darauf an, möglichem Missbrauch, der Erziehung zu Konformismus statt zu selbständigem Charakter, der Herrschaft von philodoxia (Meinungs verliebtheit) statt der philosophia, der Liebe zur Weisheit, vorzubeugen. Auch Comtes eher weltfremder Entwurf hatte reine Monokratien, von der Art des Islam oder der antiken Republiken, als unfruchtbar abgelehnt, aber Meinungsverschiedenheiten innerhalb der positivistischen Elite sowenig vorgesehen, wie wissenschaftliche Freiheit; Comte hatte aber auch an keine Einschränkung der Herrschaft der Industriellen gedacht, die mit dem „unfruchtbaren Aphorismus“ der Wirtschaftsfreiheit aufräumen und nur eine beratende Rolle der autorité spirituelle zulassen sollten. So schieden sich schließlich die Wege der beiden Denker: Während Comte sich doktrinär der lebendigen sozialen Wirklichkeit verschloss und prinzipiell keine offenen Fragen, keine unvereinbaren Ziele kennen wollte, ging Mill, gemäß seiner Devise, „die Bedeutung eines Abstraktums am besten im Konkreten zu bestimmen“, überall auf Probleme der Gegenwart ein und suchte pragmatisch nach Abhilfe; gesunder Menschenverstand und ein unbändiger Freiheitswille bewahrten ihn in der Regel vor dogmatischen Einseitigkeiten. Seine Wirtschaftstheorie beruhte auf klassischen Gesetzen, wie dem persönlichen Interesse, der freien Konkurrenz, dem Gleichgwicht von Angebot und Nachfrage etc. Als aber Mill auf seine Formulierung des „ehernen Lohngesetzes“ (das die Vergeblichkeit von Lohnkämpfen zu suggerieren schien) heftige Proteste erntete, widerrief er bestürzt. Spätere Ausgaben seiner Politischen Ökonomie (1848) enthielten wesentliche sozialpolitische Korrekturen. An anderer Stelle, etwa in der Autobiographie, zeigte er sich offen für Produktionsgenossenschaften und hohe Erbschaftssteuern. Der Empiriker glaubte an keine absoluten Wahrheiten; die menschliche Erkenntnis sei nie so komplett und unfehlbar, insbesondere die Humanwissenschaften zu verworren, um in der komplexen Wirklichkeit des Lebens eindeutige Lösungen anbieten zu können. Deshalb plädierte Mill gegen jede Unter287
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
drückung (oder Privilegierung) von Meinungen auf dem Gebiet von Ethik, Politik, Religion: produktiver war für ihn das Wechselspiel menschlicher Ansichten, Lebensformen und Interessen, aus dem sich immer Neues ergibt und kaum die Wiederholung alter Formeln.218 – Der steigende Wohlstand, die größere Einsicht und das immer engere Zusammenwirken der Menschen, das die Zivilisation mit sich bringt, würde – analog zu Comtes Erwartung – zwangsläufig die bisherigen Verfassungsregeln revolutionieren, und so die traditionellen politischen Theorien, etwa Landbesitz als Quelle von Repräsentation, entwerten. Im Hinblick auf die breitere Streuung von Eigentum würde sich „die Verteilung der verfassungsmäßigen Macht von derjenigen der realen Macht nicht lange unterscheiden“; daraus hatte der junge Mill, noch unter Einfluss des benthamschen utilitaristischen Reformdenkens, die Notwendigkeit einer allgemeinen Erziehung gefolgert: der aufsteigenden Klassen wie der alten Oberschicht, um gemeinsam neue Aufgaben bewältigen zu können; konservativ gesprochen: damit der unaufhaltsame Strom der Demokratie „mit weniger Ungestüm fließt“ (Civilisation, 1836). Das war benthamitisch gedacht, doch ohne Comtes elitären Szientismus. Drei Jahrzehnte später, Mill hatte inzwischen seine Hauptwerke über Logik, Nationalökonomie, Freiheit und Repräsentative Regierung veröffentlicht, überwog die Kritik.219 Insbesondere rügte Mill jetzt Comtes Ablehnung der „Metapolitik“ des Liberalismus und Demokratismus als vermeintlicher Bastardformen eines kritisch-revolutionären Zeitalters, denen er jede Relevanz für die Gegenwart absprach. Comte habe nicht ganz zu Unrecht die Fähigkeit des einzelnen bestritten, in komplizierten Fragen selbst zu entscheiden, ebenso wie den Appell an die öffentliche Meinung, die nicht imstande sei, die Macht selbstsüchtiger Interessen und anarchischer Leidenschaften zu beschränken. Mill erscheint auf den ersten Blick als „seichter“ Philosoph des Sowohl-als-auch; in Wirklichkeit ist er sich der Vielschichtigkeit der Wahrheit bewusst und der Zweckmäßigkeit auch einseitiger Positionen bei ihrer Erörterung. Ein Diktat, gleich ob das einer wissenden Minderheit oder das einer konformen Mehrheit, wäre gerade für den Fortschritt eine folgenschwere Tyrannei: moralisch-intellektueller Selbstmord – „Libertizid“. Meinungsstreit und die Vielfalt von Lebensformen sind dagegen Garantien des Fortschritts. Der Wert einer größeren Beteiligung des Volkes am politischen Leben beruht interessanterweise vor allem in ihrer erzieherischen Wirkung. Nur durch freies Mitwirken der Menschen an ihrer Lebensgestaltung, und nicht durch Dressur und Meinungstyrannei, entsteht Fortschritt, der diesen Namen verdient; eben das sollte das Ziel jeder guten Regierung sein, nicht nur Ordnung und auch nicht nur Repräsentation egoistischer Interessen. Bei aller vordergründigen Betonung der Nützlichkeit und der vorwärtstreibenden Funktion der Freiheit 288
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gerade als ethisches Prinzip220, ist Mill die individuelle Freiheitssphäre geradezu sakrosankt, und die liberalen Gleichgewichts- und Kontrollmechanismen schon von daher unverzichtbar. Dabei wendet er gegen Comte ein, die verketzerte métaphysique constitutionelle und die unveräußerlichen Rechte des Individuums könnten, wie in England durchaus üblich, als Instrumente des improvement, „positivistisch“ und utilitaristisch begründet werden; ebenso bringe das eigentlich unwissenschaftliche „Laissez-faire“, wie er trocken bemerkt, in neunzehn von zwanzig Fällen passable Lösungen zustande. Die utilitaristische Argumentation der Benthamisten, wonach aus der Tatsache, dass die Menschen Lust (pleasure) anstreben, folgt, dass Lust auch wünschenswert (desirable) sei, beruht auf den ersten Blick auf einer Verwechslung von „wünschbar“ und „wünschenswert“ (Bertrand Russell). Aber Mills Nützlichkeitsprinzip war kein epikureisches Lustkalkül mehr, sondern sollte die langfristigen Folgen unserer Handlungen im Auge behalten und das Glück aller Betroffenen im Geist des ‚Unparteiischen Zuschauers‘, ja der goldenen Regel des Jesus von Nazareth (Utilitarismus, 1861, 30). Im konkreten Fall mochte es oft schwierig sein, die Konsequenzen richtig einzuschätzen, ebenso wie zwischen sinnlichen und intellektuellen Freuden qualitativ zu unterscheiden (R. Schumacher), „Jeder zählt für einen, keiner für mehr als einen“ (Utilitarismus). War das ein empirischer Grundsatz? Mill will plausibel machen, wie aus Wollen ein Sollen entsteht, und er erklärt es genetisch aus dem Interesse, von anderen nicht geschädigt zu werden: Aus bloßem Nützlichkeitskalkül wird dabei die höhere Kategorie Recht. Daraus ergab sich noch nicht das „metaphysische Dogma“ der Volkssouveränität, das spätestens seit der französischen Revolution als eher geeignet schien zu zerstören, denn die Zukunft vernünftig zu gestalten. Mills Einstellung zu diesem war pragmatisch, d. h. am Kriterium praktischer Bewährung ausgerichtet. Ohne Anspruch auf absolute Geltung und mit eingebauten Sicherheitsventilen, meinte er, könne es sich für den Fortschritt fruchtbarer erweisen, als die Herrschaft der selbstzufriedenen alten Oligarchien. Gewiss müsse man das Volk vor sich selbst schützen: allgemeine Zustimmung zu einem Gesetz macht dieses noch zu keinem guten Gesetz. Die seit Jahrhunderten ständig fortschreitende Nivellierung mochte unter Umständen in Gleichheit der Knechtschaft und Unbildung ausarten, und hier teilte Mill auch Tocquevilles Kritik an den französischen Zuständen, wo sich, trotz aller Revolutionen, infolge eines übermäßigen Zentralismus kein genuines Interesse an politischer Mitverantwortung entfalten wollte. Vernünftige Freiheit und das Interesse am Gemeinwesen wächst, nach Tocqueville wie Mill, eben nicht so sehr aus Büchern, wie aus praktischem Handeln, aus politischen Institutionen, etwa der Lokalverwaltung als Schule der 289
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
Demokratie. Eine „vernunftgeleitete Demokratie“ braucht Teilhabe, participation, ebenso wie competence, und auch diese wächst vor allem aus praktischem Tun. Wichtiger als selbst zu regieren, ist aber das Wie des Regierens, nicht zuletzt eine effiziente Kontrolle der Regierung und die reale Chance diese abzuwählen. Das Volk, prinzipiell der Herr, sollte trotzdem „geschicktere Knechte, als es selbst ist“, also politische Profis, mit seinen Angelegenheiten betrauen. Dementsprechend ist das Parlament für Mill eigentlich kein Ort der Machtausübung, sondern primär ein Ort des Austauschs von Meinungen und Argumenten, des Austragens unvermeidlicher sozialer Antagonismen. Gelassen kann Mill über die an sich falsche Lehre von der Gleichheit der Menschen urteilen: man solle sich, so seine an Adam Smith gemahnende Empfehlung, neben Sicherheit, Gerechtigkeit, Hygiene, auf eine gute allgemeine Erziehung beschränken und es dann den Leuten selbst überlassen, sich ihren Platz in der Gesellschaft zu suchen; eine so entstandene meritorische Klassenschichtung wäre jedenfalls eine bessere, als die ererbte oder autoritär von oben verfügte.221 Mills Fortschrittsmodell ruht auf keiner Gewissheit des Besseren, sondern hängt von einer Reihe Voraussetzungen ab: angefangen mit dem freiheitlichen Charakter der Erziehung, der Rationalität der auf hedonistischem Kalkül gefällten Entscheidungen, bis hin zu dem Offenhalten der Gesellschaft für Aufsteiger oder, was auf Ähnliches hinausläuft, der Respektierung von individuellen Freiheitsräumen und des Wettbewerbs unter nicht immer vereinbaren Werthaltungen. Mill hat einmal die Anhebung des physischen und moralischen Status der Arbeiterklasse auf amerikanisches Niveau (dort gehört alles der Mittelklasse an!), ein andermal die Befreiung der Frauen aus der Knechtschaft als wichtiges Fortschrittskriterium bezeichnet; er war dabei überzeugt, dass die konkurrenzgetriebene Dynamik der Neuzeit zumindest einige der wünschenswerten Optionen mitträgt. Der Fortschritt wird in der Tradition Smith’ durch steigenden Wohlstand ermöglicht, der seinerseits aber nur eine Chance bietet, sowohl die Freiheitsspielräume zu erweitern, als für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Die Ausgewogenheit dieser beiden eher konträren Wertorientierungen222 ist keine automatische, wie auch Mills Unterscheidung zwischen dem stringenten Gesetz wirtschaftlicher Effizienz und politisch gestaltbarer Distribution signalisiert: das erste ist grund legend, aber keineswegs hinreichend für eine gerechte Ordnung der sozialen Verhältnisse, die immer wieder neu definiert werden muss (J. Harms). Zwar hält der Evolutionist den im Laufe der Zivilisierung erreichten moralischen Standard des fortgeschrittensten Teils der Menschheit für fest erworben, dennoch ist die Formel für eine optimale Ordnung, auch für die Grenzen dessen, was der einzelne an Einschränkungen seiner Freiheit durch die Gesellschaft hinzunehmen hat, nicht ein für allemal gegeben. Das soziale Optimum ist in ständigem Wandel 290
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begriffen, durch Diskurse der Zeitgenossen bestimmt. Mills These, wonach das Individuum der Gesellschaft grundsätzlich nicht rechenschaftspflichtig ist (Über Freiheit), gilt somit nur modifiziert. Gerade wegen der fortschreitenden Angleichung der modernen Lebensformen und des Strebens um gleiche Güter, das Individualität als Wert zu untergraben droht, besteht Mill auf weitestgehender Meinungsfreiheit und der Duldung unterschiedlicher Lebensentwürfe. Dafür kennt er keine metaphysischen Gründe, sondern allein die pragmatische Erkenntnis, dass sich nur so das Problembewusstsein für weitere Fortschritte sensibi lisiert Der Fortschritt sollte sich nicht zuletzt auf die Gleichstellung der auch im modernen Westen immer noch unterdrückten Frauen beziehen (Hörigkeit, 1869): Wenn man von bevölkerungspolitischen Aspekten absieht, steht die utilitaristische Begründung hier übrigens auf schwachen Beinen. Obwohl Mill im allgemeinen Endgültigkeit weder für möglich noch für wünschenswert hält, scheint er, vielleicht unter dem Einfluss seiner Freundin Harriet Taylor, einen gesellschaftlichen Gleichgewichtszustand ins Auge gefasst zu haben, der sich bereits aus dem Umstand ergibt, dass der Wohlstand nicht grenzenlos zunimmt und, wie schon Ricardo annahm, bei sinkender Profitrate der Anreiz zur Akkumulation entfällt. Mill verbindet mit diesem relativen Endpunkt des konkurrenzgetriebenen Fortschritts einen wirtschaftlichen, aber auch (durch Familienplanung bewirkten) bevölkerungsmäßigen Stillstand: keine pessimistische Vision, sondern – ähnlich wie beim jungen Marx – das Bild einer harmonischen Ordnung ohne entfremdenden Zwang zu hektischer wirtschaftlicher Tätigkeit; eines republikanischen Gemeinwesens unter Einbezug der freien Arbeiter (Über die wahrscheinliche Zukunft der arbeitenden Klassen, in: Grundsätze der Politischen Ökonomie IV (1848f).223 *** Der Versuch, auch die geschichtliche Welt nach dem Vorbild der erfolgreichen Naturwissenschaften in den Griff zu bekommen, schien dem 19. Jahrhundert zunächst durchaus plausibel und vielversprechend. Die Akzeptanz newtonscher Methoden im Kulturbereich ruhte auf dem beeindruckenden Siegeszug der industriellen Technik und angewandter Wissenschaft, nicht weniger aber auf dem Wunsch, die theologisch-spekulativen Denkgewohnheiten definitiv zu entlegitimieren. Hinzu mochte die Bemühung treten, mit Willkür jeder Art aufzuräumen – den Radikalismus unterbürgerlicher Schichten und die aristokratischen Restaurationsbestrebungen einbegriffen. Ein Problem bei der Verwissenschaft lichung der Geschichte bestand darin, die gesuchten Gesetzmäßigkeiten der „gesellschaftlichen Entwicklung“ mit dem Freiheitsgedanken, dem Freiheits bedürfnis insbesondere der Mittelschichten, zu versöhnen. 291
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
Das funktionierte nur, wenn man das Kunststück vollbrachte, die Geschichte als Ganzes, mehr noch als im 18. Jahrhundert, als gesetzmäßiges Geschehen nach dem Muster organischer Prozesse zu interpretieren, deren immanente Vernunft dennoch auf eine freiheitliche bürgerliche Gesellschaft hinauslief. Das bürgerliche Selbstbewusstsein sollte nicht nur aus wirtschaftlichem Aufschwung und wissenschaftlich-technologischen Erfolgen der Gegenwart schöpfen, sondern auch aus Geschichtskonzeptionen, die jahrhundertealte freiheitliche Bestrebungen und eine zivilisatorische Rolle des Dritten Standes bewiesen, dessen unaufhaltsamen Aufstieg sie zum Rückgrat ihrer Metaerzählung machten. Auch das Bild der großen modernen Umwälzungen wurde romantisiert und diesem normativen Muster eines beständigen sinnvollen Fortschritts unterstellt. Die Institutionalisierung der Geschichte, in Frankreich nach 1830, wurde von dieser etwas kurzschlüssigen historischen Erwartung getragen, die „geschicht liche Wahrheit“ werde die nationalliberalen Wertvorstellungen und Forderungen unangreifbar untermauern. Die Fakten der Historiker hängen natürlich weitgehend ab von Fragestellungen, Werten und dem sich wandelnden Geschichtsinteresse; sie sind aber anderer Art als die der Naturwissenschaftler und fügen sich nicht zu allgemeinen Gesetzen, wie die grundsätzlich immer gültigen physikalischen Sätze oder die Syllogismen der Logiker. Streng genommen, müssten sich Gesetzmäßigkeiten durch Wiederholung und Experiment überprüfen lassen, aber die Wiederholung der Geschichte der Fortgeschrittenen durch Nachfolger ist kein Beweis. In der sozialen Wirklichkeit stört die Wirksamkeit von Gesetzen schon der Faktor der Nachahmung, des bewussten Lernens aus vergangenen Irrtümern. Wie Neues entsteht, wie es zu Fortschritten kommt, können Gesetzmäßigkeiten naturwissenschaftlicher Art nicht erklären.224 Mit anderen Worten, wir kommen im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen um subjektive Werturteile und um Handeln auf eigene Verantwortung nicht umhin. Die Geschichtsschreibung im engeren Sinn konnte die in sie gesetzten großen Erwartungen nicht erfüllen: mit wissenschaftlichen Methoden exakte Aussagen über die bisherige Karriere des Großsubjekts Menschheit zu liefern und aus dieser sichere Wertvorstellungen, ja Handlungsanweisungen für die Gegenwart zu ziehen. Die institutionalisierte Historie verfiel in der Praxis meist in den Selbstzweck akademischer Forschung und Lehre;225 wahlweise bediente man nationale Klischees und trug diese in eine nicht-national strukturierte Vergangenheit hinein. Eine andere Spielart von Verwissenschaftlichung der Geschichtsdiskurse brachte Comtes „holistische“ Geschichtssoziologie. Naturwissenschaftliche Methoden können, wie man weiß, mit einigem Erfolg auf fest umgrenzte soziale Handlungsfelder angewandt werden. Hier ging es jedoch um nichts weniger, als 292
14. Positivismus und Liberalismus
die Rekonstruktion des Bewegungsgesetzes einer tendenziell alle Kulturen und Zeiten umfassenden Menschheit und den Versuch, daraus im Namen ‚der‘ Geschichte eigene Ansprüche bzw. technokratische Zugriffe zu legitimieren. Der prometheische Höhenflug der Romantik, ebenso wie der Wille zur Umgestaltung der Gesellschaft glaubte sich auf Krücken wertneutraler, quasi-naturwissenschaftlicher Erkenntnis stützen zu müssen. Das vermeintliche Entwicklungsgesetz gab die Vermutungen der schottischen Moralphilosophen für Gewissheit aus und organische Metaphern („Entwicklung, „Wachstum“) für Realitäten; der mehrgleisige, widersprüchliche, kontingente, auf wenige Jahrhunderte und einige westliche Nationen beschränkte Modernisierungsgang wurde zu einem logischen, universalen und eindimensionalen Entwicklungsprozess der Menschheit als einem pseudoorganischen Ganzen stilisiert. Das wissenschaftliche Gewand, in das sich Comtes wie Marx’ Geschichtsprophetie hüllte, sollte eine wissenschaftsgläubige und fortschrittssüchtige Öffentlichkeit beeindrucken, sollte Gewissheit suggerieren. Doch ließ die Beweisführung der holistischen Soziologie zu wünschen übrig: Vom wissenschaftlichen Anspruch blieb vornehmlich der Fehlschluss aus der Eindeutigkeit naturwissenschaftlicher Logik (und optimaler technischer Sachlösungen) auf eine mehrdeutige, multivalente Menschheitsgeschichte. Comtes „savoir-pour-prévoir“ war nicht so sehr Forschungsprogramm, wie Wissensbehauptung und Herrschaftsanmaßung; nicht Freiheit steht am Ende der Geschichtskonstruktion,226 sondern szientistische Technokratie. Politisches Handeln ist in der anvisierten wissenschaftsgesteuerten Gesellschaft auf autoritäre Entscheidungen von Sozialingenieuren reduziert. Zum Glück sind die Menschen auf die Dauer meist nicht bereit, sich von Glücksplanern konditionieren zu lassen; ganz abgesehen von der Qualität der Planung, gibt es nicht auf alle Fragen Antworten von Experten. John Stuart Mill teilt zwar zu einem großen Teil die comtesche Geschichtsphilosophie, gibt dieser aber einen weniger fatalistischen, weniger monistischen Charakter. Auch er benutzt den verwirrenden Begriff „Entwicklung“, doch ist seine Fortschrittserwartung keine linear-teleologische. Die Regelmäßigkeiten im menschlichen Verhalten ermöglichen ihm, „ethologische“ Wissenschaften zuzulassen, aber er ist sich der unterschiedlichen Varianten und möglichen Optionen in der Praxis bewusst, und mit der Notwendigkeit subjektiver Eingriffe und Korrekturen auch der Unverzichtbarkeit subjektiver geistiger Spielräume. Mills funktionale Begründung der Freiheit und der Demokratie durch ihren „Nutzen“ entspringt seinem polemischen Bedürfnis, inmitten viktorianischer Konformitätszwänge, ist aber deutlich sekundär gegenüber der ausgetriebenen Naturrechtstradition, die bei ihm durch die Hintertür zurückkehrt. Der Fortschritt trägt bei Mill deutliche Züge eines emanzipatorischen Humanismus, dessen Impulse auch ethischer Art sind und der die Grenzen des historisch 293
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Wünschbaren über das objektiv Gegebene hinaus durch individuelles Engagement und intellektuelle Diskurse bestimmt. Mills Glaube an die Lernfähigkeit des Menschen benötigt keine autoritäre Lenkung, wohl aber Freiheitsspielräume, in denen sich der Mensch produktiv „entwickeln“ kann. Dieser Glaube weist jedoch deutlich über nüchterne Tatsachenforschung und Nützlichkeitskalkül hinaus.
15. Industrialismus und Nationalismus Der saint-simonistische „Producteur“ brachte 1826 die Besprechung einer englischen Abhandlung über Eisenbahnen als Symbol der „vorschreitenden Civilisation“; alle Nationen seien vom Streben nach Wohlstand, nach Herrschaft über die Natur und nach Freiheit erfüllt, doch gehe die eigentliche Bewegung von England aus. Der Rezensent versprach sich von der großen „Umwälzung im Zustande der bürgerlichen Gesellschaft“ den Sieg der „Betriebsamen“ (Industriellen) über die müßigen Klassen, und er unterstrich die nachahmenswerte Tatsache, dass sich in England nicht der Staat, sondern „Assoziationen talentvoller Männer und Kapitalien“ der Sache der Eisenbahnen angenommen hätten: sie seien sich bewusst, dass sie „in ihren Angelegenheiten mit mehr Verstand zu Werke gehen würden, als die Regierung“ (Über Eisenbahnen, deutsch in: Neue Monatsschrift für Deutschland, 1826). Außer den üblichen Fortschrittstopoi und Verbrüderungserwartungen enthält der Artikel zwei wichtige, miteinander verbundene Hinweise: erstens, dass der technologische und zivilisatorische Fortschritt von einem bestimmten Land ausgeht, und zweitens, dass Erfindungen und Innovationen eines günstigen sozialen Umfelds bedürfen, um zum Zuge zu kommen. Leonardos Druckpumpen und Kräne waren, wie unzählige andere Erfindungen in der jahrtausendealten Zivilisationsgeschichte, ungenutzt geblieben; auch im fortschrittsgläubigen Frankreich, das die meisten traditionalen Bindungen, institutionelle und soziale Hindernisse der Modernisierung, aus dem Weg geräumt hatte, kam die Industrialisierung, bei aller staatlichen Förderung, wie gesagt nur langsam voran. Eine der Ursachen war die Festigung der kleinen Bauernwirtschaften durch die Revolution, die eine massenhafte Abwanderung in die entstehenden industriellen Ballungsräume bremste; die andere war eine wohlgemeinte staatliche Schutzzollpolitik, die ihrerseits zu einem großen Teil den Anpassungsdruck der internationalen Konkurrenz abfing. Zu den Hindernissen einer beschleunigten Industrialisierung zählte eine schwerfällige Ministerialbürokratie, die den Bau von Eisenbahnstrecken bremste, ebenso wie die Eigentümer der Hochöfen, die häufig zugleich als Waldbesitzer 294
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Interesse an Holzkohlenfeuerung hatten und die Einführung der Koksverhüttung behinderten. Immerhin waren 1847 in Frankreich schon 456 englische Puddelöfen in Betrieb; 1300 englische Werkmeister und Tausende angeworbener Facharbeiter brachten technologische Erfahrungen der Insel ins immer noch kleinbetriebliche oder im Verlagssystem arbeitende französische Gewerbe. – In anderen Ländern standen der nachholenden Industrialisierung fehlende Rohstoffvorkommen und schlechte Verkehrswege im Wege, aber auch korporative Kontrollen und Zollbarrieren, bäuerliche Unfreiheit, politische Instabilität, das Desinteresse der Reichen an industrieller Betätigung und zu geringe Nachfrage an Industriegütern, nicht zuletzt fehlendes Know-how. Die Vorstellung einer „gesetzmäßig“ voranschreitenden technologisch-zivilisatorischen Entwicklung, wonach die Erfindungen gewissermaßen „in der Luft hingen“ und nur zufällig von diesem und nicht einem anderen verwirklicht wurden, ist nur die halbe Wahrheit. Gewiss wurden die Durchbrüche insbesondere der ersten industriellen Revolution weniger durch ein einzelnes Genie, wie in kumulativen, aneinander anknüpfenden kleinen praktischen Verbesserungen erzielt, so dass die Heroengeschichte des Erfinders als „Schöpfers der modernen Zivilisation“ relativiert werden muss: viele Innovationen geschahen unter dem Druck von Engpässen (Holzverknappung) sowie in einem veränderten sozialen Klima, das Experimenten und der Nutzung von praktischem Wissen aufgeschlossen war (P. Mathias). Es war auch nicht einfach die Kapitalakkumulation oder die Profiterwartung, nicht einmal immer die Nachfrage, die den technologischen Wandel herbeiführte: Oft wurde geradezu das Bedürfnis mit der Innovation „erfunden“ (Kiesewetter). Das neue Mittel ermöglicht manchmal neue Zwecksetzungen und führt zu nicht-intendierten Gebrauchsmöglichkeiten (Gasbeleuchtung, Teerfarben, Kunstdünger, Telegraph), öffnet auf eine Weise sogar neue kulturelle Horizonte (Rohbeck). Wesentlich für technologischen und wirtschaftlichen Wandel war das Zusammenwirken mehrerer kontingenter Faktoren, wie Erfindungsgeist, Wissen und Fertigkeiten, Unternehmerpersönlichkeiten, Kapital, freie Arbeitskräfte, Rohstoffe, Transport- und Absatzmöglichkeiten. Die Durchdringung immer neuer Regionen mit dem Geist des Industrialismus und Marktwettbewerbs schuf ein Klima beschleunigter Innovationen, „fortwährender Umwälzungen“ (Marx) bzw. „schöpferischer Zerstörungen“ (Schumpeter), das notwendig Ungleich gewichte, Verlierer und gesellschaftliche Erschütterungen nach sich zog. Auch für die vorangegangenen europäischen Modernisierungsschübe war bezeichnend, dass sie nicht als natürlicher „Reifungsprozess“ stattfanden, sondern im Rahmen eines Zusammenspiels kontingenter Faktoren, einer innen- und außenpolitischen Wettbewerbssituation, häufig einer asymmetrischen Beziehung zwischen fortgeschrittenem Zentrum und aufholender Peripherie.227 295
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Das europäische Staatensystem bildete eine Vielfalt kommunizierender Röhren, die in gegenseitiger Hassliebe, in Streit um Macht und Prestige, ihre besondere Dynamik entfalteten. Die theresianischen Reformen im Habsburgerreich etwa waren ein Ergebnis der Niederlagen durch das effizientere kleine Preußen; die preußische Stein-Hardenbergsche Gesetzgebung wurde ermöglicht bzw. erzwungen durch den Anschauungsunterricht der Schlacht von Jena und Auerstädt. Macht, Kultur und Wirtschaft werden in einer europäischen Wettbewerbssituation neu sortiert, multifunktionale ständisch-korporativen Institu tionen durch spezialisierte staatliche oder private Funktionsträger ersetzt. Die Alphabetisierung der Volksschichten dient nicht nur deren Wohl; einheitliche Raumordnungen sollen die Durchsetzungsfähigkeit der Zentralmacht erhöhen, den Staat aus einem Bündel von Privilegien und Territorien in den einzigen Träger von Souveränität verwandeln. Dieser sehr ungleichmäßige Transformationsprozess verläuft als gesamteuropäische „Modernisierung“ lange vor der Industrialisierung und verursacht bei den aus paternalistischen Ordnungen Entlassenen eine analoge Verwirrung. Später waren die erwähnte französische Ecole polytechnique und ihre mitteleuropäischen Töchter eine Antwort des Kontinents auf die britische technologische Überlegenheit; durch theoretisches Wissen und Fachkenntnisse sollte der gewaltige Vorsprung der Insel verringert werden. Das europaübliche Schielen nach dem tonangebenden Zentrum der Macht, des Reichtums und Geschmacks fand nun in Form hektischer Industriespionage und der Abwerbung englischer Techniker seine zeitgemäße Fortsetzung. Richard Cobden († 1865), britischer Freihändler und Pazifist, äußerte 1836 in seinem Pamphlet gegen einen möglichen Krieg mit Russland, England habe „mit seiner Dampf- und Spinnmaschine den Maßstab des Fortschritts aufgestellt, um den sich bereits jetzt alle Nationen der Welt sammeln“; solange sich das britische Volk durch Gewerbefleiß, Tatkraft und Erfindungsgabe auszeichnet, müsse es keine russischen Eroberungen fürchten: Die Völker, die heute noch auf der Heerstraße der Barbarei, der rohen Gewalt und Furcht wandeln, würden früher oder später, schon aus Selbsterhaltungstrieb, dem allein maßgeblichen britischen Beispiel produktiver Arbeit folgen. Die einzige Quelle nationaler Größe schienen Cobden Industrie und zivilisatorischer Fortschritt zu bieten, während Kriege die Ursache der meisten Übel der Gegenwart darstellten: nicht nur würden dadurch Menschen und Kapitalien dem Gewerbefleiß entzogen, sondern auch Recht, Ordnung und Sicherheit zerstört. Nicht zuletzt würden durch die Anstachelung von Nationaleitelkeit und Begehrlichkeit „tierische Gefühle des Hasses, der Furcht und Rachsucht“ geweckt. Positive Auswirkungen des nationalen Haders auf den industriellen Fortschritt wollte Cobden nicht sehen: nur freie und durch nichts 296
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beeinflusste Grundsätze des Handels mit dem Ausland seien diesem zuträglich, und nichts war natürlicher, als der Austausch britischer Industriegüter gegen Rohstoffe und Kolonialwaren. Cobden wollte nicht einfach scheinheilig bestehende Vorteile festschreiben: er rügte gerade eine kurzsichtige englische Handelspolitik, die zur Folge habe, dass „jedes Land anfängt, Gewerbe zu entwickeln um Unabhängigkeit und Sicherheit vor England zu erlangen“ (Russland, 1836). Publizisten anderer Länder hielten Schutzzölle gegen britische Produkte für notwendig, um den unterlegenen heimischen Industrien ausreichend Spielraum zu gewährleisten. Die britischen selbstbewussten Selfmademen, denen „alles missfiel, was über ihre unmittelbaren Erfahrungen hinausging“, vertrauten naiv in Adam-Smithscher Tradition der Harmonie der Produktivkräfte und den Mechanismen des Wettbewerbs auch zwischen den Nationen, die nur ein verblendeter Egoismus in Sackgassen unzeitgemäßer kriegerischer Barbarei führt. Die napoleonische Kontinentalsperre und die wenig wählerischen britischen Methoden des Handelskriegs lagen noch nicht lange zurück; sie hatten allen Seiten schweren Schaden zugefügt und dem Misstrauen zwischen den Europäern Auftrieb gegeben. Angesichts der Härte der französischen Besatzung klang die napoleonische Propaganda gegen die britische Seeherrschaft nicht allzu überzeugend, obwohl einige Produktionen, wie die Metall- und Baumwollindustrie, von der Blockade durchaus einigen Nutzen ziehen konnten.228 Auf die Überschwemmung des Kontinents mit billigen englischen Industriewaren nach 1815 und den Verlust überseeischer Absatzgebiete an England reagierten die ruinierten Produzenten jedoch mit dem Ruf nach Schutzzöllen (auch Frankreich 1826). Der europäische Nationalismus ist kein einfaches Vehikel von Modernisierung, Mobilisierung und „verdichteter Kommunikation“, auch keine bloße „antifeudale Integrationsideologie“. Gewiss hat die Auflösung der alten ständischen und religiösen Zuschreibungen das Bedürfnis nach einem neuen kulturellen Kitt geweckt, einer neuen imagined community, aber Art und Stil des neuen Codes hingen von spezifischen Faktoren ab (Breuilly).229 Konstitutiv für den Nationalismus ist häufig die Nachahmung erfolgreicher Nachbarn, ein Reflex auf ‚Ungleichzeitigkeit‘, auf ein Prestige-, Modernisierungs- und Wohlstandsgefälle, natürlich auf Abhängigkeit jeder Art, der im Anerkennungsbedürfnis einer nachgewachsenen Elite zum Ausdruck gelangt. Das typische Verlangen nach Durchsetzung eines bestimmten, manchmal alten, aber häufig neugeschaffenen, Symbol- und Mythenkomplexes, nach Aufwertung, Kodifizierung und Monopolisierung einer Sprache und einer auf das nationale Projekt bezogenen Bevölkerung, wird regelmäßig getragen von der Fixierung auf eine bisher dominierende Gruppe und das ambivalente Bedürfnis, nicht so zu sein wie sie und zugleich doch so zu sein, wie sie.230 297
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Ungeachtet dessen, dass der Kapitalismus die Völker entwurzelte und die lokalen Traditionen zerstörte, beriefen sich die Sprecher des neuen Nationalismus in der Regel auf „primordiale“, manchmal auch religiösen Codes. In Irland oder auf dem osmanisch beherrschten Balkan boten die kirchlichen Strukturen die protonationale Identifikationschance, in anderen Regionen waren es historische Erinnerungen bzw. Mythen, oft aber Mimesis, etwa Bestrebungen, den französischen Einheitsstaat zu kopieren. Wie hundert Jahre später die Zionisten, so bezogen die unterdrückten Griechen des frühen 19.Jahrhunderts weltweit Sympathien als Nachkommen einer der Väter der europäischen Zivilisation, auch wenn sie diesen in nichts glichen (Talmon). Natürlich sind bei der Nationsbildung entscheidend nicht die Idiosynkrasien kleiner Intellektuellengruppen, sondern massive Interessen; das Streben nach kollektiver Selbstbestimmung und innerer Homogenisierung ist aber in seiner konkreten Form meist so wenig Ausdruck wirtschaftlicher und politischer Vernunft, wie Ergebnis eines ethnisch vorgegebenen „Reifungsprozesses“. Bei Frustrationsgefühlen von Aufsteigern und dem Versuch, die eigene Schwäche symbolisch zu kompensieren, durch Separation zu überwinden (Karl Deutsch), sind das Ergebnis, und vor allem der Modernisierungseffekt unsicher. Der Nationalist ist der Janus, von dem man nie weiß, ob er nach vorn oder nach rückwärts blickt, weshalb sich die großen Industriellen von den eifernden Erweckern fernhielten und der liberale Lord Acton Mills These von der Unmöglichkeit eines Zusammenlebens mehrerer Nationen in einem Staat widersprach, ja dieses Zusammenleben als „one of the chief instruments of civilisation“ erklärte (1862). Die Mobilisierungs- und Urbanisierungsprozesse zwingen zu sozialem Lernen, aber das Ergebnis ist offen: in multiethnischen Staaten kommt es zwar regelmäßig zu gegenseitiger Abschließung und Formung von Parallelgesellschaften, aber auch zu Assimilierung an die dominante Kultur; die Herausbildung einer Sicherheitsgemeinschaft und eines gemeinsamen Lebensstils oberhalb der ethnischen Vielfalt, wie sie etwa den Austromarxisten vorschwebte, musste keine weltfremde Wunschvorstellung bleiben. Im vielfältig gespaltenen, heterogenen Deutschland, in dem es viel Unbehagen gegenüber Industrie und Kapitalismus, Freihandel und Laissez-faire gab (Th. Nipperdey), war ursprünglich die kulturnationale Aufforderung bestimmend, sich freizumachen von geistiger Fremdherrschaft, aber auch von Welthandel und von entbehrlichen Waren des Auslands; die „schwindelnden Lehrgebäude über Welthandel und Fabrikation“ mögen für Ausländer passen, nicht aber für die Deutschen, die in der „inneren Selbständigkeit und Handelsunabhängigkeit“ ihr Heil suchen sollten (J. G. Fichte, 1808). Realpolitisch hatten solche Appelle keine große Bedeutung. Der Wirtschaft gegenüber aufgeschlossenere Publizisten wollten zwar auch aufhören, „Wasserträger und Holzhacker der Engländer“ zu sein, aber das sollte 298
15. Industrialismus und Nationalismus
nicht durch Abstinenz erfolgen, sondern durch Schaffung einer für eine gewisse Zeit durch „Erziehungszölle“ abgeschirmten nationalen Volkswirtschaft. Die eigene Industrie, und mit ihr ein höherer Grad an Zivilisation, Bildung, materiellem Wohlstand und politischer Macht werde „durch die Konkurrenz einer bereits vorgerückten auswärtigen Manufakturkraft in ihren Fortschritten aufgehalten“ (F. List, 1841). Die klassische ökonomische Lehre habe die Grundtatsache übersehen, dass jeder Mensch zu einer bestimmten Nation gehört und sein Wohl vom Zustand der nationalen Region abhängt. Deutschland insbesondere werde durch kurzfristiges Rentabilitätsdenken daran gehindert, die potentiellen Kräfte eines größeren mitteleuropäischen Wirtschaftsraums zu entfalten, also statt Augenblicksvorteilen für einzelne, längerfristige Interessen, Reichtum und Macht des projektierten Ganzen anzustreben. Die wirtschaftliche Rationalität schien zusätzlicher Triebkräfte zu bedürfen: Nur durch eine deutsche Flotte werde nach List der Anspruch auf ein volles Weltbürgerrecht bekräftigt: „Ohne dieses Zeichen /die deutsche Flagge/ werden sie ewig Englands Kammerknechte bleiben“ (List, 1843). Das war nicht ganz falsch, aber das Symbolische, überschießend-Prestigemäßige der nationalen Mobilisierung drohte bezeichnend schon zu diesem Zeitpunkt vom Boden des bürgerlich-Rationalen und Emanzipatorischen abzuheben. Die Wirklichkeit war komplizierter, als es anti-englischen Ressentiments erscheinen (und auch britische Selbstgefälligkeit wahrnehmen) wollte: „Nationalisten“ waren in den Augen der Saturierten immer nur die anderen. Zwar gingen einzelne anpassungsunfähige Branchen, wie die deutsche Leinenindustrie unter, aber von England kamen auch fördernde Impulse, so die Verarbeitung von Halbfabrikaten (Baumwollgarn) in den westlichen protoindustriellen Gebieten mit Überschuss an Arbeitskräften, wozu Agrarexporte nach England aus den ostelbischen Territorien (Wolle) kamen, die die deutsche Kaufkraft insgesamt erhöhten und zur Herausbildung eines Binnenmarktes beitrugen (Dumke). Trotz des niedrigen Zolltarifs schritt die deutsche Industrialisierung in den folgenden Jahrzehnten schneller voran, als im abgeschirmten Frankreich oder Österreich: zunächst als abgeleitete Entwicklung, seit den 1850er Jahren dann zunehmend aus eigener Kraft (mit Steinkohle und Eisenbahnbau als Leitsektor). Allmählich wirkte sich eine höhere Fachkompetenz durch bessere Schul bildung des Kontinents aus, zugleich mit dem Übergang vom Familienbetrieb zum Managersystem und der Finanzierung über den Kapitalmarkt. Mit den Erfindungen der Bessemerbirne, des Siemens-Martin-Ofens, der Teerfarben und der Ammoniakherstellung, schließlich des Gasmotors und der Elektrotechnik, zeichnete sich eine „zweite industrielle Revolution“ ab, während Eng299
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land mit seiner Strategie des praktischen Lernens (learning by doing) mittlerweile im Netz der Gewohnheit festzusitzen schien (D. Landes).231 Bis dahin waren die meisten Erfindungen aus England gekommen: der Portlandzement (Aspidin, 1824), der elektrische Generator (Faraday, 1831), der Bessemerstahl (1856), der Dampfhammer (Nasmyth, 1839), die dampfbetriebene Drehbank, verbesserte Bohrmaschinen, die Grubenlampe etc. Der erste eiserne propellergetriebene Dampfer ging 1843 vom Stapel (I. K. Brunel), ein Drittel der 1800 Meilen britischer Eisenbahnlinien war um 1848 mit den neuen elektrischen Telegrafendrähten ausgestattet. 1851 stand die Londoner Weltausstellung noch ganz im Zeichen britischer Überlegenheit und – von Cobden als Fortschrittshemmnis bedauerter – Selbstzufriedenheit. Dieses Bewusstsein, unter dem Schleier einer allgemeinen Fortschrittseuphorie, des Interesses an internationaler Zusammenarbeit, Freihandel und Frieden, brachte Prinz Albert in seiner Ansprache zum Ausdruck, in der er die industrielle Technik als „source of moral progress and industrial improvement“ feierte. Außenminister Lord Palmerston strich den Zusammenhang von Prosperität und politischer Freiheit heraus: Intelligenz, Tatkraft, Erfindungsgeist, geistige Unabhängigkeit seien von freien Institutionen, wie sie Großbritannien besitze, nicht zu trennen. Das war ein Seitenhieb gegen die kontinentale Praxis, der freigesetzten Wirtschaftsgesellschaft einen autoritären, militärischbürokratischen Überbau aufzusetzen, und wurde von den dortigen Liberalen gern gehört: Sie galten als „englische Partei“. Für sie wurde die Vorbildlichkeit des britischen Modells auch durch den Umstand symbolisiert, dass die Weltausstellung nicht von der Regierung, sondern von einem privaten Trägerverein finanziert wurde (U. Haltern).232 Auguste Comte hatte seine Behauptung von der Unumgänglichkeit einer übergeordneten geistlichen Macht mit dem Hinweis begründet, dass durch die immer vielfältigeren Kontakte der Nationen ohne gemeinsame Lehre und eine gesamteuropäische Erziehung der Geist industrieller Feindschaft die Oberhand gewinnen müsse: jede Nation würde die bloße Befriedigung eigener Vorteile zur obersten Richtschnur erklären und, ohne sittliche Verpflichtung zu den anderen, in Prohibitiv-Politik verfallen (Betrachtungen über die geistliche Gewalt, III.) In der Tat löste der internationale Vergleich bei den übrigen ausstellenden Nationen nicht nur positive Wettbewerbsinstinkte aus, sondern geradezu ‚Vermeidungsstrategien‘, um der nüchternen Sprache der Fakten, der gerade entwickelten statistischen Methode Adolphe Quételets († 1874), zu entgehen. Dessen Saint-Simon nachempfundene physique sociale bestritt die qualitativen Unterschiede zwischen den Nationen zugunsten statistisch erfassbarer, prognostizierbarer Trends, machte aber dadurch die realen Unterschiede quantitativ sichtbar. 300
15. Industrialismus und Nationalismus
Die britische Herausforderung trug in Frankreich zur Belebung saint-simonistischen Gedankenguts bei und gab dem späteren Napoleon III. das régime industriel als Alternative zum angeblich veralteten Liberalismus ein; zugleich appellierte er gegenüber der Wirtschaft an die französische Ehre. Adolphe Thiers erinnerte unmittelbar an die Gloire der kaiserlichen Armeen, der die französische Industrie nacheifern müsse. Das war an sich nicht abwegig, obwohl man den Kult der Industrie zu Zwecken bonapartistischer nationaler Integration benutzte. Die von Louis Bonaparte proklamierten „idées napoléoniennes“ sollten keine kriegerischen, sondern „soziale, industrielle, kommerzielle, humanitäre“ sein (1839); als Kaiser verstrickte er sich unter dem Druck, sich vor einer stark nationalisierten Öffentlichkeit ständig beweisen zu müssen, in immer neue Konflikte in Europa und Übersee. In den Debatten des Second Empire verschoben sich die Akzente häufig zugunsten apologetischer und anglophober, auch antiliberaler Gemeinplätze. Die eigene Verunsicherung durch soziale und politische Krisen, „englischen“ Materialismus und Pauperismus, sollte durch amour-propre national und Klischees, wie den vermeintlich über legenen Geist französischer Universalität gegenüber englischem Spezialistentum, auch die Superiorität des französischen Geschmacks gegenüber britischer Massenware (J. A. Blanqui), aufgefangen werden. Es fehlte auch nicht die Erwartung eines baldigen Niedergangs des „plutokratischen“ Empire nach dem Vorbild des Römischen Reiches (Ledru-Rollin), während die französische Hegemonialstellung auf dem Kontinent als ‚natürlich‘ galt. In diesem Zusammenhang zog der Melancholiker Charles Baudelaire 1855 zu Felde gegen „vernebelte Gehirne“, die geistige und materielle Dinge durcheinanderbrachten und Dampf, Elektrizität und Gasbeleuchtung für den Beweis eigener Überlegenheit hielten (zit. Gombrich, 1978). – So oder so war die Grande Nation nach wie vor überzeugt, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren. Das sollte die folgende Pariser Weltausstellung von 1855 unterstreichen; sie zog trotz des Krimkrieges fünf Millionen Besucher an. Die nächste von 1867 erreichte schon 10–11 Millionen, darunter zahlreiche gekrönte Häupter, die gewiss nicht nur den Fortschritt feierten, sondern wahrscheinlich noch stärker den Glanz der Pariser Oper, der in Offenbachs Musik getauchten Empfänge und Bälle genossen. Die Ausstellung selbst war konzipiert als großer Tempel in Form eines eisernen Kolosseums, unter dessen Dach „Geist und Arbeit ihre Triumphe feiern“ sollten; ihr Generalkommissar, der bedeutende Sozialreformer und Familienforscher Le Play († 1882) setzte eine eigene Abteilung über die Geschichte der Arbeit durch. Victor Hugo pries Paris etwas voreilig als Hauptstadt eines friedlichen Kontinents und sprach die Deutschen als „concitoyens dans la cité Philosophie und compatriotes dans la patrie Liberté“ (Mitbürger in der Stadt der Philosophie und Mitpatrioten im Vaterland der Freiheit) an: 301
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
Krupps 47 Tonnen schwere Riesenkanone wollte zu Hugos Beschwörungen nicht recht passen (I. Mieck).Ganz konnte man sich der Atmosphäre verstärkter nationaler Rivalität und kollektiver Gereiztheit nicht entziehen, in der die Utopie der menschheitlichen Verbrüderung, allgemeiner Harmonie und freihändlerischen Internationalismus allzu schnell verblasste (Kroker). Deutsche Beobachter sahen sich 1851 im Londoner Kristallpalast schmerzlich an die eigene Unterentwicklung und nationale Zersplitterung erinnert; die liberal-nationalen Hoffnungen von 1848 waren gerade bitter enttäuscht worden und die herrschende Reaktion hatte noch kaum angefangen, das Instrument einer aktiven Wirtschaftspolitik gegen den unterdrückten politischen Liberalismus und Nationalismus auszuspielen. Viele gaben jetzt Friedrich Lists Nachdruck auf die alles entscheidenden nationalen Rahmenbedingungen der industriellen Entwicklung Recht; aus Frustration und Enttäuschung ließen andere auch den kompensatorischen Gegensatz von deutscher Tiefe und englischer nur maschineller Meisterschaft wieder aufleben; der Volkskundler W. H. Riehl rügte gar die „Siegestrunkenheit des großstädtischen Industrialismus“. Aus einer analogen Geisteshaltung heraus lehnte der berühmte Karlsruher Baumeister Heinrich Hübsch († 1863) einen „flach-rationellen Utilismus“ ab, der in Form von Industriehallen aus Gusseisen als Prototyp der Neuzeit im Erscheinungsbild der Städte die Kirchen verdrängte: ein sowohl ästhetisches, wie sittliches Unglück (zit. Buddensieg, 1981).233 Eine noch stark durch traditionale sozial-ökonomische Vorstellungen geprägte Mentalität, zu der die Formung durch romantische und klassizistische Wertvorstellungen der Gebildeten kam, musste sich schwer tun mit den Herausforderungen der Industrialisierung, der Zerstörung städtischer korporativer Strukturen, der „unablässigen Aufstachelung der Bedürfnisse und Begierden“ (F. J. Buß), einer sozialen Entwurzelung, die als „roher Krieg aller gegen alle“ (A. Schäffle) dramatisiert wurde. Auch namhafte Wirtschaftstheoretiker hielten die unhistorische Verselbständigung der ökonomischen Gesichtspunkte, ihre Herauslösung aus dem Gesamten des Volks- und Staatslebens, für fragwürdig; dies sei nur in abstracto, auf reiner Begriffsebene möglich, meinte etwa Karl Knies (1853): die Wirtschaft sei immer Bestandteil einer gesellschaftlichen, nationalen Kultur und könne nicht von psychologischen, politischen, sittlichen Maßstäben getrennt werden. Gegen die vermeintlich allgemeingültige klassische ökonomische Lehre mit ihrem Primat individueller Interessen bestand die „historische Schule“ auf dem Wirtschaftsganzen als einem abgrenzbaren, organischen, nationalen Zusammenhang: Der Volksgeist der Romantiker ist in der Wirtschaft nicht nur de facto am Werk, sondern liefert auch die normative Zielvorstellung (Freyer, 1921). In der Romantik war häufig ein „escapistischer“ Strang sichtbar, der den Alltag verharmlosen, in Poesie verwandeln, mit seiner Neigung zum Absoluten vor 302
15. Industrialismus und Nationalismus
der Empirie retten wollte (Kals). „Grober Eigennutz“ war für den Salineningenieur Novalis das „nothwendige Resultat armseliger Beschränktheit“, und noch Richard Wagner verglich das London der 1850er Jahre mit Dantes Hölle. Der Romantiker bekämpft und hasst, nach den national zugespitzten Worten Hans Freyers, in der Naturphilosophie Newton, in der Politik Frankreich und in Fragen der Wirtschaft Adam Smith. Doch ist nicht die Weltfremdheit der Romantiker das Thema, sondern Bemühungen um die Rückverwurzelung einer bestimmten Bevölkerung in älteren Kultur-Paradigmen – durch einheitsstiftende appellative Symbole, echte oder fiktive Gemeinschaftserlebnisse (Kaschuba 1993). Die neue Schnelllebigkeit zerstört die harmonische Kreisbewegung alter Zeitformen; deshalb suchten Patrioten häufig eine soziale Wirklichkeit im Sinn der zyklischen Zeit zu rekonstruieren; Spanien etwa sollte unter Hinweis auf vergangene Leistungen gegen ausländische Arroganz und kulturelle Überfremdung „fortschrittsresistent“ gemacht werden (Gumbrecht-Sánchez). Auch in Frankreich wird die „Vergewaltigung“ der historischen Strukturen durch den Rationalismus des esprit classique, durch administrativen Zentralismus und Missachtung des Lokalen und Religiösen, für die politische Instabilität und Krisenanfälligkeit des Landes verantwortlich gemacht. Es geht nicht einfach um Verbreiterung der Wählerbasis; die staatsbürgerliche Identifikation mit dem Vaterland der Freiheit, der emanzipativen volonté générale, im Verlauf des 19. Jahrhunderts vermischt mit „erfundenen“ Symbolen. Der gallische Mythos, der Volksheld Vercingetorix, der noch in der Niederlage triumphiert; auch Chlodwig (Clovis) und die Jungfrau von Orléans werden aus ihrem religiösen Kontext gelöst und zu Verkörperungen der bewaffneten Nation stilisiert (Trom). Die Widersprüche der weitgehend säkularisierten Gesellschaft rufen nach einem ersatzreligiösen Kitt, einem von Mythen geregelten emotionalen Haushalt. Das nationale Kommunikationsnetz ist, wie gesagt, keine einfache Konsequenz von Mobilisierung und Verstädterung, des Integrationsbedürfnisses entwurzelter Dörfler, die statt der traditionalen Zuteilung von Lebenschancen in Bereiche anonymer Abhängigkeit und des ungewohnten Zwangs zu individuellen Entscheidungen zugleich, gefallen waren. Dennoch ist der Zusammenhang zwischen dem Verlust traditionaler sozialer Netzwerke und Wertvorstellungen, der Ansprechbarkeit der Bevölkerung für neue sinnstiftende Ideologien unbestreitbar; unter diesen hat sich die Beschwörung nationaler Solidargemeinschaften als erfolgreichster der konkurrierenden Appelle erwiesen. Der Entwurzelung, Säkularisierung und Relativierung wird ein Pathos nationaler Gemeinschaft entgegengesetzt, ein Bewusstsein vergangener Opfer, die als „nationaler Totenkult“ zu neuen Opfern verpflichten; das eigene Leid wird idealistisch überhöht und eine inszenierte kollektive Erinnerung in den Dienst der einzigartigen Nation gestellt (E. François-H. Schulze). 303
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Dabei ist die nationale Gemeinschaft einem Funktionswandel unterworfen: die „westliche“, liberal-emanzipatorische Staatsnation wendet die ursprünglich innenpolitische Stoßrichtung nach außen, füllt sich mit kulturell und sprachlich verpflichtenden Inhalten, die den plébiscit de tous les jours tendenziell in eine „staatstragende“ bzw. Ablenkungsideologie verwandeln.234 Auch die Rahmenbedingungen der objektiv-kulturellen, „Herderschen“ Nationsauffassung, als Abwehr gegen imperiale Hegemonial- und Annexionsbestrebungen einigermaßen verständlich, ändern sich spätestens 1848, wenn es darum geht, nicht-deutsche Territorien in den entstehenden Bundesstaat einzubeziehen. Die nationalliberale Synthese von Einheit und Freiheit verlagert ihr Schwergewicht zugunsten nationaler Macht. Ähnliches ist bei weiteren, primär staatlich definierten, historisch argumentierenden Gemeinschaften, wie der natio Hungarica, zu beobachten, die in der Praxis die ethnische Assimilierung einer nicht-magyarischen Bevölkerungsmehrheit erzwingen wollte. Das Scheitern einer zivilisatorisch sinnvollen mittel- und osteuropäischen freiheitlichen Integration hängt auch damit zusammen, dass die an sich „progressive“ nationale Ideologie statt allgemeiner Freiheitssymbole spezifische Kulturcodes entfaltet, ihre bevorzugten Mythen und Erinnerungen herausstellt und aus ihrem Kommunikationsnetz, ihren Entscheidungsprozessen alle „Nachrichten“ verdrängt, die in einem anderen Code gehalten sind – was sich unter Umständen zur „epistemologischen Katastrophe“ (Karl Deutsch) und zum Hindernis eines sinnvollen Fortschritts entwickelt. Die bürgerliche „Tauschlogik“ braucht gewiss den politischen und kulturellen Strukturrahmen (Gellner), und auch der Utilitarismus steht auf keinem festem Boden. Aber der stützende Rahmen wird zur Zwangsjacke, die die Marktrationalität einengt und die Demo kratie ethnisiert; eine arrogante Philologen- und Opferlogik vergiftet die bis dahin unproblematischen Beziehungen zu den Nachbarn mit historischen Ressentiments und „völkischer“ Optik. Die Romantisierung des Nationalen ist natürlich älter als jener Funktionswandel von einem Instrument bürgerlicher Emanzipation zur Abwehrideologie gegen Reichs- und Landesfeinde: „Zersetzende“ Elemente, die der obsessiv betriebenen nationalen Homogenisierung im Wege zu stehen scheinen. Für die nationale Sammlungsbewegung ist von Anbeginn eine Vielfalt gegensätzlicher Funktionen bezeichnend (Winkler), mit unterschiedlichen symbolischen Vergewisserungen und ideellen Rechtfertigungen. Aber der Stellenwert der ideologischen Topoi ändert sich.235 Bezeichnend ist dabei die Tendenz zur uneingeschränkten Geltung des eigenen Codes und zur Abgrenzung nach außen, eine Art ‚kultureller Autismus‘. Es wäre unsinnig, die kulturelle Fruchtbarkeit und die Integrationsleistungen der nationalen Ideologien, vor allem beim Aufstieg der „ungebildeten Hintersassen 304
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der Nation“ (Otto Bauer) durch Volksschule und fortschreitende Alphabetisierung zu leugnen, man sollte aber ihre manipulierende, entfremdende und polarisierende Wirkung nicht übersehen: Erziehung und Literatur, Kunst und Philosophie werden dem Diktat bestimmter Wertvorstellungen unterworfen, auch universal angelegte Bereiche, wie Religion und Wissenschaft, werden in nationale Prokrustesbetten gezwängt. Man schließt sich in begrenzte, für national gehaltene Kultur ein, rügte Ernest Renan, und meidet die freie Luft, die man „in der Weite der Menschheit atmet… Nichts ist schlimmer für den Geist, nichts schlimmer für die Zivilisation“. Dabei ist nicht Ästhetik das Problem, sondern die Wahrnehmung der großen politischen, ethischen, kulturellen Fragen. Praktische Lösungen werden erschwert durch das Aushöhlen übernationaler Symbole und Werte, durch Prestigedenken und das ständig präsente Gefühl, in seiner ‚nationalen Ehre‘ verletzt zu werden, die von patriotischen Leitartikeln angeheizten kollektiven Überlegenheitsgefühle und entsprechenden Dämonisierungen der Nachbarn. Es fehlte in Europa nicht an Versuchen, die Dynamik des Nationalen zu bremsen und zu zähmen, und es waren nicht nur konservative Eliten, die eine übergeordnete Verantwortung anmahnten. Rudolf Virchow († 1902), Epidemiologe und Anthropologe mit Weltgeltung, Mitbegründer der Deutschen Fortschrittspartei und Anwalt der Armen, hielt Politik für „Medizin im Großen“ und Volksbildung für die Hauptwaffe der Demokratie. 1869 fordert er europäische Abrüstung und nach 1870 die Aussöhnung mit Frankreich; die koloniale Expansion hielt der Vielgereiste für eine teuere und letztlich nutzlose Unternehmung. – Die moderne Nation schien zunächst mit Fortschritt, mit Säkularisierung und Demokratisierung Hand in Hand zu gehen, aber sie wurde in ihrer Egozentrik den eigentlichen Fragen der Moderne nicht gerecht, ja verleugnete immer mehr die eigenen liberalen Grundlagen durch pseudoreligiöse Rituale, Anpassungsdruck und Gleichschaltung der Rechte des einzelnen.236 Kehren wir zu den großen Ausstellungen des 19. Jahrhunderts zurück, die ursprünglich als Kathedralen des technischen Fortschritts wahrgenommen werden wollten und mit ihren großflächig verglasten Hallenbauten auch als Experimentierfeld rationeller Bautechnik galten. In Form integrierter Wintergärten, in Verbindung mit Theater- und Konzertsaal bzw. Galerie (Jardin d’hiver, Vauxhall, Ramlagh) brachten sie progressive Anstöße gerade auch ins architektonische Denken; doch wurden die Glaspaläste als „kurzlebige Scheinwelten“ bald abgerissen. Die phantasievolle Eisen- und Glasarchitektur konnte sich teilweise bei Zweckbauten (Fabrik-, Markt- und Bahnhofshallen) behaupten, aber wurde auch da häufig von historisierenden Dekorationen überdeckt.237 Das nationale Konkurrenzdenken und die sozialen Desintegrationserscheinungen ließen bezeichnend auf traditionalistische Ästhetik und mythisierende Verkleidung 305
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zurückgreifen, wofür die Wiener Weltausstellung von 1873 den Kontrapunkt zu London 1851 setzt (Bergius, 1981). Der deutsch-französische Krieg von 1870 insbesondere hat seither die europäische Atmosphäre vergiftet. Der Krimkrieg war als zeitweiliger Irrtum, der italienische Einigungskrieg als peripherer Konflikt eines weitgehend befriedeten Kontinents angesehen worden. Jetzt schien das „größte Unglück, das der Zivilisation zustoßen konnte“, eingetreten zu sein. „Die geistige, moralische und politische Harmonie der Menschheit ist zerbrochen“, meinte Renan († 1892) schon im September 1870. Die Größe Europas beruhte für ihn, wie seinerzeit Moses Hess, im kulturellen Zusammenwirken Frankreichs, Deutschlands und Englands; das Ende dieses Traums war „ein Trauerfall für den Fortschritt“. Bismarcks preußisch-deutsche Egozentrik ignorierte die Appelle eines besseren Frankreich, und von Europa als höherer Instanz hielt er bekanntlich nicht viel. Seine Absage an die neue Pariser Weltausstellung von 1878 hatte noch die deutsche Wirtschaft brüskiert. 1889 war die erneute deutsche Absage verheerender, aber sie wurde jetzt von einer breiten deutschen Öffentlichkeit mitgetragen; nur Max Liebermann wagte es, sich darüber hinwegzusetzen. *** In seinem Aufsatz über den deutsch-französischen Krieg, veröffentlicht in der Revue des deux mondes im September 1870, erklärt Renan, die überflüssige Katastrophe sei nur eingetreten, weil „man sich von den liberalen Maximen, die zugleich solche des Friedens und der Vereinigung der Völker sind“, entfernt habe. Die Existenz der Nation, heißt es durchaus selbstkritisch, sei abhängig geworden von anmaßenden Prahlereien bornierter Militärs und den Eitelkeiten unfähiger Diplomaten; man habe den authentischen Willen der friedliebenden Nation verwechselt mit aufgeputschten Emotionen der Straße. Die außer Kontrolle geratene öffentliche Meinung habe einen „fatalen Kreislauf“ in Gang gesetzt, in dem gesunder Menschenverstand als Feigheit oder geradezu Verrat galt.238 Renan wusste, wovon er sprach. In den Wahlen kurz vor Ausbruch des Konflikts war er mit der Parole „Keine Revolution, keinen Krieg!“ prompt durch gefallen. Das Prinzip nationaler Selbstbestimmung war in seinen Augen eine Konsequenz der französischen Revolution, auch wenn die „niederträchtige terroristische Demokratie“ schließlich das Beispiel eines militärischen Despotismus und der Unterdrückung anderer Völker lieferte; auf diese Weise gebiert ein Nationalismus den anderen. Wie das unberechenbare bonapartistische Frankreich zum wichtigsten Trumpf Preußens in Deutschland wurde, stellt Renan fest, so wächst heute dem Sieger das slawische Prinzip zum Gegengewicht des 306
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germanischen heran. „Wie können Sie glauben“, schrieb Renan später an D. F. Strauss, „dass die Slawen nicht dasselbe tun, was Sie mit den anderen gemacht haben, sie, die in allem Ihnen nachfolgen?“ In der Tat verfocht das neudeutsche Reich nach Osten ein unterschiedliches Nationsprinzip als im Westen. Die nationale Selbstbestimmung ist in Renans Augen schon deshalb keine Garantie gegen die Geißel des Krieges, weil sie den rationalen und demokratischen Boden verlässt, über ihr Prinzip hinausschießt und mit historischen oder anderen pseudogelehrten Argumenten politische Ansprüche erhebt: der italienische wie der deutsche Patriot möchte z. B. nur zu gerne an die universale Rolle anknüpfen, die seine Heimat einst gespielt hat. Nicht Hegemonialmächte aber braucht Europa, sondern föderative Institutionen, die korrigierend über den souveränen Nationalstaaten stehen (Der deutsch-französische Krieg, 1870). Das nationale Prinzip ist in Renans Sicht legitim und notwendig, wenn es sich auf sich selbst, auf den begründeten Willen zur Zusammengehörigkeit einer Bevölkerung beschränkt und auf gewaltsame Annexionen verzichtet. Der Ruhm Frankreichs, heißt es ein Jahrzehnt später, bestehe im Verständnis der Nation als einer „aus sich selbst bestehenden“ Gemeinschaft. Das französische Beispiel („das Nationenprinzip ist unser“) werde nun überall nachgeahmt, mit dem Unterschied, dass der institutionelle Rahmen für nationale Politik meist nicht vorgegeben, und somit strittig war und Anlass zu ständigem Nationalitätengezerr gab. Wo sind die Grenzen der „aus sich selbst existierenden“ Gemeinschaft, welches ist das legitime Feld für die Nation als politisches Subjekt? (Qu’est-ce qu’une nation? 1882). Die Ansichten des politisierenden Orientalisten hatten sich in mancher Hinsicht geändert: Während er in den 1860er Jahren unter dem Einfluss Gobineaus unbefangen mit dem Rassebegriff operiert und das demokratische Wahlrecht für ungeeignet hält, die Probleme Frankreichs in den Griff zu bekommen, warnt der Anhänger eines elitisme civilisateur nach 1870 eindringlich davor, das empirische Selbstbestimmungsrecht durch das Prinzip der Ethnografie zu ersetzen. Die historisch entstandenen Nationen seien ein unentwirrbares Geflecht von Stämmen mit kaum mehr bestimmbaren Blutanteilen. „In der Politik hat Rasse nichts zu suchen“: in der Zivilisation entscheidet nicht Anthropologie, sondern Wille, Vernunft und Gerechtigkeit. Die deutsche Annexion von Elsass-Lothringen gegen den Willen der Bevölkerung war vermutlich der unmittelbare Anstoß für seine Einsicht, dass ethnografische Politik in die Falle „zoologischer“ Vernichtungskriege gehen kann, und auch die Sprache keinen guten Leitfaden für staatliche Grenzziehungen liefert. Wenn aber die Geografie und die zur Privatsache gewordene Religion kein Kriterium für nationale Identität abgeben, wenn wirtschaftliche Interessen bestenfalls zu Zollvereinen, aber zu keinem Vaterland führen: was sind dann die 307
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modernen europäischen Nationen, die „wie die Pairs im Senat“ unantastbar geworden sind? Zwar ist es durchaus nützlich, vergessen zu können, aber „der Mensch improvisiert sich nicht“; deshalb bildet die kollektive Erinnerung, nicht zuletzt an gemeinsames Leid, das soziale Kapital, auf dem die nationale Idee gründet – jedoch immer vor dem Hintergrund gemeinsamen Wollens in der Gegenwart. Einer Solidargemeinschaft, die sich in tagtäglichem Plebiszit immer wieder bestätigen und erneuern muss (Ebenda). Schon in seiner Antrittsvorlesung von 1862 über den Beitrag der semitischen Völker zur Zivilisation – den der Leben-Jesu-Forscher wegen deren angeblicher Neigung zu Theokratie, Anarchismus und Despotie sehr niedrig ansetzte – hatte Renan unterstrichen, dass sich der Fortschritt der Menschheit im Kampf entgegengesetzter Prinzipien vollzieht. Unter dem Eindruck von Krieg und Pariser Commune, Cäsarismus, aber auch heraufziehender technokratischer Gefahren für die Freiheit, verstärkt sich sein Ruf nach Gegengewichten, nach Toleranz und Mäßigung. „Zu Unrecht offensichtlich haben wir uns angewohnt zu glauben, dass das 19. Jahrhundert ein Zeitalter der Zivilisation, des Friedens, der tätigen Arbeit, der Souveränität der Völker einleiten würde“, schrieb er in einem neuen Brief an den vermeintlichen Gesinnungsgenossen Strauss. Alle Verabsolutierungen erscheinen ihm jetzt verderblich, nicht nur das Recht der Nation, die die Auferstehung der Toten im Sinn vergessener Ansprüche zur politischen Maxime erhebt und glaubt, die Welt nach dem eigenen Bild formen zu müssen. „Ich bin nicht katholisch, aber ich freue mich sehr darüber, dass es Katholiken gibt.“ Renan wollte in den Nationen nichts Absolutes und Ewiges sehen, insbesondere seien von ihren Ursprüngen keine verpflichtenden Lehren für die Gegenwart, und schon gar keine Fortschrittskriterien abzuleiten. Die Ethnografie verliere immer mehr an politischer Bedeutung, je mehr die Zivilisation fortschreitet, stellt er 1883 noch einmal fest, und Mannigfaltigkeit sei für den Staat von Vorteil. Das war auch der Schlüssel für sein Verständnis des europäischen Zivilisationsmechanismus: Die modernen Nationen sollten sich nicht nur die Waage halten, sondern einander gegenseitig korrigieren und ergänzen; letztlich würde jedoch Deutschland entscheiden, ob dieser Weg des friedlichen Wettbewerbs begangen und Frankreich die innere Regeneration und Reform wählen, oder „sich mit Wut in seine eigentümlichen Fehler stürzen“ würde. Diesen „schwarzen Peter“ wollten sich die Deutschen nicht unterschieben lassen. Bismarck hielt Großmut gegenüber dem besiegten Frankreich für eine Naivität; dessen Revanchebedürfnis war ihm auch ohne die Abtretung von Elsass-Lothringen gewiss. Und Publizisten vom Typus Heinrich von Treitschkes († 1896) glaubten ohnehin „besser zu wissen, was den Elsässern frommt, als jene Unglücklichen“; ihr objektiv vorgegebenes Deutschtum sollte durch Teil308
15. Industrialismus und Nationalismus
habe an der deutschen „Auferstehung“, notfalls durch preußische Zucht, wiedererweckt und von „Verwelschung“ gereinigt werden. Zu dieser zählten gerade auch die „falschen Götzen der französischen Civilisation“ (zit. Jeismann), mit der sich Frankreich – als Hegemonialmacht wie als Opfer – in der Tat erfolgreich zu legitimieren suchte. Paris war die vielfach nachgeahmte „capitale de la civilisation“: sollte Frankreich unterliegen, argumentierten viele während des Krieges, so wäre das der Niedergang der Menschheit; Deutschland war vielleicht „instruit“ (gebildet), aber wohl nicht ausreichend „civilisé“. Der Warner Renan galt manchen jetzt als von deutschem Geist verdorben; sein plebiscit de tous les jours sollte der Symbolkraft der sakralisierten Gemeinschaft weichen. So oder so hatte sich die Hoffnung auf eine harmonische, die Gegensätze relativierende Zivilisation und einen liberalen Fortschritt in den 1870er Jahren, vor allem als Reaktion auf die technisierten, blutigen Kriege unter Zivilisierten, auch auf den Börsenkrach von 1873, merklich gedämpft. Ein „psychischer und ideologischer Klimaumschlag“ hatte, nicht unverschuldet, das herrschende Sozial- und Wirtschaftsdenken, die Wertvorstellungen des liberalen Bürgertums, abgewertet. Der ökonomische Liberalismus, bald auch der politische, sah sich einer schweren Vertrauenskrise gegenüber, einem „Heimweh nach der idealisierten vorkapitalistischen Gesellschaft“ (Hans Rosenberg), das man mit Schutzzoll, korporativen Soziallehren, Antisemitismus und integralem Nationalismus, gelegentlich auch Antiklerikalismus, aufzufangen suchte. Marx und Engels hatten 1848 geglaubt, dass anstelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit ein allseitiger Verkehr und die gegenseitige Abhängigkeit der Nationen treten würde: nationale Einseitigkeit und Beschränktheit seien unmöglich geworden. Der Markt „reißt auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation“ (Kommunistisches Manifest, 1848). Die Diagnose war bestechend und sie traf auch zu, wenn man einen wertfreien Zivilisationsbegriff gebrauchte. Aber sie unterschätzte sträflich die kulturelle und politische Eigendynamik auf der Basis des festgestellten „allseitigen Verkehrs“. Der institutionelle Überbau der Industriegesellschaft musste keineswegs dem der englischen entsprechen. Auch diese entwickelte allmählich ihre Korrektive: Auf die Fabrikinspektoren der Factory Act von 1833 folgten die Schulinspektoren, auf diese die Bergwerksinspektoren und 1848 die Public Health Act (Trevelyan). Regierungsinspektion und ein neues Bewusstsein der Munizipalitäten begannen trotz erheblicher Widerstände das Laissez-faireSystem zu verändern. Marx selbst sah sich bald gezwungen, das Phänomen einer Verselbständigung des „Überbaus“ in Form des bonapartistischen Staates festzustellen, der die bürgerliche Gesellschaft in allen ihren Lebensäußerungen „umstrickt, kontrolliert, 309
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
maßregelt, überwacht und bevormundet“ (Der 18.Brumaire des L. Bonaparte, 1852). Das von der Republik verkündete allgemeine Wahlrecht war jedoch ins Gegenteil der erwarteten Wirkung umgeschlagen, und die Ängste, Sorgen und die politische Müdigkeit breiter Schichten in harten Absolutismus eines pouvoir personnel eingemündet. Marx suchte die Einheit von ‚Basis‘ und ‚Überbau‘ zu retten und erklärte, Bonaparte repräsentiere „nicht die Aufklärung, sondern den Aberglauben des Bauern, nicht sein Urteil, sondern sein Vorurteil, nicht seine Zukunft, sondern seine Vergangenheit“; doch vermochte er damit nicht den entstandenen Riss in seinem hegelianschen Monismus zu schließen, der auch die eigene Zukunftsperspektive in Frage stellen musste. Tatsächlich kombinierte das bonapartistische Regime auf eine verwirrende Weise polizeiliche Unterdrückung, geistig-politische Unfreiheit mit technokratisch-fortschrittlichen, wirtschaftsfördernden und sozialstaatlichen Zügen, das Schüren sozialer Ängste mit Prestigekulissen als Ventil und Politikersatz, nicht zuletzt mit der nationalen Idee als Legitimation machtpolitischer Abenteuer. „Das Interesse Frankreichs“, heißt es in einer Thronrede Napoleons III., sei „überall, wo es einer Sache der Gerechtigkeit und der Zivilisation zu helfen gilt.“ Unabhängig von derartiger Rhetorik erwies sich auch der zweite Bonaparte als politischer Lehrmeister Europas – insofern, als sich die Spaltung in wirtschaftlichen und politischen Fortschritt (im bisherigen liberalen Verständnis) als durchaus praktikabel erwies. Vom Liberalismus hatte sich auch die nationale Integrationsideologie fast überall abspalten lassen. Die Vielgestaltigkeit, die Wandlungen und Defizite der Gesellschaft wurden einerseits symbolisch überdeckt, anderseits emotional aufgeladen. Die Unwägbarkeiten und Ambivalenzen jedes politischen Handelns werden durch Selbstheroisierung der Nationalgemeinschaft verdrängt und eine vieldeutige Vergangenheit für Zwecke einer patriotischen Mobilisierung nicht zuletzt breiter, aufgestörter Volksschichten, ideologisiert. Im Hinblick auf die immensen Probleme der Industriegesellschaft war zwar die Stärkung der staatlichen Bürokratien und die kulturelle Integration der Bevölkerung unumgänglich, aber auch die Versuchung groß, das Funktionale zu überhöhen – bzw. zu konterkarieren – durch ersatzreligiöse Mythen, kollektive Ressentiments und Rituale der Dazugehörigkeit. Diese waren kein einfacher Überbau, sondern standen oft quer zu Errungenschaften der Moderne, wie Toleranz, unabhängiges Denken und individuelles Verhalten, das Ertragen von Pluralismus; nicht zuletzt zu Herders Gedanken, wonach Kabinette zwar gegeneinander agieren könnten, jedoch Vaterländer ruhig nebeneinander lägen. „Wir sind in Nothwehr“, behauptete Bismarck im Sommer 1872, und „können uns nicht mit liberalen Phrasen über staatsbürgerliche Rechte wehren, sondern müssen handeln.“ Das durch manipulierte Gefahrensituationen 310
16. Darwin oder Kant?
geschaffene Gefühl der Bedrohung des noch ungefestigten deutschen Staatswesens wollte vor allem die Notwendigkeit einer monarchisch-autoritären Führung suggerieren, aber führte auch einen militanten Stil in die politischen Diskurse ein, der manchmal sogar die wirtschaftliche Vernunft überwucherte. Die Hoffnung, den Krieg abschaffen zu können, sei nicht nur sinnlos, sondern geradezu unsittlich, predigte der Historiker Treitschke, Autor einer Deutschen Geschichte des 19.Jahrhunderts, aber auch Kenner des französischen Bonapartismus: der Erdball würde sich dadurch in einen Tempel der Selbstsucht verwandeln. Wichtig für den militanten Nationalisten war vor allem: jeder große und gerechte Krieg lässt den Streit der Parteien und Stände einem „heiligen Schweigen“ weichen, so dass das kleine Ich „untergeht im Willen des Ganzen“ (Aufsätze III).239 Hatten 1869/70 noch Initiativen Rudolf Virchows, des sächsischen Landtags, Lord Clarendons, für eine europäische Abrüstung breiten Anklang gefunden, so begannen nun „realpolitische“ Gedanken von der Art Treitschkes nicht nur im deutschen Denken zu überwiegen. War Cobdens Erwartung eines friedlichen zivilisatorischen Fortschritts eine bloße Illusion gewesen? Jedenfalls hatte sich die amorphe Industriegesellschaft außerstande gezeigt, von sich aus einen adäquaten Rahmen bürgerlicher Wertvorstellungen zu schaffen. Verführt von Machtambitionen und nationalen Ideologien, ließ sie sich in Bahnen eines kämpferischen Gegeneinanders leiten.
16. Darwin oder Kant? Ernst Haeckel, der Jenaer Zoologe († 1919), stellte in seinen vielgelesenen Welträthseln (1899) fest, der erbärmliche Zustand unserer öffentlichen Einrichtungen, des Staats-, Rechts- und Schulwesens, ergebe sich aus dem Umstand, dass deren Träger die großartigen Fortschritte der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert ignorierten. Statt naturwissenschaftlicher Bildung herrsche „Aberglaube und Verdummung“, „anthropistischer Größenwahn“, der den Menschen in einen Gegensatz zur übrigen Natur stelle bzw. ihn für deren Endzweck halte, und an „wunderliche Ansichten“, wie Willensfreiheit und Verantwortung für sein Handeln glaubt. Der militante Darwinist hatte in einzelnen Punkten seiner Kritik nicht ganz unrecht, aber sein grenzenloses Vertrauen in die alleinige Zuständigkeit naturwissenschaftlicher Methoden, nota bene die ausschließliche Herrschaft der Gesetze der Biologie, ist uns abhanden gekommen. Haeckel lag aber um 1900 durchaus im Trend einer unerhörten kulturellen Autorität der immer stärker institutionalisierten Wissenschaft sowie des Anspruchs, ihre 311
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
riterien in praktischer, vorzugsweise sozial-reformerischer Absicht auf die K Gesellschaft zu übertragen (Osterhammel, 1155f). Unsere Zweifel hängen auch damit zusammen, dass sich das im 19. Jahrhundert typische Bündnis von Naturwissenschaften und Liberalismus als wenig tragfähig erwiesen hat. Ursprünglich versprach jeder Nachweis natürlicher Ursachen und Gesetzmäßigkeiten das Reich menschlicher Freiheit, nicht nur gegen kirchliche Bevormundung, zu erweitern. Die präzisere Erkenntnis der Natur ermöglichte zweifellos ihre bessere Indienstnahme, wie es Bacon prophezeit hatte, und gab die meisten herkömmlichen Vorstellungen der Lächerlichkeit preis. Die statischen Naturlehren mochten sich noch mit dem Schöpfungs gedanken vereinbaren lassen; die Historisierung und Enthierarchisierung der Natur stellte die Vermittelbarkeit des wissenschaftlichen und des traditionalen Weltbildes weit stärker in Frage. Die Kant-Laplacesche Theorie von der mechanischen Entstehung unseres Planetensystems „bedurfte dieser Hypothese /eines Schöpfergottes/ nicht“, wie Laplace pathetisch gegenüber Napoleon erklärt hatte. Man sucht nach Ursachen, während sich der anthropomorphe Begriff des Zwecks auf die organische Natur und den Bereich des menschlichen Handelns beschränkt. Die mechanistische Idee der Selbstregulation durch Variation und die instrumentalistische Auffassung der Erkenntnis als Anpassung mussten auf das Prinzip der Zweckmäßigkeit nicht völlig verzichten (Fellmann). Die Wissenschaftler gingen bei der Erklärung niederer Formen sehr wohl von ihrer Kenntnis der höheren Funktionen und Zwecke der Organismen aus, die oft erst die primitiven verständlich werden ließen. – Schon 1809 hatte Jean-Battiste Lamarck († 1829) in seiner Philosophie zoologique auch die Unveränderlichkeit der Arten bestritten und die aktive Anpassung einer inneren phylogenetischen Kraft an die Umweltbedingungen als Hauptfaktor der Evolution der Arten in die Debatte gebracht. Eine aufsteigende Reihe der organischen Welt war schon früheren Naturwissenschaftlern vertraut gewesen; der Außenseiter Lamarck fragte nach der „sukzessiven Entstehung“ der gegenwärtigen Organismen durch Organdifferenzierung und Vererbung der neuen Organe an die Nachkommen. George Cuvier, der Katastrophentheoretiker und mächtige Akademiesekretär, lehnte Lamarcks unbewiesene Annahmen ab, doch die deutsche Naturphilosophie und Darwin griffen wieder auf sie zurück (Rádl, Geschichte der biologischen Theorien II, 1909). Der etwa gleichzeitig mit Lamarcks Theorie entstandene Malthusianismus (s. o.) lenkte die Aufmerksamkeit auf den Konflikt zwischen einem eingeschränkten Nahrungsspielraum und dem unbegrenzten Vermehrungstrieb, damit auf die notwendige kämpferische Selbstbehauptung, in der sich die Starken und Tüchtigen gegen die Schwachen und Schlechtangepassten durchsetzen: ein unerbittliches Naturgesetz, das Malthus aber gerade aus Beobachtungen der 312
16. Darwin oder Kant?
menschlichen Gesellschaft ableiten wollte und dem man sich nach seiner Meinung nur durch moralische Selbstbeschränkung entziehen konnte. Die Anwendung des naturgesetzlichen survival of the fittest (Spencers Terminus) auf das menschliche Zusammenleben schien tatsächlich mit dem manchester-liberalen Laissez-faire zu harmonieren, ja Marx spottete, während die bürgerliche Gesellschaft bei Hegel das „geistige Tierreich“ darstelle, verstehe Darwin das Tierreich als bürgerliche Gesellschaft (1862 an Engels). Der sich selbst regulierende individuelle Überlebenskampf und die Verpönung jeder „weinerlichen Philanthropie“, die vermeintlich nur die selbstverschuldete Armut und Abhängigkeit der Allzuvielen verewigte, konnte sich als natur-, wenn nicht gottgegeben, legitimieren. Charles Darwin († 1882), stark von Malthus beeinflusst („es ist die Malthussche Doktrin, angewandt auf das gesamte Tier- und Pflanzenreich“, hieß es im Vorwort zu seinem Origin of Species von 1859), stützte die von Lamarck begründete Deszendenzlehre durch ein mechanisches Selektionsprinzip als bewirkende Ursache der Artenumbildung im Rahmen eines allgemeinen Kampfes ums Dasein (den Darwin gleichwohl in einem weiten metaphorischen Sinn der „Anhäufung kleiner, aber nützlicher Veränderungen“ verstehen wollte, wobei er „struggle“ und „fight“ unterschied.) Doch hieß es eindeutig: „Wie jedes andere Tier, ist auch der Mensch auf seine jetzige Höhe durch einen Kampf um seine Existenz gelangt…, und wenn er sich noch höher entwickeln soll, muss er einem harten Kampf unterworfen bleiben. Sonst würde er in Indolenz versinken.“240 Darwin schien auf eine Weise durchaus ‚Sozialdarwinist‘ zu sein. Nun bedurfte auch die große „Zuchtwahl“ der Evolution keines göttlichen Züchters mehr; die „Zweckmäßigkeit“ des Lebens, ein oft bloß quantitatives Fortschreiten mit unmerklichen Übergängen der Arten, aus einfachen Anfängen zur „unendlichen Menge der schönsten Formen“, vom Unvollkommenen zum Kompliziertesten, schien mechanisch erklärt. In der Praxis war Darwin bei der Übertragung der Naturgesetze auf die menschliche Gesellschaft vorsichtig und leitete z. B. die Entstehung moralischer Gefühle auch nicht direkt aus sozialen Instinken ab: „Die Aktivität des Geistes bei der Wiedererinnerung früherer Eindrücke“ galt ihm als „fundamentale, wenn auch sekundäre Grundlage des Gewissens“; ebensowenig wollte er „die edelste Seite unserer Natur in dem niedrigen Prinzip der Selbstsucht suchen“ (Die Abstammung des Menschen, 1871). Es blieben auch weitere Fragen offen, wie Darwin bescheiden zugab, so die eigentliche Entstehung des Lebens und, nicht zuletzt, der menschlichen geistigen Fähigkeiten. Unsicher war auch die schwer beweisbare These, der wertneutrale, zieloffene natürliche Selektionsvorgang durch Kampf, Hunger und Tod bringe nicht allein für bestimmte Bedingungen tauglichere, sondern tatsächlich höhere, vollkommenere Wesen hervor, wie die weniger nachdenklichen Anhänger Darwins glaubten. 313
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Auf den ersten Blick untermauerte der Darwinismus eine säkulare Fortschrittstheorie, ebenso wie das materialistische Lebensgefühl der erfolgreichen Mittelschichten. Näher besehen, richtete er im Bereich der menschlichen Beziehungen Verwirrung an und stellte außer dem christlichen auch das auf klärerische Menschenbild in Frage. Die noch in Fundamentalopposition zur Moderne stehende katholische Kirche hielt Darwins „Versuch, Gott aus der Welt zu verjagen“, für ein absurdes Wahngebilde: nachdem man dem Menschen suggeriert habe, „sein eigener König, sein eigener Priester und sein eigener Gott zu sein, gehe der Hochmut so weit, den Menschen selbst auf die Stufe der vernunftlosen Tiere zu erniedrigen“, empörte sich Pius IX. (1877) gegenüber einem französischen Kritiker von Darwins „Affenmenschen“ (hommesinge).241 War der Existenzkampf tatsächlich ein Hebel des Fortschritts oder wurde durch ihn nicht vielmehr der Glaube an Humanisierung der Verhältnisse, an Freiheit und Gleichheit, als Illusion entlarvt? Wie vertrug sich der pessimistische Malthusianismus mit ethischer Höherentwicklung, mit Zivilisation und demokratischer Anhebung der Lage der sozial Schwachen? Waren die Fundamentalgesetze des Tier- und Pflanzenreichs geeignet, auch die zwischenmenschlichen Beziehungen zu regeln? Meinte das Naturrecht, auf das sich die „unveräußerlichen Menschenrechte“ beriefen, die gleiche Natur, wie die Gesetze der Naturwissenschaftler? Viele Zeitgenossen unterlagen der Suggestion vereinfachender Parolen. Mit Auguste Comte waren viele „Fortschrittler“ schon aus kirchenkritischer Polemik heraus geneigt, die menschliche Gesellschaft als direkte Fortsetzung der biologischen Welt und die Moral nur als eine höhere Physiologie zu betrachten: man dürfe bei Strafe des Untergangs nicht gegen die vermeintlich überall gleichen Naturgesetze verstoßen. Das war der Schlüssel zur Erklärung des Siegs roher, kräftiger Völker über die verfeinerten (F. von Hellwald). Gerade dies war aber schon immer die Crux des Fortschrittsglaubens: In welcher Hinsicht standen die siegreichen Barbaren über den Zivilisierten? Auch Herbert Spencer († 1903), wissenschaftlicher Publizist in der Tradition Comtes und Mills, wollte in seiner Suche nach einem einheitlichen wissenschaftlichen Prinzip die Erkenntnisse aus dem organischen Leben auf das menschliche Zusammenleben übertragen. Der übergreifende Begriff Spencers ist die scheinbar alles erklärende Evolution; das Weltgesetz, das sich auch außerhalb des organischen Lebens offenbart, wird inhaltlich bestimmt durch wachsende Differenzierung und stärkere Integration in einem. Seine Analogien sind aber meist vage oder banal, wie die zwischen dem Nervensystem der Organismen und der Steuerung der Gesellschaft.242 Zwar konzediert der fruchtbare Autodidakt „kardinale Unterschiede“ zwischen physischen und sozialen Organismen, wie die größere Streuung der Zentren 314
16. Darwin oder Kant?
für Wahrnehmung in der Gesellschaft, doch betont er die Herrschaft der Natur auch im menschlichen Bereich so stark, dass dieser Unterschied alles andere als klar wird. Insbesondere scheint bei Spencer die Möglichkeit einer bewusst gestalteten Entwicklung kaum berücksichtigt; seine Disziplin der Natur, unter Darwins Einfluss später als „natural selection“ bezeichnet, schließt die Ausschaltung der Unfähigen ein und verwirft staatliche Eingriffe, etwa zugunsten der Armen, als kontraproduktiven, vergeblichen Kraftaufwand; sogar ein öffentliches Schulwesen würde nur zu einer negativen Auslese beitragen und „eine wachsende Bevölkerung aus Einfältigen, Müßiggängern und Verbrechern“ produzieren (Social Statics, 1855). Durch eine Verwechslung des alten Naturrechts, das im Grunde ein Vernunftrecht war, mit seinem eigenen Naturalismus, glaubt Spencer seinen krassen Individualismus, den Anspruch eines jeden auf „die vollste Freiheit, alle seine Fähigkeiten zu betätigen“, natürlich begründet. Das war ein typischer Fehlschluss von der eigenen sozialen Erfahrung, auch von Spencers persönlichem Nonkonformismus, auf angebliche „Naturgesetze“. Seit Rousseau suchte man Freiheit in der ‚Natur‘ als Instanz gegen gesellschaftliche Zwänge, aber menschliche Freiheit kann schon aus wohlverstandenem Egoismus nicht bestehen ohne den regulierenden Zusatz, die analoge Freiheit der anderen nicht zu beeinträchtigen. Diesen künstlichen Schritt tut auch Spencer mit seinem contract of non-aggression, dem er sogar einen weiteren über positive benficence hinzufügt. Diese zivilisatorischen Ergänzungen werden von Spencer dem einen, scheinbar natürlichen ‚Entwicklungs’gang der Menschheit zugeschlagen, der seit Lamarck mit dem Verlegenheitsbegriff fortschreitender Anpassung belegt wird. Alle Übel sind bloße Konsequenzen mangelnder Anpassung, man könnte interpretieren: fehlenden Bewusstseins der Zusammenhänge, vor allem der Konsequenzen des eigenen Handelns. Die Grenze zwischen spontan wirkender Naturgesetzlichkeit und dem Handeln auf der Basis ihrer Kenntnis macht für Spencer keinen grundsätzlichen Unterschied, ebensowenig wie der zwischen Ontogenese und Phylogenese, der Entwicklung des einzelnen und der Spezies. So soll auch die alle Probleme lösende Zauberrute der Evolution eine Harmonie des Sittlichen und Physischen herstellen: ein dynamisches Gleichgewicht von Lust und Pflicht, der individuellen und der Gemeinschaftsinteressen. Was die Fortschrittstheorien des 18. Jahrhunderts als Ergebnis zweier säkularer Kräfte, des sich ausbreitenden Handelsgeistes und der Aufklärung, postuliert hatten, das bleibt auch bei Spencer unter dem Einfluss einer liberalen Umwelt der ungefähre Inhalt der vorläufig letzten Phase der „Evolution“. Das ist vor allem die Abnahme von Gewalt und Krieg zugunsten individueller bürgerlicher Initiativen, interpretierbar als Bewusstwerden rationaler Interessen, 315
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und in der Folge die Entstehung komplexer, zivilisierter Industriegesellschaften; doch bleiben die Triebkräfte seiner naturalistischen Evolution (die eigentlich keine künstlichen Eingriffe verträgt!) ebenso unklar, wie das Verhältnis von zivilisatorischem Fortschritt zum organischen Gesetz des Wechsels von ‚Differenzierung‘ und ‚Desintegration. Das Wissen jedenfalls gilt Spencer, im Vergleich zu den elementaren Gefühlen, als sekundär und indirekt; nichtsdestoweniger sollte die Verwandlung der Furcht in inneres Pflichtbewusstsein, in noch höherem Maß das Durchschauen der Irrationalität und Schädlichkeit von amoralischen Handlungen, als intellektuelle Leistung angesehen werden. Sie ermöglicht „vorausschauende Lebensfürsorge“, also bessere Anpassung, ohne selbst durch direkten Lustgewinn motiviert zu sein. Sie setzt somit die Fähigkeit voraus, Naturgesetzlichkeit im eigentlichen Sinn zu transzendieren – was Spencers Begrifflichkeit, seine Parallelisierung von embryonaler und stammesgeschichtlicher „Entwicklung“, vernebelt: die Wertvorstellungen der Zivilisation werden aus „Erfahrungen der Rasse“ abgeleitet. Dabei kennt der Philosoph durchaus unterschiedliche Normen für Familie und Gesamtgesellschaft.243 In einer Atmosphäre britischer Kampfbegeisterung und patriotischen Überschwangs während des Burenkriegs prangert Spencer eine Rebarbarisierung Englands an, das zur „Heimat der Rowdys“ geworden sei; ihn ärgert sogar das militärische Auftreten der Heilsarmee. Wenn der Staat allerdings Wohltätigkeit praktiziert, die auf einem im Grunde ‚weiblichen‘, eben Familieninstinkt beruht, einem Ergebnis von Schwäche und daraus fließendem Mitleid, statt sich an die ihm gemäße formale Gerechtigkeit und notwendige Härte zu halten, entmutigt er den Fleiß, trägt zu körperlicher und geistiger „Entartung“ bei. Spencers Individualismus und Misstrauen gegenüber dem Staat (The Man versus the State, 1884) durchbricht im übrigen häufig die Logik seiner biologischen Metaphern und lässt z. B. vergessen, dass sich der Staat als lebendiger ‚Organismus‘ im harten Daseinskampf mit anderen ‚Organismen‘ über die eben nicht naturgegebenen individuellen Freiheiten und Rechte hinwegsetzen kann: ein, wie ihm schien, unwahrscheinlicher Rückfall in den evolutionär überwundenen Militärstaat, der den hochkomplizierten gesellschaftlichen Beziehungen nicht mehr entspricht: Der äußere Zwang ist durch spontane soziale Disziplin überflüssig geworden; „der Wunsch zu befehlen /ist/ seinem Wesen nach ein Wunsch von Barbaren“. So entsteht auch der sich allmählich durchsetzende „Altruismus“ nicht einfach durch ein Gefühl der Sättigung oder Befriedigung aus der Anerkennung seitens der anderen, wie Adam Smith die Entstehung der Moral erklärt hatte, sondern durch Einsicht in die veränderten, humaneren Formen des Existenzkampfes in der kooperativen Industriegesellschaft, bzw. Einsicht in „Arten des 316
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Handelns, welche notwendigerweise Glück und welche Unglück“ erzeugen. Spencer glaubt an den großen Rhythmus sozialer Wandlungen, der sich nicht willkürlich steuern lässt. So wäre die Einführung einer sozialistischen Ordnung, die die individuelle Freiheit unterdrückt, zwar vorübergehend möglich, jedoch „das größte Unglück, das die Welt je erlebte“, mit dem Ergebnis eines „Militärdespotismus in schärfster Form“ (O. Gaupp). Dennoch ist sich der spätere Spencer nicht mehr sicher über den Endzustand der Evolution. Auch die bloße Vermehrung des Reichtums schien ihm (Facts and Comments, 1902) „Qualität zugunsten von Quantität /zu/ vernachlässigen“. Der Fortschritt im zivilisatorischen Sinn kann sich nur allmählich vollziehen, in Formen gegenseitigen Wettbewerbs, der sich keineswegs auf natürliche Auslese reduzieren lässt – auch und gerade wenn sich der Gegensatz von Geist und Natur, Pflicht und Lust im Endeffekt evolutionär auflösen soll. Spencer ist überzeugt, es werde immer mehr Menschen geben, die selbstlos ihr Glück aus der Teilnahme am „Vormarsch ins Land der Zukunft“ schöpfen: ersichtlich ein Restbestand teleologischer Vorstellungen, der sich ins zeitkonforme Kleid eines naturwissenschaftlichen Vokabulars hüllt. *** Der populäre Darwinismus, von dem sich sein Namensgeber zeitlebens nicht distanzierte, fand einen fruchtbaren Boden in der Welt des rücksichtslosen Industriekapitalismus mit seinen trostlosen Vorstadtslums, seinem Niedergang der Lebenswelt von Dorfgemeinschaft und traditionellem Handwerk und der durch periodische Krisen und Abstiegsängste nicht gerade bestätigten bürgerlichen Wertvorstellungen. Die brutalisierte Sprache der Massenpresse und einer naturalistischen Literatur ließ, entgegen Spencers liberalen Erwartungen, die Perspektive des rational denkenden und moralisch urteilenden einzelnen relativ bedeutungslos werden und wollte nur mehr die elementaren Lebenstriebe im individuellen und kollektiven Kampf der Selbsterhaltung gelten lassen. Die Biolologisierung des Denkens ließ alles, was der Mensch tut, als Mittel in diesem Kampf erscheinen: nützlich oder hinderlich in dieser Hinsicht wird zum Hauptkriterium. Auch die liberale Nationsidee neigt in einem solchen intellektuellen Klima zur Integralisierung, d. h. zu kompromissunfähiger, pseudoreligiöser Ausschließlichkeit. Das war nicht einfach das Ergebnis politischer Mobilisierung sozial verunsicherter unterbürgerlicher Schichten, sondern eben auch die Folge der Übernahme eines suggestiven darwinistischen Vokabulars, das die Beziehungen zu den anderen als Lebens- und Schicksalskampf erscheinen ließ. Es gab natürlich Widerspruch, auch von Publizisten, die selbst kaum an humanitären Skrupeln litten und den Sieg der Stärkeren über die Schwächeren als 317
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Durchsetzung der Besseren empfanden; das 19. Jahrhundert sei aber kein Zeitalter der Gewalt, sondern der Diskussion und Kooperation, der Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Ideen und des rationalen Entscheidens als Ersatz für kriegerische Tugenden (so Walter Bagehot, 1872). Die radikale Biologisierung der politischen Leitbegriffe war allerdings schon Jahre vor Darwin, so in Gobineaus Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen (frz.1853/55) vorgedacht worden, der gerade einen Primat des „Rassenschicksals“ vor den künstlichen zivilisatorischen Strukturen und Ideen zur populären Parole erhob. Das geschah vorwiegend unter dem Oberbegriff „Dekadenz“, als angeblicher Folge von Wohlstand und bürgerlicher Selbstzufriedenheit: Geld und Vergnügungssucht hätten dem modernen Europa die Vitalität älterer Epochen entzogen.244 Die sozial untergeordneten Schichten, ursprünglich unterworfene Ethnien, übten „Declamationen gegen die Tyrannei“ und versuchten, die „natürlichen Ursachen der Überlegenheit“ zu leugnen; doch seien bestimmte Fähigkeiten nun einmal „das ausschließliche Erbtheil dieser und jener Nachkommenschaften“, insbesondere der Arier. Gleichheitsideen galten Gobineau († 1882) geradezu als Anzeichen fortgeschrittener Entartung, erzeugt durch Blutvermischung. Dabei wurde „aus dem Überleben der Tauglichsten irgendwie das Überleben der Untauglichsten“ – ein pessimistisches Alibi für Aggressivität (Peter Gay). Es verstand sich von selbst, dass ältere, liberal oder aufklärerisch geprägte Orientierungen, von den kirchlichen ganz zu schweigen, seitens der aufkommenden kollektivistischen Dynamik als falsch, eben unnatürlich, attackiert wurden. Die ethnisierte, organisch substantialisierte Nation lässt sich unter der Suggestion eines kollektiven Überlebenskampfes nicht mit Brosamen individueller Bürgerrechte abfinden, Friedrich Schleiermachers Bürgerideal eines „freien Umgangs vernünftiger, sich untereinander bildender Menschen“. Auch jenseits von Gobineaus aristokratischem Niedergangsgefühl, doch nicht unabhängig vom Scheitern der mitteleuropäischen Emanzipationsbewegungen von 1848, gerieten die universellen Werte, die die Aufklärung mit freier Gesellschaft verbunden hatte, in den Verdacht, Täuschungen gegenüber exklusiven Gruppenwerten darzustellen. Die Gruppe, ob Rasse oder Klasse, ist das eigentliche Handlungssubjekt, nicht das rationale Individuum, dessen Gedanken und Interessen sich zu Institutionen der Gesellschaft verdichten. Während Thomas Huxley, dem einst treuesten Gefolgsmann Darwins, 1893 Zweifel am Vorbild der Natur für die ethischen und politischen Entscheidungen sowie an der Gleichung vom Überleben der Tauglichsten und der Besten gekommen waren, setzte sich Gobineau im deutschen Sprachraum, trotz Richard Wagners Bewunderung, voll erst um 1900 durch (1894 gründet K. L. Schemann die Gobineau-Gesellschaft). Der in Österreich wirkende Soziologe Ludwig Gumplowicz († 1909) 318
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folgt Gobineau insofern, als die sozialen Unterschiede auch für ihn ursprünglich auf ethnischen beruhten und die ‚irreführende Menschenrechtsideologie‘ nur als Instrument der Unterdrückten zu dienen schien (Der Rassenkampf, 1883): Die Eroberer besitzen nicht nur die Macht und schaffen sich ein ihnen gemäßes Recht; sie sind auch moralisch überlegen. Es ist nach Gumplowicz überhaupt falsch anzunehmen, dass der einzelne denkt und handelt245: eine auf Verklärung großer Männer ausgerichtete Geschichtsschreibung ist deshalb wissenschaftlich wertlos. Jede geschichtliche Tatsache erklärt sich aus kollektiver Selbstbehauptung, dem Druck und Gegendruck heterogener Gruppen, der Unterwerfung der Schwächeren als Naturgesetz und Triebfeder; jedes Recht ist ein erzwungener, labiler Kompromiss innerhalb der ewigen Tendenz der menschlichen Gruppen, einander gegen seitig zurückzudrängen und auszubeuten ( Die sociologische Staatsidee, 1902). In seinem Streben nach Machtvermehrung könne kein Staat sich je mäßigen, dekretierte der Imperialist, der 1909 in den Freitod ging; die innere Politik erschien ihm als bloßer „Appendix“ der äußeren – was auch die deutschen historische Schule lehrte. Ein blinder kategorischer Imperativ des Naturgesetzes beherrscht so die menschlichen Beziehungen, nicht nur die der Staaten, die den natürlichen Antagonismus der Gruppen organisieren, wobei Gumplowicz die Idee des Nationalstaats und der ethnisch einheitlichen Nationalgeschichte als Legende zurückweist: Jeder Staat ist kriegerischen Ursprungs und definiert sich geradezu als Instrument zur Unterdrückung ethnisch fremder Elemente. Das war Gift für den Zusammenhalt des auf Kompromiss und Verständigung angewiesenen „Vielvölkerreichs“ „Ohne Rassengegensätze gibt es keinen Staat“, glaubt der Soziologe, anderseits ohne Rassenverschmelzung auch keine Kultur und Zivilisation – die aber mit Gobineau konsequent als Niedergang verstanden wird. Nivellierung, Schutz der Schwachen, Verfeinerung signalisieren immer schon Entartung (Rasse und Staat, 1875). Gumplowicz folgt auch Schopenhauers Abwertung der Geschichte als Wissenschaft – soweit sie sich mit dem Besonderen und Einmaligen befasst, Wissenschaft jedoch damit, was zu allen Zeiten war, ist und sein wird. Mit seiner dilettantischen These von der „ewigen Wesensgleichheit der sozialen Vorgänge“ glaubt er das Wissenschaftskriterium zu erreichen, verabschiedet sich aber zugleich von der Idee eines sinnvollen Fortschritts. Der Zeitgeist scheint trotz lauter Fortschrittsrhetorik dasselbe zu tun: seine vernehmlichsten Wortführer zumindest ordnen den Krieg nicht – wie noch Spencer – einer barbarischen Vergangenheit zu und sehen in ihm keinen Gegenspieler der Zivilisierung, sondern ein nach wie vor wichtiges Werkzeug der Evolution. David Friedrich Strauss, einst junghegelianischer Leben-Jesu-For319
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scher, mokiert sich in seinem Alten und neuen Glauben (1872) im Überschwang des deutschen Sieges über aufklärerische Kritik an den Eroberern: Heute kenne man die tieferen Triebfedern des Kulturfortschritts und halte die Abschaffung des Krieges keineswegs für wünschenswert. In den großen Lebensfragen entscheidet die ultima ratio der Kanonen, und Vernunft und Wissenschaft ändern nichts an den Grundgegebenheiten des Menschen. Als besonders verwerflich empfindet der Patriot die kosmopolitische Zumutung, die gottgewollten und naturgemäßen Nationalstaaten in „Haufen verbündeter kleiner Socialdemokratien“ aufzulösen. Derartige Ideen waren keine Besonderheit kleindeutscher Erfolgstrunkenheit. Die eigene Überlegenheit, die sich nicht zuletzt militärisch bewies, wurde als eine letztlich rassische dargestellt und durch die Konstruktion des minderwertigen Anderen untermauert. Sie kam den zahlreichen Propagatoren des Empire, wie Charles Dilke (Greater Britain, 1876) natürlich entgegen. Für den zeitweiligen Unterstaatssekretär im Foreign Office war die Ausdehnung und die Herrschaft der angelsächsischen Rasse über die weniger fähigen das berechtigte und auch wohltätige Ergebnis biologischer Gesetze, wenn nicht eine der höheren Rasse auferlegte Pflicht. Später wird der „Biopolitiker“ Charles Harvey (Biology of British Politics, 1904) in diesem Sinn die Herrschaft der politisch erfolgreichen Nationen über die kleineren für ein unwiderrufliches Urteil von Natur und Geschichte in einem halten. Der Dichter Rudyard Kipling († 1936) ist nur der populärste von vielen, der eine Mission der angelsächsischen Rasse (the White Man’s Burden) als Werkzeug Gottes und Resultat der natürlichen Auslese in einem verkündet: die Aufgabe, Ordnung ins Chaos der Völker des Ostens zu bringen. Immer sei Krieg ein untrügliches Mittel, das „nationale Korruption bestraft und nationale Tugend belohnt“, erklärte auch H. F. Wyatt, der langjährige Sekretär von „Darwin’s bulldog“ T. H. Huxley.246 Der amerikanische Bürgerkrieg und die europäischen Einigungskriege der zweiten Jahrhunderthälfte galten als Beweis der Führbarkeit von Kriegen auch im industriellen Zeitalter und schienen zumindest vom Ergebnis her die pazifistische Lehre von der Unvereinbarkeit von Krieg und Fortschritt als unfruchtbaren Doktrinarismus zu entlarven. Andere, wie der französische Sozialanthropologe G. Vacher de Lapouge († 1936), Professor in Montpellier und wütender Antisemit, ließen den Kampf ums Dasein nicht als Motor des Fortschritts gelten, wenn auch als Kriterium gegebener rassischer Überlegenheit: Die Höherwertigen gehen gerade aufgrund ihres Sieges und der darauf folgenden Vermischung mit den Besiegten zugrunde. Die Ungleichheit der Menschenrassen ist nach Lapouge unabänderlich, aber der Niedergang zumindest teilweise korrigierbar, etwa durch Sterilisierung Minderwertiger, die Förderung rassisch Hochwertiger (z. B. durch Polygamie, 320
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möglicherweise sogar die bewusste Züchtung einer classe inférieure réduite au minimum psychique, einer psychisch minderwertigen Dienstklasse zur Entlastung der schöpferischen Arier).247 Für die Zukunft erwartete auch Lapouge unbarmherzige Rassenkriege. *** Der Sozialdarwinismus war nicht nur eine Angelegenheit von Status-quo-Verteidigern und biologisch argumentierenden Imperialisten, sondern ging in diverse Verbindungen mit anderen Strömungen der Zeit ein. Sozialreformer dachten z. B., nur durch eine bessere Integration der Arbeiterklasse im Daseinskampf der Völker bestehen zu können – eine Variante von Cecil Rhodes’ Ausspruch, wenn man den Bürgerkrieg vermeiden wolle, müsse man Imperialist werden. Das geistige Klima hatte sich in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts verändert. Mit dem Verlust des Vertrauens in eine letztlich harmonische Entwicklung und mit einer Reihe von Wandlungen in den biologischen Lehrmeinungen der Zeit, wie der Keimplasmatheorie Weismanns (1892) oder den Studien Galtons und Pearsons über die Erblichkeit von Begabungen (nach 1869) verschob sich der Schwerpunkt der Diskurse zur grundlegenden Bedeutung der menschlichen erbbiologischen Ausstattung. Es schlug die Stunde der Rassen hygiene und gesellschaftlich gesteuerten Eugenik. Da die natürliche Auslese in der Zivilisation zu versagen, ja eine qualitative Verschlechterung der biologischen Erbsubstanz sich anzubahnen schien, propagierte eine Variante des Sozialdarwinismus die Notwendigkeit einer gesellschaftlich gesteuerten „Eugenik“. Francis Galton († 1911) entwickelte biometrische Methoden und wollte durch Geburtenkontrolle und Förderung Geeigneter statt „Kretins“ Genies in die Welt setzen. 1908 gründete er die Eugenics Education Society. Der Bio-Utopist und ‚Rassehygieniker‘ Alfred P loetz (Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen, 1895) wollte Kranke und Schwache mit Hilfe von Morphiumspritzen „ausjäten“. In einem Flugblatt von 1910 schlug er vor, Gegengewichte zum Verlust der natürlichen Auslesemechanismen aufzubauen: Hindernisse für die Fortpflanzung Minderwertiger, insbesondere Isolierung und Eheverbote, dagegen Begünstigung der Fortpflanzung der Tüchtigen, ferner Verhütung minderwertiger Einwanderung, die Erhaltung von Wehrhaftigkeit, den Kampf gegen den Luxus etc. (nach G. Mann, Rassenhygiene 1973).248 Ein darwinistischer Kampf der „Arten“ war der übergeordnete Rahmen, dem sich auch der innere Kampf der Individuen und sozialen Gruppen unterzuordnen hatte: manche Autoren ereiferten sich gegen das Gleichheitsprinzip als Politik der Gegenauslese, andere hielten sozialpolitische Maßnahmen für not321
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wendig, die eigene Nation für den externen Kampf ums Dasein fit zu machen. Nicht nur könne man sich keinen Klassenkampf leisten, äußerten Sozialdarwinisten, die Schaffung echter Chancengleichheit würde gerade Bedingungen für eine unverfälschte Auswahl der Besten herstellen. Ohne eine solche Politik, so der englische Eugeniker und Sozialist in einer Person Karl Pearson († 1936), wäre der Niedergang Großbritanniens unvermeidlich. Wenn sich einzelne Darwinisten zum Sozialismus hingezogen fühlten, so war die Attraktivität Darwins bei den Sozialisten, Marx und Engels († 1895) eingeschlossen, nicht geringer. Mit dem Anspruch, die historischen Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft gefunden zu haben, empfand man Darwins Entdeckung des Entwicklungsgesetzes der organischen Natur als Parallele und Bestätigung der historisch-materialistischen Methode, wie es nicht nur Engels (1883 an Marx’ Grab) aussprach.249 In seinen eigenen Versuchen der achtziger Jahre, auch in Anknüpfung an Morgans Studien über die archaische Familienstruktur, wurden beide Bereiche durch die Formel: Kampf um Nahrung und Fortpflanzung, Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens, auf einen gemeinsamen Nenner gebracht (Vorwort zum Ursprung der Familie, 1884). Je weiter zurück, meinte Engels, werde die Entwicklung der Menschheit stärker durch natürliche Bande verwandtschaftlicher Beziehungen, und je weiter nach vorn in der Zeitachse eher durch technisch bestimmte Arbeit sowie die entsprechende Eigentumsordnung beherrscht, doch war der Unterschied ein nur gradueller. Auch in zahlreichen weiteren Texten, wie dem Fragment über den Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, wird die Naturwüchsigkeit der geschichtlichen Prozesse herausgestrichen; das Bewusstsein der Handelnden ändert nichts an der Herrschaft dieser Gesetze, die von den materiellen Daseinsbedingungen diktiert werden (Ludwig Feuerbach, 1888). Engels sieht den Hauptunterschied zwischen der Entwicklung der außermenschlichen Natur und der Gesellschaft vor allem im Werkzeuggebrauch, aber dieser ist, wie bei Spencer, Bestandteil einer „natürlichen Evolution“ und ändert nichts an der Abhängigkeit von den immanenten Gesetzmäßigkeiten. Engels ironisiert den Appell an die Moral als eigenständige Kraft, doch wird die sozioökonomisch bestimmte Stufenleiter der Gesellschaftsformen von einer Teleologie des Fortschritts zur Freiheit (AntiDühring, 1877) durchdrungen.250 Der Sozialismus sollte kein bloßes Resultat vernünftigen Wollens sein, also nicht von kontingentem Bewusstsein der Akteure abhängen, sondern – undarwinistisch – vorprogrammiertes Endergebnis einer immanenten Geschichtslogik sein („die antagonistische Hülle der repressiven Produktions- und Sozialordnung abzustreifen und zur reichen Blüte in Solidarität und individueller Freiheit zu gelangen“, nach Gerd Irrlitz).251 Dieses hegelsche Freiheitsethos im naturge322
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setzlichen Vokabular des Marxismus war es auch, das z. B. Paul Lafargue († 1911) heftig der Meinung widersprechen ließ, Darwin bestätige die Gesetze der herrschenden Klassengesellschaft samt ihrer Ausbeutung der sozial Schwachen: die bestehende Ordnung ignoriere gerade die Gesetze der organischen Entwicklung (1886). Tatsächlich hatte Darwin selbst auf die kontraselektiven Auswirkungen großer erblicher Besitzunterschiede hingewiesen, so dass sich aus seinen Lehren zumindest die Forderung nach chancengleichem Wettbewerb ableiten ließ. Wilhelm Liebknecht († 1900) verurteilte entsprechend die heutige Gesellschaft als anarchische Ausartung des unausweichlichen darwinistischen Konkurrenzkampfes; die Sozialdemokratie wolle die Verschiedenheit als notwendigen Hebel des Fortschritts keineswegs abschaffen, wohl aber den ungleichen Zugang zu den sozialen und kulturellen Errungenschaften (Vorwärts, 1894). Auch Karl Kautsky († 1938), der Hüter des orthodoxen Glaubens an eine gesetzmäßige historische Entwicklung, beteiligte sich an der Debatte um den Darwinismus. Trotz der gemeinsamen Grundlage der „Bewegungsgesetze“ von Natur und Gesellschaft schien ihm, dass der unbarmherzige Kampf ums Dasein potentiell um so weniger zur Geltung kommt, je entwickelter eine Gesellschaft ist, d. h. je mehr die Einsicht in die Zusammenhänge der Natur wächst und mit ihr die Möglichkeit medizinischer, technischer und weiterer Eingriffe, die Kautsky fortschrittsgläubig für tendenziell menschenfreundlich und keineswegs für „entartend“ hält: eine nur durch kapitalistischen Wettbewerb noch behinderte menschliche Neigung, Schwache zu schützen und Kampf durch Arbeit zu ersetzen (1890). – Der Rekurs auf „Wissenschaftlichkeit“ wollte die Utopie und das Ideal, die „Ohnmacht des bloßen Sollens“, durch eine vorgegebene objektive Entwicklungslogik überflüssig werden lassen; der Emanzipationskampf der Arbeiterschaft war objektiv sittlich, ohne es subjektiv sein zu müssen (I. Fetscher). Es wäre nach Marx’ Worten „albern“, ja „reaktionär“, sich gegen die vorhandene fragwürdige Gesellschaft auf die „Mythologie“ von Freiheit und Gerechtigkeit zu berufen, es gehe vielmehr darum, die schon vorhandenen Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, bzw. die Notwendigkeit, das Neue aus den bestehenden Widersprüchen abzuleiten. Das war nicht „Anpassung“, sondern „Mutation“, wenn nicht die verrufene alte Teleologie: Alle Dialektik ist teleologisch, bemerkte Woltmann. Der dialektische Umschlag von einer nur erlittenen Geschichte zu einer solchen, die die Menschheit in die eigenen Hände nimmt, glaubte sich auf eine immanente Verelendungs- und Zusammenbruchsperspektive stützen zu können, die die freie Assoziation der Produzenten sozusagen in ihrem Schoß trug. Die Zivilisierung des wirtschaftlichen und sozialen Kampfes ist aber kein zielgerichteter spencerscher Evolutionsprozess und ist auch nicht gegen barbarische Rückfälle gefeit. 323
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Die Aussicht auf kollektive Emanzipation als Ergebnis einer scheinbar objektiven Analyse der bestehenden Verhältnisse, ein humanitäres Ziel, das in die „natürliche“ Entwicklung hineinprojiziert wird, hat zweifellos das Selbstbewusstsein der Arbeiterschaft gestärkt, ihren Glauben an den unaufhaltsam näherrückenden „großen Kladderadatsch“, wenn nicht die Erlösung des gesamten Menschengeschlechts. Das immense Wachstum der Produktivkräfte, losgelöst von „unnatürlichen“ Produktionsverhältnissen, sprich: dem Kapitalismus, treibt den Fortschritt in ein Stadium der Entwicklung, in dem erst die ‚wirk liche‘, d. h. selbstbestimmte Geschichte der Menschheit beginnt.252 Der nicht ganz konfliktfreie Flirt zwischen dem Darwinismus und sozialistischen Ideen war um 1900 verbreitet: Armand Bouchez, französischer Sozialist, wollte die Ersetzung des darwinistischen Existenzkampfes der Individuen durch den Klassenkampf als dessen Anhebung auf eine moralisch höhere Ebene verstehen, die die Herrschaft der hobbesschen Wolfsgesellschaft beendet. Auch andere (Grant Allen) interpretierten den Sozialismus geradezu als letztes Glied der Kette einer biologischen Entwicklung; hier würden weder Willkür noch Zufall mehr den authentischen Wettbewerb der Tüchtigsten beeinträchtigen. Bezeichnenderweise war für ihn nicht das Individuum, sondern die Rasse die eigentliche Einheit, die durch unverfälschte Auslese an Kraft gewinnt. Das Selektionsprinzip sollte als allgemeiner Regulator des Lebens funktionieren, auf den der zweckbewusste Wille der Gesellschaft erst eigene Binnennormen setzt; wenn aber in einer Gesellschaft die Unterdrückung der Schwachen, die Vernichtung der Leidenden oder Prämien auf die Selbstsucht Gesetz würden, wäre das Gemeinwesen dem Untergang geweiht. Rassenhygienische Maßnahmen oder die Unterdrückung „zivilisationsunfähiger“ Neger galten dagegen auch auf der Linken (Ludwig Woltmann, 1903) als „fortschrittlich“. Entgegen den Beschuldigungen der liberalen Darwinisten dachten die kollektivistisch argumentierenden nicht daran, den Kampf ums Dasein abzuschaffen, allenfalls ihn Regeln zu unterwerfen, die im Gemeinschaftsinteresse „Energieverluste“ und „Wettbewerbsverzerrungen“ vermeiden sollten, während in den gegenseitigen Beziehungen der Völker und Großgruppen seine Gesetze mehr oder weniger uneingeschränkt ihre Gültigkeit behielten. *** Während Karl Kautsky das Gebiet der materialistischen Geschichtsauffassung in engelsscher Manier so weit ausdehnte, dass es sich mit dem der Biologie berührte und die Geschichte der Menschheit „nur einen Spezialfall der Geschichte der Lebenswelt“ bildete, wollte sich eine Reihe gleichermaßen ethisch wie empirisch argumentierender Autoren inner- und außerhalb der 324
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Arbeiterbewegung nicht auf ein automatisches Zusammenfallen von Kausalität und Teleologie verlassen. Für Eduard Bernstein († 1932), neben Kautsky lange ein führender Theoretiker der Sozialdemokratie, galt gerade die scheinbar objektive Prognose eines unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs des Kapitalismus als utopisches Residuum. Das Ziel einer besseren, gerechteren und freieren Ordnung war gewiss nicht ohne Kampf und genaue Analyse der sozialen Realität zu verwirklichen, aber diese wies eben nicht die von Marx prophezeite Polarisierung in wenige Kapitalmagnaten und eine erdrückende Mehrheit elender Proletarier auf. Das revolutionäre Sollen ergab sich nicht einfach, wie die Orthodoxie lehrte, aus der Einsicht in die ökonomisch bedingten Entwicklungsgesetze, so dass die Berufung auf Ideale für überflüssig erklärt werden konnte, wenn nicht für konterrevolutionäres Einschmuggeln klassenversöhnlerischer Illusionen in die wissenschaftliche Weltanschauung. Das Bemühen um ein menschenwürdiges Dasein wurde von den „Revisionisten“ rehabilitiert als praxisleitender Imperativ von der Art kantischer regulativer Ideen. Überflüssig erschienen ihnen umgekehrt Dogmen eines erfahrungsresistenten scheinbaren Totalwissens: das teleologische Bild eines Geschichtsprozesses, der mit eiserner Notwendigkeit seiner historischen Erfüllung entgegeneilt. Es war sinnvoll in einer Situation der Schwäche, aber nicht mehr, wenn die Sozialdemokratie von Wahl zu Wahl stärker wurde, die Reallöhne stiegen und statt der Polarisierung von extremem Reichtum und ebenso extremem Elend sich eine komplizierte Industriegesellschaft mit einem wachsenden Mittelstand herausbildete. Das chiliastische Endziel, in dessen Schatten meist eine unspektakuläre Tagespragmatik gedieh, war jedoch das ideologische Schutzschild, der Gestus einer höheren geschichtlichen Mission, vielleicht das Alibi eines verlorengegangenen Radikalismus. Den Parteiideologen ging es, wie schon Marx, darum, eine trübe, vieldeutige Wirklichkeit durch eschatologische Erwartung zu dramatisieren und für eine lichte Zukunftsvision zu instrumentalisieren. Weil die Moral ein der sozioökonomischen Lage entsprechender Überbau, bestenfalls eine zusätzliche Waffe im Klassenkampf war, hielten es die Orthodoxen für irrelevant, aus sittlich-humanitärem Bewusstsein oder praktischem Sinn „subjektive“ Korrekturen an einer sich mit der elementaren Gewalt eines Naturprozesses vollziehenden Entwicklung anzustreben. Dagegen empfahl Bernstein, den Glauben an den Großen Sprung zugunsten des Kampfes um demokratische Spielregeln aufzugeben, die die probeweise allmähliche Umgestaltung – in Richtung genossenschaftlicher Teilhabe an Staat, Gesellschaft und Wirtschaft – ermöglichen würde. Bernsteins Buch schien der Partei den notwendigen Enthusiasmus zu rauben und wurde entsprechend verketzert. Es stand aber die Frage im Raum, ob der 325
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Sozialismus nicht auch ohne geschichtsphilosophische Ermächtigung, als praktisch-ethisches, demokratisches Ziel neben anderen, plausibel gemacht werden könne. Max Adler († 1937) widersprach zwar der Ableitung des Sittlichen aus dem „Sozialtrieb“ und der Ersetzung ethischer Urteile durch geschichtliche: Das Soziale ist ethisch indifferent, und die ökonomischen Bedingungen eines erwünschten Zustands erfordern zu seiner Verwirklichung des „wählenden sittlichen Bewusstseins“ als unentbehrlicher Komponente. Trotzdem hielt Adler die ethische Wertung letztlich für geschichtsimmanent, so dass die historischen Prozesse „Ethik en marche“ darstellten (1913). Mit anderen Worten, Moral, Recht, Vernunft sind im Grunde nur „ideelle Ausdrücke“ für die Beseitigung bestehender sozialer Schranken, wie es in einem anderen Zusammenhang hieß (1909), so dass das Vernünftige für den Austromarxisten nichts anderes darstellte als das umfassendere Soziale, das mit unwiderstehlicher Gewalt aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen hervorwächst. Das praktische Ergebnis war jener „Attentismus“ der Vor-Weltkriegs-Arbeiterbewegung (D. Groh), der – analog zu den pessimistischen Rassetheoretikern – in jeder noch so großen Entfaltung der Produktivkräfte nur die Bestätigung einer unvermeidlichen Degeneration erblickte.253 Auch Bernstein wollte sich an der empirischen sozialen Wirklichkeit orientieren, aber auf „sinnverrenkende Auslegungskünste“ verzichten, die diese mit einem unsicheren Endziel in Einklang bringen sollten, auch auf den doktrinären Drang, alles deterministisch aus einer einzigen Ursache abzuleiten. In Anknüpfung an den späten Engels sah er komplizierte Wechselwirkungen zwischen dem Gesellschaftszustand und dem „subjektiven Faktor“, die einen erheblichen Spielraum für außerökonomische Gestaltungskräfte versprachen. In dem Maß, in dem es praktisch gelingt, Allgemeininteressen gegenüber dem Privatinteresse Raum zu geben, erklärte Bernstein, „hört das elementare Walten der ökonomischen Mächte auf“ (Die Voraussetzungen des Sozialismus, 1899). Den Allgemeininteressen mehr Gehör zu verschaffen hieß, den Zusammenhang von Sozialismus und Demokratie zu klären, und das tat Bernstein schon durch die Hervorhebung des gleichen Wahlrechts als Chance einer „Verallgemeinerung des Bürgerseins“ und der graduellen Verwandlung der Klassenherrschaft in ein zivilistisch geordnetes Gemeinwesen. Das war natürlich keine leichte Aufgabe, aber die Demokratie war für ihn nicht mehr taktisches Mittel zur Erkämpfung des Sozialismus, sondern Form der Verwirklichung selbstbestimmten Lebens, Zweck an sich. In einer sich zunehmend differenzierenden Industriegesellschaft war die Emanzipation der Arbeiter nicht mehr als eschatologischer Sprung ins „ganz Andere“ vorstellbar, nicht als einfache Konsequenz unlösbarer Widersprüche des Kapitalismus, und schon gar nicht durch Terror und blanquistische Gewalt gegen den „Staat der Expropriateure“ einzuführen, 326
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sondern nur als schrittweise Transformation einzelner Bereiche in Richtung Partizipation und Herrschaftsabbau. Obwohl der englische Titel von Bernsteins Hauptwerk Evolutionary Socialism eine Konzession an die naturwissenschaftlichen Begriffe der Zeit signalisierte, stellte es einen deutlichen Paradigmenwechsel vom vermeintlichen Evolutionsautomatismus zu einem empirischen Lernprozess dar, von wissenschaftlich autorisierter Zukunftsverheißung zu einem eigenverantwortlichen „fallibilistischen Marxismus“ (H. Kleger). Das bedeutete, die von der offiziellen Parteiideologie weitgehend ausgeblendeten Bereiche unterhalb der Katastrophen erwartung, wie Arbeitsrecht, Tarif- und Kommunalpolitik, die Chancen pragmatischer Bündnisse mit bürgerlichen Radikalen und Pazifisten, rechtsstaatliche und frauenrechtliche Fragen ernsthafter ins Visier zu nehmen: eine kulturelle Weichenstellung. Aus der abgrenzenden ideologischen Wagenburg heraus ins sozial offene bürgerlich-demokratische Modell der Bildung, Erziehung und vernunftmäßigen Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, der Teile der Arbeiterschaft durchaus zu folgen bereit waren.254 Diesen unsicheren Weg der mühevollen kleinen Schritte hatte der 1848er Demokrat, Pädagoge und Sozialreformer F. A. Lange († 1875) schon Jahrzehnte zuvor der Selbsttäuschung eines eindimensionalen geschichtsphilosophischen Determinismus und Fundamentalismus entgegengehalten. Die passende Organisation der Arbeit springt nicht fertig aus dem Haupt des Erfinders, hieß es in Langes Arbeiterfrage (1865, Neubearbeitung 1875). Alle absoluten Wahrheiten seien falsch, glaubte der linke Neukantianer, der Marx’ Hegelianismus für einen Rückschritt in die Scholastik hielt und den Materialismus für einen „metaphysischen“ Irrtum. Unseren Ideen kommt keine objektive Wirklichkeit zu; sie sind Instrumente der Erkenntnis und des moralischen Handelns (Geschichte des Materialismus, 1866). Lange maß der Selbsttätigkeit der Arbeiter, der Bildungsarbeit und dem Kampf um die Erringung eines würdigen Daseins nicht zuletzt ethische Bedeutung bei; doch wollte er die Emanzipation des Vierten Standes weder als zwangsläufiges Umschlagen bzw. dialektische „Verneinung der Verneinung“ verstehen, noch ihr die welthistorische Dimension einer vollkommenen Wiedergewinnung der Humanität zuschreiben. Bemerkenswert ist Langes (von Engels belächelter) darwinistischer Ausgangspunkt: der Kampf ums Dasein, das „Naturgesetz der Konkurrenz um das Leben“, das er jedoch durch die Fähigkeit, sich mit berechneter Zweckmäßigkeit über den „grausamen Mechanismus“ der Naturgesetze zu erheben, korrigieren wollte. Menschliche Erkenntnis und Friedensfähigkeit sollten die Naturbasis der Geschichte durch eine „höhere Gestaltung der Gesellschaft“ überwinden. Zu Langes angestrebtem Vernunftstaat, der den existierenden Notstaat ablösen soll, gehört die „republikanisch organisierte Fabrik“, Produk327
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tionsgenossenschaften, die den Arbeitern durch reale Teilhaberechte Verantwortungsgefühl und die Erfahrung der Selbstorganisation vermitteln sollten: Mit der keineswegs selbstverständlichen Fähigkeit zur Leitung der Geschäfte stellt sich ein ausgewogeneres Verhältnis von Freiheit und Gleichheit ein. Der langwierige Prozess der Befreiung aus unwürdiger materieller, intellektueller und moralischer Abhängigkeit nicht nur der Arbeiter scheint Lange schon im Gang zu sein, nicht jedoch im Sinn spekulativer Proklamationen. In den Jahren des Sozialistengesetzes blieben die pragmatisch-humanen Vorschläge beiderseits der Barrikade ungehört. Der Sozialismus wird von einem durch die Reichsgründung saturierten Besitz- und Bildungsbürgertum, nach den Worten des schon erwähnten Hegelianers D. F. Strauss, als „üppiges Mistbeet“ denunziert, in dem asoziale Verbrechen gedeihen. An der Deutungshoheit einer sich verhärtenden marxistischen Orthodoxie scheiterten umgekehrt auch alle Ansätze, der sozialistischen Perspektive eine ethische Begründung zu geben.255 Der wahrscheinlich bemerkenswerteste Ansatz in dieser Richtung war die Aktualisierung von Kants Kategorischem Imperativ durch Hermann Cohen († 1918), dem Nachfolger auf Langes Marburger Lehrstuhl: der Forderung nämlich, jeden Menschen stets als vernünftiges Wesen und unbedingten Selbstzweck, nie als bloßes Mittel zu behandeln. Kein Zweifel, dass die Arbeiter einer Fabrik im späten 19. Jahrhundert weder nach dieser Maxime behandelt wurden, noch Gesetzen unterworfen waren, „denen sie aus freiem Willen hätten zustimmen können“. Das ethische Leitbild einer genossenschaftlichen Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft sollte, anders als der in Cohens Sicht ungeeignete Materialismus, den Boden bereiten für eine reformerische Überwindung der herrschenden Heteronomie (der „gewappneten Selbstsucht“) durch praktische Mitverantwortung fürs Allgemeine (Einleitung zur Neuauflage von Langes vielgelesener Geschichte des Materialismus, 1896).256 Es sei ein grundsätzlicher Irrtum, antwortet der Wiederentdecker Kants auf eine Anfrage über die ethische Bedeutung des gleichen Wahlrechts für Ungleiche, zu glauben, der Mensch könne auf andere Weise reif und selbständig werden, als durch eigene Mitwirkung, sei es im wirtschaftlichen oder im staatlichen Bereich. Die Regeneration des politischen Lebens aus dem ethischen Gehalt des Sozialismus (dessen wahrer Begründer für ihn Kant war) sollte die gegenwärtige Degradierung des Arbeiters zur Ware beenden, aber auch die revolutionäre Eruption verhindern, die sich als Ergebnis herrschender Einsichtslosigkeit auf der einen und ideologischer Verhärtung auf der anderen anbahnte. – Wie sich der ethische Sozialismus nicht an klassenkämpferischen Teilinteressen orientieren darf, sondern an einem letztlich religiösen Glauben an die Wirklichkeit der moralischen Welt, so hat der kantianische Rechtsstaat nicht in erster Reihe ökonomische Belange zu bedienen, sondern die Rechte und Pflichten der ihm 328
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Unterworfenen zu schützen und gleich zu verteilen. Er ist auch nicht nur einem einzigen Volk verpflichtet und besitzt im Rechtsgedanken einen universalen, weltbürgerlich-humanitären Auftrag. Der Einwand der marxistischen Orthodoxie gegen die „Ohnmacht des bloßen Sollens“ war gewiss begründet – wie umgekehrt der hinsichtlich des eigenen, Marxschen, Utopismus. Cohens Philosophie beruht in der Tat auf Kants Grenzziehung zwischen Sein und Sollen, die zum wissenschaftstheoretischen Organon erhoben wird, um Ethik bzw. Rechtswissenschaft als Modell und quasi Logik der Geisteswissenschaften zu etablieren (Ethik des reinen Willens, 1904). Materialismus und Sozialismus bilden für Cohen unversöhnliche Gegensätze und, umgekehrt, ist Religion „gleichbedeutend mit dem Glauben an die künftige Wirklichkeit der moralischen Welt“ (Ollig). Erst durch den Sollens- und Zukunftsbezug entsteht nach Cohen eine authentisch historische Erkenntnisebene, die den Daten der Erfahrung als Apriori vorausgeht und diese nach ihren Kriterien und Gesichtspunkten ordnet. „Die Zukunft ist das Moment des Gesetzes“, das sich schon dadurch grundlegend von den Kausalgesetzen der Naturwissenschaften unterscheidet, und vor dem sich erst die begriffliche Autonomie des Geschichtlichen herausbildet (G. Gigliotti). Wesentliche Züge der neukantianischen Sozialphilosophie werden in Cohens Spätwerk bemerkenswerterweise vom Geist alt-jüdischen Prophetie abgeleitet und als Inspiration des Messianismus beansprucht. Schon bei den biblischen Ansätzen, die Attribute Gottes zu bestimmen, sieht Cohen das Sein zurücktreten gegenüber der Handlung, dem Werden, dem Zweck. „Nur die Wirkungen seines Wesens will Gott dem Mose offenbaren, nicht sein Wesen selbst.“ Der Monotheismus, die umstürzende Idee des einzigen Gottes und Herrn über alle Völker, führt über die messianische Erwartung zur Vorstellung von der einen Menschheit und ihres Neubeginns in der Zukunft; statt des mythischen Kreislaufs vom Entstehen und Vergehen, von Schicksal und Zufall, tritt das Weltgericht als Ziel – nicht der Vernichtung, sondern der Läuterung: die „Leitung und Erziehung der Welt durch Gott“ (Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 1919). Während die Antike sehnsuchtsvoll nach der Seligkeit der Urzeit zurückblickt, bricht nach Cohen erst in der Messiaserwartung das Ideal als Gegensatz zur Wirklichkeit, „der Sonnentag der Sittlichkeit“ durch. Ein ethischer Rigorismus, frei von eudämonistischen Glücksvorstellungen und von Darwinismus, wird zum Maßstab einer neuen Teleologie; das Dasein der Menschen „hebt sich auf in dieses Sein der Zukunft. Das war der alt-neue Gedanke einer nicht auf den Ursprung gerichteten, sondern von der Zukunft her gedachten Geschichte, eben Geschichte als Fortschritt. Erst durch das messianische Ideal sieht Cohen Gerichtetheit in den Gang der Dinge kommen, nur so kann sich auch der Begriff 329
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des Menschen zur (empirisch nicht vorhandenen) Menschheit und der unverbrüchlichen Menschenrechte steigern. Cohens etwas schwerfällige Apologie des jüdischen Geistes, geschrieben inmitten der Hassorgien des Ersten Weltkriegs, war, so wenig wie seine übrigen ethischen Werke, imstande zur Neubegründung der Menschenrechte aus biblischer oder kantianischer Tradition mehr als nur akademisch-hilflose Beschwörungen beizutragen. Aber war Kautskys „realistische“ Feststellung hilfreicher, wonach das Allgemeinmenschliche „für uns im Grunde weiter nichts (ist) als das Tierische im Menschen“? (Die materialistische Geschichtsauffassung, 1927). Die Verwirklichung menschenwürdiger Verhältnisse war gewiss auch abhängig von Kulturprozessen und einer von diesen abgeleiteten ‚normativen Kraft des Wirklichen‘, auch von einer sich anbahnenden allgemeinen Interessenverflechtung und Kommunikation der industriellen Zivilisation, vielleicht aber nicht weniger von Cohens Bewusstsein der „Wirklichkeit des Normativen“, der Verbesserungsbedürftigkeit der Welt.257 Paul Natorp († 1924), der andere bedeutende Marburger Neukantianer, emanzipatorischer Pädagoge und Reformsozialist, engagierter Gegner von Klassenprivilegien, Hochrüstung und Expansionismus, kritisierte trotz und gerade wegen seiner positiven Einstellung zu einem revolutionären Neubeginn, auch den „Wunderglauben des ökonomischen Fatalismus“ in der Sozialdemokratie. Der Verfasser zahlreicher philosophischer Schriften hatte den Transzendentalanspruch der Religion zugunsten eines Ideals des Sittlichen aufgegeben und verwies diese in den Geltungsbereich wissenschaftlicher Erkenntnis und sittlichen Wollens. Trotzdem empfahl er, an Langes Forderung des „Unmöglichen“ anzuknüpfen, um damit die schlechte Wirklichkeit aus den Angeln zu heben. Der sozialdemokratischen Parteiführung warf er vor, den Glauben an die ethischen Grundnormen, das idealistische Moment in der Arbeiterbewegung zu verkennen. Die Zukunftsvorstellung von Natorps Sozialpädagogik (1899) war die freigewollte Gemeinschaft freier Individuen, die nach Grundsätzen der Gleichheit und Gemeinsamkeit geschult werden; diese Zukunft ergibt sich natürlich nicht aus objektiven Prozessen welcher Art auch immer. Als Erzieher und Bildungstheoretiker ist ihm die Perspektive auf den anderen bestimmend, der einzelne wird zum Menschen erst in der Gemeinschaft; doch sollten sich alle Tätigkeitsfelder den Normen sittlicher Vernunft unterordnen. In seinem späteren Sozialidealismus (1920) will Natorp die ganze kapitalistische Ordnung durch Gemeinschaft in Besitz und Kultur, humanisierte Lebensverhältnisse, soziale Demokratie überwinden. Natorps verschieden interpretiertes Spätwerk holt das Ideal noch stärker ins Diesseits eines schöpferischen Tuns herab (N. Jegelka), ohne dabei die kantische erkenntniskritische Position aufzugeben, also ohne einen sicheren Grund, eine 330
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„letztbegründende Gewissheit“ für das Handeln; das Wahre, der Richtpunkt eines unendlichen Strebens, zielt auf die „reine Gemeinschaft im Erkennen und Wollen des einen, ewigen Guten“.258 Sein manchmal missverstandenes Engagement im Ersten Weltkrieg war zwar ein nationales, aber gegen das alldeutsche „Trugbild der Weltmacht“ und die Predigt des Völkerhasses gerichtet: Der Frieden, heißt es, werde sich nicht zwangsläufig, aus immanent-geschichtlicher Logik ergeben, sondern nur aus tatkräftigem Idealismus: Er muss – in kantischer Tradition – gestiftet werden (Deutscher Weltberuf, 1918). Dessen war sich im Grunde auch die internationale Friedensbewegung bewusst. Alfred Frieds († 1921) Friedenskatechismus von 1894 machte sich zwar Mut mit der unbewiesenen Behauptung, der Rechtszustand unter den Staaten sei „eine sich von selbst ergebende Konsequenz der historischen Entwicklung“; der Weg des Fortschritts zu einer immer größeren Interessengemeinschaft werde „mit leichtem Sprunge“ die letzte Barriere überspringen. „Wer so glauben kann, der hat recht“, schrieb René Schickele 1922 anläßlich des Todes seines Freunds in der Weltbühne. Leider sei der Gedanke, für den Fried dreißig Jahre gekämpft und gelitten hatte, nämlich die „bürgerliche Weltordnung“, nur als Völkerbund-Farce259 verwirklicht worden. Unter dem Einfluss alter Friedenskirchen, der Quäker, Mennoniten etc. (Willliam Penns Musterkolonie Pennsylvania) hatte es schon in der ersten Jahrhunderthälfte Organisationen von Friedensfreunden und internationale Friedenskongresse (London 1843, Brüssel 1848, Paris 1850) gegeben, oft im Bunde mit demokratischen oder nationalen Befreiungsbewegungen, denen ein fried fertiges, föderatives Europa republikanisch organisierter Brudernationen als Endziel vorschwebte. Wenn sich die Friedensbewegung in Frankreich auf republikanisch-linksliberales Gedankengut und auf Misstrauen gegenüber dem konservativen Militär stützen konnte und während der Dreyfus-Affäre eine relativ breite bildungsbürgerliche Basis gewann, war die deutsche Friedensbewegung verspätet, schwächer und staatsferner: Im spät vollendeten Nationalstaat war das politische Klima bestimmt von Begeisterung für militärische Stärke und Weltgeltung (W. Benz) . Doch überwogen in beiden in gegenseitigem Misstrauen verbundenen Staaten Vorstellungen von der Notwendigkeit nationaler Kriegsbereitschaft – im günstigen Fall als Friedensgarantie, im weniger günstigen als Ausdruck der Überzeugung, ein ewiger Friede sei nur „ein schlechter Traum“ (Moltke): Er wäre nichts weniger als der Stillstand der Geschichte. Dagegen wollte sich der „ursächliche“ Pazifismus Alfred Frieds nicht mit Palliativmaßnahmen, wie der Aufstellung von Humanitätsregeln für den Krieg oder mit diplomatischer ‚Verlängerung des bestehenden Waffenstillstands‘ zwischen den Mächten begnügen, sondern die eigentlichen Ursachen der Kriege, nämlich die zwischenstaatliche Anarchie, beseitigen. 331
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
Dafür wäre insbesondere Kants Institution eines allgemein akzeptierten internationalen Gerichtshofs als verpflichtende Schlichtungsinstanz nötig gewesen, auf den viele ihre Hoffnungen richteten, sei es der russische Staatsrat Iwan Bloch († 1902), der wegen der hohen Risiken und desaströsen Folgen eines hochtechnisierten Abnutzungskriegs unter den Mächten die Abschaffung des Rechts auf kriegerische ‚Selbstjustiz‘ für aktuell hielt, sei es die Idealistin Bertha von Suttner († 1914), eine „sehr feinfühlige und sehr weltfremde Frau“ (C. von Ossietzky), die dasselbe erwartete, weil sie an einen allgemeinen Fortschritt von der Barbarei zu immer höherer Kultur glaubte. Ohne zielbewusstes Engagement war auf „Zeittrends“ kein Verlass. Die Pazifisten, ob visionär oder realistisch, ob unpolitisch oder kämpferisch, wurden allerdings in der Regel belächelt oder im ungünstigen Fall als Landesverräter traktiert. Im Kriegsfall erwies sich die Identifikation mit dem Vaterland als stärker: Schon 1870 zogen deutsche Mennoniten in den Krieg, um das sittenlose Frankreich für seine Frivolität zu bestrafen (K. Holl). – Mit bloßer Ausweitung der Berufsmöglichkeiten wäre auch die Emanzipation der Frauen über die kulturellen, mentalen und materiellen Hürden der männerbestimmten Gesellschaft kaum hinweggekommen. In den Vereinigten Staaten, die lange eine Vorreiterrolle in der Frauenbewegung spielten, bei einer starken Präsenz der Menschenrechte im öffentlichen Bewusstsein, ihren früh verwirklichten weiblichen Bildungseinrichtungen und selbstbewussten Frauenrechtsorganisationen, gelang der Anschluss der engeren ‚frauenspezifischen‘ Belange an allgemeine Fragen einer gesellschaftlichen Erneuerung. Wie schon Mary Woolstonecraft und John Stuart Mill, glaubten die um 1900 zur Massenbewegung gewordenen „Blaustrümpfe“ und „Suffragetten“, dass durch erhöhten weiblichen Einfluss die bisher männlich bestimmte Zivilisation zumindest viel von ihrer Härte und „entseelten Spezialistik“ (G. Simmel) zugunsten von humanitären, versöhnenden, natürlicheren Akzenten verlieren würde.260 Die Erwartungen trogen: Das Frauenwahlrecht und die Durchsetzung von Chancengleichheit hat die westlichen Gesellschaften gewiss offener, aber keineswegs friedlicher gemacht. Das Ideal ‚sozialer Mütterlichkeit‘, das die Forderungen der Frauenrechtler oft legitimierte, war konservativ und volksgemeinschaftlich interpretierbar; es trat aber auch Hand in Hand mit lebensreformerischen, sogar eugenischen Bestrebungen auf. Das Ziel der Volksgesundheit sollte durch besseres Wohnen, Sport und Hygiene erzielt werden; freiere Beziehungen der Geschlechter, Familienplanung und Verhinderung von erbkrankem Nachwuchs galten als Kriterien des Fortschritts. Hier kehren Malthus und Darwin in die Debatte um die Zukunftsgestaltung zurück. Ein vereinfachender Naturalismus und Vitalismus droht dabei die Zeitdiskurse zu dominieren. War nicht der Arzt derjenige, der die größte Kompetenz besaß, die Gebrechen der Gesellschaft zu heilen? 332
16. Darwin oder Kant?
Der Neukantianer Heinrich Rickert († 1936) setzte etliche Jahre vor dem Ersten Weltkrieg ein großes Fragezeichen hinter den Anspruch, „Leben“ und „Gesundheit“ als biologisch begründetes Ideal auch in außermedizinischen Bereichen zur Norm zu erheben: etwa eine Wahrheit, die nicht unmittelbar „dem Leben dient“, als Trugbild oder kulturelle Entartungserscheinung herabzusetzen. Sowenig wie Newtons Gravitationsgesetze als ethische Normen taugten, könne der „Kampf ums Dasein“ als kulturelle Wertsetzung genutzt werden; ja auch die darwinsche Entwicklungsreihe von „niederen“ zu „höheren“ Lebewesen sei Fortschritt nur aus einer naiv-anthropomorphen Perspektive von der Art des alten Kinderglaubens, die Erde sei um des Menschen willen geschaffen worden (Lebenswerte und Kulturwerte, 1911). Der mit gebührender Eindeutigkeit – und einem Schuss doktrinärer Besserwisserei – zurückgewiesene Anspruch einer biologistischen Modephilosophie auf wissenschaftliche Lebensgestaltung hielt insbesondere fest an der Unterscheidung naturwissenschaftlicher Feststellungen und kultureller (ethischer, politischer, technischer) Zwecke261, von Kausalitäten auf der einen und dem Sollensbereich auf der anderen Seite. Nur durch menschlichen Willen, das Setzen von Prioritäten und Wertentscheidungen, könnten die beiden Bereiche zu teleologischen Zusammenhängen verbunden werden: der Wille zum Zweck gehe jedoch die Biologie als Wissenschaft nichts an. Der praktischen Wirksamkeit biologistischer Parolen tat das kaum Abbruch. Die Tatsache, dass sich die Rechte der Sklaven, der Arbeiter, der diskriminierten Minderheiten und der Frauen nur in entschlossenem Kampf durchsetzen ließen, könnte ironisch als Beweis der Geltung von Darwins unvermeidlichem struggle for life angesehen werden. Doch bleibt Bewegung ohne regulative Zielvorstellung unfruchtbar. Darunter ist weder die Berufung auf realgeschichtliche Entwicklungen ökonomischer oder technischer Art gemeint, die die eigene P rogrammatik abstützen, noch eine finalistische Geschichtsteleologie, die die Offenheit und Ungesichertheit der Zukunft zugunsten vermeintlicher Geschichtslogik übersieht. Die heutige Besinnung auf den unhistorischen Codex allgemeiner Menschen- und Bürgerrechte kann gewiss als didaktisches Lernergebnis von zwei mördererischen Weltkriegen betrachtet werden. Aber ihre Anerkennung kam nicht einfach aufgrund gewachsener Einsicht in naturgesetzliche Zusammenhänge. Die „Natürlichkeit“ dieser Rechte war anderer Art als die „natürliche Auslese“ – was dem naturalistischen Wissenschaftsglauben entging: Zwar war von Anbeginn die Rede vom Schutz der lives, liberties, estates (Locke), gegebenenfalls von property, happiness und safety, doch entstammte die Emphase der Erklärung angeborener und unveräußerlicher, nicht von der staatlichen Gemeinschaft abhängiger Rechte nicht dem politischen, sondern dem religiösen Bereich. Die Freiheit des individuellen Gewissens als ihr konstitutiver Kern war keine 333
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
onzession einer Regierung, sondern galt als das Geschenk einer überirdischen K Macht.262 Ohne metaphysisch-naturrechtliche, „letztbegründende“ Gewissheit, waren die Menschenrechte immer noch eine kantische regulative Idee, gewissermaßen eine nützliche Fiktion, deren Ratio die Selbstbehauptung des moralischen Sollens bildete. Ohne diesen Kompass drohte dem Fortschritt der Verlust des Maßstabs.
17. Historismus, Fortschrittsskepsis, Kulturpessimismus Der Verdacht war alt, dass die Singularisierung des Fortschrittsbegriffs eine fragwürdige Verallgemeinerung darstellt. Die meist heterogenen Fortschritte bedienen sich jener Kraft, die – nicht unbedingt das Böse – , aber doch etwas anderes will, als sie letztlich bewirkt, und das mit ihnen verbundene Gute ändert nichts an Mephistos anderem Diktum, dass „alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht“. Goethe fügt an die Adresse der Fortschrittsoptimisten hinzu, dass „Egoismus und Neid … als böse Dämonen immer ihr Spiel treiben“ würden, so dass keine Errungenschaft definitiv sei. Alle Neuerungen haben unvorhergesehene Nebenwirkungen und schaffen statt der alten neue Probleme; die Einzelfortschritte summieren sich nicht automatisch zu einem harmonischen Gesamtergebnis, dem „Fortschritt an sich“, sondern bleiben dem Gesetz der Polarität und dem Pendelschlag der Extreme unterworfen. Der Wille zum Fortschreiten geht aus von einer aktuellen Sicht der Dinge, von empfundenen Übeln und ihrer möglichen Behebung, er beruht aber auf keinem zwingenden objektiven Zusammenhang, sondern auf subjektivem Selbstvertrauen und einem Werturteil, das das Neue dem Alten vorzieht; es ist oft ein Kampfbegriff, der seinen Anspruch gegen andere Wertbezüge absolut setzt. Nicht anders entsteht im übrigen das Gefühl der Dekadenz, des Niedergangs der eigenen Kultur. Die Klage über Verderbtheit und Barbarei der Gegenwart, den Verlust einstiger Tugenden, ist bekanntlich so alt wie die Geschichte selbst. Der Dekadenzbegriff ist aber meist partiell, d. h. er beschränkt sich auf Teilbereiche der Lebenswelt, während er Leistungen in anderen Bereichen gering schätzt; er „erhebt den eigenen Geschmack moralisierend zum Maßstab“ (Koenigsberger). Wie bei jeder Begriffsbildung, ist ‚Komplexitätsreduktion‘ am Werk, die bestimmte Aspekte für wesentlich hält und andere zur quantité négligeable erklärt. Eine solche Komplexitätsreduktion stellt schon der Menschheitsbegriff dar, der absieht von der Verschiedenheit der Hautfarbe, der Sprache und der Kulturleistungen: Auf der alten Wertbasis der Bekehrungs- und Vernunft fähigkeit mit allem, was Menschengesicht trägt, unveräußerliche Rechte zuge334
17. Historismus, Fortschrittsskepsis, Kulturpessimismus
sprochen. Analog bläst die Nahperspektive die Übel der Gegenwart unverhältnismäßig auf und übersieht die Gefahren des neu zu schaffenden Zustands. Umgekehrt wurde in Reaktion auf den großen Umsturz der Verhältnisse seit 1789 – aber gewiss nicht nur in „reaktionärer“ Absicht – das zuvor „Wegreduzierte“ wieder entdeckt: das, was dem Zeitalter der Vernunft unerheblich erschienen war: der Wert des Partiellen, Volkstümlichen und Herkömmlichen, der legitime Sinn von Vielfalt und konkreter Wirklichkeit. Nach dem Entgleisen des großen Versuchs, die Menschheit „auf den Kopf zu stellen“, glaubte man die Grenzen der Verfügbarkeit für rationale Gesamtentwürfe erkannt zu haben. Was ungeduldiger Kritik als Vorurteil galt, entsprang nicht einfach Unwissenheit, wie eine rationalistische Tradition seit Sokrates unterstellte, sondern der Resistenz eingewurzelter kultureller Prägungen, die dem Reduktionismus des Verstandes mit einigem Recht widerstanden. Auch wer weiterhin am Fortschrittsglauben festhielt, musste ein komplexeres, weniger „reduziertes“ Sichtfeld zugrundelegen, als die aufklärerische Diskursrationalität und noch Hegels Vernunftteleologie vorausgesetzt hatten. 1795 sprach Friedrich Schlegel gegen Condorcet das Problem der Ungleichheit der Fortschritte an, insbesondere die „große Divergenz im Grade der intellektuellen und moralischen Bildung“. Das war ein zutreffender Hinweis auf die Vielschichtigkeit der menschlichen Lebensformen, die sich nicht überall den Rezepten der einen aufgeklärten Vernunft, und schon gar nicht revolutionären Dekreten, fügen wollten. Die Erkenntnis der Ungleichzeitigkeit und Verschiedenartigkeit der Fortschritte schlug später ins Extrem eines grundsätzlichen Rechts des historisch Gewordenen um. Das hieß die zeitliche und regionale Segmentierung der ‚Werte‘: Antike und Mittelalter, die Leistungen der großen Staatenlenker, Religionsstifter und genialen Künstler lassen sich nicht in eine gemeinsame, nota bene aufsteigende Geschichtsperspektive zwingen. Das war die Geburtsstunde des Historismus. Er war keineswegs der Leitgedanke des 19. Jahrhunderts, das sich sowohl in den Naturwissenschaften, wie auch in der Geschichte vom universalen Geltungsanspruch der Vernunft, der Normativität des wissenschaftlich Erkannten, leiten ließ. Zwar hatte Hegels Glaube an die philosophische Systematisierbarkeit der disparaten res gestae (des realen Geschehens) Schaden genommen, so dass sich die meisten Historiker methodologisch an einen unreflektierten politik- und geistesgeschichtlichen Positivismus hielten, der Spekulationen abgeneigt war und sich auf die möglichst präzise empirische Feststellung vorgegebener ‚Fakten‘ konzentrierte. Gleichwohl war in der Praxis Rankes Devise von 1824, sich selbst „gleichsam auszulöschen und nur die Dinge… reden zu lassen“, nicht durchzuhalten. Leopold von Ranke († 1886), aus evangelischem Pfarrhaus, stellte der philosophischen Suche nach unendlichem Fortschritt die Aufgabe entgegen, das 335
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
Unendliche im Individuellen zu suchen. Das Einzelne ist wesentlicher und interessanter als das Allgemeine und Sich-Wiederholende; an ihm kann der Historiker das Typische sichtbar machen. Der gläubige Christ war skeptisch gegenüber der Möglichkeit, den ‚Plan des Ganzen‘ der Geschichte zu erfassen: man könne ihn bestenfalls intuitiv erahnen. Zwar sind die Formen des Staates durch die Geschichte zu ihrer gegenwärtigen Gestalt gelangt, doch zweifelte Ranke an der Normativität des Erreichten und an der hegelschen Idee, die Geschichte könne die Anleitung liefern, was heute zu tun sei; vor allem misstraute er dem liberalen Imperativ politischer Wirksamkeit des Historikers („der Patriotismus verdirbt die Geschichte“, glaubte auch Goethe). Rankes bürgerlich-konservative Zurückhaltung war keine absolute, sondern galt nur der Intervention „abstrakter“ Prinzipien, der „Frevellust des destruirenden Verstandes“ (Droysen). Ideen, glaubte er nicht unrealistisch, verwirklichten sich immer im Kontext konkreter Institutionen; in seinem Fall war es der bestehende monarchische Beamtenstaat. Ranke wusste wohl, dass das Miterleben das Wesen der Dinge erschließt: ohne einen Zusatz von eigenem Wollen gibt es keine politische Historie von Rang, interpretierte F. Meinecke später den Meister. Die politische Klugheit bestehe nicht in Traditionalismus und bloßer Bewahrung, sondern auch in freiem Handeln und in praktischen, etwa ökonomischen, Sachzwängen, die mit Geschichte im engeren Sinn wenig zu tun haben müssen. Der gefragte Gesprächspartner zweier Könige musste jedoch, schon der eigenen Kompetenz halber, darauf bestehen, dass die Kenntnis der Vergangenheit und das praktische Verständnis der Gegenwart einander gegenseitig bedingen, da die Kräfte beider „ineinander wirken und ihren verborgenen Sinn wechselseitig enthüllen“; der Problemhorizont des gegenwärtigen Handelns wird durch die Historie abgesteckt. Der normative Universalismus des aufklärerischen Freiheitsdrangs und die historische Individualität partikularer Lebenswelten mussten sich jedenfalls nicht gegenseitig ausschließen, wie Savignys Historische Rechtsschule behauptete. Aus der Beobachtung der menschlichen Dinge dürfe man nach Ranke jedoch nicht „Formeln und leeren Wind“ für geschichtliche Wahrheiten verkaufen, und wegen der größeren Kunst der Handwerker und Fabrikanten sowie der „Herabführung mannichfacher Bildung bis zu den untersten Volksschichten“ ebenso wenig der optischen Täuschung verfallen, die Gegenwart für den Gipfel der Vollkommenheit zu halten und sie als Maßstab zur Beurteilung anderer Epochen zu nehmen (Über Verwandtschaft und Unterschied der Historie und der Politik). Das sind nicht einfach griesgrämige Invektiven gegen den liberalen Zeitgeist und Menschen, die sich im Besitz politischer Patentrezepte glauben, oder mit Goethes Wagner staunen, ‚wie herrlich weit man es doch gebracht‘ habe. Rankes Absage an den Fortschritt war keine eindeutige. Was ihn an den Liberalen störte, 336
17. Historismus, Fortschrittsskepsis, Kulturpessimismus
war, dass sie statt vorhandene alte Einrichtungen nach inneren Bedingungen auf ihre Tauglichkeit hin zu prüfen, statt praktische Interessen und das Notwendige bzw. Ausführbare ins Auge zu fassen, eine radikale Fortschrittsdogmatik als Monopolanspruch auf die Diagnose der Zeit erheben: so ärgert sich Ranke in der Einleitung zu seiner kurzlebigen Historisch-politischen Zeitschrift (1832). In diesem Sinn unterscheidet der pragmatische Konservative in den turbulenten Jahren nach der Pariser Julirevolution zwischen einem vorsichtigen Reformkurs und „ungeduldig zerstörerischer Neigung“, zwischen vernünftiger Anerkennung der „Mannichfaltigkeit der Thatsachen“ und gleichmacherischer abstrakter Theorie; auch zwischen dem vermeintlichen Naturgesetz langfristiger staatlicher Interessen und ‚ephemeren‘ Verfassungswünschen. Vor allem ist Ranke überzeugt von der Notwendigkeit, die individuellen bürgerlichen Bedürfnisse und Rechte der ‚kämpferischen Behauptung des Staates nach außen‘ unterzuordnen: statt der Metaphysik der Menschenrechte vertritt er eine Metaphysik des Staates (Georg Iggers): Nicht ganz falsch, wie man in Deutschland seit Napoleons Eroberungen zu wissen glaubte, aber doch nur eine Halbwahrheit. Auch aus traditionellen, eigentlich theologischen Gründen bleibt Ranke skeptisch gegenüber der Vorstellung eines einzigen Fortschritts als Rekonstruktionsprinzip der Weltgeschichte. Gleich, ob als göttliche Vorsehung oder als innere Teleologie, hebt ein solches Fortschrittsprinzip in seinen Augen die menschliche Freiheit und Gleichwertigkeit des Unterschiedlichen auf. Waren die vergangenen Epochen bloß Dünger auf dem Acker einer fortgeschrittenen Gegenwart? Was ihm noch fragwürdiger schien: Der Fortschrittsglaube erhebt die Menschheit zu einem pantheistischen „werdenden Gott, der sich…selbst gebiert“, verliert also den überhistorischen Sinnbezug zugunsten einer selbst zu schaffenden Zukunft (Epochen der neueren Geschichte). Darin steckt der rationale Kern von Rankes berühmter Formel, jede Epoche sei „unmittelber zu Gott“. Sie trägt in sich den Maßstab ihrer eigenen Vollkommenheit, ihr Optimum, das nicht absolut gesetzt werden kann, aber auch nicht als Mittel für einen späteren, höher zu bewertenden Zustand taugt („nichts ist ganz um des anderen willen da“). Sowenig es Sinn macht, in idealisierte Vergangenheiten zu flüchten, so wenig will der fruchtbare Historiker perfekte zukünftige Gesellschaftsentwürfe zur Norm erheben. Freiheit etwa ist für ihn nicht erst das geschichtliche Ziel einer fortdauernden Bewegung der Menschheit, sondern immer schon da, wo Menschen in ihren kontingenten Bedingungszusammenhängen handeln und etwas Sinnvolles hervorbringen. Diese Begegnung des Einmaligen und des Ewigen, das Real-Geistige, das sich in ihr manifestiert, macht für Ranke die Geschichte zur „Hieroglyphe“; diese Herausforderung lässt die Arbeit des Historikers – gleich fern von romantischer Schwärmerei wie von blinder Faktenhuberei – zu einer Art Gottesdienst werden. 337
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
„Die Historie verfolgt die Scenen der Freiheit“. Das ist, wie bei Hegel, kaum liberal gedacht, zumal sich Ranke auf diplomatische Quellen und außenpolitische Zusammenhänge konzentriert, also die gottgewollte Mannigfaltigkeit des historischen Lebens, wie bei diesem, im Staat gipfelt. Trotz der Determination durch das Gewordene kann für ihn „jeden Augenblick wieder etwas Neues beginnen“ (Fragment über Universalgeschichte). In Rankes Augen ist im Grunde alles Menschliche wissenswürdig: die Freude am Einzelnen auch ohne weiteren Zweck und Bezug auf Systematik und Fortgang der Dinge. Aber es wäre abwegig, den „Gang der großen Abwandlungen“ als bloßes Aggregat für sich stehender Tatsachen verstehen zu wollen und den größeren Zusammenhang, „das unablässige Ringen um die höchsten Güter der Menschheit“, aus dem Auge zu verlieren, nicht zuletzt den Rangunterschied zwischen historisch führenden Völkern und den weniger bedeutenden.263 Staaten und Völker haben ihr eigentümliches Leben, pflegen und erhalten ihre voneinander verschiedenen „geistigen Wesenheiten“, aber begegnen einander auch in gegenseitiger Verflechtung und in der höheren Individualität einer Epoche. Insbesondere das „europäische Gemeinwesen“ hat sich in Rankes Interpretation als einzigartiges Mit- und Gegeneinander unverwechselbarer geschichtlicher Individualitäten erwiesen, eine sich ständig neu formende Staaten- und Wertegemeinschaft. Ihre Produktivität besteht, trotz Rangunterschieden und trotz wachsender gegenseitiger Verbindung der Völker, auch darin, sich immer wieder mit Erfolg einseitiger Macht- und Hegemonialansprüche zu erwehren. Rankes über den deutschen Sprachraum hinaus richtungweisende Geschichtsauffassung ist also, wie wir sehen, bei allem Misstrauen zum Prokrustesbett philosophischer Systematisierung, alles andere als voraussetzungslos; sie findet sich weder mit dem „trostlosen Ungefähr“ (Kant) eines unverbindlichen Relativismus ab, noch mit der Verabsolutierung eines einzigen Volksgeists. Weder ist die Ablehnung des Fortschritts als Prinzip eindeutig (Lessings Idee einer Erziehung des Menschengeschlechts „hat etwas Wahres an sich“), noch die Absage an die kantische Tradition eines Geschichtsinteresses in praktischer Absicht. Man fragt sich jedoch, ob der große Konservative die unvermeidlichen subjektiven Voraussetzungen und eigenen Wertvorstellungen des Historikers nicht zu sehr ausblendet: Die höhere Warte Gottes, von der aus die Menschen aller Epochen moralisch gleich sind, eignet sich nicht unbedingt als Werkstatt der Begriffs bildung für den Historiker (H. Schnädelbach). Der Historismus rieb sich gern am Anspruch, die Geschichte aus ihren Kinderschuhen in den Rang einer Gesetzeswissenschaft anzuheben und die „unnatürliche“ Trennung der inneren und der äußeren Welt, der Geistes- und der Naturwissenschaften, zu überwinden, wie das z. B. Henry Th. Buckle († 1862) forderte. In dessen Augen waren die Naturwissenschaften den erzählenden Historikern 338
17. Historismus, Fortschrittsskepsis, Kulturpessimismus
haushoch überlegen. Sein eigenes unvollendetes Erfolgsbuch hatte dargelegt, wie die ursprünglich bestimmenden Faktoren: Klima, Nahrung, Boden, im neuzeitlichen Europa zunehmend durch Geschicklichkeit und Tatkraft durch den Einfluss ‚geistiger Gesetze‘ ersetzt werden; es gehe aber darum, statt bloß über Geschehnisse zu berichten, die Gesetze zu erkennen, die den Fortschritt der Zivilisation lenken (History of Civilisation in England, 1856/61). Das blieb weitgehend Postulat. Während die moralischen Wahrheiten sich wenig verändern, glaubt Buckle, schreiten die intellektuellen fort, so dass der Maßstab für die Epochen der Geschichte im „Triumph des Geistes über die Erscheinungswelt“ besteht, somit als sein Kriterium für Fortschritt vor allem der Stand der wissenschaftlichen bzw. technischen Kenntnisse in Betracht gezogen wird.264 Das traf, bei aller „beneidenswerten Unbefangenheit“, mit der der ‚Bacon der Geschichtswissenschaft‘ (Droysen) das Chaos der Tatsachen unter unwandelbare Gesetze zu bringen suchte, einen Schwachpunkt in Rankes ästhetischem Nebeneinander der Epochen. Johann Gustav Droysen († 1884), der Rankes „eunuchische“ Objektivität ebenso ablehnte, wie die Übernahme naturwissenschaftlicher Erkenntnismethoden im Positivismus, war geneigt, sich mit der immer nur relativen Wahrheit seines Standpunktes abzufinden: nicht der seines kleinen, zufälligen Ich, sondern der einer überindividuellen „sittlichen Macht“. Der Geschichtsschreiber hat die historischen Gegebenheiten seines Volkes, seiner Kultur verinnerlicht und bildet aus diesen heraus ein Prisma, in dem sich das „rastlose Werden der Dinge“ bricht. Die Geschichte ist für den Verfechter des preußischen Machtstaatsgedankens eine durchaus praktische Wissenschaft, und der Historiker erniedrigt sich nicht, wenn er seine privaten Überzeugungen dem großen Interesse des Vaterlandes opfert. Der subjektive Moment beim Studium der Geschichte ergibt sich aber schon aus dem Umstand, dass die Vergangenheit uns nicht so vorliegt, wie die Objekte der Naturwissenschaften, sondern nur im Medium eines quasi-Zeugenverhörs zugänglich wird. Nicht nur das Ganze des Geschehens entzieht sich in Droysens Sicht der unmittelbaren Erkenntnis; auch die „Fakten“ werden erst durch unsere Fragestellungen und begriffliche Verarbeitung zu Bausteinen historischen Wissens. Das Bewusstsein, das sich fragend an die Vergangenheit wendet, muss sich selbst als historisch bedingt, nämlich als Glied im Nacheinander des Gewordenen begreifen, das sich in ihm fortsetzt. Das ist ein Schritt zum historischen Relativismus, den Droysen mit seiner Zuordnung des einzelnen zu den großen Gemeinschaften der Geschichte (und der Maßstäbe zur jeweils erreichten Stufe sittlichen Fortschritts) nicht rückgängig macht. Der Historiker bestreitet dabei weder die Tatsache eines allgemeinen Fortschritts noch die von Anwendungsbereichen naturwissenschaftlicher Erkenntnis innerhalb der historischen. Aber im 339
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
quantitativ Messbaren, der Reduktion vitaler Erscheinungen auf physikalische, wird das Wesen der „sittlichen Mächte“ verfehlt – etwa so wie das verwendete Metall die Statue oder die natürlichen Bedürfnisse nicht das Wesen des Menschen ausmachen. „Lass jene messen und wägen“, äußert sich der junge Idealist privat, „unseres Geschäftes ist die Theodizee“. Was sollte diese Metapher? Die menschlichen Handlungen vollziehen sich im „mannigfachen Zusammenhang von Interessen, Konflikten, Geschäften“, doch aus Geschäften wird Geschichte im emphatischen Sinn nur dadurch, dass wir das Vergangene durch Sich-Hineinversetzen „forschend verstehen“. Die „ichlose“, „willenstote“ Gesetzeswissenschaft, meint Droysen, gelangt nie zu einer authentischen Idee des Fortschritts, sondern bestätigt im Individuellen allein das Gattungsmäßige, das Sich-Wiederholende. Die sittliche Welt, in der der Begriff Geschichte seine volle Anwendung findet, wird erst gebildet durch die intentionale Struktur des menschlichen Willens und die fortschreitende Steigerung (die aristotelische epidosis) des schon Erreichten: Das ist Droysens historistische Ontologie. Die Geschichte wird nicht als bloßer Wechsel zu einem Anderen verstanden; sie setzt die früheren Bildungen zwar voraus, führt sie aber weiter zu einer „unendlichen Folgenreihe fortschreitenden Werdens“. Das fichtesche Sollen, das bei Droysen Hegels dirigierenden Weltgeist abgelöst hat, ist aber, so wenig wie sein persönlicher Glaube an Gottes Anwesenheit in der Geschichte, ein tragfähiger geschichtsphilosophischer Ersatz. Droysen sieht die Besonderheit der immer nur vermittelten historischen Erkenntnis darin, dass alle Vergangenheiten tatsächlich vergangen, somit tot sind; was uns davon vorliegt, ist allenfalls der „Abdruck von Willensakten“. Diese sollen als eine Art „Fideikommiss“ jeder neuen Generation verstanden und als Mittel genutzt werden, das „dürftige und einsame Hier und Jetzt unseres ephemeren Daseins… zu erweitern, zu bereichern, zu steigern“. Wir besitzen nur den einen Moment unserer Gegenwart: Anfang und Ende, der Zusammenhang, „das ist unsere Konstruktion, unser Bekenntnis und Zeugnis“ (Briefwechsel). Diese fast postmoderne Formulierung überrascht, ebenso wie die Erkenntnis des immer nur Vorläufigen und Annähernden der geschichtlichen Wahrheit. Der Herkunfts- und Zukunftsbezug wird dabei zu stark subjektiviert, um als Fortschrittstheorie, gar als „Theodizee“, zu taugen. Auch Rankes Achse der Staatengeschichte verliert, trotz moralischer Über höhung, bei Droysen die objektive Selbstverständlichkeit, und der Verfechter eines Primats des Staates vor privaten Interessen konzediert, dass die politische Geschichte nicht alles, ja nicht einmal immer das Wichtigste im Leben der Völker erfasst. „Der erste Ausdruck der Freiheit ist der Egoism, der Drang des Habens und Genießens“; auf diesen folgen höhere, die aber, ebenso wie die Freiheit, die durch Potenzierung der Verfügungsgewalt über die Natur entsteht, 340
17. Historismus, Fortschrittsskepsis, Kulturpessimismus
kulturell gezähmt, die freigesetzten Energien domestiziert und vergeistigt werden müssen. „Es gilt, die Welt zu überwinden…, den Keim Göttlichkeit in uns zu entwickeln“. Ein ergiebiges Feld der Forschung scheint dabei das der „ Mittel“, also der Kulturtechniken, zu bilden. Diese eher nebenbei geäußerte, auf Burckhardt vorausweisende Ansicht widerspricht nicht der Kernthese seiner bemerkenswerten Historik-Vorlesungen (ab 1857), dass uns die Gestaltungen der sittlichen Welt durch ihre „menschliche Signatur“ in höherem Grade zugänglich sind als die der äußeren Natur: es sind Abdrücke desselben „Zeichensystems“, das allen Menschen gemein ist. Droysen korrigiert also Rankes objektivistisches Geschichtsdenken durch die Begründung einer spezifischen, von der jeweiligen Gegenwart ausgehenden Hermeneutik, die sich nicht „mit der faulen Richtigkeit der Quisquilien / begnügt/, die ihm sein Kehricht bietet“ (nach Demandt, 221). Durch indirekte Erkenntnis und das Prinzip des Verstehens der Kulturphänomene (der „sitt lichen Mächte“), ebenso wie die Auffassung der Geschichte als dynamischem und qualitativem Wandel, unterscheidet sich diese vom Kreislaufgeschehen und der entsprechenden naturwissenschaftlichen Methodik. Droysens konstruktivistischer Ansatz wird später von Windelband, Dilthey und Rickert vertieft und als Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaften, idiographischer und nomothetischer Methode systematisiert. Droysens subjektivistischer und voluntaristischer Akzent kommt auch zum Ausdruck in seinem Engagement für Staat und Nation, einschließlich der von ihm vertretenen „deutschen Mission“ Preußens, überhaupt seiner Orientierung am Willensmäßigen in der Geschichte; nicht zufällig lautet seine Formel nicht „wie es eigentlich gewesen“, sondern „wie es geworden“ ist. Droysens Fortschrittsdenken ist entsprechend intentional und moralisch strukturiert. Die Kontinuität der Geschichte ist nicht natural vorgegeben, sondern wird erkannt als das Ergebnis aktiver Teilhabe an Werten der geschichtlich-sittlichen Welt. Ein Gesamtsinn bzw. -zweck ist jedoch aus der Auf einanderfolge der Ereignisse empirisch nicht herzustellen: das historisch Vorausgegangene liefert zwar Grundlagen des weiteren Handelns, setzt der „treibenden Unruhe des Geistes“ durch Stoff und Kulturtechniken Schranken, aber keine inhaltlichen Vorgaben. Das Kommende geht durch das subjektive Medium des denkenden, fühlenden und handelnden Menschen, so dass die „Steigerung und Vertiefung“ der in die Gegenwart eingegangenen Werte nur Postulat bleibt. „Geschichte“ ist in Droysens Formulierung das Wissen der Menschheit von sich als etwas Gewordenem; das Wesen der sittlichen Welt ist der Wille, wobei das ‚kreatürliche Ich‘ durch Aufgehen im höheren, ‚kollektiven Ich‘ erst zur sittlichen Persönlichkeit wird. Das sich aus diesem Verständnis ergebende verantwortliche Handeln muss aber wohl ohne traditionell-metaphy341
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
sische oder materiale Abstützungen auskommen. Für die „Werkmeister der Geschichte…gilt kein Gesetz, denn sie selbst sind das Gesetz“ (Geschichte Alexanders des Großen, 1833). Nicht nur die „Gerichtetheit“ der Geschichte, auch das Unveränderliche als Maßstab des Individuellen und Positiven musste sich im Historismus tendenziell auflösen, wenngleich sich die radikal-relativen Konsequenzen der Entlastung des Geschehens vom kantischen „Leitfaden der Vernunft“ und vom Gedanken eines Endziels im Nebel einer idealistischen Rhetorik erst undeutlich abzuzeichnen begann. Bei Ranke war der objektive Charakter der Weltgeschichte durch eine göttliche Ordnung vorgegeben, auf die auch Droysens Denken abzielte; doch traten die von Ranke ausgeklammerten subjektiven Voraussetzungen nun weit stärker ins Bewusstsein. In einer Zeit, die die historische Bildung zum höchsten Kulturgut erhob, musste sich aber die erkannte Schwierigkeit, vom immer Individuellen und Partiellen der Geschichte zu einem umfassenden sinnvollen Zusammenhang zu gelangen, auf die Dauer verwirrend auswirken. In der kleindeutschen Schule, der Droysen trotz seines ursprünglich hellenistischen Erkenntnisschwerpunkts angehörte, trat die Erhebung des Nationalen zum „Angelpunkt des neuen geschichtlichen Sinnes“, wenn nicht Abwertung des Humanitären und Universalen zugunsten des nationalen Machtstaats, manchmal schon erschreckend zutage.265 *** Dies ist beim Baseler konservativen Patrizier Jacob Burckhardt († 1897) natürlich nicht der Fall, im Gegenteil: er ist von der substantiellen Amoralität der Politik und dem Bösen des Machtstrebens ebenso überzeugt, wie von der kulturellen Verflachung und Vermassung der Gegenwart, die schon deshalb nicht als Kriterium zur Rekonstruktion der Vergangenheit taugt (Größe ist, was wir nicht sind“). Obwohl er die Verwandlung von Gewalt in Ordnung und Gesetzlichkeit, die Versittlichung des Barbarischen als eigentliche Aufgabe der Kultur begreift, scheint ihm gegenwärtig die Aussicht auf eine Moralisierung der Macht illusorisch: Sie entzieht sich regelmäßig allen Zähmungsversuchen und entpuppt sich konstant als Selbstzweck. Hinter modernen Parolen, wie Fortschritt, Zivilisation, Aufklärung und Gesittung verbirgt sich für Burckhardt nur ein blinder Wille nach Veränderungen, der neue Zwänge, Gefahren und Leid herbeiführt, etwa die Kultur unter das Joch des Erwerbs und des Gelds als Maß aller Dinge zwingt. Schon in einem Brief von 1842 zeigt sich der junge Historiker als Gegenwartskritiker, doch nicht in der zeitüblich-liberalen Weise: Er verurteilt den modernen Subjektivismus als Krisenphänomen, als Untergrabung verbindlicher Normen und Substanz. Später, in seinem Renaissancebuch von 1859, erscheint 342
17. Historismus, Fortschrittsskepsis, Kulturpessimismus
die moderne Individualität zwar als kulturschöpferisch, aber auch in ihrer Fragwürdigkeit, Selbstsucht und Ruchlosigkeit. Hier hat sich erstmals der Staat als bewusste, rationale Schöpfung und eine historisch bodenlose Subjektivität durchgesetzt, die Virtuosität kühl berechnender Zweckrationalität: „der große moderne Irrtum, dass man eine Verfassung machen“ könne. Durch den irreversiblen Umbruch aller politischen und sozialen Zustände ist, definitiv seit der französischen Revolution, der Moderne „der historische Boden unter den Füßen weggezogen“ und die selbstverständliche Geltung der klassischen Ordnungsvorstellungen unmöglich geworden. Damit scheint Burckhardt, der auf Geschichtsspekulationen verzichtet, den Ansätzen Droysens, seines einstigen Berliner Lehrers, zur Subjektivierung der historischen Maßstäbe zu folgen: „Unser Gegenstand ist diejenige Vergangenheit, welche deutlich mit Gegenwart und Zukunft zusammenhängt.“ Das würde selektives Forschen im „äußeren Tatsachenschutt“ bedeuten (Historische Fragmente), die Gruppierung nach unvermeidlich subjektiven Kriterien. Die Voraussetzung einer objektiven Sinnhaftigkeit der gesamten Geschichte, der Rankes Ablehnung des nachträglichen Urteilens über Irrtum und Wahrheit entspricht, ist für ihn nicht mehr nachvollziehbar, und nur mehr die subjektive Auswahl des Bedeutsamen, des „in uns Anklingenden“ möglich. Doch ist das für Burckhardt eine fragwürdige Position: Das ‚uns Ignoranten‘ interessant Erscheinenende, die Auswahl nach Kriterien des eigenen Geschmacks, der Kultur, der Sekurität, des Erfolgs, der Größe, kann zum Hindernis bei der Erkenntnis wahrer historischer Größe werden. Wirkliche historische Bildung ist überhaupt Feind teleologischer Fortschrittskonstruktionen; sie betrachtet das Vergangene nicht als Vorstufe von ‚uns Entwickelten‘ und ignoriert auch nicht den Jammer der historisch Unterlegenen. Die selbstverständliche Verankerung der Gegenwart in der Geschichte ist durch den modernen Kontinuitätsbruch, das Paradigma des „Ändern-Dürfens und ÄndernWollens“, unsicher geworden. „Wir möchten gerne die Welle kennen, auf welcher wir im Ozean treiben, allein wir sind diese Welle selbst“: Auch das erkennende Ich ist den Kontingenzen der Geschichte preisgegeben – wie das schon Droysen sah. Das Ganze mit seiner Teleologie des zeitlichen Nacheinanders ist verloren, unerreichbar, aber auch unbefriedigend als Quelle der Sinnstiftung. Es bietet sich nur mehr ein quasi-antikes, thukydideisches Geschichtsverständnis an, die Suche nach Elementen des Typischen und Wiederkehrenden, mit dem Schwerpunkt des „duldenden, strebenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und sein wird“. Die ‚Anthropologisierung‘ der Geschichte266 zielt in Wirklichkeit auf die Kultur als Bereich höherer Allgemeinheit, als das bloße Nacheinander der Epochen bietet. Sie bietet einen „Schlüssel, der hernach noch andere Türen öffnet“ 343
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
und ermöglicht in einzelnen Punkten die Steigerung des jeweils menschlich Möglichen. Statt geschichtsphilosophischer Konzepte tritt bei Burckhardt der Rekurs auf das Geschichtliche, die Identität des Menschlichen in seiner ganzen Vielfalt. Das Wiedererkennen menschlicher Höhen und Tiefen mag durchaus eine befreiende Wirkung ausüben gegenüber dem Diktat einer mediokren Gegenwart und der allgemeinen Gebundenheit an praktische Lebensprobleme: ein erkenntnisleitendes Sensorium, auf das nur „Barbaren und Amerikaner“ (Burckhardt) verzichten. Kulturgeschichte in diesem Sinn ist kein akademisches Spezialfach, sondern „die Welt des Beweglichen, Freien, …das keine Zwangsgeltung in Anspruch nimmt“ und, dabei, Hegels Weltgeist nicht unähnlich, unaufhörlich modifizierend und zersetzend auf die stabilen Mächte und Lebensformen einwirkt. „Der Geist ist ein Wühler“ und die Sicht der Kultur geradezu die Uhr, welche die Stunde verrät, die den Strukturen geschlagen hat, aus denen das Leben gewichen ist. Der Nachdruck auf kulturelle Aspekte als das Wesentliche und eigentlich Erinnerungswürdige stellt somit keine idealistische Reduktion auf das Geistige im engeren Sinn dar (Schnädelbach), sondern meint die dynamische, kreative Fähigkeit des Menschen, über die Zwänge der Gegenwart intentional hinauszugehen, die von den anderen geschichtsmächtigen Bereichen: Staat und Kirche beherrscht werden; Wirtschaft, Verkehr und Technik zählen dabei zum Geltungsbereich kulturellen Handelns, und damit der Freiheit. Wie das Geistige reale Bedingtheiten und Wandelbarkeit aufweist, so hat das übrige Geschehen immer auch eine geistige Seite, betont Burckhardt gleich zu Beginn seiner Weltgeschichtlichen Betrachtungen (ab 1870; 1905, posthum). Die Kultur im engeren Sinn, etwa der Kunst, bildet außerdem autonome Über lieferungslinien; ihre völlige Funktionalisierung durch die Macht, brächte die Geschichte zum Stillstand. Kunst insbesondere ist der Vermittler „alles dessen, was über das tägliche Leben hinausging“; abgeleitet vom religiösen Erbe ist sie eine Statthalterin des Sakralen im Rationalisierungsprozess der Kultur (Jaeger, 98). Tödlich für Europa im substantiellen Sinn von geistiger Spannung und Produktivität war immer „erdrückende mechanische Macht… im Dienste Eines Staates oder Einer Tendenz“: Keine Fortschrittsvision, aber vielleicht Trost in dunklen Zeiten. Burckhardt ist alles andere als ein Lobredner des Hegelschen Maulwurfs, der alles Stationäre untergräbt; nicht aus jeder Zerstörung geht Verjüngung hervor. Innovation ist für ihn durchaus ambivalent – wie im übrigen alles Menschliche: Als das eigentlich Unsterbliche auf Erden erscheint manchmal die Gemeinheit. Hoheit und Niedrigkeit schlagen immer wieder unvermittelt ineinander um – und Krisenzeiten sind oft weniger unmittelbar zu Gott, wie – zur Hölle. Nichtsdestoweniger sieht der Geschichtspessimist auch das pro344
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duktive Potential der großen Krisen, doch ohne Finalität, ohne Garantie des Höheren, des Gerechten und Vernünftigen. „Die Krisen räumen auf… und bringen frische und mächtige Individuen empor.“ In deutlicher Absetzung von der Haltung vieler seiner deutschen Kollegen, deren Glaube an eine sinnvolle Geschichte sich durch die Reichsgründung bestätigt sah, meint Burckhardt, ein seichter Geschichtsoptimismus übersehe hinter der Aufgeregtheit der dramatischen Oberfläche das verborgene Immergleiche. Darüber hinausgehend, glaubt der Schopenhauerianer überhaupt nicht an die Vernunft als geschicht liche Macht: der Intellekt gilt als „Manufakturlöhnling“ des Willens – des eigentlichen Herrn dieser Welt.267 Burckhardts Kombination von Verständnislosigkeit und Klarsicht gegenüber den Gegenwartsproblemen kommt schon in einer privaten Äußerung von 1846 zum Ausdruck: „Ihr alle wisst noch nicht, was Volk ist, und wie leicht das Volk in barbarischen Pöbel umschlägt…“ Volk wird aus einer konkret-historischen Gegebenheit zur Kategorie der Massenpsychologie LeBons. Als pure Illusionisten gelten ihm diejenigen, die „verhoffen, durch ihre Philosopheme die Bewegung leiten und im rechten Gleise erhalten zu können“, also das Volk zum Vehikel des Fortschritts zu machen (Briefe II). Die Menschenrechtserklärung taugt Burckhardt, wie dem klassischen Historismus, nicht als Basis der Politik; natürliche und Bürgerrechte sind alles andere als deckungsgleich. Das „gute Leben“ in der Polis im aristotelischen Sinn setzt immer Selbstsein der Freien voraus, das in seiner Sicht weder bei der Masse noch im modernen Großstaat mit seiner kollektiven Dynamik gegeben ist (W. Hardtwig). Die Demokratie steht für den Baseler Bürger im Verdacht selbstzerstörerischer Neigungen durch ihre nivellierende Kulturfeindlichkeit und die Auflösung von Autorität, woraus sich nur Gewaltherrschaft ergibt: der Despotismus der „schrecklichen Vereinfacher“ gründet auf den Leidenschaften und der Selbstsucht der Vielen. Glück und Unglück in der Geschichte sind in seinen Augen zwar unmaßgebliche Projektionen unseres sehr einseitigen Wohlstandsdenkens, doch die erwartete Katastrophe droht alles Höllische der Menschennatur an sich zu ziehen. Da gilt es nur, analog zu den letzten römischen Philosophen, in Distanz zur Realgeschichte, das Bewusstsein des Bleibenden, überzeitlich Gültigen, hochzuhalten und die „Vertretung des Geistes“ in einer geistlosen Zeit auf sich zu nehmen. Die Perspektive der Dekadenz268, die Burckhardt dem „Narrenspiel der Hoffnung“ entgegenhält, wird von ihm gemäß dem seit dem 18. Jahrhundert immer wieder suggerierten Bild des Niedergangs der antiken Zivilisation gedeutet. Das Signum der Zeit ist, neben dem Aufkommen der „Barbaren“, der geschichtslosen großstädtischen Massen, die sich ankündigende Ära großer Völkerkriege. Burckhardts Schreckensvision verdichtet sich zur totalitären Formel vom Militärstaat als Großfabrikant, der die tägliche Arbeit der Bevölkerung 345
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in Uniform unter Trommelwirbel organisiert. Ein Ausweg bietet sich nur in Gestalt eines stoischen Rückzugs, als individuelle Illusionslosigkeit – „weise für immer“ zu sein. Kein einfacher Weg: jenseits der Jämmerlichkeit der Realgeschichte und im Bewusstsein der Brüchigkeit aller Kontinuitäten und geschichtsphilosophischen Konstruktionen (E. Angehrn) das Wissen vom europäischen Erbe zu bewahren. Friedrich Nietzsche († 1900), auch er aus protestantischem Pfarrhaus und von Schopenhauers Bild der Welt als einem gottverlassenen Narrenhaus beeindruckt, war mit seinem älteren Baseler Kollegen einer Meinung in der Verachtung der Massen: schlechte Kopien und Hindernis alles Großen, die „der Teufel und die Statistik holen“ solle; überhaupt aller „Schwächlichkeitsdoctrinen des Optimismus“. Das „furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte“ mit ihren sinnlosen Übeln war trotzdem ein Faszinosum für den jungen klassischen Philologen, der sich in der Pose des unerschrockenhoffnungslosen Diagnostikers gefiel. Die vielen realen Fortschritte seiner Gegenwart waren für ihn reine Illusion, Schopenhauers ‚Schleier der Maja‘, hinter dem sich das Unheil der Dinge, ein ruhelos barbarisches Treiben, verbirgt. Alles dient der kommenden Barbarei und, wie in der Spätantike, sind die Symptome der Krankheit „Egoismus der Erwerbenden und die militärischen Gewaltherrscher“. Doch die Akzente der Diagnose variieren. In der Geburt der Tragödie (1872) ist der Sieg des Apollinischen, des rational kontrollierten Bewusstseins über das dionysisch-Rauschhafte, in der Gestalt des antiken Alexandrinismus, eine Chiffre für die unfruchtbare, wissenschaftsgläubige, hyperkritische Moderne. Sokrates, das Urbild des theoretischen Optimisten, war ein Missverständnis; auch Euripides mit seiner Rechtfertigung der Mittelmäßigkeit sowie Platons Identifizierung Gottes und der Wahrheit, gelten ihm als Sackgassen gegenüber Heraklits ewigem Werden und Vergehen ohne moralische Zurechnung269. Wenn sich die „orientalisierte“ Erde heute wieder nach ‚Hellenisierung‘ sehnt, dann ist das in Nietzsches Interpretation die Hoffnung auf tragische Gesinnung (Richard Wagner in Bayreuth). Die Überwindung der modernen Entfremdung, die Versöhnung im Reich von Schillers schönem Schein, im Feuerzauber der Musik, ist aber nur ein Traditionsstrang, an den Nietzsche anknüpft. Schon 1872 heißt es mit unerhörter Schroffheit, angebliche Begriffshalluzinationen, wie „Würde des Menschen“ oder „Würde der Arbeit“, seien nur dürftige Erzeugnisse eines sich vor sich selbst versteckenden Sklaventums: Nur eine verlogene Humanität ignoriere, dass zur Kultur der Wenigen die Sklaverei der Vielen gehört (Der griechische Staat, Vorrede). Das ist keine Apologie des modernen Klassenstaats, sondern eine Invektive gegen demokratische Fortschrittsillusionen. Die Degradierung 346
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des Staats zur Schutzanstalt egoistischer einzelner, wenn nicht zum „Mittel der Börse“, ist eine verächtliche Erscheinung, gegen die Nietzsche nur ein einziges Gegenmittel kennt: den Krieg. Seine gleichzeitige Absage an die Gegenwart klingt aber beinahe christlich: Niemals war die Welt mehr Welt, nie ärmer an Liebe und Güte. Anders als Burckhardt, der nicht weniger pessimistische Freund und Mentor, verfällt Nietzsche der Suggestion Richard Wagners, den er analog zum Mythos der griechischen Tragödie begreift und als Mittel einer Erlösung aus der sinnentleerten, korrupten Moderne: die Katharsis durch das Ritual und Kunstfest der wagnerschen Oper: Aus Mythos, Poesie und Musik soll sich eine neue Kultur mit großen, vitalen Instinkten entbinden. „Singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit.“ Aber bald kommen dem jungen Kulturkritiker Zweifel an der heilenden Macht, ja der Echtheit des wagnerschen „musikalischen Opiats“, in dem letztlich das Schauspielerische überwiegt. Der immer Einsamere hat sich auch von Burckhardts Option gelöst, Höhepunkte der europäischen kulturellen Vergangenheit als Korrektiv zur flachen Gegenwart aufzubauen und „sich der Vergangenheit wie einer kräftigen Nahrung zu bedienen“. In einem weiteren „unzeitgemäßen“ Ansatz verkehrt Nietzsche die humanistische Argumentationsweise: Das Vergessen ist gerade kein Symptom der Barbarei, sondern die notwendige Basis des eigenen Schaffens (später als „mein Befreier, mein Freudebringer“ apostrophiert), die Voraussetzung des Einsseins mit sich selbst. Die Kultur der Erinnerung bindet das Leben an ein Gewesenes, lässt es verkümmern, entarten, verwandelt es in ein „nie zu vollendendes Imperfectum“. Nicht das Leben ist für Nietzsche – nach Schopenhauer – rechtfertigungsbedürftig, sondern die Historie als ‚lebensfeindliche‘, auflösende Kraft, die durch beliebige Anhäufung von Zusammenhanglosem und Widersprüchlichem zu Übersättigung und Entmutigung der Epigonen führt. Wenn, wie für den historischen Faktensammler, alles gültig ist, wird eben alles gleichgültig. Dagegen ist der Handelnde immer wissen- und gewissenlos, er „liebt seine Tat unendlich mehr als sie geliebt zu werden verdient“ (Vom Nutzen und Nachteil der Historie, 1874). Nietzsches Attacken nahmen einige Motive Droysens und Burckhardts auf: gegen historischen Objektivismus, die Normativität der Geschichte für Gegenwart und Zukunft. Er verstärkt diese zur Absage an die historistische Ersatz religion des 19. Jahrhunderts, ihren Glauben an das Ineinander von Individuellem und Universellem, Realem und Geistigem, nota bene im Staatsleben, das Nietzsche in der Form der deutschen Reichsgründung als Moloch erscheint. – Der Glaube an die Macht der Geschichte, dem die Erhebung der Historie zur Leitdisziplin der Epoche entsprach, hatte schon durch die kantische Erkennt347
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niskritik, das Bewusstsein der Bedingtheit des Geschichtsdiskurses durch das Erkenntnisinteresse der jeweiligen Generation, Schaden genommen. Doch war dieses Bewusstsein, trotz Droysens „Relationismus“, zunächst folgenlos geblieben. Die Fragwürdigkeit der Orientierung am eigenen Konstrukt, ganz abgesehen von liebevoller histoire-pour-l’histoire oder skeptischer Auflösung aller Werte im ständigen Werden und Vergehen, blieb das Problem der Generation nach Nietzsche.270 Doch geht von seiner Kritik in geistreich-spielerischem Kleid des Halbernsten und gefährlich Experimentierenden eine lebensphilosophische Wende aus, die mehr als nur die Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts, ihr antiquarisches Konservieren und „götzendienerische Umtanzen halb begriffener vergangener Größe“ in Frage stellt. Nietzsches Kritik trifft wesentliche Schwächen des Historismus, wobei sich sein Plädoyer für das Selbstsein jeder Epoche auf eine Weise mit Rankes Geschichtsverständnis berührt. Der Wille, das Vergangene zum Leben zu erwecken, zu benutzen, ist legitim, sogar fortschrittskompatibel – soweit er nicht Tür und Tor für eine beliebige ‚fröhliche Wissenschaft‘ öffnet und das Chaos der Fakten zu Bildern organisiert, die dem „Kunsttrieb“ auf Kosten des „Wahrheits- und Gerechtigkeitstriebs“ das Feld räumt. Später wird Nietzsches ästhetische Verachtung der bürgerlichen Geschichtskultur, die Neigung, „lieber zu urteilen als gerecht zu sein“, in einen Lebensbegriff ausarten, der dieses geradezu sozialdarwinistisch mit Unterdrückung und Ausbeutung des Fremden und Schwächeren gleichsetzt. Eine solche Interpretation hat das Plädoyer für eine von Tradition unbeschwerte Gegenwartsaktivität, als Aufwertung des blinden Willens zu einer irrationalen Macht, fragwürdig werden lassen. „Gesund, stark, fruchtbar“ zu sein, mag zu Recht einen Primat gegenüber einseitig historischer Bildung und Geschichtskontemplation, wissenschaftlicher Überspezialisierung und Zersplitterung beanspruchen. Sogar die Begrenzung des Horizonts, „zur rechten Zeit vergessen und zur rechten Zeit sich erinnern zu können“, ist für jedes Handeln notwendig, wenn es nicht in die Falle einer kanonisierten, musealisierten Vergangenheit tappen oder Gefangener überlebter Fehden werden will; umgekehrt verwirrt unendliche, relativierende Horizonterweiterung und erstickt echte Bildung in wucherndem Bildungsersatz. Das Perspektivische, heißt es zutreffend in Jenseits von Gut und Böse (1886), ist die Grundbedingung allen Lebens, ja „warum dürfte die Welt, die uns etwas angeht, nicht eine Fiktion sein?“ Wir kommen in der Tat nicht um subjektive Wertschätzungen herum, um ein „Leben auf Hypothesen hin“. Schon auf dem Markt steigt und sinkt der Wert eines Produkts je nach der variierenden Nachfrage: ein Grund, warum Anhängern ewiger und unveränderlicher Werte die Moderne mit ihren 348
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schwankenden Wertetafeln unheimlich ist.271 Nietzsche treibt die Einsicht von der Subjektivität unserer Werturteile bis zum Plädoyer fürs lebensfördernde, arterhaltende falsche Urteil, das er zurückführt auf die elementare Tatsache des Lebens als Ungerechtsein und Begrenztsein. Seine Absage an Hegels historischen Sinn als Religionsersatz enthält, wie angedeutet, ein noch radikaleres Motiv, das untergründig, wie ein Basso continuo, das Gesamtwerk begleitet und in immer neuen Variationen anklingt. „Vorliebe und Vorhass“ Nietzsches gelten auf der einen Seite dem Vornehmen in einer sehr eigenwilligen Bedeutung, auf der anderen den „schreibfindigen Sklaven des demokra tischen Geschmacks“ mit ihrer Nützlichkeitsmoral, die sich als verhängnisvolle Dummheit erweisen mag. Das ‚demokratische Zeitalter‘ ermöglicht auch den niedrigsten Naturen, den höheren Naturen das Gesetz vorzuschreiben. In Rückwärtsprojektion wird sein Vorurteil, in gefährlicher Nähe zu den Ressentiments von Gobineau, zur Denunzierung jener „großen Pöbelbewegung des römischen Reiches“, einer Erhebung der Schlechten, Ungebildeten, Kranken und Feigen, mitsamt der „nichtswürdigen jüdischen Phrase vom Himmel auf Erden“. Damit meint der entschiedene „Anti-Antisemit“ nicht nur die Prediger der Gleichheit und der Nächstenliebe, die die natürlichen Instinkte für Rang und selbstverständliche Unterordnung untergraben; schon die platonische Erfindung des reinen Geistes und des Guten an sich wird in der europäischen Geschichte zum gefährlichsten aller Irrtümer, und Christentum ist Platonismus fürs Volk. Zwar heißt es später, die Geschichte wäre eine gar zu dumme Sache ohne den Geist, der von den Ohnmächtigen in sie gekommen ist: erst auf dem Boden priesterlicher Ressentiments sei der Mensch ein „interessantes Tier“ geworden. Aber konkret überwiegt der durch die Kriegserklärung an die alten Instinkte verursachte Schaden: Von Luthers geistigem Plebejismus, seinem „Bauernaufstand des Nordens“, rührt die Verflachung des neu-europäischen Geistes her, die die aristokratische Renaissance zum „großen Umsonst“ werden ließ. Die leidenschaftlichen Torheiten und Halblügen der „Moral-Tarantel“ Rousseau verscheuchten analog den elitären Geist der Aufklärung: pseudochristliche Werturteile werden in der „überflüssigen Posse“ der französischen Revolution in Blut und Verbrechen übersetzt. „Oh Voltaire! Oh Humanität! Oh Blödsinn!“ (Jenseits von Gut und Böse, 1886). Nietzsches schrill-pessimistische Attacken gegen Illusion und Realität des Fortschritts als in Wirklichkeit Entartung münden in eine Satire auf die „dicht wattierte Humanität“ der Moderne (Götzendämmerung, 1889) mit dem Zerrbild der Gesellschaft als quasi Gegenseitigkeit von Kranken und Krankenwärtern. „Wir haben das Glück erfunden, sagen die letzten Menschen und blinzeln“. Der Fortschrittsaberglaube ist schon deshalb absurd, weil es ‚die Menschheit‘ 349
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gar nicht gibt und die Geschichte bestenfalls eine „ungeheuere ExperimentierWerkstätte“ ist, in der nur weniges gelingt, aber „unsägliches missrät“. So liegt zwar in der Erkenntnis der Nicht-Festgelegtheit des Menschen die Chance eines Über-sich-hinaus-Könnens (um das missbrauchte Wort vom Übermenschen zu vermeiden), aber noch eher des Zugrundegehens – den Sieg der Herde über die wahren Werte und vitalen Instinkte, die Verwässerung der Ideale der Eliten, die Selbstaufhebung alles Großen. „Ich liebe die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende“, ist Nietzsches Bekenntnis aus Zarathustra (1883). Der Verdacht scheint unabweisbar, dass es hinter der Fassade einer scheinbaren Aufwärtsbewegung in Wirklichkeit abwärts geht ins „Klügere, Behaglichere, Mittelmäßigere, Chinesischere, Christlichere… Wir sind des Menschen müde“ (Genealogie der Moral, 1887). Die Herrenmoral der Selbstbejahung weicht den Instinkten der unterworfenen Rassen, die aus ihrer Ohnmacht und ihrem Ressentiment eine Umwertung der Werte erzwingen. „Judäa“ siegt über „Rom“. Ist es möglich, diese demokratische Erkrankung, die „Gesamtabirrung der Menschheit von ihren Grundinstinkten“, durch eine Erziehungs- und Züchtungspolitik wieder rückgängig zu machen und die Mehrheit in den Status der Unmündigkeit zurückfallen zu lassen (U. Marti)? Nietzsche entzieht sich der Festlegung auf eine einzige Grundintention272; doch gehen wir gewiss nicht fehl, wenn wir als wichtigen Teil seiner geistigen „Experimentier-Werkstätte“ das Gedankenspiel herausstreichen, den „jüdisch-christlichen“ Fortschrittsimpuls, entlarvt als geistige Rache der Schwachen an der aristokratischen Wertordnung, nochmals umzukehren. Nietzsches darüber hinausgehendes Paradigma wäre, die „schauerliche Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher ‚Geschichte‘ hieß“ zu beenden und die lineare historische Zeit zurückzubiegen in die ewige Wiederkehr des Gleichen. *** Das Negativbild einer Dekadenz der Kultur, sei es eines Verlusts an Vitalität durch Überzivilisiertheit und Überreiztheit, durch physiologische Degeneration bzw. Rassenmischung, oder eher als Verlust traditioneller moralischer Werte und Rückfall in triebhafte Massenatavismen, war weder spezifisch nietzscheanisch noch „historistisch“. Pessimistische Diagnosen konnten auf der ideellen Grundlage eines Biologismus und der Forderung nach eugenischen Reformgesetzen formuliert werden, wie auf der Basis eines konservativen Moralismus oder eines romantischen Ressentiments gegen die Welt bürger licher Spießer. Allgemeiner Untergang oder allgemeiner Fortschritt, sagt Baudelaire: auf die Worte komme es nicht an, nur auf die Tatsache des Gemein 350
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werdens der Herzen.273 Zu einem negativen Bild der Gegenwart als Niedergang konnte ein durkheimscher Soziologismus ebenso gelangen, wie antikapitalistischer Protest, oder auch völkische Sehnsucht nach nationaler Geschlossenheit und Gemeinschaft. Der modische Lebensbegriff diente häufig als Sammelbecken des Unbehagens an einer zwar erfolgreichen und reichen, aber einseitig materialistischen, mechanistischen, überintellektualisierten Gesellschaft, deren liberale Wertorientierungen als Integrationsmittel versagten, ja eher einen Teil des Problems zu bilden schienen. Die Grundtatsache des Lebens und Erlebens, als Voraussetzung alles theoretischen und praktischen Wertsetzens dient in der Geschichtstheorie Wilhelm Diltheys († 1911) der Emanzipation der Geisteswissenschaften von der naturwissenschaftlich geprägten Erkenntnislehre. „Die Natur ist uns fremd. Denn sie ist nur ein Außen, kein Inneres.“ Nur die Tatbestände des lebendigen kulturellen Ganzen sind uns von innen verständlich (Einleitung in die Geisteswissenschaften, 1883). Während die Naturwissenschaft das lebendige Gefühl zugunsten eines gegenständlichen Auffassens unterdrückt, um diesen „großen Gegenstand Natur als eine Ordnung nach Gesetzen zu konstruieren“, bildet hier die menschliche Erfahrung durch das Spektrum wollender Subjekte, über sich hinausweisender Erlebnisatome, die Grundlage der Erkenntnis. Das abstrakte Denken bleibt dagegen unfruchtbar, wenn es nicht vitale Funktionen erfüllt und aus dem Strukturzusammenhang konkreter Lebenseinheiten verstanden werden kann. Dilthey will die Begriffe aus ihrem „objektivistischen Schein“, ihrem metaphysischen Gehäuse (Fellmann) befreien und alles historische Geschehen nicht nur faktisch als menschliches Handeln, sondern als intentionale Sinnstruktur rekonstruieren. Im Unterschied zur normativen Wertphilosophie des Neukantianismus, sollen diese aber nur als Widerspiegelungen, Repräsentationen von Lebensvorgängen betrachtet werden. Das Leben wird von Dilthey nicht auf seine elementaren Grundtriebe reduziert, obwohl er die strikte Immanenz der Werte und Normen unterstreicht; er will, nach einer späteren Formulierung, den Geist (im pragmatischen Sinn aller menschlichen Tätigkeiten) souverän machen „allen Spinnweben dogmatischen Denkens gegenüber“ (Aufbau der geschichtlichen Welt, 1910). Das Leben besitzt eine primäre Ausdrucks- und Verstehensstruktur, und die Kulturwissenschaften bringen diese Tatsache zur Geltung, indem sie konkrete Bedeutungen in ihrem Lebenszusammenhang erfassen. Dies geschieht, wie gesagt, nicht als intellektuelle Vorstellung, in der „reinen und feinen Luft der kantschen Vernunftkritik“ (ebenda), sondern im Nacherleben und Mitempfinden vergangenen Lebens, im intuitiven Verstehen von Objektivationen des Lebens. Ahistorische abstrakte Wesenheiten vergleicht 351
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der jüngere Dilthey mit „zusammengeballten Nebeln, die den Blick hindern, zum Wirklichen zu dringen“. Bei aller Abhängigkeit der Kulturtatsachen von Psychologie und Anthropologie, geht es dem Berliner Lebensphilosophen um keine naturwissenschaft liche Reduktion geistiger Tatsachen auf eine psychophysische Naturgrundlage, sondern um hermeneutische Wechselwirkung zwischen subjektivem Erleben und der Auslegung jener Objektivationen aus ihrem organischen Lebenszusammenhang. „Was der Mensch sei, sagt nur die Geschichte“, die als Illustration verwirklichter Möglichkeiten den letzten Erkenntnishorizont darstellt. Andere Arten der Erkenntnis von Kulturtatsachen werden von Dilthey delegitimiert. Wohl gibt es innerhalb des Ganzen der geschichtlichen Welt unzählige Struktur- und Wirkungszusammenhänge, Systeme von Werten mit gegenseitigen Bezügen und unlösbaren weltanschaulichen Konflikten; diese zu erfassen, ergibt jedoch weder eine Gesamtrichtung, noch übergreifenden Sinn. Geschichtsphilosophie, die der studierte Theologe zutreffend als Nachwirkung des christlichen Gedankens einer fortschreitenden Erziehung der Menschheit durch die Vorsehung abfertigt, ebenso wie die „Generalisierungswut“ der Soziologie, übersieht nach seiner Meinung die eminente, unreduzierbare Bedeutung des Singularen für die Geschichte. Intersubjektive Erfahrung gelangt zum Verstehen menschlicher Gleichartigkeit: „wir sind verwebt in diese Gemeinsamkeiten“; aber das „wollend fühlend vorstehende Wesen“ ist kein geeigneter Baustein für metaphysische Abstraktionen oder allgemeine Geschichtsformeln. Die später von W. Windelband († 1915) so genannte „idiographische“ Methode der Kulturwissenschaften, auf die – ebenso wie auf den Lamprechtschen „Methodenstreit“ – hier nicht weiter eingegangen wird, hat die von Droysen und Dilthey formulierten spezifischen Erkenntnisziele des Historismus ins Grundsätzliche vorangetrieben und neben dem Verstehensprinzip das der Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit der geschichtlichen Phänomene überbetont. Das Insistieren aufs Individuelle musste das Allgemeine nicht völlig aus der Geschichte verdrängen und das Medium des subjektiven Verstehens keinem totalen Relativismus Platz machen: die Geschichte enthält außer dem Individuellen in abgestufter Weise durchaus Elemente des Allgemeinen, Vergleichbaren, Typischen, Appellativen. Sich auf das Einzelne im strikten Sinn zu beschränken, wäre auch Ranke nicht eingefallen, obwohl er vom romantischen Gedanken getragen wurde, dass sich im Individuellen das Ganze widerspiegelt. Ein anderes ist der künstliche Gegensatz von Verstehen und analytischem Erklären, der sich schon deshalb erübrigt, weil der Gegenstand der Geschichtsforschung uns nicht als lebendiges Gegenüber vorliegt, sondern erst aus unseren 352
17. Historismus, Fortschrittsskepsis, Kulturpessimismus
Fragestellungen, Erkenntnisinteressen, filternden und ordnenden Eingriffen entsteht, nicht zuletzt unseren Unterscheidungen von Wesentlichem und Belanglosem. Geschichte kann sich nicht auf dürre kausal-genetische Erklärungen beschränken, oder gar auf errechenbare, stringente Gesetzlichkeit reduzieren; es gibt aber durchaus Konstanten und determinierende Faktoren, soziale, ökonomische, psychologische Regelhaftigkeit, die den Begriff der „Einmaligkeit“ relativ werden lassen. Droysens „forschendes Verstehen“ glaubte sich auf das Erkennen von Identitäten im Wandel stützen zu können; das Material der modernen Geschichtsschreibung sind aber nicht nur frei handelnde Einzelpersönlichkeiten, sondern über weite Strecken überpersönliche Abläufe und quantitativ-statistische Daten, die nicht anschaulich vorliegen, sondern erst in Abstraktion und durch Typenbildung verstehbar werden.274 Auch der der idiographischen Methode entsprechende Entwicklungsbegriff mit seiner Vorstellung eines organischen Wachstums wird dem disharmonischen, konfliktreichen, diskontinuierlichen Charakter insbesondere der Moderne nicht gerecht. Für die Idee des Fortschritts war es nicht unbedingt notwendig, sich auf vermeintlich objektive Gesetze der Geschichte zu stützen: was uns angeht, mag er tatsächlich auf Fiktionen von der Art der unverbrüchlichen Menschenrechte beruhen. Der Zukunftsbezug sollte aber von keinem blind-vitalistischen Dezisionismus getragen werden, sondern das Wollen zumindest auf möglichst genaue Kenntnis des Möglichen stützen können. Dazu reicht die Geschichte grundsätzlich nicht aus, schon gar nicht in Gestalt eines individualisierenden Historismus, der sich, wie Waldemar Besson einmal notierte, kaum zufällig schwer tut mit universalisierender Gesamtansicht. Die Lagerbildung zwischen gesetzespositivistischen, kausal-mechanisch begründeten Kulturauffassungen und geisteswissenschattlicher Hermeneutik war keine absolute (R. v. Bruch) und schon gar keine politische, obwohl sich Philosophen wie Windelband als Hüter des deutschen Idealismus gegen relativistisch-empiristische Modetendenzen der Zeit in Szene setzte (zu denen er auch den Parlamentarismus zählte).275 Nach der Jahrhundertwende verstärkte sich gerade das Unbehagen an der immer weitergehenden Historiserung alles Wissens und Denkens, ein Eindruck der Unübersichtlichkeit und Zersplitterung der spezialisierten Wissenschaft, die man jetzt für die „relativistische Gebrochenheit einer alles historisierenden und psychologisierenden“ Kultur verantwortlich machte: die Auflösung aller Werte von Religion und Kunst, Ethik, Recht und Staat im Flusse des historischen Werdens (Ernst Troeltsch). Die geistige Revolution des Historismus war nicht nur gegen die überzeitlichen Glaubenslehren, sondern zumindest ebenso, mit nationalem Akzent, gegen die abstrakt-naturrechtliche Vernunft gerichtet. Die relativierenden 353
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie
Konsequenzen wurden zunächst aufgefangen vom neuprotestantisch fundierten, in eine objektiv sinnvolle Geschichte eingebetteten Nationalprinzip, auch von einem bürgerlichen Sekuritätsgefühl. Die Vision des Niedergangs, im 19. Jahrhundert nur von einzelnen konservativen Geistern artikuliert, war mit dem Wertrelativismus des Historismus nicht notwendig verbunden, doch war die Unterminierung der naturrechtlichen Fundamente des Fortschrittsdenkens in der Tat dessen Werk. Die eigene Wertorientierung hatte die praktische Handlungsanleitung zunehmend akademisch ausgespart: vielleicht hat sich die Geschichte damit als Sinngebungsinstanz selbst ausgeschaltet und Nietzsches Verdikt bestätigt, dass der Handelnde stets wissen-und gewissenlos vorgeht.
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VI. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert 18. Technokratismus, Amerikanismus Das Dekadenzgefühl einiger Literaten, die Gesten aristokratischer Verachtung alles Praktischen und Technischen, ebenso wie das herrschende humanistischhistorische Bildungsideal konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Zeitgeist dem naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt gehörte. Nicht nur Frankreich mit seiner Tradition der École polytechnique, seinen Pariser Weltausstellungen und den populären Romanen Jules Vernes war fasziniert von der atemberaubenden Folge der Entdeckungen und Erfindungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Eigendynamik der angewandten Wissenschaft lief dem tradierten Kulturbegriff aus dem Ruder (W. J. Mommsen), so dass sich Nachdenkliche die Frage stellten, ob die Menschheit ihrer explosiv gewachsenen Macht ethisch gewachsen sei. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt ging einher mit Traditions- und Sinnverlust, mit Materialismus. „Technik reimt sich auf Fortschritt…, während sich früher allerdings Fortschritt auf ganz andere Wörter gereimt hat“ (H. Freyer). Doch die neue Technik fand zunehmend Akzeptanz in den Wertvorstellungen der Menschen, ja beflügelte die Phantasie zu utopischen Zukunftsvisionen. Das 1899 im Deutschen Reich durchgesetzte Promotionsrecht der Technischen Hochschulen drückte auch im Lande Humboldts und Rankes symbolisch die Wertschätzung der aufsteigenden Ingenieursklasse und die hohen Erwartungen gegenüber deren Kompetenz in den meisten Lebensbereichen aus.276 Die Technik schien dabei ihrem Werkzeugcharakter zu entwachsen: der Anwendung für bekannte und kontrollierbare Zwecke, und eröffnete selbst neue Lebensperspektiven. Der Eindruck ihrer Verwandlung zum Selbstzweck drängte sich Zivilisationskritikern auf und verstärkte den traditionellen Vorwurf einer „Mechanisierung“ und „Verflachung“ des Lebens durch die kapitalistische Industriegesellschaft. Ruskins düstere Befürchtung, England werde sich infolge der industriellen Entwicklung in eine negative Utopie verwandeln und „kein Ort“ mehr für menschliches Leben mehr bieten, blieb angesichts der Verhässlichung der Umwelt ein Menetekel; romantische Topoi, wie der Verlust geistiger Wert355
VI. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert
orientierung durch einseitige Konzentration auf Erwerb und Nutzbarmachung der Materie, Anonymisierung des großstädtischen Lebens, demographischer Niedergang, „Industrienomadentum“ hatten ihre Anhänger, auch wenn sie kaum wirkliche Alternativen boten. Werner von Siemens hatte schon in einem Vortrag von 1886 derartige Klischees zu entkräften gesucht und verband mit technischem Fortschritt auch die stete Beschleunigung unserer Kulturentwicklung; andere Verteidiger der Moderne schlugen in diese Kerbe und betonten außer der größeren Macht der Zivilisierten auch ihre Kultur als Frucht fortgeschrittener Technik. Ja in dieser stecke mehr schöpferischer Geist als in Ciceros Rhetorik (Max Eyth, nach Th. Rohkrämer). Technische Rationalität, glaubten viele, könne eine Menge Konflikte aus der Welt schaffen. Alfred Nobels Hoffnung auf eine friedensstiftende Wirkung des Entsetzens über die immer größeren Tötungskapazitäten der Kriegstechniken blieb allerdings eine unsichere schon deshalb, weil vor 1914 in Europa der Anschauungsunterricht fehlte und jede Nation in der bestehenden Konkurrenzsituation der Mächte an den Vorsprung ihrer eigenen Waffentechnik glaubte. Vielleicht wollte sich die Beherrschung der Naturgewalten auch nicht von ihrer Urbestimmung: Kampf und Machtsteigerung, lösen. Um die Jahrhundertwende überwog so oder so Technikbegeisterung: die Erwartung von weit mehr als nur kleinen Erleichterungen des Alltags, einer Beschleunigung des Verkehrs und der Nachrichtenübermittlung, sondern einer geradezu prometheischen Revolutionierung von Raum und Zeit, bis hin zur Erfüllung der alten eschatologischen Sehnsucht nach Befreiung der Arbeit vom Fluch der Mühe, der endgültigen Überwindung der materiellen und kulturellen Beschränkungen der bisherigen Geschichte. In einem 1910 von Arthur Brehmer herausgegebenen Sammelband Die Welt in hundert Jahren, erwartet ein Autor (Pseudonym Hudson Maxim), das menschliche Vorwärtsstreben werde über den gegenwärtigen wissenschaftlichen und materiellen Fortschritt hinaus zur Ära der ethischen und philosophischen Vollendung in höhere psychologische Kultur einmünden. Die Fortschrittsperspektive anderer Beiträge des Bandes ist weniger eindeutig und schließt z. B. die Bombardierung Ostasiens durch die Luftstreitkräfte der Vereinigten Staaten von Europa ein (R. Martin, vermutlich inspiriert durch H. G. Wells’ Luftkrieg von 1908).277 Die Erweiterung des Bereichs des Machbaren war durch eine Reihe beeindruckender Innovationen ins allgemeine Bewusstsein gelangt : von den chemischen Erfindungen, die ermöglichten, aus Steinkohlenteer Farben und Medikamente zu gewinnen, den bakteriologischen Entdeckungen Pasteurs, Kochs, Ehrlichs, die die alte Geißel der Seuchen zum Verschwinden brachten, bis zu den Fortschritten von Medizin und Hygiene („Schmutz ist gefährlich“ lautete 356
18. Technokratismus, Amerikanismus
die populär gewordene Devise W. Th. Sedgwicks). Die Benutzung von Chloroform ermöglichte schmerzlose Operationen, und die Entdeckung der Röntgenstrahlen (1895) eine bessere Diagnostik. Nachdem man die Beschaffenheit der Elektrizität erkannt hatte, war der Weg offen für ihre vielfältige praktische Nutzung, die die Arbeitsvorgänge in der Industrie revolutionierte. Seit der Frankfurter Elektrotechnischen Ausstellung von 1891 und dem Elektrizitätspalast der Pariser Weltausstellung von 1900 lief ein fast mythischer Glaube an die unbegrenzten Möglichkeiten insbesondere dieser neuerschlossenen Kraft auf das Traumbild der „Elektropolis“ der Zukunft hinaus; die Begeisterung und die damit verknüpften sozialen Erwartungen reichten bis in die sozialistische Arbeiterbewegung hinein (H. Berghoff). Von den vielfältigen Anwendungen der Elektrotechnik, dem Dynamo, der Glühbirne, dem Elektromotor, faszinierte die wissenschaftlich unbedarfte Öffentlichkeit vor allem der Telegraph, die drahtlose Telegraphie, der Phono-, Photo- und Kinematograph sowie das Telephon, die versprachen, der zwischenmenschlichen Kommunikation, aber auch der Vermittlung von Kultur, eine neue Dimension zu geben.278 Der Wunderstoff Elektrizität stellte über seine Instrumentalität hinaus etwas wie Vergeistigung dar, schien die Grenze von Stoff und Geist zu überbrücken, die Materie in Wellen und Schwingungen aufzulösen. Der Leipziger Chemiker Wilhelm Ostwald, Nobelpreisträger von 1909 und Vorsitzender des Deutschen Monistenbundes, glaubte, in der „gesetzmäßigen Steigerung und Umbildung der Energie das ordnende Prinzip aller Wirklichkeit, der Thermodynamik wie der Kultur, entdeckt zu haben.279 Die wissenschaftliche Fundierung der Technik versprach in neuer Gestalt den Sieg des Geistes über die Materie: das alte Märchen von Aladin und der Wunderlampe mit seiner magischen Dienstbarmachung der Naturgeister, die Suche nach dem Perpetuum mobile und die Goldmacherei der Alchymisten, schien wahr zu werden. Ganz neue Perspektiven eröffnete der Benzinmotor und die Anfänge der Aeronautik; zusammen mit lebensverlängernden Erfolgen bei der Schaffung gesünderer Lebensverhältnisse durch Impfung, Desinfektion, Trinkwasserversorgung, Kanalisation etc. entstand der Eindruck einer Überschreitung aller bisherigen Grenzen und Beschränkungen. Die naturwissenschaftlich geprägte Medizin trat in Deutungskonkurrenz zu den privilegierten Kulturwissenschaften: nicht immer in optimistischer Attitüde, wie die Neurastheniedebatte von Binswanger bis Freud beweist (W. Eckart). An den technischen Durchbrüchen entfaltet sich das Gefühl der realen Einheit der Erde und des Fortschritts als steuerbarer Entfaltung vorhandener Potentiale, die für jedes Problem eine praktikable Lösung parat haben. Die sich abzeichnende Weltzivilisation ist trotzdem nicht für alle ein Versprechen: Sie droht, wie wir gehört haben, mit dem Verlust von historischem Sinn, von kultu357
VI. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert
reller Besonderheit und dem Absinken in seichtes Nützlichkeitsdenken, und wurde vielerorts mit der trotzigen Betonung des Überlieferten bzw. Nationalen beantwortet. Wenn der Zeitgeist der technischen Entwicklung zutraute, die Schäden und „Kinderkrankheiten“ der älteren Industrialisierungsphasen zu beheben, dann war diese „amerikanische“ Annahme einer quasi automatischen Selbstkorrektur durch „ausgereifte“ Zivilisationsmechanismen eine Selbst täuschung. Die Idee einer ‚selbstregulativen Maschine‘ war von Anbeginn konstitutiv für die Vereinigten Staaten, deren Verfassung schon geprägt war von mechanischen Vorstellungen (der checks and balances) und der Hochschätzung von Technologie als „instrument of emancipation“ sowie einer „more productive, humane, and just society“ (nach Kleinsteuber). Dem „technologischen Geist“ Amerikas entsprach eine offene, „experimentelle“ Einstellung, eine entsprechende Orientierung an Marktwettbewerb und Pluralismus, die Freiheit und Wohlstand versprach. Entsprechend verschob sich die europäische Sicht der Amerikaner allmählich von der verwirklichten Utopie der Aufklärer zum Zerrbild von ‚Kulturlosigkeit‘ und ausschließlichem Interesse an praktisch verwertbaren Dingen. Während in der älteren utopischen Literatur Technik keine besondere Rolle spielte, hatte man im 19. Jahrhundert den Raum des Machbaren, der künstlichen „zweiten Natur“ des Menschen, immer mehr erweitert und nicht zuletzt der Kommunikation neue Möglichkeiten gegeben. „Die äußere Arena des Lebens ist durch die Wissenschaft transformiert worden“, musste John Dewey feststellen, jedoch: „der wirkliche… Charakter des Menschen ist noch kaum berührt worden.“ (Wissenschaft und Gesellschaft, 1931). Die entfesselten Kräfte lagen in der Tat in den Händen derselben beschränkten, ehrgeizigen und interessierten Wesen, wie sie die bisherige Geschichte kannte; die geforderte rationale Beherrschung auch der „Natur im Menschen“ wird aber bald als fragwürdig empfunden. Der durch die wissenschaftlichen und technologischen Neuerungen erweiterte kollektive Freiheitsspielraum hatte nämlich durchaus freiheitsbeschränkende Konsequenzen.280 Soweit das Verrechtlichung und Einschränkung von Willkür bedeutete, Saint-Simons Ersetzung von Herrschaft durch sachgemäße Verwaltung, mochte das als Fortschritt empfunden werden; wenn jedoch das gesamte Leben der modernen Menschen immer stärker von Sachzwängen beherrscht und geradezu in Eindimensionalität getrieben wird, kommt Unbehagen auf. Fragmentierung ist die Quelle der Stärke unserer rationalen Ordnung, aber „je sicherer die Fragmentierung, desto… weniger kontrollierbar ist das daraus resultierende Chaos“ (Z. Bauman). Aus der Zusammenballung der Bevölkerung in den Industriezentren hat der Staat über das Schulwesen hinaus, schon zur Loyalitätssicherung, etwa durch Sozialversicherungssysteme, seine Kompe358
18. Technokratismus, Amerikanismus
tenzen ständig zu erweitern gesucht und dabei immer wieder „Probleme durch Problemlösen geschaffen“. Die Notwendigkeit von Kooperation, der Versorgung der großstädtischen Massen, der Seuchenbekämpfung, der Aufrechterhaltung einer labilen Infrastruktur, hat überall Eigenlogiken entwickelt, die nicht nur die verbliebenen „ambivalenten“ Freiheitsräume, sondern im Grunde auch den eigentlich politischen Entscheidungsspielraum eingeengt haben. Nicht zuletzt wurden die bisher öffentlich relevanten Ordnungssysteme Religion und Moral zur unmaßgeblichen Privatmeinung herabgedrückt.281 Die Methoden und Werte der Technologie erwiesen sich sehr wohl auch auf anderen Feldern als ihrem ursprünglichen anwendbar; aber das Gesellschaftliche, die Politik eingeschlossen, lässt sich nicht auf Regeln rationaler Beherrschung reduzieren. Frederick Taylor, der Quäker aus Philadelphia, hat Schule gemacht mit seinen Principles of Scientific Management (1911), einem System der Produktionssteigerung, dessen menschliche und mechanische Bestandteile, fast ununterscheidbar, der „wissenschaftlichen“ Betriebsführung dienen sollten. Ein Ingenieursdenken „sub specie machinae“ (F. Rapp) hat in Taylors Spuren das reibungslose Funktionieren effizienter Mittel zum eigentlichen Handlungsziel der modernen Gesellschaft erhoben. Die entsprechende Herrschaftsstruktur wäre Max Webers „stählernes Gehäuse der Hörigkeit“ gewesen, ein quasi-ägyptisches, hierarchisch abgestuftes, streng rationales System der Verfügung spezialisierter, fachgeschulter Bürokraten. Effiziente Mittel sind natürlich immer gesucht, wenn es gilt, dringende Aufgaben zu lösen; eine sachkundige Verwaltung bietet der modernen Wirtschaft die notwendige Erwartungssicherheit und auch der übrigen Gesellschaft den rechtlichen Rahmen zur Verfolgung ihrer Ziele. Eine technokratische Philosophie nimmt an, aus der Bereitstellung neuer technischer Mittel werde sich ohne weiteres deren vernünftige Nutzung zum Wohl der Menschen, sozialer Fortschritt ergeben; die Erziehung zu Fleiß, Genauigkeit, Sparsamkeit und Vorausberechnung sollte die Voraussetzung schaffen für Muße zur eigentlich menschlichen Selbstverwirklichung: eine typische Fortschrittsillusion.282 Nicht nur ist technisches Wissen und Können mehrdeutig: Ihr sich ständig überbietendes Fortschreiten wird zum Erfolgszwang, zur Unfähigkeit anzuhalten und die entfesselte Dynamik zu kontrollieren. In Wahrheit nehmen weder Technik noch Wissenschaft den Menschen die Verantwortung für ihr Handeln ab; bei aller Unumgänglichkeit des Expertenwissens und der Determinierung unserer Handlungsspielräume durch knappe Ressourcen gilt eher: Je effizienter das Instrument, desto notwendiger die Norm für seine Anwendung und gegen seinen Missbrauch. Die moderne Wissenschaft, die ihrem Anspruch nach das Erbe früherer Sinngebungsinstanzen angetreten ist, verfügt natürlich über Normen, doch sind es 359
VI. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert
nicht viel mehr als Binnenregeln von Max Webers „Turnierplatz“, auf dem diskursive Klarheit, aber kein darüber hinausgehender objektiver Sinn, keine von umstrittenen Wertbezügen unabhängige Lösungen, geboten werden. „Es gibt keine schlechthin objektive wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens… unabhängig von speziellen und einseitigen Gesichtspunkten“ (Weber: Zur Objektivität sozialwissenschaftlicher… Erkenntnis, 1904). Die Anhänger des Technokratismus (aber auch konservative Kritiker, wie Helmut Schelsky) suggerieren, mit der Entzauberung der Welt bleibe an sinnvollen Aufgaben im Grunde nur mehr die Suche nach Effizienz übrig; jenseits der kulturellen Unterscheidung von Gut und Böse sei das technisch Machbare und ökonomisch Verwertbare der eigentliche Imperativ geworden und jeder erreichte Stand eine zu überholende Vorstufe im Prozess „schöpferischer Zerstörung“. Die Abhängigkeit von mechanisierten Systemen, rationaler Organisation, Konkurrenz, gleichartigen, spezialisierten Arbeits- und Denkweisen, einem alternativlosen Zweckdenken, ließ schon Walther Rathenau, dem deutschen Großindustriellen und Kulturkritiker in einer Person, nur die Hoffnung auf ‚innere Wiedergeburt‘ als Chance, die Herrschaft der Mittel zu durchbrechen. Das traditionelle Verhältnis von Zweck und Mittel hatte sich umgekehrt, wie später Jacques Ellul feststellen wird, und für Politik und Ethik bzw. Humanwissenschaften scheinbar nur kulturelle Anpassungsprobleme an die rasante Entwicklung der Technologien übriggelassen – so dass die Idee der Demokratie „ihre klassische Substanz verliert“. In Wirklichkeit stößt der technische Veränderungswille immer an Grenzen, nicht allein die Aufnahmefähigkeit des Marktes. Gesetzt jedoch, die Diagnose stimmt, so können wir immer noch zwischen unterschiedlich erwünschten Rationalisierungen bzw. Technikfolgen unterscheiden. Auch der sich nach außen zur Weltzivilisation ausweitende Prozess okzidentaler „Weltbemächtigung“, der den Hintergrund des europäischen Imperialismus bildet, geht zurück auf kontingente Motive und unterschiedliche Arten der Rationalisierung in Wirtschaft, Gesellschaft, Lebensführung und kultureller Orientierung, die unter kein gemeinsames Etikett von Sachgesetzlichkeit passen und eine Vielfalt möglicher Perspektiven und politischer Handlungsoptionen offenlassen. Technischer Fortschritt und parlamentarische Demokratie, haben wir spätestens im 20. Jahrhundert gelernt, sind zweierlei, und wachsendes rationales Kalkül kann einhergehen mit menschenverachtender Rücksichts losigkeit oder Herabsetzung des Anderen. Die Spannungen und Ambivalenzen der janusköpfigen Moderne werden aber nur selten nach Webers Richterspruch „ertragen“, sondern verführen zu ideologischen Reduzierungen und mehr oder weniger plausiblen Rezepten und Gegengewichten. Ein solches war auch bei Weber die Erhebung der Bürokratie 360
18. Technokratismus, Amerikanismus
zum Garanten der Rationalität und konfliktfreien Entwicklung, gelegentlich in Kombination mit gemeinwohlideologischer Überlagerung der auseinanderlaufenden Horizonte (Peukert). Unter den zahlreichen Sinnstiftungsversuchen und innerweltlichen Lösungsangeboten der Zeit, wie der marxistischen Revolutionsdoktrin, den avantgardistischen Fluchten in ästhetische Gegenwelten, William Morris’ rückwärtsgewandter Utopie des Handwerks und Kunstgewerbes gegen die ‚Zivilisationspest‘ der Großstadt, oder schließlich der „wissenschaftlichen Weltanschauung“ diverser Säkularreligionen,283 bildet die technokratische Utopie, in zeittypischer Verkürzung unter dem Namen Amerikanismus, die geschichtsmächtigste.284 *** Amerika war im 19. Jahrhundert wegen seiner fehlenden Ständeschranken und historischen Traditionen, seiner Freiheits- und Aufstiegschancen, ein Gegenstand der Sehnsucht vieler Europäer; von anderen verabscheut als kulturloser „Freiheitsstall, bewohnt von Gleichheitsflegeln“ (Heine) oder als „nordamerikanisch-schlechtjüdischer Geldkultus“ (Langbehn). Es war, positiv oder negativ besetzt, ein Faszinosum: weniger durch Natur- und Indianerromantik, wie die Tatsache seines verblüffenden allgemeinen Wohlstands und mögliches Zukunftsbild einer unaufhaltsam vorrückenden Gleichheit (Tocqueville). Die französische Revolution hatte im europäischen Bewusstsein das Bild der amerikanischen weitgehend verdrängt;285 angesichts der unerfreulichen Entwicklung der französischen Republik, ihrer immer wieder erwiesenen Anfälligkeit für Umstürze, Militärdespoten, Chauvinismus und Korruption, kehrte das Interesse zur stabileren Demokratie der amerikanischen Union zurück. Für Tocqueville († 1859) war das Jacksonsche Amerika der 1830er Jahre das politische Experimentierfeld der Moderne, ihrer Vorzüge und Gefahren, von denen die Anhänger der republikanischen Tradition schon immer wussten. Der junge Tocqueville war insbesondere besorgt, dass innerhalb einer weitgehenden égalité des conditions das allzustarke individuelle Interesse an Reichtum die sozialen Bindungen austrocknen könnte. Auch die vorrückende Leidenschaft für die Gleichheit besitzt zerstörerische Züge: Wenn die Gleichheit nicht in der Freiheit zu erlangen ist, „so wollen sie diese noch in der Knechtschaft“. So könne sich, gleichsam hinter dem Rücken der einzelnen, eine gewaltige bevormundende Macht herausbilden, die sich durch Fürsorge um das Wohl aller legitimiert und dabei zum alleinigen Betreuer und einzigen Richter der Menschen aufsteigt: Könnte sie ihnen nicht auch die Sorge des Nachdenkens und die Mühe des Lebens ganz abnehmen? (Tocqueville : De la démocratie en Amérique, Teil 2,1840). 361
VI. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert
Der konservative Liberale war hier eher dem aufkommenden Zwitterwesen des Bonapartismus auf der Spur, als Amerika, das dieser Gefahr bisher entgangen war – durch seinen Föderalismus, seine gemischte Verfassung aus dem Gegeneinander verschiedener Willenszentren, nicht zuletzt seinen religiös geprägten Freiheitssinn. Die Praxis der Selbstverwaltung, der Geschworenengerichte reißt die Individualisten aus ihrer Vereinzelung heraus und erzeugt durch gemeinschaftliches Handeln Gemeingeist auch dort, wo die klassische republikanische Tugend fehlt. Hinzu kommt die Religion als verbindende, die amerikanische Mentalität formende Kraft: Anders als in Europa, schreiten dort Religion und Freiheit gemeinsam voran, wie der französische Beobachter mit einiger Überraschung feststellte. Karl Marx hatte gerade diese Tatsache als Hindernis einer vollen Emanzipation der Amerikaner angeprangert, und natürlich hat die Religion ihre Tücken, wenn sie zu Selbstgerechtigkeit verführt und/ oder eine Monopolstellung im Staat erlangt. Als Montesquieu-Leser weiß aber Tocqueville von der Wichtigkeit der „Sitten“ und „intermediären“ Gewalten für die Freiheit des Ganzen. Die Abschaffung von staatlichem Zwang und die Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften war ein Novum der Geschichte, das die Menschheit den amerikanischen Gründervätern verdankte. Aber es war eher die Tatsache eines Gemeinwesens mit zwei Ebenen der Staatlichkeit, der kleinräumig-direkten und der großräumig-repräsentativen (Kielmannsegg), die Thomas Jefferson 1801 die selbstbewussten Worte eingaben: „Wir können nicht länger sagen, dass es nichts Neues unter der Sonne gebe“. Die Federalists meinten damit die Verhinderung des Gesetzes vom Kreislauf der Verfassungen, einer Entgleisung der Republik in Tyrannei und Despotie, und die föderative Ordnung auf demokratischer Basis war ihr Mittel gegen eine Entartung der Freiheit. Jefferson betonte das Recht als eigentliche amerikanische Theologie, und im Ethos der Bewahrung des heiligen Feuers der Verfassung war ein Stück des alten puritanischen Willens nachzufühlen, mit der Freiheit der Kinder Gottes Ernst zu machen. Nichts ist mit größerer Gewissheit in das Buch des Schicksals eingeschrieben, als dass diese Menschen bestimmt seien, frei zu sein, sind Jeffersons Worte von 1821, eingraviert in das Monument am Potomac. Das war alles andere als gewiss, zumal wenn sie sich auch auf die schwarze Bevölkerung bezogen, aber erklärt sich aus dem religiösen Ursprung, dem Sollenscharakter der Menschenrechte.286 Das Bewusstsein moralischer Überlegenheit der Vereinigten Staaten, eines zweiten Israel, hat später mit der amerikanischen Weltmission eine imperiale Politik begründen helfen, obwohl sich das gelobte Land der Freiheit ursprünglich aus allen Welthändeln heraushalten und Jeffersons agrarische Demokratie sogar die Fabriken den korrupten Europäern überlassen wollte. Der Schwerpunkt seines Wertesystems verschob sich im Laufe des 19. Jahrhunderts von 362
18. Technokratismus, Amerikanismus
den großen Gedanken seiner Gründer zu einer prosaischeren Weltanschauung, und die deklarierte „Pflicht der Regenerierung“ bzw. Zivilisierung des Rests der Welt, mit theologischer Note, weist auf einen problematischen Zusammenfluss ökonomischer und ideologischer Expansion (W. Appleman Williams). Die demonstrative Frömmigkeit eines John D. Rockefeller oder Andrew Carnegie galt Kritikern als Augenwischerei skrupelloser Industriemagnaten, die Christus sagten und Baumwolle oder Erdöl meinten. Zumindest hatten deutsche Professoren, die 1904 die Weltausstellung in St. Louis besuchten, den Eindruck, hier habe sich die Reduktion aller Vorgänge auf Geld voll durchgesetzt und in einer Großstadtkultur alle Gemeinschaftsspuren zugunsten reiner Gesellschaft – im Sinne von Tönnies’ bekannter Dichotomie – ausgelöscht (Werner Sombart). Das war durch die Brille europäischer Bildungsarroganz gesehen, die die religiöse Untermauerung der amerikanischen Demokratie als pure Scheinheiligkeit missverstand und nur die vulgäre Außenseite der traditionslosen Aufsteiger gesellschaft zur Kenntnis nahm. Gewiss war Amerika materialistisch, aber „her materialism transcended itself“, wie das Kenneth Clark formuliert hat. Zwar haben die Amerikaner Religion und Geschichte weitgehend von tragischen und pessimistischen Komponenten der europäischen Tradition gesäubert, so dass sie ihre erstaunliche Erfolgsgeschichte, unbeschwert als Lohn der guten Sache genossen. Ob es die Erhaltung der Einzigartigkeit von God’s own country war oder die Mission, der Welt die amerikanischen Werte zu vermitteln: Beides signalisiert gleichermaßen eine naiv-selbstbewusste Identifizierung mit dem Guten und der eigenen Geschichte mit dem Fortschritt. Golo Mann hat der Idee der Manifest Destiny den skeptischen Nachsatz hinzugefügt, mit bloßen Ideen sei noch kein Land urbar gemacht worden, und in der amerikanischen Geschichte habe auch nur ein ziemlich geringer Bedarf nach diesen bestanden (Vom Geist Amerikas, 1954). Doch hatte sich Tocqueville nicht geirrt, wenn er die politischen, moralischen und religiösen checks and balances der Amerikaner als wirksames Sicherheitsventil gegen das Abgleiten der Wettbewerbsgesellschaft in Zynismus und Gleichgültigkeit gegenüber dem Gemeinwesen hervorhob. Tocqueville bewunderte die Vitalität der entstehenden amerikanischen Zivilisation, trotz der darin enthaltenen Gefahren; er war kein Kulturpessimist, sondern blieb der Überzeugung, es werde immer von den Menschen abhängen, wie sie ihre Zukunft gestalten: ob die sich angleichenden Lebensbedingungen in eine Gleichheit der Knechtschaft, der Barbarei und des Elends münden würden, oder in eine Gleichheit des Rechts, der Freiheit, des Wissens und Wohlstands. Natürlich ist die nivellierte, funktional differenzierte moderne Gesellschaft ohne übergeordnete normative Instanz durch ethische Appelle nicht einfach in den Griff zu bekommen. Aber die funk363
VI. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert
tionalen Teilsysteme: Wirtschaft, Wissenschaft, Technik waren in den USA stark eingebunden in öffentliche, zivilgesellschaftliche Netze der Mitwirkung und gegenseitigen Kontrolle; die instrumentale Vernunft der Technokraten und Industriebosse wurde durch dieses Potential zwar nicht immer wirksam gezähmt, aber doch zur Selbstbegrenzung gezwungen (Hastedt). Die Praxis der amerikanischen Demokratie sollte den staatsorientierten Europäern später helfen, das verlorene Vertrauen in die gesellschaftliche Initiative wiederzugewinnen. Um die Jahrhundertwende neigte man jedoch, mit der Auflösung der alten bildungsbürgerlichen Kulturideale und der Polarisierung in pro und contra Industriegesellschaft, zu vereinfachenden Dichotomien; „Amerikanisierung“ stand dabei weniger für Demokratie und Freiheit, wie für Technik, Rationalisierung, Massenproduktion und großstädtische Massenkultur auf der Basis eines skrupellosen Gewinnstrebens (W. Th. Stead, The Americanisation of the World, 1901). Der Wolkenkratzer, das „eisen- und steingewordene Taylorsystem“ (zit. Eberenz), galt seit der Chicagoer Weltausstellung von 1893 als das Symbol eines ambivalenten Amerikanismus. Die Verschiebung der Wahrnehmung ergab sich schon aus der anhaltenden Woge des menschlichen Erfindungsgeistes, der zwar nicht immer amerikanisch in seinem Ursprung, aber durch die praktische Umsetzung und serielle Herstellung – vom Automobil bis zur Schreibmaschine, von der Erdölraffinierung bis zur Herstellung von Kunststoffen aus organischen Materialien – mit Amerika verbunden wurde. Das war kein Zufall, sondern hing mit gerade der von Kritikern beklagten Kommerzialisierung und sozialen Mobilität der amerikanischen Gesellschaft, ihrer Offenheit und praktischen Orientierung, zusammen. Es gebe nur zwei Arten von Einfällen, äußerte der kritische Amerika-Emigrant Ernst Bloch: solche, die abgenommen, und solche, die nicht abgenommen werden; letztere sind auch als Entwürfe nicht recht da (Prinzip Hoffnung). Hochproduktive Erfinder, wie Thomas A. Edison, mit über tausend registrierten Patenten, die ihm allerdings reißend „abgenommen“ wurden, weckten geradezu den Eindruck einer zweiten Erschaffung der Welt, und geniale Organisatoren, wie Henry Ford, verstanden die Massen zu überzeugen, das Neue sei stets das Bessere, ja das notwendige Element einer rationaleren und produktiveren Ordnung. Willkür und kurzfristiges Profitstreben würden abgelöst durch optimale technische Lösungen, soziale Gegensätze durch höheren Lebensstandard überwunden (Th. P. Hughes, 1991).287 Ausgehend von den schwindelerregenden Erfindungen und kühnen Werken der Ingenieurskunst hatte sich, wie schon erwähnt, auch das Bild, das Literatur und Kunst um 1900 von der Zukunft entwarfen, im Vergleich zu den älteren Utopien immer mehr technisiert Ein quantitativer Kolossalismus fesselte die 364
18. Technokratismus, Amerikanismus
Phantasie der Zeit: das „riesenhaft Unvollendete“ der Wolkenkratzer in den schnell wachsenden amerikanischen Millionenstädten, ihre zentralisierte Massenproduktion und ungeahnte Produktivität, aber auch der Verlust herkömmlicher Formen und Maße, waren das Paradigma, unter dem die Zukunft zu stehen schien. Nur noch „Größe und Massenhaftigkeit, zweckmäßige Raumeinteilung und Einschachtelung des lebendigen Inhalts, und zugleich Verschwinden aller Lieblichkeit und allen Frohsinns“ – die Perspektive der künftigen Weltstädte in den Augen eines erschreckten Europäers (P. Lindau, 1893). Den europäischen Betrachtern der amerikanischen Szene war natürlich auch das Fehlen des ihnen vertrauten Kastengeists und Klassenbewusstseins nicht entgangen; man glaubte eine ausgeprägte Mittelstandsmentalität und Aufstiegsbereitschaft der Mehrheit der Amerikaner zu erkennen. In der keineswegs immer unkritischen amerikanischen Selbstwahrnehmung hieß es ebenfalls, man neige zwar zur Unterschätzung des Werts der Traditionen und alten Einrichtungen, kompensiere aber die Gleichgültigkeit gegenüber der Vergangenheit durch die Idee, dass „die Welt unter unseren Augen von neuem beginnt und neu geschaffen wird“ (John Dewey: Entwicklung des amerikanischen Pragmatismus, 1925). Dewey († 1952), Reformer der Pädagogik und Philosophie, Förderer einer demokratischen Zivilreligion und des Völkerbundes, hielt Demokratie für das Lernergebnis negativer Erfahrungen und Freiheit für kein vorgegebenes Ideal, sondern die Kehrseite erlittener Unterdrückung; die ursprünglich nicht-politische Integration der Großen Gesellschaft aus diversen Einwandererströmen erfolgt durch Akkumulation nicht intendierter Erfahrungen – obwohl gerade das amerikanische Selbstverständnis auf naturrechtlich-teleologischen Denkgewohnheiten beruht (der Manifest Destiny). Dewey versteht „die Welt als in kontinuierlicher Bildung begriffen“ und so will er auch die Verfassungsprinzipien durch „Geben und Nehmen der Kommunikation“ zur Großen Gemeinschaft weiterentwickeln (Die Öffentlichkeit, 1927). Dabei spielen kumulativ veränderte Gewohnheiten eine größere Rolle als menschliche Intentionen; ihn interessieren überhaupt eher die Folgen, die erfolgreiche Lebenspraxis. Bei allem häufig rücksichtslosen und unreflektierten Individualismus der amerikanischen Praxis und der Tatsache, dass distinktives Handeln stets die Gruppe voraussetzt, hält der demokratische Philosoph am Grundsatz fest, dass nur der individuelle Geist Träger schöpferischen Denkens ist und damit das unhintergehbare Organ jeder Reform bildet; dass auch dem einzelnen Verstand die zentrale Stellung im Leben zukommt. Umgekehrt glaubt Dewey in der fehlenden Bereitschaft, neuartige Bedingungen zu bewältigen, nur Mangel an Intelligenz zu entdecken. Der konservative Glaube ans Schicksal ist für ihn Denkfaulheit, während „vernünftig sein heißt, Dinge in ihrer Rolle als Hindernisse und Hilfsmittel zu erkennen“ 365
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(Der praktische Charakter der Realität, 1907). Wichtiger als die Mehrheit ist für ihn die Art und Weise, wie sie zustande kommt. Das war gewiss keine tiefgehende Metaphysik, traf aber genau die zupackende Weise, mit der die Amerikaner an alle Probleme heranzugehen gelernt hatten. Der Pragmatismus drückte ihre hemdsärmelige, untheoretische, experimentierende Lebenseinstellung aus, den Glauben an den Fortschritt durch intelligente Lösungen aller Fragen. William James († 1910), nicht ohne darwinistischen Einfluss, hatte ganz in diesem Geist empfohlen, das harte, ungesicherte Leben der amerikanischen Pioniere auch in einer friedlichen Arbeitsgesellschaft durch moralische Äquivalente des Krieges von der Art des Sports zu bewahren: die bejahte Zivilisation braucht Korrektive und Ventile, nicht exzentrische, tiefgründige Visionen. Seine andere berühmte Formel, truth is what works, hat die analoge Bedeutung einer Ablehnung müßiger Kontemplation und der Konzentration des Denkens auf Dinge, die bei der Gestaltung des Lebens hilfreich sind. Das sollte keiner Beliebigkeit, keiner Philosophie des „Barwerts der Wahrheit“ das Wort reden, sondern nur der Suche nach absoluter Gewissheit den Boden entziehen. Wahrheit gibt es nur als ständige Verifizierung und „Bewährung“. Dass es Dinge gibt, die sich dieser Zuordnung entziehen, wollte der auch in Europa geschätzte Psychologe nicht leugnen, und „erfolgreiche Gestaltung“ bedeutete für ihn nicht bloß „ökonomische Verwertung“. Hier war James auf eine authentische alte Traditionsschicht der Europäer gestoßen: den Primat des Glaubenswillens vor intellektueller Erkenntnis, die sich erst aus erfolgreicher Bewährung im Handeln ergibt. Er kam diesem Grundsatz so weit entgegen, dass er Gott und Mensch als Mitarbeiter am Entwicklungsgang des Universums aufeinander bezog (Der Wille zum Glauben, 1897). Dem Menschen kommt in seinem Meliorismus der zentrale Part bei der Erschließung immer neuer Zugänge zur Wirklichkeit und bei der Minderung der Übel in der Welt zu. Dagegen lag Deweys Interesse stärker im Theoretischen (und Erzieherischen, worin er besonderen Erfolg hatte); doch suchte er Wahrheit nicht bei Autoritäten und ewigen Werten, sondern in der Lösung konkreter, relativer Probleme. Diese betont demokratische Auffassung wollte didaktisch wirken und durch Perspektivenwechsel und die Berücksichtigung verschiedener Standpunkte nicht nur Erkenntnis befördern, sondern Gemeingeist und Interessenausgleich herbeiführen. Dewey empfiehlt nicht fertige Wahrheiten zu vermitteln, sondern die Erziehung zu Problemlöseverhalten, das über die Aufstellung von Hypothesen und die Vorausberechnung der Folgen schließlich die passenden Mittel findet (Demokratie und Erziehung, 1916). Der Geist fällt geradezu mit vernünftig gesteuertem Handlungsablauf zusammen; deshalb sollte sich Philosophie nicht mit korrekten Feststellungen begnügen, sondern eine moderne Art Prophezeiung sein: Vorwegnahme des Fruchtbaren und Auswahl 366
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des Bedeutsamen. Nur als solche spielt sie auch eine Rolle bei der Entwicklung der Kultur (Philosophie und Zivilisation, 1931).288 Es ging dem Pragmatismus aber nicht einfach um Erfolg um des Erfolgs willen, um bloße Anpassung des Denkens an empfundene Bedürfnisse, gar darum, Wahrheit mit dem Ziel einer beliebigen Handlung gleichzusetzen, wie ihm als dem vermeintlichen Ausdruck eines verabsolutierten Kommerzialismus, wenn nicht Zynismus, oft unterstellt wurde. Wesentlich ist für ihn die Zukunftsorientierung, das Kriterium praktischer Bewährung jeder Wahrheit, die Prüfung durch die sich aus ihr ergebenden Konsequenzen, nicht zuletzt die Kultur des gemeinsamen Diskurses und der friedlichen Lösung von Divergenzen. James fordert bezeichnend, statt der ersten Dinge (der Metaphysik) auf die letzten, die Folgen einer Option, zu achten: alle Erkenntnis ist perspektivisch auf Handeln gerichtet, insofern auf eine Weise teleologisch. Sie ist aber zugleich hypothetisch („fallibilistisch“ nannte sie Peirce), weil jede Aussage durch zukünftige Erfahrungen korrigiert werden kann und muss. Diese Philosophie entsprach nicht einfach dem „Kapitalismus“ in seiner naiven Frühform, in der galt, dass „jeder seines Glückes Schmied“ ist. F. J. Turners These von der Prägekraft der Grenze für die Wertvorstellungen der Amerikaner (1893) schien durch die tiefe Krise der 1890er Jahre erst einmal negativ bestätigt, doch die Reformbewegungen der folgenden Jahrzehnte orientierten sich, trotz der veränderten Rahmenbedingungen, immer wieder an den bisherigen amerikanischen Idealen – zumindest insofern, als die Vitalität der Angelsachsen und die wirtschaftliche Überlegenheit der USA der Welt letztlich Frieden und Wohlstand bescheren sollten (Brooks Adams, 1901).289 Diese Philosophie wurde, nicht nur in Deutschland, häufig missdeutet und denunziert als reine Apologetik des „falschen, gefräßigen, scheinheiligen, schamlosen Raubtiers“ (A. Haushofer, 1918); aber sie brachte wohl auch einen wichtigen Grundzug der westlichen Zivilisation zum Ausdruck. Der auf eine offene Zukunft gerichtete Appell ans eigene Handeln, das darin enthaltene Bewusstsein des Werts individueller Freiheit, der universale Anspruch der Vernunft als Instrument zur Gestaltung der Lebenspraxis, die Bändigung des Kapitalismus eingeschlossen – das war, über alle technoeuphorischen Einseitigkeiten, missionarischen Selbstgefälligkeiten und massiven Eigeninteressen im Gewand einer Treuhänderschaft für das Wohl des Erdballs hinaus, ein legitimer Akzent innerhalb der europäischen Fortschrittstradition.290 Die fragwürdigen Aspekte dieses amerikanischen Denkens, das im 20. Jahrhundert seinen Siegeszug in der Welt antrat, waren häufig in anderen Bereichen zu suchen, als seine europäischen Kritiker von rechts oder von links taten;291 vor allem sollte sich die amerikanische Gesellschaft immer wieder als fähig zu Selbstkorrekturen und neuen Anfängen erweisen. 367
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Die Identifizierung von Amerikanismus und Technokratismus bzw. traditionsloser Neuerungssucht, auch der Reduktion auf finanziellen Kalkül, war eine Halbwahrheit, die Europa in die reale Utopie der Neuen Welt hineinprojizierte und auch als Vorbild häufig missverstand. Den Amerikanern war die passive Hinnahme der Geschichte als Schicksal fremd; ihre spektakulären Erfolge im 19. Jahrhundert bestärkten sie im Glauben an den zielgerichteten Willen und methodisch angewandten Verstand als Schlüssel zur Bewältigung der Wirklichkeit. Das waren klassische Züge utopischen Denkens, aber das war im Kern auch die Botschaft der europäischen Neuzeit gewesen. Für ein mystisches Seinsgeraune hatte man in Amerika keinen Sinn, ohne dass sich die eigene Haltung als nihilistisches Willenspathos oder „Seinsvergessenheit“ abqualifizieren ließe. Das dämonische Bild des Amerikanismus als eines überpersönlichen, alles Leben bestimmenden Fatums der Veräußerlichung, Mechanisierung und Entgeistigung (Polenz, 1903) war „mythisch überhöht“ – sowohl als innerweltliche Heilserwartung, wie als negative Utopie. Das wirkliche Amerika besaß, auch ohne staatsreligiöse Zwänge und Seinsspekulation, mit seinen optimistischpraktischen Neigungen und seiner Verquickung von Politik und Geschäftsinteressen, durchaus unverzichtbare Werthorizonte. Die europäische Erfahrung mit dem Scheitern der vielen hoffnungsvollen Ansätze, der tragischen Verkehrung guter Absichten ins Gegenteil des Erwarteten, überhaupt der Grenzen des Machbaren in der Geschichte, stand den Amerikanern erst noch bevor. *** Die amerikanische sachliche Orientierung, die individualistische politische Kultur waren, sowenig wie das moderne „Berufsmenschentum“, zufällige Lebensformen, beliebige Spielarten des possessive individualism, sondern eine historisch einzigartige Prägung. Das hat nicht erst Max Weber († 1920) dargelegt: der Theoretiker der modernen Rationalität, der in Religionsfragen vermeintlich „Unmusikalische“, dessen Vorfahren in beiden Linien immerhin Glaubensflüchtlinge waren. Das Interesse an den symbolischen Potentialen der Religion, ihrer „habitusprägenden Kraft“ (Graf) war um 1900 um so größer, je stärker man die Krisenhaftigkeit der Zeit und das Fehlen eines festen Fundaments der Welt empfand. Das war bei Weber jedenfalls in hohem Maß der Fall. Er wollte sich strikt auf das wissenschaftlich Sagbare beschränken und wusste zugleich, dass Wissenschaft in seinem nominalistischen Verständnis die Wahl im ‚Bürgerkrieg der Weltanschauungen‘ nicht erleichtert. Der Universalgelehrte war aber überzeugt, dass Kultur mit Hingabe und Verzicht zu tun hat und diese vom Glauben an überpersönlichen Sinn genährt 368
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werden. Sogar auf sein Wissenschaftsverständnis fiel ein Stück Heil – wenn auch nur als Ethos unbedingter Redlichkeit, mit der sie einer „gottfremden und prophetenlose“ Zeit ins Auge blickt. An Max Webers Interpretation der modernen Rationalität war originell die Deutung aus einem historisch konkreten religiösen Erlösungsbedürfnis, als Verwandlung des jüdisch-christlichen Charismas. Gewiss hat es in der Weltgeschichte andere Arten von Charisma und disziplinierenden Regelzwängen gegeben; nicht zukunftsfähige, wie der angebliche „bürokratische Erstickungstod“ der Spätantike zeigt. Die eigentliche Kraftquelle der europäischen Kultur sieht Weber in der christlichen Disziplinierung – durch die Deklassierung des Naturhaften und Körperlichen, die als Versuchung zur Ablenkung von ihrem spezifischen Heilsweg verpönt waren (Wirtschaft und Gesellschaft, 1921 posthum). Mit anderen Worten, die Entwertung aller magischen Elemente, die prophetische Verwerfung jeder Kreaturvergötterung, entfaltet, im Gegensatz zur Ethik der Weltanpassung im Konfuzianismus oder zur Weltablehnung der indischen Tradition, ein Pathos aktiver Weltgestaltung. In ihren unterschiedlichen, einander überlagernden wahlverwandten Ansätzen erkennt Weber keine Entwicklungslinie, aber doch die Spuren dieses Pathos, wenn nicht Erlösungsbedürfnisses. Heilsprämien auf eine methodisch-rationale Lebensführung sind etwas anderes als antike oder frühneuzeitliche Lehren von der guten Haushaltsführung, und sie sind auch etwas anderes als die auri sacra fames; unersättliche Geldgier hat es zu allen Zeiten gegeben. Der kapitalistische Geist jedoch „hat sich in schwerem Kampf gegen eine Welt feindlicher Mächte durchzusetzen gehabt“ (Der ‚Geist‘ des Kapitalismus). Nun sind Begriffe dieser Art in Webers eigenem methodologischen Verständnis bloße „Idealtypen“, die nicht mit der vielfältigen, weniger eindeutigen Wirklichkeit verwechselt werden sollten. Aus vorwissenschaftlichem Erkenntnis interesse und Wertbezügen heraus dienen sie dazu, eine Fragestellung zu konstituieren: Geschichtsteleologien mit substanziellem Anspruch traktiert Weber aber mit Sarkasmus. Heterogene zivilisatorische Ausprägungen der europäischen Geschichte: Stadt, Markt, Bürokratie, Wissenschaft, werden in seiner Sicht erst seit der frühen Neuzeit, vor allem durch die calvinistische Lebensmethodik, gebündelt und zu einer neuen, spezifischen Dynamik gesteigert. Diese war weder einfach aus dem Vorherigen ableitbar, noch identisch mit der jeweiligen gesellschaftlichen Wirklichkeit bzw. deren ‚Überbau‘. Die Arbeitshypothese einer protestantischen Arbeitsethik, verstanden als Entpersönlichung und Versachlichung des Charismas, könnte aber über jede ältere zweckrationale Disziplin und Abrichtung, über „Einübung mechanischer Fertigkeit“ in Bürokratie und Heer hinaus, die Herausbildung einer neuartigen okzidentalen Vernunft erklären. Aufklärung und Revolution verselbständigten diese bis zur Fetischisie369
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rung: Dantons „Despotismus der Vernunft“ als einer entpersonalisierten, unteilbaren Kraft, verkörpert noch in der jakobinischen volonté générale.292 In Nordamerika hat diese kontinentaleuropäische Vernunftvariante, weder als bürokratischer Anstaltsstaat noch als Amtscharisma eines Staatskirchentums Eingang gefunden; hier ist das reformatorische Bewusstsein menschlicher Fehlbarkeit und das entsprechende Misstrauen gegen die korrumpierenden Auswirkungen der Macht auch in ein charakteristisches Politikverständnis kristallisiert, das auf praktischem Interessenausgleich, gegenseitiger Kontrolle und empirischen Teilkorrekturen basierte. Die durch Sekten, ohne Vermittlung eines „hierokratischen“ Verbandes geprägte amerikanische Gesellschaft – als weberscher Idealtypus genommen – fand besonderen Gefallen an der calvinistischen Idee der sachlichen Zwecke: der Leitgedanke einer Vergesellschaftung durch den Markt, der „nur Ansehen der Sache, kein Ansehen der Person“ kennt. Hier kommt, als Legitimation und Sinngebung bloßer Zweckrationalität, die innerweltliche Dimension eines protestantischen Asketismus zum Tragen: die Notwendigkeit ständiger Bewährung statt traditionaler standesgemäßer Lebensführung. Dieser religiöse Habitus der amerikanischen Zivilisation, die politischen Strukturen eingeschlossen, ließ sich kaum übersehen, wurde aber als notwendiges Vertrauenskapital und Form der Selbstvergewisserung einer nie versiegenden Tatkraft von kritischen Beobachtern nicht ernst genommen. Nicht nur „schlägt der typische Sektierer…als Handlungsreisender jeden Konkurrenten“ ; auch die amerikanische Demokratie ist „kein Sandhaufen zusammenhangsloser Individuen, sondern ein Gewirr…frei gewachsener Sekten, Vereine, Klubs“ (Weber) . Gegen die deutsche Neigung, „die Tugenden des Amerikanismus als Heuchelei zu empfinden“, sah der Sohn einer pietistischen Mutter, dass „die Sekten allein es fertig gebracht /haben/, positive Religiosität und politischen Radikalismus zu verknüpfen… Nur sie gaben z. B. der amerikanischen Demokratie die ihr eigene elastische Gliederung und ihr individualistisches Gepräge“ (Kirchen und Sekten in Nordamerika, 1906). Auch der stark entwickelte Eros technischer Weltbemächtigung, das ungetrübte Vertrauen in die praktische Lösbarkeit aller Probleme, bis hin zum guten Gewissen auch bei skrupelloser Durchsetzung ökonomischer Interessen, verrät noch den alten religiösen Impuls. „Siehst du einen Mann rüstig in seinem Beruf, so soll er vor Königen stehen“ (Sprüche Salomonis 22,29, zit. Benjamin Franklin in seiner Autobiografie). Max Weber, der sich als Wissenschaftler Werturteilsfreiheit auferlegte, also Wissenschaft jenseits der Wertsphäre ansiedelte, hielt dennoch den widersprüchlichen okzidentalen Rationalisierungsgang für unser modernes Schicksal und zugleich eine einzigartige, überlegene kulturelle Prägung: in der Klarheit und Wachheit seiner diskursiven Vernunft nicht weniger als in der Leistungsfä370
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higkeit seiner zweckrationalen Zivilisationsmechanismen. Nicht zuletzt stellte die Bürokratie mit ihrer unbefangenen Sachlichkeit und arbeitsteiligen Spezialisierung einen unumgänglichen, weil kalkulierbaren, effizienten Rahmen der modernen Gesellschaft und Marktwirtschaft dar; jede andere, etwa sozialistische Organisation würde auf dieses Instrument zurückgreifen müssen. Nicht die direkte Demokratie der Arbeiter stünde somit auf der Tagesordnung einer kommenden Revolution, wie die eines anordnenden Verwaltungsstabs mit unein geschränkten Kompetenzen.293 Auch in anderen Zusammenhängen sieht Weber die Notwendigkeit eines fachgeschulten unparteiischen Beamtentums gegenüber der Dilettantenverwaltung durch „Interessen- und Beutepolitiker“: gerade die Entwicklung zur plebiszitären Demokratie erfordert eine „Maschinisierung“ der Politik (Politik als Beruf, 1919). Wenn Weber das konkrete deutsche Beamtenregiment des Kaiserreichs scharf kritisiert und durch eine effizientere parlamentarische Führung ersetzen will, dann gilt das einer allzu anpassungswilligen, „gesinnungslosen“, keineswegs überparteilichen Schicht, die ohne politische Eigenverantwortung und Notwendigkeit zum Kampf alle Fragen auf technische reduziert. Ohne eigenes Charisma versagt sie notwendig bei der Führung der Nation im Kampf um Selbstbehauptung, sprich: Kolonisierung der Welt (W. J. Mommsen, 1959; W. Schluchter, 1972). Für A. Giddens besteht kein Zweifel, dass „Demokratie für ihn niemals mehr als ein Mittel für andere Zwecke war“ (1988). Schon in seiner Freiburger Antrittsrede von 1895 hatte Weber die eudämonistische Perspektive Mills verworfen, „Frieden und Menschenglück im Schoße der Zukunft verborgen zu wähnen“. Auch später war er nicht bereit, auf der Basis der okzidentalen Rationalisierungsprozesse eine allgemeine Fortschrittsperspektive zu entwerfen; über der Pforte zur unbekannten Zukunft der Menschheit stehe Dantes „Lasst alle Hoffnung fahren“. Das bedeutete zunächst: Unser Wissen vom Gang des amorphen und diskontinuierlichen Stroms der Geschichte ist zu partiell, auf subjektive Ausschnitte von Sinn beschränkt, als dass sich daraus ein folgerichtiger Aufbau der Menschheitsentwicklung konstruieren ließe. Man könne den Begriff des Fortschritts allenfalls wertfrei gebrauchen, als „Fortschreiten irgendeines konkreten abstrahierend isoliert betrachteten Prozesses“ (Werturteilsfreiheit, 1913). Auch Webers Typologie der Herrschaft taugte nicht als Fortschrittskriterium, etwa durch eine moralische Höherbewertung der Demokratie gegenüber ständisch-bürokratischen Herrschaftsformen: Begriffe wie ‚Wille des Volkes‘ seien reine Fiktionen, schrieb er 1908 an Robert Michels; wenn Demokratie etwas bringt, hieß es später, dann eine größere Fähigkeit zur Mobilisierung breiter Schichten. Politik wird bei Weber manchmal übernüchtern zur bloßen Frage der Führungsauslese, wenn nicht zu reiner Pfründenversorgung; nur in zweiter 371
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Linie wird sie auch als Kampf um sachliche oder ideelle Ziele verstanden. Revolutionäre erscheinen typologisch als Parallele zur Gefolgschaft von Kriegsfürsten: beide leben sie von Beute, Konfiskationen und der Aufdrängung wertloser Zahlungsmittel (Politik als Beruf). Das Charisma der ersten Stunde verflüchtigt sich schnell und übrig bleibt eine übermächtige Bürokratie. Webers Geschichtsbild besteht, wie gesagt, aus nicht immer kongruenten Teilen; manchmal drängt sich ihm der Alptraum eines irreversiblen fatalen Geschehens auf, der ihn in die Rolle des eigentlich verspotteten Katheder propheten verfallen lässt: die unentrinnbaren Zwänge der Rationalisierung scheinen in Erstarrung und Verlust aller Individualität, Kreativität und Freiheit zu münden, jenes sinnentleerte, stählerne Gehäuse neuer Hörigkeit. „Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erreicht zu haben“ (Protestantische Ethik, 1905). Diese kulturpessimistische Attitüde war vermutlich – wie bei Nietzsche – dem verleugneten eigenen Bedürfnis nach „Weltfrömmigkeit“ und charismatischer Aufladung der nur-weltlichen Routinen und banal-utilitären Handlungsmotive geschuldet, dem Wunsch, „einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bürokratischer Lebensideale“. Die Entzauberung der modernen Welt scheint Weber zwar unentrinnbar, aber doch keine vollständige und definitive insofern zu sein, als das in ihren Einrichtungen erkaltete, veralltäglichte Charisma der Wiederbelebung fähig sein könnte. Dies soll keine Rücknahme der Moderne bedeuten, und die Korrektur kann sich auch nicht auf objektives Wissen, gar historische Gesetzmäßigkeiten stützen, sondern allein auf persönliche Lebensentscheidung: den Willen, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen. Der schroffe Nationalist mochte die religiöse Überhöhung der Nation nach Art Lagardes ablehnen, aber der Aufwertung der politischen Kultur durch Kriegsund Todeserlebnis maß er trotzdem lebensphilosophische Bedeutung bei: der Wiedererstehung des Gemeinschaftlichen im emphatischen Sinn, mit dem das Gehäuse bloß materieller Interessen aufgebrochen werden könnte (Mommsen, 1993; Breuer, 1994). Dies und nicht die immanente Weiterentwicklung der ernüchternden, alle Wertvorstellungen durchschauenden und alle Grenzen sprengenden wissenschaftlich-technischen Rationalität bildete wohl Webers eigentliche, restreligiöse Perspektive. Es war eine „dezisionistische“, auf Wertwillen und Kampf beruhende Chance, dem menschlichen Leben einen Freiraum für die – letzten Werten verpflichtete – individuelle Lebensführung abzutrotzen. Die in ihrer zweckrationalen Instrumentalität und verabsolutierten Nützlichkeit gefangene Zivilisation schien ihm derartige charismatische Gegengewichte zu erfordern. 372
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Die fortschreitende wirtschaftliche und technische Modernisierung Russlands z. B. war Weber gerade keine Garantie einer freiheitlichen Entwicklung: diese böte nur der entschiedene Wille, sich nicht wie eine Herde Schafe behandeln zu lassen. Der Kampf, der jeder authentischen Kultur innewohnt,294 gewiss kein irrationales Aussteigertum, aber doch ein Auslöser charismatischer Wiederverzauberung, sollte quasi-darwinistisch, zur Hebamme werden für eine Alternative zum drohenden „stählernen Gehäuse“ der Zukunft. Diese Chance war alles andere als ungefährlich. Bei aller Ablehnung reiner Gesinnungsethik, die nicht nach den Folgen des eigenen Handelns fragt, wollte Weber nicht unklar lassen, dass sich der Politiker, indem er das Mittel Gewalt ins Spiel bringt, „mit diabolischen Mächten einlässt“ (Politik als Beruf, 1919). *** Die Identifikation von „Amerikanismus“ und Technokratie war, wie wir gesehen haben, ein Missverständnis; ein nicht geringeres war der Glaube an die automatische Geltung bzw. die einfache universale Umsetzung des amerikanischen Wertesystems, das eben mehr war als nur Technik und Geschäft. Der äußerliche Triumph des „Amerikanismus“ im 20. Jahrhundert fegte eine Reihe traditionaler wie „moderner“ ideologischer Konkurrenten von der historischen Bühne, so dass sich Amerika als „Ende aller Dinge“ (Günter Dehn), ein übriggebliebener Leitmythos der Modernisierung jenseits der Gegensätze von Klasse und Nation, anbot. Die immense Kraftentfaltung technischer Vernunft täuschte über die keineswegs nur zweckrationalen Voraussetzungen dieser Zivilisation hinweg, und viele Diagnostiker glaubten, nicht anders als Weber, der Eigenständigkeit der Politik und der Moral drohe die Auflösung in Zwängen eines technologischen Sachverstands: normative Willensbildung wird zunehmend durch Fachgutachten ersetzt. Eine Ethik jenseits der rationalen Teilsysteme und eigenständigen Institutionen erscheint als überflüssig oder reines Lippenbekenntnis; auch die Menschenrechtsideologie schrumpft zum rhetorischen Minimum angeblich gleicher Aufstiegschancen für alle. In den zwanziger Jahren löste das amerikanische Evangelium, oft in Ausklammerung von Staatsform und demokratischem Glaubensbekenntnis, aber in deutliche Konkurrenz zum Evangelium Lenins, eine Zeitlang als Patentrezept Begeisterung aus. Die totalitären Großideologien verwiesen die technische Rationalität wieder in ihre dienende Funktion und der politische Wille beendete erst einmal Carl Schmitts Zeitalter der Neutralisierungen. Mit der Technik war die geistige Neutralität beim geistigen Nichts angelangt, verkündete der Theoretiker eines autoritären Führerstaats 1929. Dass auch dieser nur eine „Revolution des Nihilismus“ sein würde, hätte der Katholik ahnen können. 373
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Nach der Katastrophe des gewalttätigen Versuchs, die Entzauberung der Welt durch einen technisierten Geschichtsmythos aufzuhalten und auf diese Weise „Sinn zu stiften“, wollten konservative Kritiker der erneuerten westlichen Ordnung diese höhnisch als nur rhetorisch bemäntelte Herrschaft hypertrophierender Mittel interpretieren. Es gibt keine subjektiven Irrtümer mehr in diesem Spiel, stellte Helmut Schelsky (1953) fest – aber auch kaum noch subjektive Freiheit als reale Alternative. Die moralische Hilflosigkeit des amerikanischen Zeitalters bestehe nicht so sehr in der Unwilligkeit gegenüber mora lischen Ansprüchen, wie in der Beliebigkeit der guten Motive und ihrer vollkommenen Ohnmacht gegenüber den Ablaufgesetzlichkeiten der wissenschaftlich-technischen Zivilisation. „Gegen die technisch garantierte Wahrheit ist jede Opposition unvernünftig“, und ein Selbstverständnis, das sich an vergangenen Zuständen orientiert, führt allein zu Realitätsverlust und Verwirrung (Auf der Suche nach Wirklichkeit, 1965). Demokratie ist Selbsttäuschung und überzogene moralische Ansprüche bringen die zweckrationalen Systeme nur außer Fassung. Auch andere pessimistische Nachkriegstheoretiker stellen die eindimensionale Instrumentalität unserer technischen Kultur fest, die alles Handeln auf zweckrationale Sachlichkeit und alle Moral auf eudämonistische, versteht sich: minderwertige, amerikanische Wohlstandsethik, reduziert. Vom Kampf um historische Alternativen bleibt nur der ‚Betrieb‘: „Versicherungswesen, Verkehrswesen, Arbeitsbeschaffung, Gesundheitsverwaltung usw.“ (Gehlen: Ende der Geschichte?) Statt aber den Menschen für existentielle Entscheidungen zu entlasten, wird er in Wirklichkeit fremdgesteuert und zum Leben aus zweiter Hand verurteilt; die gefeierte freie moderne Subjektivität läuft öffentlich folgenlos ins Leere (Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter). Als Motor des gegenwärtigen Zustands gilt die schrankenlose Enthemmung des instrumentalen Verhaltens, die nach Gehlens Auffassung soziale Desintegration bewirkt, während das heutige historisch-psychologische Bewusstsein außerstande ist „ideative“ Alternativen anzubieten: Die literarisch vermittelten modernen seelischen Zustände seien nichts als „ergänzende Gegenstücke des instrumentalen Bewusstseins“ (Der Mensch, 1950). Von Demokratie als Chance einer freiheitlichen Lebensform, als Raum der Selbstbesinnung und Selbstkorrektur, hielten die Kritiker der amerikanisch geprägten Zivilisation nichts. „Das Freiheits-, Planungs- und Weltverbesserungspathos der Aufklärungszeitalter erlischt in technischen Organisationsaufgaben der Aufrechterhaltung des einmal so gewordenen Systems der Daseinssicherung, -fürsorge und -bequemlichkeit“ (Schelsky, 1955). Die seinerzeit von Carl Schmitt konstatierte Unfähigkeit der Moderne zu existentiellen Entscheidungen, ihre Reduktion der Politik auf eine Bedienung 374
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rationaler Sachgesetzlichkeit und begleitendes unverbindliches Geschwätz machtloser Kultureliten, ist die Wirklichkeit der (von der verbliebenen Hegemonialmacht auferlegten) sogenannten freiheitlichen Ordnung. Die Technik hat aufgehört, ein wertneutrales Mittelsystem zu vorgegebenen Zwecken zu sein, stellt nach dem Krieg auch der einstige Verkünder einer Revolution von rechts, der konservative Sozialphilosoph Hans Freyer fest; es ist ein ‚Können überhaupt‘, eine amorphe Macht, aus der sekundäre Handlungsziele hevorgehen. Man orientiert sich am technisch Machbaren, wobei der Mensch selbst durch social engineering zum konditionierten Träger spezifischer Leistungen absinkt. Eine an vorindustriellen Werten orientierte Gesellschaftskritik scheitert zwangsläufig an der Eigengesetzlichkeit der Industriegesellschaft (Das Dominantwerden technischer Kategorien, 1960). Die Bedrohung der Persönlichkeit durch die gegenwärtige Gesellschaft ist kein bloßes ‚Gefühlsurteil‘: Sie wird auf die notwendigen Funktionen reduziert, ja von ihrem Räderwerk „zermahlen“ (Die Persönlichkeit. In: Gedanken zur Industriegesellschaft, 1970) Man hat schon früher gegen die Dichotomie von Technik und Kultur ein gewandt, dass gesteigerte Weltbeherrschung und Weltgestaltung durchaus Erkenntniserweiterung und Elemente der Sinngebung enthält (Ernst Cassirer), also Technik kein reines Arsenal von Mitteln darstellt, sondern ‚kulturelle‘ Zwecke einschließt. Unumkehrbare sachgesetzliche Entwicklungen und rationale Zweckorganisationen, technisch vermittelte Mobilität und Kommunikation ließen neue Ziel- und Wertvorstellungen entstehen; zumindest würden unsere Wertmaßstäbe durch Erfahrungen mit Technik substanziell verändert.295 Das ist natürlich nicht falsch, aber trifft nicht den Kern der Sache, weil es sich nicht eigentlich auf Wertmaßstäbe bezieht, sondern vorwiegend auf technisch beeinflusste Bedürfnisse, Lebensgewohnheiten, künstlerische Gestaltungsmöglichkeiten etc. Die Verbindung von ökonomischer oder wissenschaftlich-technischer Praxis mit naturrechtlich verankerten Menschen- und Bürgerrechten dagegen ist bei einer gewissen Wahlverwandtschaft sozialer, wirtschaftlicher und politischer Prozesse eine äußerst labile; sie muss sich immer wieder neu bewähren und überkommene Werte konkreten Belastungsproben ausgesetzt werden. Es sind das aber durch Wissenschaft und Technik allenfalls modifizierte, nicht eigentlich durch sie geschaffene Werte. Der Wille, „sich nicht wie eine Schafherde leiten zu lassen“ (Weber) erfordert ein lebendiges Bewusstsein unverfügbarer Normen und Werte. Das vagabundierende Unbehagen über tatsächlichen oder vermeintlichen Substanzverlust einer als ‚eindimensional‘ empfundenen Rationalität ist der technisch geprägten Zivilisation inhärent, und das bezieht sich auf die reflexiven und Protestpotentiale der eigenen, ebenso wie das wiedererwachte Ressentiment außereuropäischer Kulturen. Die schon von westlicher Hybris Gedemütigten 375
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und Marginalisierten wissen im übrigen, sogar in ihren fundamentalistischen Auswüchsen, sehr wohl zwischen zu importierenden westlichen Technologien und verteufelten kulturellen Werten zu unterscheiden.
19. Das Paradigma des Krieges Denn wo kühn Kräfte sich regen, da rat’ ich offen zum Krieg. Wotan in Wagners „Walküre“ Weder die Staatsmänner und Generäle, die aus Leichtsinn oder im Bewusstsein vermeintlicher militärischer Zwänge das Drama des ersten Weltkriegs auslösten, noch die Millionen junger Männer, die im August 1914 in begeisterter Opferbereitschaft oder Fatalismus dem Mobilisierungsbefehl folgten, waren sich bewusst, dass sie dabei waren, eine zivilisatorische Katastrophe von ungeahnten Ausmaßen und unkontrollierbaren Konsequenzen zu entfesseln. Autoren phantasievoller Zukunftsromane hatten in den Jahren nach 1900 deutsche Invasionen in Großbritannien oder auch die überfallartige Vernichtung der deutschen Hochseeflotte durch die Royal Navy stattfinden lassen; H. G. Wells ließ 1908 sogar die gesamte europäische Zivilisation in einem Luftkrieg zugrundegehen. Die breite Rezeption solcher Fiktionen sagt einiges aus über die Neurosen der europäischen Nationen (die ihrerseits durch der artige Literatur, und noch stärker von einer chauvinistischen Massenpresse, angeheizt wurden). Zur selben Zeit arbeiteten die Generalstäbe akribisch genaue Aufmarschpläne für den Ernstfall aus und schlossen Politiker mehr oder weniger verpflichtende, mehr oder weniger geheime Bündnisverträge, Flottenabkommnen etc. ab. Die Sicherheit der Staaten wurde dadurch bekanntlich nicht erhöht, sondern die Entscheidungsträger aus Rücksicht auf den Bundesgenossen und die ‚Fahrpläne‘ der Militärs in Zugzwang gebracht; gerade auf diese Weise konnten bekanntlich ungewollte Kettenreaktionen ausgelöst werden. Es war, trotz des Verlusts der alten Konzertdiplomatie, bisher immer wieder gelungen, durch ad-hoc-Regelungen große Konflikte unter den Großmächten zu vermeiden, sie zu entschärfen oder zu lokalisieren. Wenn das im Juli 1914 nicht mehr gelang, heißt das aber nicht, dass es nicht möglich gewesen oder nicht mehr gewollt war. Nach A. J. P. Taylors sarkastischen Worten sind 1914 alle Beteiligten von einem bestimmten Punkt an gleichsam zu Gefangenen der Genialität ihrer Vorbereitungen geworden, doch ist das Bonmot bestenfalls die halbe Wahrheit. Ebensowenig relevant für den Kriegsausbruch sind Machenschaften der 376
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Rüstungslobby oder reaktionärer Politiker, durch das Schüren von Kriegshysterie die fällige Demokratisierung zu unterlaufen. Demokratische Mechanismen und Regierungsformen versagten bei der Konflikteingrenzung nicht weniger als die autoritären; es trog auch John A. Hobsons Hoffnung, unabhängige engagierte Intellektuelle würden über die nationalen Grenzen die Tendenz imperialistischer Kräfte im Schach halten, nationale Ressourcen für ihren privaten Gewinn zu nutzen (Imperialism, 1901). „Nie war Europa stärker, reicher, schöner, nie glaubte es inniger an eine noch bessere Zukunft“, glaubte Stefan Zweig, der den Überschuss an Kraft aus dem allgemeinen Aufschwung als einzigen Grund für den Krieg gelten lassen wollte (Die Welt von gestern, 262f). Eine Rolle spielte die vergleichsweise schlechte Kommunikation zwischen den Mächten, sogar zwischen Politikern und Militärs der einen Seite, und die sich schon daraus ergebenden gegenseitige Unterstellungen. Nicht zu überschätzen war die herrschende „Duellmentalität“, ein von der chauvinistischen Presse angeheiztes irrationales Prestigedenken in Kategorien „nationaler Ehre“ und selbstgerechter Verabsolutierung der eigenen Sache. Schon Zeitgenossen glaubten, dass die jingoistische Massenpresse einen Äquivalent des römischen Amphitheaters mit seinem Verlangen nach Grausamkeit darstelle (J. A. Hobson); dagegen erwies sich rationales Wissen als machtlos und verblasste das Bewusstsein gemeinsamer Interessen bzw. Kulturwerte der Europäer, sowie der Relativität ihrer jeweiligen Ansprüche.296 „Den ganzen Juli hindurch taumelte das bürgerliche Zeitalter am Rande des Grabes entlang.“ „Wie so oft war destruktive Kraftmeierei die Folge einer panischen Angst, Schwäche zu zeigen.“ (Gay: Kult der Gewalt, 639). Wie wir wissen, hatte sich in den friedlichen Jahrzehnten des Wachstums, der Vollbeschäftigung und des Freihandels die übernationalen Kontakte, das Netz des modernen Nachrichtenwesens, der wirtschaftlichen, finanziellen und Verkehrsverbindungen immer mehr verdichtet, waren zahlreiche internationale Abkommen – vom Seerecht und Patentschutz, der Epidemienbekämpfung bis hin zum (freiwillig anzurufenden) Haager Schiedsgerichtshof – zustande gekommen, doch war die dünne tragende Schicht des internationalen Rechts und übergreifender Interessen durch kurzschlüssiges Machtdenken und Panikreaktionen immer einsturzgefährdet; im Krisenfall fielen ins Gewicht vermeintliche Sachzwänge, das Drohpotential militärischer Überlegenheit und die Furcht, man könne dieses nicht ernst nehmen. Es fehlte nicht an Warnern vor den verheerenden Folgen moderner Kriegsführung: Der russische Staatsrat Iwan Bloch hatte schon 1899 den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenbruch als Konsequenz eines längerdauernden Kriegs prognostiziert. Konservative Politiker schreckten aus ebendiesen Gründen vor einem Krieg und seinen unabsehbaren Folgen zurück: das russische Durnowo-Memorandum von Anfang 377
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1914 warnte vor einem Krieg mit Deutschland und einer darauffolgenden Revolution. Vergeblich suchten konservative, um die Exklusivität des Offizierskorps besorgte Generäle sogar Maßnahmen zur Modernisierung und Vergrößerung der Armee zu bremsen. Da das System komplizierter gegenseitiger Abhängigkeiten durch einen Krieg zum Kollaps führen müsse, könne man sich im Grunde – zumindest keinen längeren – Krieg mehr leisten, äußerte nicht nur der spätere Friedensnobelpreisträger Norman Angell (1910). Der an der Schwelle zur großen Katastrophe ermordete Sozialist Jean Jaurès hielt die internationale Bewegung des Kapitals gar für den größten Garanten des Weltfriedens. Die Analyse sollte sich als zutreffend erweisen, wurde aber in den Wochen der Entscheidung von den verantwortlichen Politikern verdrängt und von der nationalistischen Erwartung einfacher, ‚gordischer‘ Antworten ignoriert. Die in der Julikrise 1914 aus Nervosität und dem verzweifelten Mut von Hasardeuren auftrumpfenden Staatsmänner haben sich im übrigen kaum einen allgemeinen, alle menschlichen und materiellen Ressourcen aufzehrenden industriellen Krieg vorstellen, gar ihn planen können. Gewiss hat der deutsche Generalstabschef Moltke d. J., der aus Zukunftspessimismus auf einen gerade noch führbaren Krieg drängte, seit 1905 wiederholt auch den worst case einer langwierigen Auseinandersetzung in Aussicht gestellt – aber für ihn keine Vorbereitungen getroffen, so dass im Herbst 1914 die deutschen Vorräte vielfach aufgebraucht waren. Der von Bertrand Russell als Kriegstreiber attackierte Außenminister Edward Grey suchte den Kriegsausbruch nachträglich als nicht abzuwendende quasiNaturkatastrophe zu mythisieren; dabei war Großbritannien auf den Ernstfall am wenigsten vorbereitet.297 Die Kriegsursachen sind nicht unser Thema; vermutlich bestand der eigentliche Zweck des großen Gemetzels seitens der Entente darin, eine drohende deutsche Hegemonialstellung auf dem Kontinent zu verhindern; andere Historiker weisen eher auf die wachsende Stärke und den Expansionsdrang Russlands hin, die Interessengegensätze zwischen Großbritannien, Frankreich und Russland seien im Prinzip größer gewesen als zumindest die britisch-deutschen.298 Der früh geäußerte Verdacht des Foreign Office (Crowe-Memorandum von 1907) auf deutsche „napoleonische Gelüste“ war nicht ganz abwegig, aber hatte viel von einer self-fulfilling prophecy: Die exzessiven deutschen Kriegsziele, nicht anders als die der Entente, wurden jedenfalls erst durch die Kapitulation rationaler Politik vor dem allgemeinen Appell an die Waffen und der Entfesselung massenpsychologischer Aggressionen akut: Sie waren nicht der Kriegsgrund, sondern der Krieg ihr Vater. Die westliche Kriegsideologie griff im Verlauf des Konflikts das – aus interner demokratischer Polemik stammende – Feindbild eines junkerlichen Militarismus und parvenuhaft aggressiven Pangermanismus auf, der janusköpfig 378
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sowohl nach rückwärts, wie kraftstrotzend-selbstbewusst nach vorwärts blickte. Das Bild, das etwa T. G. Masaryk in seinem Neuen Europa (1918) von Deutschland entwarf, war wieder nicht ganz falsch, obwohl es der Suggestion deutscher Unzeitgemäßheit (und der entsprechenden progressistischen Legitimation seiner Bekämpfung durch die Entente) diente. Deutschland vertrat anderseits auch nicht einfach den „Ansturm der Moderne“ gegen erstarrte Konventionen und Normen des 19. Jahrhunderts, wie manche deutsche Propagandaschriften behaupteten: „Die Erfahrung der Deutschen liegt der modernen Erfahrung schlechthin zugrunde“, glaubt noch Modris Eksteins aufgrund eines pessimistischen Bildes der Moderne als verselbständigter und sinnentleerter Dynamik. Es gab in Deutschland vor 1914 hinter imperialen Fassaden und einem reformresistenten politischen System zweifellos viel Modernes, einschließlich des Fetischs Effizienz und Organisation, eine gewisse parvenuhafte Missachtung bestehender Formen, manchmal auch die Neigung, die Berufung (anderer) auf bestehendes Recht als irrelevant abzutun; die Neutralitätsgarantie für Belgien war jedentalls kein „Fetzen Papier“ – wie Bethmann Hollweg gegenüber dem britischen Botschafter zur Geltung bringen wollte (Frankreich hatte analoge offensive Pläne seiner Generäle aus Rücksicht auf den Partner auf der anderen Seite des Kanals wohlweislich fallen gelassen). In Großbritannien hatte man die wirtschaftlichen Erfolge des deutschen Nachzüglers oft abwertend mit dessen Skrupellosigkeit erklärt und sogar die ‚unbritische‘ allgemeinen Wehrpflicht (bis 1915) als „Germanisierung“ zurückgewiesen; das deutsche Vorgehen in B elgien oder der Ersteinsatz von Chlorgas an der Front mochte derartige Befürchtungen vor teutonischer ‚Modernität‘ bestätigen. Deutschland überhöhe materielle Macht, betrachte den Krieg als Instrument des Fortschritts,‘ moralischer ‚Revitalisierung‘ ja ‚nationaler Hygiene, unterstellten manche dem unheimlichen Gegner; für die Deutschen sei Aggression ein Ausdruck von Kraft, und „Kraft das Zeichen politischer Tugend“ (nach Wallace, War and the Image of Germany, 1988). Deutsches Verhalten und deutsche Selbstdeutungen im Weltkrieg waren wenig geeignet, derartige Klischees zu entschärfen oder auch nur die ihnen eigene Spannung zwischen dem Ultramodernen und dem „Wiederherstellenwollen des Uralten“ (Th. Fontane) auszugleichen. Hohe wissenschaftliche und wirtschaftliche Produktivität, die der Angewiesenheit des Landes auf Leistung und Effizienz entsprach, in Verbindung mit einem „ungleichzeitigen“ Identitätsbewusstsein, schlug sich nieder in einem übersteigerten Selbstwertgefühl gegenüber ‚verkommenen Krämernationen‘ und deren Verabsolutierung individueller Interessen; der erfolgreiche Aufstieg ‚allen Feinden und Neidern zum Trotz‘, wurde begleitet von einem nach außen schwer zu vermittelnden, hochemotiven 379
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Sendungsbewusstsein. Über die politische Relevanz dieser deutschen Ideologie lässt sich trefflich spekulieren, und es trifft wohl zu, dass die idealistische Aufbereitung des deutschen Beamtenstaats zu einer dem Parlamentarismus vermeintlich überlegenen Synthese von Ordnung und Freiheit auch als Schutzschild für die Macht der alten Eliten funktioniert und lange dazu beigetragen hat, innenpolitische Reformen im Krieg abzublocken. Auch bei den übrigen kriegführenden Nationen blieb der Krieg der Illusionen nicht auf die Verheerungen einer jingonationalistischen Massenpresse mit ihren Greuelnachrichten und selbstgerechten Schwarz-weiß-Malerei beschränkt. Zumindest bei den städtischen Mittelschichten brach bei Kriegsbeginn ein geradezu berauschendes Gefühl der Einheit der Nation mit den symbolischen Höhepunkten der eigenen Geschichte hervor, die Illusion einer Befreiung und Reinigung durch die äußere Gefahr; die sozialen Gegensätze und der politische Streit schienen überbrückt und Philosophen delirierten vom Durchbruch zum eigentlichen Leben gegenüber den Banalitäten einer dekadenten, materialistischen Friedensgesellschaft.299 In kurzer Zeit waren die Sinnstiftungsversuche kriegsbegeisterter Intellektuellen der schweren Belastungsprobe durch Hunderttausende Tote und Verstümmelte ausgesetzt, die jeden „Sinn und Bedeutung wie eine riesige Artilleriegranate explodieren ließen“ (M. Eksteins). Den Verantwortlichen wäre jedoch, trotz der Verkehrung aller Erwartungen, gerade infolge der fortschreitenden Ernüchterung, ein Verständigungsfrieden als Bankrotterklärung, ja politischer Selbstmord vorgekommen, der durch maximale Kriegsziele möglichst zu verhindern war. Die Völker waren von der Massenhysterie der Augusttage, mit der eine erregte Öffentlichkeit die Regierungen selbst unter Druck gesetzt hatte, schnell auf eine reduzierte Faktizität des elementaren Überlebens gefallen; ein Rückzug aus der Sackgasse stand den Kriegsherren aber unter dem Unstern von August Bebels Prophezeiung, auf den „Generalmarsch“ werde der „große Kladderadatsch“ folgen. Die Bereitschaft, das sinnlose Töten und Leiden weiter zu ertragen, hat die Psychoanalyse jenseits aller Kalkulationen als Folge eines entfesselten Todestriebs zu erklären versucht, als vermeintliche Sucht, die sich an der Vernichtung von Leben und der Erfahrung von Grenzsituationen zu berauschen; evident war allenfalls eine Neigung zu Realitätsverlust und permanenten Fehleinschätzungen. Statt der Illusion vom Sieg durch schnelle Mobilisierung setzten die Falkenhayn und Haig jetzt auf die Karte der Abnutzungsstrategie, die 1916 mit der Inkaufnahme ungeahnter Verluste gipfelte: verzweifelt-zynischen Versuchen, wie der Verdun-, der Somme- und Brussilow-Offensive, der Hungerblockade, dem verschärften U-Boot-Krieg und der inneren Mobilisierung aller Reserven – einer immer weitergehenden Radikalisierung des Einsatzes, von der man sich das Aufbrechen der festgefahrenen Fronten versprach.300 380
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Die Drehungen einer blinden, menschenmordenden Maschinerie hatten ein hasserfülltes Ineinander-Verkralltsein ohne absehbares Ende geschaffen, mit der fragwürdigen, weil auf die eigene Seite beschränkten Spielerlogik, die Millioneneinsätze an Menschen und Material dürften doch nicht vergeblich gewesen sein. Hatte sich einst die Qualität militärischer Führung in der Fähigkeit gezeigt, große Verluste zu vermeiden, so hatte sich dieser Grundsatz im Weltkrieg in sein Gegenteil verkehrt (Metz). Die Rhetorik der Entente verband die Bekämpfung der „feudal-militaristischen“ Mittelmächte auf eine Weise mit politischem Fortschritt, und nach dem Sturz des Zarismus und dem Kriegseintritt der USA gewann diese Argumentation eine gewisse Plausibilität; anderseits war die Ideologisierung ein Hindernis auf dem Wege eines Verständigungsfriedens, der 1917 möglich gewesen wäre. Der Krieg hatte in mancher Hinsicht egalisierende Auswirkungen; er hat im Endeffekt auch einige alte Dynastien gestürzt, vier halb- oder ganz autokratische Reiche zerschlagen, eine Anzahl unzeitgemäßer Privilegien beseitigt und soziale Errungenschaften, von der Art des Achtstundentags und des Frauenwahlrechts, eingeführt, nicht zuletzt diese oder jene nationale Ambition befriedigt; doch hat er die Welt für Demokratie, Frieden und Wohlstand keineswegs sicher gemacht. „Selbst wenn das Kämpfen aufhört“, schrieb D. H. Lawrence, „wird das Übel schlimmer sein, weil der Hass in den Herzen der Soldaten aufgestaut ist.“ Der Krieg hatte nicht nur die Soldaten an die Droge Gewalt gewöhnt und den weitgehend gemeinsamen Wertekanon der Europäer zerstört; wie sollte er „alle künftigen Kriege unmöglich machen“? Er wurde von einem Frieden beendet, der vielleicht nicht „allen künftigen Frieden verhindert“ hat, aber doch außerstande war, angemessene Lehren aus der Katastrophe zu ziehen. Der durch den Massenmord potenzierte gegenseitige Hass und die Enttäuschungen aus dem Missverhältnis zwischen Erwartung und Ergebnis, die zerrütteten Finanzen, die Entwertung des Geldes, aber auch des Wortes, hatten das neue europäische System mit Ressentiments und verstärktem Misstrauen belastet; „nicht nur die Kronen lagen auf der Straße“, sondern auch die moralischen Wertungen (Münkler). Die weniger von Überheblichkeit, wie Erschöpfung geprägte Politik der Sieger war vom Gedanken der Bestrafung und langfristigen Ausschaltung des alten und vermutlich auch künftigen Gegners als Friedensgarantie bestimmt. Im Krieg war wie gesagt eine Atmosphäre eingeschränkter Wahrnehmung entstanden, und das eingeübte Nicht-Denken und Nicht-Fühlen der Soldaten hatte sich durch Traumatisierung auch auf die übrige Bevölkerung übertragen: Erfahrungen, die die traditionellen Normen, die bürgerlichen eingeschlossen, Lügen straften, ja ins Gegenteil verkehrten. Ängste und ein „Wirsie-Denken“ in kurzschlüssigen militärischen Kategorien verfälschten den Sinn 381
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der demokratischen Strukturen ebenso wie der großen Völkerbundvision zu einem halbherzigen, von den Besiegten als heuchlerisch empfundenen Mechanismus zur Erhaltung des erkämpften Status quo (und der Isolierung vor dem russischen Bazillus). Die aus dem gleichen Erlebnis einer unsinnigen Schlächterei und der Widerlegung aller bisherigen Werte, in einer Welt geistiger Verwirrung und materieller Verelendung entstandene revolutionäre Diagnose der radikalen Linken beruhte auf einer analogen Reduktion, nämlich der Gleichung von imperialistischen Kriegen und der Herrschaft kapitalistischer Monopole. Auch ihre Vision lieferte, wie sich bald zeigen sollte, keine tragfähige Basis für Demokratie und Fortschritt. Die Erschütterungen, die wirtschaftlichen Verluste und der ungeheuere Blutzoll, den die Völker für die niemanden befriedigenden Ergebnisse zu entrichten hatten, waren so traumatisch, dass den meisten Europäern die Fähigkeit zu weitsichtigem Denken, nicht zuletzt der Glaube des 19. Jahrhunderts an einen allgemeinen sinnvollen Fortschritt, abhanden kam. Die Opfer standen in keinem irgendwie zu rechtfertigenden Verhältnis zu den Resultaten,301 die heroische Rhetorik der Anfänge hatte sich schon angesichts der maschinellen Menschenvernichtung der Materialschlachten verflüchtigt: technische Kenntnisse und wirtschaftliche Kapazitäten waren meist wichtiger als persönliche Tapferkeit. Eine jedem Nutzeffekt hohnsprechende Technik hatte ihr absurdes Vernichtungspotential vorgeführt und das Gesicht des Krieges auch in dem Sinn verwandelt, dass „alle noblen und persönlichen Gefühle weichen müssen, wo die Maschine die Herrschaft gewinnt“ (Ernst Jünger). Vor der egalitären Wirkung des Maschinengewehrs, den immer destruktiveren Fernwaffen sowie dem kriegsentscheidenden Wirtschaftspotential hatten die alten Vorstellungen von Heldentum und persönlichem Einsatz fürs Vaterland, gar die College-Vorstellung vom Krieg als einer Art Gruppensport, jede Evidenz verloren. Der Krieg ist immer auch das, wofür die Menschen ihn halten; aber das anonyme Massensterben entzog sich allen Bemühungen (auch Max Webers!), dem Tod individuelle Sinnhaftigkeit abzugewinnen; alle Ideale prallten zunehmend von der elementaren Notwendigkeit ab, ein indiviuell nicht zu beeinflussendes widriges Schicksal zu ertragen. Nicht einmal die Generäle, „in den eisernen Fesseln einer Technik gefangen“, zu der die drahtlose Befehlsübertragung noch nicht gehörte, verfügten über die Kontrollmöglichkeiten, um die Vernichtungsmaschinerie zweckrational zu steuern und eventuell in Grenzen zu halten (J. Keegan). Zerstört war über die Beziehungen zu den dämonisierten „Feindnationen“ hinaus das Vertrauen in die meisten sinnvermittelnden Autoritäten, in übergreifende Wertesysteme und die durch die Heiligung des Massenmords kompromit382
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tierten traditionellen Institutionen. Auch die Geschichte hatte sich nicht nur als patriotische Einpeitscherin, sondern auch als Vermittlerin eines teleologisch angelegten Freiheitsprozesses unglaubwürdig gemacht; der radikale Fortschrittsskeptizismus griff nun auch auf die Siegernationen über. Der Verdacht des Konstruiertseins der kollektiven Erinnerung – von der Whig-Interpretation bis zum Zivilisationspathos – ließ gerade hier Ansätze einer Dekonstruktion des bisherigen Geschichtsbilds entstehen (Butterfield, Halbwachs, die Annales). Widerlegt war insbesondere der verbreitete Glaube an die Zähmung der „primitiven“ Instinkte im Menschen (Philip Gibbs, nach Fussell). Karl Kraus notierte noch im Krieg, dass „die Menschheit…ihre Phantasie an die Erfindungen verausgabt“ habe, so dass eine Kultur, deren „Insignien auf Chemikalien angewiesen“ sind, unrettbar dem Gifttod geweiht sei. Und Paul Valéry resümierte das Geschehen der schrecklichen Epoche als „abscheuliche Albernheiten, wahnhafte Verirrung und brutale Verschleuderung von Energien durch grausame Kinder, deren Spielzeug furchtbare Waffen sind“.302 Dennoch ist die frivole Frage erlaubt, ob der Weltkrieg, allen seinen Opfern und Absurditäten zum Trotz, gewissermaßen hinter dem Rücken der Akteure, die am Rad der Geschichte drehten, nicht doch als Schub bei der „Erziehung des Menschengeschlechts“ verstanden werden kann. Der Krieg sei eine Revolution von außen, ein „Schicksalsschlag, um das Volk aus politischer Indolenz, Rückständigkeit und Abhängigkeit emporzureißen“, wollte Walther Rathenau im Oktober 1918 glauben. Waren nicht der Niedergang der alten Oberschichten, die Kompromittierung des nationalen Mächtegerangels um überseeische Kolonialgebiete, die Ersetzung des bürgerlichen Individualismus durch die nationale Solidargemeinschaft des „Sozialstaats“, die Integration der zuvor nur negativ integrierten, ja ghettoisierten Arbeiterparteien, zwar teuer erkaufte, aber bewahrenswerte Errungenschaften? Ist nicht im Zuge des Weltkriegs die Demokra tisierung der europäischen Gesellschaften, die Kodifizierung des Frauenwahlrechts, die weitere „Amerikanisierung“ und Modernisierung großer Teile der Welt vorangekommen? Hat die kriegerische Mobilisierung aller Kräfte nicht, wie schon oft zuvor in der Geschichte, revolutionären und vorandrängenden Tendenzen zum Durchbruch verholfen?303 Die progressistische, evolutionäre Deutung der großen Krise ist natürlich nicht völlig abwegig, führt aber in die Irre. Wenn die Richtung der „Entwicklung“ in mancher Hinsicht offen ist, dann lässt sich die Folgerung nicht abweisen, dass der Krieg, nicht nur durch die Erfindung von Ersatzstoffen und neuen effizienten Waffen, oder durch dirigistische Eingriffe in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, z. T. fragwürdige Varianten der Modernisierung auf die Tagesordnung gesetzt hat, die vor der großen Lektion des Weltgeistes aus „endogener Entwicklung“ nicht zu erwarten gewesen waren (H. Lasswell). 383
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Wenn man zu Beginn des Kriegs begeistert die union sacrée feierte, oder „keine Parteien, sondern nur noch Deutsche“ kennen wollte, dann schien vielen für den Augenblick das jakobinische Ideal des einen und gleichen Volks in Waffen nahegerückt; war es aber ein dauerhaft sinnvolles Fortschrittsziel? Die Privategoismen, der Materialismus, die Klassenkämpfe der Vorkriegsgesellschaft waren vor dem enthusiastischen Wunschdenken der ersten Kriegswochen wie weggeblasen, hatten sich in der Gleichheit der Uniform, der freiwilligen Pflichterfüllung, der Lebensmittelkarten und Kriegsanleihen, der gemeinsamen Hoffnungen (und wahllos zuschlagenden Todesmeldungen) aufgelöst. Die Volksgemeinschaft war, nicht nur in nationalreligiösen Predigten und patriotischen Leitartikeln, ein Stück Wirklichkeit geworden, die auf eine paradoxe Weise sogar den Vorstellungen sozialistischer Theoretiker entgegenkam. Aber ließ sich das Abdanken des Internationalismus und Pazifismus, die Verrohung und Abstumpfung nicht nur der Frontsoldaten, die Kapitulation der Politik vor der Logik der Militärs, die alleinige Ausrichtung der Industrie und der unmäßig angeschwollenen zweckrationalen Bürokratien auf die Vernichtung von Leben ignorieren? War nicht die Opferbereitschaft der patriotisch aufgewallten Massen ein vorübergehender Rückfall in archaische Festorgien, erkauft durch den Verzicht auf verantwortliches rationales Handeln? „Krieg lässt sich mit Vernunft und gerechtem Gefühl nicht kombinieren“ vermerkte Stefan Zweig angesichts der allgemeinen Verdummung durch die allgemeine Hysterie des Hasses.304 Walther Rathenau (1922 von Fememördern erschossen), Großindustrieller und namhafter Essayist, sah schon vor dem Krieg, bei aller schöngeistigen Zeitkritik, keine wirkliche Alternative zur wissenschaftlich-technischen Moderne, einer von instrumentaler Vernunft bestimmten gleichförmigen Geistesdisposition und zweckhaften Vergesellschaftung mit ständig zunehmender Mechanisierung, Spezialisierung und Konkurrenz. Doch beschwor der von Selbsthass Zerfressene 1913 gerade aus der Perfektion des mechanischen Geistes einen „Aufstand der Seele“: die Entstehung eines neuen Menschentypus, der sich von der Alleinherrschaft des kalkulierenden Verstands abwendet. Mechanisierung, heißt es auch in seinem Kriegsbuch Von kommenden Dingen, ist Schicksal, ja bildet im Bereich des materiellen Schaffens ein geradezu berauschendes Einheitswerk der zivilisationsfähigen Menschheit. Zwar unumgänglich als Instrument, die „wuchernden“ Massen zu ernähren und zu erhalten, wirkt Mechanisierung tödlich, wenn sie sich auch des inneren Lebens bemächtigt, das Urteil auf den „schäbigen Vergleich nach Maß und Zahl“ reduziert und das sittliche Gefühl durch verabsolutiertes Erfolgsdenken betäubt; wenn sie „Atavismen des Neides, des Hasses, der Angst und der Begierde“ weckt.305 Doch hält Rathenau wohl das System einer „sittlichen Durchgeistigung“ für fähig – wenngleich nicht mit Mitteln des dogmatischen Sozialismus, der seit 384
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Marx dem Irrweg verfiel, Werte und Ziele auf rationale Weise bestimmen zu wollen; der mit seinem entgötterten Materialismus und seinen Enteignungsdrohungen nur erreicht hat, den liberalen Geist zu zertrümmern, das Freiheitsgefühl zu entwerten und die konservativen Kräfte zu festigen. Obwohl Rathenau die „erbliche Knechtung des untersten Standes“ entschieden verurteilt, will er den Sozialismus des Neides und des bloßen Interessententums mit seinem Buch „ins Herz treffen“. Wenn es nur um die Beseitigung der bestehenden Not ginge, so wäre das Ziel mit den Rüstungskosten eines Jahres einfach zu erreichen; aber der proletarische Zustand ist für ihn kein Besitzproblem, und es geht nicht um Nützlichkeit oder die Verwirklichung mechanischer Gleichheit. Trotzdem ist der Großindustrielle bereit, „ohne Scheu eine Wegstrecke neben der Bahn des Sozialismus zu wandern“. Außer der Frage, ob auch die Sozialisten mit dem kapitalismuskritischen AEG-Chef zu „wandern“ gedachten, waren Zweifel angebracht, ob der Krieg tatsächlich den alten Materialismus obsolet machen, die Wiedergeburt ethischer und sozialer Werte, gar einen „zweckfreien Werkwillen“ zutage bringen, ob die Vergeistigung menschlicher Tätigkeit, und auch in einem konstruktiven Sinn die Verwandlung der Technik zum „nützlichen Diener“ auf die Tagesordnung setzen würde. Staatssekretär Helfferich bemerkte skeptisch gegenüber staatlichen Direktiven, eine Armee ließe sich kommandieren, eine Volkswirtschaft aber nicht; nichtsdestoweniger schien zumindest die Verhinderung von Luxusverbrauch und Spekulation, die Ablösung eines ungezügelten individuellen Gewinnstrebens etc. in den Bereich des Möglichen gerückt. Trotz aller Höchstpreis verordnungen, Kriegsgewinnsteuern und halbherziger ‚gemeinwirtschaftlicher‘ Ansätze erodierte überall das Rechtsbewusstsein und geriet die Leidensfähigkeit der Menschen an ihre Grenzen. Nach Kriegsausbruch übernahm Rathenau die Leitung der Rohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium, wobei ihm die mangelhaften wirtschaftlichen Vorbereitungen auf den Krieg erst voll bewusst wurden. Der ehrgeizige Deuter des Zeitgeistes konnte sich aber nicht mit der bloßen Lösung prekärer Rohstofffragen begnügen. Es ging ihm um nichts weniger als eine säkulare Wende: die Verwirklichung von negativ klarsichtig erfassten, aber positiv meist nur in verschroben-idealistischer Rhetorik beschworener „kommenden Dinge“. Das war die Ethisierung der Wirtschaft durch ihre Vergemeinschaftung: die Regelung des Verbrauchs, die Erfassung der Arbeitskräfte und die eingeschränkte Verfügung über das Eigentum – in seinen Augen nur erste Schritte zur Verwandlung der Eigentümer in Funktionsträger der Gemeinschaft. „Jeder Mann wird gebraucht, kein Werkzeug darf feiern“. Die Beibehaltung „staatsozialistischer“ Grundsätze, einschließlich des Rückzugs auf die Binnenwirtschaft auch nach Friedensschluss, war Rathenau, zum Unterschied von seinen über 385
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soziale Experimente verärgerten Kollegen, ein Gebot nationaler Selbsterhaltung und der Menschenwürde (Berglar).306 Rathenaus hochgerühmtes gemeinwirtschaftliches Projekt, das ab 1916 in Form des sogenannten Hindenburg-Programms weitergeführt wurde, war genau besehen kein ‚Kriegssozialismus‘, sondern ein nicht ganz durchdachtes Programm zur Steigerung der Waffenproduktion. Man wollte keinen vollen staatlichen Dirigismus einführen, sondern eine halb-freiwillige korporative Selbstorganisation der Produzenten unter Einbeziehung der Gewerkschaften; die Kriegsnotgemeinschaft setzte aber weder den Markt noch die Konkurrenz ganz außer Kraft, ja tat sich schwer mit der Besteuerung großer Vermögen. Man musste den Krieg finanzieren und tat das, weil Deutschland, zum Unterschied von Großbritannien, keine Anleihen im Ausland erhielt, durch innere Kreditschöpfung, Kriegsanleihen bei der eigenen Bevölkerung etc. – in der Hoffnung, den Schuldenberg nach dem Krieg auf die Besiegten abwälzen zu können: einer der Gründe, warum sich Deutschland lange auf keinen Verständigungsfrieden einlassen wollte. Es musste, trotz mangelnder Arbeitskräfte, Rohstoffe und sinkender Erträge der Landwirtschaft, trotz des Verlusts ausländischer Märkte, die Rüstungsproduktion, den Gang der übrigen Wirtschaft und die Versorgung der Bevölkerung gewährleisten. Das geschah, mehr schlecht als recht, durch Rohstoff- und Arbeitskräftebewirtschaftung, Syndizierung ganzer Industriezweige, Lebensmittelkarten (seit 1916) und Preiskontrollen. Die Folgen waren kontraproduktiv und trugen zur Spaltung der Gesellschaft bei. Die reicheren Ententemächte verfügten über größere Rohstoff-, Lebensmittel- und Finanzquellen: Großbritannien ging nach verausgabten 45 Mrd. $ noch als Gläubiger aus dem Krieg hervor. Trotz seines Widerwillens gegen staatliche Gängelung, tastete es sich allmählich, improvisierend an koordinierende Maßnahmen heran (Munitionsministerium, staatliche Kohlenkontrollen, ab 1918 auch Rationierung der Grundnahrungsmittel); Winston Churchills sarkastischer Kommentar zur scheinbar absoluten Planlosigkeit im Lande drückte die leise Hoffnung aus, dass das irdische Chaos nur durch höhere Fügung kompensiert werden könne. Auch in Deutschland, wo nicht nur der Reeder Ballin, sondern auch das Kriegsministerium vor der gefährlichen Absicht warnte, die Volkswirtschaft nach Methoden des Kasernenhofs zu betreiben, war der Widerstand gegen voluntaristische Eingriffe bürokratischer Dilettanten erheblich; vor einer tatsächlichen Militarisierung der Betriebe schreckte die OHL letztlich zurück. Das Chaos der deutschen Kriegswirtschaft war trotz Militärdiktatur kaum kleiner als bei den Ententemächten, doch hatte die Propaganda mit idealistischer Überhöhung Erwartungen geweckt, die sich nicht erfüllen ließen. Die Gewerkschaften wurden als Partner der Arbeitgeber sozial aufgewertet, aber in 386
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England und Frankreich traten die Sozialisten sogar den Kriegskabinetten bei. Die hochorganisierten Interessengruppen insbesondere der Großindustrie, weit davon entfernt, das Profitdenken hinter sich zu lassen, erwiesen sich da wie dort in der Regel als die Stärkeren. Was besonders schwer wog, war, dass es den deutschen Kontrollinstanzen nicht gelang, den Preis der lebenswichtigen Güter niedrig zu halten, während die Schwarzmarktpreise für die Masse der Bevölkerung kaum zu bezahlen waren. Damit wurde die Fassade der ‚Volksgemeinschaft‘ brüchig; in der zweiten Kriegshälfte nahmen deshalb Protestaktionen und Hungerkrawalle zu (dazu und zum folgenden: G. Feldman, Armee, dt.1985; W. Mommsen, Urkatastrophe, 2002). Der ‚Organisierte Kapitalismus‘ innerhalb des ins Grenzenlose getriebenen Militärstaats (G. Schulz) hat die sozialen Konfliktlinien somit nicht zum Verschwinden gebracht, sondern nur verschoben: während die Rüstungsarbeiter privilegiert und vom Kriegsdienst freigestellt wurden, litten die Arbeiter der „Friedensindustrien“ und die kleinen Gewerbe Not; Stadt und Land standen einander in Hass gegenüber. Längerfristig spielte auch eine Rolle, dass die Mittelschichten verarmten und sich vom Staat alleingelassen fühlten, ja in besonderem Maß von behördlichen Schikanen betroffen waren; oft traf sie, vor allem Kleinhandel und Vermieter, der Volkszorn als Blitzableiter von Not und Kriegsverdrossenheit. Die von ihnen begeistert gezeichneten Kriegsanleihen waren nichts mehr wert. Es waren wohl in erster Linie diese durch Krieg und Inflation pauperisierten, von sozialem Abstieg bedrohten, durch die deutsche Niederlage in ihren illusorischen Erwartungen enttäuschten Mittelschichten, und nicht die Kriegs teilnehmer schlechthin, die nachträglich dazu neigten, sich angesichts einer auseinanderbrechenden, traumatisierten Gesellschaft dem Nostalgiebild einer verklärten autoritären Kriegsgemeinschaft hinzugeben. Während die Mehrheit unterbürgerlicher und bäuerlicher Soldaten sich im Grunde gegen Mythologisierungen des Krieges resistent erwies, wappnete sich eine nachträglich tonangebende Minderheit zorniger junger Männer vor der erfahrenen Wirklichkeit, wie Franz von Unruh 1932 besorgt feststellte: nichts war für sie schimpflicher als der „Boden der Tatsachen“; Pazifismus denunzierten sie als Feigheitskult und Degeneration.307 Die Erinnerung an Chaos und Irrationalität des Großen Krieges wird schon gebannt durch strenge Geometrie der Soldatenfriedhöfe; der Schrecken des technisierten Tötens sitzt aber tiefer, und er lässt den ikarischen Höhenflug des Geistes abstürzen in Mystik von Blut und Boden. Wieder zeigt sich das Gedächtnis als manipulierbar durch Bilder und Mythen, durch Riten der Gruppenzugehörigkeit und wehrt Versuche einer kritischen Hinterfragung als Verrat an der kollektiven Identität ab. 387
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Die geschönte Erinnerung kleinbürgerlicher Idealisten aus der Provinz, die ihre Unsicherheit hinter auftrumpfendem Auftreten verbergen (Breuer), krönt das Klischee von der Schützengrabenkameradschaft „stahlharter“ Frontsol daten: Ihre Opfer und Leiden hätten sich durch Selbstsucht und Verrat als vergeblich erwiesen. Der Kult des Frontsoldaten soll alle denunzieren, die den vermeintlich sicheren deutschen Triumph verhindert und sich anschließend in den Niederungen der Kapitulation häuslich eingerichtet hatten.308 Weder die anvisierte totale Mobilmachung noch die Volksgemeinschaft waren konsequent verwirklicht worden: nun wollten deklassierte, zwanghaft auf Krieg und irreale (untereinander inkompatible) Kriegsziele fixierte, verbitterte Mittelschichtradikale Voraussetzungen schaffen für eine erfolgreichere Reprise der Tragödie. Wenn das Jahr 1914 eine Sackgasse der europäischen Geschichte markiert, so signalisiert die sich entfaltende militante Bewegung die obsessive Weigerung, den grandiosen Irrtum zur Kenntnis zu nehmen: Nicht die Richtung war falsch, nur die Methoden nicht radikal genug. *** Von der Erfahrung des Weltkriegs besessen, macht Ernst Jünger († 1998) sein traumatisches Erlebnis zum exemplarischen Bericht über den Tod des Bürgers und seiner zivilisatorischen Prägungen. Der Krieg wird dem 1914 erst neunzehnjährigen Apothekersohn zunächst zum Abenteuer, das ein authentisches Leben jenseits der „künstlichen“ Normen bürgerlicher Sekurität verspricht, doch stellt das maschinelle Morden der Somme-Schlacht seine romantische Erwartung schnell in Frage. Jünger will dennoch an eine Ordnung hinter dem scheinbar sinnlosen Gemetzel der Materialschlachten glauben – wenn es auch keine auf rationale Ziele ausgerichtete ist und schon gar keine durch humanitären Fortschritt oder Nützlichkeitsdenken bestimmte. Es interessieren ihn weder Kriegsziele noch militärische Strategien: nur das bloße Phänomen des soldatischen Überlebenskampfes in extremen Bedingungen. Nicht wofür gekämpft wurde, sondern wie ist wesentlich, und so entstehen Bilder von Orgien der Destruktivität, entfesselter Urtriebe, die nicht durch rationale Zwecke, sondern durch Vernichtung und Vergeudung bestimmt werden (Der Kampf als inneres Erlebnis, 1922). Die Destruktionserfahrung, die alle ethischen, aber auch ökonomischen Wertvorstellungen obsolet werden lässt und die gotische Kathedrale zum Richtpunkt im Gefechtsgelände degradiert, hat aber durchaus aktuelle Bedeutung. Ein Recht des Schwächeren gibt es nicht, konstatiert Jünger im „Arminius“, einer radikalen Stahlhelm-Zeitschrift; die Grenzen des Rechts hängen allein von der eigenen Fähigkeit ab, diese zu behaupten und 388
19. Das Paradigma des Krieges
zu erweitern. „Der Krieg ist nicht das Ende, sondern der Auftakt der Gewalt“, nämlich die große Schule des neuen Menschen, der Weltkrieg eine „Schule heroischer Männlichkeit“ (Theweleit).309 Die Ästhetik eines darwinistischen Dschungels ist sowenig Selbstzweck wie bei Marinettis Parallelisierung von Propellergeräuschen und dem Applaus einer begeisterten Menge. Sie wird beschworen, um die von „weibischen“ Instinkten bestimmte Demokratie von Weimar dem Gespött preiszugeben: den zutiefst illegitimen (vermeintlichen) Sieg des Bürgers über den blamierten Soldaten. Die Republik von 1918 gilt als verspätete Verwirklichung „angesäuerter Ideale unserer Großväter“, die weder dem stilisierten Kriegsmythos noch dem modernen Zeitgeist gerecht wird, und von einem „neuen Menschenschlag“, einer im Krieg gehärteten Elite, hinweggefegt werden soll. Das Bild des heldischen Frontkämpfers war eine literarische Pose, die dem tatsächlichen Erlebnis der Mehrheit der Kriegsteilnehmer widersprach: aber sie vermochte sich infolge einer krisenhaften Entwicklung, des Bedeutungsverlusts und Selbstzweifels der bildungsbürgerlichen Mittelschichten, nicht zuletzt einer bloß defensiven politischen Kultur der Demokraten, im Verlauf der zwanziger Jahre durchzusetzen.310 Der gleichgesinnte Bruder Friedrich G. Jünger stellt, ebenfalls ohne jedes Bedauern den Zusammenbruch des Individualismus und den Bankrott der Humanität fest; die Reinheit „heroischen“ Denkens zeige sich in der Vermeidung törichter und peinlicher Schuldzuweisungen, überhaupt des Versuchs, den Krieg als sittliches Phänomen begreifen zu wollen (Krieg und Krieger, 1930). Das war alles andere als ein Ausdruck des Entsetzens über den Verlust menschlicher Maßstäbe, sondern eine geradezu triumphierende Feststellung. Moralisierende Kritik oder rationale Überlegungen prallen von einer gern als heroischer Realismus bezeichneten Haltung ab, die den Krieg als „Ding an sich“ akzeptiert, als naturhaftes Ereignis eigenen Rechts, bestimmt von vermeintlich unhinterfragbaren Macht- und Mordgelüsten, Männerritualen, dem Spiel um Leben und Tod. Die vermeintliche Schönheit der Todesmaschinerie ist über alle Zwecke und Rechtfertigungen erhaben; deshalb sind „Maschine und Amerikanismus… zwei verschiedene Dinge“ (Jünger 1926) und steht die Absage an die Gewalt unter dem Verdacht biologischen Niedergangs. Noch Max Webers Ridikülisierung der Suche nach der Schuld am Kriege durch „schwache, dem Antlitz der Wirklichkeit nicht gewachsene Naturen“ von der Art Eisners oder Kautskys (1919), stellt eine Parallele dar zu Jüngers „schrecklichem Hohnlachen der Natur über ihre Unterstellung unter die Moral“ (Der Arbeiter, 1932). Die Krampfhaftigkeit des dezisionistischen Sinngebungsversuchs aus der Vernichtungserfahrung heraus ist kaum zu übersehen: „Lieber wollen wir uns der Sicherheit unserer Väter, der verstandesmäßigen Sicherheit begeben… Wir müssen an einen höheren Sinn glauben. Sonst wird uns der Grund, auf dem wir 389
VI. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert
stehen, unter den Füßen fortgerissen,“ verrät Jünger in einem Aufsatz von 1926. Hier spricht nicht nur die Opposition gegen die Versailler Kriegsschuldbehauptung oder Georges Sorels modischer Mythos der Gewalt, und auch nicht einfach lebensphilosophische Abwertung von Vernunftgründen als Motiv menschlichen Handelns; es kommt eine geradezu schizophrene Kombination von Moderne und archaischer Amoralität zutage.311 Während von den „dreimal ausgespieenen Phrasen“ des bürgerlichen Liberalismus, der Autonomie, des Rechtsstaats, des friedlichen Erwerbs und rechnerischen Verstands nur mehr ausgebrannte Fassaden übriggeblieben sind, glaubt Jünger an eine Synthese von Rausch und Präzision: das Material „spricht seine eisenharte Sprache“ und ein „überlegener Intellekt“ bedient sich ihrer (Kampf als inneres Erlebnis). Der ekstatische, immer wieder beschworene Mythos der Gewalt und Zerstörung geht davon aus, dass technische Leistung, jenseits von „Zivilisationsglasur“ oder herkömmlichen Sinnstiftungen durch den Opfertod, einem elementaren „Willen zu Macht und Übermacht“ dient. Aus welchen sozialen Voraussetzungen Technik entsteht und erhalten wird, ist für Jünger sekundär. Er unterdrückt sein ursprüngliches Unbehagen über die Degradierung des Soldaten zum unterirdischen Bedienungspersonal mörderischer Maschinen und begreift den Krieg als integralen Bestandteil, wenn nicht eigentlichsten Ausdruck der Moderne und ihres Getriebes, in dem sich das Ich verliert: versuchte romantische Fluchten aus ihr führen allein in vertiefte Abhängigkeit (Rohkrämer). Der vierzehnmal verwundete hochdekorierte Leutnant wird zunehmend erfasst von einem Kult der Technik, der keiner neutralen Kraft gilt, sondern dem Machtinstrument, das in der Schlacht seine tödlichen Triumphe feiert (Feuer und Blut). Die heraufkommende Elite beherrscht die Kunst der Vernichtung, bis hin zur „alten Wissenschaft der Entvölkerungspolitik“ (Der Arbeiter, 1932) und hat verstanden, dass die immanente Logik der Technik auf eine kriegerisch-kollektivistische totale Mobilmachung hinausläuft. Aufgabe zeitgenössischer Politik ist nicht etwa Grenzen zu setzen und individuelle Freiheitsräume zu sichern, sondern den Weimarer „Scheinstaat“ durch eine dem Kriegspotential der Technik entsprechende staatliche Struktur (samt dem entsprechend konditionierten Menschenmaterial) zu ersetzen. 312 Damit Maschinen als Organe eines sozialdarwinistischen Kampfwillens voll fungieren, muss eine von Skrupeln befreite militärische Organisation mit ihren Befehlsstrukturen als geeigneter Rahmen den verrotteten Liberalismus ablösen.313 Sie bildet den „eisern, diktatorisch und absolut“ herrschenden Staat der totalen Mobilmachung – das radikale Gegenstück zum alten Entwurf der Moderne, dem friedlichen Interessenausgleich und humanitären Fortschritt. „Während in allen Beratungszimmern des Intellekts noch gemessen, gewogen und geklügelt wird, pocht unten schon die gepanzerte Faust gewaltig an das 390
19. Das Paradigma des Krieges
Tor, und mit einem Schlag sind die schwierigsten Probleme gelöst“ (Vom Geiste, 1927). Für den autoritär-militaristischen Staatssozialismus Jüngers waren Nationalismus und Sozialismus, in der Nachfolge Oswald Spenglers, nur ein Außen und Innen, undenkbar ohne einander (1929), die Organisation eines kollektiven Willens zur Macht; doch empfand der unzweifelhafte Wegbereiter Hitlers, der dem Demagogen tatsächlich in den zwanziger Jahren seine Schriften widmete, gegenüber dessen „Schwabinger Catilinariern“ im Grunde aristokratisch-ästhetische Verachtung. Sie galt aber wohl vor allem ihrer Niveaulosigkeit, dem pöbelhaften „Geschrei, das sich Begeisterung nennt“ (nach H. P. Schwarz, 1962). Die neue Synthese von nationalem Radikalismus und technischer Moderne war um 1930 einigermaßen zeitgemäß. 1931 hatte der Leipziger Soziologe Hans Freyer, Simmel-Schüler und gleichfalls hochdekorierter Kriegsteilnehmer, eine Revolution von rechts angekündigt, die nichts mit dem „geschichtlich erledigten“ 19. Jahrhundert mehr zu tun haben würde – weder mit seinen Revolutionen von links, noch mit seiner individualistischen Gesellschaft und seinen verabsolutierten ökonomischen Interessen, weder mit dem sozialen Prinzip, diesem „Bändigungsmittel“ des Proletariats, noch mit seinem zum großen Verhandlungstisch verfälschten Staat. Die „stählerne Spitze“ der kommenden Revolution wird in Freyers Rhetorik apostrophiert als reine Kraft, reiner Aufbruch, reines Willensgebilde.314 Der nationale Radikalismus jüngerscher Prägung lässt sich in der Tat mit Begriffen wie „konservativ“ oder „reaktionär“ nicht fassen; auch die diversen Faschismen sind nicht einfach durch romantisch-archaische Symbolik oder Ressentiments gegen Linke, Großstadt, Kommerz und Judentum zu erklären. Noch weniger ist aber die mit Adolf Hitler verbundene Katastrophe als Konsequenz einer zielblinden modernen Beherrschung der Umwelt, einer entfesselten Zweckrationalität, zu verstehen: als Erkenntnis, „dass technische und gesellschaftliche Tendenz, von je verflochten, in der totalen Erfassung der Menschen konvergieren“ und es „eine Art Schrulle zu sein scheint, die Weltgeschichte…im Hinblick auf Kategorien wie Freiheit und Gleichheit konstruieren zu wollen“ (Horkheimer-Adorno). Auch in den Siegerstaaten hat es unter dem Trauma der Verheerungen eines über die Köpfe der Menschen hinweg geführten Weltkriegs kritische TechnikDiskurse gegeben, die die ‚Antiquiertheit des Menschen‘ als eines quasi-überflüssigen, durch Maschinen ersetzbaren Rests zum Thema machten. Der Oxforder Wissenschaftshistoriker J. D. Bernal, Kommunist und Anhänger der freien Liebe, entwarf 1929 die Utopie einer kreativen Elite von Konstrukteuren („better organised beings“), der eine zu vernachlässigende und unter Umständen zu liquidierende, minderwertige Masse mit ihren lächerlichen tierischen Bedürfnissen gegenübersteht (dazu G. Kohn-Waechter). Es fehlt hier das „realistische“ 391
VI. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert
Element des von Jünger anvisierten totalitären Militärstaats, doch aus der Kriegserfahrung der Nichtigkeit des Individuums und der Aushöhlung des Kulturbegriffs werden analoge Konsequenzen gezogen: Für den Selbstlauf eines auf bloße Effektivität ausgerichteten wissenschaftlich-technischen Fortschritts ist der Glückswunsch des einzelnen so unmaßgeblich, wie die alte christlich-humanistische Idee eines autonomen Gewissens und Verstands. Aldous Huxleys AntiUtopie Brave New World von 1932 dürfte in vielem Bernals Gedankengut verpflichtet sein.315 Wie in Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung ist das freie Subjekt zum hässlichen Insekt geworden, dessen Menschlichkeit so fragwürdig ist wie die Ausrichtung der Geschichte auf kulturelle Errungenschaften (K. Flasch). Der Subjektbegriff, der für das moderne Denken konstitutiv ist, weicht der Vorstellung eines entpsychologisierten Kraftfelds, und das „laue Wohlbehagen“ der bürgerlichen Kultur außengelenkten „arktischen Zonen des Gefühls“ (Jünger, Abenteuerliches Herz, 1928).316 Im Vorfeld des italienischen Faschismus hatten manche von der Modernität des Krieges deklamiert (Corradini, d’Annunzio), doch war damit eine andere Moderne, die der effizienten Militärmaschinerie, gedacht. Die faschistischen Bewegungen haben sich nach außen immer mit theatralischen Inszenierungen und Effekten (dem „Feldherrn Psychologos“) darzustellen gewusst, schienen auf Mobilmachung des Willens und den ästhetischen Staat eher als auf rationale Organisation gerichtet zu sein. Es ist aber eine banale Tatsache, dass sie sich, nicht immer effizient, auch moderner Technologien bedient, ja sich auf eine Weise als ‚nachholende Entwicklungsdiktaturen‘ begriffen, die den Genius der Nation und die in ihm schlummernde Dynamik von den institutionellen Fesseln und Skrupeln der alten Gesellschaft zu befreien versprachen. Die These verzweifelter Liberalismuskritiker führt jedoch in die Irre, wenn für die Untaten des zwanzigsten Jahrhunderts das neuzeitliche prometheische Bestreben um technologische Beherrschung der Welt verantwortlich gemacht werden soll: „Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression“, lautet die falsche Schlussfolgerung der Dialektik der Aufklärung. Die technologische Verengung des Fortschrittsbegriffs, auch wenn dies die zunehmende Normierung des menschlichen Verhaltens und die Herrschaft eines unkontrollierten Effizienzkriteriums bedeutet, hat keine zwingende Entstehung terroristischer Antistrukturen zur Folge: führerzentrierter Gefolgschaftsverbände und ihrer atavistischen Ideologien. Der Krieg hat in der europäischen Neuzeit eine enorme Rolle gespielt, wie nicht nur Bellizisten in der Nachfolge Werner Sombarts oft herausgestrichen haben. Umgekehrt konnten Krieg, Terror und organisierter Massenmord im 20. Jahrhundert nicht ohne technische Rationalität vollzogen werden; Ziele, wie 392
19. Das Paradigma des Krieges
imperialistische Expansion oder die Schaffung eines in gewisser Hinsicht egalitären „braunen Kollektivismus“ waren nicht strikt „rückwärtsgewandt“: eher revolutionär in der Bedeutung einer Legitimierung des Ausnahmezustands und der Absolution von Recht und Gewissen. Die Neuzeit wird, wie wir wissen, von einer fortschreitenden Ersetzung transzendentaler Werte durch pragmatische begleitet, und die Abkoppelung der instrumentalen Rationalität von metaphysischen und naturrechtlichen Kontrollen ist durch das gewachsene Vernichtungspotential der modernen Technik besonders gefährlich geworden. Es ist aber mehr als eine Übertreibung zu behaupten, das Kürzel Holocaust offenbare das wahre Wesen der Moderne. Diese erweist sich, realgeschichtlich betrachtet, als kein projektives Wunschbild, sondern als ungesichertes, sich allenfalls korrigierendes Probierhandeln; die Gefahr der Abstraktion, die ihre Objekte austauschbar macht, ja nach Bedarf ausmerzt, ist zwar vorhanden, nicht aber ein System, das mit seiner aktiv organisierenden Haltung gegenüber Natur und Gesellschaft Menschenzüchtungs- und Menschenvernichtungspolitik plausibel, wenn nicht zwangsläufig macht (Zykmunt Bauman). Problematische Ansätze, wie Euthanasie und Rassenhygiene sind, sowenig wie die Kernspaltung, eo ipso verbrecherisch; sie werden es in den Händen skrupelloser Fanatiker, die von ideologischen Obsessionen beherrscht werden. Den Weg dazu bereitet nicht Heideggers Dramatik der „Vor-Wände“ und „Machenschaften“ einer bodenlos gewordenen Moderne, nicht schon Wertrelativismus und „Abstinenz von Zielreflexion“ (Lübbe). Auch Max Horkheimers „positivistisch halbierte Vernunft“ führt von sich aus noch nicht zum Zusammenbruch eines prekären zivilisatorischen Gleichgewichts- und Wertesystems – es sei denn, das falsche Vertrauen in einen Fortschrittsautomatismus führt zur Unterschätzung der lauernden Gefahren. Erst der Weltkrieg hat dabei den europäischen Glauben erschüttert, die Geschichte werde letztlich durch Kulturleistungen bestimmt, und die technische Weltbeherrschung werde vom Kultursystem eingefangen: Der Krieg wurde nicht durch traditionellen ‚Heroismus‘, sondern durch wirtschaftlich-technische Übermacht entschieden. Erst dieser Bruch leitet schließlich auch den ideologischen Wirklichkeitsverlust des 20. Jahrhunderts ein, die Möglichkeit einer totalitären Ausschaltung jedes Objektivismus und nicht konformen authentischen Wissens: Das aber ist keine endogene Entwicklung der Wissenschaft und Technik („Von Darwin nach Auschwitz“ ). Inhumanität wird endemisch durch Diktaturen in den Händen von „Ingenieuren der Zerstörung“ (Robespierre): durch kriegerische Barbarei geprägten und von moralischem Commonsense abgekoppelten Eliten samt ihrer antrainierten eiskalten Kunst der Vernichtung. *** 393
VI. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert
Oswald Spengler († 1936) war kein Kriegsteilnehmer, und die Grundzüge seines Denkens waren schon vor 1914 vorhanden; trotzdem steht dieses unmissverständlich im Zeichen des Kriegs, den er in der Tat als Urpolitik alles Lebendigen interpretiert. Der enorme Erfolg seiner Geschichtsphilosophie ist ihrer diagnostischen Qualität, ihrem Zukunftsbezug zu verdanken: einer spezifischen Modernitätsauffassung, die nicht mit einfacher Fortschrittsfeindlichkeit zu verwechseln ist. Gewiss überwiegen in Spenglers Sicht der Moderne die üblichen konservativen Negativposten: seelenlose Großstadt, Kosmopolitismus, Traditionsverlust, Vermassung, nivellierende Geldwirtschaft und Materialismus; anderseits wehrt sich der Philosoph des Untergangs gegen den Pessimismusvorwurf und will „Untergang“ in einem universalhistorischen Sinn als „Vollendung“, nämlich des Kulturzyklus, verstehen – dem er mit dem Gestus eines heroischen Nihilismus gegenübersteht. Wir sind, so lautet seine apodiktisch vorgetragene Behauptung, nicht frei, „dieses oder jenes zu verwirklichen, sondern das Notwendige oder nichts“ (Untergang des Abendlandes, 1918). Dieses gegenwärtig Notwendige, das der Weltkrieg schlaglichtartig erleuchtet, wird durch eine „zivilisierte“ Spätzeit bestimmt, deren Parallele nicht im perikleischen Athen, sondern im cäsarischen Rom liegt. Natürlich können kleine Geister, damals wie heute, metaphysische Ideen widerkäuen, Musik komponieren oder Poesie pflegen, doch fehlt dieser Lebensform die innere Notwendigkeit und Fruchtbarkeit; es sind weltfremdepigonenhafte, im Grunde überflüssige Tätigkeiten. Den „harten und kalten Tatsachen eines späten Lebens“ entsprechen nach Spenglers Diktum nur mehr „hochintellektuelle“ „asketische“ Gebilde von der Art eines Schnelldampfers, eines Stahlwerks oder einer Präzisionsmaschine (ebenda). Später wird klar, worauf der so definierte Zeitgeist insbesondere hinausläuft.317 Die Eigentümlichkeit von Spenglers Denkstil besteht darin, dass er seinen „amerikanistischen“ Grundgedanken lebensphilosophisch-historistisch präsentiert und selbstgewiss als einzig mögliche Deutung des unerbittlichen Naturgesetzes von organischem Werden und Vergehen darbietet; gleichwohl wird dieses nur intuitiv-analog erfasst und soll vor seicht-kausalanalytischen Methoden bewahrt werden. Die sogenannte „morphologische“ Methode, derer sich Spengler souverän bedient, deutet Tiefe an, die sich rationaler Kontrolle durch „pedantische“ fachhistorische Erörterungen und definitorische Begrifflichkeit entzieht, aber doch kein bloßes Aperçu oder „intellektueller Roman“ sein möchte und echte Evidenz beansprucht (D. Felken). Widersprüche werden geschickt kaschiert, wenn etwa die alte Metapher von der ewigen Wiederkehr analoger Kulturzyklen, der ein biologistisches Schema zugrundeliegt, durch einfühlendes Verstehen des „physiognomischen Taktes“, wenn nicht die Formensprache goethescher Ursymbole, mystifiziert wird. 394
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Spengler will, ganz hegelianisch-historistisch, auf absolute Wahrheiten verzichten und nur Wahrheiten eines bestimmten Menschentums, sprich: Kulturkreises, anerkennen, von dem sämtliche Ausdrucksformen des Zeitalters geprägt werden; es gibt nicht nur verschiedene Kunststile, sondern auch verschiedene Mathematiken. Entsprechend unterscheidet er „Kulturmoral“ als einer selbstverständlichen, die man hat, von „Zivilisationsmoral“ als einer künstlich-verstandesmäßigen, die man sucht: Jede Gültigkeit beschränkt sich auf einen gegebenen Kulturkreis und seine Altersstufe. Die Vorstellung einer übergreifenden Moral und Vernunft ist für Spenglers „erhabene Zwecklosigkeit“ des Geschehens so lächerlich wie jede Geschichtsteleologie (eine „Karikatur der Schicksalsidee“); für die Philosophie gilt, dass ihr einzig verbliebenes Thema die Philosophiegeschichte ist. Zugleich zögert der in der Pose der Allwissenheit auftretende „Defaitist der Humanität“ (Thomas Mann) nicht, ständig kategorische Urteile zu fällen, wie z. B., die Aufgaben unserer „zivilisierten“ Zeit seien rein extensive: Expansion und Imperialismus, Wille zur Macht. Die Technik in ihrer quasi magischen Potenz ist ihr typischer Ausdruck und der Ingenieur der „wissende Priester der Maschine“.318 Aus der Herrschaft des Geldes und der Wohlstands ideologie der Großstadt wird ein straffer Militarismus der Cäsaren hervorgehen, und in der Mischung aus Zivilisation und Barbarei Kultur belanglos werden. Es soll hier nicht weiter auf methodologische und inhaltliche Gesichtspunkte von Spenglers Geschichtsphilosophie eingegangen werden, auch nicht auf sein „faustisches“ Konzept des Abendlandes, sondern nur auf einige konkrete Aspekte von dessen Endstadium, an dessen Niedergang sich, wie in der Spätantike, nichts mehr ändern lässt. Es wird, wie angedeutet, charakterisiert als vorherrschende Verstandestätigkeit, Dekomposition, ‚intellektuelles Nomadentum‘, die versteinernde Weltstadt mit ihren formlosen Massen, und einem gleichzeitigen aggressiven Ausgreifen nach außen: „Zu einem Goethe werden wir Deutschen es nicht mehr bringen, aber zu einem Cäsar“, heißt es 1921 in seinem Aufsatz Pessimismus. Unfreiwillig kommen dabei Spenglers meist distanziert in alternativlose Gesetzmäßigkeit eingekleidete, in Wahrheit höchst subjektive Überzeugungen zum Vorschein, am ungeschütztesten in seinem Ressentiment gegen die „dümmste und feigste, ehr- und ideenloseste Revolution der Weltgeschichte“, nämlich den von „Pack und Literatengeschmeiß“ geprägten Novemberverrat am authentisch-preußischen Sozialismus der kämpfenden Front (Preußentum und Sozialismus, 1919). Anderseits vermutet Spengler im Russentum, ohne marxistische Überfremdung, „das Versprechen einer kommenden Kultur“. Der etwa gleichzeitig und mit vielfach analogen Vorstellungen wie ein anderer Münchener Bohemien in die Politik gegangene ehrgeizige Außenseiter teilt mit diesem sowohl die Erwartung einer notwendigen Abrechnung mit den „Verrätern“ („ dann muss Blut fließen, je mehr, desto besser“), als auch die 395
VI. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert
Vorstellung, allein Deutschland könne das zeitgemäße Imperium der abendländischen Zivilisation begründen; der Krieg nach dem Kriege werde die eigentlichen Resultate der Epoche zum Vorschein bringen (dazu A. Koktanek, 1968). Auf ideologische Stereotypen des Weltkriegs weisen Spenglers anti-englischen Tiraden zurück: der Parlamentarismus, ein quasi Exportgut des britischen Seeräubervolks, sei in Deutschland „Unsinn und Verrat“, allenfalls als Sachverständigenrat tragbar. Vom deutschen Kriegserlebnis, und insofern von Rathenau, der für Spengler nach eigener Aussage „zum tieferen Verständnis der gegenwärtigen Krise von größter Bedeutung war“, kommt auch ein illiberaler und antidemokratischer Sozialismus, in dem „befohlen und gehorcht“ und Arbeit nicht Ware, sondern Pflicht ist, und der seinen falschen marxistischen Sachwaltern entwunden werden muss. Die historische Aufgabe dieses in Preußen beheimateten Ethos des „Alle für alle“, der Macht und der Arbeit, sei es nicht zuletzt, der Versklavung der Welt durch den Händlergeist ein Ende zu setzen (Preußentum). Der 1922 veröffentlichte zweite Teil des Untergangs untermauert Spenglers radikal-konservative politische Publizistik vor allem durch das Bild des unvermeidlichen Cäsarismus, der die korrupte Demokratie als nicht ernstzunehmendes Intermezzo disqualifiziert. Die Republik, so seine nicht ganz unzutreffende Denunziation, sei „keine Staatsform, sondern eine Firma zur Selbstbedienung niedriger Interessen“, die Pressefreiheit nichts als eine furchtbare Satire auf Gedankenfreiheit, und die form- und hilflose Masse vollziehe zwangsläufig die Selbstaufhebung ihrer nominellen Herrschaft. Das erwartete persönliche Regiment der „großen Tatsachenmenschen“ bleibt auch für Spengler insofern barbarisch, als es durch die Demokratie bedingt ist und die schrankenlose „Form der Formlosigkeit“ darstellt, aber anderseits auch politischen Ordnungswillen und Pflichtbewusstsein wieder einführt: „In der späten Demokratie bricht die Rasse hervor und knechtet die Ideale oder wirft sie mit Gelächter in den Abgrund.“ (Untergang II). Immerhin wollte der Hasser der Republik und Bewunderer Mussolinis die cäsarische Prognose nicht auf beschränkte völkische Demagogen beziehen: „Trommler und Pfeifer“ seien noch keine Feldherren, erklärte Spengler 1924, nach dem gescheiterten Hitlerputsch, und änderte seine Meinung auch später nicht.319 Trotz ihrer Destruktivität müssen Kriege, auch jenseits von Spenglers Pessimismus, nicht von vornherein fortschrittswidrig sein. Im Gegenteil: Kriege und sogar Bürgerkriege haben die moderne europäische Geschichte von Anbeginn begleitet und oft vorangetrieben. Machtkonkurrenzen des europäischen Staatensystems, der Krieg als Katalysator von Ressourcenmobilisierung, technologischer Innovation, Zentralisierung und Disziplinierung der Gesellschaften, nicht zuletzt Niederlagen als Auslöser nachholender Modernisierung, sozialer Wand396
19. Das Paradigma des Krieges
lungen und kultureller Umbrüche, dürfen bei Betrachtungen über den Fortschritt nicht außer Acht gelassen werden. Humanisten und Aufklärer haben den Krieg meist verabscheut, und liberale oder sozialistische Zukunftsentwürfe glaubten an die historische Logik einer Ersetzung atavistischer Gewalt durch ökonomische Vernunft und politische Konfliktregelung. Das Bild einer gewaltfreien Moderne, wie die Geltung „unverbrüchlicher“ Menschenrechte, ist eine respektable Option, aber wohl kein notwendiges Ergebnis linearer Rationalisierungsprozesse oder anderer Teleologien, die unsere diversen Wertvorstellungen „evolutionär“ abstützen sollten (H. Joas). Es war auch nicht absurd, wenn Ideologen verschiedener Couleur den Weltkrieg als Chance, sei es eines revolutionären Bruchs oder nationaler Erneuerung, begreifen und bejahen wollten. Man versprach sich von kriegerischer Mobilisierung außer der Befreiung von Selbstsucht, Klassenkampf und Nützlichkeitsdenken, höhere Teilhabe der Bevölkerung am nationalen Leben, die seit der französischen Revolution bekannte Ausweitung staatsbürgerlicher Rechte als Folge militärischer Indienstnahme durch den Staat, anderseits erhöhte Effizienz und Kriegsfähigkeit: eine Rationalisierung der Gesellschaft durch den modernen, prononciert antiliberalen Interventions- und Überwachungsstaat. Die gewaltfreie, an Menschenrechten orientierte Moderne bleibt eine echte, obwohl kontingente Möglichkeit; die Lehre aus dem organisierten Massenmord des Weltkriegs konnte aber auch lauten, den Krieg auf Dauer zu stellen. Der Friede ist nur die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, deklariert Spengler, und der Staat das „In-Form-Sein“ für den nächsten Fall; innere Politik sei nur dazu da, die Kraft der äußeren zu sichern (Jahre der Entscheidung, 1933). Spenglers kriegerisch-elitäre Modernitätsversion spricht den Drang zur Grenzenlosigkeit, die Dynamik des „faustischen“ Erfindens und Entdeckens, allein dem Abendland zu; die Statik der Griechen oder die Alchymie der Araber unterscheiden sich grundlegend von den europäischen „Wikingerfahrten in Raum und Geist“. Für diese ist die Weite Beute, die gewaltsam gewonnen wird; die Technik ist primär Waffe ihres Willens zur Allmacht im unvermeidlichen Kampf, und erst sekundär auch ökonomisches Mittel zur Arbeitseinsparung. Das Nützlichkeitsdenken friedlicher Fortschrittsphilister in einer künstlich gewordenen Kultur missversteht in Spenglers verächtlichem Spiegel den agonalen Charakter des Lebens und lässt eine wachsende Kluft entstehen zwischen schöpferischen Führern und Geführten. Diese wissen nichts vom Glück der Avantgarde, dem „Triumphgefühl des Raubtiers“, und der Einheit von Politik, Krieg und Wirtschaft. Aus liberaler Selbstaufgabe einer kranken Gesellschaft, beginnt die faustische Dynamik zu erlahmen: Die ‚Hände‘ meutern gegen ihr Schicksal und als Folge von Degeneration und innerkulturellem Krieg verliert auch die weiße Welt ihre Überlegenheit gegenüber den „farbigen“ Völkern. 397
VI. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert
Der Farbige durchschaut den Weißen, wenn dieser von „Menschheit“ und „ewigem Frieden“ redet. „Er wittert die Unfähigkeit und den fehlenden Willen, sich zu verteidigen.“ Es müsste natürlich heißen: seine Kolonialherrschaft zu verteidigen; es ist aber nicht falsch, den psychologischen Zusammenhang zwischen einer universalen Menschen- und Bürgerrechtsideologie und der Forderung nach ihrer praktischen Einlösung festzustellen, ebenso wie die Tatsache, dass diese Ideologie westlicher Herkunft war. Als realer Auslöser der Freiheitsbewegungen in der später so genannten Dritten Welt fungierten zwei europäische Bürgerkriege, nicht zuletzt der Einsatz von Kolonialtruppen gegen „Weiße“, als Verstärker des eigenen schlechten Gewissens. 320 Man könnte noch weiter gehen und im Zurückschlagen von Methoden der Peripherie auf das Kerngebiet eine subtile, „dialektische“ Vergeltung erblicken: das Maschinengewehr „transferierte die an der kolonialen Peripherie ohne viel Federlesen ausgeübte Gewalt ins europäische Zentrum“ (Dan Diner). Die Skrupellosigkeit der Kolonisatoren, Rassismus, Konzentrationslager, Völkermord, anstatt durch den Universalismus der Menschenrechte verdrängt zu werden, gewinnen im 20. Jahrhundert Heimatrecht auch innerhalb des „Abendlandes“. – Spengler sieht durch europäische Blindheit einen Rachefeldzug der Farbigen gegen die bisherigen Herren heraufziehen, und es bleibt ihm nur der stoische Trost, die „faustische“ Maschinentechnik sei ihren unschöpferischen neuen Trägern fremd; sie werde eines Tages zertrümmert und vergessen sein, wie die Römerstraßen und die Kultur Babylons. Man mag das Ende hinaus zögern, aber „nur Träumer glauben an Auswege. Optimismus ist Feigheit.“ (Mensch und Technik, 1931). Spenglers Sicht beanspruchte ein Wissen um das unausweichliche Schicksal unserer Kultur; auf zwingende Einsichten konnte sie sich nicht stützen. Aber auch Perspektiven einer humaneren Moderne bleiben in letzter Instanz angewiesen auf kontingente Faktoren und den Glauben an bestimmte Werte.321
20. Mythos Revolution Georges Sorel († 1922) hielt die illusions du progrès in der Traditon von Marx’ Ideologiekritik für eine Interessenprojektion der Bourgeoisie, ein Werk von deren verabscheuten Hilfstruppen, der rationalistischen Intellektuellen. Diesen warf Sorel vor, sie implantierten der regellosen Bewegung der Geschichte ein abstraktes, quasi selbsttätiges, immanentes Prinzip: Ohne kämpferischen Willen würden die Völker jedoch in gleichgültige Hinnahme und Dekadenz absinken. 398
20. Mythos Revolution
Der Rationalismus galt ihm als destruktiv schon durch seine Skepsis; seit Sokrates (mit dessen Prozess sich eine frühe Schrift Sorels befasste) zersetzt sie jede Tradition, jeden unmittelbaren Lebenszusammenhang, und hinterlässt einen monströsen Egoismus, dessen Ausdruck die bestehende Klassengesellschaft ist mitsamt ihrer evasiven Neigung zu Konsum und Genuss. Diese Gesellschaft zu überwinden scheint Sorel nur möglich durch einen heroischen Akt der Selbstbefreiung: „schöpferische Aktion“, nicht kleine materielle Verbesserungen. Doch bleibt der Ausgang unsicher; rationalistische Geschichtsspekulationen teleologischer Art sind ihm ein Ärgernis schon deshalb, weil sie dem bürgerlichen Sekuritätsbedürfnis entsprechen. Die Geschichtsschreibung, erklärt der Verächter des Positivismus, ruht immer auf Hypothesen und Projektionen, ja ist im Grunde nur ein kunstvolles Arrangement zur nachträglichen Rechtfertigung eigener Überzeugungen; auch die Philosophie ist primär subjektives Bekenntnis, Fühlen und Wollen. Der frühpensionierte Ingenieur glaubt durchaus an den Fortschritt, doch nur als Selbstperfektionierung einer Gesellschaft freier Produzenten, ohne die Willensfreiheit einschränkende, lebensferne utopische Zukunftsprojekte. Er entsteht, gewissermaßen in Kombination von Marx, Nietzsche und Bergson, durch die sich selbst wollende Kreativität einer mythischen Vision, als glaubenskräftige Ideologie. In diesem Sinn versteht der serviteur désinteressé du proletariat auch den Marxismus nicht als deterministische Theorie und Dogma, wie vielmehr einen jeder rationalistischen Kritik entzogenen Mythos von der Art des Urchristentums: als Inspiration zu welterneuerndem Handeln. Wesentlich ist für Sorel, Leidenschaften und Selbstvertrauen der Unterdrückten zu wecken, die Tradition der Unterwerfung zu zerstören. Die Revolution ist somit kein Ergebnis verstandesmäßiger Analyse, sondern vor allem eschatologischer Erwartung und Entschlossenheit. Hätte eine solche Haltung das große Völkermorden verhindert? Die Pazifisten waren für Sorel jedenfalls „Schwachköpfe, die die elementaren Gesetze ignorieren“; Europa sei „ohne Chance“, wie er im Jahr 1908 notierte.322 Wie es seiner Absage an alle bürgerlichen Werte entsprach, warnte Sorel den ihm nahestehenden revolutionären Syndikalismus vor korrumpierenden Kompromissen und parlamentarischer Zusammenarbeit mit bürgerlichen Radikalen; die gewerkschaftlichen Keimzellen einer sozialistischen Ordnung sollten unter sich bleiben und über diese hinaus mit dem revolutionären Mythos des Generalstreiks eine neue heroische Epoche einleiten: in dieser würden die Parasiten: die Konsumenten, die Rhetoren, die Soziologen und Intellektuellen, keinen Platz finden (Réflexions sur la violence, 1908, dt. 1928).323 Wir wollen uns hier nicht auf Einzelheiten der widersprüchlichen Mythosund Geschichtslehre des bürgerlichen Bürgertumshassers und antiintellektualistischen Intellektuellen einlassen, der dem Verstand misstraut, aber allzugroßes 399
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Vertrauen in die moralische Kraft spontan-irrationaler Massen setzt. Gewiss ist Massenmobilisierung auf emotional ansprechende, nicht widerlegbare, dichotomisierende Mythen angewiesen (A. Dörner); aber Sorels Unbesorgtheit um Inhalt und Ergebnis der „schöpferischen Aktion“ scheint nachträglich ziemlich leichtsinnig: die Geringschätzung der Frage nach geordneter Willensbildung, die von der Weltkriegserfahrung noch unberührte Denunzierung „humanitärer Platitüden“ als Ideologie einer verweichlichten, unheroischen Bourgeoisie; die Idealisierung des barbarischen Potentials spontaner Gewalt. Von nur scheinbarem Belang ist Sorels Unterscheidung dieser begrüßten violence (des Proletariats) und stigmatisierter force vom Typus der französischen Revolution, die utopisch-rationalistisch geprägt, die Herrschaft bürgerlicher Nutznießer und einen unfruchtbaren Kampf um materielle Interessen herbei geführt hat. Unter der Maske des Friedens und der Demokratie enthüllt der Moralist allgegenwärtige latente Gewalt, das Monopol einer privilegierten Minderheit – eine These, die im zwanzigsten Jahrhundert viel Verwirrung angestellt hat. Diese nach Sorel illegitime Macht, auch durch Führer des Proletariats, gilt es nach Sorel, zusammen mit dem übrigen Einfluss bürgerlich-rationaler Werte, zu entlegitimieren: Das ist der „rationale Kern“ seiner ansonsten eher verschwommenen heroisch-mythischen Auffassung von Sozialismus. Die Übertragung einer konzentrierten Staatsmacht auf neue, voraussichtlich „weniger geschickte“, dafür anmaßendere Herren würde, so seine treffende Prognose, nur eine andere Klassengesellschaft, und in ihrer Folge die gemeinsame Degeneration von Mächtigen und Ohnmächtigen, nach sich ziehen. Man muss Sorel die Ausklammerung der „Wahrheitsfrage“ vorwerfen, die vitalistische Neigung, dynamische Energien als Selbstzweck und Allheilmittel zu verklären, die eine beliebige dezisionistische Verwendung von Mythen zum Zweck der Massenverführung und kollektives Sendungsbewusstsein jeder Art legitimiert, von dem der Weltkrieg ja ein anschauliches Zeugnis geliefert hat: statt von Herrschaft und Konformismus zu befreien, haben sie geradewegs in die Diktatur geführt (H. Berding). Theoretisch hat sich insbesondere der italienische Faschismus vom heroischen Nihilismus Sorels inspirieren lassen; in der Praxis des 20. Jahrhunderts war aber der Unterschied zwischen rational-utopisch und mythisch-irrational inspirierter Gewalt eher gering. Die Verdammung eines voluntaristischen Jakobinismus war ein tradionelles Thema marxistischer Kritik. So äußerte der junge Leo Trotzki in seiner Polemik gegen Lenins „Praxis des organisierten Misstrauens“ und „organisatorischen Fetischismus“, Jakobinertum und Sozialismus schlössen einander aus: „Sie hieben Köpfe ab, wir erfüllen sie mit Klassenbewusstsein.“ Vor allem gehe es nicht an, das Proletariat mit Hilfe technischer Maßnahmen bzw. einer militärisch disziplinierten Kaderelite zu „substituieren“, d. h. das Ausbleiben spon400
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tan handelnder Arbeiter durch Aktionen einer angeblichen Avantgarde zu ersetzen. Als Revolutionsführer tat Trotzki genau das Kritisierte.324 Politische Aktion und spontane ökonomische Massenbewegung seien nicht zu trennen, wandte auch Rosa Luxemburg ein, die vor einer „bloßen Übertragung des Taktstocks in die Hände eines sozial-demokratischen Zentralkomittees“ warnte; doch war die direkte Aktion der Massen auch für sie kein Patentrezept, um den „Sprung ins bessere soziale Jenseits“ auszuführen. Aufgrund ihrer Analyse der russischen Revolution von 1905 mit Hunderttausenden Streikender glaubte sie jedoch, anders als Lenin, den politischen Charakter noch der spontansten Volkserhebung auszumachen. Dabei stand für sie in Russland erst die Selbstbesinnung der bürgerlichen Gesellschaft samt ihren Klassengegensätzen an, während in Deutschland der einmal ins Rollen gekommene Stein der Massenaktion schon die Diktatur des Proletariats anzukündigen schien (Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, 1906). Lenin (Wladimir Uljanow, † 1924) beschimpft Sorel als „Konfusionsrat“; die Abfertigung, übrigens im Rahmen einer etwas altbackenen Verteidigung des ‚objektiven Charakters‘ der menschlichen Erkenntnis, sagt jedoch wenig aus über mögliche Inspirationen und streckenweise Seelenverwandtschaft beider. Der gemeinsame Hass auf Bourgeoisie, Kapitalismus und bürgerlich geprägte Verhaltensweisen, die Verachtung von Attentismus, Kompromisslertum und „parlamentarischem Kretinismus“ der etablierten Arbeiterparteien, eine geradezu religiöse Revolutionseschatologie als Jüngster Tag einer dekadenten Gesellschaft, waren bei vielen linken Intellektuellen verbreitet. Auch die Neigung zur Missachtung von Legalität, ein vitalistischer Kult der Tat und der Aktion, bis hin zum bedenkenlosen Umgang mit Gewalt, die Auffassung von den irrationalen Massen als Vehikel bzw. Objekt dieses oder jenen Mythos, waren schon vor 1914 keine Sache einer Handvoll frustrierter Sektierer und erhielten durch den Zusammenbruch der europäischen Strukturen zusätzliche Nahrung. Unvergessen war Bakunins Genfer Rede v on 1867: Sie hatte ohne Bedauern die gegenseitige nationale, politische und kulturelle Vernichtung der bürgerlichen Zivilisation durch einen kommenden Weltkrieg vorhergesagt. Es hing aber wohl zu einem hohen Maß mit den autokratischen, „halbasiatischen“ (Engels) Strukturen Russlands zusammen, wenn dort das Staats- und Politikverständnis auch seiner Kritiker in besonders hohem Maß zur reduktionistischen Formel „Gewalt von oben/ Gewalt von unten“ tendierte: Nach den liberalen Reformen der 1860er Jahre war Russland, aufgeschreckt durch terroristische Attentate, in ein Vierteljahrhundert der Reaktion gefallen. Das Reich expandierte zwar (bis Ende des 19.Jahrhunderts um 4 Millionen km²) und betrieb neben halbherzigen Agrarreformen auch eine gewisse Industrialisierungspolitik (Witte), aber hielt innenpolitisch an einem strikten Unterdrückungs- und Russi401
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fizierungskurs fest. Nicht die Freisetzung einer herangereiften zivilen Marktgesellschaft, bzw. eines mündigen Volks, schien dort auf der Tagesordnung zu stehen, nur die gewaltsame Ersetzung des bestehenden Despotismus durch die Erziehungsdiktatur einer aufgeklärten Elite von ‚Volksfreunden‘.325 Die „autistische Schwerhörigkeit“ der Selbstherrschaft gegenüber dem Ruf nach Reformen (die sich schon aus Imperativen der Machtraison ergaben) hatte sich zwar spätestens seit dem Schock der Niederlage von 1905 etwas gemindert, aber immer noch standen die entscheidenden Eliten im Bann des slawophilen Mythos vom russischen Eigenweg. Von der chimärischen Mission der „russischen Idee“ gegenüber westlicher Dekadenz hatte sich zumindest die Verachtung des Liberalismus und Individualismus auch auf die russischen Radikalen übertragen. Lenin zog die Legitimation seiner revolutionären Praxis aus der unantastbaren Geltung von Marx’ Geschichtskonzeption, im Hinblick auf den notwendigerweise „bürgerlichen“ Charakter der anstehenden Umwälzung in Russland dachte er aber keinen Augenblick daran, das Feld auch nur zeitweise liberalen Reformern bzw. bürgerlichen Demokraten zu überlassen. Die „Prostituierten des bürgerlichen Liberalismus“, die als „geborene Krämer Kampf und Revolution hassen“, versuchten sich in eine revolutionäre Toga zu hüllen (Lenin 1905), doch seien sie, wie schon die älteren russischen Radikalen wussten, durch einen Abgrund von den Volksmassen getrennt. Nach den Erschütterungen von 1905 setzten allerdings auch viele ernüchterte Radikale auf Verhandlungen und Verwestlichung statt auf Umsturz (Wechi /Wegzeichen, 1909). In den Weltkrieg trat das sich erholende und seit Stolypins Landreform allmählich umdenkende Russland „eher unwillig“ (Torke), aber zunächst begleitet von einer Welle des Patriotismus. Relative taktische Erfolge wurden von Anbeginn erkauft mit riesigen Verlusten: Anfang 1917 musste es 1 Million Gefallene, 4 Millionen Verwundete und 2 Millionen Kriegsgefangene verzeichnen. Als im Februar/März dieses Jahres Kriegsmüdigkeit und Gerüchte über vermeintlichen Verrat in einen Aufstand umschlugen, gelang es der provisorischen Regierung nicht, die neue Republik zu konsolidieren und die meuternde Armee mit der sozialistischen Parole eines „Friedens ohne Annexionen und Kontributionen“ zu disziplinieren. Das Land versank in Chaos. Die jakobinische Inspiration der Bolschewiki verstand sich als schonungslose Abrechnung mit Selbstherrschaft, Polizeiwillkür und aristokratischem Grund besitz, vor allem aber mit der Bourgeoisie. Eine „Diktatur von Proletariat und Bauernschaft“ als Instrument des Krieges gegen den gesamten Plunder der alten Ordnung, ohne den Ballast eines formaldemokratischen Rechtsstaats, sollte die ohnehin unterentwickelten russischen Mittelklassen ausschalten, noch bevor sie zur – der Theorie nach notwendigen – eigenen Herrschaft gekommen wären. Im älteren russischen Marxismus hatte die Idee einer Diktatur des Proletariats für 402
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das rückständige Land als Wahnsinn (G. Plechanow) gegolten; die bürgerliche Revolution brachte man nicht mit Diktatur, sondern mit Demokratie, einer selbstredend unvollkommenen, in Verbindung. Wenn Lenin, der von den spontan agierenden Massen so wenig hielt wie von politischen Kompromissen, das jakobinische Modell aufgriff, dann ist das aus der von ihm hochgeschätzten Tradition der terroristischen Narodniki bzw. Narodowolzy zu verstehen, die über eine Revolutionierung der bäuerlichen Volksmassen auch den Kapitalismus zerstören und auf dieser Basis die Herrschaft einer aufgeklärten Minderheit errichten wollten (dazu A. von Borcke, 1977). Der westliche Wissenschaftsglaube, der Marxismus eingeschlossen, war für die russische radikale Intelligenzija eine gleichermaßen leidenschaftlich wie unkritisch geglaubte, die eigene Aktion legitimierende Ersatzreligion. Parallel verkünden eschatologische Bewegungen am Vorabend des Krieges und der Revolution: Die Welt, die Kultur, müssen in Flammen aufgehen. „Die Verwerfung des freien Geisteslebens…soweit sie nicht dem diente, was als Erlösung galt, bildete … einen Teil der geistigen Überlieferungen Russlands.“ (zit. Heer: Europa, 806f). Frieden zu stiften gelingt in der Regel nur, wenn das Politische als Sphäre des Relativen respektiert und versucht wird, das Unbedingte zu neutralisieren. Die Wiederkehr des Absoluten, die Erwartung des Neuen Menschen und des Neuen Jerusalem, macht jedoch die Gegensätze unüberbrückbar und setzt auf die Tagesordnung die heilige Gewalt gegenüber denjenigen, die im Dunklen verharren (Metz: Geschichte der Gewalt, 40f). Lenins Perspektive ruhte auf einer an sich plausiblen, aktivistisch interpretierten Marx-Orthodoxie; statt auf die Rationa lität eines sozio-ökonomischen „Vulgärevolutionismus“ zu vertrauen, setzte er, ganz wie Sorel, auf die Moralität revolutionärer Gewalt. Er meinte damit zwar nur den Gang der Geschichte zu beschleunigen (die „Geburtswehen des Übergangs abzukürzen“), nicht willkürlich zu ändern, vergaß aber in seiner Ungeduld die altbekannte historische Dialektik von Mitteln und Ziel, Intention und Ergebnis. Die Diktatur könne gewiss radikal durchgreifen: nichts sei für sie einfacher als zu expropriieren, wandte Karl Kautsky ein, „aber was dabei herauskommt, ist gerade nicht immer das, was die Diktatoren wollten.“ Die Schreckensherrschaft einer jakobinischen Minderheit, auch ein Kind des Krieges, habe, so Kautsky, nur den „Weg für die Diktatur des Säbels“ geebnet (1918): Tatsächlich erklärte Lenin die eben gewählte Verfassungsgebende Versammlung, in der seine Partei nur über ein Viertel der Sitze verfügte, für eine überholte Institution und ließ sie am 5.Januar 1918 von Rotgardisten auseinanderjagen. Die Partei des modernen Proletariats, äußerte Kautsky dagegen, müsse nicht mehr in die Sackgasse des Schreckensregiments geraten, wenn sie nur objektiv lösbare Aufgaben in Angriff nehme und Sozialismus nicht als Sache eines Handstreichs auffasse. Die Umkehrung des „gesetzmäßigen Ganges der 403
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Geschichte“ hielt Kautsky zutreffend für ein Werk des Weltkriegs, der Gewöhnung an Blutvergießen, der „Ertötung der Menschlichkeit und Züchtung der Brutalität“ (1919). Lenins Verachtung jedes Legalismus war älter als die Kompromittierung der bürgerlichen Ordnung durch die Gewaltorgien des unsinnigen Krieges. Seine „Ursünde“, der proton pseudos, der bis zuletzt nicht mehr behobene Systemfehler des kommunistischen Experiments, bestand darin, die ungeteilte eigene Macht mit der „Herrschaft des Proletariats“ zu verwechseln. Es wäre naiv, äußerte er im September 1917, auf formale Mehrheiten zu warten: „die Geschichte“ würde es uns nicht verzeihen, wenn wir jetzt nicht die Macht ergriffen. Das war, taktisch gesehen, eine zutreffende Einsicht: die einzigartige Chance eines erfolgreichen Putsches der Bolschewiki hing von der fortschreitenden Zerrüttung und Ermüdung des Landes ab, und diese weitgehend vom Zaudern der schwachen demokratischen Koalitionsregierung, die anarchische Landnahme der Bauern zu legalisieren, ebenso wie den Massenstreik der kriegsmüden Soldaten: Mit anderen Worten, das Bündnis mit den „imperialistischen“ Westmächten aufzukündigen.326 Der Separatfrieden mit Deutschland war natürlich der Zwangslage geschuldet, aber in Erwartung der bevorstehenden Weltrevolution. Über sein enormes taktisches Gespür hinaus muss Lenins Demokratie verständnis, abstrakt gesagt, als ein elitäres und hypothetisches bezeichnet werden: es kam ihm nicht auf den tatsächlich geäußerten Willen des Volks, nicht einmal des „Proletariats“ an, sondern auf die „Richtigkeit“ dieses Willens nach seinen, Lenins Kriterien. Wie Rousseau, glaubte er diesen wahren Willen, die volonté générale in klassenmäßiger Interpretation, zu kennen, ohne sich allzusehr um die volonté de tous, die empirische Meinung der Mehrheit, zu kümmern. Deshalb sollte seine Partei eben keine demokratische Plattform zur Meinungsbildung sein, sondern eine auf Machterwerb und Machterhaltung eingeschworene, militärisch disziplinierte Gemeinschaft: nicht Interpret, sondern Führungsorgan der Massen. Wenn der Staat nie etwas anderes ist, als „eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere“, wie es Friedrich Engels unvorsichtig formuliert hatte, dann waren die bolschewistischen Erben Blanquis und Tkačovs noch stärker geneigt, die „formale Demokratie“ und die bürgerlichen Freiheitsrechte als hohle Phrase und heuchlerisches Geschwätz zu verhöhnen, weil diese die bestehenden Eigentumsverhältnisse unangetastet ließ. Ohne sich um Einwände des marxistischen Schriftgelehrten Kautsky († 1938), aber auch Rosa Luxemburgs327 zu scheren, die Zerstörung des Kapitalismus sei noch kein Sozialismus und die Diktatur des Proletariats nur die Diktatur einer Partei, erklärte Lenin die Fassade seiner Herrschaft, nämlich die direkte schöpferische Gewalt der Räte, für „millionenfach demokratischer als jede bürgerliche Demokratie“. 404
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Inmitten von Willkür, Zerrüttung und totaler Rechtlosigkeit träumte er – in der Tradition Saint-Simons wie Sorels – von der Abschaffung auch der Demo kratie als Voraussetzung wahrer Freiheit (Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, 1918). Die Rechtfertigung von Gewalt ist nach Hannah Arendt eine anti-politische Theorie: die Gewalt ist stumm und „kann nie mehr als die Grenzen des politischen Bereichs schützen“ (On Revolution, 1963). Ein solches formales Politikverständnis war für Lenin kleinbürgerliche naturrechtliche Meta physik. Aber auch die Verwirklichung seiner Forderung „Alle Macht den Räten“ hätte die direkte Demokratie einer syndikalisierten Gesellschaft aus autonomen kommunalen Zellen, mit einem Minimum an zentraler Macht, hergestellt. Sie war nie ernst gemeint und verdeckte in Wirklichkeit nur die unumschränkte Herrschaft revolutionärer Kommissare. Eher als politischer Fortschritt war das ironischerweise ein Rückfall in Statthalterwillkür der altrussischen Praxis, ebenso wie Lenins auf Erschießungskommandos gestützte Dekrete eine Art Wiederkehr vorrechtsstaatlicher Ukase der Selbstherrschaft (P. Scheibert). Die durch alte Polizeiwillkür, Krieg und Bürgerkrieg eingeübte Praxis der Gewalt hatte den geradezu Gewaltkult der Bolschewiki zweifellos mitgeprägt: das Gefühl, in einem ständigen Belagerungszustand zu leben, aus dem sie die eigene Ermächtigung zur Gewaltanwendung schöpften und zum System erhoben. Ihr Regime musste jahrelang gegen Widerstand, zum Teil bewaffneten, ankämpfen; aber dieser Widerstand hatte sich weitgehend erst aus Lenins Staatsstreich ergeben, nach dem sich ja die Lebensverhältnisse der Menschen keineswegs verbessert hatten. Als schließlich nach dem Sieg über alle Bürgerkriegsgegner im Frühjahr 1921 die Kronstädter Matrosen, von denen die Revolution der Bolschewiki ausgegangen war, forderten, zum ursprünglichen Sowjetprojekt zurückzukehren, wurden sie als „Konterrevolutionäre“ niedergekämpft. Leo Trotzki († 1940), der seine frühere Kritik an Lenins „Substitution des Proletariats“ und seinen eigenen Wunsch nach dem Aufgehen der Partei in einer breiten Klassenorganisation verdrängt hatte, war von Scham erfüllt, wie tief die Menschen durch den Krieg gefallen waren und sich wie Sklaven unter der Peitsche ihrer Herren gegenseitig töteten. Mit der besonderen Energie und Härte des Proselyten hat der Enttäuschte erst den Umsturz und die Installation der Parteidiktatur, sodann den brutalen Bürgerkrieg organisiert. Die Geschichte kenne keine anderen Mittel, den Klassenwillen des Feindes zu brechen, als die zweckmäßige Anwendung von Gewalt – durch eine Mobilisierung der Massen, aber vor allem den Militärcoup und die von ehemals kaiserlichen Offizieren befehligte Rote Armee aus Bauernsoldaten. Immerhin glaubte der „bewaffnete Prophet“ zwischen vergeblichem Umsichschlagen der reaktionären Klassen und „nachhelfendem“ Terror der revolutionären Diktatur unterscheiden zu können (Terrorismus und Kommunismus, 1920). Die Konstituante, nach deren Einberu405
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fung die Bolschewiki 1917 gerufen hatten, habe nur die „geistige Unreife und Unentschlossenheit“ der russischen Zwischenschichten in Stadt und Land widerspiegelt, erklärte er nun, sie sei „der Revolution“ im Wege gestanden und zu Recht hinweggefegt worden.328 Die Anwendung noch der härtesten Mittel wird durch den imaginären Anspruch gerechtfertigt, dem historischen Fortschritt den Weg zu bahnen. Das ideell herrschende, in der Praxis autoritär beherrschte Proletariat signalisierte dabei einen weniger marxistischen, wie psedo-hegelianischen Primat des Bewusstseins vor dem Sein, den Terrorismus der sittlichen Idee (dazu Abosch: Trotzki).329 Es stimmt, dass die Bolschewiki die Schraube der Gewalt nicht als erste in Bewegung gesetzt hatten, aber sie haben dieser mit ihrem politischen Nihilismus und Reduktionismus eine neue Qualität gegeben. Nicht nur Karl Kautsky, der marxistische Chefideologe, dessen Bücher noch eine Zeitlang nach Lenins Machtübernahme in Russland erschienen, stellte von Anbeginn die fatale Neigung fest, die fehlenden materiellen und intellektuellen Bedingungen durch die Gewalt einer energischen Minderheit zu ersetzen – während der Marxismus in seiner Interpretation gerade die Ohnmacht auch des stärksten Willens gegenüber den objektiven Verhältnissen lehrte. Auch Trotzki berief sich auf „die Geschichte“, aber war zu Lenins Glauben konvertiert, man könne diese überlisten. Konkret hieß das, die erdrückende Mehrheit der durch die Bodenrevolution gestärkten russischen Bauernschaft und ihre Interessen nicht zu vertreten, sondern durch dauerhafte Aufhebung der Demokratie zu unterdrücken (Kautsky: Die Diktatur des Proletariats, 1918).330 Der Bauer, der „nicht anwesende Partner der Arbeiter- und Bauerndiktatur“, war sozusagen der Schwarze Mann der Marxisten (L. Fischer). Der Bauer lebt allein für sich auf seinem Einzelhof, und das Getreide ist in seiner Hand, warnte Lenin, ohne die naheliegende Idee von Marktanreizen als Alternative zur Gewalt zu erwägen: „Damit kann er alle in Knechtschaft bringen“. Es ging natürlich vor allem um die fremde Lebensform einer großen Mehrheit, der die Bolschewiki nach dem weggerafften Großgrundbesitz nichts mehr zu bieten hatten. Aber auch die theoretisch herrschende Klasse war noch immer mit einem Bein auf dem Dorf und in Lenins Sicht durch „unproletarische“ Losungen zu beeinflussen; deshalb schien ihm auch die Parole einer Arbeiterdemokratie nichts als „syndikalistischer Humbug“ zu sein (Lenin im Dezember 1920). Der terroristische Kriegskommunismus, bedingt durch den Kampf ums Überleben im Bürgerkrieg, war vermutlich keine zufällige Episode, sondern geradezu die „Keimzelle der gesamten Sowjetgeschichte“ (M. Malia). Trotzki, der erfolgreiche Kriegskommissar, deklarierte auf dem III. russischen Gewerkschaftskongress, die radikale Beseitigung der Fiktion freier Arbeit sowie das Recht des Sowjetstaates, von den Arbeitern dieselbe Selbstverleug406
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nung, Disziplin und den Eifer zu verlangen, die bisher nur in der Armee gegolten hatten; das sei die unvermeidliche Methode zur Organisierung und Disziplinierung der Arbeitskraft während der Übergangsperiode zum Sozialismus. Die Behauptung der Opposition, dass zwangsmäßige Arbeit immer unproduktiv sei, fertigte Trotzki als „jämmerliches Vorurteil“ ab; in Verhältnissen, die er mit bemerkenswerter Aufrichtigkeit als Zeit „blutiger Anarchie, Verelendung und Entartung“ bezeichnete, in denen die Früchte der Arbeit zehnmal schneller zerstört als geschaffen würden, sei die Militarisierung, die „planmäßige und folglich zwangsmäßige“ Organisation der Arbeit eine Frage des Seins oder Nichtseins der Sowjetmacht. Das Missverhältnis der Bolschewiki zur Demokratie entsprang nur teilweise aus dem Besitz „verfrühter“ Macht, die sie dank einer günstigen Konstellation erringen und nach Ausbleiben der proletarischen Revolution im Westen nicht wieder hergeben wollten. Ihr Wirklichkeitsbezug war von Anbeginn durch maßlose Verachtung des Bestehenden, ja des gesunden Menschenverstandes, und den Traum von einer völlig andersgearteten Zukunft geprägt, die ihre Gewaltexzesse und ökonomische Stümperei aufwiegen sollte. Es mag sein, dass „vieles, was nach Omnipotenz der Staatsmacht aussah, nur Verzweiflungshandeln einer ohnmächtigen Macht…, Improvisation, Reagieren und Lavieren“ war (K. Schlögel). Wenn aber Lenin gleich nach seinem Staatsstreich jede „Spekulation“ mit der Todesstrafe bedrohte, unterband er bewusst die verhasste Warenproduktion und führte eine Praxis willkürlicher Requirierungen und Gängelungen ein, die manche an Methoden Iwans des Schrecklichen erinnerten und später als „Kriegskommunismus“ ideologisiert wurden. 1921 verhungerten in seiner direkten Folge vermutlich nicht weniger als fünf Milllionen Menschen – während Hoovers humanitäres Hilfsprogramm als ‚konterrevolutionäre Intrige‘ verdächtigt und behindert wurde (R. Conquest). Damit hatte sich Sorels Warnung vor der politischen Machtergreifung inkompetenter, anmaßender neuer Herrschaften („associations politico-criminelles“) und ihrer ‚rationalistischen Utopie‘ als nur zu berechtigt erwiesen. Kautsky konnte sarkastisch feststellen, das Regime habe sich zwar mit Hilfe eines vorbürgerlichen Faustrechts materiell behauptet, aber nur um den Preis des Verrats an allen wahren sozialistischen Grundsätzen. Das Ergebnis seien Verheerungen von den Ausmaßen des Dreißigjährigen Krieges und eine apathische Bevölkerung („das schlechteste Menschenmaterial für eine sozialistische Gesellschaft“); vor allem aber die Wiederherstellung zaristischer Strukturen in verschlimmerter Form. Das Regime mache nun gezwungenermaßen Konzessionen an den Kapitalismus, halte jedoch Konzessionen an die Demokratie für politischen Selbstmord; wie der Kapitalismus nach Marx, so produziere es damit nur selbst seine Totengräber (Terrorismus, 1919). 407
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Diese Rolle mochte unter Umständen der herrschenden Machtelite selbst zufallen, die 1921, nicht zum erstenmal, streikenden Arbeitern und Matrosen mit Waffengewalt und einer infamen Verleumdungskampagne begegnete. Lenins Werk hat trotzdem lange Zeit als eine von kritischen Einwänden kaum zu beeinflussende mythische Vision im sorelschen Sinn gewirkt: als immanent-religiöse Hoffnung auf eine völlig andere als die bestehende schlechte Welt. Kautskys vernichtende Kritik war zweifellos berechtigt, allerdings war auch sein marxistisches Vertrauen in eine rationale geschichtliche Höherentwicklung auf der Grundlage der einmal erreichten zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit alles andere als gewiss. Kautsky revidierte seine Behauptung von 1902, wonach der Krieg ein brutales, aber wirksames Mittel des Fortschritts sein könne (Die soziale Revolution), weil ihm dessen irrationalisierende Folgen auf die menschlichen Denk- und Handlungsweisen schmerzlich bewusst geworden waren: die Zerstörung zumindest aller kurzfristigen Erwartungssicherheit, die „Ertötung der Menschlichkeit und Züchtung der Brutalität“. Damit war jedoch für ihn die Rationalität des marxschen Geschichtsprojekts keineswegs widerlegt. Ohne den vermeidbaren Wahnsinn des organisierten europäischen Massenmords hätte es kein Experiment der Bolschewiki gegeben; deshalb hielt der ehrenwerte Dogmatiker auch diesem gegenüber unbeirrt an der ökonomisch bedingten ehernen Logik der Geschichte fest, die Zuwiderhandelnde mit Scheitern bestraft. *** Der Budapester Bankierssohn Georg Lukács († 1971) war schon ein ernstzunehmender Kulturphilosoph und Literaturtheoretiker mit lebensphilosophischem Hintergrund diltheyscher und simmelscher Prägung, als er sich 1917 aus Verachtung und Hass gegen das Leben im Kapitalismus, vor allem Verzweiflung über die Ohnmacht des subjektiven Geistes, zum Marxisten wandelte. Lukács war des relativistischen Historismus überdrüssig und sehnte sich verzweifelt nach einer authentischen Ordnung anstelle der Schwerkraft einer kritikresistenten Gesellschaft der Verdinglichung, deren einzig Wesentliches, die Kunst und die Formen („symbolisch gestaltetes Schicksal“), nur subjektive Erfüllung versprach. Die Gegenwart bot dem Ästheten – in vermeintlichem Unterschied zu älteren organischen Epochen – keinen Anhaltspunkt in Gestalt einer „sinnvollen Totalität“. Es schien ihm ein Zeitalter völliger Entfremdung zu sein, eines Warenfetischismus, der unüberbrückbaren Abgründe zwischen dem Ich und der Welt: den einzig adäquaten Ausdruck dieses spätbürgerlich-dissonanten, erstarrten Geisteszustands bot der Roman bzw. die Ironie als „negative Mystik eines gottlosen Zeitalters“ (Theorie des Romans, 1916); aus der „tranzendentalen Heimatlosigkeit 408
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der Idee“ und dem Fatalismus einer unbeherrschbaren Verdinglichung erschien ihm 1917 die messianische Revolutionsperspektive, vor allem als Erwartung einer neuen menschlichen Kultur. Im Dezember 1918 trat Lukács der kleinen ungarischen KP bei und feierte die im März 1919 vollzogene Vereinigung mit der Sozialdemokratie, wodurch die russischen „Bruderkämpfe“ vermieden werden sollten, als Entstehung einer ‚Partei neuen Typs‘. Als wichtigste Aufgabe der nur vorübergehenden Diktatur des Proletariats erklärte er, die Produktionsordnung in ihre dienende Funktion zurückzustufen und das Postulat vom Menschsein des Menschen, frei von deformierenden Zwängen, zu verwirklichen; zugleich sollte sich der historische Materialismus aus einem Kampfinstrument der Arbeiterklasse in eine Wissenschaft im Dienste der Einheit von Theorie und Praxis verwandeln (Alte und neue Kultur, 1919).331 Als Volksbeauftragter und wichtigster kulturpolitischer Sprecher der kurzlebigen Räteregierung nahm Lukács eine radikal-demokratische, keineswegs sektiererische Neuorganisierung des ungarischen Kulturlebens in Angriff; sie erregte das Missfallen eines Béla Kun, aber der Soziologe Oskar Jászi charakterisierte diese Ansätze später wohlwollend-ironisch als „großzügige Gedanken im luftleeren Raum“. Was Lukács zunächst am Marxismus fesselte, war in der Tat sein ethisch-utopischer Impuls: „Zur Verwirklichung der wahren Freiheit aber ist das Wollen einer Weltordnung notwendig, die über die soziologischen Feststellungen und Gesetzmäßigkeiten hinausgeht und aus diesen nicht ableitbar ist“ (Der Bolschewismus als moralisches Problem, Ende 1918). Der idealistische Wunsch, die „blinde Herrschaft der Objektsphäre“ aufzuheben, ließ Lukács zum erbitterten Gegner jeder „opportunistischen Vernebelung“ des Klassenbewusstseins werden. die vermeintliche Verfälschung von Marx‘ geschichtsphilosophischer Dialektik durch bloße Tatsachenforschung und ethische Kapitalismuskritik mündete in seinen Augen in „Verkleinbürgerlichung der Arbeiterschaft“, also in den Verlust des historischen Endziels. In dem Sinn glaubte er Lenin zu verstehen: Klassenbewusstsein war keineswegs identisch mit den unmittelbaren Gedanken und spontanen Empfindungen der realen Arbeiterschaft, vielmehr mit richtiger Erkenntnis ihrer welthistorischen Aufgabe, sich selbst und damit alle übrigen Unterdrückten zu befreien: mit jenem Punkt, von dem aus die Totalität des gesellschaftlichen Prozesses sichtbar wird (Was ist orthodoxer Marxismus?, 1919). Die hochabstrakte Rhetorik des Kommissars aus geadeltem Haus verrät auf den ersten Blick den krampfhaften Willen, von den wirklichen Problemen der Praxis abzusehen; anderseits gehört zu seinem Begriff der „Totalität“ die vermeintlich unauflösbare Einheit von Kapitalismus, Imperialismus, Weltkrieg und Weltrevolution, aus der er die Sinnlosigkeit des Versuchs ableitet, den hochentwickelten Kapitalismus ohne imperialistische Auswüchse und Militarismus 409
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enken oder gar praktisch reformieren zu wollen. Wie bei Clausewitz, stellt der d Krieg nur die Fortsetzung der bestehenden Tendenzen dar, und wie bei Clausewitz ist der kürzeste Weg der der Vernichtung des Gegners – während die „Klassenkampfpazifisten“ mit ihrem Herumdoktern an Symptomen nur die Leiden des Untergangs verlängern. Außerhalb der Eschatologie einer Totalrevolution, des „qualitativen Umschlagens“, war kein Heil, nur innere Leere einer „Gelehrtenstuben-Objektivität“ (Rosa Luxemburg als Marxist, 1921). Im Hinblick auf die ungünstigen objektiven Bedingungen für die Revolution suchte Lukács die entscheidende Kraft beim „subjektiven Faktor“: den Verhaltensstrukturen der Volksmassen, die ihre ‚Vorhut‘ auch in Ungarn im Stich gelassen hatten. Das Proletariat, glaubte er, müsse deshalb nicht nur gegen seine äußeren Unterdrücker ankämpfen, sondern ebenso gegen sein eigenes falsches Bewusstsein aus der Epoche kapitalistischer „Verdinglichung“.332 Der Klassenkampf des Proletariats war aber nicht einfach in moralische Wirklichkeit umsetzbar, wie der engagierte junge Idealist geglaubt hatte, im Gegenteil. In unaufhebbar tragischen Situationen, hieß es nun, sei im Vollzug des „geschichtsphilosophischen Befehls“ der welthistorischen Situation unter Umständen ein Opfer des moralischen Ich notwendig (Taktik und Ethik, 1919). Im Wiener Exil konnte der visionäre Kulturkritiker lange über das Thema seines Titels nachdenken. Peinlich war dabei Rosa Luxemburgs posthum herausgegebene Kritik an der russischen Revolution (wie oben). Gegen die hochgeschätzte Märtyrerin der Revolution brachte Lukács vor allem die Überschätzung der spontanen Kräfte im revolutionären Prozess vor, die Tatsache der Vergiftung auch des siegreichen Proletariats durch ‚fremde‘ Ideologien. Im Augenblick des Auseinanderfallens der kapitalistischen Ordnung komme alles darauf an, dem Proletariat zu vermitteln, was es zu wollen hat: nur so vermag es, die historische Möglichkeit in Wirklichkeit zu verwandeln und nicht zuletzt auch dem Kampf der bäuerlichen Mehrheit eine Richtung zu geben, deren blinde Energien für die Revolution zu nutzen. Dazu ist aber nicht das Proletariat schlechthin imstande, sondern nur eine Organisation, die Theorie und Praxis konsequent verbindet und den Massen immer einen Schritt voraus ist, so Lukács in seiner Würdigung Lenins (1924). Die Unverzichtbarkeit einer leninschen Kaderpartei aus diszipinierten, aufopferungsvollen Berufsrevolutionären ergibt sich auch aus dem Umstand, dass die Ökonomik des Sozialismus sich nicht, wie die kapitalistische, spontan durchsetzt, sondern auf die Machtmittel des Sowjetsystems angewiesen ist; schon deshalb dürfe sich das Proletariat in Sachen Freiheit und Demokratie nicht festlegen. Freiheit ist für den ernüchterten Protagonisten des ‚Menschseins des Menschen‘ kein Wert an sich mehr, sondern nur ein flexibel-dialektisch einsetzbares Mittel zum möglichen Nutzen der einzig absoluten Sache – der Revolu410
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tion. Bezeichnend für die Kapitulation des rebellischen Schöngeists vor leninistischer Parteidisziplin war seine hegelianische Absage an jeden „rohen Empirismus“ und an alle bloßen Palliativmittel gegen die diabolisierte kapitalistische Entfremdung (die er von „Verdinglichung“ unterschied); die totalitäre Perspektive hatte für seine Eschatologie nichts Erschreckendes im Vergleich zu den Gefahren des opportunistischen Verlusts der großen Perspektive. Mit „menschewistischen Verrätern“ war nicht über Missverständnisse zu diskutieren, man musste sich von ihnen organisatorisch trennen und eben den „Bruderkrieg“ führen, den der junge Lukács noch vermeiden wollte (Geschichte und Klassen bewusstsein, 1923; Lenin, 1924). Angesichts der heraufziehenden Reaktion kamen Lukács erneut Zweifel, so dass er eine Wende vom „linken Sektierertum“ in Richtung einer Zusammenarbeit der Linken vorschlug, was aber wieder der damaligen Linie der Komintern widersprach; wegen seines drohenden Parteiausschlusses übte er sich in Selbstkritik und zog sich ab 1929 auf Literaturtheorie und Philosophiegeschichte zurück. Auch hier blieb sein Weg keineswegs unangefochten und wurde von neuen erzwungenen Selbstkritiken unterbrochen, die er nachträglich (1967) als „Eintrittskarten zum weiteren Partisanenkampf“ etikettierte. *** Gleichaltrig und von ähnlicher kulturphilosophischer Prägung wie Lukács war sein Weggenosse Ernst Bloch († 1977). Anders als der trocken-abstrakte Asket, der sich vor der „vernichtenden Wirkung des Glücks“ fürchtete, war dieser von sprühendem Temperament und verfügte über eine suggestive, bildhafte Sprache; dem wohlhabenden Freund, der manchmal seine Rechnungen begleichen musste, wünschte er in einem frühen Brief „etwas mehr dumme Gesundheit“ und das „Nachlassen des allzu logischen Konstruierens“. Gemeinsam war beiden die Übersättigung an der bürgerlichen Kultur, auch am Historismus, der „jede Stellung so gut versteht, dass er sich für keine zu entscheiden braucht“, und nur eine gleichwertige quasi Schmetterlingssammlung für die Kontemplation übrig bleibt, wie Bloch später über Karl Mannheims alles relativierende Wissenssoziologie befand. Spezifisch ‚blochisch‘ war die enthüllende Formel von der Welt als „Labyrinth mit dem Leitfaden zum Minotauros am Ende“; dagegen setzte er die alte Botschaft vom aufrechten Gang, vom kämpfenden und „ungarantiert hoffenden“ Menschen (Ontologien der Fülle, in: Erbschaft dieser Zeit). Die messianische Sehnsucht nach Erlösung der unheilen Welt, die Dialektik von Verzweiflung und Empörung, Empörung und Hoffnung, verband beide jüdischen Bildungsbürger. Der Weltkrieg verschlug den erst dreißigjährigen Bloch in die neutrale Schweiz, wo er, zusammen mit dem Dadaisten Hugo Ball sowie anderen Demo411
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kraten und Pazifisten, teilweise mit Hilfe von Ententegeldern, die radikal deutschlandkritische Freie Zeitung herausgab. Eher als an absolutem Pazifismus, für den „die Entente und Preußen gleichmäßig fleurs du mal“ waren, begeisterte man sich für Wilsons Programm einer demokratischen Reorganisation der Welt: das Radikal-Böse, in Verkörperung der alldeutschen Machtpolitik, schien nicht durch Worte, sondern allein durch Kanonen widerlegbar, wie Bloch immer wieder hervorhob (Was schadet und was nutzt Deutschland ein feindlicher Sieg?).333 Der Kampf gegen deutsche Machtbesessenheit durfte nicht vorzeitig abgebrochen werden, das zeigten die schlimmen Folgen von Lenins Sonderfrieden von Brest-Litowsk. Lenin wurde aber damals von Bloch nicht nur wegen der Ermutigung deutscher Hybris angegriffen. Es ging auch um hypertrophierenden Machtwillen: die Mittel trübten den Blick für das Ziel, ja ließen es stellenweise vergessen. Der Inhalt hatte sich durch die revolutionäre Machtergreifung wohl verändert, „aber die Gewalt, die Form der Gewalt ist dieselbe geblieben.“ Das Argument, wonach Russland noch nicht genügend ‚durchproletarisiert‘ sei, um diktatorischer Mittel entbehren zu können, gelten dem Bloch von 1918 als Ausrede. Wenngleich noch keine westliche Zivilisation: Kultur zur Freiheit habe das russische Volk auch in seiner Armut und Rückständigkeit. Dabei scheint ihm das gegenwärtige Russland „irgendwie in seine alten Formen zurückzuspielen“, und wenn es keine echte Freiheit und Demokratie verwirklicht, bleibt die pure Machtgebärde, wenn nicht das „große Zuchthaus“ (Lenin, der ‚rote Zar‘, Februar 1918). Später schrieb Bloch wütend, von der Revolution der Maximalisten, die vor Deutschland so minim geworden seien, bliebe nichts als Reaktion übrig: Plündernder Soldatenpöbel habe nichts mit radikalem Sozialismus zu tun, schon gar nichts mit ökonomisch-sozialer Demokratie. Auch die eigentlich ersehnte deutsche Revolution war nicht nach Blochs Geschmack; zu viel „gleitende Fortsetzung bisheriger kleinbürgerlicher, schuldbeladener Kriegsmentalität“ schien hier am Werk, mit Ausnahme Kurt Eisners kaum ein Zeichen von Reue und Umkehr. So macht man keine Revolutionen: grau, freudlos, ohne sittlichen Zukunftsgeist und utopisches Feuer, sah er das geschlagene Deutschland, „betrogen und weiter betrügend“. Wilsons Geist des humanitären Aufbruchs, eine Mystik der Brüderlichkeit müsste in das dumpfe Land einziehen, mit dem Bloch in Hassliebe verbunden blieb. – Worauf es dem radikalen Messianisten eigentlich ankam, verrät ein früherer Aufsatz vom April 1918, in dem er die fragwürdige Assimilation der Juden an ein gesinnungsschwaches deutsches Bürgertum und an ein „krankes, schuldbeladenes Europa“ aufgriff, um ihm das wahre Zion entgegenzusetzen, ein freies Weltbürgertum, befreit von allem beschränkt-Nationalen und „eins mit allem, was Freiheit, bessere Zukunft, Demokratie und Bund der Weltrepubliken heißt“: eine die durch den Krieg brutalisierte Wirklichkeit überfordernde Vision. 412
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Die prophetische Sehnsucht nach einer „in Gott geeinten, gläubigreinen und erlösten Menschheit“ wird Bloch zum symbolischen Zielpunkt alles Wartens, Hoffens, Schaffens und Glaubens; das beschworene messianische Gewissen der Welt zielt aber nicht auf Balfour-Deklaration und die Aussicht der Juden, „asiatisch“ zu werden, wie auf den Bruch mit allen Mächten der Vergangenheit (Die deutschen Juden, April 1918). An solchen Kriterien gewogen, musste die traumatisierte und desorientierte deutsche Republik ohne Republikaner zu leicht befunden werden. Im selben Jahr veröffentlichte Bloch sein Buch über den Geist der Utopie, kulturphilosophische Essays simmelscher Art, wiewohl er sich mit dem ehemaligen Lehrer, ebenso wie mit Max Scheler, wegen deren deutschem Kriegspatriotismus überworfen hatte. Trotz seines eigentlich unpolitisch-mystischen Tons enthielt das Buch eine durchaus aktuelle radikale Botschaft: die Ausrichtung der Dinge auf die Zukunft, auf ein utopisches „Noch-Nicht“, eine „Heimat, in der man noch niemals war“. Anstelle der banal-realistischen Tatsachenlogik weist der Autor, nicht gerade marxistisch, auf eine andere, quijotische Logik der Verpflichtung aufs überhöhte Wahre. Aus dem Dunkel des eigenen Unbekanntseins oder Verschollenseins („wir wissen überhaupt nicht, wer oder was wir sind“) entsteht ihm das Zukünftige paradoxerweise als noch vergrößertes Dunkel, mit Gott als Chiffre des radikal Neuen, als Hoffnung, ergriffen „im bloßen sehnsüchtigen Zusammentreffen“ der beiden Dunkelheiten des Augenblicks und des noch Ungeschehenen: Nur die Musik nimmt schon hie und da an beidem teil (Geist der Utopie, 1918). Blochs mystische Sprache trifft dabei durchaus relevante Aspekte eines nur scheinbar ‚weltlichen‘ Themas.. Erst diese philosophisch-mystische Dimension einer „unkonstruierbaren Frage“, nämlich der messianischen Erwartung, erschließt den eigentlichen Stellenwert von Blochs politischen Aktivitäten der letzten Weltkriegsjahre. Der Morgen einer neuen Parusie wird zum teleologischen Geschichtshintergrund, der erst dem Verwirklichen (dem „Unwirklichsten, das es gibt“), allem Strom menschlichen Schaffens, die Richtung weist. Das an sich nur Literaturhafte der geistigen Gebilde rechtfertigt sich in dieser schwärmerischen Sicht als Stichworte eines Traums, aus dem zuletzt die „Wahrheit der ganzen Welt“ entstehen soll; die Geschichte wird zum großen Feldzugsplan der Zivilisation und Kultur gegen menschliche Gemeinheit und die Unordnung dieser Welt (Ebenda). 1919 kehrte Bloch ins aufgewühlte, vom Weltkrieg verheerte und durch einen misslungenen Neuanfang verwirrte, „lichtlose“ Deutschland zurück. Der Vaterlandsverräter fand, sowenig wie andere Pazifisten, Boden unter den Füßen. So gab er seiner Enttäuschung, auch über die eigenen in Wilson gesetzten Erwartungen, Ausdruck – in einer scheinbar rückwärtsgewandten Arbeit über chiliastisches Gotteskämpfertum. Für den Fortschritt in der Geschichte findet er dabei 413
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die einprägsame Formel einer „harten, gefährdeten Fahrt“: „Leiden, Wandern, Irren, Suchen nach der verlorenen Heimat“ – gewiss aus alttestamentarischer Inspiration, aber nicht einfach auf den Zionismus im engeren Sinn bezogen. „Eine Räuberhöhle kann nicht reformiert, sie kann nur ausgehoben und ursächlich vernichtet werden.“ Das war die Absage an sozialdemokratisches Herumdoktern an partiellen Übeln, wie sie auch die Frankfurter Schule formulierte, die allerdings den Glauben an das Proletariat als Träger des revolutionären Fortschritts verloren hatte. Aus Blochs Position klingt aber noch eine andere Variante an, die gefährlich-geschichtsträchtige Erwartung nämlich, dass in den beiden besonders heimgesuchten Ländern: Deutschland und Russland, eine unterirdisch wirkende radikale Eschatologie emporkommen könnte, als Vereinigung von Marxismus und dem Traum des Unbedingten, mit dem Ziel einer Zerstörung des Bisherigen, in dem der Mensch ein gedrücktes, verächtliches ein verschollenes Wesen war (Thomas Münzer als Theologe der Revolution, 1921). Das prophetische Pathos lehrte seine Anhänger Sterben ohne Hoffnung auf Auferstehung, und doch „als Bekenner, überlegen, wie nur je ein Urchrist“ (Bloch). Es wollte Verständnis wecken für ein außerordentliches Geschehen und entwickelte für dieses eine Tabuisierungsstrategie, die dem Wunschdenken von sensiblen Intellektuellen entsprach, aber kritische Einsicht behinderte. Als die aus der Revolution hervorgegangene Diktatur ihrer nicht mehr bedurfte, warf sie mit den Trägern der bisherigen Kultur auch ihre avantgardistischen, futuristischen, konstruktivistischen, imaginistischen Mitläufer auf den „Abfallhaufen der Geschichte“. Wir können Blochs Weg hier nicht weiter verfolgen. Seine geradezu mystische Sehnsucht nach Erfüllung ließ ihn, wie Lukács, die widerspenstige Realität ausblenden oder projektiv verklären: die herbeibeschworene beflügelnde Perspektive verhinderte eine unvoreingenommene Sicht der Tatsachen.334 Weil er, wie viele linke Intellektuelle der Zwischenkriegszeit, in Sowjetrussland den „einzigen Joker im Spiel“ (Hobsbawm) zu sehen glaubte, verbarg das Dach seines ‚Prinzips Hoffnung‘ allzu oft Verabscheuungswürdiges; wie Blochs Sohn Jan Robert 1991 bitter feststellen musste, begriff der gesuchte aufrechte Gang so manche Verbeugung und Unterwerfung ein. In einem Aufsatz aus Erbschaft dieser Zeit (1935) heißt es in ungewollter Selbstbeschreibung: „Wer sich verkauft, gibt sich nicht immer ganz“; in diesem Sinn sind Blochs Identifikationen mit dem Land Utopia, das sich als Animal’s farm entpuppt (Raddatz), nie ohne listige Widerhaken, nie bloß Verblendung und Tagtraum. Immer ist in ihnen auch ein Stachel enthalten, die Ermunterung, das Fragmentarische und Potentielle zum möglichen Ganzen hin weiterzutreiben. Wenige Jahre bevor der 76jährige noch einmal in Enttäuschung seine Zelte im missratenen Arbeiter- und Bauernstaat abbrach, veröffentlichte er einen erweiterten Akademievortrag, Differenzierungen im Begriff Fortschritt (1957). Es war 414
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noch keine Absage an den realen Sozialismus, wohl aber an einen vulgärmarxistischen naturwissenschaftlich geprägten amtlichen Dogmatismus mit seinem gesetzmäßigen historischen Nacheinander, an die „abstrakte Vergötzung der Zeitfolge“, und ein Plädoyer für die „vielspännig fahrende“ Menschheit. Geschichtliche Zeit, so betont er, ist qualitative Tendenzzeit, kein gleichförmiges Fließen von der Art der Uhrzeit mit ihrer Gleichgültigkeit gegenüber den Inhalten; kein endloser Fortlauf und nur quantitatives Wachstum. Fortschritt ist immer „zu etwas hin“, ist werthaft bezogene, verdichtete Zeit auf eine noch unfertige Zukunft hin. Er sollte auch nicht als einliniges, europäisch einzuebnendes Geschehen aufgefasst werden, eher als ein dynamisches „Multiversum“, dem jedoch ein umfassender utopisch-real fundierter Zurechnungspunkt, ein antizipierbares Humanum zugrundeliegen müsste. Der „Materialist“ gebraucht den Begriff Weltvertrauen und spricht von einem von Anbeginn gegebenen Eschaton, ohne das die einzelnen Sinngehalte des Fortschritts ihren Halt verlieren. Auch in Tübingen (ab 1961) verlor er die übergreifende Hoffnung nicht, verband diese aber nicht mehr mit dem in rosa Revolutionsnebel gehüllten polizeibürokratischen Sowjetsystem. *** Im Verlauf des russischen Bürgerkriegs hatte sich aus dem Chaos der Anfänge ein zunächst improvisiertes, aber mit Hilfe von Tscheka, Roter Armee und alter Bürokratie einigermaßen gefestigtes Machtgefüge herausgebildet, das die eingeschüchterte, in Elend nivellierte Gesellschaft in seinem Griff hielt. Der Markt war durch eine Praxis gewaltsamer Requirierungen und naturalwirtschaftlichen Tauschs ersetzt worden, was man aus der Ferne eine Zeit lang als Errungenschaft darzustellen liebte. Aber das Absinken nicht nur der Industrieproduktion, sondern auch der Landwirtschaft auf etwa ein Drittel ihres Vorkriegsstands, in Verbindung mit Hungersnot, verzweifelten lokalen Aufständen und Streiks, hatte zur Folge, dass sich die herrschende Partei widerwillig gezwungen sah, die verleugneten ökonomischen Gesetzmäßigkeiten zumindest teilweise anzuerkennen. Das war der Sinn der 1921 eingeleiteten Neuen Ökonomischen Politik. Die vorangegangene Zerstörung der Produktivkräfte war jedoch keine einfache Konsequenz von sieben Jahren Krieg, Bürgerkrieg, Seuchen, eines verlorenen sozialen Gleichgewichts und nicht zuletzt des Verlusts von anderthalb Millionen Emigranten aus den proskribierten Besitz- und Bildungsschichten. Zum ideologisch bedingten Kampf der Bolschewiki gegen Kapital und Markt kam die ungewollte Verwandlung der alten Überschuss-Landwirtschaft in einen Flickteppich aus 5 Millionen rückständiger Kleinproduzenten, die kaum mehr als den Eigenbedarf erwirtschafteten. Wenn man diesen nun den Verkauf ihrer geringen Überschüsse 415
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gestattete, führte das zu einer gewissen Erholung, doch zu keiner befriedigenden Lösung. Trotz späterer Aufwertungsversuche sah die Partei in der NEP nichts als eine Atempause à la Brest-Litowsk, einen taktischen Teilrückzug vom eigentlich Angestrebten, einen zeitweilig geduldeten, doch ständig gemaßregelten und mit Misstrauen und Abscheu betrachteten Sektor. Während die Erwartung weiterer Revolutionen in der Weit allmählich in sich zusammenfiel, verstärkte sich in der von Diadochenstreit, Säuberungswellen und Verapparatisierung geprägten Machtelite das Gefühl einer auch im Inneren von Feinden belagerten Festung; schon 1922 hatte Lenin die Gefahr an die Wand gemalt, dass die bolschewistischen Eroberer, wie die Waräger, von den Besiegten assimiliert werden könnten. Dem Bedrohungsgefühl entsprach das gewohnte manichäische Denken in militärischen Kategorien. Gewiss waren die zwanziger Jahre auch eine Zeit bemerkenswerter kultureller Experimente, futuristischer Manifeste335 und gesetzgeberischer Ansätze, aber alles andere als einer politischen Lockerung; auch die mit Begeisterung aufgegriffenen modernen Kommunikationsmittel Rundfunk und Film sollten vor allem propagandistisch eingesetzt werden, um das Bewusstsein der Bevölkerung im Sinn der herrschenden Parteielite zu formen. Die Ungeduld einer durch die Wiederkehr eines primitiven Kapitalismus verunsicherten revolutionären Diktatur war nicht auf die „linke Opposition“ beschränkt, und ging auch nicht nur von Stalin († 1953) aus, der sich durch Intrigen und seine unauffällige Herrschaft über die Parteikader als Nachfolger Lenins und ab 1928 unangefochtener Führer durchgesetzt hatte. Zwar besaß das Ideologische bei der neuen Führung einen geringeren Stellenwert als bei den alten Bolschewiki, aber der marxistische Stachel eines sich als proletarisch verstehenden Staates auf der Basis rückständiger Bauernmassen saß nach wie vor tief; die Entscheidung für eine militaristische Lösung des Problems entsprach ganz dem Geist des Leninismus (Malia). Ebenso wichtig war der technokratische Glaube an die totale Machbarkeit, die wissenschaftliche Formbarkeit des Menschen eingeschlossen. Die zweite gewalttätige Revolution nahm das Gesicht einer begeisterten ingenieurhaften Modernisierung Russlands an, aber war konkret auch ein Feldzug gegen den „Idiotismus“ der Massen rückständiger Bauern. „Ihr alle, die ihr ein Schafsfell tragt, der Metzger wetzt für euch schon das Messer“ (Sergej Jessenin). Der brutale Krieg gegen das russische Dorf wurde vom Zaun gebrochen als überfälliger Bruch mit dem „Asiatentum“ des Dorfes, als notwendiger Vollzug der Revolutionsalgebra (Herzen), allerdings hatte sich fast alle Substanz aus dem proletarischen Staatsverständnls verflüchtigt: Der Klassenkampf als vermeintliches Triebrad der Geschichte war verblasst, aber der rücksichtslose Kampf an sich als konkrete Wirklichkeit war geblieben (R. Conquest). Bis 1934 endete die stalinsche Revolution mit der Zwangskollektivierung 416
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von 70% der Bauernwirtschaften und der Helotisierung ihrer Besitzer. Wenn der brutale Feldzug ursprünglich die notwendigen Mittel zur Industrialisierung einbringen sollte, dann eskalierte die entfesselte Gewalt in der Praxis zu Orgien der Vernichtung mit vermutlich 5,5 Millionen Toten, und geriet auch ökonomisch zum Desaster. Eine neue Ironie der Geschichte: Die Macht schuf sich, im Gegensatz zum marxistischen Basis-Überbau-Determinismus, nachholend den fehlenden Unterbau, nämlich eine proletarisierte, staatsabhängige Masse. Aus dem totalitären Willen einer herrschenden Minderheit entsprang derart, wie aus dem Kopf des Zeus, eine neuartige Logik, die auf Sachargumente mit der Vernichtung der Sache und der Schaffung einer anderen Wirklichkeit reagierte. War damit der historische Materialismus obsolet geworden? Gewiss nicht in der Version von Stalins Parteikatechismus, wohl aber im sorelschen Mythos der Fünfjahrespläne und in der Autosuggestion des Neuen Menschen, dem „nichts unmöglich“ sein sollte. Den ausgeblendeten Kontrapunkt des voluntaristischen Höhenflugs bildeten nicht nur die ehemaligen Bauern, ein zur Fronarbeit gezwungenes, apathisches Landproletariat, und die kollektivierte Landwirtschaft, die trotz aller nachträglich angelieferten Technik bis zuletzt ineffektiv blieb; 30 Millionen verelendeter, rechtloser Dörfler flüchteten in die entstehenden Industrieregionen.336 Die Revolution von oben war auch in der Stadt begleitet von extremer Unfreiheit und Unterversorgung, auch wachsender Ungleichheit, sowie einer allgemeinen Atmosphäre irrationaler Verdächtigungen, aus der die berüchtigten Schauprozesse nur wie der Gipfel eines Eisbergs herausragten. „Ein Mensch – ein Problem, kein Mensch – kein Problem“ lautete Stalins Rezept gegenüber kritischen Einwänden und potentiellen Gefahren. Doch schätzte auch Lenin derartige Methoden; er selbst traktierte Opponenten häufig als konterrevolutionäre Agenten, Blutsauger, Saboteure, Betrüger oder Gauner; das Prokrustesbett seiner Dogmen war der empirischen Welt und lebendigen Menschen stets vorgeordnet. Gegenüber Gorki, der sich bei ihm um die Rettung einzelner vor dem Terror bemühte, äußerte er kühl: „Finden Sie nicht, dass Sie sich mit Torheiten und Bagatellen abgeben?“ Das ständig wachsende GULAG-System mit Millionen Insassen entwickelte sich, analog zur surrealen Logik des Regimes, aus einem Instrument des Terrors zu einer parallelen Sklavenwirtschaft als gewichtiger Faktor der ruhmreichen sozialistischen Prestigeprojekte.337 Zwischen 1929 und 1939 verdoppelte sich die städtische Bevölkerung. Immerhin verwandelte sich die neue Sowjetunion, wenn auch unter unsäglicher Vergeudung von menschlichen und materiellen Ressourcen, in einen großen Industriestaat mit erheblichen modernen Kapazitäten, nicht zuletzt militärischen. Der Umstand, dass der Einzug ins „stählerne Zeitalter“ nicht mit regulären Mitteln, sondern auf dem Befehlsweg vollzogen wurde, galt angesichts 417
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der gleichzeitigen Weltwirtschaftskrise meist sogar als großer Vorteil der Planwirtschaft gegenüber der „Marktanarchie“. Die Fehlplanungen durch mangelnden Sachverstand und technokratischen Größenwahn338 wurden im Ausland ebensowenig durchschaut, wie die imponierenden falschen Wachstumsraten. Die Werte und Institutionen der liberalen Demokratie waren auch im Westen in hohem Maß problematisch geworden und spätestens 1929 politischer wie ökonomischer Orientierungslosigkeit gewichen. Die russische Spielart einer Rücknahme des Individualismus und Pluralismus der europäischen Moderne, die Abschaffung nicht nur von Privateigentum, sondern auch der Rechtssicherheit zugunsten einer samjatinschen Vision des verordneten uniformierten Glücks erschien deshalb vielen nicht nur hinnehmbar, sondern als die Morgenröte einer Neuen Zivilisation. Hatte sich in den Jahren der NEP noch ein Nebeneinander von staatsbürokratischem Kommando, spontanen kulturellen und sozialen Experimenten, realistischer Revolutionsliteratur, Bauerntümelei und geduldeten Resten älterer unpolitischer Kunst und Wissenschaft gegeben, so läutete der abenteuerliche Große Sprung auch eine völlig durchideologisierte Steuerung aller Kulturbereiche ein. Das hieß, parallel zur Ausschaltung der erschöpften, erst zu unwürdiger Selbstkritik gezwungenen und danach liquidierten alten Bolschewiki durch Stalin, die Unterdrückung der meisten selbständigen, sogar prorevolutionären, Ansätze und die direkte Lenkung durch ZK-Abteilungen, oft Stalin selbst, den „Verderber der Seelen und Bauernschlächter“ (O. Mandelstam). Sogar die klassische Literatur der Revolutionsepoche wurde zu einem großen Teil unterdrückt oder korrigiert, einige der Autoren, wie Babel oder Pilnjak, ermordet, andere verstummten. Zur Selbstverleugnung bereite, patriotische Rückkehrer aus der Emigration, wie N. Ustrjalow, wurden in einer Atmosphäre der Intellektuellen- und Expertenhetze, der Schauprozesse und Spionomanie erschossen. Der technokratisch-utopische Hasard, der auf einer Missachtung der armseligen Wirklichkeit samt den sachverständigen Bremsern beruhte, musste auch ein irreales gesellschaftliches Bewusstsein herzustellen versuchen, das gegen kritische Einsichten immunisierte. Was spätere Kulturkritiker, wie Michel Foucault, als Zurichtung der Menschen in der Moderne, als politische Definition des Erwünschten und Ausgrenzung der Nichtangepassten denunzieren sollten, hier fand es in extremer Form statt und trug den Namen Stalins, des „Augustus der Sowjetunion“ (Feuchtwanger). Man hielt den chaotischen Aufbruch aus alter Verschlafenheit, Aberglauben und Barbarei für beschleunigten Fortschritt, und nicht nur naiv-gutwillige Literaten, sondern auch Industriemagnaten, wie Krupp, Borsig und Siemens waren beeindruckt; in mancher Hinsicht entsprachen dem Geschehen der dreißiger Jahre aber eher Kategorien der Massenwahntheorie.339 Das „Ineinander von Terror und Traum“ (Schlögel) kommt zum Ausdruck in der 418
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Parallelität der Vorbereitungen allgemeiner demokratischer Wahlen zum Obersten Sowjet und der Aktion massenhafter Liquidierung von Hunderttausenden im Juli 1937. Von den 1966 Delegierten des 17.Parteitags (1934) wurden 1108 als „Konterrevolutionäre“ verhaftet und meist liquidiert. In einer künstlich erzeugten hysterischen Lynchstimmung wurden immer neue Gruppen zu Schädlingen erklärt und in einer Verhaftungs- und Erschießungsorgie eliminiert. Nach der Vernichtung der altbolschewistischen, längst gebrochenen „Toten auf Abruf“ und der Unterdrückung jeder Kritik innerhalb der herrschenden Partei begann der „offene, ehrliche Mann, dem alle vertrauen“ (H. G. Wells) prophylaktisch gegen die nachgerückten Parteikader und Wirtschaftsfunktionäre zu wüten. 1937 war die Armeeführung mit etwa 30 000 erschossenen Offizieren an der Reihe; zuletzt Stalins eigentliches Folter- und Mordinstrument, der NKWD mit 21 000 zu Sündenböcken gemachten und ebenfalls erschossenen Mitarbeitern. Und überall standen bereitwillige junge Karrieristen in den Startlöchern, während sich der unfehlbare große Führer in byzantinischen Lobes- und Ergebenheitsritualen huldigen ließ. Die Verfassung von 1936 eröffnete die Phase des ‚entwickelten Sozialismus‘, in der es keine Klassen und keine Experimente mehr gab. Scheidungen und Abtreibungen wurden seit 1936 erschwert, die Mutterschaft verherrlicht und in den Schulen Noten und Uniformen eingeführt. Die Macht, die sich schon unter Lenin von den meisten sozialistischen Grundsätzen emanzipiert hatte, verlor nun hinter einer manipulierten Propagandafassade den Rest ihrer Substanz. Stalin repräsentierte nicht nur, sondern war die Partei, und sein von jeder Kontrollinstanz gelöster, enthemmter Wille bestimmte, was politisch, ideologisch, wissenschaftlich zu gelten hatte, ja auch was sich in der Vergangenheit, zumal der jüngsten, zugetragen haben sollte. Zwar bezog auch er seine Entscheidungen auf eine eher illusorische ‚historische Gesetzmäßigkeit‘, doch nur so weit, wie das seiner zum Selbstzweck gewordenen Macht diente. Das Vertrauen in die Geschichte und der Glaube an einen ihr immanenten Fortschritt auf eine freie, brüderliche Menschheit hin war auf die Ermächtigung zu Untaten in immer monströserem Ausmaß geschrumpft. Aus dem Autismus einer irrwitzigen „Revolution“, die die Partei Lenins samt einem Großteil des Staats-, Wirtschafts- und Verwaltungsapparats auslöschte und neu konstituierte (G. Koenen), rettete den stalinschen National-Sozialismus paradoxerweise die von Hitler ausgehende reale Gefahr.340 Es ist hier nicht der Ort, die Unterschiede und die wechselnden Beziehungen der zwei verfeindeten Totalitarismen darzustellen, die beide aus dem Weltkrieg hervorgegangen, auf eine Weise die grobe Karikatur einer Gemeinschaftsvision darstellten.341 Halten wir nur die Tatsache ihrer gegenseitigen Rechtfertigung fest: wie die NS-Diktatur, trotz ihres rassistischen Expansionismus, für viele 419
VI. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert
nicht-deutsche Antikommunisten eine erhebliche Anziehungskraft entwickelte, so gewann Stalins Reich nach 1933 und wieder seit 1941, trotz aller Scheußlichkeiten, für die von Hitler Bedrängten hohe Hoffnungsqualität. Es mag sein, dass die Politik der dreißiger Jahre in beiden Diktaturen ideologiegeprägt war (Hobsbawm) und die auf Beschwichtigung und Ausgleich bedachten „Realpolitiker“ die Lage falsch einschätzten, doch war die Generallinie nach Bedarf zynisch manipulierbar und ihre Methoden gegenseitig kopierbar; zeitweilig schien sogar ein Kondominium über Europa unter Zurückstellung des ideologischen Kerns im Bereich des Möglichen zu liegen. Auch für eine erfolgreiche Kriegführung war doktrinäre Verbohrtheit kontraproduktiv. Hitlers Ostfeldzug verschmähte bekanntlich die erhebliche Kollaborationsbereitschaft von Stalins unterdrückten Völkern. Und dieser war schon vor 1941 unter Hintanstellung des proletarischen Internationalismus auf großrussisch-imperiale Politik umgeschwenkt und trat, nicht nur mit Gebietsansprüchen und ethnisch-kollektivistischen Flurbereinigungen, als Erbe des Zarenreiches auf. Die marxistische historische Schule Pokrovskijs, die in den zwanziger Jahren kanonischen Charakter besessen hatte, wurde durch eine patriotisch-voluntaristische Konzeption ersetzt, auch wenn die positive Würdigung der älteren russischen Geschichte eine nur selektive blieb. Wenn der Diktator den Abwehrkampf gegen die deutsche Invasion als „Großen Vaterländischen Krieg“ führen ließ, war das ein Beweis pragmatischer Verschlagenheit, auch wenn sie zunächst wenig nutzte und die Rote Armee nach sieben Monaten Krieg 3,9 Millionen Verluste an Kriegsgefangenen verzeichnen musste. Der Krieg hätte eine echte Chance geboten, über den eigenen Schatten zu springen; Stalins abgründiges Misstrauen gegen jeden, wohl auch das Register unvergessener Verbrechen, gestatteten es aber nicht, der Hoffnung seiner geplagten Untertanen auf Versöhnung mehr als nur äußerlich zu entsprechen und ihren Leidensweg tatsächlich zu Pasternaks „Sturm der Läuterung“ werden zu lassen. Stalin war außerstande, ein anderer zu werden, ja psychologisch verhinderte der große Sieg, der mit dem Fünffachen an eigenen Opfern gegenüber dem Angreifer eher ein Pyrrhussieg war, den notwendigen Lernprozess. Er vertraute zu Recht darauf, dass der schließliche Triumph auch rückwirkend die Phantasie der Menschen in seinen Bann ziehen und die vorangegangenen Übel als notwendige Schritte des vorausblickenden großen Führers erscheinen lassen würde. Und wenn die Nationalsozialisten mit ihren Massenmorden und ihres Versklavungsplänen das absolut Böse verkörperten, sprach einiges dafür, die Untaten von Stalins Schergen milder zu beurteilen, wenn nicht ganz zu verdrängen. Nicht nur das: Obwohl Stalin den Krieg nicht wegen, sondern trotz seiner brutalen Politik und häufig inkompetenten Eingriffe, und nur mit unbolschewistisch-patriotischen Appellen an das von ihm gepeinigte Volk gewonnen hatte (ganz zu schweigen von westlicher Unterstützung), fiel auf den Organisator des 420
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Sieges und die zu neuem Leben erweckte kommunistische Bewegung nun der Abglanz der Befreiung von der faschistischen Barbarei. Der angeschlagene Mythos vom unaufhaltsamen revolutionären Fortschritt erhielt neue Nahrung und durch die Siege der Roten Armee ein kommunistisches Gesicht.342 Der Aufstieg unter die entscheidenden Supermächte schien den fragwürdigen russischen ‚Weg in die Moderne‘ als mögliche Alternative aufzuwerten .
21. Perspektiven 1945 lag Europa in den Trümmern seiner Städte, seiner einstigen Macht, seines Selbstbewusstseins, seiner Politik. Die Vorbildrolle, die Maßgeblichkeit für den Fortschritt des Rests der Welt, schien sich selbst erledigt zu haben. Es konnte auch nicht einfach wieder zum status quo zurückkehren, der der Gewaltorgie unmittelbar vorausgegangen war. Hatte die Katastrophe nicht schon früher begonnen und mussten nicht zumindest Lehren aus dem vorangegangenen ‚einunddreißigjährigen Krieg‘ gezogen werden? Zu solchen Einsichten fehlte den meisten die emotionale und intellektuelle Distanz; man hatte sich ganz in den Gegner verkrallt und bemerkte nicht den eigenen Werteverlust, den „Hitler in uns selbst“, wie der Titel eines Buches von Max Picard lautete. Die verarmten Europäer waren mit elementaren Existenzfragen, mit staatlichem und wirtschaftlichem Wiederaufbau, mit Säuberungen als Gemeinschaftstherapie beschäftigt. Zukunftsperspektiven waren häufig auf ideologisches Schlagwortniveau abgesunken und Ansätze einer internationalen Neuordnung blieben für den sacro egoismo der Politiker peripher. Die intellektuellen Meinungsführer der Nationen waren durch Krieg und Leid der vergangenen Jahre erschüttert, in ihren Überzeugungen verunsichert und zu einem Reduktionismus geneigt, der manche Peinlichkeiten verdrängte und die eigene Gemeinschaft mythisierte; eine selektive Gedächtnisarbeit verstärkte die undifferenzierte, dichotomisierende Geisteshaltung weiter. Schuld waren ohne Zweifel „die anderen“, so dass den aus der Nation auszumerzenden Verrätern eine Rolle im atavistischen Ritual kollektiver Identitätssicherung zufiel. Eduard Beneš († 1948), der durch den Zusammenbruch traumatisierte einstige Kämpfer für Demokratie und Völkerbund, entsprach dem Zeitgeist von 1945 mit seinen, paradoxerweise durch den Gegner inspirierten, „nationalsozialistischen“ Folgerungen aus der Krise: maximale politische und soziale Homogenität durch ethnische Säuberung, in Kombination mit Teilverstaatlichungen der Wirtschaft, „gelenkter Demokratie“ und dem slawischen Mythos. Der Glaube an Planwirtschaft setzt sich über Marktinteressen und Eigentumsrechte 421
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ebenso hinweg, wie die auf den Großen Bruder gestützte Staatsdoktrin über die authentische Geschichte und humanitäre Skrupel. Und die vielen vom Krieg geprägten jungen Manichäer glauben an die Notwendigkeit der Gewalt. Eine nicht unähnliche Stimmung herrscht 1945 im Westen. Der ‚entwurzelte Intellektuelle‘, der sich im Namen universaler Werte einmischt, wird abgelöst vom angepassten Parteigänger, der „erschreckend unbekümmert und verantwortungslos aus sicherer Entfernung zu Gewalt gegen andere aufruft“ (T. Judt). Die Rhetorik tonangebender französischer Intellektuellen grenzt sich sowohl vom kompromittierten Regime von Vichy, als auch den abgestandenen bürgerlichen Werten der III. Republik ab. National zu sein hieß für den Philosophen MerleauPonty († 1961) revolutionär zu sein, und das bedeutete, „cartesianische Abstrak tionen“ durch das Aufgehen des Subjekts in der konkreten Gemeinschaft zu überwinden: die Vollendung der patriotischen Rebellion im Zeichen eines jakobinisch interpretierten Marxismus. Der französische Geist, immer noch zu universalistischer Selbstdeutung geneigt, glaubt in dieser Synthese den Anschluss an eine authentische Gegenwart gefunden zu haben und die Chance einer Wiedergeburt aus nationaler Schwäche und Demütigung (S. Khilnani). Das war emotional gut nachzuvollziehen, ebenso wie die Verdrängung peinlicher Tatsachen und der bürgerliche Selbsthass vieler jungen Gebildeten, lieferte aber keine schlüssige Zukunftsperspektive. Ohne Hoffnung auf realen Sieg hatten schon die Helden von André Malraux († 1976) in der Würde des Widerstands die Überwindung des sterilen Ich durch das existentielle Brüderlichkeitserlebnis sehen wollen. Angesichts des unheroischen Verhaltens der Mehrheit blieb das der kompensatorische Traum isolierter Intellektuellen. Die Hölle, das sind die anderen, war der symbolträchtige Leitsatz eines noch unter deutscher Besatzung uraufgeführten Dramas von J.-P. Sartre († 1980). Obwohl Sartres antimetaphysisches Denken die individuelle Verantwortung und den freien Selbstentwurf betonte, bot sich die allzu einfache Lösung an, durch revolutionäre Akte der Ausmerze oder Projektion wenn nicht den Himmel, so doch das Bewusstsein historisch-moralischer Überlegenheit zu gewinnen – während Arthur Koestler († 1982) mit seinen unbequemen Einsichten über die Selbsttäuschungen kommunistischer Intellektuellen (Sonnenfinsternis, 1940) viele vor den Kopf stieß. Sartres dominante Stellung im französischen Geistesleben nach dem Krieg hatte mit dem verbreiteten Bedürfnis nach Verdrängung von Niederlage und Kollaboration zu tun; auch der banale Alltag der Vierten Republik wurde von verbalem Radikalismus und Antiamerikanismus überschattet. Das Bedürfnis nach „Authentizität“, das Pathos des Neuanfangs und „Transzendierens der Situation“ blieb politisch unklar: Sartres existenzieller Rigorismus und sein Desinteresse an realen sozialen Problemen definierte sich gegenüber der Praxis meist negativ – als Engagement durch Protest. Weil aber, nach den Worten seines einstigen 422
21. Perspektiven
itschülers, des ‚engagierten Beobachters‘ Raymond Aron, „dem Misthaufen M der Gegenwart“ die blaue Blume der Zukunft entsprießen sollte, blieb nur die Identifizierung mit dem moralischen Anspruch des kommunistischen parti des fusilés. Das hieß, der Gegenwart einen marxistischen Horizont, ebenso wie dem Antifaschismus eine antikapitalistische Phrygiermütze aufzusetzen. Sozialpolitische Fragen waren nicht Sartres Sache, aber konnte er für Frankreich eine stalinistische Perspektive wollen? Zu seinem Bruch mit dem philosophisch weniger versierten, dafür menschenfreundlicheren Freund Albert Camus († 1960) kam es wegen dessen bezeichnender Weigerung, Verbrechen als Mittel künftigen Glücks gutzuheißen. Die „Revolte“, nach Sartre nicht aufs individuelle Gewissen beschränkt, sondern aufs kollektive Ganze bezogen, sollte „täglich der Totali sierung näher kommen“ und die Geschichte auf einen einzigen Sinn reduziert werden; somit verbot sich bis in die sechziger Jahre jede Kritik an sowjetischen Praktiken, konkret dem sibirischen Lagersystem. Sartres gegenüber Russland verlorenen Illusionen wanderten später weiter ostwärts, ins Bild von Maos China: Camus wollte jedoch die ‚absurde Situation‘ des Sisyphos nicht mit Geschichtsmythen beschwichtigen und fürchtete auch für seine algerische Heimat, sie werde mit blindem Engagement morgen „ein Land voller Ruinen und Toter sein“. Der unterschätzte Außenseiter bestand nicht zuletzt auf lebendiger Vielfalt als condition humaine.343 Damit war er von der Front des „Fortschritts“ desertiert. Auch Raymond Arons Beharren auf Pluralismus, Opposition und friedlichen Wettbewerb um die zeitlich begrenzte Machtausübung im Staat wurde im linken Intellektuellenmilieu mit Verachtung gestraft. Die Befreiung von der Gewaltherrschaft Hitlers weckte überall Hoffnung auf ein freiheitliches und gerechteres Leben, und kollektivistische Rezepte schienen den Königsweg zu bieten: Nietzsches leitender Gedanken einer traumatisierten Menschheit, die einem Joche entronnen war. Wie aus dem ersten großen Krieg, aus Protest gegen das sinnlose massenhafte Morden, eine Welle revolutionärer Gewalt hervorgegangen war, so entstand auch im Gefolge des zweiten ein neuer radikaler Köhlerglaube, der versprach, mit den Wurzeln des Übels ein für allemal aufzuräumen. Dazu bedurfte es, außer Zorn gegen echte oder vermeintliche Schuldige, des unbedingten Vertrauens in die Gerechtigkeit revolutionärer Gewalt sowie in die Fähigkeit zum grundsätzlichen Neubeginn, vielleicht auch einiger Vergesslichkeit. Gewiss hatte sich vielerorts sozialer Sprengstoff angehäuft, der entschärft oder zur Explosion gebracht werden konnte. Aber warum sollte ein „kriegsähnliches Ereignis, das den Dialog verhindert und bestehende Normen negiert“, die Hoffnung der Menschheit darstellen? fragte Raymond Aron in seiner Kampfschrift Das Opium der Intellektuellen (1955). Die Macht der alten Fallstricke des Fortschrittsglaubens: utopische Gesamtlösungen und die Unfähigkeit, eigene Irrtümer kritisch aufzuar423
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beiten, hatte sich jedenfalls durch die Identifikation mit der triumphierenden Tyrannis im Osten alles andere als aufgelöst.344 Das kommunistische Experiment in Russland trug bei aller Geschichtsmetaphysik das Muttermal seiner gewalttätigen Herkunft und der Missachtung der positiven Errungenschaften einer bürgerlichen Zivilisation. Das hatte ihm bei den Surrealisten, die alle Formen des Bürgerlichen verabscheuten, von Anfang an Sympathien eingebracht; durch Brutalität und mangelnde Effizienz hatte es jedoch bei der nicht-avantgardistischen Mehrheit bald seinen mythischen Glanz verloren. Neue Attraktivität gewann Stalins Regime, wie wir gesehen haben, durch seine Alternative zur krisengeschüttelten Weltwirtschaft der dreißiger Jahre. Nicht nur der Kapitalismus schien damals mit seinem Latein am Ende zu sein: die geistigen und politischen Werte des Liberalismus und Parlamentarismus galten über Europa hinaus als überlebt und wurden von rechts wie links mit Hohn und Spott überschüttet. Auch diejenigen Teile der marxistischen Arbeiterbewegung, die die demokratischen Strukturen einer Diktatur vorzogen, hatten für ihre Wahl meist nicht viel mehr als die halbherzige Begründung einer „günstigeren Plattform für den Klassenkampf“; das war keine überzeugende Parole gegen den Faschismus. Als sich Stalin 1934 entschloss, den Hauptfeind nicht mehr in der Versailler Ordnung, sondern in Hitlerdeutschland zu sehen, schien er dagegen für ‚ein Sechstel der Erde‘ das respektable Etikett des eigentlichen Erben der Ideale von 1789 in Anspruch zu nehmen, ja im Augenblick seines selbstzerstörerischen Wütens gegen die eigene Bevölkerung und die eigene Partei wollte der gebannt auf Hitler starrende müde Westen in der Sowjetunion vor allem den fortschrittlichen antifaschistischen Schutzwall erblicken.345 Das zeitweilige Bündnis mit Hitler, das im Sommer 1939 den europäischen Horizont verfinsterte, stiftete einige Verwirrung, sogar unter den diszipliniertesten linken Aktivisten; doch stellten sie sich alsbald mehr oder weniger freiwillig auf die realpolitische Gleichung von Revolution und territorialer Ausweitung des Sowjetsystems ein. Mit dem 22.Juni 1941 kam dem Komplizen der Nazi-Aggression die Rolle des Opfers und realen Hoffnungsträgers zu – um nicht Furets drastischere Termini zu gebrauchen („der Henker zum Märtyrer“). Ein machtpolitisch reduziertes, zynisch manipulierbares Demokratie- und Fortschrittsverständnis lieferte nun den Schlüssel zur europäischen Stunde Null. Entgegen allen Hoffnungen und Illusionen markierte der Anschein einer Lockerung des ideologischen und politischen Terrors im „Großen Vaterländischen Krieg“ keine Wende in Stalins Denken; wie er Sibirien mit immer neuen Lagerinsassen bevölkerte, so ließ er sowohl in der Wirtschaft wie im Kultur bereich die Zügel wieder anziehen und alle Regungen von Eigenständigkeit oder Konsumwünschen dem Primat der Macht, des Prestiges und hypertrophierender 424
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Großmachtpolitik opfern.346 Zwar galt nicht nur unter Historikern, dass das „Sammeln russischer Erde“, der Aufstieg Russlands zur Großmacht, schon immer „progressiven“ Charakter besessen habe, ja ein ab 1946 entfesseltes Denunziantentum wollte immer neue Gruppen ‚unpatriotischen Kosmopolitismus‘ in Kultur und Wissenschaft aufdecken, sodass eine Atmosphäre der Angst und der ständigen autoritären Eingriffe in keinem Bereich ein Gefühl der Normalität entstehen ließ. Statt auf dem authentischen Kriegspatriotismus weiterzubauen und den schwer erkämpften Sieg mit seinen Millionenopfern zu honorieren, leitete Stalin eine bleierne Zeit ein (Martin Malia), gezeichnet von alter Willkür, Einschüchterung und neuen Feindbildern. Die Idee der Weltrevolution war zwar offiziell aufgegeben, aber das bedeutete keineswegs, dass sich der Führer, der sich durch den Sieg in seinem Größenwahn noch bestärkt fühlte, mit der Rekonstruktion des zerstörten Landes und der Konsolidierung des ihm zugestandenen Macht- und Interessenbereichs zufrieden zu geben gedachte. Schon diese Aufgabe war eine immense, weil die prosowjetischen Kräfte im überwiegend agrarischen Osteuropa meist schwach waren, aber alles außer totaler Kontrolle Stalins Vorstellungen („wer-wen“) widerstrebte: Sie entsprachen ideologisch verfestigter Arroganz und persönlicher Unfähigkeit zu echter Zusammenarbeit, aber wohl auch dem uneingestandenen Bewusstsein mangelnder Attraktivität des eigenen Angebots. Kompromisse von der Art der mittel- und osteuropäischen ‚Nationalen Fronten‘ waren für den krankhaft misstrauischen Despoten auch im Augenblick seines historischen Triumphes ein Spiel mit ungewissem Ausgang, das früher oder später mit einem Machtspruch beendet werden musste. In der Nachbarschaft konnte man in die Fußstapfen zaristischer Expansion treten und im eigenen ‚Sicherheitsinteresse‘ Stützpunkte (Dardanellen) und Gebietsabtretungen (Nordiran, Kars) fordern. Der erwartete Abzug der Amerikaner aus dem zerrütteten Europa bot immerhin, zusammen mit den trüben Wassern des Unabhängigkeitskampfes der Kolonialvölker, trotz innerer Schwäche, der revolutionären Erweiterung des sowjetischen Machtbereichs keine schlechten Perspektiven. Stalins „ernst gemeinte Zurückhaltung“ (Hobsbawm) war im besten Fall eine zeitweilige: Der Kapitalismus war derselbe geblieben, die alten Mächte waren degradiert, aber auch die Fassade amerikanischer Macht und Wohlstands ruhte auf vulkanischem Boden. Die Zerrüttung Europas und seiner kompromittierten Ordnung, ebenso wie die ehemaligen Kolonien, schienen ein reifer Apfel zu sein, der Stalin früher oder später in den Schoß fallen würde: eine machtpolitisch zentrierte, aber schon durch die Hekatomben Geopferter für viele noch attraktive, reale Utopie. Franklin D. Roosevelt († 1945) war ursprünglich ganz auf die inneren Probleme seines Landes konzentriert, die er mit improvisierendem Elan und wechselndem Glück in den Griff zu bekommen suchte. Wenn die undogmatischen 425
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Planungs- und Lenkungseingriffe des New Deal zur Linderung der großen Arbeitslosigkeit, zur „Zivilisierung des Kapitalismus“, zur Integration der Minderheiten und zur Wiederbelebung des verlorenen Selbstvertrauens der Nation auf Empörung der Konservativen gestoßen waren, dann waren die inneren Widerstände gegen ein amerikanisches Eingreifen in der Welt noch um einiges stärker. Die USA empfanden sich traditionell als die große Ausnahme347, und Woodrow Wilsons idealistischer Versuch, diese Ausnahme zur Regel zu machen, die ganze Welt auf das Niveau amerikanischer Werte anzuheben (Golo Mann) war nach 1918 gescheitert. Seit den zwanziger Jahren überwog in den USA das Gefühl, von den verschlagenen Europäern (und von einer internationalen Rüstungslobby) düpiert worden zu sein, und so pflegte man einen verachtungsvollen Neutralismus, der sich weitgehend auf eine Konsolidierung der westlichen Hemisphäre beschränkte. Auch bei diesen Versuchen, ihre Institutionen in eine anders geartete Welt zu exportieren, mussten sie zahlreiche Rückschläge ver buchen (N. Ferguson). Eine amerikanische Abstützung des Genfer Völkerbunds hätte dieser Erfindung Wilsons mit Sicherheit mehr realpolitisches und moralisches Gewicht verliehen, vermutlich sogar die Aggressoren der dreißiger Jahre abgeschreckt; immerhin bestand die sogenannte Stimson-Doktrin auf Nicht-Anerkennung durch Gewalt erzielter territorialer Veränderungen, also auf Rechtlichkeit im Verkehr zwischen den Staaten – was den von Japan, Deutschland, Italien oder der Sowjetunion vergewaltigten Völkern real nicht viel half, aber die Machthaber der Angreiferstaaten gegen das „scheinheilige“ Amerika aufbrachte, das sich als eine große friedfertige Schweiz, wenn nicht ein neuzeitliches Israel empfand, mit der Arche der Freiheiten dieser Welt (Herman Melville). Roosevelt war ein alter Wilsonianer und wusste, daß er nicht umhin kommen würde, den Isolationismus aufzugeben; schon bevor er das riesige amerikanische Potential in die Waagschale des Kriegs warf, ließ er England alle nur mögliche Hilfe zukommen. In seiner Neujahrsbotschaft von 1941 verkündete er die Vier Freiheiten (freie Rede, freie Religionsausübung, Freiheit von Not und Furcht), die natürlich eine geistige Kriegserklärung an die totalitären Staaten darstellten. Schon nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, im August desselben Jahrs, folgte ein weiterer Schritt: die zusammen mit Churchill formulierte Atlantik-Charta mit ihren Grundsätzen der Selbstregierung, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und des Verzichts auf territoriale Erweiterungen. Das waren ‚wilsonsche‘ Prinzipien, und die Realpolitiker, insbesondere die mit Kolonien, waren darüber nicht allzu glücklich; Churchill erklärte, er sei nicht Premierminister geworden, um bei der Auflösung des Empire zu assistieren. Die Sowjetunion, deren bisherige Politik so gut wie alle Punkte beider Erklärungen mit Füßen getreten hatte, konnte es sich im Krieg nicht leisten, zu widersprechen, 426
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aber Stalin ließ Botschafter Maiski wenigstens relativierend erklären, die praktische Anwendung der Grundsätze hänge von Umständen und der Eigenart des jeweiligen Landes ab. Dagegen war wenig einzuwenden und in der Kriegssituation sah man auch nicht so genau hin. Bis zum Januar 1942 wurden die Grundsätze der Atlantik-Charta von 26 Regierungen unterzeichnet; die Charta der Vereinten Nationen, die seit Dumbarton Oaks (August 1944) Gestalt angenommen hatte, sollte „eine Art Garantie für die mentale Amerikanisierung der Völker“ (Harpprecht) bieten.348 War das ein bloßer Deckmantel für Interessenpolitik der US-Konzerne, wie linke Kritiker argwöhnten? Großzügige Hilfs- und finanzpolitische Einrichtungen (UNRRA, Internationaler Währungsfonds) zeigten jedenfalls eine neue Entschlossenheit, die Welt nicht wieder sich selbst zu überlassen. Ob die USA dabei, im Vertrauen auf eine universale Zusammenarbeit, Machtfragen leichtsinnig unterschätzten oder es umgekehrt an Einfühlung in legitime Interessen und Wertvorstellungen anderer, insbesondere der Russen, fehlen ließen, ist umstritten. Absichtserklärungen sind immer an der Praxis zu messen. Nicht ohne Verärgerung über die russische Politik vollenderer Tatsachen in Osteuropa, glaubte der Pragmatiker Roosevelt lange durch Entgegenkommen eine Verständigung und langfristige Zusammenarbeit mit der Sowjetunion erreichen zu können; natürlich gab es auch wirtschaftliche Interessen an der Erschließung des russischen Marktes und Hoffnungen, sowjetische Ambitionen durch amerikanische Hilfen im Zaum zu halten. Aber die expansive Politik in allen Richtungen überschritt sogar den Radius der überspannten Großmachtambitionen des zaristischen Russland bei weitem.349 Auch Churchill, der weniger Illusionen über den Kriegspartner hegte, mahnte Stalin, die Welt nicht in Stücke zu reißen, die „kleinen Vögel singen zu lassen“ und nicht mit Verdächtigungen und Beschuldigungen das Vertrauen unter den Großen sowie die Aussicht auf Frieden und allgemeinen Wohlstand zu begraben. Für Moskau hatte die eigene Systemsicherung absolute Priorität; um so mehr, als Roosevelts Idee von One World, der kollektiven Konfliktlösung und offenen Türen Russland in Abhängigkeit von der wirtschaftlich überlegenen, jetzt auch atomaren kapitalistischen Weltmacht und um die Chancen eines erweiterungsfähigen eigenen Imperiums gebracht hätte.350 Es geht hier nicht darum, die Geschichte des Kalten Krieges nachzuerzählen, sondern nur um das Verständnis der konkurrierenden Fortschrittsperspektiven in der zweiten Jahrhunderthälfte, die letztlich mit Machtfragen verknüpft und durch diese verzerrt wurden; umgekehrt luden sich lokale und koloniale Konflikte ideologisch auf. Die Macht der Europäer war dahin, ihre Finanzen erschöpft, die Kolonialreiche in Auflösung begriffen, ihr Selbstbewusstsein chimärisch geworden, von der nicht ganz eingestandenen Verantwortung für zwei tiefe Zivilisationsbrüche belastet und ihrem schlechten Gewissen, das radikal 427
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Böse letztlich hervorgebracht und nur halbherzig bekämpft zu haben. Für die Linke hatte schlicht ‚der Kapitalismus‘ versagt; aber auch die parlamentarische Demokratie schien wenig zukunftsfähig und zu kompliziert zu sein, um als Feldzeichen gegen die revolutionäre gordische Methode des durchschlagenen Knotens zu taugen. „Die Sowjetunion mochte eine direktere Gefahr darstellen, auf lange Sicht war Amerika die heimtückischere Bedrohung“ (Judt). Das sowjetische Modell war besonders attraktiv für die abhängigen außereuropäischen Völker, denen das Vorbild des Einparteienstaats in den Händen einer kleinen Militäroligarchie, in Verbindung mit einer ‚antiimperialistischen‘ Mobilisierungsideologie, in der Regel verständlicher war als der abstrakte Rechtsstaat und das Westminster-Modell parlamentarischer Regierung, nota bene aus der verhassten einstigen Metropole. Im Zuge der Ost-West-Rivalität ließen sich die derart entstandenen „Entwicklungsdiktaturen“ von beiden Lagern des Kalten Kriegs abwechselnd umwerben, bewaffnen und finanzieren. Einer beschleunigten Modernisierung im Sinne von Effizienzsteigerung und Rechtsstaatlichkeit, gar der Entstehung eines „dritten Wegs“, kam das nicht unbedingt zugute. Einen ungebrochenen Glauben an Demokratie, die mehr war als formale Verfahrensregeln oder eine populistische Parole, als Vision für die ganze Welt, besaßen 1945 eigentlich nur die Vereinigten Staaten. Es war gewiss naiv, den american way of life einfach mit „Freiheit“ gleichzusetzen, schon gar im Bunde mit Eiferern von der Art McCarthys und Halbdiktaturen, für die die Menschenrechte ein Fremdwort waren; aber die Alternative wäre ein Europa in der Hand Stalins gewesen. Die unerhörte Leistungskraft der amerikanischen Kriegswirtschaft und das Ausbleiben einer größeren Rezession danach, wachsende Produktivität und steigender Lebensstandard der Bevölkerung, untermauerten das Selbstbewusstsein der „Weltmacht wider Willen“; das verhalf dem totgeglaubten Kapitalismus zu neuem Elan. Sogar an der Atombombe haftete für die meisten Amerikaner nicht das Odium einer möglichen Selbstzerstörung der Menschheit, sondern die Aussicht auf unbegrenzten wissenschaftlich-technischen Fortschritt, dessen Schwerpunkt sich in der zweiten Jahrhunderthälfte immer stärker von Europa zum anderen Ufer des Atlantiks verlagerte. Insbesondere in der Molekularbiologie verzeichnete die Wissenschaft einen Triumph nach dem anderen (G. Jackson: Zivilisation und Barbarei, 1999, 380ff). Spektakulärer schienen der Öffentlichkeit die Erfolge von Raumfahrt und Kernenergie, Mikroelektronik, Video-, Audio- und Lasertechnik, medizinischer Diagnostik und Medikamentenherstellung. Glasfaser, Solarzelle, Herzschrittmacher veränderten das Leben der Menschen. Spezifisch amerikanisch war die Hoffnung auf ein Ende der klassischen Machtpolitik – eine demokratische Pax Americana. Der idealistische Baruchplan (1946) sah die Übergabe des US-Atomwaffenpotentials mitsamt dem entsprechenden 428
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Wissen an eine internationale Behörde vor, die die Erforschung und Verarbeitung des spaltbaren Materials, sowie die ausschließlich friedliche Nutzung der Atomenergie überwachen und sanktionieren sollte. Es waren nicht nur enttäuschte Erwartungen einer selbstverständlichen Annahme des amerikanischen Rezepts von Demokratie und friedlicher Zusammenarbeit, die Amerika zu einer anderen Art Weltpolitik veranlassten: Truman-Doktrin, Containment (G. F. Kennan), Marshall-Plan gingen von der Einsicht aus, dass Elend und Resignation den Boden für Umstürze und Diktaturen bilden; auch weil die Vereinten Nationen als Instrument internationaler Rechtssicherung versagten bzw. lahmgelegt wurden, sollte amerikanische Unterstützung bei der wirtschaftlichen und sozialen Stabilisierung gefährdeter Staaten Hilfe zu Selbsthilfe leisten und damit deren Widerstandskraft gegen radikale Umsturzversuche und auswärtige Einmischung festigen. Die Freunde sozialistischer Ordnungen waren über die US-imperialistische Weltgendarmenrolle empört; aber wenn Amerika ein Imperium war, dann im Grunde ein Imperium auf Einladung; auch standen alternativ kaum fortschrittliche Experimente an, wie vielmehr das Oktroi eines politisch wie ökonomisch fragwürdigen Gesellschaftsmodells und die Ausweitung sowjetischer Macht. Die US-Intervention definierte Freiheit zweckbestimmt als Verhinderung kommunistischer Herrschaft, und die von ihr installierten Regime hatten wie gesagt manchmal weit zu echter Demokratie: das westliche System war nicht nur produktiver und flexibler als die östliche Kommandowirtschaft, sondern hatte die grund legende europäische Erfahrung des „Gegeneinander als Miteinander“ verstanden. Eine Partei, die auf totale Vernichtung des Gegners zielte, hatte nichts aus der Sackgasse des Faschismus gelernt. Die Stabilisierung Westeuropas gelang – primär aus Furcht vor der östlichen militärischen Übermacht, aber auch in Anknüpfung an frühere Ansätze. Der britische Beveridge-Bericht von 1942 führte erstmals zu elementaren sozialen Sicherungen für breite Bevölkerungsschichten; hier war das Motiv der Ausgleich für deren Engagement im Krieg, in anderen Ländern konnte man an katholisch-reformerische, skandinavische oder deutsche wohlfahrtsstaatliche Traditionen anknüpfen. Teilverstaatlichungen und eine keynesianische Investitionspolitik schufen in den größeren westeuropäischen Staaten ein eher unamerikanisches gemischtes Wirtschaftssystem, das zusammen mit einigen sozialen Grundsicherheiten das Nachkriegselend überbrücken und die Wiederkehr extremistischer Bewegungen verhindern wollte. Doch erst der Marshall-Plan von 1947 hat den Europäern über den wirtschaftlichen Impuls hinaus den Mut gegeben, sich auch von ‚spiritueller Unterernährung‘ und autoritären Lösungen zu verabschieden, d. h. kooperativ zu handeln und statt verbittert nach rückwärts zu schauen, gemeinsam etwas Neues zu gestalten. Damit gelang die Revitalisierung älterer freiheitlicher Traditionen, wobei man allerdings keine 429
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großen Skrupel zeigte, einstige Träger antidemokratischer Haltungen, vor allem in Deutschland und Italien, als Bundesgenossen mitzunehmen. 1948–51 erfolgten, ermuntert durch die USA und unter deren atomarem Schirm, die ersten zaghaften Schritte in Richtung europäischer Integration (Brüsseler Pakt, Europarat, Montanunion). Trotz nationaler Eitelkeiten, realitätsblinder Sonderwege und anfänglichen Misstrauens gegenüber den gestrigen Feinden, teils auch den USA, wurde das Europa-Projekt schließlich zu einer großartigen Erfolgsgeschichte. Aus einem „Wespennest ewig beleidigter und auf Vergeltung sinnender Nationalismen“ ist ein Ganzes entstanden, das die demokratischen Techniken im Binnenverhältnis auch auf die zwischenstaatlichen Beziehungen übertragen hat (György Konrád). Die Bewahrung eigener Substanz sowie die Erneuerung verschütteter gemeinsamer Traditionen, Selbsteinschränkung nach außen, eine Modernisierung der Strukturen und eine Sensibilisierung der politischen Werteskala, eine sozialstaatlich beruhigte, pragmatische Kompromiss- und Kooperationsfähigkeit – das waren die schrittweise angeeigneten Lehren aus den Sackgassen des zwanzigsten Jahrhunderts, aus nationalen oder ideologischen Machtkämpfen und Kolonialismus (dessen Nachwehen noch die sechziger Jahre verbitterten). Der europäische Weg wurde zunächst der Ruhebedürftigkeit, Dekadenz und des „Ausstiegs aus geschichtlicher Verantwortung“ verdächtigt, mittel- und längerfristig bewies er enorme Ausstrahlungskraft, auch gegenüber den von Moskau gegängelten kommunistischen Staaten, und sogar der nicht immer glücklich agierenden amerikanischen Hegemonialmacht. Im Jahr 1949 hatte das Selbstbewusstsein der von ihrer Geschichte verwöhnten Vereinigten Staaten einen doppelten Schock erlitten: die narzisstische Kränkung durch den ersten russischen Atomwaffentest und den Sieg der Kommunisten im chinesischen Bürgerkrieg. Amerikas verletzter Glaube an das stets machbare Gute und an die normative Kraft des eigenen Beispiels schlug um in beschämende Verschwörungstheorien und Hexenjagden auf potentielle Ver räter, mit der man die Gefahr heraufbeschwor, das, wofür man kämpfte, selbst an der Wurzel zu vergiften (Karl Jaspers). Nach außen wurde eine einseitige Politik der Stärke am Rande des Kriegs (brinkmanship) eingeleitet, auch da nicht selten auf Kosten der amerikanischen Ideale und mit zweifelhaften Bundesgenossen: Wer gegen Drachen kämpft, wird manchmal selbst zum Drachen, bemerkte George Orwell. Immerhin wurden damit die Grenzen des beiderseits Hinnehmbaren sichtbar, und nach Stalins Tod, der Beendigung des blutigen Koreakrieges (sowie des Sturzes von General McArthur, der einen atomaren Krieg gegen China führen wollte), bahnte sich die Chance einer einigermaßen friedlichen Koexistenz der beiden ungleichen „Lager“ an, die sich zur Lösung der Erstarrung und zu gegen430
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seitigem Wettbewerb zweier Perspektiven weiter entwickeln konnte. Auch aus halbherzigen innerkommunistischen Verurteilungen des Stalinismus glaubten viele einen authentischen humaneren Sozialismus verwirklichen zu können. Allerdings zeigte es sich, dass Stalins Diadochen weder auf die Chance einer revolutionären Erweiterung ihres Imperiums verzichten noch die Revision ihrer polizeibürokratischen Vorstellungen von Sozialismus zuzulassen gedachten. Das Verhältnis von Verantwortungs- und Gesinnungsethik bei den führenden Staatsmännern, die Mischung aus pragmatischem und selbstgefällig-ideologischem Denken, war aber überall prekär, so dass im Schatten einer möglichen atomaren Vernichtung kurzschlüssige Machtkonfrontationen und die Eskalation gefährlicher Stellvertreterkonflikte keineswegs ausgeschlossen waren. 1956 gelangte durch separates Vorgehen (Suezkrise) und Unglaubwürdigkeit der proklamierten Politik der Stärke (Ungarnaufstand) auch das Ansehen des Westens auf einen Tiefpunkt. *** Die mögliche Selbstauslöschung der Menschheit bildete für den vielseitigen Philosophen Karl Jaspers († 1969) die Grenzsituation: einen neuartigen „Aggregatzustand“, von dem er die absolute Notwendigkeit von Besinnung und Umkehr ableitete (Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, 1958). Schon in Jaspers‘ Frühwerk hatte der die Chance menschlichen Selbstseins und authentischen Lebens im Durchleben von Grenzsituationen von Tod, Leid und Schuld erblickt. Bloße Angst war für ihn aber keine Garantie, das Unheil auf Dauer abzuwenden, und eine Koexistenz der Systeme unter Hinnahme von Unrecht und Gewalt, ohne gegenseitige Offenheit und Kooperation, bot in seiner Sicht keine Lösung. Politik im üblichen Sinn, verächtlich als kurzfristiges Sich-Durchwursteln abgefertigt, schien ihm „bodenlos“ und außerstande, die neuartige Lage der Menschheit überhaupt zu erkennen: ihr fehle die „Erhellung aus dem Ethos“. Jaspers’ Despekt galt analog dem eingefahrenen spezialisierten Wissenschaftsbetrieb, der losgelöst von menschlicher Verantwortung und Vernunft im übergreifenden Sinn nicht die Fähigkeit besitzt, zur welteinenden Kraft zu werden (wie etwa Einstein hoffte). Diese Kraft sprach Jaspers auch der UNO ab, einer an sich großartigen Institution, die der rechtlichen Durchdringung der zwischenstaatlichen Beziehungen dienen sollte, jedoch an vielen Zweideutigkeiten krankte. Das war die Abhängigkeit vom guten Willen der Großmächte, aber auch der Grundsatz der Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Mitgliedsstaaten, die die theoretisch anerkannten Menschenrechte oft mit Füßen traten, die Weltmeinung ignorierten und die UNO nur als Täuschungsmittel verwendeten, um Unrecht in Recht zu verkehren. Der Zustand 431
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der Uneinigkeit und Unaufrichtigkeit, der die UNO zur Bühne einer Scheinkommunikation degradierte und nur papierene Sicherheit gewährte, ließ den Philosophen enttäuscht feststellen, man dürfe nicht auf das „Nichts von Abstraktionen“ bauen und den letztlich gewaltbezogenen Grund aller Politik verkennen: „Das Ethos des handelnden Menschen ist nicht zu ersetzen durch einen rationalen Apparat.“ Diese These war nicht nihilistisch gegenüber zweckrationalem Handeln, stellte aber einige Scheingewissheiten des Vernunft- und Fortschrittsglaubens in Frage, indem sie die Abhängigkeit aller Errungenschaften von elementaren Unwägbarkeiten bzw. subjektivem Engagement betonte. Das illustriert auch Jaspers’ Technikverständnis. Es setzt einen einzigen durchgängigen Prozess der Rationalisierung voraus, der nicht willkürlich anzuhalten ist, ja nicht einmal gestattet, zwischen „heilsamer“ und „heilloser“ Technik zu unterscheiden, noch weniger jedoch, von Rationalisierung und Technik grundlegende Lebensentscheidungen zu erwarten. Obwohl sie das Leben zunehmend prägen und wir von rationalen Apparaturen immer stärker abhängen, bleibt das Eigentliche kontingent und die Zukunft offen. Wir müssen, so Jaspers’ Fazit, mit Wissenschaft und Technik teilnehmen an den Möglichkeiten und Gefahren eines Wegs, ohne vorher zu wissen, wohin dieser führt: die Zukunft ist kein Rechenexempel, sondern letztendlich das Ergebnis unseres Handelns oder Versagens. Gegen einen szientistischen Allmachtsanspruch stellt Jaspers seinen relativierenden, kommunikativen und pluralistischen Vernunftbegriff (Salamun). Trotz der scheinbar totalen Apparatisierung und Technologisierung unseres Lebens beharrt der Philosoph darauf, dass uns kein Fachmann und keine Institution die Entscheidungen abnimmt; wir können uns nur die Perspektiven bewusst machen, aus denen heraus wir handeln.351 Ein unverzichtbares Feld, auf dem über die Zukunft entschieden wird, bleibt für Jaspers die Politik, und diese muss, wie schon gesagt, immer in ihrem Bezug auf mögliche physische Gewaltanwendung verstanden werden; die Vorstellung von Gewaltlosigkeit als Normalzustand wird in fast carl-schmittscher Weise als Selbsttäuschung abgefertigt. So sind auch Menschenrechte zwar auf das Meta politische als ihre Wurzel angewiesen, jedoch nur durch die sanktionierende Gewalt eines starken Staates zu geschichtlicher Wirklichkeit zu bringen; umgekehrt liefert gerade politische Gewalt den Gegenbeweis zu deren beschworener „Unverbrüchlichkeit“: Der Mensch ist nichts Definitives, sondern geschichtlichexistenziell auf Entscheidung angewiesen. Auch sein Denken ergibt keine intersubjektiv gültige Gewissheit, aber beansprucht dennoch in einem existenziellen Sinn, wahr zu sein( A. Cesana). Auf die Gegenwart und die Möglichkeit des Verlusts einer authentischen politischen Basis, eines Absinkens in „würdeloses Scheinleben“ bezogen, stilisiert 432
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Jaspers die Selbstbehauptung des Westens in seinem Willen zu Freiheit zu einem existenziellen Drama. Nur hier besteht, trotz aller Schwächen und Egoismen, die Chance authentischen Handelns: deshalb dürfe angesichts der Drohung, Politik durch einen dirigistischen Terrorapparat zu ersetzen, das eigene Ruhebedürfnis nicht zur Norm des Handelns werden. In einem schroffen Gegensatz zur populären Stimmung („lieber rot, als tot“) erklärt Jaspers, die geforderte atomare Abrüstung könne von den eigentlichen Problemen ablenken, ja man müsse die Möglichkeit einer Situation vorwegnehmen, in der alles Verhandeln aufhört. Seine Ausführungen gipfeln in den Worten: „Wer unter keinen Umständen die Bombe anwenden wolle, brauchte sie auch nicht herzustellen.“ Schroffe Sätze dieser Art waren auch in Adenauers Bonner Republik, die nur ungern auf eigene atomare Abschreckung verzichtete, nicht konsensfähig – so wenig wie Jaspers’ weitere politische Schriften, die den Anspruch des Philosophen als Praeceptor Germaniae anmeldeten. Die Wirklichkeit ist in der Regel trüb und nur im Mut zu Max Webers idealtypischer Konstruktion ergibt sich ein eindeutiges Bild, das jedoch den Commonsense-Vorstellungen der Routiniers und der vielen Kleinmütigen widerspricht. Jaspers’ Nachdruck auf eine offene Zukunft schloss sowohl die Ungesichertheit der Perspektive ein, wie die Tatsache, dass der Totalitarismus mit seinem Wahrheitsmonopol nicht das letzte Wort der Geschichte sein musste. Karl Jaspers hatte in seinem Ursprung und Ziel der Geschichte (1949) die Überwindung einer eurozentrischen Perspektive anvisiert und versucht, die Menschheitsgeschichte als Einheit zu begreifen. Jetzt hoffte er zumindest, das Chaos der Dritten Welt durch ‚Selbsterziehung zu Freiheit‘ zu überwinden; auch das zweideutige Gebilde der UNO könne sich zurückbesinnen auf die ursprüngliche Aufgabe als Rahmen für einen echten internationalen Rechtszustand: Fortschrittsperspektiven eines fortschrittsskeptischen Moralisten. Im Augenblick hielt Jaspers die Selbstbehauptung Westeuropas, einer auf den ersten Blick ohnmächtigen Summe rivalisierender Eigeninteressen, für die weltgeschichtlich erstrangige Aufgabe. Mit dem aktuellen Zusatz, das europäische Selbstbewusstsein werde „eng, wenn es sich gegen Amerika wendet“. Nur die USA, glaubt Jaspers, seien in der Lage und sollten – nicht in Selbstberauschung am Schein der Macht, sondern als primus inter pares einer Konföderation freier Völker – die Verantwortung für den weiteren Gang der Geschichte wahrnehmen. Wie diese weitergeht, dafür besaß Jaspers, im Unterschied zu den einflussreicheren amerikanischen Modernisierungstheoretikern, kein Patentrezept, schon gar keinen elaborierten Totalentwurf. Das Trümmerfeld der Geschichte, aus zugrunde gerichteten großen Ideen, kennt keine eindeutige Antwort, nur „Impulse fordernder Erinnerung“: das Ganze weiß keiner und hat es nicht in seiner Hand. 433
VI. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert
Die Kritik einer anmaßenden Geschichtsideologie, die ihr vermeintliches Wissen als Selbstermächtigung einer repressiven Praxis benutzte, war zutreffend; auch psychologisch war es sinnvoll, gegenüber resignierenden oder zynischen Zeitstimmungen zu betonen: Wir handeln in ständigem Risiko und im Bewusstsein der Unvollendbarkeit der menschlichen Dinge, doch können wir uns neue Horizonte erarbeiten und besitzen die Chance, in geistiger Auseinandersetzung und Kommunikation mit anderen zu tragfähigen Lösungen zu gelangen. Der Mensch braucht immer das Bewusstsein seiner Partialität, das „begrenzende Maß“, das ihn vor Selbstüberschätzung seiner Projekte bewahrt; doch verdient er Vertrauen nur soweit, wie auch Spielraum für Freiheit existiert. Darin besteht, bei aller Schwäche, die historische Verantwortung der Politik des Westens. Jaspers’ existenzielle Achse einer möglichen atomaren Selbstvernichtung der Menschheit hebt die apokalyptische Dimension des gegenwärtigen Denkens und Handelns in den Vordergrund. Aber auch ohne Atombombe wäre der Zustand der Welt voller Risiken und Gefahren, schon durch das explosive Nebeneinander der vielen, häufig „substanzlosen“ neuen Staaten, die sich ins technische Zeitalter hineingerissen sehen352 und der Versuchung einer totalitären Scheingemeinschaft erliegen (bzw. deren korrupte Eliten im Zugriff auf den Staatsapparat nur die Möglichkeit eigener Bereicherung nutzen). Jaspers weiß: Die neue Staatenwelt kann keine europäische (bzw. eurozentrische) mehr sein, schon wegen des Verdachts gegenüber den einstigen Kolonialherren: Dem Westen wird empfohlen, sich auf Selbstbehauptung der eigenen Lebensform zu beschränken und auf Paternalismus, ebenso wie auf Rollback zu verzichten, somit die neuen Staaten auf ihre, nicht unsere Weise sinnvoll leben zu lassen. Jaspers’ vergessene philosophisch-politische Didaktik, von hohem Anspruch und einiger Weitsicht, wenn auch durch einen apodiktisch-belehrenden Gestus schwer genießbar, blieb zwangsläufig in ihrer Wirkung begrenzt; für eine radikale Umkehr war der Nachkriegs-Westen, wie heute wieder, schon zu bequem und wohlhabend geworden: die Politiker dachten nicht daran, sich durch weltgeschichtlichen Pathos aus ihren kurzfristigeren Perspektiven hochscheuchen zu lassen.353 Nicht nur in der DDR denunzierte man den Moralisten als „Philosophen des Atomtodes“. Dabei folgte die amerikanische Politik, auch ohne den deutschen Pedanten zur Kenntnis zu nehmen, im großen und ganzen dessen Rat. Die Strategen war sich im Klaren, dass ein Rückzug in den alten Isolationismus nicht mehr in Frage kam, was dem immer wiederkehrenden selbstkritischen Gefühl nicht widersprach: dass sich die USA in der Rolle des Atlas und in ihrer Omnipräsenz an allen Fronten übernommen hatten. Und hatte nicht Walt Whitman Rostow recht mit seiner die ideologischen Unterschiede einebnenden Wachstumstheorie (1960), die den Kommunismus als nachholende Modernisie434
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rungsanstrengung entdämonisierte und längerfristig auf Konvergenz mit dem weiter fortgeschrittenen Westen festlegte? Unter John F. Kennedy († 1963), dem charismatischen Pragmatiker, der sich der „alten Schlagwörter und Irrglauben“ zu entledigen und eine neue innere Dynamik zu entfesseln suchte, begann eine kritische Wiederbesinnung auf die „wahren Werte Amerikas“, wenn auch konservative Widerstände sein New Frontier-Programm beeinträchtigten und es vor allem nicht gelang, die ideologisch imprägnierte Weltkonfrontation mit Russland und dem maoistischen China aufzulockern. Es gibt zwei Amerikas, stellte Kennedys einstiger Berater Senator William Fulbright († 1995) fest: das großzügige und humane, und das engherzigpuritanische, selbstgerechte und arrogante. Fulbright, einer der Väter der UNO und des nach ihm benannten Austauschprogramms, machte die Missionare des ideologischen Kreuzzugsgedankens verantwortlich für die Sackgassen des zwanzigsten Jahrhunderts, wobei er Aspekte der amerikanischen Politik in beiden Weltkriegen keineswegs aussparte: Wir handelten, sagt er, als seien wir am Ende der Geschichte angelangt, aber nach unserem Sieg hatten wir mindestens ebenso viele Probleme geschaffen, wie gelöst (Die Arroganz der Macht, 1967). Das war keine Empfehlung, die großen politischen Systemgegensätze zu vergessen oder auch nur zu relativieren. Doch glaubte der aktive Außenpolitiker, die stärkste Macht der Welt könne sich eine großzügige Politik der Vernunft und des Anstands leisten – in der Hoffnung, dass auch die weltgeschichtlichen Gegner früher oder später mit Vernunft und Anstand reagieren würden. Wenn Humanität und Toleranz das sind, wofür Amerika steht, dann dürfe seine Rolle nicht die eines von Macht und moralischem Dünkel besessenen Schulmeisters sein, sondern vielmehr die des erfahreneren Ratgebers und Partners. Es ist natürlich die Vermutung nicht ganz abzuweisen, dass die große Führungsmacht, gleich, welche Politik sie betreibt, immer Ressentiments auf sich zieht – auch wenn sich ihre Ordnungsfunktion bis heute als unersetzlich zeigt.354 Zum Glück ist es der Vorzug der USA, dass sie heilsamer Selbstkritik an überzogener, selbstgerechter Machtpolitik, die nicht zuletzt die eigenen Möglichkeiten überschätzt, eine Chance geben. Angesichts des festgefahrenen Vietnamkriegs, dessen Triebkräfte eher ein fanatischer Nationalismus war, als die Expansion des Weltkommunismus, berief sich Fulbright auf die geschichtliche Erfahrung des Niedergangs aller bisherigen Großmächte durch eine angemaßte Weltmission. Macht neigt dazu, sich mit Tugend zu verwechseln und den anderen vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten hätten. Auch Amerika tendierte, wie er meinte, zu einer manichäischen Vereinfachung der durchaus vielfältigen Welt. Statt auf die Kraft des Beispiels zu vertrauen, andere Nationen ihr eigenes Urteil fällen und ihre eigenen Fehler begehen zu lassen, versteife es sich auf die unhaltbare Aufgabe, ihnen seine Rezepte aufzuzwingen: „Stabilität zu schaffen, wo Chaos 435
VI. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert
herrscht…, Demokratie, wo es keine demokratischen Traditionen gibt, und eine ehrenhafte Regierung, wo die Korruption fast zum Lebensstil gehört“ (ebenda). Dem realistischen Idealisten ging es nicht darum, die bestehende große Verantwortung der USA für den Zustand der Erde zu leugnen, wohl aber, diese nicht mit totaler Verantwortung, und unverhandelbare Grundsätze nicht mit bloßen Interessen zu verwechseln; überhaupt empfahl Fulbright, sich keinen allzu großen Illusionen über den Menschen und die praktische Wirksamkeit abstrakter Ideale hinzugeben. Das voltairianische Minimum, das der eloquente Senator doktrinärer Rechthaberei entgegenhielt, lautete: sein eigenes Haus in Ordnung zu halten und nach Möglichkeit auch das Leben der anderen etwas zivilisierter und vielleicht heiterer zu gestalten. Der erste Teil der Empfehlung war trotz Kennedy weiterhin von einiger Aktualität, auch im Hinblick auf die Protestwelle der in ihrer Mehrheit immer noch benachteiligten schwarzen Bevölkerung; nicht unbedingt in Bezug auf die utopische Infragestellung des politischen und sozialen Systems durch eine anarchische Studentenbewegung. Fulbrights andere Empfehlung – eine flexiblere Außenpolitik – war nicht weniger dringlich. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass das Richtige manchmal von den Falschen getan wird; konkret, dass es einem eher skrupellosen und nicht allzu wahrheitsliebenden, nach Macht geradezu süchtigen Präsidenten, nämlich Richard Nixon, vorbehalten blieb, das Konzept der Politik als weltmoralischer Mission aufzugeben und ihre bismarcksche Definition als Kunst des Möglichen und Wahl zwischen konkurrierenden Zielen wiederzuent decken. Vermittler war nicht zufällig der Europäer Henry Kissinger, der „Grieche unter den Römern“ (Harpprecht). Die Ausstrahlungskraft der USA musste unter dem realpolitischen Imperativ, die Handlungsfähigkeit wiederzugewinnen, nicht verloren gehen. Sie beruhte außer wirtschaftlicher Effizienz und wissenschaftlich-techniscner Innovationskraft vor allem auf freiheitlichen Institutionen und einer Lebensform, die, ob sie Zivilisations- und Kapitalismuskritikern gefiel oder nicht, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen beispiellosen Siegeszug durch die Welt vollführte. *** Man kann sich eine produktivere zweite Jahrhunderthälfte vorstellen, der der Kalte Krieg erspart geblieben wäre: die unsinnige Überrüstung als Ausdruck der ideologisch aufgeladenen Machtkonfrontation und des abgründigen gegenseitigen Misstrauens. Gewiss überwog im Schatten des atomaren Patts in Europa mit der Zeit die Tendenz zur Festschreibung des Status quo, dem sowohl Wohlstandsbestrebungen, als auch eine nicht unerhebliche Friedensbewegung entsprachen. Die keineswegs eingeschlafene Konfrontation war in die sogenannte 436
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Dritte Welt ausgewichen und lebte weiter in blutigen Stellvertreterkriegen in Korea, Vietnam, den ehemaligen portugiesischen Kolonien; auch in Form von Umwerbung übler Diktatoren durch die eine oder die andere Seite der bipolaren Welt. Hemmend auf eine mögliche Differenzierung musste sich auswirken, dass die beiden Hegemonialmächte, mit unterschiedlichen Toleranzschwellen, aus Furcht vor Einbrüchen in ihren Machtbereich, alternativen gesellschaftlichen Modellen mit erheblichem Misstrauen begegneten, so dass Dubčeks Anlauf zu einem ‚Sozialismus mit Menschengesicht‘ oder Allendes chilenischem Versuch, die Auswüchse der alten Klassengesellschaft zu beschneiden, nur kurze Lebensdauer vergönnt waren. Anderseits fror der Kalte Krieg viele Probleme der Welt vor 1945 ein oder machte sie obsolet, wie die nationalen Rivalitäten und gegenseitigen Sündenregister der Europäer; auch der soziale Wohlfahrtsstaat war nicht ohne Seitenblick auf die kommunistische Konkurrenz entstanden. Der Teilung der Welt war, der riesigen Ressourcenverschwendung zum Trotz, eine sekundäre Rationalität nicht abzusprechen, eine disziplinierende, teils auch modernisierende Funktion der großen Macht- und Systemkonkurrenz. Nach der Bankrotterklärung des sowjetischen Imperiums entstand nicht die erhoffte friedlich kooperierende Menschheit, die die freigesetzten Energien der Umverteilung ihrer Reichtümer und der Bekämpfung bestehender Übel widmet, sondern es ‚tauten‘ vielmehr viele der nur eingefrorenen älteren Gegensätze wieder auf, typischerweise die ethnischen Dämonen auf dem Balkan. Linke Publizisten glaubten analog, in der globalisierten Welt nach 1989 die Wiederkehr eines von Gegengewichten, Kontrollen und sozialen Rücksichten befreiten, unverfälschten Beutekapitalismus zu erkennen. Die radikale Kritik an einem unverantwortlichen Profitstreben war aber älteren Datums und beschränkte sich nicht auf traditionell marxistische Polemiken, im Gegenteil: Die kommunistisch regierten Länder hatten im Geiste ihres ökonomisch verkürzten Funktionärssozialismus immer neidisch nach dem Wirtschaftsindex der westlichen Nachbarn geschielt, deren Industrieproduktion sich in den 1950er und 1960er Jahren vervierfacht und deren Welthandel verzehnfacht hatte. Ein als Amerikanisierung empfundener Wandel der Lebens- und Konsumgewohnheiten machte sich dort in einem erweiterten Zugang zu einer Fülle von neuen Produkten und Chancen bemerkbar. In Großbritannien stieg die Zahl der zugelassenen Autos von 2,25 Millionen (1950) auf 8 Millionen (1964); auch Massentourismus und Jugendkultur veränderten das Leben der Westeuropäer. Steigende Ausgaben flossen in Gesundheitswesen und Alterssicherung, Bildung, Wohnungsbau und Verkehr; der fürsorgliche Wohlfahrtsstaat schien Vollbeschäftigung, Stabilität und sozialen Aufstieg zu garantieren. Die keineswegs sichere Erwartung, der mit ständigem Wirtschaftswachstum verbundene allge437
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meine Wohlstand werde die meisten Probleme der Menschen lösen, wurde systemübergreifend geteilt. Das Zurückbleiben des Sowjetblocks nach diesem gemeinsamen Kriterium war nicht einfach eine Folge der Überlegenheit von freier Marktwirtschaft über bürokratischen Dirigismus und der Tatsache, dass das schwerfällige, abgeschirmte kommunistische System die umstürzenden technologischen Entwicklungen im Westen zunächst selbstzufrieden verschlafen hatte und diese später nur unbeholfen, mit größer werdendem zeitlichen Abstand zu kopieren suchte; auch die Repressions- und Rüstungsausgaben wogen in der sowjetischen Wirtschaft schwerer als in offeneren und entwickelteren Ländern. Der Westen schien seine Probleme zumindest zeitweise durch steigenden Konsum und soziale Sicherungssysteme, technischen Fortschritt und expandierende Bildung gelöst zu haben; im Zeichen von Vollbeschäftigung und vermeintlich unbeschränkt verfügbarer Energie im angebrochenen Atomzeitalter verblassten die klassenkämpferischen und ideologischen Parolen. Angesichts des atomaren ‚Gleichgewichts des Schreckens‘ blieb den Führern des real existierenden Sozialismus nichts anderes übrig, als sich auf den eigentlich unmarxistischen Wettbewerb um Lebensstandard einzulassen und auf die große Systemkrise zu hoffen. Monokratien ohne Fähigkeit zu Selbstdistanz und zur Infragestellung eingefahrener Routinen, offizieller Dogmen und verkrusteter Machteliten degenerieren ihrerseits meist zu sterilen Mechanismen des bloßen Status-quo-Erhalts. Der in die Jahre gekommenen Alternative zur kapitalistischen Moderne ging so die Fähigkeit zu Innovation und Experiment verloren; das Leben im sozialistischen Alltag wurde zum ärmlich-repressiven Spiegelbild einer älteren Phase der Industriegesellschaft – ohne die Freiheiten und übrigen Vergütungen eines sich in atemberaubendem Tempo wandelnden Westens. Die moderne Entwicklung wurde seit den 1960er Jahren auch nur dort ernsthaft in Frage gestellt. Nicht nur die kapitalistische „Jagd nach Mehrwert“ im engeren Sinn war Gegenstand der Kritik der Neuen Linken, sondern eine durchaus produktive, aber als repressiv verschrieene Rationalität, die, scheinbar parallel zu den kommunistischen Gesellschaften, das Leben gleichschaltet und jede Opposition und Alternative neutralisiert, wie z. B. Herbert Marcuse († 1979) suggerierte. In beiden „Lagern“ der zweigeteilten Welt werden danach „nicht-operationelle“ Gedanken einer kritischen Vernunft bedeutungslos gemacht, d. h. alles Denken der technologischen Rationalität untergeordnet, die jeder Transzendenz spottet (Der eindimensionale Mensch, 1964). Der Welfare State und der Warfare State gehen in Marcuses nivellierender Optik unmerklich in eine Einheit komfortabler Unfreiheit ein und schaffen ein produktives totalitäres Universum, in dem die Gegensätze konvergieren. Der Unterschied zu den Diktaturen sowjetischen Typs wird eingeebnet durch den Akzent auf manipulativ geschaffene, 438
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parasitäre Bedürfnisse, die kein Bewusstsein der Knechtschaft aufkommen und die präformierten Menschen nicht auf Selbstbestimmung dringen lassen, weil „das verwaltete Leben das bequeme und sogar ‚gute‘ Leben“ zu sein scheint. Beruht Freiheit aber tatsächlich auf Selbsttäuschung? Der steigende Wohlstand eines amerikanisierten Mittelstands verführte in den sechziger Jahren zur Vorstellung einer Überflussgesellschaft, deren Reichtum uneingeschränkt zur Verteilung anstand – bzw. als Ergebnis fehlgeleiteter Nachkriegsenergien der Väter – zu verachten war: immer schon verachtet man am besten, was man hat. Von ökonomischen Zusammenhängen, von alles andere als selbstverständlichen Errungenschaften, ahnten die rebellischen Wohlstandskinder wenig. Sogar die Ablösung der herrschenden Konventionen, in Deutschland auch die Aufarbeitung der Nazivergangenheit, war schon im Gange, bevor der Protest die überfüllten Universitäten erreichte. Die trotzkistischen Parolen der linken Revoluzzer nahmen dabei Motive einer älteren Kulturkritik auf, die immer schon Amerika-Kritik war, und verbanden diese mit demonstrativ ausgelebten, vorwiegend sexuellen Tabubrüchen. Die Rebellion blieb nicht ganz folgenlos, aber lief schnell ins Leere. Die siebziger Jahre hatten andere Probleme. Auch Marcuses linke Kritik an der Fehlentwicklung eines technologisch-konsumistisch reduzierten Fortschritts, der Reduzierung der Vorstellung vom guten Leben auf eine Mehrung von Lebens-Mitteln, geht weit zurück bis zu einem Punkt, wo sie sich paradoxerweise mit rechter Kritik berührt. Ein Ärgernis war für diese, dass die neuzeitliche Reduktion der Natur auf messbare Quantitäten die Frage nach dem Sein bzw. dem Sinn zugunsten bloßen Instrument-Seins suspendiert, dass Werte außerhalb der herrschenden verengten Rationalität als nicht wirklich, sondern nur subjektiv gültig erscheinen, womit jede Opposition gegen das bestehende System irrationalisiert, „bodenlos“ wird. Auch die Erkenntnis der Natur steht unter einem technologischen Apriori, einem zweckbetonten, praktischen Zusammenhang, der zugleich ein System sozialer Kontrolle und Herrschaft bildet. Der zuinnerst instrumentalistische Charakter der wissenschaftlichen Rationalität verflüssigt alles Objektive in einen Gegenstand potentieller menschlicher Aktivität (F. C. von Weizsäcker); damit wird die technologische Dimension zur einzigen Verkörperung der Vernunft und der Mensch alternativlos dem technischen Apparat unterworfen: die Mittel werden zum eigentlichen Zweck. Weil die hypertrophe Welt der Instrumente die Befriedigung der „falschen“ Bedürfnisse verspricht, wird die Aufrechterhaltung des ganzen rationalirrationalen Systems zur Notwendigkeit. Analog warnten auch andere, vom tschechischen Phänomenologen Jan Patočka bis zum deutschen Bildungsforscher Georg Picht, vor der Eigengesetzlichkeit eines technologischen Denkens, dem die Selbstregulierungsmechanismen einer Rückkoppelung mit den übrigen Lebensprozessen fehlen. 439
VI. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert
Die Kritik war nicht aus der Luft gegriffen, aber wo wollte man objektive Kriterien für authentische bzw. falsche Bedürfnisse hernehmen? Wenn Marcuses Charakterisierung der gesamten technologisch orientierten Moderne als fragwürdig, ja quasi totalitär, einige politische Farbenblindheit verriet, so traf seine Feststellung zu, dass der gegenwärtige Standard der fortgeschrittensten Industriegesellschaften zumindest kein unmittelbar nachahmenswertes Entwicklungsmodell für die übrige Welt darstellte. Aber war diese eine Alternative, gar eine bessere, wie die konsumübersättigte Neue Linke behauptete? Die tatsächliche Aufholjagd der weniger fortgeschrittenen Völker nach Wohlstand und Macht war durchaus verständlich, es war aber zunehmend sichtbar, dass sie sich auf Kosten der künftigen Bewohnbarkeit dieser Welt vollzog. Die Fortgeschrittenen konnten den Nachrückenden nicht verbieten, die eigenen Fehler zu wiederholen; auch nur einzelne Kulturpessimisten folgten Marcuses Verurteilung des gesamten Modernisierungsprozesses als selbstzerstörerische Praxis, die mehr Probleme erzeugt als löst.355 Wir haben gesehen, dass auch die auf „zunehmende Bedürfnisbefriedigung“ ausgerichteten kommunistischen Diktaturen von einem fast religiösen Technikkult, dem baconischen Ideal der Naturbeherrschung, so besessen waren wie ihr kapitalistischer Widerpart (Jonas). Wenn jedoch die Zukunft eher Wohlstandsverzicht erfordert, zumindest eine Neubestimmung der Bedürfnisse und die Reduktion der Überentwicklung, dann hätte sich auch das kommunistische Regime alternativ definieren müssen, statt den Kapitalismus unter Inkaufnahme von Ressourcenverschwendung und Umweltzerstörung „ein- und überholen“ zu wollen. Was Marcuses eigene, ökonomisch unbedarfte hedonistische Option anbelangt, die Freisetzung des Lustprinzips auf Kosten des repressiven Leistungsprinzips, die durch eine hochproduktive Überflussgesellschaft möglich werden sollte, so erübrigt sich die ernsthafte Polemik.356 1972 schockierte die Weltöffentlichkeit ein von Dennis Meadows herausgegebener Bericht des MIT über die Grenzen des Wachstums. In einer überaus nüchternen Statistikersprache und von Systemunterschieden ebenfalls absehend, werden darin fünf miteinander in Wechselwirkung stehende quantitative Trends untersucht: Bevölkerungswachstum, Industrialisierung, landwirtschaftliche Produktion, Rohstoff- und Energiereserven, Schädigung der Umwelt. Entgegen der bis dahin herrschenden Euphorie in Bezug auf die menschliche Fähigkeit, scheinbar unerschöpfliche Energiequellen zu erschließen oder den Hunger von der Erde zu verbannen, kommt die diagrammversessene Studie zum Schluss, dass unser Weltsystem an natürliche Grenzwerte stößt, deren Überschreitung notwendigerweise zum Kollaps führt. Die Wertvorstellungen der Moderne waren, in einer Phase ständigen Wachstums unserer technischen und industriellen Macht, auf die Überwindung der 440
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natürlichen Widerstände gerichtet; sie haben den Kampf gegen Grenzen zum Kulturidol erhoben, statt zu lernen, mit diesen zu leben. Das aber hat, wie die Studie zeigt, zur Schwächung der Kontrolle durch negative Regelkreise (von der Art der Todesrate gegenüber der Geburtenrate) geführt und zu exponen tiellem Wachstum, das sich beschleunigt einer Grenze nähert, hinter der das System kollabiert. Optimisten hatten immer behauptet, dass Wachstums behinderungen durch technologische Eingriffe behoben werden und z. B. der begrenzte Nahrungsspielraum durch intensivierte Landwirtschaft wesentlich erweitert werden könne; doch zeigen Meadows und sein Autorenkollektiv, dass die ‚grüne Revolution‘ in der Regel zu Landflucht in wuchernde Elendsmetropolen mit kaum lösbaren sozialen Schwierigkeiten führt. Auch andere Probleme – begrenzte Rohstoffreserven, Schadstoffausstoß etc. – können zwar technologisch gemildert und die Grenzen des Wachstums erweitert, aber das Ende nur zeitlich verzögert werden. Die These vom möglichen Ende der technischen Zivilisation war nicht neu; nur wenige Jahre zuvor hatte sie F. C. von Weizsäcker erörtert, aber nicht auf der Basis endlicher Ressourcen, die sich nach seiner Meinung letztlich als unwesentlich erweisen würden, sondern weil „das, was über Technik erreicht werden kann, erreicht ist“. Die technische Welt stabilisiert sich nicht von selbst, wie auch Karl Jaspers gelehrt hatte, sondern durch geistig-politische Entscheidungen und korrigierende Eingriffe, die allerdings in einer kompetitiven Staatenwelt schwer zustande kommen.357 Auch die Autoren der Massachusetts-Studie waren, bei aller philosophischen und politischen Abstinenz, keine Trendfetischisten oder Untergangspropheten; sie wollten keine strenge Prognose aufstellen, sondern ein Wenn-dann-Modell mit aufrüttelnder Wirkung: Nur Nichtstun bzw. eine Weiter-so-Politik führt in den Zusammenbruch. Die menschlichen kreativen Fähigkeiten sollten nach ihrer Überzeugung von der Beförderung eines fragwürdig gewordenen Wachstums abkommen und auf selbstauferlegte Beschränkungen, längerfristig einen globalen Gleichgewichtszustand, hinwirken. Es geht nicht darum, die gesamte Modernisierung als blinde Zukunftsbesessenheit zu denunzieren, die die Gegenwart als unerträglich empfinden lässt und sie einem stets unerreichbaren Fortschrittshorizont opfert, wobei nur ein wachsender Trümmerberg zurückbleibt. Die empirische Untersuchung ist sich, nicht anders als Marcuse, bewusst, dass ein grundsätzliches Umdenken notwendig ist und die Vermeidung egozentrischer, konfligierender Verhaltensweisen; es müsste kein Ende der Innovationen bedeuten, sondern nur eine intelligentere, verantwortungsvollere Nutzung unserer Kräfte unter einem stabilisierenden Regelmechanismus. Der Ölschock von 1973, der ein Jahr nach der Studie des Club of Rome die Zukunftsgewissheit des Westens erschütterte, leitete nicht nur eine längerfristige 441
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Rezession ein, mit beschleunigtem Arbeitsplatzabbau in der Industrie. Die Regierungen versuchten verzweifelt, der wachsenden Arbeitslosigkeit Herr zu werden und den Terrorismus zu bekämpfen, der nicht von einer radikalisierten Arbeiterschaft ausging, sondern vom einstigen Studentenprotest übrig geblieben war. Für die Warnungen der MIT-Studie schien unter solchen Umständen nicht die Zeit gekommen zu sein. Sie hatte auf ihre nüchtern-quantifizierende Art durchaus das Problembewusstsein der Weltöffentlichkeit geschärft und zahlreiche Nachfolger inspiriert, aber die geforderte kopernikanische Wende keineswegs eingeleitet. Vordergründige Aufgaben, Trägheit und kurzsichtige Interessenlobbyisten, der Nachholbedarf der ärmeren Länder, die historische Ungleichzeitigkeit der Weltregionen, die Wettbewerbssituation zwischen den Blöcken und Nationen, haben den Appell in Minderheitsdiskurse verbannt.358 Zwanzig Jahre nach ihrem ersten Anlauf kommen dieselben Autoren rückblickend zur Schlussfolgerung, dass trotz einiger Teilerfolge der beiden Jahrzehnte (die Nutzung nachhaltiger Energiequellen, sparsame Technologien, Recycling etc.) insgesamt das „exponentielle Wachstum der Bevölkerung und des Kapitals, des Ressourcenabbaus und der Umweltverschmutzung noch ständig anhält.“ Als Triebkräfte wirken – nach dem Ende des Kalten Krieges wie zuvor – Bemühungen, vordergründig-dringliche Probleme zu lösen, bis hin zum gewichtigen Drang nach Status, Macht und Selbstbestätigung. (Meadows, Die neuen Grenzen des Wachstums, 1992). Die Stimmung in den fortgeschrittenen Industrieländern war immerhin in den siebziger Jahren eine differenziertere, ja fortschrittsskeptische geworden.359 Das Zusammentreffen von steigenden Energiepreisen, struktureller Arbeitslosigkeit und „Stagflation“ lähmte zunehmend die Instrumente keynesianischer Politik, so dass überall der Eindruck eines „Endes des sozialdemokratischen Zeitalters“ im Sinn des Welfare State, ja der Unregierbarkeit entstand. Das geistige Klima wurde modernekritisch, die Vorsilbe „post-“ kam in Mode. Eher als die alten MetaErzählungen (Lyotard) pflegten die Meisterdenker deren „Dekonstruktion“. Der bekannte Verhaltensforscher Konrad Lorenz († 1989) ging über die Kritik an Auswüchsen der Gegenwart hinaus so weit, vom Gesichtspunkt der „arterhaltenden Selektion“ entscheidende Phänomene der modernen Zivilisation als pathologische Fehlleistungen zu verteufeln. Art- und Kulturentwicklung beruhen nach Überzeugung des Biologen auf analoger Basis, nämlich dem Festhalten erprobter Erfahrungen. Und dieses Festhalten scheint für die Gemeinschaft lebenswichtig zu sein, jedenfalls hält der Nobelpreisträger die Ansicht für verderblich, der verdrängte vorrationale Wissensschatz ließe sich problemlos rational ersetzen (Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, 1973). Parallel zur Massachusetts-Studie, glaubt Konrad Lorenz, der technologische Fortschritt wirke sich durch seine Ausschaltung ‚negativer Rückkoppelungspro442
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zesse‘ für die Menschheit verderblich aus: von der Vermassung durch zu hohe Bevölkerungsdichte und der Umweltzerstörung bis zum Instinktverlust bzw. einem „emotionalen Wärmetod“ und der Neigung, belastenden Grenzsituationen auszuweichen. Alte Topoi konservativer Zivilisationskritik werden biologistisch untermauert, wenn die Massenbehausungen der Vorstädte den Forscher an das Wuchern von Tumorzellen erinnern, oder wenn er die hasserfüllte „Pseudospezialisierung“ revoltierender Jugendlicher gegen die Welt der Eltern mit der gefährlichen Periode der Halt- und Schutzlosigkeit des sich häutenden Krebses vergleicht. Seine pessimistische Diagnose geht in einigen Punkten über die gleichzeitige MIT-Studie hinaus und unterstreicht, mit deutlichem Ressentiment gegen „periodische amerikanische Modetorheiten“, etwa die schlimmen Folgen einer permissiven non-frustration-Erziehung und die Überbetonung der freien individuellen Entfaltung, einer verlorenen Immunabwehr unserer Zivilisation, analog zu von Parasiten befallenen Mäusen, die die Furcht vor Katzen verlieren. Lorenz prangert dabei, unbekümmert um politische Korrektheit, die Unterwanderung durch „Sozialparasiten“ oder auch die Hilflosigkeit eines pseudodemokratischen Behaviourismus an, der die schon wirkenden Mechanismen der Konditionierung und Massensuggestion noch verstärkt. Es droht die Gleichschaltung einer zur Masse degradierten, naturentfremdeten, nur an kommerzielle Werte glaubenden, „gefühlsarmen, verhaustierten und der kulturellen Tradition verlustigen“ Menschheit (ebenda). Die emotionale Übertreibung enthielt gleichwohl einzelne bedenkenswerte Gedanken, die allerdings, zusammen mit einer sich verstärkenden Zivilisationskritik, den Fortschrittsglauben in einen Alptraum vom Weg in die Katastrophe zu verwandeln drohten. Übervölkerung, Hunger, ein nicht mehr zu integrierendes Arbeitskräftepotential in wuchernden Elendsmetropolen, wachsende Giftmüllberge und steigende Umweltbelastung, Bodenerosion und Versteppung durch Raubbau, die Verschmutzung von Luft und Meer, Artensterben, drohender Klimawandel werden zum Dauerthema und verdüstern die Zukunftsperspektive vielleicht noch mehr als Risiken der Atomenergie und begrenzte Rohstoff reserven. Angesichts der gefährdeten Lebensgrundlagen auf unserem Planeten stellt sich nicht zuletzt die Frage, ob die in den letzten Jahrzehnten siegreichen Mechanismen des Marktes und demokratischer Selbstbestimmung überhaupt geeignet sind, die notwendige Umsteuerung durchzusetzen und nicht de Stunde der Ökodiktatur gekommen ist.360 Der Theologe und Tiefenpsychologe Eugen Drewermann überholt in seiner Fundamentalkritik der westlichen Zivilisation noch die von Lorenz und der Neuen Linken, und hält nicht nur die instrumental verkürzte Rationalität der Moderne für eine Katastrophe, sondern schon den Mutterboden unseres Fort443
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schrittsdenkens: das einseitig anthropozentrische Weltbild der jüdisch-christlich-antiken Tradition, die den Menschen als Maß und Mittelpunkt der Welt einer feindlichen Natur gegenüberstellt. Die radikale Herauslösung aus der Einheit von Mensch und Natur, wie sie die alten Ackerbaukulturen kannten, die Emanzipation des Logos aus dem Mythos, der Ratio aus der Welt des Triebhaften und Unbewussten, ist in der Tat eine Eigenart unserer Kultur, auch die lineare Zeitauffassung, statt der Kreisläufe des Immergleichen. Inwiefern die jüdische Naturfremdheit, durch christliche Körperfeindlichkeit und römische Machtanbetung potenziert, für die neuzeitliche skrupellose Unterwerfung und Degradierung der Natur zum bloßen Material für menschliche Zwecke direkt verantwortlich gemacht werden kann, steht auf einem anderen Blatt. Drewermann neigt, aus Aversion gegen fragwürdige Aspekte der westlichen Tradition, einer Idealisierung der einfachen Weisheit der Naturvölker zu, allerdings ergibt sich deren geringere Destruktivität in Wirklichkeit weniger aus Weisheit, wie aus geringerem technischen Können. Umgekehrt setzt die Gefährlichkeit der europäischen Moderne erst dort ein, wo der Mensch seine mittelalterlich-naive Stellung im Zentrum der Weltbezüge verloren hat und der illusorisch gewordene Vorrang säkular, nämlich mechanistisch, wiederhergestellt werden soll (Drewermann, Der tödliche Fortschritt, 1990). Der „Ausgang des Menschen aus dem Paradies“, der vorgestellten Einheit mit Gott und der Natur, galt in der Interpretation des deutschen Idealismus als Voraussetzung menschlicher Autonomie und Geschichte im eigentlichen Sinn: Drewermann sieht darin vielmehr einen ‚Dialogbruch‘, der den Menschen entwurzelt, so dass er weder Gott noch die Schöpfung, noch schließlich sich selbst versteht. Vom Lobeshymnus der Schöpfung bleibt das griechische Vernunft gesetz übrig und der rationale Wille zur Herrschaft; aus der Lehre von der absoluten Transzendenz Gottes und der Geschichte als der eigentlichen Stätte gött lichen Wirkens der Auftrag zu historischem Handeln mit vorgegebenem Ziel. Die Versuchung war groß, den Heilsweg in einen Prozess wachsender mensch licher Naturbeherrschung zu säkularisieren – wobei sich erst der Anthropozentrismus von seinen ursprünglichen Inspirationen löste und alle natürlichen Beschränkungen sprengte.361 Das ist, wie wir wissen, nicht falsch, aber kaum rückgängig zu machen, auch nicht die aus dem abendländischen Weg hervorgegangene entfesselte Dynamik: allenfalls zu korrigieren durch klares Bewusstsein der Konsequenzen und eine Sensibilisierung gegenüber der uns umgebenden Natur (nicht nur der „Umwelt“). Sie bleibt entgöttert, aber nicht notwendig ein zu plünderndes Rohstofflager oder ein zu eroberndes feindliches Territorium. Unsere Macht beruht auf Fragmentierung der Natur in handhabbare Teilbereiche, das Ganze der „Welt“ entzieht sich nach wie vor unserem Zugriff. Auch unsere innere Konsti444
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tution kann sich, trotz aller als Hybris diabolisierten medizinischen und gentechnischen Entdeckungen der letzten Jahrzehnte, nicht grundsätzlich von ihr lösen und ihr gegenüber privilegieren; die Vollkommenheit der Apparate ließ Günther Anders die ironische Frage nach der Antiquiertheit des Menschen stellen: Je selbstverständlicher unser Gehorsam, um so gesicherter unsere Illusion der Freiheit. Was von Menschen bewirkt wird, mag sich tatsächlich verselbständigen und den ursprünglichen Intentionen entziehen, aber es kann nicht zurückgenommen, nur in sinnvolle Schranken gewiesen werden: „So unnatürlich kann das, wozu uns unsere Natur befähigt, wohl auch nicht sein.“ Wir dürfen nicht alles, was wir können, aber wir können noch lange nicht alles, was wir dürften und brauchten (Hubert Markl). Es kann sinnvoll sein, die Weisheit der Mythen und Märchen, die ‚innere Musik der Dinge‘, Albert Schweitzers Ehrfurcht vor allem Leben wiederzuentdecken und der Praxis rücksichtsloser Ausbeutung entgegenzuhalten, doch ist das bestenfalls ein Korrektiv am rationalen Telos, der über das Technologische hinaus unser Schicksal bleibt. Wildheit müsse der Kultur weichen, hatte einst Johann Gottlieb Fichte verkündet; es geht nur darum, die ursprüngliche Bedeutung von Kultur als Lebenspflege zu verstehen und das Wagnis des Fortschreitens durch die Rückbindung an unser natürliches wie geschichtlich erworbenes Erbe abzusichern.362 Das ist zugegeben leichter gesagt, als getan. *** …dass hoch sich das Herz ihm erhoben, …Als man hörte vom Rechte der Menschen, das allen gemein sei, Von der begeisternden Freiheit und von der löblichen Gleichheit (Goethe 1796/97) Tocquevilles weitsichtiger Diagnose einer fortschreitenden Gleichheit in der modernen Gesellschaft fehlte das Verständnis der realgeschichtlichen Triebkräfte und Mechanismen dieses Fortschritts – während Marx diese zwar zu kennen glaubte, aber daraus eigenwillig katastrophische Folgerungen zog. War die wissenschaftlich-technologische, wirtschaftliche Rationalitat tatsächlich ein Motor zunehmender Gleichheit? Der Auflösung der alten Ständegesellschaft, die Tocqueville vor Augen hatte, folgte zumindest in Europa keine allgemeine Verbürgerlichung: Neue krasse Unterschiede der Lebenslagen, der Rechte und des Bewusstseins entstanden, gegen die nicht die rationale Weltbemächtigung, sondern eine säkulare Gleichheitsreligion aufbegehrte. Die industrielle Organisation erforderte, wie Saint-Simon und Comte wussten, eher straffe Disziplin und Lenkung, somit weder Gleichheit noch Freiheit. Autoritäre Regime seit Napo445
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leon III. hielten sich an dieses antiliberale Verständnis der Industriegesellschaft. Aufholende technische Modernisierung bringt auch heute keineswegs automatisch demokratische politische Verhältnisse hervor. Wachsende Produktivität hatte allerdings eine allmähliche Anhebung der Lebensverhältnisse, des Konsum- und Bildungsniveaus der einstigen Unterschichten zur Folge, so dass sich spätestens im 20. Jahrhundert, doch selten ohne Kampf, die krassesten, nicht nur rhetorisch aufgeladenen Klassengegensätze verwischten. Die soziokulturellen Unterschiede verschwanden dabei keineswegs, und man erreichte trotz allem keine basisdemokratische Einebnung der politischen Machtverhältnisse. Der „kleine Mann“ fühlt sich trotz erleichterter Aufstiegschancen, gelegentlicher Regierungsbeteiligung „seiner“ Parteien und demokratischer Rhetorik der Politiker aus dem Entscheidungsprozess ausgeschlossen, lässt sich von Warenfetischismus, Kulturindustrie und Konformismus so weit „verblenden“, dass er die Zusammenhänge der modernen Gesellschaft und Politik nicht wirklich einsieht und ein entsprechendes Interesse meist nur so weit entwickelt, wie sich unmittelbare Konsequenzen für seine Lebenslage ergeben. Ganz abgesehen von der Denunziation „der“ Moderne als einer einzigen irrwitzigen Anstrengung, alles Spontane unter Kontrolle zu bringen und zu beherrschen, lassen die immer komplizierteren Zusammenhänge einer auf Spezialwissen angewiesenen Gesellschaft Modernisierung, Freiheit und Gleichheit nicht als kommunizierende Röhren erscheinen. Wir zahlen für die arbeitsteilige Spezialisierung der Zivilisation nicht nur mit Entfremdungsgefühl, sondern auch mit tatsächlichem Verlust individuellen Einflusses auf eine anonymisierte Welt objektiver Zwänge. Machtunterschiede bleiben weiterhin unaufhebbar und Freiheitsräume entstehen im Grunde nur dort, wo die Machtgruppen und Hierarchien nicht, wie im Totalitarismus, zu einer einzigen geschlossenen Oligarchie verschmelzen und sich gegenseitig die Waage halten. Auf dieses Offenhalten des Handlungsfeldes durch den Schutz staatsbürgerlicher Freiheiten gegenüber der Gefahr von Machtmonopolen legte Aron immer besonderen Wert.363 Ihm war bewusst, dass vor allem Ungleichheiten in der modernen Gesellschaft als unzulässig empfunden und bekämpft werden – oft nach Art des Sisyphus, schon weil unterschiedliche Begabungen sich nur auf Kosten von Effizienz nivellieren lassen. Der Traum von absoluter Freiheit und Gleichheit bleibt ein Traum oder endet in bürokratischer Unbeweglichkeit, als Folge des revolutionären Befreiungsprojekts, in totalitärer Herrschaft (Raymond Aron [† 1983]).364 Auch Egalisierung im Sinn einer Angleichung der äußeren Lebensumstände und des Konsumverhaltens, die nur teilweise ausgleichende Wirkung von Schule, Medien und Parteien, werden von immer neuen Differenzierungen überlagert: von Statussymbolen und Abstandsritualen gegenüber der „Masse“ und ihrem 446
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Geschmack bis zur Esoterik wissenschaftlicher und künstlerischer Eliten. Man fragt sich, ob die Fortschrittsparadigmen Freiheit und Gleichheit mehr sind als nur symbolische Korrektive an bestehenden Zwängen: regulative Ideen, aber nicht voll praktikable Ziele. Das moderne Leistungskriterium setzt zweifellos bestehende Statusungleichheiten durch ständigen Vergleich einem Rechtfertigungsdruck aus und ermöglicht einzelnen den sozialen Aufstieg. Die Gleichheitsforderungen sind aber keine direkte Konsequenz des Marktmechanismus, sondern eher der Protest gegen diesen: Es geht auch um fairen Wettbewerb und die Abschaffung von Privilegien und Monopolen, aber mehr noch um die Überbrückung soziokultureller Abstände, Zugang zu Bildung und beruflichen Positionen, die soziale Absicherung gegen Unglücksfälle etc. Schwerwiegend ist der Umstand, dass „der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht“, nämlich die arbeitsintensiven Industrien im Zuge der ‚Globalisierung‘ in Billiglohnländer abwandern. Es entstehen ganze Industriefriedhöfe, viele wichtige Arbeiten sind kaum noch bezahlbar, während manche hochbezahlte Beschäftigungen kaum wirklich wichtig sind (H. Fleischer). Natürlich können staatliche Regulierungen die Gesellschaft auch lahm legen und angemaßtes Wissen aufgrund „konstitutioneller Unwissenheit“ über die Folgen unserer Handlungen (F. von Hayek) unter Umständen den „Weg in die Knechtschaft“ ebnen. Doch entgegen neoliberalen Verteufelungen der aufgeblähten staatlichen Bürokratien und dysfunktionalen staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft, gilt natürlich, dass der Markt allein nicht ‚alles richtet‘ und insbesondere den Schwachen und Modernitätsverlierern nicht helfen kann: Gerechtigkeit ist nicht erst heute konservativ und läuft dem techno-ökonomischen Fortschritt, Schäden heilend und korrigierend, hinterher. Die Gleichheitsidee als Konstruktionsprinzip kann ihrerseits Schaden anrichten: wenn sie bestehende unvollkommene Regeln des Zusammenlebens durch ineffiziente Plansysteme ersetzt, oder aufgrund kollektiver, etwa ethnischer Merkmale die Forderung nach staatlicher Trennung der Gruppe von der Mehrheitsgesellschaft durchsetzt. Kollektiver Fortschritt muss, wie man weiß, nicht auch ein Mehr an individuellen Menschenrechten mit sich bringen. Die gewonnene nationale Souveränität lässt, nicht anders als die Gleichstellung Ungleicher innerhalb der Gesellschaft, eine Reihe von Folgeproblemen entstehen: Es geht um ergänzende Leistungen institutioneller, finanzieller, kultureller Art: um Förderung, Einbindung, Vermittlung von allgemeinen Werten. Demokratie funktioniert nur unter der Voraus setzung bestimmter gemeinsamer Normen und Regeln, die den Wahlgang erst sinnvoll machen; Anomie, Gleichgültigkeit gegenüber dem Ganzen und Gruppenfanatismus lähmen jedes demokratische System. Demokratie braucht Marktwettbewerb, aber lebt von mehr als nur den Gesetzen des Marktes. So auch die fiktive Gleichheit der internationalen Staatengemeinschaft mit ihren rivalisieren447
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den Ansprüchen, ihren faktischen Ungleichheiten und dem stets möglichen Rückgriff auf Gewalt: die Verhinderung von Gewalt und Anarchie bildet eine echte Fortschrittsperspektive, auch wenn beide dem brüchigen Zivilisations- und Demokratisierungsprozess immanent bleiben. Wirtschaftswachstum und die Ausbreitung technischen Könnens sind von eminenter Bedeutung nicht nur für den Ausgleich der Lebensumstände, durch sie allein wird aber weder Demokratie geschaffen noch die internationale Anarchie überwunden. Die weltweite Expansion wirtschaftlicher und technischer Rationalität lässt die Unterschiede zwischen den Gesellschaften erst einmal zum messbaren und schmerzlich empfundenen Entwicklungsrückstand werden (Aron), aber daraus entsteht gerade die gefährliche Neigung, eine importierte und imitierte Entwicklung als „zersetzende Kraft“ zu verteufeln oder mit der Verabsolutierung der eigenen, oft nur imaginierten Besonderheit zu verbinden, m. a. W. die gewonnene sozialtechnische Macht in den Dienst kultureller und politischer Gleichschaltung, wenn nicht ethnischer Säuberung zu stellen. Die politische Landkarte ist voll künstlicher Gebilde, deren unerfreuliche Herrscher nationale Souveränität in allen Fällen der Grammatik deklinieren. Natürlich bedarf alles Neue der kulturellen Assimilation; Staatszerfall und Aufkündigung des Völkerrechts, verwahrloste städtische Ghettos, soziale Anomie, aufgelöste Familien mit kriminellem Umfeld sind nicht einfach der hinzunehmende „Preis des Fortschritts“ wohl aber der Preis solcher übersehenen Folgeprobleme.365 Die Fortschritte der Geschichte hatten schon immer einen Rattenschwanz von Komplikationen, schwierigen neuen Situationen nach sich gezogen und die Notwendigkeit, sie durch Reform- und Kompromisslösungen aufzufangen. Dazu bedurfte es, gestern wie heute, sowohl phantasievoller Führung, wie illusionsloser Einsicht: Immer bedarf es demokratischer Kontrolle, aber vielleicht sollte diese nicht durch Plebiszite überstrapaziert werden. Fortschreitender Wertezerfall, das Fehlen normativer Maßstäbe, ökologische Katastrophen, terroristische Herausforderungen, in Kombination mit schrumpfenden Industrien und sinkender Nachfrage nach dem Allheilmittel Arbeit, lassen wieder die bange Frage aufkommen, ob die Menschheit noch nach den alten Rezepten des Industriezeitalters, das Freiheits- und Gleichheitsprinzip eingeschlossen, integrierbar ist. Nun hat spätestens die Geschichte des Kalten Krieges gelehrt, dass sich vernünftige Politik nicht unbedingt an Grundsätze hält und auch das technische Denken mit seiner blinden, nicht nur militärischen, Instrumentalität und den verabsolutierten Wachstumskoeffizienten nicht der Weisheit letzter Schluss ist: Flexible Risikoabwägung366 und kluge Inkonsequenz sind im Zweifelsfall vorzuziehen. Das bezieht sich nicht zuletzt auf den heute triumphierenden Neoliberalismus. Die industrielle und zivilisatorische Entwicklung der armen Länder 448
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ist ein legitimes Ziel, das die Ersetzung korrupter Oligarchien, autoritärer Klerus- oder Militärherrschaft und archaischer Unterdrückung der Frauen durch rechtsstaatliche, offene Gesellschaften einbegreift. Die Globalisierung trägt nicht nur zur Verlagerung der Industrien und Umweltkosten, zu Spitzengewinnen der Konzerne, sondern auch zur Umverteilung von Wissen und Wohlstand bei. Menschenrechte und Toleranz weltweit sind aber, wie gesagt, weder als Nebenprodukt expandierender Märkte und Technologien anzusehen, noch auf die Allerweltsformel der ‚Demokratisierung‘ zu bringen. Der Appell an die oft verzweifelten und manipulierbaren Massen braucht zumindest Rahmen und Gegengewichte, stabilisierende und integrierende Anstrengungen, nicht nur deregulierte Kapitalströme, die sich in der Regel jeder Solidarisierung und humanen Zielsetzung entziehen, ja statt produktiver Investitionen in wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritt gewaltige Vermögen in riskanten Finanzoperationen vergeuden. Man fragt sich nicht zuletzt, ob sich nicht nach der großen Computerrevolution der zweiten Jahrhunderthälfte die Erfindungen auf den wenig relevanten Bereich von Unterhaltungs- und Kommunikationsgeräten beschränken und die Welt nicht dem Ende ihrer Innovations geschichte entgegengeht. Das Internet versprach ursprünglich eine rasantere Völkerverständigung, als alle internationalen Organisationen und Diplomaten zusammengenommen, erleichterten Zugang zu Wissen und Bildung, die Unterminierung diktatorischer Regime, eine parallele Cyberwelt, eine Wirtschaft ohne Reibungsverluste (Bill Gates). Inzwischen hat der NSA für Ernüchterung gesorgt und die Aussichten auf Cyber War, der ‚Erblindung des Gegners‘ mit Hilfe von Computerviren (K. H. Metz), alles andere als beruhigend gewirkt: Auf dauerhafte Asymmetrie der Kriegstechnik ist kein Verlass. Historischer Fortschritt ist strikt genommen nicht planbar, aber ohne Problembewusstsein und Steuerungsbemühungen nicht zu haben. Die Verantwortung dafür nimmt uns kein objektiver Prozess, kein Systemzwang und schon gar keine suggerierte Logik eines historischen Prinzips ab. Auch das fiktive Gleichheitsprinzip der auf Macht und Prestige programmierten souveränen Staaten war ein solcher nachbesserungsbedürftiger Fortschritt: Die Erfahrungen der Europäischen Union könnten etwa die Richtung einer wünschenswerten Zivilisierung der Staatengemeinschaft angeben. Das bedeutet, trotz Öffnung der Grenzen, gerade keine Überantwortung an anonyme Gesetze des Marktes und des technologischen Veränderungsfurors, die der Welt zwar ein äußerlich ähnliches Gesicht und gemeinsame Probleme bescheren, aber keinen immanent-zielgerichteten Wandel auf eine internationale Wertegemeinschaft hin. Der Soziologe Ulrich Beck glaubt, dass das Bewusstsein von Risiken im Modernisierungsprozess einen quasinormativen Horizont neu belebt und globale Gefährdungen einen gleich449
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machenden Druck auslösen könnten, sich an einen Tisch zu setzen und gemeinsame Lösungen zu finden (Risikogesellschaft, 1986). Das ist in der Tat die Hoffnung, obwohl es im Dschungel staatlicher und korporatistischer Egoismen sowie irrational aufgeladener Konfliktgemeinschaften nach wie vor schwierig bleibt, zu einem vernünftigen Maß oder gar verbindlichen gemeinsamen Normen zu gelangen. Die Natur, auf die man sich noch im 18. Jahrhundert gern berief, ist aus der Quelle guter Ordnung und bürgerlicher Tugenden zur Norm bloßer Selbsterhaltung und eines bequemen Lebens geworden; von der neuzeitlichen Wissenschaft neutralisiert, als Instanz historisch falsifiziert, in den Zivilisationsprozess selbst hineingeholt worden. Aber auch die neuzeitliche Vernunft ist, herrschaftsideologisch „dekonstruiert“, in Verdacht geraten. Können wir aus dem ständig wachsenden Potential von Wissen und technischem Vermögen selbst Leitlinien unseres Handelns entwickeln? Die überspezialisierten Wissenschaften mit ihrem fragmentierten Expertentum neigen dazu, sich von moralischer Verantwortung zu verabschieden oder lassen, nach Ulrich Becks Formulierung, gerade das Wesentliche durch ihre Netze fallen: die Risiken liegen quer zu ihrem Sichtfeld und sind in der Praxis ein Gegenstand kultureller Widerständigkeit, wenn nicht existenzieller Angst geworden. Die Hermeneutik der Angst führt aber häufig nicht zur Vernunft, wie Thomas Hobbes geglaubt hatte, sondern in fundamentalistische Proteste und Betroffenheitsgemeinschaften mit teilweisem Realitätsverlust, wenn nicht dem Ruf nach Ausnahmegesetzgebung. Statt weitsichtige Lösungen, ein Gleichgewicht ökonomischer, ökologischer und politischer Probleme anzustreben, starrt die Angst gebannt auf kurzfristige Ziele, wie polizeilich definierte Sicherheit, die Schaffung von Arbeitsplätzen um jeden Preis, oder beschwört den Teufel lauernder Umweltgefahren mit dem wissenschaftlich autorisierten Beelzebub eines bürokratischen Dirigismus. Die Risikowahrnehmung kann implizite Wertvorstellungen über ein lebenswichtiges Thema enthalten, doch tritt das Normative damit nur noch als Protest, Negativaussage und Schadensbegrenzung in Erscheinung. Dies ist legitim und notwendig,367 die Norm wird aber, wie wir an anderer Stelle bemerkt haben, zum Bedenkenträger und Schädensanierer, der den entgrenzenden Fortschrittsprozessen gegenüber sekundär bleibt. Die Zukunftszugewandtheit der westlichen Tradition konnte leitmotivisch an die Herabstufung der Dingwelt anknüpfen und wurde als „Immanentisierung des christlichen Eschaton“ (Voegelin) immer auch als Gefahr empfunden, die wirkliche Welt durch ihre Visionen zu ersetzen. Heute wird sie manchmal zum Schreckbild einer jeder Kontrolle entglittenen Zweck rationalität, vom Versprechen von Blochs „Noch nicht“ zur Bedrohung. „Im Niemandsland zwischen einer restlosen technokratischen Aneignung der Aufklärung 450
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und der fundamentalistischen Ablehnung ihres gesamten Erbes“ scheinen die normativen Wurzeln der Moderne zu verdorren (H. Dubiel). In Wirklichkeit bleiben diese lebendig, solange uns die Sinnlinien der europäischen Vergangenheit noch ansprechen. Vielleicht ist aber Angst ein Missverständnis und Furcht geistiger Art (Hans Jonas) die adäquate Haltung gegenüber unseren Problemen. Diese geht aus von der Extrapolation möglicher Folgen unserer Praxis, wobei ein selbsttätiges Momentum kumulativ das Wollen überflügelt. Die bisherige Evolution konnte sich unzählige Irrtümer im Einzelnen leisten, aus denen die tastende Natur in geduldigem Verfahren die Erfolge aussiebte. Heute, wo die Menschen den langsam arbeitenden Zufall durch einen ständigen Wettlauf der Innovationen ersetzen, geraten unvermeidliche Irrtümer möglicherweise zu irreversiblen Entwicklungen. Es sind nicht nur Umweltschäden und knappe Ressourcen: die exzessive Macht unseres Wissens und Könnens droht das Geschenk der Freiheit, die menschliche Fähigkeit zu Transzendenz, Werturteil, verantwortlichem Handeln, im „Schmelztiegel technologischer Alchemie“ aufzulösen (Prinzip Verantwortung 74). Der Pendelschwung vom enthusiastischen Wissenschaftsglauben zur Verteufelung des entfesselten Fortschritts übersieht die Tatsache, dass ohne angewandte Wissenschaft sich weder die Lebensgrundlagen von bald sieben Milliarden Menschen erhalten noch eine zuverlässige Situationsanalyse der Gegenwart herstellen lässt. Die Zukunft kann aber auch verspielt werden, wenn wir unsere historische Reaktionsbasis vergessen: nicht den einen verbindlichen Wertekanon als Identitätskern, sondern eine Vielfalt nicht-selbstverständlicher Sedimente der gemeinsamen kontroversen Vergangenheit. Sie entziehen sich Kosten- und Nutzenrechnungen, ebenso wie demokratischer Willensbildung: man kann über sie nicht abstimmen lassen. Vor allem hindern sie sich gegenseitig daran, zur verbindlichen Leitideologie aufzusteigen. Das war die große Lektion des europäischen Liberalismus, der einzelne Lebensbereiche gegen politische Verfügung und Gleichschaltung absicherte. Angesichts der entgrenzenden wissenschaftlich-technischen „Treibtendenz“ scheint die Welt diese korrigierende Funktion zu vergessen und sich auf einen archimedischen Punkt außerhalb unserer europäischen Geschichte zu beziehen (P. Opitz). Die tolerierte Vielfalt unserer Geschichten steht nicht einfach im Zeichen ihrer Relativierung, um nicht zu sagen: ihres Absinkens in Bedeutungslosigkeit.368 Die gegenseitige Herausforderung zwang zur Anerkennung von Verfahrensregeln, die einen unendlichen Diskussionsprozess mit offenem Ausgang zur europäischen Norm erhoben: Die Gegensätze sind nicht aufzuheben, sondern in geregelter Form auszutragen. Im Austausch für verlorene Gesamtvisionen schaf451
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fen sie fruchtbare Spannung und Reflexionsfähigkeit, die im Rahmen eines monopolisierten Systems von Bedeutungen und vorgegebenen Zwecken erstarrt. Ein Strang der europäischen Zivilisation, das griechische rationale Erbe, hat sich als weitgehend universalisierbar erwiesen; weniger sicher ist, ob sich auch andere, spezifischere Elemente, wie humanitäre Ethik, individuelle Freiheit, Toleranz, Rechtsbindung, wissenschaftliche Redlichkeit und weltanschauliche Zurückhaltung der Politik, auf unterschiedlich geprägte Modernisierungsgesellschaften übertragen lassen. Die Fortschrittsidee ist aus westlichem Geist und ihre Elemente sind immer noch erkennbar, wiewohl sie sich im Verlauf ihrer zweieinhalbtausendjährigen Odyssee vielfach verwandelt haben. Es macht nicht viel Sinn, zu diesen Grundmotiven zurückkehren zu wollen und sie mit Leo Strauss als vermeintlichen Gesundbrunnen einer heillosen Gegenwart entgegenzuhalten, sowenig, wie sie als Schuldige an europäischen Fehlentwicklungen an den Pranger zu stellen. Die „reinen Ideen“ waren in der geschichtlichen Wirklichkeit immer auf materielle Verbündete angewiesen, sind mit unterschiedlichen Motiven in kompromittierende Verbindungen eingegangen. Auch heute entstehen dichotomische Situationen: etwa wenn die Europäer, die anderen Kulturen die Menschenrechte predigen, sich vor Flüchtlingsströmen aus der Dritten Welt verbarrikadieren.369 Auf geistesgeschichtlicher Ebene waren es etwa die absolute Transzendenz Gottes, die radikale Unterscheidung zwischen Wahrheit und der Welt der Dinge, zwischen dem Eigenen und dem Eigentlichen, die Herabstufung aller Kulturleistungen zu Zwischenetappen auf dem Weg ins Gottesreich, die den westlichen Kanon geformt haben. Sie sind, mehr oder weniger säkularisiert und verfremdet, als westliche Leitgedanken durchaus wiederzufinden; manchmal als Karikatur und fast immer als Kompromiss, oft sogar ein heilsamer. Was die Faszination einer Geschichte des Fortschrittsglaubens ausmacht, ist nicht nur dieses Wiedererkennen, die „Anwesenheit des Abwesenden“ (Paul Riceur): mehr noch die Wandlungs- und Lernfähigkeit der Idee aus geschichtlichen Sackgassen und ungewollten Folgen großer Projekte. Die wachsende Geschichtszugewandtheit der Gegenwart muss keine melancholische Flucht oder Modernitätsverweigerung darstellen, es sei denn die Kompensation eines allzu rasanten Innovationstempos. Das könnte man auch als Chance begreifen, angesichts der allgemeinen Verunsicherung durch ein bodenlos gewordenes total engineering den zivilisatorischen Boden dieser Dynamik zu untersuchen, und das hieße: aus der Größe und den Abgründen des europäischen Abenteuers zu lernen.
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Epilog: DER FORTSCHRITT – EIN BIBLIOGRAPHISCH THEORETISCHER ESSAY
Die Menschen orientieren sich an Zeichen, nicht zuletzt an Zeichen der Zeit. Es gibt natürliche Zeichen, wie die Morgendämmerung oder die Wiederkehr des Frühlings; Bewegungen der Sterne, denen Einfluss auf die menschlichen Dinge zugesprochen wird. Es gibt konventionelle Zeichen, die die Gliederung des unbestimmten Fließens der Zeit in Stunden und Minuten ermöglichen oder die Zählung der Jahre nach dem angenommenen Geburtsdatum des Jesus von Nazareth. Mit Naturzeit hat kaum noch zu tun, wenn wir die Jahreszyklen in Jahrhunderte zusammenfassen und nach diesen Zeit-Räume bilden: Hesiods Zeitaltern, der altpersischen Äonenlehre und den römischen saecula lagen willlkürliche Zeiteinheiten zugrunde. Der Kalender stützt sich auf die natür lichen Abläufe, dient dabei primär kultischen Zwecken, der Verankerung der Gemeinschaft im Numinosen. Wenn es nicht mehr gelänge, das genaue Datum des Osterfestes zu ermitteln, so glaubte das frühe Mittelalter, würde die Welt im Nichts versinken. Viele unserer Zeitkonventionen gehen bis auf die alten Ägypter zurück, andere sind vergleichsweise spät entstanden. Oft liefen verschiedene „Zeiten“ nebeneinander; jede Kultur hat ihre Zeit, und die der Gelehrten war nicht die des Volkes. Erst in der europäischen Neuzeit schob sich definitiv über die natürlichen Jahresrhythmen der bäuerlichen Zeiterfahrung und das unscharfe Bewusstsein der einzelnen Lebenszeit eine abstrakte, lineare Zeitachse mit der klaren Unterscheidung des Vorher und Nachher, einem Bewusstsein des unwiederholbaren Augenblicks, des einzigartigen ZeitPunkts. Auf eine Weise wurde erst dadurch Geschichte im heutigen Verständnis möglich: rückblickende säkulare Bilanzen; auch die Zukunft als ein mögliches innerweltlich Anderes.370 Die Trias Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft auf der Basis einer irreversiblen, gleichmäßig fließenden Zeit, jenseits der agrarischen, zyklischen Zeiterfahrung, ist abhängig von neuen Lebensformen, Erwartungen, Mentalitäten, nicht zuletzt technischen Geräten. „Naturvölker“ leben in der Dauer einer 453
Epilog: DER FORTSCHRITT – EIN BIBLIOGRAPHISCH THEORETISCHER ESSAY
kaum gemessenen Gegenwart, die nur von der Erinnerung an einzelne Katastrophen durchbrochen und von der sozialen Ordnung der Altersklassen strukturiert wird. Ursprungsmythen erklären die Entstehung von Institutionen oder Bräuchen und die Geltung bestimmter Normen; exemplarische Geschichten setzen ein unverändertes Wertesystem und einen gemeinsamen Erfahrungsraum voraus, ein gemeinsames Schicksal.371 Noch die klassische Antike kennt Geschichten, aber keine unwiederholbare, einzige Geschichtszeit, und „Fortgang“ nur im allgemeinen Sinn von Aufstieg und Niedergang eines konkreten Gemeinwesens. Die entstehende christliche Welt erfand aus dem Rückblick auf die biblischen Geschichten und der Erwartung des kommenden Heils die universal gedachte, lineare historisch-theologische Perspektive, doch blieb der Bezug zur Realgeschichte unklar. Die christliche Zeit erhielt vom Eschaton her den Charakter einer einseitigen Gerichtetheit und Unumkehrbarkeit: Die von außen hereinbrechende „Voll-Endung“ ist „erfülltes Ende“ (Paul Tillich) und nimmt das Geschehen vorweg; doch haben die kreislaufförmigen Prozesse der täglichen Erfahrung mit dem Zukunftshorizont der kommenden Gottesherrschaft nicht viel zu tun. Auch das Kirchenjahr und seine Feste haben kein „fortschreitendes“ Zeitgefühl ins kollektive Bewusstsein der stationären Raumgemeinschaften gebracht; ihr irdischer „Erwartungshorizont“ war nicht grundsätzlich von ihrem alltäglichen „Erfahrungsraum“ unterschieden (Koselleck).372 Die Zeit-Zeichen werden immerhin sakralisiert und mit Sinn verbunden Sie verleiten nach den Worten Kants dazu, den Dingen eine „innere Realität zuzuschreiben, nach denen sie sich zu richten hätten“. Kalenderereignisse werden noch in weitgehend säkularisierten Epochen mit quasi-magischen Bedeutungen aufgeladen; sie wecken fin-de-siècle-Stimmungen, ja eschatologische Ängste. Schon die Vorstellung von der Endkatastrophe und dem Jüngsten Gericht sind Mythologisierungen einer authentisch-christlichen Ausrichtung auf das Gottesreich, das das raumgebundene, „sinnfreie Nur-Seiende“ durchbricht und Neues setzt, das sich nicht immanent ‚entwickelt‘ (Tillich). Die Anmaßung einer selbstgesetzten Zeitordnung ist folglich undenkbar; der Mensch sucht Entlastung bei Mächten, die die Lebensrhytmen ontologisch verankern und auch das einzelne Handeln einem vorgegebenen Schicksal unterwerfen. Die „Zeichen der Zeit“, die Jesus den Pharisäern entgegenhält (Matth. 16, 3) beziehen sich auf eine kommende Endzeit jenseits aller Möglichkeit kalendarischer Bestimmung oder Berechnung. Auch die Modernen suchen über eine alltägliche Orientierung hinaus nach nicht-selbstgesetzten Zeichen der Zeit, ordnen diesen autosuggestiv ihre Erwartungen unter. Ein die ewige Gegenwart überschreitender Zeithorizont ist, wie schon gesagt, eine befremdliche, den Zyklen der vormodernen Alltagserfahrung 454
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fremde Position. Er setzt ein außeralltägliches Charisma voraus, die Fähigkeit ‚vorauszudenken‘ und entsprechend zu handeln. Dazu waren die Menschen zwar, bei Strafe des Untergangs, in unterschiedlicher Weise schon immer fähig; doch beschränkte sich ihr Vorausdenken meist auf Vorsorge gegen die Launen der Natur oder andere Unwägbarkeiten. Wissen um vorherzusehen, savoir-pour-prévoir, als Überlebenspraktiken und Magie, Techniken der Naturbeherrschung und Regeln des Gemeinschaftslebens in einem, stellen eine primär erhaltende, konservierende menschliche Kraft dar. Sie wird getragen vom Wunsch nach Beständigkeit und Wiederholung des Gleichen; ihn repräsentiert das Ritual, das Identität im Wandel stiften, den Fluss des Vergehens aufhalten und das stets drohende Chaos bekämpfen soll. Das Fortschreiten ist dem gegenüber nicht nur quantitativ unterschieden, sondern von anderer Qualität. In einer dem geordneten Kosmos verbundenen Welt wird das SichVorwagen ins Unbekannte als unheimlich empfunden und entsprechend tabuisiert bzw. Titanen, Hexen und Orakeln überlassen.373 Die Dimension der Zukunft im eigentlichen Sinn erschließt sich aber nicht einfach aus der prometheischen, ‚vordenkerischen‘ Fähigkeit, die Götter der Natur zu überlisten. Einen anderen Weg der Öffnung des Horizonts, der Lösung aus der Bindung an die natürlichen Kreisläufe, an die Götzen des Raumes, der Vergangenheit und an die Zwänge der Gegenwart, gehen jüdische Prophetik und Apokalyptik. Er ist schon im Motiv des Exodus enthalten, der Hoffnung auf Befreiung und Gerechtigkeit, die sich verfestigt zum Motiv der Hingabe ans Kommende, das zugleich das Wahre ist. Das nomadische Leit motiv des Aufbruchs aus dem Haus des Dienstes sublimiert sich in der hebräischen Bibel zur Verpflichtung auf das absolute Sollen eines Gesetzes, das hoch über der schlechten Wirklichkeit steht, als prophetische Absage ans Gewohnte, nicht zuletzt als Messiaserwartung. Unter dem prägenden Einfluss der Propheten des 8. und 7. Jahrhunderts erscheint die Geschichte des Volkes Israel als sinnvolles Ganzes, erfüllt von innerer Spannung zwischen Verheißung und Abfall, Strafe und innerweltlich aufgefasstem Heil.374 Der Traum vom Neuen Jerusalem ist dann, nicht nur durch die JohannesApokalypse, als eine Art heimlicher Code in die westliche Geistesgeschichte eingegangen, hat aber über den Wunsch, das Reich Gottes zu verwirklichen hinaus unser Denken geformt: die dem Neuen zugewandte Erwartung, eine von der römischen Kirche lange gebändigter, aber immer wieder emporschießender unterirdischer Strom. Kurzschlüssige Verbindungen des Transzendenten mit profaner Heilsgeschichte sollten vermieden werden. Auch der unablässig tätige homo faber der Neuzeit, mit verkürzten Erfahrungsräumen und weltlichem Selbstvertrauen, hat sein spezifisches, aus dem eschatologischen Code nicht direkt ableitbares Lebensgefühl, kann aber dennoch auf bekannte 455
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Motive und Denkfiguren zurückgreifen. Vor allem die ‚Geschichtsphilosophie‘ der Neuzeit, die die christliche Verheißung weltlich uminterpretiert und Gott als ‚Weltgericht‘ in die Geschichte versetzt: Sie ist weniger empirische Verallgemeinerung geschichtlicher Erfahrung, wie selbstlegitimierende Theologie, eine Kombination von Prophetie und Politik, Heilserwartung und Willen zum Anderen.375 Der Gegenstand der Erwartung variiert ohne Zweifel, ebenso wie die Art und Weise, wie sich das Zukünftige öffnet, aber Prognose und Prophetie verschränken sich (Hölscher). Der Mut zum Neuen, der die bisherige Erfahrung überschreitet, bedarf wie in archaischer Zeit psychologisch der Ausrichtung auf ein übergeordnetes Ziel, der Einbettung des Angestrebten in eine Art natürlich-göttliche Teleologie. Gott hält seiner Schöpfung die Treue, hatten die Kirchenväter gelehrt: das Böse ist letztlich wesenlos, ein bloß abwesendes Gutes oder Vehikel zu angenommenen höheren Zwecken. So können noch die Vorkämpfer des Fortschritts unterstellen, dass alle vorgegebenen Möglichkeiten auf das Gute, eben Vervollkommnung, gerichtet sind; gut wozu? wird erst Nietzsche fragen.376 Wenngleich der Topos ‚Aufbruch‘ in der Tradition die Gewissheit des Ankommens nicht einbegreift und das erreichte Neue, wie im Fall des Kolumbus, nicht das Erwartete ist, wird der sich öffnende Zeit-Raum der Zukunft nicht einfach als newtonscher Leerraum aufgefasst, sondern als strukturiertes Feld mit Wegzeichen für das menschliche „Voranschreiten“. Wie sich im Mittelalter die konträren Ideen des Imperium Romanum und des christlichen Heilsplans zusammenfanden zum provisorischen katechon (im Sinn von ‚Verzögern‘) des Heiligen Reiches, so in der Neuzeit die herkömmliche Erwartungshaltung mit dem Glauben an weltliche Erfüllung in der Zeit. Es bedurfte einer langen geistigen Übung, Veränderungen nicht als unumgänglichen Verfall oder a priori Gefährdung der Ordnung zu empfinden, sondern mit Hoffnung zu verbinden – und die Vorsehung nicht als Ersatz eigener Anstrengungen, sondern allenfalls Absicherung gegen die Kurzsicht menschlicher Intentionen zu verstehen. Es war wohl ein Unterschied, ob man sich Zukunft als Ankunft (adventus, avenir) vorstellte, die präexistent auf den wartenden Menschen zukommt, oder als etwas eigenverantwortlich Bewirktes. Ein vermittelndes Zwischenglied zwischen beiden Auffassungen lieferte die Zeit als Raum der Bewährung, der auch den neuen Zukunftsbegriff, als innerweltliches „Ankommen“, providential ausgerichtet empfand: die futura res, die kommenden Dinge, werden vom Sollen des göttlichen Auftrags, einer höheren Zielbestimmung repräsentiert, nicht von der unberechenbaren Fortuna oder der auslaufenden Sanduhr, dem Symbol des Unsicheren und Belang losen.377 Das Plus ultra des bisherigen Erfahrungsraums bleibt damit teleolo456
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gisch strukturiert und sinnvoll, trotz Säkularisierung mit einem Hauch jener „hereinbrechenden Wahrheit“ des hebräischen ämet verbunden. Am Fortschrittsdenken haftet immer ein Korrelat realgeschichtlicher Erfahrungen, es ist aber nie einfach nur deren Ausdruck. Jede rückblickende Selbstvergewisserung ist wertende Auswahl aus einer Vielfalt kontingenter Handlungsabläufe; sie bedeutet die Ausrichtung der heterogenen Geschichten auf eine bestimmte Gegenwart. Das heißt: die vieldeutigen Tatsachen, die eigenständigen Konstellationen und kurzfristigen Motive der Handelnden werden ausgeblendet und ein übergreifender Zusammenhang, wenn nicht ein verborgener Zweck unterstellt, der sich ohne Zukunftsbezug aus einer nüchternen Fakten- und Kausalanalyse nicht ergibt. Diese Abstraktion muss nicht unmittelbar dem frommen Motiv entspringen, den historischen Zufall zu leugnen und die Blindheit oder böse Absicht der Akteure aufzuheben in einem höheren Sinn bzw. „Sendung“, ist aber in allen seinen Varianten von diesem Denkmuster abgeleitet. Diese Erkenntnis ist den systematisch katalogisierenden Übersichten der Fortschrittsideen, mit gemeinsamem Nenner von „meliorative change“ (Van Doren), häufig abhanden gekommen. Neben dem keineswegs selbstverständlichen Konzept eines irreversiblen und allgemeinen Fortschritts werden gleichberechtigt Auffassungen registriert, die den Aufstieg auf ein bestimmtes Zeitalter oder eine besondere Kultur beschränken und die lineare Zeit organischen Zyklen unterordnen. Es erscheint ebenso möglich, den Geschichtsprozess als mehr oder weniger zufällige cumulative change, mit variierenden Leitvorstellungen aufzufassen, während andere die verschiedenartigen Fortschritte von quasi-kosmischen Gesetzmäßigkeiten ableiten wollen. Die sinnstiftende, projektive Funktion und der kulturelle Hintergrund der Fortschrittsentwürfe werden ausgeblendet378 und auch in der eigenen Betrachtung der Fortgang der Menschheit als eher ambivalentes Abenteuer voll unbeabsichtigter Resultate der Handlungen, vorsichtig vom subjektiven Wissen und Wollen unterschieden (J. Romein)379. Es ist bezeichnend, dass manche Autoren die heterogenen Fortschritte auf die Vergangenheit beschränken und zumindest jede Zukunftsprognose vermeiden. Das ist vermutlich realistisch, lässt aber das Thema zerbröseln. Vor allem: Nur wenn die Dimension der Zukunft die Betrachtungen trägt, zeigt sich auch der Anteil normativer Vorannahmen. Die hebräische Bibel wurde in der christlichen Tradition als Epiphetie, rückwärtsgewandte Prophetie, benutzt, die Erfüllung in der Zukunft versprach: Für die wertunsichere Moderne, mit immer weniger Kontinuität der Lebensordnungen, wird die Vergangenheit zum selektiv genutzen Steinbruch oder Sprungbrett.380 Das alte menschliche Bedürfnis, den unvermeidlichen Tod zu überlisten, – durch 457
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Beeinflussung der Nachwelt bzw. des Totengerichts, kommt zum Ausdruck als Verwandlung der unterschiedlichen Deposita der Menschheitsgeschichte in einen einzigen, unverlierbaren, ständig wachsenden Fonds des Fortschritts: eine kaum einzulösende Operation. Durch konkrete Zeitumstände hat die Fortschrittserwartung jeweils verschiedene Ausprägungen erfahren, aber die „Mythen des Zeitgeistes“ werden erst nachträglich, durch den Bezug auf eine historisch gewachsene kulturelle Denkfigur, als Stufen verstehbar gemacht (F. Rapp). Dieser Hintergrund des europäischen Nebeneinanders und IneinanderVerflochtenseins unterschiedlicher Traditionsstränge ist der Grund, warum unser Thema nicht ausschließlich als moderne Ideengeschichte, mit dem impliziten Anspruch einer Widerspiegelung realgeschichtlicher Fortschrittsprozesse, abgehandelt wird. Darin bestand die Schwäche der lange Zeit wegweisenden Monographie John B. Burys von 1920 (The Idea of Progress). Für den philosophisch interessierten britischen Althistoriker († 1927) war die Fortschrittsidee auf ein modernes säkularistisches Ideenklima beschränkt, während die zyklische Zeiterfahrung und das überwiegend resignative Denken der Antike, ebenso wie die Erbsündenlehre und die auf Gottes Eingriffe zentrierte Geschichtsauffassung des Mittelalters das Aufkommen der Idee einer kontinuierlichen Verbesserung des menschlichen Lebens zu behindern schienen.381 Bury war kein naiver Anhänger eines naturwissenschaftlichen Evolutionismus, obwohl er den Fortschritt durchaus analog zur biologischen Adaptation als aufsteigenden Lernprozess der Menschheit auffasste, und vor Finalitätsdenken warnte: davor, unser Bild der Vergangenheit, wie bei seinem gelehrten französischen Vorgänger Delvaille, zu sehr von selbstzufriedenen Gegenwartsvorstellungen beeinflussen zu lassen. Zum Fortschrittsgedanken gehörte für Bury anderseits gerade der Leitgedanke der Epoche, das Zeitzeichen, das die Erfahrung apperzeptiv beherrscht. „Der psychische Charakter der kausalen Beziehungen ändert das Problem grundsätzlich“, bemerkte er schon 1909 an die Adresse biologistischer, den subjektiven Faktor ignorierender Geschichtsdeutungen (Darwinism and History). Aber Bury war im Grunde nüchterner Positivist, für den eine kritische Hinterfragung des grundsätzlich standortgebundenen Relationsbegriffs auch nach der Erfahrung der Weltkriegskatastrophe nicht aktuell war. Immerhin verbat Bury die unsichere Zukunft, die „unsere Perspektive überwacht“, allzu schnell von der schmalen Basis neuzeitlich-europäischer Erfahrung abzuleiten. In der Tat nimmt die Dimension der Zukunft sowohl als Erwartung auf unser Handeln Einfluss, wie sie umgekehrt – als unerwartete Erfahrung – nach rückwärts unser Geschichtsbild verändert.382 458
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Fortschritt ist als Perspektivbegriff angewiesen auf Sinnzusammenhang bzw. „Wertprojektion“ in beiden Richtungen: die Chance, menschliches Handeln in der Vergangenheit als nachvollziehbar zu betrachten und späteres Handeln daran anknüpfen zu lassen. Er setzt eine Abstraktion von dem vielen Disparaten und Singulären der Erinnerung voraus; man entwirrt das bunte Knäuel der geschichtlichen Abläufe, reduziert es auf den einen roten Fortschrittsfaden. Das ist nicht nur ein Akt der Erkenntnis, sondern der Glaubenswahl, zumindest „kreativer Rekonstruktion“, bei der, wie in der Bibel, ein privilegierter Teil für das Ganze steht. Eine Sicht der Geschichte im emphatischen Sinn, die sich nicht als „Ungeheuer“ begreifen will, „das sich selbst verschlingt, um sich wieder zu gebären, wie es schon war“ (Fichte), sondern als ständiges Fortschreiten in gerader Linie, ist, wie im deutschen Idealismus, Leitidee des handelnden Menschen: keine faktische Feststellung, sondern moralphilosophisches Postulat.383 Geschichte als reines Kausalgeschehen oder bloß zeitliches Nacheinander, foucaultsche „Geisteswissenschaft minus Geist“, ohne übergreifende Ausrichtung auf einen gemeinsamen Sinn, lässt noch die größten Einzelleistungen ins Leere (bzw. ins bloße Museum) laufen. Es bleibt aber fraglich, ob Geschichte als sinnerfülltes Geschehen innerweltlich überhaupt feststellbar ist – ganz abgesehen vom schwer abzuweisenden Zweifel, ob das Überlebende auch das Höhere ist: Seit der geistigen Revolution des Historismus wird es tatsächlich immer schwieriger, die Fortschrittsperspektive auf mehr als nur subjektive Optionen zu stützen. Der Zukunftserwartung fehlt das ‚Weltvertrauen‘, die Perspektive einer objektiv vervollkommnungsfähigen Welt.384 Als eine primär handlungsanleitende Idee, Träger spezifischer Werte und Bezugssystem des europäischen Denkens, erscheint die Fortschrittsidee beim Kritiker Burys, dem amerikanischen Geisteswissenschaftler Robert Nisbet (History of the Idea of Progress, 1980, 1994). Nisbets eher vage Fortschrittskonzeption geht einerseits aus von einer gefühlten Aufwärtsbewegung in der Gegenwart, anderseits von inhaltlicher Kontinuität zwischen Vorgängern und dem eigenen Streben, also etwa dem Sozialismus als Gegenwartsprojekt und seinen ‚utopischen‘ Vorläufern. Der Fortschritt lässt sich aber in seiner Sicht doch nur als Glauben feststellen, nicht durch rationale Berechnung oder quantitative Überprüfung; als Axiom geht er, selbstevident aller Praxis voraus. Fortschritt gilt Nisbet als geprägt von religiösen Vorstellungen oder „intellectual constructs derived from religion“. Nisbet weiß, dass die einzelnen Komponenten des Fortschrittsglaubens einander konträr gegenüberstehen können und dass ein Mehr an Freiheit, Wissen und Können nicht mehr Glück oder sittliche Vervollkommnung bedeuten muss; dass sich auch der Totalitarismus des 20. Jahrhunderts auf missbrauchte Fortschrittsideen berief. Der Fortschritt 459
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gilt in erster Linie als „unterstützender Glaube“ von zweieinhalb Jahrtausenden, der mehr als jede andere Idee in der westlichen Welt Kreativität und Hoffnung ausgelöst hat. – Natürlich lässt sich der Fortschrittsgedanke nicht auf ‚Nutzenkalkül‘ einschränken, sondern setzt historisch ältere Denkfiguren und Wertvorstellungen voraus, die freigelegt werden müssen. Die Einbeziehung von Antike und europäischem Mittelalter ist deshalb methodologisch wichtig für das Verständnis der Fortschrittsidee; nur lässt Nisbets Vorgehen ein begriffskritisches Instrumentarium vermissen; durchgehaltene Worte sind noch kein hinreichendes Indiz für gleichbleibende Sachverhalte (Koselleck), sondern sollten immer semantisch auf ihre zeitgenössische Bedeutung hin aufgeschlüsselt werden.385 Diesem Defizit wollen andere Autoren dadurch abhelfen, dass sie bei der Rekonstruktion des Fortschrittsdenkens nicht vom Terminus ausgehen, sondern diesen als Derivat der Realgeschichte (Acham) interpretieren. Die These war nicht neu und stellte insbesondere in Frankreich, trotz Delvailles Nachdruck auf intellektuelle Initiative, Ideen, Kritik und moralisches Engagement als Triebfedern des Fortschritts, die nach wie vor führende Lehrmeinung dar. Den Ausgangspunkt bilden nicht weiter reflektierte „Modernisierungsprozesse“ in verschiedenen Bereichen, das spezifische Gefühl, in eine irgendwie beschleunigte Geschichte hineingezogen zu werden, das die Relevanz der bisherigen Erfahrung auflöst. Ein erhöhtes Könnensbewusstsein und eine dynamisierte historisch-immanente Zeit geben den neuen Telos der Naturbeherrschung vor, wobei jedoch der Wille, die Geschichte selbst rationaler Ordnung zu unterwerfen, etwa den Kreislauf der „spätfeudalen Krisen“ zu bändigen, an Grenzen stößt. Die Welt kann nicht mehr als Kosmos verstanden werden, aber eben auch nicht ohne Zuhilfenahme traditioneller Geschichtszeichen (Kittsteiner: Naturabsicht, 1980).386 Es war kein plumper Überbau-Reduktionismus, wenn Kittsteiner das neue Bewusstsein mit dem realgeschichtlichen Prozess der Kapitalakkumulation parallelisierte und die neue Zuwendung zur Geschichte von den misslungenen Versuchen einer Stabilisierung der Krisen des 17. und 18. Jahrhunderts ableitete. Es war auch nicht ohne Witz, die dabei ins Spiel gebrachten, mitgeschleppten geschichtstheologischen Kategorien eines verborgenen Sinns, einer gütigen Vorsehung oder Naturabsicht, mit den Unwägbarkeiten der entstehenden Marktgesellschaft in einen Zusammenhang zu bringen. Der Hinweis auf den religiösen Ursprung der geschichtsphilosophischen Begriffe musste diese nicht illegitimieren, obwohl die „Umbesetzungen im historieeschatologischen Ensemble“ (Odo Marquard) nicht ganz verbergen können, dass immer noch das alte Spiel Erlösung gespielt wird. 460
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Kittsteiners kenntnisreiche und in vielen Aspekten ernstzunehmende Korrektur einer realhistorisch unbedarften aufklärerischen Geschichtsrhetorik ist natürlich nicht das letzte Wort der Fortschrittslehren. Seine Konzeption hat sich im übrigen nach 1980 modifiziert und auf eine Kritik aller teleologischen Rückversicherungen der Geschichte, einschließlich der marxistischen, konzentriert. Nicht das Ende von Lyotards großen legitimierenden Erzählungen ist danach gekommen und schon gar nicht Fukuyamas Ende der Geschichte, sondern nur ein Ende der Fallen geschichtsphilosophischer Teleologie.387 Was das für den Fortschrittsbegriff bedeutet, wäre dabei zu klären: ob die kritisch-historische Aufarbeitung nicht die Vorwegentscheidung gegen die Möglichkeit seiner Aktualisierung ist. Die Geschichtsteleologien werden, spätestens seit Karl Popper und ihrer postmodernen „Dekonstruktion“ als Herrschaftsstrategie, gar Rechtfertigungsinstanz für Unterdrückung und Terror, für indiskutabel gehalten. „An die Stelle der Sünder gegen Gott treten die ‚Übeltäter, die sich dem Gang der Geschichte vergeblich widersetzen“.388 Ist es trotzdem möglich, sozusagen auf der geschichtsphilosophischen Schwundstufe eines wissenschaftlich-technischen Kernbereichs, einen Rest Fortschrittsdenken zu retten? Seit dem 18.Jahrhundert hat es immer neue Anläufe zu einer Illegitimierung der bisherigen Geschichte der Kriege und der antiquierten kulturellen Werttafeln gegeben – zugunsten einer Politik wie Ideologie entwertenden wissenschaftlich-technischen Fortschrittsgeschichte. Johannes Rohbecks jüngster Rehabilitationsversuch der Geschichtsphilosophie greift auf solche ihm vertraute Konzepte der Aufklärung als Theorieansatz zurück: nicht ohne weise reservatio mentalis, die utopische Erwartung des technischen Fortschritts als Promotor menschenwürdiger Verhältnisse habe sich allerdings verbraucht. Eine der Aufklärung verpflichtete mittelfristige Geschichtsphilosophie, „jenseits von Technoeuphorie und Entfremdungsangst“, sollte den beschleunigten Wandlungen einer radikalisierten Moderne gerecht werden (Rohbeck: Technik – Kultur – Geschichte, 2000).389 Auch dieses Projekt erweist sich in einzelnen Aspekten als nützliche Korrektur, etwa der schroffen Dichotomie von Kultur und Zivilisation, die vor allem in den deutschen Diskursen früher eine große Rolle gespielt hat: Die ‚geschichtsblinde‘ Technik schaffe zwar ständig Vergangenheit als normativen Bezugspunkt ab, aber eröffne mit ihrem Überschusspotential auch neue Horizonte für Handlungsmöglichkeiten, sogar Wertvorstellungen. Das Technische und das Kulturelle durchdringen einander, und es gibt nach Rohbecks Formulierung keine eigentlichen Bedürfnisse, die gegen die Technik in Schutz zu nehmen wären. Das ist eine gewagte These, die z. B. den legitimen Konflikt zwischen Lübbes „Herkunftsgeschichten“, von denen unsere Identität abhängt, und der abstrakten Logik übergreifender Geschichtsprozesse ignoriert.390 Rohbeck 461
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modifiziert diese Auffassung insofern, als er sich von einem reinen Instrumentalismus distanziert und nur vorschlägt, den durch Technik entstandenen Handlungsspielraum auszuloten sowie kreativ zu nutzen. Dem wäre zuzustimmen, obwohl die kulturellen Gegengewichte spätestens seit Herder eher ‚romantische‘ Protest- und Verlangsamungsbewegungen waren, die quer zum Fortgang der instrumentalen Rationalität standen. Die Ersetzung der alten macht- und ideologiebestimmten Geschichte durch den einen wissenschaftlich-technischen Fortschritt ist aber schon deshalb fragwürdig, weil dessen Vater allzuoft der Krieg war, so dass wir durch die technologische Perspektive den üblichen Themen der bisherigen Geschichte kaum entgehen. Auch die Forschung ist ein Politicum; die notwendigen Investitionen und Apparaturen schaffen außerwissenschaftliche Abhängigkeiten. Falls es, wie Rohbeck meint, trotz Beschleunigung und Globalisierung keinen Geschichtsverlust gibt, so ist das häufig das Ergebnis von Sinngebungen aus anderer Quelle: Sie stellen die technischen Fortschritte nicht unbedingt in Frage, sondern assimilieren, vor allem aber nutzen diese für ihre (‚ideologischen‘) Zwecke. Und wenn sich gegenwärtig keine Wissensgesellschaft durchsetzt, sondern die Industrialisierung bzw. Kommerzialisierung aller Lebensbereiche, die Wissenschaft eingeschlossen, dann ist das wieder eine Herausforderung – für die wissenschaftliche Rationalität, aber auch für kulturell motivierten Protest. Die gestalterische Freiheit und die Verlässlichkeit rationaler Zukunftsprognosen wird natürlich immer auch durch unvorhergesehene Ereignisse, nicht zuletzt die Endlichkeit unserer Ressourcen, beeinträchtigt. Rohbecks oft bedenkenswerte Polemik wischt in ihrem Bestreben, die Zweckrationalität vor dem Vorwurf der Unfähigkeit zu Werthaltungen zu verteidigen, manchmal auch echte Probleme vom Tisch, etwa den Bruch zwischen unterschiedlichen Fortschrittskonzepten der Aufklärer, die meist von der Basis einer grundsätzlich sittlichen Struktur des Universums, eines selbstverantwortlichen Denkens und Handelns, der Kultivierung auch des menschlichen Zusammenlebens, ausgingen, während sie von der entfesselten Dynamik eines zielblinden, dem freien Willen entzogenen Prozesses noch wenig ahnten:
Der ganze Strudel strebt nach oben, Du glaubst zu schieben, und du wirst geschoben (Mephisto).
Rohbeck interpretiert die gegenwärtigen Beschleunigungsprozesse als bloße Radikalisierung der klassischen Moderne der Aufklärung, die schon auf analoge Umbruchssituationen reagierte; damit greift sein historischer Rückbezug 462
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zu kurz. Aber auch sein Verständnis der eigentlichen Aufklärung ist zu einseitig, um als tragfähige Grundlage einer Fortschritts-, geschweige denn einer umfassenden Geschichtstheorie, zu taugen.391 Die Menschen schließen meist von ihren Präferenzen und Zeiterfahrungen auf andere Epochen; so wird auch unser heutiges technikbestimmtes Zeitalter zum historischen Maßstab. Das kann in einzelnen Aspekten erhellend wirken, in anderen aber zu Fehlschlüssen führen, weil Technik immer innerhalb eines bestimmten kulturellen Umfelds zur Geltung kommt (bzw. von diesem behindert wird). Die zum Epochenbegriff der Moderne aufgewertete Technik war von Anfang an angewiesen auf ‚gesellschaftliche Nachfrage‘ und kulturelle Rahmenbedingungen, zu denen in der Neuzeit oft ein mechanistisches Weltbild trat, das die Erkenntnisinteressen in bestimmte Richtung lenkte, nämlich einer Ersetzung des sinnhaft geordneten Kosmos durch eine Vorstellung der Welt als verfügbares Objekt. Die Entkoppelung von sozialer und kosmischer Ordnung ist aber nur die halbe Wahrheit. Wenn das technische Denken dazu tendiert, normative Fragen auszuklammern und alle Probleme auf sektoralisierte Sachfragen zu reduzieren, folgt daraus, dass es für Sollfragen eben nicht zuständig ist. Auch in einer zunehmend technisierten Welt werden Entscheidungen aber nicht einfach auf Fachleute abgeladen; umgekehrt kann die Technik nicht verantwortlich gemacht werden für Sinnverlust, Raubbau und andere Übel unserer Zivilisation (dazu Rapp: Die Dynamik der modernen Welt, 1994). Bloßes Effizienzkalkül oder spezialisierte Wissenschaft liefern kein Kriterium des Wünschenswerten, führt Rapp in max-weberscher Tradition aus: Wertepräferenzen wandeln sich zwar durchaus abhängig von technologischen Entwicklungen, sind aber nicht einfach deren Konsequenzen. Vermeintlich allmächtige anonyme Systemzwänge bedürfen zumindest stillschweigender Zustimmung; der unvermeidliche menschliche Faktor lässt auch retrospektiv jede Situation prinzipiell offen, mit kaum eindeutig prognostizierbarem Zukunftshorizont. Die Nationalökonomie z. B. schneidet aus der Rollenstruktur der Gesellschaft nur einen für sie relevanten Bereich heraus (H. Albert), aber kann nicht ausschließen, dass außerökonomische Faktoren ihre Annahmen widerlegen. So ist heute ein ökologischer Gesellschaftsvertrag, der der technisch-ökonomischen Dynamik Grenzen setzt, nur durch ein Mehr an Vernunft zu erreichen, bleibt jedoch eine unsichere Zukunftschance. Es wäre kein einfaches Zurückschrauben auf scheinbar natürliche, einfachere Zustände, sondern ein künstlich hergestellter Gleichgewichtszustand: im Vergleich zu fatalistischen Untergangsvisionen oder irrationalem Aktionismus eine akzeptable Empfehlung. Nur ist sinnvolle Orientierung nie bodenlos, sondern bildet sich durch Rückkoppelung an „stabilisierende Kommunikationstraditionen“.392 463
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Rapp hat seine Technikphilosophie schon zuvor mit einer analytisch reflektierten komplexen Untersuchung des Fortschrittsdenkens untermauert (Fortschritt. Entwicklung und Sinngehalt einer philosophischen Idee, 1992). Es wird nach seiner Ansicht vom Streben nach Einordnung in ein übergreifendes Geschehen, nach Überwindung des kontingenten Daseins getragen; insofern ist es gewissermaßen ein Substitut für religiöse Sinngebung. Die gewachsene wirkmächtige Denkfigur des Fortschritts kann in keiner ihrer Varianten von Werturteilen über die bisherige und künftige Geschichte absehen. Es sind letztlich nicht verifizierbare Leitideen und Sinnbezüge nach Art der fortschreitenden Aufklärung, Naturbeherrschung oder Demokratie, der Menschenrechte etc., die die Fortschrittsidee aus konkreten kulturellen oder politischen Gegebenheiten oder Wertesystemen entfalten und fassbar machen.393 Es hat bis in die 1970er Jahre hinein Versuche gegeben, Fortschritt als „Entwicklung“ oder „Modernisierung“ möglichst von spezifischen Kulturwerten abzukoppeln und in Begriffen eines einzigen objektiven, möglichst messbaren Prozesses zu fassen; als Indizes galten der Verstädterungs-, Industrialisierungs- oder Mobilitätsgrad, die Effizienz der Institutionen, wirtschaftliche Leistung, Bildung und Gesundheitswesen, Partizipation etc. Fragwürdig an derartigen ehrenwerten Theorien einer innengesteuerten Stufenfolge und scheinbar universal gültigen Einbahnstraße in „die Moderne“ ist vor allem die Ausblendung der kontingenten Voraussetzungen und spezifischen Werte, die den Fortschrittsbegriff prägen. Es waren oft, aber nie ausschließlich intellektuelle, kognitive Errungenschaften. „Folgt auf“ heißt im übrigen nicht: „folgt aus“ (Jan Romein). Man kann, wie Rapp betont, wertneutral-genetisch das Entstehen eines Neuen verständlich machen, nicht aber das faktisch Entstandene als ein Höheres erklären; die Fortschrittsidee tut das jedoch mit ihrem nachträglich strukturierenden Zugriff, der das vielfältige empirische Material der Vergangenheit auf die abstrakte Ebene einer übergreifenden Perspektive anhebt; dabei möchte sie auch den Gegensatz zwischen Zufall und gesetzmäßigem Fortgang, zwischen Absicht und Wirkung der geschichtlichen Protagonisten auflösen. Die Hauptschwierigkeit des Fortschrittsdenkens bildet das moderne Teleologieverbot, der Verlust eines unanzweifelbaren archimedischen Punkts, der das Hier und Jetzt mit einer entschwundenen Vergangenheit und einer noch nicht vorhandenen Zukunft in notwendigen Zusammenhang setzt. Karl Popper warnte vor einem solchen historischem Determinismus, aber auch vor der Zerstörung der Tradition, die eine Zerstörung der Zivilisation nach sich ziehen könne: Die Menschen würden sich nicht allzu sehr ändern, also müssten wir sie mit Hilfe bewährter Institutionen zumindest daran hindern, unwiederbringlichen Schaden anzurichten. Auch Rapps Ausblick ist nicht resignativ, aber begnügt sich 464
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mit Fortschritt in der Bedeutung von fragmentarischem Problemlösen. Er kennt nur kontextuellen Sinn, mit der Hoffnung auf Einlösung unseres immer vorläufigen „Lebens auf Kredit“. Es wäre unfair, die reduzierte Fortschrittsidee mit der Frage nach dem ‚Kreditgeber‘ anzuzweifeln; die Zukunft wird letztlich nur durch unser verantwortungsbewusstes Handeln gesichert. Trotzdem regt sich leiser Zweifel, ob nicht die Beschränkung auf die Gegenwart unser Problembewusstsein einengt und in der Praxis Ratlosigkeit fördert. Jedes kulturelle Selbstbild zieht Kraft aus der Anknüpfung an Älteres, das zumindest als „ordnende Macht der Opposition“ fungiert: die Auseinandersetzung mit fremden oder fremdgewordenen Werthaltungen. Wenn diese außer Sicht geraten, verliert das eigene Konzept den Boden unter den Füßen. Es gibt auch andere Gründe dafür, dass wir uns weit von Condorcets universalistischer Vision entfernt haben, die die wissenschaftlich-technischen Fortschritte als Motor unaufhaltsamer Wandlungen zum Besseren in allen übrigen Bereichen verstehen wollte.394 Dieser aufklärerische Leitsektor hat sich alles andere als abgeschwächt, doch werden wir uns zunehmend der Ambivalenzen innerhalb des einen rationalen Fortschritts bewusst; es kommen auch Zweifel an der Tragfähigkeit unserer Emanzipation vom Transzendenten, ebenso wie an der weiteren Ausbreitung unseres Zivilisationsentwurfs auf die „weniger fortgeschrittenen“, nicht-westlich geprägten Länder. Beruht nicht die ganze obsessive Anstrengung zur Modernisierung und Kontrolle der Welt auf blinder Arroganz? Kommt es nicht eher, als „die Welt zu verändern“, darauf an, „sie in Ruhe zu lassen“, wie konservative Ironiker halbernst vorschlagen? Wertet nicht die Vision eines nie erreichten Zukunftshorizonts jede eigenständige Gegenwart ab, hinterlässt der Fortschritt nicht immer ein kulturelles Trümmerfeld und schafft nicht sein Problemlösen nur noch größere Probleme? Am Kalten Krieg müde geworden, stellten Konvergenztheoretiker die Frage, ob der Konflikt lohnt, ob er nicht auf Selbsttäuschung über die gemeinsamen zivilisatorischen Grundlagen beruht. Der Mythos der modernen technischen Vernunft scheint, wie in Goyas bekanntem Bild, den gemeinsamen falschen Traum einer maßgefertigten, planmäßig entworfenen Welt zu gebären, mit der Gesellschaft als formbarem Rohmaterial, das Sozialingenieure in die passende Form bringen. Im Licht einer derartigen deprimierenden Sicht der Moderne, als Aus- und Gleichschaltung alles Unangepassten, Kontingenten und Ambivalenten, erscheinen die Genozide des 20. Jahrhunderts nicht als barbarische Rückfälle und Einfälle paranoider Quacksalber, sondern „Übung in Sozialtechnik“ zur Schaffung der jeweils perfekten homogenen Ordnung (Bauman: Moderne und Ambivalenz, 1992). 465
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Die individualistische, gewaltenteilige, differenzierende, innere Konflikte austragende westliche Moderne hat immer wieder wütende Attacken und Denunziationen, aber auch Selbstzweifel ausgelöst. Baumans Reduktionismus, der zweifellos vorhandene Tendenzen absolut setzt und ebenso vorhandene kulturelle Prägungen ignoriert, ist natürlich nicht der erste Herold eines farbenblinden Totalitarismusverdachts, der die zivilisatorischen Strukturen des Westens bewusst missversteht oder für irrelevant hält; der Schoß der Huxley und Horkheimer/Adorno ist fruchtbar noch. Es sind aber nicht nur Repräsentanten radikaler kultureller Gegenentwürfe, die den Westen oder sein Zerrbild hassen und ablehnen: Auch resignierender europäischer Selbstzweifel spielt manchmal mit der Vorstellung, dass die Zukunft noch Bedauern äußern werde über die verpasste atomare Katastrophe als „Chance eines würdigen Abgangs des größten Schädlings der Lebenswelt“ (Demandt). Parallel dazu bildet Nietzsches Bild des apathischen lauwarmen Dämmerzustands einer rundumversorgten, geschichtslos rotierenden Phäakengesellschaft eine sarkastisch angedachte Menschheitsperspektive; nicht zuletzt bieten sich Parallelen zum spätantiken Rom und seinen Stillhaltegeldern an die „fertilitas barbara“ an (Demandt, Endzeit?,1993). Der finnische Philosoph von Wright zählt zu den eher traditionellen Kritikern einer technologisch bestimmten Gesellschaft, der die zum Selbstzweck gewordenen technischen Mittel wichtiger geworden sind als das „gute Leben“ ohne Komparativ, ja der die verabsolutierte Naturbeherrschung zum Fluch gedieh. Die Diagnose ist extrem; die sozial destabilisierenden und umweltschädigenden Auswirkungen der technisch-ökonomischen Zwänge lassen den Pessimisten gar erklären, noch das kantsche Verständnis des Fortschritts als handlungsanleitendes Postulat der praktischen Vernunft sei unter den gegenwärtigen Bedingungen „a foolish view“ (Progress: Fact and Fiction, in: The Idea of Progress, 1997). Es mag sein, dass die selbstzufriedene Große Erzählung von der linearen Aufwärtsbewegung der Menschheit als Leitidee ausgedient hat und dass, nach Hegels Bild der Eule der Minerva, im Dämmerlicht unserer vorläufigen Endstation über mögliche Perspektiven und Prioritäten neu nachgedacht werden muss. In Erwartung des bevorstehenden Streiks von Mutter Gaia und des ebenso möglichen sozialen Zerfalls im Zentrum wie an den zerfasernden Rändern der gegenwärtigen Welt, hält Wright die antike zyklische Geschichtszeit für angemessener als die europäisch lineare: Der Verlust der westlichen Standards und ein Neuanfang auf der Basis einer anderen kulturellen Tradition wäre die entsprechende Zukunftsaussicht. Wir wissen natürlich nicht wirklich, was uns die Zukunft beschert, aber es könnte sein, dass ein pessimistischer Horizont die sich selbst bewahrheitende 466
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Extrapolation eines allzu zaghaften Zeitgeistes bildet: das ungewollte Resultat einer jeder Normativität überdrüssigen Mentalität, die allein darauf bedacht ist, sich „posthistorisch“ gegen das hereinbrechende Unheil abzusichern. Zweifellos bildet die geistige Befindlichkeit ein Prisma, durch das gleiche Tatsachen in jeweils unterschiedlichem Licht erscheinen. Bezeichnend für unseren eindimensionalen, an ökonomischen Himmelszeichen orientierten Wertehorizont ist unter anderem ein reduziertes Verständnis des Politischen. Diese einstige historische Schicksalsinstanz, von der die Zukunftsgestaltung in erster Reihe abhing, gilt in unseren Tagen nur mehr als eher ohnmächtiger Dolmetscher unvermeidbarer Entwicklungen oder Reparaturwerkstatt für technischökonomisch verursachte Schäden. Die Probleme sind riesig, und das 20. Jahrhundert, mit politisch verursachten Katastrophen, hat auch nicht gerade zu zivilisatorischer Zukunftsgewissheit beigetragen. Nur gebannt auf die Schlange zu starren, hat aber dem Kaninchen noch selten genutzt. Vermutlich verstärken Politik- und Traditionsverlust ihrerseits unsere Unsicherheiten, obwohl – eine der berüchtigten Ironien der Geschichte – der Fortschritt seit Saint-Simon und Comte zu gebieten schien, die Vergangenheit für irrelevant zu erklären und das störende Politische auf die Verwaltung von Sachprozessen zu beschränken. Dieser von seiner Entstehung her vordemokratische Gedanke war illusorisch, aber auch kontraproduktiv: die Logik des Politischen kehrte nur in neuer Gestalt wieder, und der auf die hard facts gerichtete szientistische Zeitgeist verlor mit den Gegengewichten das Maß. Unsere Schwierigkeiten, sagt F. C. von Weizsäcker, stammen nicht aus unzureichender Herrschaft über die Kräfte der physischen Welt, sondern daraus, dass wir den Schlüssel zum Wesen des Menschen verloren haben.395 Paradoxerweise hat gerade die verwissenschaftlichte Geschichte dazu beigetragen, indem sie das Politische und Ideelle sozialgeschichtlich herunterstufte, was uns durch die Erschließung neuer Themenbereiche unzweifelhafte Erkenntnisfortschritte eingebracht hat; es war trotzdem leichtsinnig, die Willens- und Bewusstseinsbildung sozusagen zum Epiphänomen sozioökonomischer Prozesse zu machen, was suggerierte, den politischen Fortschritt an scheinbar objektiv vorgegebene, wenn nicht selbstläufige sozioökonomische Entwicklungen zu binden. Der gegenüber solcher Einebnung des Politischen und Geistigen im Soziologischen vorsichtige Politologe Jean Blondel empfiehlt zumindest, zwischen messbaren, auch allgemein konsensfähigeren Daten des Lebensstandards, und irreduziblen politischen Werten im eigentlichen Sinn zu unterscheiden, die in der Regel von Präferenzen und Werturteilen abhängen.396 Culture matters, auf die Kultur kommt es an, sagen seit Samuel Huntington auch liberale Ökonomen ergänzend zur bisherigen Leitthese, dass die Moder467
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nisierung die traditionalen Werte aushöhlt: die Modernisierung ist „pfadabhängig“ (R. Inglehart), ja einige der Herausforderer-Kulturen sind möglicherweise mit dem westlichen Modell unvereinbar. Dass es nur eine Antwort auf die Übel dieser Welt geben könnte, hat auch Kofi Annan in seiner Nobelpreisrede von 2001 als gefährliche Hybris zurückgewiesen. In der Praxis haben seit dem 18. Jahrhundert immer neue Bewegungen von der relativen Peripherie her das fortgeschrittene westeuropäische Zentrum sowohl in Frage gestellt, als auch einzuholen gesucht. Dieser „sekundäre Entwicklungsnationalismus“ (D. Senghaas) war nicht selten als Mobilisierungsprogramm erfolgreich, auch wenn er zugleich unter der Flagge des eigenen Wegs wesentliche westliche Werte als ‚fremd‘ bekämpfte. Entmutigende Beispiele aus postsozialistischen, arabischen und afrikanischen Gesellschaften zeigen nicht nur, dass demokratische Verfassungen an verfestigten Mentalitäten und Strukturen scheitern, sondern diese unter Umständen hinter schon erreichte Zivilisationsstandards zurückfallen können. Es scheint aber fragwürdig, daraus auf die primäre Bedeutung wirtschaftlicher Entwicklung für die demokratischen ‚Selbstartikulationswerte‘ zu schließen: Mehr Wohlstand gleich mehr Demokratie. Bei mehr als 6500 Dollar pro Kopf sind die wenigsten Länder undemokratisch, meint Timothy Garton Ash, unterhalb von 2000 Dollar pro Kopf „bleiben die meisten nicht lange Demokratien“ (Freie Welt, 176f). Entwicklungsresistente Gesellschaften sind natürlich nicht einfach ‚traditionsgehemmt‘, sondern werden von Eliten beherrscht, die den einzelnen gängeln, im Wettbewerb eine Form der Aggression sehen und durch autoritäre Herrschaft individuelle Motivation und Kreativität verhindern, wie der argentinische Liberale Grondona erläutert. Wie soll man aber diese sozial und politisch bedingten Resistenzen aufbrechen? Michael Porter, der insbesondere die Rolle produktivitätshemmender Faktoren von der Art des Wirtschaftsnationalismus untersucht, kommt zum etwas leichtfertigen Schluss, die liberale Wirtschaftstheorie sei das allgemeingültige Patentrezept, während die der historisch bestimmten Kultur zugeschriebenen nationalen Charakteristika nur falsche wirtschaftliche Theoreme repräsentierten.397 Natürlich müssen Empfehlungen einer wirtschaftlichen Liberalisierung in der Praxis nicht falsch sein, obwohl sie in ihren naiv-eindimensionalen Erwartungen, etwa in Bezug auf Freihandel als Schrittmacher politischer Freiheit, einem problematischen Determinismus folgen: Das Fortschrittsprojekt muss nicht unbedingt aus Chicago kommen. Auch Begriffe, wie Effizienz, Differenzierung, Autonomie, Pluralismus liefern allein noch keinen Maßstab, wenngleich, nach Vorschlag des schon erwähnten Jean Blondel, diese Kennzeichen Elemente eines ‚intersubjektiv zustimmungsfähigen‘ Konzepts bilden könnten. Die Ausweitung von Teilhabechancen, höhere Leistungskraft politischer 468
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Institutionen im Sinn von „good governance“, die Öffnung der Gesellschaften nach innen und außen, schließlich die Ersetzung von Zwang durch Verhandlungen, bilden jenseits der kulturellen Spezifika zumindest ein mögliches Fortschrittskriterium. Man möchte zwar kaum darauf wetten, dass darauf „die weitere Entwicklung der Menschheit“ tatsächlich abzielt, aber doch darauf hinarbeiten, dass sich unsere unterschiedlichen Bestrebungen darauf einigen (Political Progress: Reality or Illusion? In: The Idea of Progress, wie oben). „Intersubjektiv konsensfähig“ müsste die Bestimmung „interkulturell konsensfähig“ mit einbegreifen. Das erweist sich im Licht unserer gegenwärtigen Erfahrungen mit Ressentimentnationalismus und Fundamentalismus leider kaum als sicher, übersteigt aber den Rahmen der Untersuchung, die die fehlenden oder unterschiedlichen Voraussetzungen für Fortschritt in außereuropäischen Kulturkreisen ausklammert. Vermutlich fehlt nicht-westlichen Zivilisationen der universalistische Impuls zu innerweltlicher Erlösung (zu der der Abstand gegenüber der entgöttlichten Welt gehört und sie statt des einzig artigen Zeitbewusstseins in Raumvergötzung verfallen). Als sich die Japaner seinerzeit zwischen chinesischer zyklischer und europäischer linearer Zeit entschieden, wählten sie aufgrund der größeren Präzision der westlichen astronomischen Beobachtungen, später vor allem der höheren Leistung der westlichen Militärtechnik, hielten aber im Hinblick auf die wichtigeren eigentlichen Kulturwerte diese Fortschrittskriterien für wenig relevant für die eigene Identität.398 Wissenschaftlichtechnische Effizienz bildet in der heutigen Welt ein scheinbar traditionsunabhängiges Ziel. Obwohl sie nicht ohne die entsprechenden gesellschaftlichen Strukturen zu haben ist, war die teilweise Übernahme der westlichen Wertvorstellungen und Institutionen im engeren Sinn wohl eher dem politischen Druck und Prestige der amerikanischen Hegemonialmacht, als einer inneren Modernisierungslogik zu verdanken. Es bleibt unsicher, wie weit sich China, Indien, gar die sich in einer Opferrolle gefallende islamische Welt, spezifisch westlichen Fortschritten über den machtrelevanten wissenschaftlich-technischen Bereich hinaus öffnen, oder sich in kultureller Ablehnung und Hass gegen diese verbarrikadieren werden. Die Zukunft ist offen, hängt aber zu einem nicht geringen Teil auch davon ab, wie sich das alte Vorbild der übrigen Welt darbietet: als geschichtslos beliebiger Ort ruinöser Konkurrenz und narzisstischer Selbstverwirklichung, als verunsicherte und verkrampfte Zivilisation im Niedergang, oder als herkunftsbewusstes und zugleich werbend-generöses, offenes Erbe. Auch unsere gedankliche Reise war ergebnisoffen. Wir haben eine Odyssee hinter uns mit dem semantischen Konstrukt des ‚Fortschritts‘ als Kompass, dessen Herkunft uns ebenso interessierte, wie sein sich wandelnder konkreter 469
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Inhalt und der Zusammenhang zwischen Entwurf und sozialen Praktiken; ob wir dabei zum Anfang der Reise auf Ithaka zurückgefunden oder fremde Inseln entdeckt haben, sei dahingestellt. Die ‚Fortschritte‘ der westlichen Tradition sind in der Regel heterogen, uneindeutig und immer gefährdet, jedes kulturelle Gedächtnis eine Vielfalt; alte Impulse verschwinden, werden vergessen oder das Opfer von „Entzauberung“, kehren aber auch wieder in neuem Kleid. Es war uns nicht um melancholische Fluchten in heile Vergangenheiten zu tun, schon gar nicht um Schuldzuweisungen an eine fragwürdige Tradition, die im Namen der Zukunft und eines angemaßten „monotheistischen“ Wahrheitsanspruchs (Assmann) die schöne Göttervielfalt der jeweiligen Gegenwart zerstörte.399 Vielleicht gewinnt aber unser praktisches Problemlösen, die Suche nach produktiven Auswegen aus den Sackgassen der heutigen Welt, durch die Aufarbeitung der europäischen Zeitzeichen, der Wege und Irrwege des Fortschrittsglaubens, ein Stück Tiefenschärfe und Problembewusstsein.
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Die Pandora-Geschichte steht in Zusammenhang mit Prometheus, der die natürliche harmonische Ordnung der Dinge gestört hat, worauf der erzürnte Zeus dessen Bruder Epimetheus die schöne Pandora samt der berüchtigten Büchse mit allen Übeln der Welt schenkt. James Redfield hat die Furcht der Griechen vor den Geschenken der Pandora mit ihrem Misstrauen gegenüber dem „Haus“ parallelisiert und die Popularität des spartanischen Modells, der Absonderung der Männer von der Familie bei den Wächtern in Platons Idealstaat damit in Verbindung gebracht (Homo domesticus, in: Vernant: Griechische Antike, 180ff). Die Entstehung subjektiver Reflexion, des Einzelgewissens und freien Willens, das Prinzip des Sokrates, das sich unter Umständen gegen Vaterland und Sitte stellt, wird von Hegel als Verderben der griechischen Welt interpretiert, nämlich ihrer immanenten, ‚objektiven Sittlichkeit‘, die ohne weitere Reflexion fürs Vaterland lebte (Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 308,328f). – Sokrates’ Gefühl der Gerechtigkeit, das sich radikal auf Innerlichkeit bezog, signalisiert eine neue Ethik, die es vor Ende des 5.Jahrhunderts nicht gab: Gigon, Einleitung zu Aristoteles‘ Nikomachischer Ethik, 20. Hesiods Lob der Arbeit und Gerechtigkeit, als Kontrast zur vordringenden ruinösen Geldwirtschaft, macht ihn noch kaum zum „böotischen Puritaner“. Auch wusste er keinen überindividuellen Ausweg aus dem Niedergang (Nisbet: Idea of Progress). Die Griechen kannten „all nature as a spectacle of incessant change, and human life as changing more violently than anything else“, und so erschien der Mensch auch in ihren Dramen. Das erklärt nach Collingwood ihr Streben nach dem Zeitlosen (Idea of History, 1961,22). J. Delvaille stellt zwar fest, dass „Platon toujours a songé à un progrès possible, à un changement social“, so dass er zu den Fortschrittstheoretikern zählt. Da er jedoch an schrittweisen Verbesserungen desinteressiert war und die Vollkommenheit nicht vor der Menschheit, sondern hinter ihr lag, gelangt er zum Schluss, dass „l’idéal de Platon reste toujours un idéal regressif“ (L’idée de progrès, 43, 53). Das hing zu einem erheblichen Teil mit den chronischen Kriegen und dem sich daraus ergebenden Zustrom von Sklaven in die Wirtschaft zusammen. Ein solcher Demos konnte unmöglich primär in der Richtung des befriedeten ökonomischen Erwerbs und eines rationalen Wirtschaftsbetriebes orientiert sein.« (Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 810). Zum Unterschied von den Aristokraten war das Volk an kriegerischen Unternehmungen meist durchaus interessiert. Parmenides und Heraklit sind Geistesverwandte, indem der erste von ihnen verkündet, dass alle Wandlungen bloße Sinnestäuschungen sind, und der andere nur die ewige Veränderung sehen will. Weder für den einen, der das Sein als das Umfassende beschwört, noch für den anderen, der nur den ständigen Tanz der Dinge zur Grundmelodie des Nichts, des Krieges und der Vernichtung, wahrnimmt, ist Wandel zum Besseren vorstellbar. Patočka versteht Heraklit als potentiellen Überwinder des Nihilismus, indem er Kampf und Bewegung als das Schöpferische und Verbindende interpretiert (Patočka, Přehledné dějiny filosofie, 163). „Da aber die Urteile die man ganz allein auf den Ausgang der Kämpfe baut, keine sicheren sind, weder über die Sieger, noch über die Besiegten – da schon die scheinbar glücklichsten
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Erfolge…das größte Unheil gebracht haben“, ist nach Polybios auch auf derartige Geschichtskonstruktionen kein Verlass (Historiai 1,4). M. Noth unterstreicht die absteigende Linie der Weltreiche auch bei Daniel, das Ende der Geschichte, das weder positives Fortschreiten noch eine Entfaltung des Bösen kennt (Das Geschichtsverständnis der alttestamentarischen Apokalyptik), in: Lammers: Geschichtsdenken. „Seneca… sehnt sich nach dem einfachen Leben einer Urzeit zurück, in der man noch Wasser aus der hohlen Hand trank und nicht inmitten einer überzüchteten Zivilisation an einem moralischen und damit glückseligen Leben gehindert wurde“ (R. Nickel, in: Der Mensch als geschichtliches Wesen, 21) In Wirklichkeit idealisiert Seneca das Goldene Zeitalter nicht: es kannte nur embryonale Formen von Voraussicht, Selbstbeherrschung und anderen Tugenden, die der Kultivierung bedurften. Seneca kennt auch Fortschritt als akkumulierte Weisheit, die nicht allein tradiert, sondern erweitert werden kann: künftigen Zeitaltern „bleibt noch viel zu tun übrig“. Seneca ist somit nicht auf Verklärung der Bedürfnislosigkeit zu reduzieren. Auch die steuerliche Ausplünderung der Provinz Britannien durch den Erzieher Kaiser Neros steht auf einem anderen Blatt. Über die nahrungslose Großstadt Rom: „…teils die Einfuhr, teils die häusliche Fabrikation durch Sklaven machten hier jede freie Industrie von vornherein unmöglich.“ (Th. Mommsen: Weltreich der Cäsaren, 35). Zur römischen Technik vgl. A. Neuburger: Die Technik des Altertums , Repr. 1977, 251ff. „Der Aberglaube war hier ein umso dringenderes Bedürfnis, je mehr die natürliche Energie verschwand, womit der einzelne dem Fatum Trotz geboten hatte.“ Zum Isis- und Mithraskult, Sternglauben und der konfusen Mischung aus Philosophie, Magie und allmöglichen Mysterien: Burckhardt: Zeitalter Konstantins d. Gr., 213f, 227f. Das Versagen der Philosophie ist für Burckhardt ein demütigendes Zeugnis für die Unfreiheit des menschlichen Geistes gegenüber den großen geschichtlichen Mächten (234). „The cycle… is certainly not the whole story in Graeco-Roman scientific and historical thinking“ (Nisbet, Progress, 32). Vgl. E. R. Dodds, in: P. P. Wiener e. a. (ed.) Dictionary of the History of Ideas 3 (1973),633. Das Ideal einer sinnvollen, verbindenden Zukunft war der wichtigste Bestandteil der sich herausbildenden europäischen Geschichtsdynamik: M. Machovec: Filosofie tváří v tvář zániku (Philosophie angesichts des Untergangs),1998, 192t. Während die Antike ihre Sehnsucht auf die Seligkeit der Urzeit richtet, verwandelt der Messianismus die Welt in „Zukunft und nur Zukunft“; das Strafgericht Gottes dient allein der Läuterung und Erziehung der Menschheit (H. Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Neudruck 1995, 286, 290, 301) „Es ist klar, daß für Philon, indem die Jenseitigkeit Gottes aus seiner Zukünftigkeit zur Jenseitigkeit der Mystik wird, auch die Geschichte ihre Bedeutung verliert.“ (Bultmann: Urchristentum, 96) Vgl. Erlemann: Endzeiterwartungen im frúhen Christentum, 55ff. „Lag für ihn (Jesus) der Schnitt nicht zwischen Welt und Kirche, sondern zwischen Gegenwart und Zukunft, so steht schon für Paulus das Reich Christi…in vollem Gegensatz zum irchen Reiche des Fleisches, der Sünde, des Gesetzes.“ (Troeltsch: Soziallehren der christlichen K 1, 93). Anderseits verlieh die Deutung Christi als inkarnierter Logos der Geschichte einen erlösenden Sinn. Aus dem privaten spirituellen Aufstieg der Neuplatoniker wird die Erlösung der gesamten Schöpfung (Tarnas: Wissen des Abendlandes, 129f). „Paulus privatisiert, enthistorisiert, klerisiert die messianische Hoffnung und tötet sie damit praktisch ab…“ „Israel und die Juden glauben und wissen sich verpflichtet, das Reich Gottes hier auf Erden zu errichten… Geschichte ist Fortschritt ins Reich Gottes, wobei jeder einzelne Jude durch sein persönliches Fort-Schreiten mitverantwortlich ist für diesen FortSchritt ins Reich Gottes.“ (Heer: Gottes erste Liebe, 54f) „Die Guten…benutzen die Welt, um Gott zu genießen, die Bösen aber tun das Gegenteil: sie wollen Gott benutzen, um die Welt zu genießen.“ (Augustinus: De civitate Dei XV, 7). Auch Tertullian kennt durchaus innerweltliche Fortschritte, aber er sieht viel stärker deren Widersprüchlichkeit („Wir Menschen sind der Erde eine Last geworden“), so dass Pest, Hungers-
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not und Krieg als Mittel der Vorsehung gegen Übervölkerung und Überzivilisierung verstanden werden können. Der Begriff Proletariat bezieht sich nach Toynbee nicht nur auf Armut und niedere soziale Herkunft, sondern auf das Bewusstsein – und das entsprechende Ressentiment – enterbt, seines legitimen Platzes in der Gesellschaft beraubt zu sein (Gang der Weltgeschichte, 372f). Zur zeitgenössischen Einstufung der Christen als religiöse und politische Unruhestifter, die die Sprache der stasis, der Revolte sprechen: Celsus, Alethes logos (nach Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, 148f). Demandt (Philosophie der Geschichte, 114) streicht den Gegensatz zur Reichsideologie Eusebios‘ m. E. zu stark heraus. Die ‚libido dominandi‘ gehört nach Augustinus zur Staatenbildung (neben dem natürlichen Friedenstrieb). Machovec charakterisiert Augustinus’ „Bereitschaft, sich für alles Menschliche einzusetzen und zugleich zu allem bloß-Menschlichen Abstand zu halten“ für die Urform des westlichen Modells zweifacher Autorität, der Polarität von Institutionen und Werten, bis hin zum neuzeitlichen europäischen Pluralismus: M. Machovec: Svatý Augustin. 1967,127. – Obwohl Orosius in der Pax Romana die irdische Vorbedingung für die Verbreitung des Evangeliums erblickt, ja „Christus Rom auf die Höhe seiner Macht führt“, ist sein Christentum gleichgültig gegenüber weltgeschichtlichen Differenzen (Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, 1961,167). Seit dem 6. Jahrhundert findet das Epochenbewusstsein, dass nämlich das letzte Zeitalter angebrochen sei, das bei Christi Geburt begann und bis zum Weltende, der ‚zweiten Parusie‘ dauert, seinen Ausdruck in der Zeitrechnung nach Christi Geburt. Die Erwartung der Wiederkunft Christi ist allen mittelalterlichen Geschichtslehren gemeinsam, wenn auch die Berechnungen über die Dauer des letzten Zeitalters auseinandergingen. Augustinus verwarf diese, denn man solle so leben, als stünde das Jüngste Gericht unmittelbar bevor. Luitprand von Cremona äußert später: Wir verachten die Römer so sehr, dass Römer zum Schimpfwort geworden ist. „Denn mit diesem einen Namen…fassen wir alles zusammen, was es an Gemeinheit, Feigheit, Geiz, Ausschweifung und Verlogenheit…gibt“. Deshalb gilt nur idealtypisch, aber nicht für die historische Praxis: „Die Botschaft des Neuen Testaments /ist/ keine Aufforderung zu geschichtlicher Tat, sondern zur Reue… Da das Reich Gottes in keinem fortschreitenden Prozeß zu verwirklichen ist, kann auch das eschatologische Heilsgeschehen der Weltgeschichte keinen neuen… Sinn geben.“ (Löwith: Weltgeschichte, 180). – Analog: Civitas Dei und Civitas terrena sind danach „auf verschiedene Ziele zueilende Reiche“ (Koselleck: Fortschritt, 363.) Mit Einschränkungen: Das Frankenreich verkörperte „zwei einander widerstrebende Grundgedanken, die Weltgültigkeit der römischen und christlichen Überlieferung einerseits und das Absonderungsstreben der barbarischen Stämme andererseits“ (Dawson: Gestaltung des Abendlandes, 252). „Für diese Christen, in denen der Barbar schlummert, ist die Wissenschaft ein Schatz. Er muss sorgfältig gehütet werden. Geschlossene Kultur neben geschlossener Wirtschaft.“ (LeGoff: Intellektuelle im Mittelalter, 18). Die Erneuerung des Reiches seit Karl dem Großen zog seine Legitimation aus der patristischen Lehre, wonach das Römische Reich das letzte vor dem Ende der Geschichte sein sollte: Solange es besteht, können der Antichrist und das Weltende abgewehrt werden. Noch nach dem Zusammenbruch der staufischen Herrschaft ist die deutsche Publizistik voll beschwörender Mahnungen über das drohende Weltende, wenn das Reich vergeht (H. Grundmann:Grundzüge der mittelalterlichen Geschichtsanschauungen, 424). Vgl. Max Weber: Religion und Gesellschaft, 546 („Die Gebote der Welt gelten nicht für den seiner Gottbesessenheit Versicherten“.) „Das neue Menschentum der religiösen Persönlichkeit und der Liebesgemeinschaft in Gott hatte seinen Kompromiss geschlossen mit dem alten Menschentum des Kampfes ums Dasein, des Rechts, des Zwanges, des Krieges…“ (Troeltsch: Soziallehren 1,351). „Nach tausendjährigem geschichtlichen Bestand war die Kirche mit Weltlichkeit gesättigt, wie ihre Theologie mit Philosophie, arabischer und aristotelischer. Die ursprünglichen Elemente des christlichen Glaubens … wurden von einer Masse wohlerworbener Rechte und weltlicher
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Interessen überlagert.“ (Löwith, 145). Thomas verwendet vor allem den Terminus profectus, in der Summa 40mal; progressus wurde 15mal gezählt. „Wahrer Profectus löst uns aus den Verflechtungen der Welt“ (Koselleck: Fortschritt, 365). Zu Thomas‘ Fragment De regno s. Miethke: Politiktheorie im Mittelalter, 25ff „An die Stelle der gescheiterten Kreuzzüge sollten Kreuzzüge der Wissenschaft zur Gewinnung der Geister und Seelen treten.“ (Heer: Mittelalter, Neudr. 2004,448). – „Die entstehende abendländische Wissenschaft ist durch und durch Technik und dann Theorie“; die Arbeitshypothese, in anderen Kulturen unbekannt, steht immer am Anfang und führt hin zur „echt faustischen Auffassung Gottes als des großen Maschinenmeisters.“ (Spengler: Untergang II, 928f). „Bacon pensait… que la philosophie et la theologie sont une seule et même science et ne diffèrent que comme la main ouverte diffère de la main fermée (Delvaille: Essai, 112). In Dantes Werken findet sich keine Antithese von menschlich gegen christlich, doch nahm er „das ‚Menschliche‘ aus dem christlichen Verband heraus und isolierte es als Wert eigenen Rechts.“ (Kantorowicz: Zwei Körper, 456f). Bemerkenswert ist auch der rückwärts gerichtete Hinweis auf den idealisierten Friedenskaiser Augustus; Vergil, der ihn besungen hatte, war nicht zufällig Dantes Führer in der Göttlichen Komödie. Die Kirche steht in einem konstitutiven Verhältnis zur Wahrheit Christi (J. M. Lochman), somit „ermöglicht der biblische Realismus einen kritischen Abstand von der Institution, nicht als Flucht, sondern als Ermächtigung zu konkretem Handeln.“ Doch gilt der hussitische Wahlspruch „Die Wahrheit des Herrn siegt“ nicht als geschichtsoptimistische Aussage, sondern als eschatologisch motivierter Hoffnungssatz (Lochman: Wahrheitsverständnis von Hus, 124, 126). „Durch Gott wurde die Welt entgöttert“ und die Realgeschichte ständig verwandelt durch Menschen, die auf nichts als das Ende der Geschichte warteten (C .F. von Weizsäcker: Tragweite der Wissenschaft, 80,92f) „Unter Offenbarung verstand man ursprünglich eine autoritative Handlungsanleitung…So wurden dem Menschen Ackerbau, Handwerk, Maße und Gewichte…,moralische, politische und religiöse Einrichtungen ‚offenbart‘.“ (Später verwandelt sich Offenbarung in „offenbarte Wahrheiten, in von der Kirche garantierte vermeintliche theoretische Erkenntnis…“ „Alles wird auf Erkenntnis gegründet, nichts auf Handeln. So geraten wir auf dem Gipfelpunkt der Scholastik wieder in die Antike.“ (Rádl: Dějiny filosofie [Geschichte der Philosophie] 1,421ff.)
II. Bausteine der Moderne 33 „In der künstlerischen Bildersprache der Renaissance entstand eine neue malerische Summa, die die dialektischen Bestandteile der westlichen Kultur zu einer transzendenten Synthese zusammenführte“ (Tarnas: Passion of thr Western Mind, dt.1997, 289). 34 Odysseus, „wohlgeübt in mancherlei List und verschlagenem Rate“, taugt besonders gut als Symbol der modernen instrumentellen Vernunft. Er macht den Kultgegenstand, das trojanische Pferd, zur Waffe, hält sich auch nicht an traditionelle Regeln und ist einzig am Erfolg interessiert: Kassandra warnt vergeblich vor seiner Tücke (dazu der geistreiche Essay von Herfried Münkler: Odysseus und Kassandra). Zum Thema Neugierde s. Blumenberg: Prozess der theoretischen Neugierde, 1973. 35 „Es ist etwas ganz anderes, wenn der Geist ein bloßes Ding, wie die Hostie als solche…,vor sich hat oder ein geistvolles Gemälde, ein schönes Werk der Skulptur, wo sich Seele zu Seele und Geist zu Geist verhält. Dort ist der Geist außer sich, gebunden an ein ihm schlechthin anderes… Hier aber ist das Sinnliche ein Schönes und die geistige Form das in ihm Beseelende und ein in ihm selbst Wahres“ (Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 488) 36 Nikolaus von Kues deutet das sophistische „Maß aller Dinge“ als Wiederholung des durch Gott Geschaffenen im menschlichen Geist; ohne diesen besäße das Geschaffene keinen eigenen Wert (nach Taureck, Sophisten, 131)
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II. Bausteine der Moderne 37 Machiavellis antike Zyklentheorie führt nicht notwendig zu einem sittlichen Relativismus; seine virtù ist das Ergebnis von Zuständen, die noch nicht durch Despotismus, Erschlaffung und Reichtümer in privater Hand korrumpiert worden sind (Kudrna: Machiavelli a Guiccardini, 61, 68). Machiavelli fehlte keineswegs der historische Sinn, ja er beklagte in der Ein leitung zu den Discorsi das „Fehlen jeder wahren Geschichtskenntnis, da man beim Lesen der Geschichte weder ihren Sinn begreift noch den Geist der Zeiten erfasst“. Der Zeitgeist, das Verständnis für geschichtliche Verschiedenheit, taucht auch im Principe auf, indem er abstrakte Regeln in Frage stellt und den Erfolg abhängig macht von der Übereinstimmung des Handelns mit den Zeitumständen (Kap. XXV). 38 Dietrich Braun unterstreicht Luthers ausschließlich religiös bestimmte Vorbehalte gegen die „weltlich überkeyt“; sie gingen keineswegs vom autonomen Subjekt der Humanisten aus, sondern allein der Grenzüberschreitung seitens des brachium saeculare, dessen Wahn, über das Unverfügbare verfügen zu können (Braun: Luther über die Grenzen des Staates 1523, in: Jb. BBK., Jg.57). 39 Die Intensivierung der Religion, ihre Verlagerung ins Einzelgewissen, stellt nach Thomas Nipperdey ein Modernisierungspotential dar: der Einzelmensch steht ohne institutionelle Sicherung vor Gott (Luther und die moderne Welt, 34f; vgl. Soeffner: Luther und das Entstehen des modernen Typs von Individualität). Die Unerkennbarkeit Gottes lässt der Erkennbarkeit der Welt mehr Raum und das ‚Innerlichkeitstraining‘ – statt Sakrament und Liturgie – prädestiniert zu Bildung, Wortkultur und Reflexion (ebda.) Van Dülmen weist dagegen darauf hin, dass mit der Reformation nicht nur neue Freiheitsräume, sondern auch neue Unter drückungsräume entstanden sind – etwa die sozialen Kontrollen durch Hausherrengewalt und die zunehmende Diskriminierung von Armen und Bettlern. Indem sich die Kirche aus den weltlichen Bereichen zurückzog, verstärkte sich die Machtkompetenz des modernen Staates (Reformation und Neuzeit). 40 „…gewöhnlich wird alles als Barbarei bezeichnet, was ungewohnt ist“, urteilt Montaigne. „Wir haben den Reichtum und die Schönheit ihrer [der Natur] Werke durch unsere Erfindungen so überdeckt, dass wir sie vollständig erstickt haben.“ Bei den sogenannten Barbaren sind die Naturgesetze noch in Geltung; sie sind durch menschliche Gesetze noch wenig verdorben. (Montaigne: Essais, 86f). Für J. A. Comenius ist der europäische Kolonialhandel, soll er nicht den Zorn Gottes auf sich ziehen, nur vertretbar durch vielfältige Wohltätigkeit im Mutterland, sowie durch Missionierung und sittliche Bildung der überseeischen Völker (Angelus pacis, 1667). 41 Erasmus von Rotterdam an Heinrich VIII. von England: „…dass Du bei Deinem außergewöhnlichen Scharfsinn doch Freude hast an traulichem Gespräch mit klugen, gebildeten, insbesondere solchen Männern, die nicht nach dem Mund reden können…“ Könige werden weise durch den Verkehr mit weisen Männern, fügt er das Sophokles-Zitat hinzu (9.9.1517). 42 Erasmus sucht das Gleichgewicht aller menschlichen Möglichkeiten, die gegenseitige Durchdringung von Kunst und Natur, wissenschaftlichem Ernst und heiterer Unterhaltung, Einsamkeit und Geselligkeit, und analog des Weltgeschehens mit der biblischen Lehre; dabei verschiebt sich allerdings das Divum zum Humanum, während sich das Religiöse ins Ethische und Lebensreformerische verschiebt und als „Formung, Sublimierung und letzte Bekrönung des naturhaften Daseins“ verstanden wird: Seidlmeyer: Wege und Wandlungen, 120f. 43 „l’entreprise de Le Roy n’est pas simple replâtrage consistant à réintégrer dans des cadres anciens des faits nouveaux. Homme de progrès, il exprime la croyance dans le rôle actif de l’homme et sa puissance de transformation de la matière historique: tout est possible, il suffit d’y croire… Le volontarisme optimiste et éclairé semble beaucoup plus caractéristique dans cette oeuvre que la prudence dans le domaine cosmologique et théologique.“ C.-G. Dubois: La conception de l’histoire en France au XVIe siècle ’94. 44 Für Jean Bodin beinhalten die ‚heiligen Naturgesetze‘ z. B., „dass das Gute überall über das Böse siegt“. Sogar „wenn die Fürsten sich gegen Gott auflehnen, dann erlebt man, dass Gott die Missstände rächt und sein ewiges, von ihm selbst eingerichtetes Gesetz zur Geltung bringt…“ (Six livres de la République [1576],Vorwort).
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Anmerkungen 45 „Die ‚Entzauberung‘ der Welt, die Ausschaltung der Magie als Heilsmittel, war in der katholischen Frömmigkeit nicht zu den Konsequenzen durchgeführt… Der Priester war ein Magier, der das Wunder der Wandlung vollbrachte“ und Entlastung von einer ungeheuren Spannung gewährte (Weber: Protestantische Ethik, Neudr. 2005, 99). 46 Bruno setzt sich ausdrücklich mit der entgegengesetzten Ansicht (Senecas) auseinander, man solle sich ans heimische Ufer halten, statt den Frieden anderer Völker zu stören, deren Götter zu stürzen, unsere Fehler durch Handel zu vermehren und fremde Laster den heimischen hinzuzufügen – als ob derjenige der Weiseste sei, der neue Formen und Instrumente der Tyrannei, neue Arten des Mordens entdeckt habe (La cena, 1584, 1. Dialog). 47 “The children of the mind are like the children of the body. Once born, they grow by a law of their own being, and, if their parents could foresee their future development, it would sometimes break their hearts“ (R. H. Tawney: Religion and Rise of Capitalism, 79). Im Hinblick auf die selbstzerstörerische Wirkung der Glaubenskriege äußert Tawney: „Mankind, it seems, hates nothing so much as ist own prosperity“ (ebda, 68). 48 Das „abendländische Weltgefühl“ mit dem Willen als Mittelpunkt seines „seelischen Monotheismus“, kommt nach Spengler noch in der Architektur des Barock zum Ausdruck: der „Jesuitenstil ist steingewordener Wille“, so wie der Orden selbst den reinen, abstrakten Willen der Kirche repräsentiert. Der Zusammenhang reicht bis zum hohen Anteil gelehrter Jesuiten an der Herausbildung der theoretischen Physik (Spengler: Der Untergang, 404). – Vgl. M. Weber über den Beitrag des westlichen Mönchstums, „am entschiedensten bei den Jesuiten“, zur Herausbildung einer rationalen Lebensführung, mit dem Ziel, den Menschen der Macht der irrationalen Triebe zu entziehen und zum Dienst des Reiches Gottes zu erziehen (Protestantische Ethik, 101). Galilei, Descartes und Voltaire waren nicht ganz zufällig Jesuitenzöglinge. Vgl. auch den Jesuitenstaat in Paraguay als quasi-sozialistisches Alternativprojekt zum kolonialen Beutekapitalismus. 49 „Bodin gehörte zu der Partei der ‚Politiker‘, der eigentlichen Vertreter einer modernen Staatsräson im Frankreich der Bürgerkriege, die das Staatsinteresse loslösen wollten von kirchlicher Leitung und konfessionellen Leidenschaften“ (Meinecke: Staatsräson, 71). 50 So der bezeichnende Essay Francis Bacons, Von der Herrschaft (erstmals 1597), der ausgehend von der Lehre, dass der Ehrgeizige nur durch ebenso Ehrgeizige zu zügeln ist, an zeitgenössischen Beispielen die Berechtigung von Präventivkriegen aus Furcht vor drohender Übermacht vertritt. Aus ebendiesen Ursachen leitet Bacon die Notwendigkeit der Kriegsbereitschaft, und für England die Seeherrschaft ab: Essays, dt. Neudr. 2003, 23f, 68ff. 51 Das machte den didaktischen Sinn der Geschichtsschreibung aus, denn die Zukunft würde sich nach Ansicht der Humanisten nicht vom Bisherigen unterscheiden. So schon Johannes Aventinus in seiner Bayerischen Chronik von 1526: „…kann man nit besser und gewisser zukünftige Dinge wissen, wie es gehen werde, als aus den alten Geschichten.“ 52 Bodin zweifelt allerdings an der Möglichkeit echter Objektivität („praeiudicium historicorum plurimum de rebus gestis detrahit“), insbesondere sei es kaum möglich, dass jemand sein Vaterland gleich behandle wie andere Länder (Methodus ad facilem…cognitionem, 44f). 53 „Auf dem Meer kannte man die Zehn Gebote nicht und Handel wurde nur getrieben, soweit die Seeräuberei ihn erlaubte“ (Durant: Gegenreformation und Elisabethanisches Zeitalter, 340). Noch der junge Grotius (De iure predae, 1606) bejaht das Prisenrecht. 54 Galilei „berief sich auf seinen unbezwinglichen Forschungstrieb, wie ein ertappter Sexualverbrecher sich auf seine Drüsen berufen mag“ B. Brecht: Anmerkungen zu Leben des Galilei (1963). 55 In Platons Timaios wird die Ambivalenz des ‚kindlich‘-voraussetzungslosen Herangehens von Ägypten her sichtbar gemacht: Die Griechen bleiben ewige Kinder, weil sie in Katastrophen ihre alten Erkenntnisse verlieren und immer wieder von vorn anfangen. 56 „Macht, vormals die Kraft des politischen Willens, der Zustimmung verlangt und notfalls Gehorsam erzwingt, – ‚Macht‘ wird jetzt zum Namen wissenschaftlich eröffneter technischer Handlungsmöglichkeiten“ (Lübbe, Lebenssinn der Industriegesellschaft, 18).
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II. Bausteine der Moderne 57 Wenn das weltliche Schwert in religiösen Dingen nur in Ausnahmefällen gezogen werden dürfe, so sei es geradezu irrwitzig, es dem gemeinen Volk in die Hand zu geben (Von der Einheit im Glauben. In: Essays, 79). 58 „Gerade dann, wenn er besonders nüchtern und realistisch erscheint, [Bacon] durch und durch visionär ist“ (Whitney: Bacon, 99f). – Bertrand Russell äußert etwas ungerecht, dass Bacons Methode kaum über Aristoteles hinausging und vor allem Klassifikation verfocht; von den großen Entdeckungen seiner Zeit (Kepler, Harvey) ahnte er nichts (Russell: Denker, 270f). Mathematik war wohl tatsächlich Bacons Schwäche, vielleicht auch deshalb, weil er von den modischen neuplatonischen Zahlenspekulationen nichts hielt. 59 Trotz des „schleichenden Wandels des Subjekts“ – von Gott zum Menschen als Herrn des Fortschritts – bleibt die Zielbestimmung der Geschichte, so dass „immer ein Überschuss an christlichen Erwartungen in den naturwissenschaftlich verpackten Hoffnungen enthalten“ bleibt (Koselleck: Zeitschichten, 2000, 189f.) – Analog „denaturalisiert“ wird der Revolutionsbegriff, der sich statt des Kreislaufs zum Entwurf einer weltlichen Erlösung „eschatologisiert“. (Dazu G. Marramao: Macht und Säkularisierung, 88f). 60 Jan Patočka weist außer den protestantischen Mystikern – E. Weigel, J. V. Andreae – als Inspiratoren von Comenius’ Erbauungsschriften, auf die Übernahme cusanischer Begriffe hin, angefangen mit der Idee der Spuren Gottes in der Schöpfung (vestigium Creatoris), der Vorstellung von Gott als dem unbewegten Zentrum des Weltrades, bis zum Motiv der „Brille der Wahrheit“, die zur Erkenntnis der coincidentia oppositorum führt (Patočka: Komeniologické studie I, 23f, 59f, 75f). 61 Auch aus Comenius’ Pädagogik ergibt sich ein modernisierender, emanzipativer Effekt: Ausgehend vom Grundsatz, dass bei Gott kein Ansehen der Person gilt und „der Geist weht, wohin er will“, fordert Comenius die Chancengleichheit für die Kinder aller Stände, einschließlich der Mädchen, die „in gleicher Weise, ja oft mehr als unser Geschlecht mit einem lebhaften und für die Weisheit empfänglichen Geiste begabt“ sind (Didactica Magna). – „Er sahe, dass keine Erziehungsreform ihren Zweck erreichte, wenn nicht die Geschäfte verbessert würden, zu denen Menschen erzogen werden; hier griff er das Uebel an der Wurzel an…“ (Herder: 57. Humanitätsbrief). 62 „Wir, die wir am Steuer des Geschehens sitzen,“ soll Oxenstjerna gesagt haben, „erleben tagtäglich, wie leicht und aus welch unbedeutenden Ursachen Streitigkeiten entstehen, aber wie schwierig sie sich schlichten lassen, wenn sie einmal entstanden sind… Woher nimmst du die Hoffnung, eine solche große Versöhnung herbeizuführen?“ (Comenius: Continuatio admonitionis, zit. F. Hofmann in: Acta Comeniana, 1993). 63 Der französischen Chiliastin Ant. Bourignon wirft Comenius vor, „ein gerechtes Maß an Eifer“ zu überschreiten: Sie hielt die Verdorbenheit der Menschheit für so fortgeschritten, dass man nur mehr Gott bitten könne, diese zu vernichten und neu zu erschaffen (Brief vom 27.3.1668) Der Flüchtling, dessen Klage über die Zerstörung „unseres böhmischen Zion“ immer mit der Mahnung an eigene Sünden und Treulosigkeit verbunden war, deutete die Zerstörung des eigenen kleinen Hauses, nämlich der Brüder-Unität, als Gottes Gericht, das Platz machen müsse einem größeren und prächtigeren Haus für alle Völker der Erde (Brief vom 10.2.1670, kurz vor seinem Tode). Vgl. H. Grotius’, eines anderen Heimatvertriebenen, späte Bibelinterpretationen und Bemühungen um eine ökumenische Wiedervereinigung der Kirchen. 64 „…Alles, was die heutige Zeit von der Barbarei vergangener Jahrhunderte unterscheidet, ist beinahe nur der Geometrie zu verdanken“ (Hobbes: De cive). Hobbes eigene, „more geometrico“ konstruierte Friedenswissenschaft bringt keine Fortschrittstheorie, versteht sich aber sehr wohl als Fortschrittsinstrument: ohne verlässliche Friedensordnung ist alle Kultur bodenlos. 65 Spinoza interpretiert sogar Gottes Verbot gegenüber Adam, Äpfel vom Baum der Erkenntnis zu essen, als bloße Offenbarung der daraus folgenden Übel der Geschichte (Traktat, 106). 66 „Gottes strikte und kompromisslose Unzugänglichkeit hat alle Hoffnungen zerstört, die Wahrheit direkt und ohne mühsame Beobachtung…in Erfahrung zu bringen.“ (E. Gellner:
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Anmerkungen Pflug, Schwert und Buch, 121). „In Burnet’s phrase we see God-the-being transposed into God-the-unfolding, God-the-advancing“ (Nisbet: Progress, 129). Melvin Lasky spricht im Zusammenhang mit der Mentalität und Rhetorik des Puritanismus von einem chronischen Zustand der Selbsttäuschung (Utopie und Revolution, 356.) 67 William Harvey parallelisierte den von ihm entdeckten Blutkreislauf mit der zirkulären Bewegung der Planeten und Isaac Newton seine Gravitationsgesetze mit der Sympathielehre der hermetischen Tradition (Tarnas, 372) 68 Pascal ist bezeichnend mit seiner Rüge an die progressistische Neigung, aus der Gegenwart zu flüchten, die einzig uns gehört, und in Zeiten umherzuirren, die nicht unser sind. „Die Gegenwart ist nie unser Ziel: Vergangenheit und Gegenwart sind unsere Mittel; die Zukunft allein ist unser Ziel. So leben wir nie, sondern wir hoffen zu leben, und während wir uns immer in Bereitschaft halten, glücklich zu sein, ist es unvermeidlich, daß wir es nie sind.“ (Ideen).
III. Die neuen Mächte 69 Die Menschen fürchten vielleicht einen obersten Gott; aber vor einer obersten Idee zittern sie bestimmt nicht. Ideen fehlt es an der nötigen Rachsucht. (Gellner: Pflug 102). Aber für die Furcht vor Abweichungen von kodifizierten Ideensystemen bedarf es kaum eines eifrigen Gottes. „Irre in verantwortlicher Stellung, die bei hellichtem Tag Gespenster sehen, beziehen ihren Wahn aus den Büchern irgend eines akademischen Schreiberlings von vor ein paar Jahren.“ (J. M. Keynes, zit. Gellner, S.10). 70 „Es gibt hier eine innere Affinität: derselbe Geist gesteigerter Rationalität…lenkt den neuzeitlichen Staatsbildungsprozess, wie den aufkommenden Kapitalismus“: die Staatsräson bestimmt auch die ökonomische Ratio (Bauer-Matis: Geburt der Neuzeit, 214). Die immensen Kosten der Artillerie seit dem 16. Jahrhundert: Braudel, Sozialgeschichte: Der Alltag, 426ff. 71 John Locke stellt fest, dass der hobbessche Gesellschaftsvertrag den Naturzustand insofern gar nicht beendet, als der Herrscher seine ursprüngliche Freiheit behält und noch vermehrt: „Das heißt die Menschen für so töricht halten, dass sie sich zwar bemühen, den Schaden zu verhüten, der ihnen durch Marder und Füchse entsteht, aber es für Sicherheit halten, dass sie von Löwen verschlungen werden.“ (Locke: Second Treatise VII,93). „O, wird Rangordnung/ Die Leiter aller hohen Plän’, erschüttert/ …Macht würde der Tyrann der blöden Schwäche..,/ Kraft hieße Recht – nein, Recht und Unrecht, deren/ Endloser Streit Gerechtigkeit vermittelt/ Verlören, wie Gerechtigkeit, den Namen./ Dann löst sich alles auf nur in Gewalt,/ Gewalt in Willkür, Willkür in Begier, ein allgemeiner Wolf/ Zwiefältig stark durch Willkür und Gewalt“ (Shakespeare: Troilus und Cressida). 72 Natur wird verstanden als das ungeordnete Dasein, „dem man nicht trauen kann und das man nicht sich selbst überlassen darf: etwas, das beherrscht, unterworfen, neu gemacht werden muss“. „Nichts ist künstlicher als Natürlichkeit; nichts weniger natürlich als sich den Gesetzen der Natur auszusetzen.“ (Bauman, Moderne und Ambivalenz, 20). Zum Thema Fürsorge, Kontrolle und Repression gegenüber der städtischen Armut vgl. W. von Hippel: Armut, Unterschichten, Randgruppen in der Frühen Neuzeit, 44ff. 73 Die Utopier sind „aufgrund ihrer wissenschaftlichen Schulung“ begabt für „technische Erfindungen, die zur Erleichterung und Bequemlichkeit des Lebens beitragen“ (Morus, Utopia 79). Die Sonnenstaatler haben aufgrund fortgeschrittener Medizin eine Lebenserwartung von über hundert Jahren (Campanella, Sonnenstaat 147), und die Bewohner von Neu-Atlantis besitzen Mikroskope, Flugzeuge, Maschinen und synthetische Nahrungsmittel (Bacon: Nov Atlantis 211f). Andererseits bleibt der entscheidende Sektor der Volkswirtschaft in allen frühneuzeitlichen Utopien die Landwirtschaft (dazu Richard Saage: Politische Utopien der Neuzeit 34). „Das Land zu bestellen und eine Familie zu ernähren war ein und dasselbe und ebenso wenig zu ‚rationalisieren‘, wie die Zuneigung zu seiner Frau.“ (Peter Laslett: Verlorene Lebenswelten 100).
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III. Die neuen Mächte 74 Erst die Kasernierung und Disziplinierung der Truppen, die „Zivilisierung“ der Gesellschaft, die Trennung zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung, ermöglicht es, die Gewalt als antiquierte „Aneignungsform von Gütern“ zu verbannen; erst die „Verstaatlichung“ des Krieges ermöglicht die zuverlässige Unterscheidung von Krieg und Frieden, die in Randgebieten großer Reiche unterbleibt: Münkler, Die neuen Kriege 69ff. 75 Die „bürgerliche Gesellschaft“, so Pufendorf, wollte durch Strafen davon abhalten, was der Gesamtheit schadet, „aber auch zu dem antreiben, was jeder zu aller Erhaltung thun soll… und durch seine eigene Liebe zu äußerlicher Beförderung des gemeinen Nutzens angetrieben werden möchte“ (Von Natur- und Völkerrecht, 1711). – Foucault betont die per Dekret auferlegten „bürgerlichen Tugendideen“, die Arbeitspflicht, die man im 17. Jahrhundert weniger um des ökonomischen Nutzens einführte, wie um der sozialen Gefahr des Müßiggangs zu begegnen. „Die Staatsordnung duldet nicht länger die Unordnung in den Herzen“ (Wahnsinn und Gesellschaft, 93f). 76 Die Disziplinierung aller Schichten der Bevölkerung war nach Max Horkheimer (1936) nicht nur die Voraussetzung für gesteigerte Macht über die Natur: „auch die menschlichen Voraussetzungen für eine höhere Form der Gesellschaft sind ohne den Prozess der Spiritualisierung und Verinnerlichung gar nicht denkbar.“ (Egoismus und Freiheitsbewegung, 122). Horkheimer vergisst seine eigene These, dass diese Verinnerlichung an den Volksschichten vorbeigeht. 77 Der institutionelle Dualismus von Land und Herrschaft auf allen Ebenen als grundlegendes Merkmal der alteuropäischen Ordnung, gegründet auf konsensualer Herrschaft, bildet die rhetorische Basis noch der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, betont R. Hansen: Begriff der Gewalt, Prague Papers 2004. 78 Wolfgang Kersting spricht in Anlehnung an Kant von normativem Individualismus als einem grundsätzlichen Recht eines jeden Individuums, nur durch solche Gesetze in seiner Freiheit eingeschränkt zu werden, auf die es sich…im Rahmen fairer Verfahren…gleichsam vertraglich geeinigt hätte – gleich, ob es sich um eine politische Verfassung, um Wirtschaftsformen oder um praktische Gerechtigkeitsregeln handelt (Die politische Philosophie des Gesellschafts vertrags, 17). Die Theorie verzichtet allerdings auf realgeschichtliche Verifizierung. M. Sonntag widerspricht sowohl der These von der Verwandlung von Fremdzwängen in Selbst zwänge, als auch der ungewollt-emanzipatorischen Leistung des Absolutismus (Das Verborgene des Herzens, 140, 145). 79 „So viel Boden, wie jemand bepflügt, bepflanzt, bebaut, kultiviert und in seinem Ertrag zu nutzen vermag, so viel ist sein Eigentum. Durch seine Arbeit nämlich hat er ihn gleichsam dem Gemeingut entzogen.“ (Locke, Second Treatise, V, 32). Zum Wegfall der Einschränkungen durch die Einführung des Geldes: ebda, Abschn. 36 und 45f. Die damit bewirkte höhere Produktivität kommt nach Locke der gesamten Gesellschaft zugute. Das natürliche Recht auf Lebensunterhalt wird, wenn nicht mehr genügend Boden zur Verfügung steht, durch Lohnarbeit verwirklicht (Macpherson: Besitzindividualismus, 241). 80 „For cottagers and certainly for the landless laborers who had only costumary but no legal usage of the common, the loss of this right or privilege meant disaster.“ Die Betroffenen waren „caught in the end between alternatives that meant degradation and suffering, compared with the traditional life of the village community“ (Barrington Moore: Social Origins, 27, 29). 81 Hans Ebeling (Hrsg.) Subjektivität und Selbsterhaltung, insbes. Günther Buck, ebenda S.236f und 252f. „Anstelle der Werke um der Seligkeit willen trat das Werk um des Werkes, der Profit um des Profits, die Herrschaft um der Herrschaft willen; die ganze Welt wurde zum bloßen Material.“ (Horkheimer: Vernunft und Selbsterhaltung). Zur Idee der gesellschaftlichen Funktionalisierung und gegenseitigen Austarierung menschlicher Affekte im neuzeitlichen Denken: Hirschman: Leidenschaften und Interessen, 1980. 82 Die polnische Soziologin Maria Ossowska weist in ihrer Bürgerlichen Moral auf Albertis Abhängigkeit von antiken Autoren, insbesondere Columellas De re rustica hin. Trotz seines
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Nachdrucks auf Sparsamkeit (masserizia) will sich der Freund eines guten, harmonischen Lebens nicht innerlich vom Eigentum abhängig machen (Měšťanská morálka, 1985, tschech. 2012, 251ff). Schon Antoine de Montchrétien hatte in seinem Traicté de l’Oeconomie politique von 1615 als Voraussetzung des französischen Reichtums den Überfluss an Menschen betont, die in ständiger Tätigkeit zu halten seien; Müßiggang zerstöre die Stärke der Männer und die Keuschheit der Frauen, während die Erziehung zu Arbeitsamkeit sogar Strafmaßnahmen überflüssig mache. Bezeichnend ist auch Montchrétiens patriotische Wendung gegen die listigen Niederländer und die betrügerischen Engländer (nach Cole: French Mercantilist Doctrines Before Colbert 115f, 126f, 133). Die nördlichen Niederlande boten das Beispiel einer andersartigen Modernisierung: ohne Großmachtpolitik, bürokratische Zentralisierung, Militarismus, konfessionellen Zwang und höfische Repräsentation, auf der Basis bürgerlicher Selbstverwaltung, allerdings tendenziell schrumpfender politischer Partizipation. Die demokratischen Ansätze der Brüder de la Court blieben im korporativ-gemeindlichen Rahmen stecken und die relativ breite Herrschaft der Regenten versandete in oligarchischer Abschließung eines Amts- und Renten bürgertums (Schilling: Geschichte der nördlichen Niederlande 1982). Calvinistische Predigten warnten zwar ständig vor der Ruchlosigkeit der Königin Geld, doch mit recht geringem Erfolg. S. Schama sind auch Sittenprediger wie Godfried Udernans der Beweis datür, dass sich die gottesfürchtige Republik mit dem Reichtum arrangiert habe und nur noch glaubte, vor der Ausartung in Anarchie und Dschungelmoral warnen zu müssen: Schama, Überfluss und schöner Schein, 349f. Die vereinigte Ostindische Compagnie wurde als Vergaan Onder Corruptie (An Korruption zugrundegegangen) verhöhnt. (Zit. D. Landes: Wohlstand und Armut, 164). Becher empfiehlt bezeichnend den deutschen Kaufleuten, mehr im Kontor als im Beichtstuhl zu sitzen, er verflucht den Abfluss deutschen Geldes für französische Modeartikel; schließlich gründet er eine deutsche Guayana-Gesellschaft und möchte Zuckerrohr anbauen. In einer weiteren Schrift, dem Moralisch Discurs (1669), kommt Becher überraschend zu radikal naturrechtlichen, „utopischen“ Schlüssen: Das Geld sei schuld daran, „dass die Menschen mit Fleiss dienstbar, elend und arm seyn sollen“ (Zielenziger: Kameralisten, 266f, 231, 255). David Landes betont diese Konkurrenzsituation der Europäer als wichtiges Stimulans des Fortschritts im Vergleich zu China, das zwar technisch alle Voraussetzungen für einen takeoff besaß, aber keinen Wettstreit nach außen; seine allgewaltige, selbstzufriedene Bürokratie sah im Außenhandel eine Unfrieden stiftende, gefährliche Kraft. Der staatlichen Regu lierung des gesamten Lebens fehlte somit das merkantilistische Ankurbelungsmotiv, jede Eigeninitiative wurde als verdächtig erstickt (Landes: Wohlstand und Armut der Nationen, 72f. Vgl Ferguson: Der Westen und der Rest, 55ff). „Trade begets trade“, schreibt der ehemalige Gesandte in Holland Sir William Temple, „as fire does fire“ (nach J. O. Appleby: Economic Thought). Blaich: Merkantilismus (S.46f) charakterisiert Childes Ansichten als Übergang zwischen Merkantilismus und Liberalismus. „…economicaly the activities of these undesirables doubled the rent of many a squire… Money made in trade was more and more frequently put into the land by improving landlords“: Trevelyan: English Social History, 295. Zum Hintergrund des englisch-französichen Handelsvertrags von 1713: Coleman: Politics and Economics in the Age of Anne, insb. 201ff. Die Aufmüpfigkeit der amerikanischen Kolonisten sowie „vice, idleness and debauchery / Laster, Untätigkeit, Ausschweifung/“ der englischen Unterschichten (J. Tucker) lassen den französischen merkantilistischen Regelkanon – mit der Folge niedriger Löhne und strengerer Kontrolle – vorteilhaft erscheinen (C. Picht: Handel, Politik und Gesellschaft 1993,108,112f.) „Nous ne pouvons dire que l’egoisme devient la norme, mais nous pouvons dire que la norme se trouve dans la prosperité publique… (Mandeville) ne se demande pas si la prosperité, en elle-même et achetée au prix de la corruption génerale, est une bonne chose“; aber später wird die Prosperität der Mehrheit selbst zum moralischen Ziel (Dumont: Homo aequalis, 100).
IV. Aufklärung und Revolution 93 In seinem Complete English Tradesman werden als ‚Kaufleute‘ alle bezeichnet, die in den Warenverkehr eintreten, also auch die Handwerker und wolleproduzierenden Farmer. Auf dieser Schicht ruht Englands Reichtum eher als auf dem häufig verarmten Adel, wiewohl der Übergang zwischen beiden Schichten und die Gruppe der Gentlemen-tradesmen durchaus Defoes Sympathien findet (dazu auch M. Ossowska, 147f). 94 „Der Geiz… war Sklav der nobelsten der Sünden/ Verschwendung; durch Luxus finden/ Milionen Armer sich erhalten,/ Auch durch den Stolz, den alle schalten./ Nicht minder dient der Neid sowie/ Die Eitelkeit der Industrie“ (Mandeville: Die Bienenfabel 1705; 1714 und 1723 in erweiterter Fassung). Mandeville stammte aus einer emigrierten Hugenottenfamilie und lebte seit den 1690er Jahren bis zu seinem Tod 1733 in London. Horne interpretiert seine Satire als Reaktion auf eine neopuritanische Bewegung zur Sittenreform, nach deren Meinung Korruption und Sittenverfall der Willkürherrschaft entgegenkommen; Ehebruch, Trunksucht und Spiele sollten unter Strafe gestellt, die politische Freiheit durch Tugend gefestigt werden. 95 Jürgen Kocka folgert aus der Tatsache, „dass die Durchsetzung des frühneuzeitlichen Kapitalismus außerhalb Europas…zur massenhaften Zunahme unfreier Arbeit geführt hat,“ dass „der Kapitalismus aus sich heraus wenig Widerstand gegen inhumane Verwendung enthält“ (Geschichte des Kapitalismus, 55, 59).
IV. Aufklärung und Revolution 96 Die Freiheit vom Übernatürlichen wurde zur Abhängigkeit vom Natürlichen. (Kondylis, Aufklärung, 358). Gott als erster Beweger und Erhalter der Welt verstanden, kann kein einziges konkretes Phänomen erklären (Kołakowski: Die Moderne auf der Anklagebank). 97 Nach Pope wie nach Leibniz steht die sinnvoll geordnete natürliche Welt in keinem Widerspruch zum einzelnen Leid, so dass der (selbst körperlich behinderte) Autor zum Schluss kommt: „whatever is, is right“. Das forderte vor allem Voltaires Spott heraus. 98 „English thought went for comprehension: individual and society, trade and gentility, conscience and self-love; science and religion. Why should systematic theorizing be the touchstone of Enlightenment?“ (Roy Porter: Enligh tenment In England). Die Vernunft, in Engalnd naturalisiert, sei zusammen mit ihren besten Freundinnen, der Erfahrung und Toleranz und in Begleitung von Landwirtschaft und Handel, in Europa von Norden gewandert (Voltaire, Der Mann mit den vierzig Talern). 99 „Zu Neuerungen, wie sie auch aussehen, habe ich kein Zutrauen mehr“, hatte der historische Montaigne gesagt. „Es gehört rechter Egoismus und ein starker Dünkel dazu, seine persönlichen Meinungen so wichtig zu nehmen, dass man, um ihnen Geltung zu verschaffen, eine friedliche Ordnung umstürzen…muss.“ (Essais). 100 Perrault, der davon ausgeht, dass „la nature humaine n’est qu’un seul homme“, wobei die Vorväter die Kinder und wir die Erwachsenen sind, glaubt auch an die ewig gleiche Natur. „Pourquoi serions-nous exceptés de cette loi générale?“ (Parallèle, vgl. Delvaille, 207ff). 101 Das „Aufleuchten des optimistischen Fortschrittsglaubens der Aufklärung“ bei Leibniz (Meinecke, Historismus, 44) blieb nichtsdestoweniger ein ungewisses Flackern: der Einfluss der Theorie auf die Praxis sei gering, und Ehrgeiz, Leidenschaft und Herrschsucht seien imstande, die Welt an allen vier Enden in Brand zu setzen: die Vorsehung werde die Menschen dann mit einer allgemeinen Revolution strafen (Nouveaux Essais IV, 16, § 4). 102 „Jede Verbindlichkeit entfällt, denn erst in dem gemeinsamen Kampf aller Kritiker unter einander wird die Wahrheit ermittelt.“ Andererseits sei es der „spezifische Irrwahn der philosophischen Raison“ zu hoffen, dass sich ihre fortschrittliche Suche nach Objektivität und Neutralität „unbesehen in die widerständige Welt der Politik übertragen ließe“. (Koselleck: Kritik und Krise 91, 93). 103 Nur eine gesamteuropäische Sanktion sichert den Frieden: „So bringt die Furcht auch die heftigsten Leidenschaften zum Schweigen und bestimmt die Mitglieder der europäischen/
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Gesellschaft wider Willen zum Frieden, d. h. ihrem eigenen Vorteil.“ Der Traktat vom ewigen Frieden I,17 u III,72. St. Pierre beruft sich ausdrücklich auf das Beispiel der Union Germanique, in der die Kleinen vor den größeren geschützt und die Konflikte ohne Krieg durch Schiedsspruch gelöst würden. „Der Herrscher muss erkennen, wo Interessen beschränkt werden müssen, um sie daran zu hindern, aufeinander zu stoßen…“ „Unglücklicherweise erkennen die Nationen, je mehr sie sich zivilisieren, den Gebrauch und den Vorteil des Reichtums.“ (D’Argenson: Politische Schriften (1737) 56, 116). – Voltaire, ebenso wie Rousseau, wussten d’Argenson („homme idéal“) durchaus zu schätzen. Eine seiner vielen Reformideen galt bezeichnend der Gründung einer Académie des sciences morales. „Demokratie und Aristokratie sind nicht freie Staaten auf Grund ihrer Natur. Die politische Freiheit ist nur unter maßvollen Regierungen anzutreffen.“ „…ich nicht einmal das Übermaß an Vernunft für erstrebenswert halte“. (Geist der Gesetze XI,4 u. 6). „Große Hitze…entnervt Stärke und Mut des Menschen.“ „Die natürliche Gespaltenheit Europas führte zur Ausbildung mehrerer Staaten von mittlerer Größe.“ „Dies hat eine geniale Eignung für die Freiheit ergeben…“ „Im Gegensatz dazu herrscht in Asien ein Geist der Knechtschaft.“ (Geist der Gesetze XVII,2 u. 6). „Nur durch auswählende Auslegung und Beurteilung lässt sich bestimmen, welches überhaupt die geschichtlich bemerkenswerten, bedeutsamen und wesentlichen Tatsachen sind“ (Löwith: Weltgeschichte, 27). Bedeutsamkeit gehört zu den Begriffen, die sich erläutern, aber nicht im strikten Sinne definieren lassen« (Blumenberg: Mythos, 78). Seit zwölf Jahren sei eine deutliche geistige Umwälzung im Gange, schrieb er 1765 an Helvétius. Leider seien nur „Pedanten, Fanatiker und Schurken“ einig, während es den Philosophen an Einigkeit und Enthusiasmus fehle (an d’Alembert 1766). Dieser war sich keineswegs sicher, ob die Menschen es wert seien, dass man sich um ihre Aufklärung bemüht (an Voltaire 1765). B. Croce (Die Philosophie G. Vicos, 98f) betont den großen Unterschied zwischen den Auffassungen Vicos und Bossuets, aber übersieht, dass Vico die Heilsgeschichte als Bereich von Gottes direkten Eingriffen vor historisch-kritischer Einebnung à la Spinoza und R. Simon bewahren will (V. Hösle: Einleitung von 1990, CXXVIII f). Auch Leibniz, der Kritiker Lockes, der präzise Grundsätze und Definitionen als notwendige Basis wahrer Erkenntnis fordert und deshalb sogar die Physik – weil auf Erfahrung ange wiesen – für keine vollkommene Wissenschaft hält, äußert 1707, Buchdruck, Kompass und Chinin hätten mehr zur Verbreitung des Wissens und des Fortschritts der für das Leben nützlichen Hilfsmittel beigetragen als alle Schulgründer (Nouveaux essais, IV,12). Bezeichnend ist, dass Denis Papin seine Arbeiten über den Dampfkessel in Leibniz’ „Acta Eruditorum“ veröffentlichte. Die Geschichte lehrt nach Husserl nichts anderes, als dass alle Lebensbedingungen und Normen sich wieder auflösen und dass aus Vernunft Widervernunft wird (Krisis der europäischen Wissenschaften, 28). Nicht in erster Linie die professionelle Geschichtswissenschaft gab dem Entwicklungsbegriff die zentrale Bedeutung, sondern der realgeschichtliche Prozess und zum anderen die philosophische Frage nach dem Sinn (R. Vierhaus). „Vielleicht war die Aufklärung eine viel prosaischere Angelegenheit als die verdünnte Atmosphäre ahnen lässt, die in den Lehrbüchern beschrieben wird. (Darnton: Literaten, 12) In Frankreich überwog noch in den 1760er und 1770er Jahren der Terminus police und policer über civilisation und civiliser, in England refinement und civility (L. Febvre). Analog ist perfectionner, perefectionnement, perfecibilité verbreiteter als progrès (R. Koselleck). Für David Hume war das zeitgenössische Frankreich das Gegenbeispiel für die Maxime, dass sich Künste, Wissenschaften und Wohlstand nur in freien Staatswesen entwickeln. Gewiss hindert eine ständische Ordnung unter absolutistischen Regierungen Gewerbefleiß und Handel, weil diese als weniger ehrenhaft gelten denn Geburt und Privilegien, doch ist „Privateigentum in einer zivilen Monarchie fast ebenso gesichert wie in einer Republik“; im Prinzip regieren auch hier Gesetze und nicht Menschen (Über bürgerliche Freiheit. In: Politische und ökonomische Essays I, 100, 102).
Kolumnentitel 115 Ronald Meek: The Ignoble Savage, 32f, weist auf die anregende Problemstellung Montesquieus (Vom Geist der Gesetze XVIII) hin. „Die Gesetze haben einen sehr engen Bezug zur Art und Weise, in der sich die verschiedenen Völker ihren Lebensunterhalt verschaffen“; ohne Landwirtschaft und Geld gäbe es weder Künste noch „große Nationen“. Aber die Subsistenzweise ist bei Montesquieu nur ein Kriterium neben anderen. 116 „Ihre Leidenschaften und sogar ihr Zorn haben sie geleitet, ohne dass sie wussten, wohin das führt.“ „Die tobenden, gefährlichen Leidenschaften sind zu einem Handlungsprinzip geworden und folglich auch zu einem Prinzip des Fortschritts.“ „Durch Erfahrung klug geworden, werden die Menschen immer menschlicher.“ „Jede Veränderung hat irgendeinen Vorteil bewirkt.“ „…sogar ihr /der zivilisierten Nationen/ Fall trägt dazu bei, die Künste zu vervollkommnen und die Gesetze zu verbessern.“ (Grundriss für zwei Abhandlungen über die Universalgeschichte, 176f, 178f, 185.) 117 Hume knüpft häufig an Montesquieu an, so auch in der Unterscheidung von antiker ständiger Kriegsbereitschaft (deren Kehrseite Faulheit und Barbarei waren), und der modernen Neigung, das natürliche individuelle Glücksstreben zu respektieren; nur der Wunsch nach Bequemlichkeit bewegt die Menschen, mehr herzustellen als das Lebensnotwendige, und allein der Handel, der für frühere politische Diskurse nicht existierte, reißt die Menschen aus dem Müßiggang und spornt sie zu Fleiß und Erfindungsgabe an (Über Handel. Essays II, 183ff). 118 „Genauer betrachtet, ist es die Produktivität der Arbeit, die die Entwicklungsgrade des Fortschritts bestimmt, also das Surplus den Angelpunkt der Theorie bildet“ (Rohbeck: Fortschrittstheorie der Aufklärung, 90.) Rohbeck weist zutreffend darauf hin, dass die Wirtschaftstheorie nur die Reproduktion des Systems, nicht aber die Übergänge zu einem anderen erklärt (107), möchte aber – von Philosophie, Politik, Moral etc. absehend – „die Teleologie der Geschichte auf den Arbeitsbegriff zurückführen“ (ebenda, 128). 119 Das Volk protestierte im „Mehlkrieg“ gegen die Deregulierung des Getreidehandels und die Gewerbefreiheit, das Pariser Parlament erklärte, Turgots Edikte erschütterten die Grundsätze der Ständemonarchie, wonach „la service des nobles est noble comme eux, noble n’est tenu payer taille…, mais servir en la guerre et autres actes dc noblesse.“ (Flammermont: Remonstrances au Parlement de Paris III, 1897, CXIV). Und der junge Ludwig XVI. misstraute sowohl der Idee der munizipalen Selbstverwaltung, als auch den ‚unfranzösischen‘ Verwandlung der Geburtsstände in Besitzstände. Turgot anwortete dem erst 22jährigen Monarchen, es sei die Schwäche gewesen, die Karls I. (von England) Haupt aufs Schafott gebracht habe. Die Prophezeiung erfülte sich 16 Jahre nach Turgots Entlassung. 120 Auch für Besitz und politische Legitimität: „Nur die Zeit gibt ihrem /der Fürsten/ Recht Stabilität. Sie wirkt langsam im Geist der Menschen, versöhnt sie mit jeder Autorität und gibt ihr den Anschein von Gerechtigkeit und Vernunft.“ (Treatise of Human Nature II, 279f.) So ist nicht zuletzt das Eigentum eine Folge von „Gewohnheit“ bzw. Erfahrung – nicht rationaler Einsicht in die natürliche Ordnung, wie bei den Physiokraten. In diesem Zusammenhang fällt Humes Bemerkung über die Schädlichkeit vollkommener sozialer Gleichneit, die „die verschiedenen Grade von Kunstfertigkeit, Sorgfalt und Gewerbefleiß ignoriert“ (Enquiry Concerning Morals, 191). 121 „Laws and government may be considered…in every case as a combination of the rich to oppress the poor and preserve to themselves the inequality ot the goods“ (Early Draft, in: Lectures on Jurisprudence, 1987). 122 Von der Wichtigkeit dauerhafter Gesetze zur „Kontrolle der natürlichen Verworfenheit der Menschen“ war Smith nicht weniger überzeugt als Hume, der erklärte: „Gute Gesetze können Ordnung und Mäßigung erzeugen, wenn Sitten und Gebräuche dem menschlichen Gemüt wenig Humanität oder Gerechtigkeit eingegeben haben.“ „Eine Verfassung ist nur insoweit gut, als sie ein Mittel gegen schlechte Amtsführung bietet“ (Politik auf Wissenschaft reduziert. In: Essays I, 18, 22). 123 Das feministische Engagemert Millars hält sich in Grenzen. Nichtstun ist der „schlimmste Schandfleck des weiblichen Wesens“, Libertinage und Zügellosigkeit der Sitten, Luxus und
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Ausschweifung mindern die Würde der Frauen und die Entwicklung höherer Gefühle überhaupt (Unterschied der Rangordnungen 1967, 114,123). So fälschlich Rohbeck: Technik-Kultur-Geschichte, 65. Die Technik bildet kein bloßes Arsenal von Mitteln, sondern ist „immer eingebunden in konkrete Handlungszusammenhänge“ (111f, 119). Dagegen äußert Hans Jonas Befürchtungen üben den Niedergang des homo sapiens gegenüber dem homo faber: das Herstellen nimmt das höchste Prestige unter den menschlichen Zwecken ein, während es an Wissen über die längerfristigen Folgen des „sich selbst überbietenden Fortschreitens“ und an „Selbstbeaufsichtigung“ unserer technisch gegebenen Macht fehlt (Prinzip Verantwortung, 28, 31). In seiner 6.Auflage der Moral Sentiments (Ende 1789) äußert Smith zwar Verständnis für den Wunsch, die Lebensumstände der Menschen zu reformieren (reestablish & improve), sowie „mit Klugheit und Mäßigung zum Erfolg“ zu führen; äußerstes Misstrauen gilt aber dem man of system bzw. dem political speculator, der eigenständige Menschen mit Schachfiguren verwechselt und die Gesellschaft mit Gewalt beglücken möchte. – K. Graf Ballestrem weist auf die Übereinstimmung von Smith‘ Kritik mit der seines Freundes Edmund Burke hin (Adam Smith, 125). Vgl. Michael Hereth: Montesquieu, 41f. Die polnischen Leibeigenen werden in Rousseaus Considérations sur le Gouvernement de Pologne (1773) nur freigelassen, wenn sie sich durch gute Kultur, Sitten und Familiensinn auszeichnen. Die empfohlene nationale Erziehung ist bewusst gegen den alles einebnenden Geist Europas gerichtet. Zu Rousseaus Ideal der heureuse médiocrité vgl. K. D. Schulz: Rousseaus Eigentumskonzeption, 53f, 87 u. a. Jean Starobinski erklärt Rousseaus Persönlichkeit und Werk aus der Projektion innerer Angst, die sich in seiner Jugend im calvinistischen Genf herausgebildet hatte und ihn sein Leben lang in die kindliche Welt egozentrischer Träumereien ausweichen ließ: auch das Bild des Naturzustandes ist eine Rückwärtsflucht aus der lästigen und als feindlich empfundenen Weit der Tatsachen (J. Starobinski: J. J. Rousseau und die List der Begierde. In Cassirer-Starobinski-Darnton: Drei Vorschläge, Rousseau zu lesen, 101f.) R. Spaemann charakterisert Rousseaus Position, in Anschluss an Leo Strauss’ Kritik, als „sauvage dans les villes“: ein moderner Künstlertypus ohne soziale Verantwortung, der ein Leben am Rande der Gesellschaft genießt, aber diese Gesellschaft und ihre Kultur als Resonanzboden braucht. Später, im Contrat social, bildet das Christenturn durch seine Rückwendung vom Politischen zum subjektiven Seelenheil, das Haupthindernis für eine Überwindung der Dekadenz in Sinne einer Neukonstitionierung des republikanischen Geistes. (Robert Spaemann: Rousseau, Bürger ohne Vaterland, 28f.) Ernst Cassirer vertritt eine andere Lesart, die den Zweiten Diskurs und den Gesellschaftsvertrag ineinandergreifen und sich gegenseitig erklären lässt. In: Drei Vorschläge, 30). „Mit einer Regierungsform verhält es sich im allgemeinen wie mit dem animalischen Leben. Jeder Schritt des Lebens ist ein Schritt zum Tod“, erklärt Diderot im Enzyklopädie-Artikel Staatsbürger (Band II, 1, 1752). Im selben Artikel äußert der Verfasser, in Zeiten der Unruhe werde sich der Staatsbürger derjenigen Partei anschließen, die für die bestehende Gesellschaftsordnung eintritt. Frauen, Kindern und Dienern, ebenso wie Personen, de unter einem Joch leben, wird die Staatsbürgerqualität abgesprochen. Man hat die umgekehrte Meinung geäußert, ob nicht eher als die Logik der Aufklärung und ihrer abstrakten Theorien die französische Revolution hervorgerufen, vielmehr die Revolution „die“ Aufklärung als ideologische Vaterschaft zu legitimatorischen Zwecken konstruiert habe (Th. Schleich, R. Chartier). Vgl. den physiokratisch gefärbten Artikel Landmann (laboureur, Band IX), in dem es heißt, der mehr oder weniger große Reichtum der Landleute sei ein sehr genaues Thermometer für den Wohlstand einer Nation; analog in Taglöhner (Band VIII): Ist der Taglöhner unglücklich, so ist die Nation unglücklich. Gegenüber der traditionellen Ansicht, Buch und Brot seien Sache der Regierung, also keine gewöhnliche Ware, plädierte Malesherbes für die Tolerierung der kleinen Missbräuche, die
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die großen letztlich verhindern. Bücher schaden, aber der menschliche Geist macht Fortschritte, analog der freie Mehlhandel (nach Chartier: Kulturelle Ursprünge, 53f, 60). 1765, in der Ankündigung der letzten Bände, heißt es deutlich skeptischer: Die Welt mag ruhig älter werden, sie ändert sich dennoch nicht. Es ist möglich, dass sich der einzelne bessert, aber die Masse der ganzen Gattung wird weder besser noch schlechter. „Pantomimenspiel der Bettler“: Rameaus Neffe. Vgl. Ruth Groh: Diderot – ein Menipper der Aufklärung, in: Harth – Raether (Hg.), Diderot, oder die Ambivalenz, 1987. Die von Moivre und Laplace entwickelte Wahrscheinlichkeitsrechnung glaubte aufgrund der klassischen Mechanik den gesamten Weltprozess mit Hilfe von Differenzialgeichungen berechnen zu können; wenn alle Daten der natürlichen Bewegungen bekannt wären, „könnten die vergangenen und zukünftigen Zustände des Weltsystems in analytische Ausdrücke gefasst werden“ (Laplace, nach Störig: Weltgeschichte der Wissenschaft I, 371). Im Januar 1790 schrieb Mirabeau d. J. an Mauvillon, es wäre „natürlicher, uns wie eine ganz neue Gesellschaft zu betrachten“, statt an alten, fehlerhaften Gesetzen herumzuflicken. Bei voller Gewerbefreiheit, einem gerechten Steuersystem und einer guten Verwaltung würde die Staatsschuld schnell abgetragen sein und das Reich aufblühen. Allerdings bräuchten die neuen Einrichtungen wohl fünfzehn Jahre sowie ein gutes System öffentlicher Erziehung, um Wurzeln zu fassen (Preußische Monarchie und Fraunzösische Revolution). Nie gab es eine der Macht würdigere Aristokratie, als diejenige, die dem Verlust ihrer Macht entgegenging, meint Taine, der zugleich fehlende Kommunikation zwischen dem „Ober geschoss“ weltfremder Gedanken und dem „Erdgeschoss“ der Praxis festzustellen glaubt (Les Origines de la France contemporaine). Die Franzosen haben ihre Lage umso unerträglicher gefunden, je besser sie wurde, hatte schon A. de Tocqueville behauptet: Das Übel ist geringer geworden, aber die Empfindlichkeit ist lebhafter: Der alte Staat und die Revolution). Die turbulenten Ereignisse und Ängste „haben in der Voksseele den alten Traum vom Tausendjährigen Reich der Gerechtigkeit, die Hoffnung auf Glück für die Armen und auf Rache für die Unterdrückten geweckt; die ganze revolutionäre Mentalität ist fortan davon geprägt.“ In: Furet-Richet: Französische Revolution, 98. Robert Darnton vermerkt bei den nihilistischen „Rousseaus der Gosse“ eine eigenartige Neigung zum Moralisieren, selbst in ihrer Pornographie, die die Aristokraten als perverse, impotente, inzestuöse Schurken darzustellen suchte. Fraglich scheint mir Darntons Folgerung: „Die jakobinischen Pamphleteschreiber glaubten an ihre Propaganda. Sie wollten ihr altes, verderbtes Ich abstreifen und neue Menschen in einer neuen Republik der Tugend werden“ (Literaten im Untergrund). Über den Girondistenführer Brissot, der sich im Ancien Régime sein Brot auch als „mouche“ (Polizeikonfident) verdient hatte: Er wurde zum Revolutionär nicht als der uneigennützige Idealist seiner Memoiren, sondern als Gescheiterter der alten Ordnung (ebenda, 67). Hegel hat über die literarische Canaille, die kleinen Gauner nach Art von Rameaus Neffe geurteilt, „der Betrug seiner selbst und der anderen“ sei auf eine Weise die größte Wahrheit, nämlich das Symptom allgemeiner Verwirrung und „vollendeter Korruptheit“ (Hegel: Phänomenologie des Geistes). Abgesehen von der Frage, inwiefern Frankreich vor 1789 christlich war, bedeutet die Entchristianisierung der Lebensformen im 18. Jahrhundert nicht unbedingt Entsakralisierung, sondern „Sakraltransfer“ (Mona Ozouf, Roger Chartier). Der Herausgeber von 1977, Günther Mensching, rügt, außer Volneys Suspendierung des erkennenden und urteilenden Subjekts, das in der Natur „versenkt“ wird, die Verpönung des Genusses zugunsten des verabsolutierten bürgerlichen Nutzens als einem quasi-natürlichen Gesetz – dem nicht zuletzt die Vielheit den archaischen Kulturen zum Opfer fällt. Vgl. Thomas Paines Common Sense von 1776, der die amerikanische Unabhängigkeit nicht aus den Rechten der englischen Verfassung, sonder allein aus Natur und Vernunft ableiten wollte; der Streit mit England war für ihn kein Interessenkonflikt, sondern eine Sache universaler Prinzipien, „nichts weniger als die Sache der ganzen Menschheit“ (Manfred Berg, in: Geschichte des politischen Denkens, 338).
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Anmerkungen 143 Rolf Reichardt weist auf die große Bedeutung der Wahrscheinlichkeitsrechnung bei Condorcet hin, mit deren Hilfe eine Rationalisierung der Politik, etwa durch Statistik, möglich schien; ob aber dadurch Vernunft und Gerechtigkeit gleichgesetzt, ja Vernunft vergöttlicht werden kann, muss dahingestellt bleiben. (Reichardt: Reform und Revolution bei Condorcet, 1973). 144 Das galt schon von den apokalyptischen Erwartungen einer Zeitverkürzung (oder Verzö gerung), die eines Richtpunkts außerhalb der naturalen Zeit beduften (Koselleck: Zeitschichten, 167f, 183). 145 In Condorcets Betrachtungen über die Sklaverei der Schwarzen (1781, unter Pseudonym) heißt es folgerichtig, er wolle keine Rhetorik, sondern nur die Vernunft gebrauchen, und auch nicht (wie die Physiokraten und die Schotten) über Handelsvorteile, sondern über Gerechtigkeit sprechen. „Nichts ist banaler, als die Grundsätze der Menschlichkeit und Gerechtigkeit, und nichts chimärischer, als der Vorschlag, die Menschen sollten diesen ihr Verhalten anpassen.“ 146 Die späte Wandlung zum Substantiv, parallel zu „Zivilisation“, „Begriff“ (statt der Verbformen „aufklären“, „zivilisieren“, „begreifen“ etc.) deutet diese Tendenz zum selbstzufriedenen „Haben“ von Aufklärung nicht notwendig schon an (Koselleck zuletzt in: Joas /Hg./ Europäische Werte, 358). 147 G. Chr. Lichtenberg war skeptisch gegenüber der Erziehungswut des Jahrhunderts. „Das Brauchbarste in unserm Leben hat uns gemeiniglich niemand gelehrt“; bei unsern gelehrten Kindern sei es wie mit den Obstbäumen: „sie blühen vortrefflich und tragen keine Früchte.“ „Der Mensch ist so perfektibel und korruptibel, dass er aus Vernunft ein Narr werden kann“ (Aphorismen und Schriften, 111). 148 Kindermann, ein nordböhmischer Webersohn, der sich sein Theologiestudium mühselig erarbeiten musste, klagte später, man habe ihm den Kopf mit Formeln vollgestopft, „die mehr geschickt waren, den gesunden Menschenverstand methodisch zu ersticken, als ihn aufzuklären (nach E. Winter). 149 Dem widerspricht nicht Wielands frühere Bemerkung: „…als ob die Natur selbst die Entwicklung unserer Vervollkommlichkeit nur bis auf einen gewissen Punkt gestatten wolle“. „Der policirte Mensch ist nicht so stark, nicht so herzhaft, nicht so frei …als der Wilde… Aber der policirte Mensch weiß sich aller seiner Kräfte unendliche Mal besser zu bedienen, ist unendliche Mal geschickter, seinen Wohlstand dauerhafter zu machen…, ist unendliche Mal mehr Herr über die Natur“ (Über die Behauptung, dass ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung nachtheilig sey, 1770). 150 Joh. Christoph Gatterer († 1799), Göttinger historischer Enzyklopädist und Verfasser zahlreicher Handbücher, sprach im Zusammenhang mit dem Alten Testament von „hebräischer Sagengeschichte“ (Versuch einer allgemeinen Weltgeschichte, 1792). 151 Analog stellt Georg Forster 1789 fest, die Reiseliteratur der Zeit habe zwar eine Menge Beobachtungen zusammengetragen, „aber das Wesentliche, worauf alles ankam, finden wir nicht, weil man, um zweckmäßig beobachten zu können, auch schon mit dem Endzweck im Sinne an die Beobachtungen gehen und voraus wissen muss, auf welche Punkte es eigentlich ankommt“ (Wuthenow: Reiseliteratur in der Zeit der Aufklärung, in: Wessels, Aufklärung, 1984,167). 152 Die Offenheit von Lessings Sicht beschränkt sich nicht aufs Religiöse. In seinen Freimaurer gesprächen Ernst und Falk (1778) heißt es programmatisch, es müsse in jedem Staate nicht allein Männer geben, „die dem Vorurteile ihrer angeborenen Religion nicht unterlägen“, sondern die „über die Vorurteile der Völkerschaft hinweg wären, und genau wüssten, wo Patriotismus Tugend zu sein aufhört“. Dort auch die Absage an Gewalt: „Was Blut kostet, ist gewiss kein Blut wert“. 153 Meinecke glaubt einen Einfluss Fergusons festzustellen, der „Lessing von seiner Verzweiflung am Sinn dem Geschichte erlöst“ habe (Entstehung des Historismus, 312). 154 Alexander Demandt weist auf die wörtliche Anlehnung an Paulus’ Formulierung hin, wenn Kant für den Erwachsenen ein anderes Gesetz einfordert als für das Kind: Das Leitband der heiligen Überlieferung wird entbehrlich (Demandt: Philosophie der Geschichte, 150). Klaus
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Dicke vermutet sogar eine Analogie zwischen Kants „Volk von Teufeln“ und Augustinus‘ Formel vom Staat als „großer Räuberbande“. Doch betont Kant Kompetenz nur „als bescheidener Philosoph, nicht als Kopieverwalter göttlicher Heilspläne“. In: Geschichte des politischen Denkens, 380. „Alles Gute aber, das nicht auf moralisch gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend.“ (Idee zu einer allgemeinen Geschichte, 1. Satz). Rolf Denker charakterisiert Kants Anliegen nur scheinbar unkantianisch als „Versöhnung von Natur und Geschichte“ bzw. „Fortsetzung der Natur mit anderen, nämlich menschlichen Mitteln“ (Kants Idee eines dreifachen Weges zum Weltfrieden, 1974) . Das Feigenblatt erscheint z. B. als frühe Äußerung der Vernunft, nämlich des Übergangs von „tierischer Begierde“ zu Geschmack und Anstand; vor allem wird der Ausgang aus dem Paradies als Entlassung aus dem Mutterschoß der Natur, der „Rohigkeit und Einfalt“ positiv gewendet und die Sehnsucht nach einer Rückkehr als kindisch verpönt (Mutmaßlicher Anfang). Die substanzielle Gleichheit aller Menschen (der Kategorische Imperativ des Menschen als Selbstzweck, der nie Mittel werden darf) kommt auch in anderen Zusammenhängen zum Ausdruck. Kant fordert z. B. allgemeine Hospitalität, dass also „niemand an einem Ort der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere“ (Zum ewigen Frieden, 1795.) Pauline Kleingeld stellt einen Widerspruch fest zwischen Kants durchgehendem Determinismus im Bereich der Erscheinungen, und dem Prinzip potentieller Freiheit im Geschichtsbereich (Zwischen kopernikanischer Wende und großer Erzählung, in: Nagl-Docekal, 191). Das Feld, auf dem Natur in Moral umschlägt, liefert aber jene bewährte Figur der Heterogonie der Zwecke, die traditionell eine höhere Regie der Geschichte voraussetzte. Der Despotismus ist für Herder ein Rachen, „der alles in Tod und einförmige Zermalmung hinabschlingt“; aber er bringt auch Verständnis auf für einen orientalischen „Vaterdespotismus“, der als europäische Negativprojektion verharmlost wird. „Gibts nicht in jedem Menschenleben ein Alter, wo wir durch trockne und kalte Vernunft nichts, aber…nach Autorität alles lernen?“ (Auch eine Philosophie der Geschichte, 1774). „Auf Herders dritten Teil der ‚Ideen‘ freu ich mich sehr… Er wird gewiss den schönen Traumwunsch der Menschheit, dass es dereinst besser mit ihr werden möge, trefflich ausgeführt haben. Auch muss ich selbst sagen, halt ich es für wahr, dass die Humanität endlich siegen wird; nur fürcht ich, dass zu gleicher Zeit die Welt ein großes Hospital und einer des anderen humaner Krankenwärter werden wird.“ (Goethe aus Rom an Ch. von Stein am 8.6.1787). Kants Besprechung des 1.Teils von Herders Ideen zu einer Philosophie… (1784) empfiehlt, „dem lebhaften Genie (des Verfassers) einigen Zwang“ aufzuerlegen: Philosophie bestehe eher im „Beschneiden als (im) Treiben üppiger Schößlinge“, sie verwende bestimmte Begriffe und vermeide den „Anschlag, das was man nicht begreift, aus dasjenigem (!) erklären zu wollen, was man noch weniger begreift“. – Die Beziehung zwischen den beiden Denkern entwickelte sich in der Folge recht unerfreulich und Herder ging so weit, vom Kantischen System als „nordöstlicher Influenza“ zu sprechen. Der Göttinger Historiker Spitteler bemerkte in seiner Vorrede zu Teil II seiner Geschichte der europäischen Staaten (1794), die Freiheit und Kultur Deutschlands habe wahrscheinlich von den „ochlokratischen“ Grundsätzen der Franzosen weniger zu fürchten, wie vor der „unverhüllten Praxis eines neuen Völkerrechts“ von der Art der Teilung Polens (zit. Schulin, in: Tel-Aviver Jahrbuch f. deutsche Geschichte 1989). Für den Schweizer Johannes v. Müller war die alt-europäische Geschichte zu Ende: „Alles Erhaltende, als da ist Religion, Vaterlandsliebe, urkundliches Recht, Humanitätsrücksicht, ist vorbei, es muss Neues geschaffen werden“ (ebda). Im Zusammenhang mit einer Würdigung von Thomasius’ Kampf gegen den Hexenwahn wird die Beziehung zwischen Geschichtsstruktur und menschlichem Fortschritt in Herders Denken sichtbar: „Die Rache solcher Verfolgungen ist nie ausgeblieben und bleibt nie aus, es wäre aber endlich Zeit, dass wir aus bessern Gründen, als der Furcht solcher Rache zum Gefühl der Wahrheit und Menschlichkeit gelangten“ (Briefe zur Beförderung der Humanität).
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Anmerkungen 163 Schiller unterscheidet rohe und reine Natur, „wilde Begierde“ und verinnerlichte goethesche Gottnatur; die Natur hat ein Janusgesicht. „Freiheit heischt die Vernunft, nach Freiheit rufen die Sinne. /Beiden ist der Natur züchtiger Gürtel zu eng“ (Der Spaziergang, 1795). Friedrich Meinecke urteilt über Schillers Geschichtsauffassung, die einzelnen Epochen seien nicht nur horizontal aufeinander bezogen, sondern unmittelbar zur göttlich-unveränder lichen Natur und zu den überzeitlich-klassischen ewigen Formen der Kultur (Meinecke: Schillers Spaziergang). 164 Thomas Mann legt (gegen Georg Lukács’ Kritik an der „Flucht in die überschwängliche Misere“) großen Wert auf die Feststellung, dass es sich bei Schiller um keinen schwächlichästhetizistischen „escapism“, sondern um bitter notwendige „Arbeit am Geist der Nation“ handle. (Versuch über Schiller, 1955). 165 „Ehe noch Joseph der Zweite die fürchterliche Hyder des frommer Hasses bekämpfte, pflanzte die Schaubühne Menschlickeit und Sanftmut in unser Herz“ (Die Schaubühne, 1784).
V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie 166 Der Dissenter Richard Price, der schon die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung verteidigt hatte, sah in der französischen Revolution die legitime Nachfolgerin der englischen, deren 100. Jahrestag man gerade beging. – William Godwin, auch Sektenprediger, ging in seinem Enquiry Concerning Political Justice (1793) von unbegrenzter menschlicher Vervollkommnungsfähigkeit aus, die er mit dem Glauben an die Prägung durch die Lebensumstände kombinierte. Joseph Priestley, ebenfalls Dissenterprediger, Entdecker des Sauerstoffs und Ehrenbürger der Französischen Republik, der wegen seiner Sympathien zur Revolution nach Amerika emigrieren musste, äußerte in seinem State of Electricity den Glauben an eine paradiesische Zukunft der Menschheit – auf der Basis von wissenschaftlichem und politischem Fortschritt, aber auch biblischen Prophezeiungen. 167 Burke lehnt, im Unterschied von den französischen Restaurationsdenkern, die Vermengung von Religion und Politik ab: dabei „gewinnt die Sache der bürgerlichen Freiheit…so wenig als die Sache der Religion (Betrachtungen dt. 1967, 39). Graf Ballestrem konzediert Burke eine Art Fortschrittsauffassung nicht nur insofern, als er die Notwendigkeit der Kontinuität, des Bewahrens als Basis jeder Reform betont, sondern auch „die historische Entwicklung der Rechtsverhältnisse den Maßstab dafür setzt, was als naturgemäß und vernünftig gelten kann“ (Ballestrem, in: Klassiker II,128). Thomas Paine hatte umgekehrt feierlich gegen „die Eitelkeit und Anmaßung, noch jenseits des Grabes regieren zu wollen“, als unverschämte Tyrannei der Toten über die Lebenden protestiert (The Rights of Man, 1791/92). 168 Auch wer diese Wendung nicht vollzog, wie Jeremy Bentham, († 1832), der Erfinder des Lust- und Schmerzkalkuls als Instrument der Gesetzgebung (bei einer übergeordneten Maxime des „größten Glücks der größten Zahl“), kritisierte die anarchistischen Irrtümer der französischen Revolutionsverfassung. Auch in Deutschland hatten Aufklärer, wie der Historiker Schlözer, für Berufungen auf ein vorstaatliches Naturrecht nur Spott übrig und prophezeite sogar den Amerikanern, „Despotie und Tyrannei“ als Endergebnis ihres Kampfes um gerechte Freiheit und Menschlichkeit. 169 „Musste man nicht London und die gesamte Geschichte verwerfen, wenn man sich an der Gerechtigkeit des Dorfes orientierte?“ (Nolte, Marxismus und Industrielle Revolution, 248.) 170 „Denn immer war die Willkür fürchterlich – /Der Weg der Ordnung, ging er auch durch Krümmen, /Er ist kein Umweg“ (Octavio in Schillers Wallenstein, 1800). Auch Gentz’ Unterscheidung von bürgerlicher und politischer Freiheit findet eine Entsprechung bei Schiller: „…indem das politische Reich wankt, hat sich das geistige immer fester und vollkommener gebildet.“ (Gedichtentwurf Deutsche Größe). 171 1806 schrieb der unermüdliche Warner vor Bonaparte in einer fragmentarischen Geschichte des europäischen Gleichgewichts, angesichts der allgemeinen politischen Zerrüttung und Auflösung des europäischen Gemeingeistes, des Verlusts wechselseitiger Familiengefühle,
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könne ein neues Gleichgewichtsystem nur gegen die französiche Übermacht erkämpft werden. Zum Hintergrund: Golo Mann: Gentz, 107ff, 120f, 141. De Bonald ging es nicht so sehr um Erkenntnis, wie um praktische Wiedereingliederung der Philosophen, ihre soziale Funktionalisierung. – Ingrid Radermacher korrigiert R. Spaemanns These vom Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration: Legitimation und Kompetenz, 1993. Lewis Mumford, Technics and Civilisation, New York 1939, betont die Kurzsichtigkeit der Industrialisierung, die die englische Landwirtschaft zugrundegehen, die Flüsse zu Kloaken und die Geschicklichkeit der Arbeiter unnütz werden ließ. Das Evangeliunm der industriellen Arbeit bedeutete zugleich zunehmende Unfähigkeit zu Unterhaltung und Spiel, Verfall der kulturellen und religiösen Werte. Z. B. der holländische Rotherham-Pflug, Jethro Tulls Eggen und Sämaschinen, Robert Ransomes Pflugscharen, Andrew Meikles Dreschmaschine, durchwegs noch vor der Einführung von Dampfkraft. Aus dieser Zeit stammt auch schon die erste Nutzung von Nitraten als Düngemittel. Die Mittelsuche, das Denken „sub specie machinae“, wird zum eigentlichen Inhalt, ja der Mensch wandelt sich unter Umständen zum „beliebig einsetzbaren Mittel, das jede ihm gestellte Aufgabe mit höchster Effizienz ausführt, ohne als Person nach Sinn, Wert und Berechtigung der jeweils realisierten Ziele und Zwecke zu fragen.“ (Rapp, Die Dynamik der modernen Welt, 70,67.) Die scheinbar plausible Idee des „größten Glücks der größten Zahl“ beruht auf der sokratischen Lehre, wonach das Böse nur eine Form der Unwissenheit und die Abweichung vom Allgemeininteresse eine ‚Fehlkalkulation‘ darstellt. Die Idee steht in der Reihe der Versuche, die Soziallehren zu ‚newtonisieren‘ und die ethischen Schlussfolgerungen so beweiskräftig zu machen, wie die mathematischen: Passmore, Der vollkommene Mensch, 211. Owens Arbeiter werden folgendermaßen geschildert: „Diebstahl und Hehlerei waren ihr Gewerbe, Müßiggang und Trunksucht ihre Gewohnheit, Lüge und Täuschung ihr Gewand…; sie waren nur einig in einem eifrigen, systematischen Widerstand gegen ihren Arbeitgeber.“ Jedoch folgert der Reformer aufgrund seiner Erfahrungen: „Beseitigt man die Umstände, die das Verbrechen im menschlichen Charakter aufkeimen lassen, so wird es kein Verbrechen mehr geben. Man ersetze jene Umstände durch andere, die Ordnung, Pünktlichkeit und Fleiß erzeugen, so werden sich diese Gewohnheiten herausbilden.“ (A New View of Society, 1813, 2.Aufsatz). „Gesellschaftliche Integration setzt voraus, dass die Emanzipation rückgängig gemacht wird, dass der einzelne wieder zum Teil des Ganzen und auf einen neuen Kosmos verpflichtet wird. Gesellschaft, das kann nicht ungesellige Geselligkeit sein, es ist entweder Anarchie oder aber brüderliche Einheit.“ (F. Jonas, Geschichte der Soziologie I, 160). G. G. Iggers, The Cult of Authority, 1958 (bezieht sich auf die Phase 1828–32; der Vf. hat später den Bezug zum Totalitarismus revidiert.) Auguste Comte (s. u.) verschärfte nach seinem Bruch mit Saint-Simon die illiberalen Züge des gemeinsamen Denkens, etwa den Nachdruck auf Irrelevanz von Gewissensfreiheit im wissenschaftlichen Diskurs, folglich auch in einer wissenschaftlich organisierten Gesellschaft, während er zugleich die Entwicklung der saint-simonistischen Schule zu Kirche und Dogma ridikülisierte. Der Primat von Ordnung vor individueller Freiheit war beiden (und den romantischen Konservativen) gemeinsam (Dazu auch Iggers: Le saint-simonisme et la pensée autoritaire, in: Economies et sociétés, 1970. Zielem seines Europaplans war u. a. „conformité d’institutions, union d’intérêts, rapport de maximes, communauté de morale et d’instruction publique“, aber auch „peupler le globe de la race européenne qui est supérieure à toutes les autres races…“ (Vgl. de Rougement, Vingt huit siècles, 204) Der Protest gegen das Elend der unteren Volksschichten wurde seit den 1830er Jahren auch von katholischen Publizisten erhoben, so Lamennais, der in seinen Paroles d’un croyant (1835) in der Sprache der Offenbarung ausrief: „Wenn euch jemand über die Mächtigen auf Erden
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sagt: Seht, euere Herren!, so glaubt ihnen nicht. Wenn sie gerecht sind, dann sind sie euere Diener; sind sie nicht gerecht, so sind sie euere Tyrannen.“ – Im gleichen Jahr erschien F. X. Baaders analoge Anklage: Über das dermalige Missverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen der Sozietät. 1843 schrieb der fourieristische London Phalanx sogar von einer lautlosen Gegenrevolution, die einer gewalttätigen Aktion vorzuziehen sei: einer Gegenrevolution gegen die „lautlosen Revolution der Maschinen, der Konkurrenz und Geschichteder Klassengesetzgebung“ (zit. Nolte, Marxismus und Industrielle Revolution, 266). „Die sogenannte Säkularisierung des ursprünglichen Christentums – seines Geistes und seiner Freiheit – bedeutet also für Hegel keineswegs einen verwerflichen Abfall von seinem ursprünglichen Sinn, sondern im Gegenteil: „die wahre Explikation dieses Ursprungs durch seine positive Verwirklichung.“ (Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, 47f.) Dagegen meint Collingwood, Hegel sei von der kryptotheologischen Geschichtsauffassung entschieden abgerückt. Seine ‚List der Vernunft‘ „is neither an abstract natural reason nor a transcendent divine reason, but human reason.“ (Collingwood, The Idea of History, 117). Allerdings ist der athenische Steinkauz nach Demandt (Geschichtsphilosophie, 173) keineswegs lichtscheu. Der Staat ist wohlbestellt und kraftvoll in sich selbst, heißt es auch in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte [GPh], „wenn mit seinem allgemeinen Zwecke das Privatinteresse der Bürger vereinigt“ ist (39). „Wir…halten das Volk auch sowohl für glücklich, dem der Staat in dem untergeordneten allgemeinen Tun viel freie Hand lässt, als auch eine Staatsgewalt für unendlich stark die durch den freieren…Geist ihres Volks unterstützt werden kann.“ (Die Verfassung Deutschlands. Frühe Schriften, 485). Schon wenige Jahre nach Kants Ewigem Frieden geißelt Hegel „Menschenfreunde und Moralisten“, die jede Politik verurteilen, sobald sie staatlichen Nutzen dem vorhandenen Recht vorzieht. Eine unparteiische, „d. h. interesse- und vaterlandslose Menge, deren Ideal von Tugend die Ruhe der Bierschänke ist“, wolle nicht begreifen, dass Interessen und Rechte regelmäßig kollidieren und im entstandenen Zwist das Recht sich durch seine Macht behaupten muss (Die Verfassung Deutschlands, 540f). Für Ernst Topitsch sind Hegels „Wesensbegriffe“ beliebig und manipulativ; ihre „normativdeskriptive Doppelfunktion“ wird durch den Anschein höherer Objektivität vernebelt (Topitsch, Sozialphilosophie Hegels, 61f). Nach Marcuses eigenwilliger Interpretation bringen die Antagonismen der individualistischen Gesellschaft „mit Notwendigkeit einen autoritären Staat hervor“ (Vernunft und Revolution, 62) „Die Freiheit eines jeden Individuums stand in einem Konkurrenzkampf auf Leben und Tod der eines jeden anderen feindlich gegenüber. Die Schreckensherrschaft von 1793 war ein Beispiel dieses Individualismus und sein notwendiges Resultat.“ (Ebenda, 155). Der Theologe Hegel geht in einem frühen Manuskript in seiner Geringschätzung außerstaatlicher Sittlichkeit so weit, für die Zurückweisung des unpolitischen Jesus durch die Juden durchaus Verständnis zu zeigen (zit. Rosenzweig, Hegel und der Staat 1, 42) Dazu auch Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke, 25ff. Hegels Einstellung zum Judentum war ansonsten negativ, ja ressentimentgeladen: „Welche tiefere Wahrheit gibt es für Knechte, als die, einen Herrn zu haben?“ (Vom Geist des Judentums, 1798/1800). In: Frühe Schriften, 288). „…das Prinzip für die Gerechtigkeit der Kriege…nicht ein allgemeiner (philanthropischer) Gedanke, sondern das …gekränkte oder bedrohte Wohl“ (eines konkreten Staates ist). „…das Wohl eines Staates eine ganz andere Berechtigung hat als das Wohl des Einzelnen“. Nur die „Seichtigkeit der Vorstellungen von Moralisten“ könne einem Staat ‚für moralische Gebote gehaltene allgemeine Gedanken‘ als Prinzip seines Handelns vorschreiben: RPh § 337. Abschätzige Bemerkungen über den englischen Parlamentarismus als rückständig gegenüber anderen „gebildeten Staaten Europas“ – die objektive Freiheit, d. i. das vernünftige Recht, werde der nur formellen Freiheit und dem besonderen Privatinteresse aufgeopfert (Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften § 453) – machen Hegel zwar zum Vorgänger von Marx,
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aber nicht zum „Ideologen der Horde“ und Zwischenglied zwischen Platons ‚Staatsanbetung‘ und dem modernen Totalitarismus (Popper, Die offene Gesellschaft I,41). Hegels Bild des preußischen Beamten, als des „beratenden Moments der Gesetzgebung“ entspricht nach Koselleck nicht nur dem Bild, das die Beamten von sich hatten, sondern der Wirklichkeit: R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, 263. Koselleck konzediert aber als eigentlichen Erfolg der preußischen Bürokratie nur deren Wirtschaftspolitik: Ebenda, 401. Der Junghegelianer Arnold Ruge wollte noch 1838 Preußen als „Träger des freiesten Geistes“ anerkennen und äußerte, in einem Staat wie Preußen, der die Reform zum Prinzip erhoben hat, gebe es „keine Notwendigkeit, ja nicht einmal eine Möglichkeit der Revolution“ (Die Denunziation der Hallischen Jahrbücher. In: Pepperle [Hg.] Die Hegelsche Linke, 81). Ruge will die blasierte Gescheitheit eines sich selbst genügenden geistigen Lebens in reelle Arbeit für große Zwecke des öffentlichen Lebens verwandeln und durch eine „allen Pöbel absorbierende Volkserziehung“ eine lebendige geistig-politische Gemeinschaft herstellen (ebenda, 319f). Auch Arnold Ruge hatte 1838 erklärt: „Niemand projectirt, niemand macht, niemand hindert eine wirkliche Revolution. Sie wird nicht gemacht, sie macht sich.“ – Bruno Bauers ‚subjektiver Idealismus‘ wird mit einem gewissen Recht als Rückgriff von Hegel auf Fichte interpretiert, so etwa Cornu, Karl Marx und Friedrich Engels I,147. „…es gibt keinen Sinn im Wandern…, wenn es kein Ziel und keinen Willen gibt, es zu erreichen. Nur ein genaues Gedächtnis und der Wunsch nach einem Segen bewirken, dass das Wandern zu einem wirklichen Weg wird“ (Sergio Quinzio, Die jüdischen Wurzeln der Moderne, 45). Hess hatte 1841 Feuerbachs anthropologische Interpretation der Religion rezipiert und diese für die Idee des Sozialismus fruchtbar gemacht Die Begegnung mit dem erst 24jährigen Marx veranlasste ihn, diesen in einem Brief als ‚größten lebenden Philosophen‘ anzupreisen. Hess war der treibende Geist bei den Vorbereitungen zur oppositionellen Rheinischen Zeitung, die ab 1.1.1842 in Köln erschien (Cornu, Einleitung XXVf, Zlocisti, Moses Hess, 60ff). Hier schrieb Hess im Juni 1842 über die angeblich bevorstehende Katastrophe in England, der immer schroffere Gegensatz von Geldaristokratie und Pauperismus werde demnächst zum Ausbruch kommen, und keine politische Reform sei imstande, das unerträgliche Übel zu heilen (Hess: Philosophische u. sozialistische Schriften, 184). Seit Dezember 1842 war Hess als Korrespondent seiner Zeitung in Paris; die Rheinische Zeitung wurde jedoch im März 1843 verboten. Zum Missbrauch des Begriffs „Wirklichkeit“ bei Marx: Johann Plenge, Marx und Hegel, 74f, 81. Der Begriff „Materialismus“ in Marx’ hochrationalistischer Entwicklungslehre nur Provokation: ebenda, 83f. Seine Erwartung einer Weltenwende spiegelt objektive wissenschaftliche Erkenntnis vor, speist sich aber aus Glaube und Hoffnung eines leidenschaftlichen Freiheitsapostels (ebenda, 110f). Zu Marx’ Wirklichkeitsvorstellung („Basis“ gegen „Überbau“, „materielle Lebensbedingungen“, die nichts anderes sind als „die eigene Tat des Menschen“, die zu einer „ihm fremden, gegenüberstehenden Macht“ geworden ist (Deutsche Ideologie): Klaus Hartmann, Die Marxsche Theorie (1970), 200ff. Shlomo Avineri (The Social and Political Thought of Karl Marx, 1970) legt Nachdruck auf die These, dass Marx auch in seiner späteren Entwicklung das Staatsleben keineswegs als einfachen Reflex der gesellschaftlichen Verhältnisse verstand; dies ist aber nur eine Relativierung der Marxschen Verlagerung zu den Produktivkräften als dem eigentlichen Movens der Geschichte. – Dagegen Euchner, Karl Marx, 57 (der Staat und seine Institutionen nur abgeleitete, von der gesellschaftlichen Basis bestimmte Phänomene). Auch Golo Mann glaubt, Marx habe die Politik verachtet und ihre Möglichkeiten verkannt (Deutsche Geschichte, 188). Die Religion ist „die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt“ (Marx. Einführung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1843). – Auch Gerd Irrlitz bemerkt bei Marx das relativ unver-
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Anmerkungen mittelte Nebeneinander einer „Struktur- und Rationalitätslinie“ des modernen Fortschritts und der „Forderung unmittelbar erlebnishafter Gemeinschaft“ (Irrlitz, in: Der Marxismus, 1994, 119f). 200 Emil Angehrn bringt Marx’ immanentistische Methode, das Positive allein durch Kritik des Bestehenden zu bestimmen, mit dem jüdischen Bilderverbot in Zusammenhang (Angehrn, Geschichtsphilosophie, 117). „Rationales Handeln heißt Handeln gegenüber einer fremden Welt, nicht Hingabe an einen bestimmten historischen Sinn.“ (Jonas, Soziologie, 163). 201 Zu den Pariser Einflüssen von 1844, insbesondere Mignets und Thiers’ Idee der unwiderstehlichen Kraft revolutionärer Gesetze, der gesetzmäßigen Unterordnung der Einzelmenschen unter den Klassenkampf in der Geschichte, etwa: Paul Kägi: Genesis des historischen Materialismus, 164ff, sowie Peter Stadler: Geschichtsschreibung und historisches Denken in Frankreich, insbes. 123ff. Die ironische „Rekonstruktion des Marxismus aus dem Geist des spanischen Ritterromans“ bringt K. M. Michel, Don Quijote und das Proletariat, Die Zeit vom 1.12.1991. 202 Napoleon selbst hatte nach seiner Rückkehr von Elba und später auf St. Helena behauptet, es sei ihm um ein „grand système féderatif européen…favorable aux progrès der la civilisation“ zu tun. Der Russlandfeldzug hätte sein letzter sein sollen und sein Ziel sei „l’unité des codes, celle des principes, des opinions…et d’intérêts“ gewesen. 203 Rousseau, der zweitausend Jahre Wandlungen ignorierte, wollte nach Constant „ein Maß an gesellschaftlicher Macht, an kollektiver Souveränität, das in andere Jahrhunderte gehörte, in unsere modernen Zeiten überführen“, damit habe er verhängnisvolle Vorwände für mehr als eine Form der Tyrannei geliefert: Constant, Über die Freiheit der Alten im Vergleich mit der der Heutigen, 1819. 204 In ihrem Deutschlandbuch empfahl sie den Franzosen das verschlafene romantische Deutschland als Quell der Befreiung des Gefühls, des Eros, der Phantasie vom klassizistischen Korsett. Napoleon ließ ihr Buch einstampfen. 205 Joachim Moras, Ursprung und Entwicklung des Zivilisationsbegriffs, 52f. Dagegen de Maistres Nachdruck auf die Rolle des Papstes bei der Gestaltung der Zivilisation: 66. Guizots Wendung zur historischen Realität, die eine Funktionalisierung des Begriffs, seinen Substanzverlust, einleitet: 82f. 206 Der Vergleich zu Voltaire stammt von Fueter, Geschichte der neueren Historiographie, 507, der bei Guizot auch die „räsonierende Analyse“, „frostigen Doktrinarismus“ sowie die Unterordnung unter eine aktualisierende These rügt. Falsch ist die Behauptung, „civilisation“ bedeute nichts anderes als der deutsche Begriff „Kultur“ (ebenda). 207 Die typische Reaktion war weiterhin ein starker Revolutionspessimismus, der das französische Beispiel beschwor, um Forderungen nach vorbeugenden Reformen zu begründen. Dazu etwa Manfred Botzenhart, Das Bild der Fraunzösischen Revolution, in: Revolution und Gegenrevolution 1789–1830 (1991), ebenda auch Rudolf Vierhaus. Dagegen Moshe Zuckermann, Trauma des Königsmordes (1989). 208 „Le gouvernement de Juillet…a été le véritable organisateur, en France, de la science historique.“ (Camille Jullian, Notes sur l’histoire en France au XIXe siècle, 1979, XLI.) Zu den Bildungsreformen der 1830er Jahre auch R. Rosanvallon, Le moment Guizot, 1986. 209 Auf sachliche Irrtümer von Thierrys „histoire à la thèse“ hat seinerzeit Dietrich Gerhard aufmerksam gemacht: Guizot, Thierry und die Rolle des Tiers Etat, HZ 190 (1960), 308f. Vgl. Stadler, Geschichtsschreibung in Frankreich, 147f. 210 Erich Rothacker, Philosophie und Politik im französischen Denken (1950), 147f. Dazu und zum folgenden auch. Sergio Moravia, Beobachtende Vernunft 1989. 211 „Die Menschheit ist ein Kollektivwesen, das sich durch Generationen hindurch so entwickelt hat, wie das Individuum im Verlauf der Lebensalter. Ihre Entwicklung geht aufwärts“, behauptete die Schule in Zusammenfassung der Lehre Saint-Simons. Die Abschaffung des Erbrechts und die Übertragung der Arbeitsmittel auf die Gemeinschaft wird zwar als Revolution bezeichnet, doch nicht als gewalttätiger Umsturz, sondern als Prozess, in dem die Menschheit „aufgrund ihrer Natur unbezwingbar einer neuen Ordnung zustrebt“. Sobald
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V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie diese erreicht ist, werde sie auch eine neue Religion besitzen (Saint-Simonsche Lehre, II. Jahr (1830). 212 Leszek Kołakowski ist der Ansicht, dass die Comteschen Gesetze nicht mehr sind als hinreichend bestätigte Hypothesen, die ermöglichen, die einzelnen Bereiche praktisch zu handhaben; Comte habe auch nicht gewollt, die komplexeren (sozialen) Wirklichkeitbereiche auf einfache (physikalische,biologische) zu reduzieren, wie das im 18. Jahrhundert versucht wurde, sondern habe allein Interdependenzen bzw. Abhängigkeiten aufgestellt (Philosophie des Positivismus, 73f). Das scheint mir eine Verharmlosurg der biologistischen Abwertung individueller und universaler Werte zu sein, die sich bei Comte (in der Nachfolge Lamarcks) ankündigt. 213 „Die weltliche Fortschrittsreligion, die Comte predigt, ist historisch nur verständlich als Säkularisierung der christlichen Eschatologie.“ (F. Fellmann, Philosophie im 19.Jahrhundert, 1996,29). 214 Der Positivismus beruft sich nach Croce auf Prinzipien, die wirken wie Gott, weshalb Comte, ebenso wie Buckle, als „chaotische Theologen“ enden, „alten Begriffen ergeben, die die romantische Historiographie überwunden hatte“: B. Croce, Theorie und Geschichte der Historiographie (1930),252 215 In Frankreich suchte man seit 1815 „schon fast verzweifelt nach einem neuen Intellektuellentypus – im Bestreben, die aus Revolution und Gegenrevolution resultierenden Gegen sätze zu überwinden. Parallel zum positivistischen Wissenschaftler entstand der romantische Magier und Prophet (Charle, Vordenker der Moderne, 65f). 216 Es genüge nicht, den außerordentlichen Zustand der „vorgeschrittensten Nationen“ zu einem normalen, dauerhaften Zustand zu deklarieren, sagt Comte. So wie in den Naturwissenschaften das Prinzip Gewissensfreiheit deplaciert sei, müsse auch in der Politik Vertrauen in wissenschaftliche Prinzipien proklamiert und die Entscheidungen kompetenten Männern überlassen werden. – Comtes Schüler von Eichthal machte den Lehrer auf Kants Idee einer allgemeinen Geschichte aufmerksam; dieser verstand Kant auf seine Weise als „Metaphysiker, der der positiven Philosophie am nächsten steht“ (Ostwald: Comte, 52). Zu den unerwarteten Folgen des Fortschritts: M. Ginsberg, Progress in Modern Era in: Dictionary of the History of Ideas, 1973, 642f. und Hölscher, Entdeckung der Zukunft, 60f. 217 Auch die soziale „Dynamik“ ist nur eine Modifikation der universalen „fatalité“ und nicht grundsätzlich unterschieden von der Struktur biologischer Organismen; sie verbleibt also innerhalb eines von Naturgesetzlichkeiten bestimmten Rahmens (Margaret Steinhauer: Die politische Soziologie Comtes, 43f). 218 Vgl. H. Th. Buckle († 1862): „Ehe noch ein Jahrhundert verstreicht, wird die Reihe der Beweise vollständig und ebenso selten ein Historiker zu finden sein, der die stetige Regelmäßigkeit der sittlichen Welt leugnet, als jetzt ein Philosoph zu finden ist, der den gesetzmäßigen Gang der natürlichen Welt in Abrede stellt“ (History of Civilisation in England I (1857), 30. 219 Isaiah Berlin unterstreicht Mills eher unterirdische Revolte gegen die benthamitischen Ideen des Vaters, dessen fehlendes Verständnis für Geschichte, Glaubensvorstellungen, aber auch menschliche Würde und individuelle Psychologie (Four Essays on Liberty, 1969). 220 J. C. Wolf glaubt, dass Mills Utilitarismus sich von Benthams quantitativem „größten Glück der größten Zahl“ durch eine qualitative Hierarchie der Glücks- und Lustgefühle unterscheidet: der Mensch ist in seiner Auffassung ein progressives Wesen, das nur wächst, wenn es frei entscheidet und Aktivität sowie Selbstachtung ins Spiel bringt: Jean-Claude Wolf, J. St. Mills Utilitarismus (1992). 221 Wir befinden uns immer noch in einem frühen Stadium des Fortschritts, äußert Mill an anderer Stelle, „aber wenn nur halb so viele Anstrengungen unternommen würden, um die Mehrheit auf den Platz vorzubereiten, den sie in ihrer eigenen Regierung einnehmen soll“, als sie davon abzuhalten, würde die Menschheit eine Menge Missstände vermeiden und „Nutzen aus einer unbegrenzt verbesserungsfähigen Regierungsweise“ ziehen (Mill, Tocqueville (1835) in: Mills Ges. Werke Bd. 11 (1874). Nicht zuletzt wirft Mill Comte die Ablehnung der Poli-
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Anmerkungen tischen Ökonomie als einer „unwissenschaftlichen Disziplin“ vor; beschränkte Köpfe gebe es in allen Wissenschaften, und es sei „schwerlich ein guter Volkswirth,…der nichts anderes als ein Volkswirth ist“ (Comte und der Positivismus, in: Mills Ges. Werke, Bd. 9). 222 Dies ist nicht identisch mit Isaiah Berlins Unterscheidung von negativer Freiheit als Abwesenheit von fremdem Zwang, und positiver Freiheit, sei es als Einfluss auf die Art der Regierung, sei es als Zugehörigkeit zu einer höheren Entität, einer kollektiven Eigentlichkeit (als „höhere Freiheit“, die mitunter Zwang rechtfertigt): Isaiah Berlin: Zwei Freiheitsbegriffe, 1958. 223 M. Levy interpretiert Mills Bild des Endpunkts des ökonomischen Zeitalters mit dessen republikanischer Überzeugung: statt atomisierter selbstsüchtiger Sklavenseelen würden genossenschaftlich organisierte Arbeiter zu freien Trägern des Gemeinwesens werden (Michael Levy, Mills Stadium des Stillstands und die Transzendenz des Liberalismus. In: Gregory Claeys, Der soziale Liberalismus J. St. Mills (1987). Vgl. Volker Bartsch: Liberalismus und arbeitende Klassen (1982). 224 Dazu Karl Popper (Poverty of Historicism, 1957), der auch den Umstand betont, dass die Unwandelbarkeit der Gesetze in der Regel von konservativen Apologeten des Status quo verteidigt wird. Den Einfluss von Prognosen auf das prognostizierte Ereignis bezeichnet Popper als „Oedipus-Effekt“. 225 „Die Herzenswärme der historischen Erinnerung erkaltet in der kritischen Überprüfung ihres Tatsachengehalts, ihrer Wahrheitsfähigkeit, für die die Wissenschaft steht.“ (Jörn Rüsen in: Historische Sinnbildung (1997). 226 Paul Barth stellt bei Comtes scheinbar nüchtern-positiver Geschichtsbetrachtung eine immanente, auf das kommende Zeitalter der vollen Reife ausgerichtete Teleologie fest: Philosophie der Geschichte als Soziologie (1922, 207). 227 Die Vielfalt kontingenter Faktoren, die in Europa zum Ausbruch aus dem Agrarzeitalter beigetragen haben, fasst Ernest Gellner in Pflug, Schwert und Buch (1993, 179–199) zusammen. Das Wirtschaftswunder der westlichen Zivilisation ist demnach eher ein politisches als ein ökonomisches Phänomen. In Gellners Bedingungen der Freiheit (1995) werden eher die einzigartigen europäischen Errungenschaften: die Trennung von politischer und sozio ökonomischer Macht, von Werten und Tatsachen, gegenüber der Idee der Tugend als Staatszweck, hervorgehoben. 228 „Freylich wird England bey wieder eröffnetem freyem Handel den europäischen Markt etwas verändert finden“, äußerte der pronapoleonische Pamphletist Justizrat Crome noch im Frühjahr 1813, „denn die Nationen haben während der Zeit, dass das Continent ein geschlossener Handelsstaat war, ihre Kräfte kennen und ihre Bedürfnisse einschränken gelernt.“ (Deutschlands Krise und Rettung im April und Mai 1813). – Ihm antwortete der deutsche Patriot Ludwig Hassell ein Jahr später: „Wir haben auch wirklich Ursache uns glücklich zu preisen, dass wir es durch das aufmunternde Continental-System so weit gebracht haben, dass der Kaffee schon von jeder Gersten-Garbe und von jedem Eichbaume herunter purzelt, der Zucker aus den Runkelrüben…quillt, Indigo, Cochenille und andere köstliche Farben aus Heu-Schobern …heraus processirt, die China-Rinde von jeder Weide abgeschält werden kann, die Baumwolle um die Pappeln herumfliegt… Freylich wäre es billig genug, dass wir für das schwere Geld, was wir für die vielen Surrogate durch Retorten, Schmelz-Tiegel und Destillir-Oefen getrieben haben, die Colonial-Waaren entbehren könnten“ etc. (Deutschlands Nacht und Morgen-Röthe. Leipzig 1814, 104.) 229 J. Breuilly weist auf Nationalbewegungen lange vor Beginn der Industrialisierung hin, die jedoch oft mit Industrialisierung in einem anderen Land zusammenhängen, typischerweise in abhängigen Gebieten der „Peripherie“: Approaches to Nationalismu, in Schmidt-Hartmann 1994, 27. 230 „The historian sometimes wonders whether to be more impressed by their similarities or by their differences.“ (Talmon: Romanticism and Revolt, 106). 231 Manche Wirtschaftshistoriker bestreiten die Rückständigkeit Frankreichs im 19. Jahrhundert und halten seine stetige, allmähliche Industrialisierung für sozialverträglicher als die britische (T. Pierenkemper, Umstrittene Revolutionen, 1996).
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V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie 232 Dieser Zusammenhang von wirtschaftlicher und politischer Freiheit wurde auch von demokratischen Beobachtern der Weltausstellung gerne festgestellt und gegen die eigene polizeibürokratische Herrschaft gewendet. Der spätere Mitarbeiter Bismarcks Lothar Bucher stellte z. B. fest, die Regierungen wollten allem Leben Vorschriften machen, übersähen jedoch, dass die Naturkräfte und die ökonomische Entwicklung sich nichts vorschreiben ließen: Haltern, Londoner Weltausstellung, 243. „Wirtschaftpolitische und politische Fragen waren nicht identisch; (sie) hingen zwar eng zusammen, liefen aber doch nicht parallel“ (Nipperdey, Deutsche Geschichte I, 687). 233 Ludwig I. von Bayern dichtete um 1840: „Jetzo lösen in Dampf sich auf die Verhältnisse alle/ …überall und nirgendwo daheim, streift über die Erde/ Unstät so wie der Dampf, unstät das Menschengeschlecht (Buddensieg-Rogge, Die nützlichen Künste, 1981, 53). 234 Das Französische gilt als Sprache der Freiheit, als virtuelle Universalsprache, während die Dialekte und die nicht-französischen Sprachen im Land der Revolution als Hindernis patriotischer Kommunikation, ja als „dernier reste de la féodalité“ diffamiert werden (Jeismann, Vaterland der Feinde, 149f). R. Barthès spricht von einem „Absolutismus der Sprache“, der ständig Proteste gegen Verunreinigungen hervorruft: „Unaufhörlich muss ausgekratzt, verboten, entfernt, geschützt werden.“ (Kritik und Wahrheit, 1967, 38f). 235 Dem deutschen Versagen, 1848 eine westliche, freiheitlich-vertragliche politische Nation zu schaffen, entsprach in Böhmen die Unfähigkeit der Akteure, eine zweisprachige böhmische Nation zu akzeptieren (wie sie F. Palacký noch 1868 anvisierte: Kořalka, Hans Kohns Dichotomie, 1994. Zur Verdrängung des westlichen, bi-nationalen Landespatriotismus durch nationale Ausschließlichkeit: Boldt, Kultur versus Staatlichkeit, 1996, 174ff). Th. Schieder führt dagegen das böhmische Staatsrecht, die jagiellonische Staatsidee und den kleindeutschen Nationalstaat als Beispiele des Missbrauchs übernationaler Ideologien für nationalstaatliche Zwecke an: aus Symbolen von Kaiser und Reich werden etwa weltpolitische Ansprüche abgeleitet (Geschichtsdenken bei europäischen Völkern, in: Nationalismus u. Nationalstaat, 1991). 236 Th. Schieder, der von der Tatsache ausgeht, der soziale Wandel des Zeitalters der Hochindustrialisierung sei durchwegs national geprägt gewesen, sieht trotzdem häufig geradezu einen diametralen Gegensatz von Nationalstaatspolitik und kapitalistischem Wirtschaftsinteresse (Typologie und Erscheinungsformen des des Nationalstaats (HZ 1966). 237 Die englische Architekturpraxis der Jahrhundertmitte, von Abrisswahn besessen, stellte einen „blind spot in the Victorian vision“ dar; ganz abgesehen von den „slum-landlords“ und „jerry-builders“, produzierte man „deplorable buildings“ and „monstrosities of architecture“ (Trevelyan, English Social History, 524, 528). 238 „Seit einem Jahr passiert mir das, was immer jenen Menschen passiert, die in Krisenzeiten zur Mäßigung aufrufen“, schrieb Renan 1871 an den siegestrunkenen D. F. Strauss. „Ich glaube nicht an die Dauer der ins Extrem getriebenen Dinge… Der Triumph ist immer ein Fehler (Renan, Was ist eine Nation? und andere politische Schriften, 1995). 239 Die Staatenlenker, sagt der professeur Bergeret, können sich keine Abrüstung leisten, weil die Militarisierung ihnen die Führung ungemein erleichtert. Die Uniform macht aus potentiellen Aufrührern kleine Tyrannen; somit sei kein Ende jenes ehrwürdigen Zustandes in Sicht, der Europa verdummt und an den Bettelstab bringt (Anatol France, Histoire contemporaine). 240 Darwin schließt seine „Geschlechtliche Zuchtwahl“, den 2.Teil seiner „Abstammung des Menschen“ von 1871, mit den vorsichtigen Worten, es gebe für die Menschheit neben dem Kampf ums Dasein auch andere, noch bedeutungsvollere Kräfte, wie die moralischen Fähigkeiten, obwohl die sozialen Instinkte durchaus auf der Basis der natürlichen Zuchtwahl entstanden seien. (Darwin, Die geschlechtliche Zuchtwahl, dt. Jena 1909, 284f) 241 In Nordamerika waren Theologen oft aufgeschlossener gegenüber der Evolution, so der Unitarier J. M. Savage. Für ihn war nicht nur die Natur die Offenbarung Gottes, sondern gerade die „aufsteigende Kette der Cerebration“. „Der Gott der Evolution…treibt auch die Entwicklung der Menschheit weiter zu höheren Stufen.“ (The Religion of Evolution, 1876. Dazu Ernst Benz, 1973)
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Anmerkungen 242 Weiter geht der Deutschbalte von Lilienfeld († 1903) mit seinem Grundsatz: nihil est in societate quod non prius fuerit in natura. Seine Kritik bei Sorokin, Contemporary Sociological Theories, 167f. „Ein tierischer Organismus behält seine ‚Konstitution‘, ein sozialer kann sie ändern“, betont auch Paul Barth. Über die Natur hinausweisende Ideale, die Möglichkeit, geistigen Besitz auf andere zu übertragen, mit Hilfe systematischen Denkens das mensch liche Handeln zu beeinflussen, ist bei Spencer nicht vorgesehen (Paul Barth, Philosophie der Geschichte, 334f). In Wirklichkeit wird das Ideelle und das Moralische teleologisch in den Prozess der Evolution hineingenommen und die unmittelbaren, sinnlichen Gefühle als Lenkungsorgane der Handlungen schrittweise von den ideellen und abstrakten ersetzt ( Principles of Ethics I–II, 1892/93). 243 O. Gaupp, Herbert Spencer. Stuttgart 1923, 142f. Spencer sieht durchaus die Gefahr, dass eine hochentwickelte Gesellschaft ihre geistigen und moralischen Kapazitäten auf Kosten physischer Gesundheit entwickelt. Der uneingeschränkte Existenzkampf ist die Gewähr gegen derartige Überkultivierung. „In der Natur selbst sehen wir eine harte Disziplin an der Arbeit, die in ihrer Grausamkeit letztlich Barmherzigkeit spendet.“ (Dazu auch Koch, Sozialdarwinismus, 1973, sowie P. Kellermann, H. Spencer, in: Klassiker des soziol. Denkens I, 1976). Spencers Auffassung der Familienethik geht aus von seiner Theorie der physiologischen und geistigen Minderwertigkeit der Frau gegenüber dem Mann (Study of Sociology I, 1873). 244 Bei Gobineau selbst kommt zum antidemokratischen Motiv das Gefühl des Niedergangs einer rassisch bedingten Lebensform hinzu. Er fühlte sich als Kopernikus der Geschichte, dessen quasi-naturwissenschaftliche Methode eine Diagnose der „großen Krankheit des Zeitalters“ ermöglichen sollte (Herman, Propheten des Niedergangs 1998,60ff). 245 Auch in der 2.Auflage seines „Rassenkampfes“ von 1909 besteht Gumplowicz auf der „mondialen Wichtigkeit“ der Rassenfrage und dem Satz: „was im Menschen denkt, ist gar nicht er selbst, sondern seine Gruppe, seine soziale Umwelt.“ Im selben Jahr beging der jüdische Grazer Soziologe Selbstmord. 246 Die negativen Folgen des Krieges sind ebenfalls lange vor dem 1. Weltkrieg erörtert worden, z. B. M. Vaccaro, La lutte pour l’existence dans l’humanité, ital.1886. Zuvor G. C. Stiebeling, Sozialismus und Darwinismus, 1879. Schon Spencer sprach geradezu von negativer Selektion durch den modernen Krieg. Eingehend bei Sorokin, Sociological Theories, 240ff. 247 Die Sklaverei der Schwarzen ist für Lapouge nichts moralisch Relevantes, sondern ist mit der Domestikation von Pferden und Rindern zu vergleichen. Wenn es in der Geschichte Fortschritt gab, dann ausschließlich durch die bahnbrechenden Leistungen der höheren Rassen. Dazu E. Seidler u. G. Nagel, G. Vacher de Lapouge in: G. Mann (Hg.) Biologismus im 19.Jahrhundert, 1973. 248 Edle Rasse galt den Eugenikern als etwas durchaus Machbares, sozusagen ein Zuchtziel. Auch Ernst Haeckel war übrigens Ehrenmitglied der Berliner Gesellschaft für Rassenhygiene von 1905. Bertrand Russell, der eugenischen Maßnahmen, wie der Sterilisierung Schwachsinniger, nicht ganz abgeneigt war, hielt es im Hinblick auf die Unsicherheit des Züchtungsziels für gefährlich, wenn ein Staat seinen Vorurteilen ein wissenschaftliches Mäntelchen umhängt und diese sanktioniert (Russell, Ehe und Moral, 1930). 249 Ludwig Woltmann, Die Darwinsche Theorie und der Sozialismus (1899), bringt einen breiten Aufriss der Debatte seit 1873. Die Parallele ergab sich v. a. aus der Idee einer natürlichen gesetzmäßigen Entwicklung, die die Gewissheit einer schließlichen Herrschaft des Sozialismus beweisen sollte. Dieser werde die tierische Konkurrenz nicht durch gemeine Gleichheit, sondern einen unverfälschten Wettbewerb der Talente in gleichwertiger Vielfalt ersetzen (L. Jacoby, 1874; A. Dodel, 1875). In Woltmanns Politischer Anthropologie (1900) wird die Parallelität von gesellschaftlicher Schichtung und Rassenunterschieden behauptet und gefordert, das Erbgut der führenden Rasse zu schützen. 250 Der Paläontologe Stephen Gould ironisiert die Meinungsmache, wonach die Evolution einem grundlegenden Trend auf den Menschen hin verkörpert: Wir haben den Drang, die Evolution als fortschrittsorientiert zu betrachten, um dem letzten kleinen Stück der Erd geschichte etwas Positives abzugewinnen. (Illusion Fortschritt, 1998, 37).
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V. Das Zeitalter der Industrie und Demokratie 251 „…im Kleide des Analytikers zu predigen und mit einem Blick auf die Bedürfnisse des Herzens zu analysieren, dies schuf eine leidenschaftliche Anhängerschaft und gab dem Marxisten jenes größte Geschenk, das in der Überzeugung besteht, dass das, was man ist und wofür man einsteht, niemals unterliegen, sondern am Ende siegreich sein wird.“ (J. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1946, 21). 252 Das Nebeneinander von Verbalradikalismus und bloßem Praktizismus, das Festhalten an evolutionistischer Bequemlichkeit, in Wahrheit einer unkontrollierbaren Entwicklung, deren Logik man zu kennen vorgab, hatte natürlich mit Selbstvergewisserung und Integration in einer komplizierten Situation zu tun, führte aber zunehmend zu politischem Immobilismus: Th. Welskopp, Im Bann des 19.Jahrhunderts, 2000. 253 Für den Neukantianismus war inakzeptabel nicht nur der historische Materialismus mit seiner Degradierung der Wirklichkeit des Normativen, der Freiheit der sittlichen Entscheidung, sondern auch die nietzscheanische Sezession der Philosophie aus der Wissenschaft, ihr Angriff auf die zivilisatorische Rationalität samt ihren sozial-humanitären Tendenzen: Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland (1974, 109ff). 254 Gegen Cohens kategoriale Unterscheidung von Wert und Wirklichkeit will Ferdinand Tönnies ethische Korrekturen aus der gesellschaftlichen Realität selbst entwickeln und stellt einen soziologischen Realismus gegen den Illusionismus und die schlechte Abstraktheit der Begriffe (Dazu Peter Müller, in: Ethischer Sozialismus, 276). 255 Otto Bauer wertete die Wiedergeburt des Kantianismus (1881 Feiern zum 100. Jahrestag der Kritik der reinen Vernunft) auch moralisch ab, indem er diesen in Zusammenhang mit dem Sozialistengesetz von 1878 brachte. 256 F. A. Langes bis 1894 fünfmal aufgelegte Arbeiterfrage ist eine wichtige Inspirationsquelle für T. G. Masaryks Grundlagen des Marxismus von 1898 gewesen; ebenso wie Cohens Einleitung zu Langes Geschichte des Materialismus von 1896 ist sie aber soviel mir bekannt, in dieser Hinsicht noch nie untersucht worden. Zu Masaryks Buch: Loewenstein: Marx in Masaryks Prisma, in ders.: Wir und die anderen, 2003. 257 Dass es von Mensch, Gesellschaft und Geschichte noch kein vergleichbares Wissen (wie in den Naturwissenschaften) gibt, liegt einfach daran, dass sie gar nicht im gleichen Sinne wissbar sind wie die Natur, und was davon ähnlich wissbar ist, nicht das Eigentliche trifft (Jonas, Prinzip Verantwortung, 2003, 290). Für Paul Tillich durchbricht das utopische Symbol einer klassenlosen Gesellschaft die Möglichkeiten der Immanenz und „oszilliert zwischen Immanenz und Transzendenz“ (Prophetische und marxistische Geschichtsdeutung, 1934/36). 258 „Das Gute ist bei Natorp von früh an das Gesetzliche… Der Methodencharakter der Idee ist von vorneherein mit dem Seinsollen des Guten durchtränkt.“ (N. Jegelka, Natorps Sozialidealismus, in: Holzhey, Ethischer Sozialismus (1994, 183f). Jegelka widerlegt überzeugend alle Verdächtigungen Natorps als ‚Präfaschisten‘ oder ‚Mystikers‘. Aber auch Lübbes Einwand gegen Natorps angeblicher Verabsolutierung der Gegensätze von ‚Kultur‘ und ‚Zivilisation‘ verdient Beachtung: der Versuch einer Moralisierung der Politik hat den umgekehrten Effekt einer Politisierung der Moral; die Politik nimmt dadurch einen totalen Charakter an (Politische Philosophie, 193). 259 Vgl. Harry Graf Kesslers Vorschlag eines wahren Völkerbunds, der anders als Willsons Genfer Staatenbund, eine echte Vereinigung der Völker mit hohen Befugnissen darstellen sollte, vgl. Benz: Pazifismus in Deutschland, 1988, 144ff. 260 Georg Simmel (Weibliche Kultur, 1911) kritisiert anhand von Schopenhauers Charakteristik der Frauen als „zeitlebens großen Kindern“, ihrer naturhaft-unterentwickelten Wesensgrundlage, die im Entwicklungsbegriff enthaltene falsche Höherbewertung der ‚Frucht‘ gegenüber der ‚Blüte‘. Die Frau befände sich danach im quasi Latenzzustand, und ihre Emanzipation wäre bloß erweiterte subjektive Teilhabe an Inhalten der (in Wirklichkeit männerbestimmten) ‚objektiven‘ Kultur. 261 „Man freut sich der technischen Erfindungen als solcher, ohne sich stets darüber klar zu sein, welche Ziele man eigentlich mit ihnen erreichen will“ (Rickert, Lebenswerte, 1911).
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Anmerkungen 262 Georg Jellinek betont die Rückwärtsgewandtheit der englischen Rechtserklärungen, die kein neues Recht schaffen wollten, sondern sich auf ein bestehendes beriefen und auch, wie das mittelalterliche Naturrecht, keine subjektiven, gar allgemeinen Rechte kannten. Dagegen fordern die amerikanischen Charten die „self-evident rights of every individual“ auch positiv ein: Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 1904. 263 „Die Nationen nehmen ihren Rang ein in der Weltgeschichte nach dem Grad, in welchem sie das Gemeingut der gebildeten Menschheit sich aneignen und vermehren.“ „Nur das, was sich auf diesem Boden bewegt, gehört der Kulturwelt an“ (Ranke, Weltgeschichte VIII). 264 „Der Fortschritt der Menschheit beruht auf dem Erfolg, womit die Gesetze der Erscheinungen erforscht, und auf dem Umfang, bis zu welchem diese Erkenntnisse verbreitet werden“. „Die Entdeckungen…stärken den Einfluss intellektueller Wahrheiten und schwächen…den Einfluss sittlicher Wahrheiten“ (Buckle). Droysen verspottet derartige Verallgemeinerungen als banal und konfus, von der Art des Gemeinplatzes, der Maßstab der Zivilisation bestehe im Verbrauch von Seife. 265 F. Jaeger hebt den zentralen Stellenwert der Arbeit und der „praktischen Gemeinsamkeiten“ als den „eigentlichen Tummelplatz des geschichtlichen Kampfes“ bei Droysen hervor (Bürgerliche Modernisierungskrise 1994, 45). Vgl. W. J. Mommsen: Objektivität und Parteilichkeit im historiographischen Werk Sybels und Treitschkes. In: R. Koselleck e. a.: Objektivität und Parteilichkeit (1977) sowie die ältere Studie von Hans Schleier: Die kleindeutsche Schule in: Streisand, Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, 1963. Georg Iggers betont den historischen Optimismus, das Fehlen einer Vorstellung vom radikal-Bösen bei Droysen, dessen Vertrauen in die vernünftige Selbstbeschränkung des Machtstaats: The German Conception of History, 1968. 266 Zur antiken Neigung zum Ausspielen der unveränderlichen Menschennatur gegen den Historismus will Jürgen Habermas bedenken, „ob nicht auch das, was er (der Mensch) von sich hält, bestimmend dafür ist, wie er sich hält“: die „zweite Natur“, die geschichtlich erworbenen und entworfenen Regeln des Zusammenlebens, Erfahrens und Verfügens sind ebenso wichtig, wie die „erste“ (Habermas, Karl Löwiths stoischer Rückzug, 1963). „Das Einzelne…darf nur im Zeugenverhör über das Allgemeine, nicht um seiner selbst willen, befragt werden“, sagt Burckhardt in der Einleitung zu seinem Spätwerk, der Griechischen Kulturgeschichte. 267 Herbert Schnädelbach: Geschichtsphilosophie nach Hegel (1974,73ff) hebt hervor, dass Burckhardt bei aller resignierten Betonung nicht-rationaler Antriebskräfte in der Geschichte kein Vitalist ist, sondern am Bewusstsein geistiger Zusammenhänge und Kulturleistungen in ihrer Spannung zur Realgeschichte als Aufgabe festhält. Eingehender: Wolfgang Hardtwig: Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und neuer Welt (1974,132ff). Hingegen erklärt Jörn Rüsen: Die Uhr, die der Stunde schlägt, in: Historische Prozesse, (1978,202), dass Burckhardt zwar „Teleologie durch Pathologie ersetzt“, also das Katastrophale der Weltgeschichte und den Geist als das Leidende und Ohnmächtige akzentuiert, aber auch das „reflektierte Können“ und die „Entbindung eines geistigen Überschusses“, die durchaus Veränderungen in den Formen der Vergesellschaftung bewirken. 268 La France dégénerée lautet ein anonymer Titel von 1872, die Anklage einer destabilisierten, korrupten, minderwertigen Gesellschaft, die die Niederlage von 1870 erklärt. Max Nordaus Entartung (1892) gibt einer durch die Furcht vor atavistischen Rückfällen und insbesondere irrationalen Massen gezeichneten Zeitstimmung die Parole. In den 1890er Jahren beginnt sich das Selbstbild des 19.Jahrhunderts zu wandeln. H. Taine, G. Le Bon und E. Durkheim tragen jeder auf seine Weise zur Diagnose der Krise der modernen Zivilisation bei. Dazu A. Herman, Propheten des Niedergangs (1998, 139ff, 155f). In Burckhardts frühem Zeitalter Konstantins des Großen (1852) kommt die Erneuerung der erstarrten antiken Kultur durch die Mobilisierung überweltlicher Erlösungsvorstellungen. 269 Der Gedanke vom grundlosen, blinden Willen als Ding an sich und der Vergeblichkeit des philosophischen Anspruchs, das menschliche Handeln zu leiten, kommt von Schopenhauer. Auch die Abwertung der Wissenschaft, die kein letztes Ziel findet, während die Kunst „das
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Rad der Zeit anhält“ und von der Schuld der Individuation erlöst, stammt aus dessen geistiger Rüstkammer. Zur auf Nietzsche folgenden Historismus-Debatte. O. G. Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus (1996). Georg Simmel stellt fest, dass das messende, wiegende, rechnerisch exakte Wesen der modernen Geldwirtschaft die „reinste Ausgestaltung des Intellektualismus“ darstellt und zum mehr impulsiven, „auf das Ganze gehenden, gefühlsmäßigen Wesen“ früherer Epochen in entschiedenem Gegensatz steht. Es sei kein Zufall, dass diejenigen Geister, die der ökonomischen Begründung der menschlichen Dinge am feindlichsten gegenüberstehen, zugleich antiintellektualistisch gestimmt sind und die wissenschaftlich exakte Naturdeutung völlig ablehnen (Philosophie des Geldes, 499f). Jaspers: Nietzsche und das Christentum, 70ff; Salin: Von deutschem Verhängnis, 118ff, 161f; Löwith: Von Hegel zu Nietzsche, 209ff; Nolte: Nietzsche und Nietzscheanismus, 161ff; Fellmann: Geschichte der Philosophie im 19. Jahrhundert, 313f; Urs Marti: Der große Pöbel- und Sklavenaufstand. „‚Pessimismus‘ und ‚Optimismus‘ werden zwar noch als semantischer und ideologischer Gegensatz eingesetzt, fungieren tatsächlich aber als zwei Aspekte ein und derselben Kulturkrise… An allen Ecken wurde das Sterbeglöcklein des Niedergangs und Zerfalls geläutet, aber nirgendwo übertönte es den ebenso vorhandenen entwicklungsgewissen Fortschrittslärm.“ (Drehsen/Sparn, Krisenwahrnehmung um 1900, 12). Mit Max Webers Lehre von den Idealtypen fiel, nach den Worten Alexander Demandts, der Streit zwischen nomothetisch-generalisierender und idiographisch-individualisierender Methode in sich zusammen: ders., Natur- und Geschichtswissenschaft im 19.Jahrhundert. (HZ 1983). Zuvor hatte sich der Rektor Ulrich von Wilamowitz vom einseitig historistischen Bildungsideal so weit hinreißen lassen, dass er das Denkmal des Physikers Helmholtz vor der Universität entfernen ließ (ebenda, 42). Zu den Überschneidungen von Neukantianismus und Leipziger Positvismus auch: Elfriede Üner, Kultur- u. Universalgeschichte, 1993. Die nicht emanzipativ-politische, sondern vorwiegend wissenschaftlich-technische Begründung des Fortschritts in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte natürlich mit einer für demokratische Erwartungen ungünstigen politischen Entwicklung auf dem europäischen Kontinent zu tun. Mit naturwissenschaftlich-darwinistischen Prinzipien war, wie wir gesehen haben, Sozialversicherung und Arbeiterschutz als erbbiologisch kontraproduktiv zu bekämpfen (A. Ploetz, 1895). Umgekehrt begründete W. Windelband seine Berufung nach Strassburg als persönliches Opfer im notwendigen Kampf gegen das Feindbild Positivismus (nach Köhnke).
VI. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert 276 Die technikskeptische Reaktion der Söhne auf die großen Leistungen ihrer Väter, der Umschlag von Werner zu Wilhelm von Siemens, von Emil zu Walther Rathenau, von Rudolf zu Eugen Diesel…war unter den Ingenieuren eher die Ausnahme. (H.-L. Dienel: Triumph der Technik, 1996). Zu den Widerständen des wilhelminischen geisteswissenschaftlich orientierten Bildungsbürgertums gegen Naturwissenschaften, Technik, Utilitarismus, kalten Intellektualismus und vermehrte Bildungschancen, die sein gesellschaftliches Prestige infragestellten: Ch. Berg u. U. Herrmann, Industriegesellschaft und Kulturkrise, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte IV (1991). 277 Weitere Beiträge haben nicht viel mit technischen Entwicklungen zu tun. Bertha von Suttner nimmt einen Zustand der Gewaltlosigkeit vorweg, in dem Misstrauen und Missgunst, Bosheit und Gehässigkeit nicht mehr unsere Seelen trüben, der italienische Anthropologe Cesare Lombroso will die erblich bedingte Neigung zu Verbrechen und Alkoholismus durch Verhinderung erbkranken Nachwuchses einschränken, der norwegische Dramatiker B. Björnson prophezeit das Heraufkommen einer menschenverbindenden freien Religion, und
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Anmerkungen Eduard Bernstein eine demokratische und soziale Zukunft unter der Herrschaft einer an Schutz und Fortführung der bisherigen Kultur interessierten Arbeiterklasse (Die Welt in hundert Jahren, Nachdr. 1988). 278 Die Elektroindustrie erforderte für ihre technischen Systeme nicht nur große Investitionen, sondern ein hohes Maß an Kooperation, auch mit dem Staat; man hat Rathenaus systemisches Denken in Schaltkreisen, seine technokratische Neigung zu Planwirtschaft als die vermeintlich effizienteste und gerechteste Organisationsform mit seinen Erfahrungen als AEGManager verbunden (Rohkrämer: Eine andere Moderne, 1999). 279 Ostwald: Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaften. Das Buch wurde von Max Weber als „kleine Missgeburt“ und Folge verfehlter comtescher Wissenschaftsschematik abgekanzelt, hatte aber, wie z. B. G .Hübinger zeigt, durchaus Erfolg bei den Zeitgenossen. – „Die Vereinigung mit Gott, die dem Mystiker nur als schwärmerische Gedankenfigur möglich war, wird unter den Bedingungen der Elektrizität zur unmittelbaren Realität.“ „Aus Kommunion wird Kommunikation.“ (M. Burckhardt: Vom Geist der Maschine, 1999). 280 Ellen Keys Bild der Frau in hundert Jahren aus dem genannten Band ist geradezu eine Vorwegnahme der Zivilisationskritik A. Huxleys: es fehlt weder die staatliche Lenkung der Fortpflanzung noch die totale Steuerung und Planung des gesamten Lebens; alle werden gegen den Bazillus Ehrgeiz und Originalitätssucht geimpft; zu Neujahr 2009 kommt es zu einem Umsturz, der den Zustand wiederherstellt, wo das Leben noch mühevoll, tragisch, reich, berauschend, mit anderen Worten, lebens- und liebenswert war (Die Welt in hundert Jahren, 122). 281 Herrschaftsdisziplin wird nach Helmut Schelsky zur Sachdisziplin umgeformt; Sachgesetzlichkeiten schreiben die Lösung der politischen Aufgaben ihren Weg vor. Bei ständiger Kompetenzerweiterung des Staates werden die eigentlich politischen Entscheidungen minimisiert (Schelsky: Suche nach Wirklichkeit 1965, 457f). 282 Nach Theodor Fontanes Äußerung fehlt der Großstadt nicht nur Zeit zum Denken, sondern auch Zeit zum Glück; was sie schafft, sei nur die „Jagd nach Glück“, also Unglück (Briefe, 1954) 283 Zu den letztlich gescheiterten Versuchen des Leipziger Positivismus (Wundt, Ostwald, Ratzel, Lamprecht, Bücher), die philosophischen Antinomien von Geist und Materie, Subjekt und Objekt, Theorie und Empirik in Form einer „panpsychischen Naturphilosophie“ aufzuheben, s. R. Chickering: Das Leipziger „Positivistenkränzchen“, in: Kultur und Kulturwissenschaften um 1900 II (1997). 284 Bei Edward Bellamys friedlich entstandenen sozialistischen Staatsutopie, Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 (1888) fungiert Amerika als Pionier der allgemeinen Umwälzung und die Erde wird zu einem gewaltigen Boston, in dem allerdings sozialer Wetteifer die Geldbeziehungen ersetzt hat („the nation…organized as the one great business corporation, in which all other corporations were absorbed“). 285 „was die Männer der Amerikanischen Revolution für die größte Errungenschaft ihrer republikanischen Staatsform hielten /nämlich die Teilung der Gewalten, B. L/…niemals von irgendwelcher Bedeutung für das revolutionäre Denken Europas…geworden ist.“ (H. Arendt: Über die Revolution, 1963). 286 „…die Unklarheit der demokratischen Formel [rührt daher], dass man ihren ursprünglich religiösen Charakter verkannt hat.“ „Zunächst ist die Demokratie wesentlich als Protest in die Welt getreten.“ (H. Bergson: Die beiden Quellen der Religion und der Moral). Wenn die Menschen Engel wären, dann bedürften sie keiner Regierung, heißt es im Federalist Nr.51. „Wenn Engel über die Menschen herrschten, dann wäre weder eine äußere noch eine innere Kontrolle der Regierung notwendig.“ Die „Federalists“ sind sich der ungleichen Verteilung des Eigentums als Quelle zahlreicher Auseinandersetzungen (Nr.10) ebenso bewusst, wie der Fragwürdigkeit der Gleichung von Glück und Anhäufung von Reichtümern (Madison an Monroe 1786, zit. J. Gebhardt). 287 Die Zeitschrift „Life“ modifiziert die Katechismusfrage nach der Erschaffung der Welt folgendermaßen: Gott habe dies 4004 vor Christus getan, aber im Jahr 1901 sei die Reorga-
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VI. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert nisation der Schöpfung durch James J. Hill, J. Pierpont Morgan und John D. Rockefeller erfolgt (nach B. Russell). 288 1937 übernahm Dewey zögernd den Vorsitz der Kommission zur Untersuchung der Moskauer Prozesse gegen Trotzki. Er war angetan von Trotzkis Persönlichkeit, hielt ihn aber für den Gefangenen einer verfehlten Ideologie („eine tragische Figur, ein brillanter Kopf, gefesselt von absoluten Wahrheiten“ (Artikel Means and Ends, nach Patenande: Trotzki, 58,71). 289 Die amerikanische Weltpolitik seit den 1890er Jahren hatte zweifellos ihre ökonomischen Triebkräfte und interessegeleiteten Motive, war aber auch getragen von einem starken Sendungsbewusstsein, einem imperialism of idealism, der auf einen religiös geprägten Willen zur grundlegenden Neugestaltung der Welt hinauslief (E. Angermann: Die Vereinigten Staaten, 1966,21f. 290 Die Überwindung von Gewalt und einer Vergötterung der Kreatur, die Freiheit der Individuen sind für C. F. v. Weizsäcker ebenso eine Säkularisat des christlich-jüdischen Denkens, wie die Halbwahrheit des Fortschrittsglaubens: „alle nehmen die Wahrheit heraus, dass diese Welt verwandelt werden soll“ (Tragweite der Wissenschaft, 197). 291 „Wenn wir Deutschen amerikanisches Denken übernehmen“, äußerte dagegen ein Kritiker Amerikas in den 20er Jahren, „so haben die Griechen umsonst gelebt, so ist die deutsche Mystik ein Irrweg gewesen, und die deutsche faustische Seele ist eine Privatmeinung des seligen Goethe. Amerika tötet den Eros zugunsten des Maschinenmenschen.“ (A. Halfeld, zit. D. Diner: Verkehrte Welten, 1993). Zur Rezeption des Amerikanismus in Europa um 1900: Alexander Schmidt-Gernig: Zukunftsmodell Amerika? In: U. Frevert: Das neue Jahrhundert, 2000. 292 Dazu Stefan Breuer: Bürokratie und Charisma, 1994. Weber teilte Nietzsches Kulturdiagnose, auch für ihn war Gott tot. „Doch auch das Renaissance-Bündnis von Kunst und Wahrheit ist zerbrochen, so wie die Aufklärungs-Koalition von Wissenschaft, Freiheit und Fortschritt.“ (D. Peukert: Max Webers Diagnose der Moderne, 1989.) 293 „Die staatliche Bürokratie herrschte, wenn der Privatkapitalismus ausgeschaltet wäre, allein“; jeder Machtkampf gegen eine staatliche Bürokratie ist aussichtslos (Wirtschaft und Gesellschaft 835, vgl. Ges. Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, 508.) 294 „Nicht auszuscheiden ist aus allem Kulturleben der Kampf…,stets ist er da und oft um so folgenreicher, je weniger er bemerkt wird.“ „Friede bedeutet Verschiebung der Kampfformen… oder der Auslesechancen und nichts anderes“ (Werturteilsfreiheit). Im Unterschied zu Otto Hintzes rankeanischer Auffassung von Außenpolitik als einem zum Gleichgewicht tendierenden System, hielt Weber den Machtkampf für essenziell. Gerade weil er einen vorgegebenen geschichtlichen Sinn ebenso wie verbindliche Werte leugnete, war Politik für ihn primär kämpferische Entscheidung um eine offene Zukunft (J. Kocka in: HZ 1981). 295 „…dass instrumentelles und symbolisches Handeln keine Gegensätze bilden.“ Die Mittel enthalten „zweck- und zielbildende Potenzen“, ja „normativen Überschuss“ (J. Rohbeck: Technik-Kultur-Geschichte, 2000, 121, 127). Zutreffend ist die Feststellung, dass die Technik sowenig Garant menschlicher Emanzipation ist, wie sie den Fluch der Entfremdung verantwortet (ebenda, 135). 296 Zu der Neigung der Regierungen, „den Obsessionen der Massen im Rausch des modernen Nationalismus nachzugeben“, kam das Denken der Militärs, die „totale militärische Siege über hypothetische Feinde in weitgehend ziel- und zwecklosen Kriegen planen“, womit das Bewusstsein der Gemeinsamkeit aller großen Nationen in der modernen Welt verlorenging. „Die Regierungen, die den französisch-russischen Zweibund aushandelten, waren…kaum fähig, diese Tendenzen zu erkennen und ihnen zu widerstehen.“ (G. F. Kennan: Die schicksalhafte Allianz, dt. 1990, 343f). Zur innenpolitischen Deutung des deutschen Imperialismus kritisch zusammenfassend: W. J. Mommsen: Innenpolitische Bestimmungsfaktoren der deutschen Außenpolitik (1973). 297 „Österreich hatte Serbien einfach bestrafen wollen, aber nicht den Mut besessen, allein vorzugehen. Deutschland hatte einen diplomatischen Erfolg angestrebt, der das Ansehen seines österreichischen Bundesgenossen in Europa stärken sollte… Die Russen hatten gewiss
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Anmerkungen k einen Krieg gewollt, aber auch nicht damit gerechnet, dass ihre Unterstützung Serbiens die Gefahr eines Krieges heraufbeschwören könnte… Frankreich hatte nicht mobil gemacht, fürchtete jedoch zunehmend, Deutschland werde…mobil machen. Großbritannien, das die Brisanz der Krise erst am 25. Juli erkannt hatte, hoffte weiterhin, die Russen würden eine Strafaktion gegen Serbien hinnehmen; es war jedoch entschlossen, Frankreich nicht im Stich zu lassen“ (J. Keegan, Der erste Weltkrieg, 104f). Vgl. W. J. Mommsen, Der Topos vom unvermeidlichen Krieg, in: Der autoritäre Nationalstaat, 1990. 298 Die wirkliche Erklärung für das Scheitern eines englisch-deutschen Bündnisses sieht Niall Ferguson nicht in der Bedrohlichkeit, sondern der relativen Schwäche Deutschlands; die britische Außenpolitik neigte immer dazu, den Starken Zugeständnisse zu machen; Grey gilt ihm als ausgesprochener Appeasement-Politiker, vor allem gegenüber einem bedrohlichen Russland (Der falsche Krieg, dt. 1999, 89ff). Nach Modris Eksteins bestand der Sinn des Krieges für die Engländer nicht in territorialen oder anderen materiellen Gewinnen, sondern darin, Stabilität und Verantwortungsbewusstsein als moralische Basis der Pax Britannica zu erhalten. Aus ihrem Sinn für fair play verstehen sich auch die bekannten Verbrüderungsszenen an der Front zu Weihnachten 1914 (Eksteins, Tanz über Gräben, 182ff, 207). 299 Wolfgang Kruse weist auf die Projektion der zuvor im eigenen Land kulturkritisch beklagten Niedergangserscheinungen auf den Kriegsgegner hin, ebenso wie auf eine fortschreitende Ethnisierung des kollektiven Bewusstseins in allen kriegführenden Ländern. ln: Kruse (Hg.) Eine Welt voll Feinden (1997, 172f). Ebenda J. Verhey zur Kriegspropaganda, die „die innere Substanz der Ideale von Demokratie und Völkerverständigung nachhaltig beschädigte“ (183) (Dort auch die entsprechende Literatur). 300 Paul Fussell charakterisiert den britischen Oberkommandierenden Douglas Haig als „stubborn, self-righteous, inflexible, intolerant…and humorless“. G. B. Shaw, der ihn 1916 besuchte, notierte über ihn: „He made me feel that the war would last thirty years, and that he would carry it on irreproachably, until he was superannuated“ (Fussell, Great War and M odern Memory, 1975, 72). 301 Nach Ferguson hat es das Doppelte gekostet, den Krieg zu gewinnen, als ihn zu verlieren (S.300); auch die militärischen Verluste der Entente (5,4 Millionen Tote) überstiegen die der Mittelmächte (etwas über 4 Millionen, 11% ihrer erwachsenen Männer; Frankreich war noch stärker ausgeblutet.) An den Streiks der französischen Armee im Frühjahr 1917 waren 54 Divisionen, die Hälfte des französischen Heeres, beteiligt. Nach den Niederlagen am Isonzo verlor die italienische Armee im Herbst desselben Jahrs 650 000 Mann, mehr als die Hälfte durch Desertion (Münkler: Der große Krieg, 593f, 604). 302 Karl Kraus, Das technoromantische Abenteuer. in: Das Weltgericht II, 91. Valéry zit. nach: Karl Löwith, Paul Valéry, 1971, 94. 303 Neben einem oft inkompetenten Dezisionismus der Militaristen gab es durchaus beschleunigten sozialen Wandel, staatlich geförderte Kartellisierung und Syndikalisierung, Zusammenarbeit von Wissenschaft, Technik, Unternehmen und staalichen bzw. militärischen Behörden, Ausweitung neuer Produktionen (Nitrate), Fortschritte bei Hydrierung, Kunststoffentwicklung, Anfänge einer Standardisierung und Serienproduktion etc.; es wird sogar eine „erstaunlich progressive Sozialpolitik des preußischen Kriegsministeriums“ festgestellt (G. D. Feldman: Vom Weltkrieg zur Weltwirtschaftskrise, 1984). Zum Thema Krieg und Modernisierung allgemein jetzt: Knöbl-Schmidt (Hg.) Die Gegenwart des Krieges, 2000. 304 Zweig, Die Welt von gestern, 313. „Ce qu’on donne pendant la guerre à l’humanité est volé à la patrie“ (ebda 323) 305 Zu den Vorwürfen an die Adresse der Mechanisierung zählen außer „Freuden des Kindes, der Sklaven und niederen Frauen“ – Besitz, der glänzt und Neid schafft, bloße Unterhaltung und Sinnnenrausch (36), die anonyme Hörigkeit des größeren Teils der Gesellschaft, der durch unübersteigbare gläserne Mauern in ewigem, perspektivlosem Dienst festgehalten wird (63f). Doch könne der „unbedachte Drang eines verirrten Gerechtigkeitsgefühls“ mit gewaltsamer Ausgleichung der Lebensverhältnisse (59) nur zur Karikatur werden (Von kommenden Dingen, 1917). Rathenaus Bestseller ist bis 1925 in 70 Auflagen erschienen.
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VI. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert 306 Später (Die neue Wirtschaft, Januar 1918) empfahl Rathenau die Organisation in Berufs- und Gewerbeverbänden mit Kontingentierung, Schiedsämtern und Verbot von Kapitalflucht, eine moderne Zunftverfassung, die dem „Gildensozialismus“ der britischen Fabier entsprach. Nach der Novemberrevolution, einer „Revolution aus Versehen“, dem „Generalstreik einer besiegten Armee“, näherte sich der in seinen Ambitionen enttäuschte und den Parlamentarismus verachtende Rathenau einem Berufs-Rätesystem an (Der neue Staat, Mai 1919). Dazu Berglar: Rathenau, 1970. „Aufgebaut auf der Zulässigkeit jener ungeheuerlichen Einseitigkeit des Ziels und jener Unwirtschaftlichkeit, welche den Krieg nun einmal als Feind der Wirtschaftlichkeit…kennzeichnen, würde sie bei Fortsetzung im Frieden Bankerott bedeuten.“ (Max Weber: Deutschlands künftige Staatsform, Dez.1919.) 307 In einer Atmosphäre des Kampfes gegen „Geistesverlumpung“, nicht zuletzt aus dem Bestreben um gesellschaftliche Anerkennung, verdrängten viele in zivile Bedeutungslosigkeit abgesunkene ehemalige Soldaten allmählich ihre eigene unheroische Vergangenheit, ihre Verweigerungshaltung und Friedenssehnsucht von 1918. Dazu B. Ulrich-B. Ziemann (Hg.) Krieg im Frieden, 1997. Zur Gleichgültigkeit ländlicher Soldaten gegenüber nationalen Parolen, ihrer nur vorübergehenden Entfremdung gegenüber der katholischen Kirche, auch dem bloßen Mythos der Frontgemeinschaft: Ziemann: Front und Heimat, 1997. In Russland und Italien erwies sich die Gleichgültigkeit der Bauernsoldaten gegenüber der nationalen Kriegsideologie als besonders groß. 308 „Es liegt im Wesen des faustischen Menschen“, verkündet Ernst Jünger, „auch aus der Hölle nicht mit leeren Händen wiederzukehren.“ „Der Krieg hat uns gezeugt im glühenden Schoße der Kampfgräben als ein neues Geschlecht. Daher sollen unsere Wertungen auch heroische, Wertungen von Kriegern sein und nicht von Krämern.“ „Wir lehnen es /das Allgemeine/, ab, von den allgemeinen Wahrheiten und Menschenrechten zum allgemeinen Wahlrecht und zur allgemeinen Nichtswürdigkeit“ (Vorwort zu F. G. Jünger: Aufmarsch des Nationalismus, 1926). Und F. G. Jünger fügt aktualisierend hinzu, es gelte, „die schwächenden Bestandteile im privaten und öffentlichen Leben zu entfernen,…den Staat als den Inbegriff der höchsten, unbedingten Macht aufzubauen…,dessen Mehrung und Stärkung jede, auch die gewaltsamste, grausamste Maßregel rechtfertigt. (Ebda.) 309 u Der Vergleich mit den jüngst herausgegebenen Tagebüchern 1914–1918 zeigt Jünger als „überaus nüchternen Beobachter und Chronisten der seelischen und physischen Zerstörung durch die Gewalt des Krieges“ (B. Ziemann: Gewalt im Ersten Weltkrieg, 2013, 65ff). Ziemann legt Wert auf die Feststellung, dass der Kampf von Mann gegen Mann („face-to-facekilling“) im Weltkrieg eine nur marginale Rolle gespielt habe (ebda, 14). 310 Ulrich: Die Augenzeugen, 1997. – Deutschland habe im Weltkrieg statt totaler Mobilisierung nur eine Mischung aus schlechter Romantik und mangelhaftem Liberalismus praktiziert, den (technischen) Zeitgeist nicht für sich genutzt und danach den in Paris aufbewahrte Meter der Zivilisation, die „Ideale geistiger Oberkellner“ anerkannt, anstatt selbst Maß zu setzen (Die totale Mobilmachung, 1930). Zur Entstehung des heldischen Kriegsbilds, das „behauptete, was die Leute zunehmend glauben wollten“: Bessel, Die Heimkehr der Soldaten, in: Hirschfeld e. a., Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch (1993). 311 Der „radikale Bruch mit ethischen, ästhetischen und politischen Diskursen im Zeichen der Destruktionserfahrung“, insbes. der Verdun-Schlacht, führt in der Formulierung Bernd Hüppaufs zum Sprung in die Wirklichkeit des technischen Instrumentalismus, wodurch die Moderne als Fusion von technischem Fortschritt und ungehemmter Destruktivität erfahren wird, als Funktionalismus kombiniert mit archaischen Mythen: eine rigide Moderne verschmilzt mit vorzivilisatorischer Amoralität (Hüppauf: Schlachtenmythen und Konstruktion des Neuen Menschen, 1993). Ders.: Was ist Krieg? 2013. 312 Die Realgeschichte kam dem ideologischen Projekt auf eine Weise entgegen: „Der Staat, der sich im Krieg als männermordender Moloch erwies, entwickelte parallel dazu die Charakterzüge einer wohlwollenden und fürsorglichen Versorgungseinrichtung… Der Krieg hat Millionen Menschen zu Versorgungsempfängern gemacht, die nun dauerhaft von staatlicher Hilfe abhängig waren.“ (Münkler: Der Große Krieg, 794).
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Anmerkungen 313 „Die moderne Technik vom barbarisch-primitiven Sein gehandhabt, das schenkt eine Überlegenheit, die den Zivilisationswesten in Schrecken jagen mag.“ (E. Niekisch: Entscheidung, 1930). Später stellt Niekisch fest, seit 1918 gebe es nur ein einziges legitimes Programm: „die Ordnung des gesamten deutschen Daseins unter den kriegerischen Gesichtspunkt zu stellen“ (1932). 314 Die Kerngedanken des 19. Jahrhunderts seien längst verschüttet und seine Fortschrittsidealisten die Reaktionäre von heute. Gegenwärtig gehe es um die Emanzipation des Staates von der Gesellschaft als einem „ehrwürdigen Plural von Interessen“, auch von seiner Rolle als Büttel der Wirtschaft. Individualismus ist heute Betrug. „Frei ist der Mensch, wenn er in seinem Volk frei ist und dieses in seinem Raum“ (H. Freyer: Revolution von rechts, 1931). 315 Die anonyme Macht der modernen Technokratie unterwirft die Menschen einer perfekten selbstgeschaffenen Organisation, erklärt Lewis Mumford. „Das oberste Ziel dieser Technik, Arbeit zu rationalisieren, führt letztlich dazu, dass Leben verdrängt“, die menschliche Persönlichkeit eliminiert, die Geschichte ignoriert und die abstrakte Intelligenz überbetont wird (Autoritäre und demokratische Technik, 1980). 316 Es ist kein Zufall, wenn in Frankreich etwa zur gleichen Zeit der cartesianische Subjekt begriff dekonstruiert und das Erinnern als Aufgreifen vorhandener kultureller Stereotypen, nach Maßgabe der Gegenwart kollektiviert wird (M. Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, frz.1925). 317 „Das Reden über Geschichte dient nicht mehr der Bestätigung der eigenen Kulturhöhe, sondern artikuliert Ausgesetztsein gegenüber dem Geschick.“ (Flasch: Geistige Mobilisierung, 2000.) Für Heidegger, der das Ende des neuzeitlichen Subjekts und des idealistischen Bildungswesens in der Erfahrung von Tod, Geworfenheit und Sorge verkündet, ist Spengler derjenige, der den Weltkrieg denkt, während die hohle Ordinarienphilosophie den Bruch ignoriert und Kontinuität fingiert. – Spengler fungiere als „gut bezahltes Klageweib bei der Totenfeier unserer Kultur“, fand Albert Schweitzer. 318 In einem Brief von 1915 vergleicht Spengler den gegenwärtigen Aufstieg Deutschlands zu Weltmacht mit dem Roms nach Zama (202 v. Chr.). Dieses größere Deutschland sei nicht mehr das Land Goethes, eher ein zweites Amerika. „Vergessen wir nicht, dass das Imperium Romanum nur ein skrupelloses Geschäftsunternehmen war und die großen Römer sämtlich Spekulanten waren.“ „Die ungeheuren Dimensionen adeln da alles, was in kleinen Verhältnissen krämerhaft wirkt. (Briefe 1913–1936,1963). 319 „Dem Rausch der ersten Tage, der oft schon kommende Möglichkeiten verdarb“, schrieb er 1933, „folgt in der Regel eine Ernüchterung…“ „Richtige Gedanken werden von Fanatikern bis zur Selbstaufhebung übersteigert. Was als Anfang Großes versprach, endet in Tragödie oder Komödie.“ „Der vollendete Cäsarismus ist Diktatur, aber nicht die Diktatur einer Partei, sondern die eines Mannes gegen alle Parteien, vor allem die eigene.“ (Jahre der Entscheidung , 1933). Bei einer Begegnung mit Hitler in Bayreuth geriet „Spengler in die hoffnungslose Rolle Platons bei Dionys dem Tyrannen“ (Demandt: Philosophie der Geschichte, 285). 320 Schon im Oktober 1914 protestierten 93 deutsche Intellektuelle gegen das „schmachvolle Schauspiel“, das die angeblichen Verteidiger der Zivilisation boten, indem sie „Mongolen und Neger auf die weiße Rasse…hetzten“. 321 Das soll keineswegs heißen, den universalen Anspruch der Menschenrechte als Ausdruck europäischer Überheblichkeit zu verdächtigen bzw. die Deklaration als „ethnozentrisches“ Dokument herabzuwürdigen (Dazu L. E. Harrison: Warum Kultur wichtig ist, 2002). 322 „Rien n’améliorera le sort d’Europe. Pourquoi voulez-vous qu’il s’améliore?“ heißt es im November 1912 (nach de Rougemont, 307). 323 Sorel setzt seine Idee schöpferischer Gewalt ab von zerstörerischer politischer Gewalt unter dem Kommando gewissenloser Demagogen bzw. „associations politico-criminelles“, einer von Neid und Rache getriebenen kommandierten Masse (dazu Berding: Rationalismus und Mythos, 1969, 106f, 113f.) Hans Barth verweist auf Sorels Abhängigkeit von Proudhons Kritik am Niedergang Frankreichs, das aufgehört habe an seine Prinzipien zu glauben und durch Skeptizismus in Interessenwillkür verfallen sei; auch Sorels Bellizismus als Instru-
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VI. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert ment moralischer Erweckung ist bei Proudhon zu finden (Barth: Masse und Mythos, 1959, 54f.) (1904) Die Enttäuschung über „Spießertum als endgültige Form der westlichen Zivilisation“ (Alexander Herzen) und die Notwendigkeit extremer Hingabe an die schöpferische Destruktivität der Revolution war auch ein wiederkehrendes Motiv russischer radikaler Denker seit Bakunin. 324 „Dem absoluten Glauben an die metaphysische Idee entsprach das absolute Misstrauen gegenüber den lebendigen Menschen; Misstrauen war unvermeidlich die Methode des Dienstes an der Wahrheit“ (Trotzki: Unsere politischen Aufgaben, 1904). Zit. H. Abosch: Trotzki, 1984. 22f). 325 „Die Idee des Rechtsstaats ließ sich dem bäuerlichen Russland nicht vermitteln, weil das ‚gemeine Volk‘ von Recht und Gerechtigkeit seine eigenen Begriffe hatte“; die gesamte Modernisierungspolitik blieb eine zwangsweise von oben auferlegte: D. Geyer: Russland an der Jahrhundertwende, in: Ute Frevert, 2000, 257. 326 Schon früher hatte Max Weber festgestellt, der liberale Individualismus sei auf die bäuerlichen Massen Russlands kaum übertragbar; auch mit einer radikalen Agrarreform sei für die Demokratie im westlichen, freiheitlichen Sinn nicht viel gewonnen. Und nur ein Napoleon könne ein neues Russland auf kleinbürgerlicher Basis aus dem Boden stampfen (Ges. Politische Schriften, 43f, 94) – „Die Revolution war dem Krieg entsprungen… (Ihre Wiederkunft) war weniger durch die Unerträglichkeiten sozialer Bedrückung ausgelöst worden, denn durch die Unwägbarkeiten des Krieges.“ (Diner, Das Jahrhundert verstehen, 1999, 78f.) 327 Das vermeintliche Heilmittel Trotzkis und Lenins, nämlich die Beseitigung der Demokratie, sei „noch schlimmer als das Übel, dem es steuern soll: Es verschüttet nämlich den Quell selbst, aus dem heraus alle…Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können.“ (Rosa Luxemburg: Die russische Revolution, 1918). 328 Der junge Georg Lukács, zunächst von Sorel angezogen und von Kautsky abgestoßen, äußerte sich um 1920, der Parlamentarismus tauge nur zur Entlarvung der Bourgeoisie und zur Vorbereitung der eigenen Offensive: „das Parlament im Parlament zu bekämpfen“. „Wo ein Arbeiterrat möglich ist, ist das Parlament überflüssig.“ (Zur Frage des Parlamentarismus, in: Lukács: Frühschriften 1919–22). 329 „…älter und machtvoller als Stalin, der Töter der Revolution, der Töter der Zugvögel der Zukunft, wächst die russische Revolution aus Motiven und Tendenzen, /dem genuin religiösen/ Zerstörungswillen und Selbstzerstörungswillen einer gewissen Intelligenz“ (Heer: Europa – Mutter der Revolutionen, 807). 330 „Sie (die Kommune) hat keine fix und fertigen Utopien durch Volksbeschluss einzuführen… Sie hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen“, schrieb Marx in: Bürgerkrieg in Frankreich. Schon zuvor hatte er die Praxis gerügt, „statt der wirklichen Verhältnisse…den bloßen Willen zum Triebrad der Revolution“ zu machen (Enthüllungen). Dazu auch Kautsky: Terrorismus und Kommunismus, 1919. 331 Nach dem Zusammenbruch der Räterepublik und der Flucht ihrer Führer nach Wien brach eine erbitterte Debatte um die Schuld am Debakel aus, bei der außer der ausgebliebenen Landaufteilung an die Bauern und der mangelnden politischen Reife der Arbeiterschaft (Kun, Varga) die Vereinigung mit der Sozialdemokratie als kardinaler Fehler angeprangert und von der Komintern dogmatisiert wurde. Auch Lukács übte Selbstkritik, wies jedoch auf das Fehlen einer funktionsfähigen KP vor dieser Vereinigung hin (dazu Kammler: Politische Theorie von G .Lukács, 1971, 145ff). 332 Zur gleichen Zeit entwickelte Lunatscharskij, der Kommissar für Bildungswesen, eine ähnlich ‚metaphysische‘ Haltung gegenüber der Arbeiterschaft: Das Proletariat besteigt als neuer Messias Golgatha und wird gekreuzigt auferstehen; die Arbeiterschaft wird zwar Gott töten, aber eine neue Religion schaffen. 333 Bloch verwirft entschieden Stefan Zweigs „defaitistisches“ Manifest vom Sommer 1918 gegen die menschenmordenden Ideen und den verbrecherischen Ideenluxus des Krieges, den er entwerten wollte zugunsten der Ehrfurcht vor dem Menschenleben. Bloch entgegnet, der freie Mensch sei durchaus eine Idee, keine bloße Naturtatsache, und was ihn unterdrückt, sei
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Anmerkungen die Gewaltapparatur des Militarismus und „Macht-Materialismus“ der Mittelmächte; diesem stehe eine Art wehrhafter Pazifismus entgegen, mit innerem Ekel über die ihm aufgezwungenen Mittel (Mensch und Idee, August 1918. In: Bloch, Kampf, nicht Krieg, 1985). 334 Vgl. L. Feuchtwangers Moskaubesuch 1937, in Schlögel: Terror und Traum, 2008, 119ff 335 Nach Trotzki, der die eigene Revolution zur Epochenscheide erklärte („revolutionäre Gebirgskette, in der die Quellen eines neuen Weltgefühls entspringen“), war die Übergangskunst der Ralliés und Richtungswechsler entweder bauerntümelnde „Revanche des Bastschuhs am städtischen Stiefel“ (Kljujew), eine Verwechslung von Revolution und pugačovscher Bauernmeuterei, oder ein Steckenbleiben im chaotischen Vordergrund ohne Verständnis des Ganzen (Pilnjak): „Wenn die unerhörten Opfer und Entbehrungen sinnlos waren, dann ist die Geschichte ein Tollhaus (Trotzki: Literatur und Revolution, 1923). Aber auch in der futuristischen Poesie (Majakowski), die sich pathetisch mit der Revolution und „Genosse Mauser“ identifizierte, waren Trotzki zu viele Albernheiten der Bohème und politische und moralische Schlamperei enthalten. 336 „Die Klasse, deren Aufstand 1917 einer Handvoll Fanatiker gestattet hatte, die Macht zu ergreifen, unterlag jetzt dem Wüten derselben Fanatiker… Kaum ein Jahrhundert nach der Aufhebung der Leibeigenschaft wurden die Bauern vom Staat wieder in die Leibeigenschaft gezwungen.“ (Malia, Sovětská tragédie, 2004, 207 /dt. Vollstreckter Wahn/). 337 Im Unterschied zu durchaus erfolgreichen Reformen, etwa in Skandinavien, habe die russische Revolution, trotz Bürgerkrieg, Schrecken der Kollektivierung und der großen Säuberungen ihre Faszination bewahrt – trotz oder gerade wegen ihrer Schrecken? fragte R. Aron in seinem Opium für Intellektuelle (1955). „Die Romantik des Krieges ist im Schlamm von Flandern untergegangen, doch die Romantik der Revolution hat sogar die Keller der Lubjanka überlebt.“ 338 Von Plan und rationaler Lenkung habe es in der sowjetischen Wirklichkeit kaum eine Spur gegeben; die Planvorgaben wurden willkürlich gesetzt und waren nicht mehr als eine Peitsche, um die Massen anzutreiben. Sie waren der „billigste Rohstoff“ in einer zwar auch von Enthusiasmus, aber noch mehr von Gigantomanie, Terror, Zwangsarbeit und gespenstischer Jagd nach Saboteuren geprägten Gesellschaft; ihre Großbauwerke waren oft „Kathedralen in der Wüste“ (Koenen: Utopie der Säuberung, 1998, 176,185). 339 Broch spricht etwa von „Wachheitsverlust“ und der Regression zur „Herde physiognomielos dahindämmernder“ Akzeptanten falschen Leitbilder, bereit zu archaisch-infantilen Ekstasen und aggressiver Jagd auf Sündenböcke (Massenwahntheorie, 1979, 114, 129, 136 u. a. – Rühle: Literatur und Revolution, 1963, 43f, 56ff. „Es wird keine Treue geben, außer der Treue zur Partei. Es wird keine Liebe geben, außer der Liebe zum Großen Bruder…Es wird keine Kunst geben, keine Literatur, keine Wissenschaft…Aber immer wird es den Rausch der Macht geben… (Orwell: 1984, 1949). 340 „Der Kommunismus verdankt seine verlängerte Lebensdauer dem Antifaschismus.“ (Furet: Das Ende der Illusion, 1998,39). – Statt des Mandats der Geschichte trat die Legitimation des Organisators des Sieges. Dies und ein neuer Sowjetpatriotismus verhalfen dem Regime zu weiteren 45 Jahren Leben; Malia (wie oben), 278. 341 Zu den inneren Aspekten des Umgangs beider Totalitarismen mit der Intelligentsia jetzt Beyrau (Hg.) Im Dschungel der Macht, 2000. 342 Stalin setzte nicht erst 1945 auf militärische Expansion als einzige Chance, das sowjetische System zu exportieren (Laqueur: Stalin, 1990, 276) 343 Camus, der schon vor dem Krieg aus der KP ausgetreten war, weigerte sich konsequent, Terrorismus jeder Art zu legitimieren; im Unterschied zu Sartre, der den antikolonialistischen Kampf mit der Résistance gleichsetzte, hielt Camus, der früh eine Demokratisierung seiner Heimat Algerien gefordert hatte, der „Brüderlichkeit der überflüssigen Toten“ die Solidarität der Lebenden entgegen. „Keine Sache rechtfertigt den Tod Unschuldiger.“ (dazu Altwegg: Republik des Geistes, 245). 344 1935 hatte Thomas Mann die „rauschhafte Flucht aus individueller Verantwortung“ und bürgerlicher Bildungsarbeit ins Kollektive als Regression gegenüber dem 19. Jahrhundert
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VI. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert a ngeprangert. „Das Kollektive ist bequeme Sphäre im Vergleich mit dem Individuellen, bequem bis zur Liederlichkeit, man bewilligt sich immerwährende Ferien vom Ich“ und liebt das allem persönlichen Lebensernst enthobene Aufgehen im Massenhaften (Achtung, Europa! In: Politische Schriften und Reden II, 316). Vgl. Wilhelm Röpkes Misstrauen zu allen Erscheinungen des Kollektiven und Kolossalen, vom nationalen Machtstaat bis zur Massenfürsorge als Formen demokratischer Selbstdestruktion (Civitas humana, 1944). 345 Unzählige Beispiele liefert Furet: Ende der Illusion, 291, 364 etc. Parallel gab es auch eine Faszination des erfolgreichen Faschismus auf westliche Intellektuelle, die in ihm die Überwindung des zersetzenden Individualismus und Kapitalismus sehen wollten: keine Gegenströmung, sondern eher eine Parallelbewegung zum Kommunismus (389f, 393). Vgl. auch Hobsbawm: Zeitalter der Extreme, 139, 151ff. Den Niedergang des parlamentarischen Systems erklärt dieser z. T. etwas zu einfach durch den Wandel der politischen Aufgaben: die Bremse (Machtkontrolle) soll als Motor funktionieren (ebenda, 18l). 346 Dazu z. B. G. A. Bordjugow: Die Kosten des bolschewistischen Sprechens,in: Beyrau: Dschungel der Macht. Instabilität gehört nach Hannah Arendt unabdingbar zu totaler Herrschaft; materielle Stärke und Wohlfahrt werden der Macht ebenso geopfert, wie Wahrheit und Tatsachenwissen den Erfordernissen ideologischer Konsistenz (Arendt: Elemente und Ursprünge, III, 1975, 20.) 347 Niall Ferguson ironisiert die „Ausnahme“ des amerikanischen Imperialismus mit den Worten, dann seien auch die übrigen 67 Weltimperien der Geschichte eine „Ausnahme“ (Das verleugnete Imperium, 2004,25). Zur hard power, der materiellen Überlegenheit, habe schon bei früheren Kolonialreichen die soft power gehört, die Fähigkeit, die Welt zu verführen, von den eigenen Werten zu überzeugen: der Samthandschuh der eisernen Faust (36). Ferguson konzediert zumindest, dass den Amerikanern das imperiale Bewusstsein fehlt. 348 Der amerikanische Universalismus ist, nach den Worten Golo Manns, „ein nach außen gekehrter, auf die weite Welt übertragener Isolationismus“ d. h. die Welt solle werden, wie Amerika, auf außenpolitische Bündnisse und Annexionswünsche verzichten (Vom Geist Amerikas, 145.) „Wir Europäer, die wir der Welt einen Hitler…geschenkt haben, haben keinen Grund, die Amerikaner in die hohe Schule unserer Diplomatie zu schicken“ (157). 349 Koenen: Utopie der Säuberung, 342. Für Koenen besaß die Kombination territorialer Expansion und revolutionärer Subversion einen „eigentümlichen, archaisch-modernen Charakter“ (ebda). Dagegen zögerte Amerika, sich die Last der Weltpolitik aufzubürden. Viele befürchteten, von den alten Kolonialmächten instrumentalisiert zu werden (Diner: Das Jahrhundert verstehen, 1999, 256ff). 350 Eric Hobsbawm hält die Grundposition Russlands nach 1945 für defensiv. „Niemand wusste besser als Stalin, wie wenig wert die Karten in seiner Hand waren“. Anderseits konnte er es sich nicht leisten, aus der erschöpften und verarmten Sowjetunion eine von Amerika abhängige Region werden zu lassen (Zeitalter der Extreme, 294f). 351 Dazu Herbert Marcuses These, die Natur stehe unter dem modernen technologischen Apriori, das zugleich ein politisches Apriori ist: wie die Naturwissenschaften von vornherein instrumental auf Nutzung und Umgestaltung angelegt sind, so steht die moderne Rationalität auch gegenüber dem Menschen im Zeichen von Kontrolle und Beherrschung (Der eindimensionale Mensch, 166ff). 352 Zehn Jahre später warnt Jaspers vor der Ausbreitung von Atomwaffen, insbesondere nach China, das zwar heute von legitimer Selbstbehauptung spricht, aber in Zukunft „zur Weltherrschaft fortschreitet“. Auch viele Europäer leben immer noch in der Romantik gefähr licher Nationalismen, die im Widerspruch zur Weltlage stehen (Wohin treibt die Bundesrepublik? 1967, 230). 353 Auch die Ansätze einer sozial und wirtschaftspolitischen Neuordnung nach 1945 erlagen dem amerikanisch geprägten Konsensliberalismus der fünfziger Jahre, der „in der Verknüpfung von Rechtsstaat, Demokratie, Marktwirtschaft, Sozialstaat und kultureller Modernität ein…flexibleres Potential der Orientierung bot“ (Josef Mooser). 354 „Das politische Scheitern der Weltreiche ist… kein Indiz dafür, dass die Zukunft den Nationalstaaten gehört.“ „Nach Nestwärme verlangt, wer noch nicht flügge ist.“ „Die Nieder
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Anmerkungen lagen der Weltreiche in unserem Jahrhundert berühren nicht die Universalidee als solche.“ (Demandt: Das Ende der Weltreiche, 1997, 230f). 355 Ein weiterer Aspekt ist die Fehlbeurteilung der traditionalen Kulturen durch eine „normative und kategoriale Bindung“ an die Sonderrolle der USA; im Rahmen der „Große Dichotomie“ gerät Tradition geradezu zum Fehler bzw. zum Hindernis (Wehler: Modernisierung, in: ders., Umbruch und Kontinuität, 2000, 236f.) 356 Marcuse holt sich, nach den Worten Raymond Arons, bei den beiden Mythenzerstörern: Marx und Freud, die Waffen, um die moderne liberale Zivilisation zu bekämpfen, doch ist die Idee einer Sozialisierung ohne Verdrängung sein neuer Mythos: Fortschritt ohne Ende, 197. Gegenüber Marcuses Formulierungen in Eros and Civilization ist er im Eindimensionalen Menschen wesentlich vorsichtiger: „Befreiung von der Überflussgesellschaft /bedeutet/ keine Rückkehr zu gesunder und robuster Armut, moralischer Sauberkeit und Einfachheit.“ „Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken können“ (Marcuse: Der eindimensionale Mensch, 253, 268). Die hedonistische Verurteilung von Verzicht und Opfer und die Betonung des Rechts auf Egoismus als einer die bürgerliche Welt sprengenden Potenz geht zurück auf Max Horkheimers Aufsatz: Egoismus und Freiheitsbewegung von 1936. 357 Die technische Denkweise verfehlt nach Weizsäcker wesentliche Seiten des Menschlichen; bei aller Notwendigkeit rationalen Planens ist es entscheidend wichtig, einen Raum für Freiheit zu bewahren und bei der zu schaffenden Weltfriedensordnung (etwa durch eine Pax Russo-Americana) nicht alle Bewegungs- und sogar Konfliktmöglichkeiten abzuschaffen: C. F. von Weizsäcker: Gedanken über unsere Zukunft, 1966. 358 John McNeill verweist auf die Paradoxien eines kurzen Erinnerungshorizonts der Gegenwart, die eine zunehmend unsichere, dynamisch gewordene Situation für „normal“ hält. Das Bestreben von 200 Jahren, Natur und Gesellschaft vernünftig zu beherrschen, scheint ihm ins Gegenteil umzuschlagen: J. McNeill: Blue Planet, 2003. Die Idee der Selbstzerstörung der europäischen Zivilisation im Zusammenhang mit dem ideologischen Vernichtungsgedanken: Nolte: Der kausale Nexus, 2003, 272ff. 359 „Waren die Sechziger geprägt vom naiven, selbstgefälligen Wunsch zu glauben, dass alles, was geschah, neu und…bedeutsam sei, so waren die siebziger Jahre eine Zeit des Zynismus, verlorener Illusionen und gedämpfter Erwartungen.“ (T. Judt: Geschichte Europas, 540.) 360 Die Diagnose des Biologen, sei sie noch so bemerkenswert, kann sich gleichwohl in ihrem Anspruch nicht auf ihr spezifisches Wissen berufen. Lebenssinn zu stiften, ist nicht Aufgabe der Wissenschaft; „was sie lehrt, bedarf noch der Besinnung durch Weisheit“ (Markl: Wissenschaft im Widerstreit, 1990.) 361 Dem tschechischen Philosophen und Charta-77-Sprecher Jan Patočka war die Kritik an der modernen, auf ‚Technowissenschaft‘ reduzierten Rationalität durchaus vertraut, doch legte er Wert auf die Tatsache, dass der „prähistorischen“, „natürlichen Welt“ mit ihrem nichtproblematisierten, scheinbar selbstverständlichen Lebenssinn noch die Dimension des eigenverantwortlichen Ich, der Transzendenz des alltäglichen Besorgens fehlt (Ketzerische Essays, tschech. 1975,1990). 362 Der Rausch der Emanzipation von vorgegebenen Maßstäben, der destruktive Impuls der Moderne, beruht nach Georg Picht auf utopistischer Maßlosigkeit, die aus einer synkretistischen Vermischung von christlicher Eschatologie und innerweltlichem Wissen herrührt (Utopie und Hoffnung, 1979, in: Das richtige Maß finden, 2001). – Auch jenseits von jedem ideologischen Akzent gilt durchaus die Feststellung, es komme heute nicht in erster Linie darauf an, ob die hochentwickelten Industriegesellschaften genügend liberal seien; mehr denn je komme es darauf an, ob sie genügend konservativ seien (G. K. Kaltenbrunner: Wege der Weltbewahrung, 1985,60). 363 So auch John Rawls, der im Fall eines Konflikts zwischen politischen Rechten und Freiheiten auf der einen und der Verteilung sozialer und wirtschaftlicher Grundgüter auf der anderen Seite den ersteren den absoluten Vorrang einräumt: „…Verletzungen der vom ersten Grundsatz geschützten gleichen Grundfreiheiten nicht durch größere gesellschaftliche oder wirt-
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Kolumnentitel schaftliche Vorteile gerechtfertigt…werden können.“ (Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, 82). 364 Raymond Aron geht davon aus, dass sich die Masse der Bevölkerung nur „eine Art von Halbverstehen der Gesamtgesellschaft“ aneignet und auch die fremdbestimmten, parzellierten Arbeitsvorgänge den meisten keine Möglichkeit zu kreativer Selbstverwirklichung bieten; nur die Freizeit liefert kompensatorische Chancen zur Persönlichkeitsentwicklung (Fortschritt ohne Ende? 1970, 134, 152f, 162). 365 Gewiss müssten die sozialen Institutionen den Erfordernissen einer globalen Informationsgesellschaft angepasst werden, meint Anthony Giddens, doch sind die Märkte ohne einen sozialen und ethischen Rahmen – den sie selbst nicht schaffen können – nicht einmal funktionstüchtig (Giddens: Soziale Ungleichheit, 2001, 42). 366 Ulrich Beck führt aus, wie der Modernisierungsprozess zwar materielle Not verringert, aber mit seinen exponentiell wachsenden Produktivkräften auch Selbstbedrohungspotentiale freisetzt. Damit wird die Modernisierung „reflexiv“, also sich selbst zum Problem. Die Feststellung von Risiken kommt zwar in naturwissenschaftlichem Gewand, doch „muss man einen Wertestandpunkt bezogen haben, um überhaupt sinnvoll über Risiken reden zu können“ (Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 38f). 367 Die neuartigen Dimensionen menschlichen Tuns, das den kurzfristigen Horizont überschreitet und mit irreversiblen Folgen eine ferne Zukunft bedroht, zwingen zu neuen Regeln ethischer „Fernverantwortung“. Das Gute wird immer erst fassbar durch das reale Übel, und so mag aus dem Bedrohungsgefühl durchaus eine neue Ethik entstehen (Jonas: Prinzip Verantwortung, 2003, 58, 64). 368 Dagegen versteht Zykmunt Bauman die Moderne als obsessiven, obgleich vergeblichen Kampf um Ordnung gegen alle Mehrdeutigkeit, Inkohärenz, alles, was sich machtgeschützter Definition entzieht. Die Moderne als Eingliederung, Assimilierung und Delegitimierung des „Anderen“ zu interpretieren, ist aber nur eine geistreiche Neuauflage alter antiliberaler Denunziationen: Bauman, Moderne und Ambivalenz, 1991. 369 Ernst Nolte, dessen Begriff der „praktischen Transzendenz“ unserem Fortschrittsbegriff sehr nahe kommt, hält die demographische Aggression der Dritten Welt gegenüber dem ‚fortgeschrittenen‘ Westen für einen möglichen Anlass, die Rolle der traditionellen Rechten zu übernehmen, d. h. die eigenen Privilegien zu verteidigen, womit der Westen jedoch in „Widerspruch zu sich selbst“, seiner ‚linken‘ Gerechtigkeitsbotschaft, gerät (Historische Existenz, 1998, 622).
Epilog: Der Fortschritt – ein bibliographisch-theoretischer Essay 370 Unsere unmittelbare Erfahrung von Zeit ist stets auf die Gegenwart beschränkt. „Wir erleben Dauer, wenn die gegenwärtige Situation zu vergangenen Erfahrungen und künftigen Erwartungen und Wünschen in Bezug gesetzt wird.“ (Withrow: Die Erfindung der Zeit, 1991,20). Dazu auch Peters’ Untersuchung des bäuerlichen Zeitverständnisses …dahingeflossen ins Meer der Zeiten, in: Vierhaus (Hg.) Frühe Neuzeit – frühe Moderne, 1992,180ff. 371 Jenseits des eigenen Erfahrungshorizonts scheint nicht dieselbe Zeit abzulaufen: Mit dem Ort wechselt der Zeitraum. Auch das Mittelalter empfand eine Art Doppelwelt christlichheidnischer Zeit-Räume (Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft, 1999, 20f. 372 Auch in den klassischen Schriften der Antike spielt die naturale Zeit in den eigentlich denaturalisierten politischen Erfahrungsraum hinein, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Theorie des Verfassungswandels oder beim Vergleich der politischen mit den Körperfunk tionen (Koselleck: Vergangene Zukunft, 1984, 134f. 373 Die klassische Antike schneidet aus der Nacht einer ungeschichtlichen Zeit bevorzugte Stücke heraus, die sie als Mythen, Anekdoten oder Vorbilder moralischer Erhebung präsentiert. Erst die patristische Interpretation des Alten Testaments und die synchronisierenden Anstrengungen des 4. Jahrhunderts n. Ch. lassen die Vorstellung einer einzigen, heiligen
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Anmerkungen Geschichte aufkommen und den Willen, die Welt im Rhytmus der Offenbarung leben zu lassen (Ariès: Zeit und Geschichte, dt. 1988, 76f, 82, 87f). 374 Bultmann: Geschichte und Eschatologie, 1958. Aufschlussreich ist auch Balabán-Tydlitatová: Tázání po budoucím (Fragen nach dem Zukünftigen), 1998. Die israelischen Propheten sind nicht in erster Linie Wahrsager, sondern Rufer nach Umkehr; auch die Prophezeiungen des Neuen Testaments beziehen sich nicht so sehr auf kommende Trübsale, wie auf das Gebot ‚Wachet und betet!‘ (Marcus 13, 33). 375 Diese These ist klassisch von Karl Löwiths Buch, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, dt. 1953 herausgearbeitet worden. Reinhard Koselleck legt dagegen Wert auf eine Schwelle nach 1650, die die sakrale Geschichte von der historia humana trennt; „Erwartungen, die über alle bisherige Erfahrung hinausgehen, waren nicht auf diese Welt bezogen, während der neue Fortschrittsbegriff sich vorwiegend aus einer Vielzahl sektoraler innerweltlicher Erfolge speiste“ (Vergangene Zukunft, 1979, 25, 361ff). Differenzierter in ders.: Zeitschichten, 2000, 183. 376 Der australische Philosoph John Passmore bringt dagegen die Verschiedenartigkeit der Vollkommenheitsideale zur Sprache – von Gottebenbildlichkeit bis zu technischer Perfektion, den perfekten Fälscher einbegriffen. Der Mensch kann einzelne Fähigkeiten vervollkommnen, aber Menschsein als solches ist kein Beruf (Passmore: Perfectibility of Man, dt. Der vollkommene Mensch, 1975). 377 Das innerweltliche Geschehen, „jenes graue Einerlei des ewig Gleichen, /erhielt/ auch ein transzendentes Ziel jenseits dieser Welt. Die Frage nach dem Jenseits wurde also selbst zum Kompass einer diesseitig angelegten geschichtlichen Entwicklung.“ (Hölscher, wie oben, 46). – Die „semipelagianische“ Lehre läuft auf den bezeichnenden Satz hinaus: Gott hilft denjenigen, die sich selbst helfen (nach Passmore, 100ff; vgl. Acham, Fortschrittskonzeptionen, 1986, 13f). 378 Van Dorens eigene Position ist schwer auszumachen; er scheint die Idee des fortwährenden Lernens ‚des‘ Menschen zu bevorzugen, seiner fortschreitenden Kontrolle der Natur und seiner selbst, abhängig von Wissensspeicherung und -übertragung. Die post-historische Sterilität und den gegenwärtigen „geistigen Nihilismus“ glaubt er mit P. Sorokin durch die Chance erweiterter Sensitivität und Liebesfähigkeit korrigieren zu können; interessant ist in dieser Hinsicht sein Anhang über die Möglichkeit sittlicher Wirkung der Kunst (Idea of Progress, 1967). 379 Jan Romein: Dialektik des Fortschritts, in: Maß und Wert 1939; ders.: Gedanken über den Fortschritt, in: Die Sammlung, 1950. Der bekannte niederländische Historiker betont das Unfertig- und Offen-Sein der Menschheit, ihre wachsende „Potenzierung“, die Vermehrung der Mittel zum Guten wie zum Bösen. 380 Löwith problematisiert nicht nur das ausschließliche Auf-die-Zukunft-Hinleben der Gegenwart, sondern auch die auf den Menschen abzielende teleologische Deutung der Evolution: Das Verhängnis des Fortschritts, in: Burch (Hg.) Die Idee des Fortschritts, 1963. 381 Analog die ältere Studie von Jules Delvaille: Essai sur l’histoire de l’idée du progrès, 1910, die zwar die „prophètes hébreux“ einbezog, aber das Mittelalter als Kultur der Heteronomie und des Zwangs in allen Bereichen aus dem Fortschrittsdenken ausschloss. Der Fortschritt war für Delvaille eine neuzeitliche, eigentlich französische, Errungenschaft. „Le libre arbitre, principe de la Révolution, donne aux peuples le moyen de changer de constitution, de renouveler le monde, le Français affirme initiative de l’individu“. Dagegen glaubte der nüchterne Bury die Frage nach einer zukünftigen Fortsetzung des Fortschritts und seiner Ausrichtung auf wünschenswerte Ziele Propheten überlassen zu müssen. Anders Charles A. Beard, der 1932 ein programmatisches Vorwort zur Neuauflage von Burys Buch schrieb. Ausgehend vom enormen Einfluss der angewandten Wissenschaft und dem praktischen Streben nach Wohlstand, Sicherheit, Gesundheit etc., wagte er das Werturteil, die Menschheit werde zu immer neuen Entdeckungen und zur Erweiterung ihres Horizonts gelangen. Auch wenn sich die Vergangenheit als zielloses Chaos erweisen sollte, werde man vom großen Gedanken verfolgt bleiben, die Notwendigkeit in Freiheit zu verwandeln und die Natur humanen und rationalen Zwecken zu unterwerfen (Introduction, 1932) – Auch
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Epilog: Der Fortschritt – ein bibliographisch-theoretischer Essay Herbert Lüthy betont den radikalen Bruch im abendländischen Denken gegenüber früheren Formen des Selbstverständnisses als Spiegelbild einer übergeordneten kosmischen Ordnung, mit der man die Übereinstimmung als höchste Norm suchte (Lüthy: Geschichte und Fortschritt, in: Meyer (Hg.) Das Problem des Fortschritts heute, 1969.) 382 Bury: Geschichte als Wissenschaft (Antrittsvorlesung, 1902, nach Stern: Geschichte und Geschichtsschreibung, 1966, 224). Die Geschichte interpretiert sich gleichsam ständig selber um. „Solange es Zukunft gibt, bleiben Urteile über Vergangenes vorläufig.“ (Demandt: Endzeit? 1993, 51f). 283 Analog stellt der Theologe Paul Tillich fest, dass Sinn und Gerichtetheit keine objektiv feststellbaren Tatsachen sind, nur die Entscheidung gegen die „Zurücknahme der Zeit in den Raum“ (Der Widerstreit von Raum und Zeit, 86f). 384 Ernst Bloch ironisisiert die abstrakte Zeitfolge eines selbstläufigen Fortschritts als „Zeitfetischismus“, und gegen den bloß subjektiven Bon-sens-Geschichtssinn stellt er die Notwendigkeit eines tiefen Mensch- und Weltvertrauens (Differenzierungen im Begriff Fortschritt, 1957); die Schrift ist im Rahmen seiner Tübinger Einleitung in die Philosophie von 1970 in einigen Teilen verändert worden. – Iggers: Der Fortschrittsgedanke, noch einmal kritisch betrachtet, 1965 (kenntnisreiche Zusammenfassung der Problematik). – Kittsteiner: Naturabsicht und Unsichtbare Hand, 1980,90ff. 385 Dabei muss nicht nur auf Sprachgeschichte, sondern auch auf sozialgeschichtliche Daten zurückgegriffen werden: „jede Semantik hat es als solche mit außersprachlichen Inhalten zu tun“ (Koselleck: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: Vergangene Zukunft, wie oben, 114) 386 Odo Marquard stellt ironisch fest, dass sich nach der Verabschiedung Gottes aus der Verantwortung Formeln für seine Vakanz als Geschichtstäter ausbreiteten: Der Autonomieanspruch erzeugt Alibibedarf, insbesondere bei Unerfreulichem. Die Pflicht zum Gottesbeweis schlägt um in die Pflicht zum Feindesbeweis (Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, 1973, 73f.) 387 Im Anschluss an Jacques Derrida heißt es: Im 20.Jahrhundert wurde mit so vielen Menschen Schluss gemacht, weil man daran glaubte, das Wesen des Menschen in der Geschichte vollenden zu können (Kittsteiner: Listen der Vernunft, 1998, 40). L. Hölscher glaubt, im Hinblick auf die gegenwärtigen Differenzerfahrungen und Desintegrationswünsche menschlicher Gruppen, an einer gemeinsamen Zukunft der Menschheit zweifeln zu müssen (Op. cit., 226). 388 „Es ist diese Deifikation der Geschichte, die ich bekämpfe.“ (Popper: Prognose und Prophetie (1949),zit. nach Topitsch: Logik der Sozialwissenschaften, 125.) 389 Das Thema Eigendynamik zwangsläufiger Abläufe, sich gegenseitig steigernder gebündelter Kräfte, oft als personifizierte Abstrakta, und nicht auf die Moderne beschränkt: Demandt: Zur Trichterstruktur historischer Prozesse. In: W. Lübbe (Hg.) Kausalität und Zurechnung, 1994. – Von Rohbeck auch: Die Fortschrittsidee der Aufklärung, 1987, sowie seine Einführung zu Turgots Fortschritten des menschlichen Geistes, 1990. Zum Thema schon: A. Siegfried e. a., Progrès technique et progrès moral, 1947. 390 Hermann Lübbe: Geschichtliche Identität und Kontingenz, in: Oelmüller (Hg.) Normen und Geschichte, 1979. Ders.: Fortschritt als Orientierungsproblem, 1975. Unsere historisch-genetische Identität, das Ganze unserer geschichtlichen Existenz, ist ein Faktum, keine Notwendigkeit aus Vernunft – trotz ideologischer „Legitimierung der Machthaberei durch Rechthaberei“ (15). 391 Auch für Herta Nagl-Docekal ist das Fortschrittsdenken der Aufklärung alles andere als obsolet, aber nicht als deterministisch angelegter eigendynamischer Prozess, sondern vielmehr Kants praktischer Imperativ einer freiheitlichen Ordnung – wobei gerade auch für die Zukunft die Metapher vom ‚krummen Holz, aus dem nichts Gerades werden kann‘, reklamiert wird (Ist Geschichtsphilosophie heute noch möglich? In: dies. (Hg.) Der Sinn des Historischen, 1996, 31f.). 392 Der Sinn von Begriffsgeschichte ist nach Hermann Lübbe, ein begriffliches Orientierungsschema durch seine historische Aufarbeitung durchsichtig zu machen, und „außer Fassung
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Anmerkungen geratene“, „herrenlose“ Begriffe zu stabilisieren. Umgekehrt ist deren Wahrheit die Bewährung, d. h. ihre Fähigkeit, das Alte neuen Erfahrungen und Absichten adäquat zu machen (Lübbe: Säkularisierung, 1965,16). Karl Acham wehrt sich gegen den Kult der ‚hard facts‘, der das Bestehende im Bewusstsein verfestigt und mit seinem Tatsachen-Positivismus Resignation ohne Bewusstsein der Resignation verbreitet (Vernunft und Engagement, 1972, 32) 393 Wenn es, wie bei Sartre, keine menschliche Natur gibt, sondern allenfalls Sorge, Dasein zum Tode, Angst und Ekel, ist die Geschichte als Ganzes sinnlos; es bleibt nur die optionale Fortschrittsperspektive innerhalb begrenzter Ziele (Iggers: Fortschritt, wie oben). 394 „Voilà pourquoi, plus on conquiert de liberté, d’autonomie, plus on pense à un état meilleur en religion, en science, en gouvernement… Chaque conquète devient la raison d’une nouvelle conquète.“ (Delvaille, Essai sur l’histoire… Reprint 1969, 730f). 395 „Wenn der Szientismus seine Hoffnung darauf setzt, die Wissenschaft werde uns aus ihrem eigensten Wesen heraus die nötige Leitung in den Angelegenheiten der Menschen geben, so ist er eine falsche Religion.“ (C. F. von Weizsäcker: Die Tragweite der Wissenschaft, 1990, 6.Ausg.) 396 „..political systems can be distinguished…according to their substantive goals (while)…there is broad agreement about a number of basic social and economic values.“ – Zum Thema auch W. O. Aydelotte, Quantifizierung in der Geschichtswissenschaft, in: Wehler (Hg.) Geschichte und Soziologie, 1984, und P. Burke: Soziologie und Geschichte (Junius, o. D.). 396 In: L. E. Harrison; Samuel P. Huntington (ed.) Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortschritt prägen, 2000. 398 „Those who believe in progress come to depend on one-dimensional measures. To those who do not share their value system such a claim is nonsense…/The Japanese Westernizers/ were simply adapting for local purposes the nationalistic Social Darwinian version of progress.“ (Sh. Nakayama, The Chinese ‚Cyclic‘ View of History vs. Japanese ‚Progress‘. In: The Idea of Progress, wie oben). 399 Th. Assheuer: In den Stahlgewittern des Kapitalismus. Die Zeit Nr.11 vom 10.3.2005 („Selig die Zeiten, bevor biblische Propheten ihre Stimme erhoben und zum Auszug aus Ägypten riefen“).
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Namensregister Abaelard 43f. Abosch 406 Acham 460 Acton 298 Adams B. s.Brooks Adenauer 433 Adler M. 326 Adorno 119, 391, 466 Agamemnon 16 Agricola Jul. 25 Agrippa von N. 73 Ailios Arist. 23 Aischylos 16, 181 Alarich 36 Albert H. 463 Albert, Prinz 300 Albertus Mag. 45 Alberti 126 D’Alembert 165, 182, 184f., 189 Alexander d.Gr. 21, 144, 342 Alkuin 40 Allen G. 324 Allende 437 Althusius 98 Ambrosius 36, 41 Amyot 69 Anaximandros 18 Anders 445 Andreae 91 Angehrn 246, 346 Angell 378 Annan K. 468 Annius von V. 84 d’Annunzio 392 Anselm von Cant. 43f. Antiphon 17 Appianus 25 Appleby 133 Archimedes 28 Arendt 189, 405 d’Argenson 150f., 164
Aristoteles 20f., 43f., 45f., 65, 125f., 253, 262, 340, 345 Arminius 83 Arndt 258 Arnobius 30 Arnold 142, 144, 203 Aron 423, 446, 448 McArthur 430 Aspidin 300 Assmann 32, 470 Augustenburg 218 Augustinus Aur. 13, 25, 39, 35f., 37, 39, 46, 94, 105, 246 Augustus s. Octavianus M. Aurelius 24f., 28, 36, 77 Averroes 43, 45 Avicenna 43, 35 Babel 418 Babeuf 243 Bacon F. 87ff., 90f., 92, 95, 97, 104, 113, 126, 139, 147, 186, 312, 339, 440 Bacon R. 47 Bagehot 318 Bakunin 401 Ball H. 411 Ballestrem 167 Ballin 386 Barbon 133f. Barbarossa 46 Barnave 191 Barthès 186 Baruch 428 Basedow 201f. Baudelaire 301, 350 Baudouin 83 Bauer B. 260f. Bauer O. 305 Bauman 358, 393, 465f.
Bayle 97, 121, 142, 143f., 145, 149 157, 203, 233 Bazard 280 Bebel 380 Becher J. J. 129 Becher U. 205, 277 Beck U. 449f. Beda Venerabilis 40 Bedarida 239 Bekker 142 Belisar 39 Beneš 421 Bentham 236f., 239, 283, 288f. Benz W. 331 Berghoff 357 Bergius 306 Berglar 386 Bergson 399 Bernal 391f. Bernard v. Cl. 45 Bernardino di S. 110 Bernstein 325, 327 Beroling 400 Besson 353 Bethel Sl. 133 Bethmann H. 379 Beveridge 429 Beza 77 Binswanger 357 De Biran 277 von Bismarck 306, 308, 310, 436 Blair 172 Blake 226 Blanqui A.J. 301 Blanqui L.A. 326, 404 Bloch E. 364, 411ff., 413f., 450 Bloch I. 332, 377 Bloch J.R. 414 Blondel 467f
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Namensregister Bloom 86 Blumenberg 55, 93, 124, 158 Boccalini 81 Bodin 67, 70f., 72, 80f., 82, 85 Boethius 38 Bolingbroke 146 Le Bon 345 de Bonald 227, 229, 231 Bordes 180 v. Borcke 403 Borgia 61 Borsig 418 Bossuet 105f., 119, 127, 153, 164, 166, 250 Botticelli 62 Boulainvilliers 276 Braudel 113, 126, 133 Braun 62 Brehmer 356 Brentano L. 128 Breuer 372, 388 Breuilly 297 Brienne 188 Brocker 121 Brooks A. 367 v. Bruch 353 Brunel 300 Bruni L. 79 Bruno 74, 76, 90 Buck 124 Buckle 338f Buddensieg 302 Buffon 154, 166 Bultmann 31 Bunyan 97 Burckhardt 79, 340, 342f., 344f., 346f. Buridan 51 Burke E. 224f., 229, 233, 235, 245, 247 Burke P. 157 Burnett 104 Bury 30, 83, 150, 197, 458f. Buss 302 Butterfield 383 Cabanis 278 Calvin 62, 75, 76f., 177, 233, 369f. Campanella 114 Campe 202
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Camper 277 Camus 423 Canfora 16 Cantillon 125 Carlyle 243 Carnegie 363 Carnot S. 274 Mc Carthy 428 Cartwright 234 Cäsar 23, 26, 83, 394f. Cassiodorus 38 Cassirer 375 Castlereagh 226 Castiello 76 Catilina 24 Cato 24 Cesana 432 Charle 232, 274 Charron 73 Chastellux 199 Châteaubriand 269f., 273 Childe J. 128, 134 Chladenius 203 Chlodwig 303 Churchill 386, 426f. Celtis 83 Cicero 13, 22f., 56 Clarendon 311 Clark 363 v. Clausewitz 410 Clemens von A. 33 Cobden 296f., 300, 311 Cochin 183 Coen J.P. 129 Cohen H. 32, 53, 328ff. Cohn N. 42 Colbert 127f. Collingwood 20 Comenius 94ff., 96ff., 98f., 107f., 139 Comte 162f., 275, 280ff., 286, 287, 288, 292, 300, 314, 445, 467 Condillac 277 Condorcet 195ff., 199, 226, 228, 235, 240, 269, 278, 284, 335, 465 Conquest 407, 416 Conring 99f. Constant 190, 270f., 278 Corradini 392 de la Court 129 Croce 271
Cromwell 104 Cropsey 172 Crowe 378 Cusanus 58, 60 Cuvier 224, 312 Czieszkowski 258 Dante 47, 48, 79, 125, 303, 371 Danton 370 Darnton 152, 184 Darwin E. 233 Darwin Ch. 311, 312f., 314, 315, 317f., 321f., 332f., 373, 393 David 31f., 215 Defoe 135, 136ff. Dehn 373 Delvaille 50, 458, 460 Demandt 13, 23, 29, 35, 340, 466 Demokrit 17 Descartes 92f., 94f., 98, 107f., 125, 139, 147f., 155f., 158, 162, 422 Deutsch 298, 304 Dewey 358, 365f. Diderot 14, 107, 147, 169, 171, 180, 182, 183f., 185, 196, 205 Dilke 320 Dilthey 341, 351f., 408 Diner 398 Diwald 57 Donne 86 Van Doren 15, 457 Dörner 400 Downing 132 Drabicius 97 Drewermann 443f. Dreyfus 331 Droysen 336, 339f., 341f., 343, 347, 352, 353 Dubček 437 Dubiel 451 Dubos 276 Dühring 322 Dumke 299 Duns Sc. 48f., 57 Dupont de N. 161 Durant 57 Durkheim 351 Durnovo 377f.
Namensregister Eberenz 364 Eckart 357 Edison 364 Ehrlich 356 Einstein 431 Eisner 389, 412 Eksteins 379, 380 Elias N. 115 Elisabeth I. 86, 227 Ellul 360 Enfantin 242 Engels 259, 268, 309, 321, 324, 327, 401, 404 Epikuros 26, 27 Erasmus 68, 70 Esra 32 Euchner 122,136, 213 Euklides 43 Euripides 24, 346 Eusebius 34f., 37, 208 Evelyn 133 Eyth 356 Falkenhayn 380 Faraday 300 Felbiger 202 Feldman 387 Felken 394 Fellmann 312, 351 Fénélon 149f. Ferguson A. 172f. Ferguson N. 426 Fetscher 323 Feuchtwanger 418 Feuerbach 259f., 262, 266f., 320 Fichte 231, 244, 246f., 298, 340, 445, 459 Fischer D. 138 Fischer L. 406 Flasch 392 Fleischer 267, 447 Fletcher 167 Fontane 379 Fontenelle 147f., 163 Ford 364 Forster 192 Foucault 114, 119, 418, 459 Fourier 243, 263 Francke 142 François 303 Franklin 126, 370 Franz I. 61
Freud 357 Freyer 302f., 355, 375, 391 Fried 331f. Friedell 78, 147 Friedrich II. Kaiser 50 Friedrich II. von Preußen 155 Friedrich v. d. Pfalz 96, 99 Frontinus 28 Fueter 273 Fugger 111 Fukuyama 461 Fulbright 435f. Furet 177, 188, 191, 424 Fussell 383 Galenos 26, 65 Galilei 89, 93f., 111, 116, 282 Galton 321 Gans 253 Garton Ash 468 Gates 449 Gatterer 205 Gaupp 317 Gay P. 139, 152, 318, 377 Gehlen 374 Gellner 52, 103, 158, 233, 304 Gentz 229f., 247 Gerhoch 42, 47 Georg I. v. England 146 Gerson 51 Gibbs 383 Giddens 371 Gigliotti 329 Giroldus C. 43 Glaber 41 Glanvill 104 Gobineau 307, 318f., 349 Godwin 225, 237, 243 Goethe 140, 214, 216, 218f., 253, 334, 336, 394f., 445, 462 Goeze 207 Gombrich 301 Gorkij 417 Gottsched 203 de Gournay 164 Goya 141, 465 Gracchus 67 Graf 368 de Grafigny 166
Gregor VII. 42 Gregor XIII. 76 Gregor v. Tours 40 Grey 378 Groethuysen 194 Groh 326 Grondona 468 Grotius 80f., 99 Guericke 233 Guiccardini 60, 67, 71f. Guizot 271f., 274, 281 Gumbrecht 303 Gumplowicz 318f. Gurjewitsch 42 Habermas 275 Haeckel 311 Haig 380 Hakluyt 86 Halbwachs 383 Hall 235 Haltern 300 Hamann 215 Hardtwig 204 Hardenberg 296 Hardtwig 345 Hargreaves 234 Harley 135 Harms 290 Harpprecht 427, 436 Harrington J. 172 Harrington S. 467 Hartlib 96, 103 Harvey 91, 320 Hašek 7 Hasslinger 71, 82 Hastedt 364 Haupt 271 Haushofer 367 v. Hayek 447 Hazard 145 Heckscher 126, 127 Heer 226, 228, 403 Hegel 83, 94, 106, 194, 244ff., 255, 257ff., 259, 261, 263f., 267f., 272, 284, 327f., 335, 340, 344, 349, 395, 406, 466 Heidegger 393 Heine 211, 256, 361 Heinrich IV. 81 Heinrich VII. 48 Helfferich 385
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Namensregister Heller 247 Hellwald 314 Helvétius 193, 197 Herakleitos 346 Herb 181 Herder 157, 214f., 218f., 222, 304, 310, 462 Hermann 201 Herodotos 15f., 157, 163 Herzen 416 Hesiodos 12, 14, 17, 453 Hess 261, 266, 306 Hessenthaler 99 v. d. Heuvel 188 v. Hindenburg 386 Hippokrates 20, 43 Hirschman 162 Hitler 391f., 419f., 421, 423f Hobbes 101f., 112, 116f., 120f., 124, 145, 163, 167, 182, 223, 324, 450 Hobsbawm 271, 314, 420, 425 Hobson 377 Hofmann H. 80, 236 Holbach 193, 197 Holl 332 Hölscher 276, 456 Homer 17 Hont 171 Hoover 407 Horkheimer 119, 391, 393, 466 Hornigk 126, 131 Hornius 99f. Hübsch 302 Hudson M. 356 Hughes 364 Hugo 301f. Humboldt 355 Hume 165, 167f., 169, 170f., 172, 180, 184, 206, 212, 215, 251 Hus 51f. Hutcheson 170 v. Hutten 83, 84 Huygens 139, 148 Huxley A. 392 Huxley Th. 318, 320, 466 Iambulos 19 Iggers 337 Ignatieff 17f.
516
Ignatius v. L. 78f Ikarus 29 Ingelhart 468 Irenaeus 34, 36 Irrlitz 322 Iselin 206 Isidor v. S. 40 Iwan d.Schr. 407 Jackson, Präs. 361 Jackson G. 428 Jaeger 344 Jakob II. von England 121 James 366 Jaspers 430ff., 434, 441 Jászi 409 Jaucourt 191 Jauffret 278 Jefferson 362 Jegelka 330 Jeismann 309 Jeremias 38 Jerusalem 201 Jesaja 32 Jessenin 416 Jesus v. Naz. 32, 33, 35, 289, 453f. Joachim v. F. 49f. Joas 397 Johannes d.T. 50 Johannes, Ap. 455 Johannes v. Meung 47 Johannes XXII. 50 Johannes v. Sal. 79 Jonas 281, 440, 451 Judt 422, 428 Jünger E. 382, 388f., 390f., 392 Jünger F.G. 389 Justinian 39 Kafka 392 Kalb 137 Kallikles 18 Kallimachos 21 Kals 303 Kant I. 140, 146, 181, 202, 209f., 214, 218f., 222, 231, 243, 246f., 249, 263, 269, 271, 285, 312, 325, 327f., 329, 331f., 334, 338, 342, 351, 454, 466 Karl d.Gr. 40, 241
Karl V. 73 Kaschuba 303 Kautsky 322, 324, 325, 330, 389, 403f., 406f., 408 Keegan 382 Keller H. 43 Kennan 429 Kennedy 435f. Kepler 89 Kersting 60 Keynes 429 Khilnani 422 Kielmannsegg 362 Kiesewetter 295 Kindermann 202 Kipling 320 Kissinger 436 Kittsteiner 142, 460f. Kleanthes 22 Kleger 327 Kleinsteuber 358 Klenner 120 Knies 302 Knox 75, 77 Koch 356 Kocka 118 Koenen 419 Koenigsberger 334 Koestler 422 Kohn-Waechter 391 Koktanek 396 Kołakowski 141 Kolumbus 64, 456 Kondylis 143 Konrád 430 Konstantin, Kaiser 36 Kopernikus 65, 74, 76 Köppen 256 Koselleck 93, 149, 198, 253, 454, 460 Kotter 97 Kranz 23 Kraus 383 Kritias 17 Kroisos (Krösus) 15 Kroker 202 Krupp 302 Kun 409 Küng 34 Labrousse 152 La Bruyère 149 Lafargue 322
Namensregister Lafitau 157, 163 Lagarde 372 Lamarck 312f., 315 Lamartine 277 Lamprecht 352 Landes 233, 300 Langbehn 361 Lane-Fox 14, 19 Lange 327f., 330 Laplace 312 La Rochefoucauld 149 Lasswell 383 Lavoisier 223 Lawrence D.H. 381 Leeuwenhoek 143 Lehmann 174 Leibniz 140, 142, 149, 158 Lenin 373, 400ff., 402f., 404f., 406f., 409, 411f., 416, 419 Leonardo da V. 60f., 66, 294 Leopold I. 129 Le Play 301 Leppin 15, 24, 31f. Lespeyrès 129 Lessing G.E. 108, 203f., 207ff., 338 Lessing Th. 281 Leuschner 284 Liebermann 306 Liebknecht W. 322 Lindau 365 Lipsius 115 List 299, 302 Livius 13, 24 Locke 120ff., 135, 136, 149, 151, 163, 168, 205, 333 Logan 172 Lorenz 442f. Lorenzo Valla 55 Löwith 156, 256 Lübbe 183 Lucretius 27, 56 Ludwig d.Bayer 51 Ludwig XIV. 127f., 132, 135, 147, 149, 151 Ludwig XVI. 279 Ludwig XVIII 192,242 Lukács 408f., 410f., 415 Lübbe 393, 461 Lüsebrink 153 Luther 62f., 66, 68, 72, 74, 76, 80, 349
Luxemburg 401, 404, 410 Lyotard 442, 461 Lysias 19 Machiavelli 59f., 62, 66f., 87, 110f. Macpherson 172 Maimonides 43, 45 Maiskij 427 de Maistre 227f., 230, 270 Malebranche 106 Malesherbes 184 Malia 406, 416 Mallet 270 Malraux 422 Malthus 226, 237f., 284, 312f., 314, 332 Mandelstam 418 Mandeville 137, 146, 161 Manilius 28 Mann Golo 218, 265, 363, 426 Mann Günter 321 Mann Th. 395 Mannheim 411 Mao 423 Marcuse 438f., 440f. Maresius 96 Margarete v. Nav. 69 Marinetti 389 Markl 445 Marlowe 87 Marquard 200, 215, 250, 460 Marshall 429 Marsilio Fic. 57, 60, 91 Marsilius v. P. 54 Marti 350 Martin R. 356 Marx K. 9, 110, 125, 219, 226, 260, 263ff., 267f., 269, 273, 291, 293 295, 309f., 313, 321f., 325, 327, 329, 362, 385, 398, 399, 402, 403, 407, 409, 417, 422, 445 Masaryk 7, 379 Massing 282 Mathias 295 Maupeou 188 Maximilian, Kaiser 83 Mazarin 100, 151 Meadows 440f., 442
Mehring 265 Meier Ch. 19 Meinecke 218, 336 Melanchthon 76, 92 Melville 426 Mercier 187, 197 Merleau-P. 422 Metz 191, 381, 403, 449 de Mézeray 148 Michelet 256, 275f. Michels 371 Mieck 302 Miethke 48, 51 Mignet 273f. Mill J.St. 285f., 293, 298, 314, 332, 371 Millar 173f., 175f. Milton 103 Mirabeau d.Ä. 162 Moltke d.Ä. 331 Moltke d.J. 378 Mommsen Th. 23 Mommsen W. 355, 371f., 387 Monod 277 Montaigne 69, 80f., 82, 127 Montesquieu 151f., 159, 161, 163, 172, 178, 180f., 184, 188, 206, 213, 224 Montovano 55 Moravia 278 Morris 361 Morus (More) 87 Mose 329 Muhlack 84 Mumford 75, 113, 233 Mun Th. 132f. Münkler 59, 67, 81, 115, 381 Müntzer 63, 415 Mussolini 396 Napier 89 Napoleon I 192, 223, 242, 252f., 270, 273, 276, 297, 312, 337 Napoleon III (Louis Bonaparte) 279, 301, 446 Nasmyth 300 Natorp 330f Necker 186 Newcomen 332 Newton 104, 121, 139 142, 159, 181, 291, 303, 456
517
Namensregister Nietzsche 140, 346ff., 349f., 352, 372, 399, 423, 456, 466 Nikolaus v. Or. 51 Nipperdey 298 Nisbet 459 Nixon 436 Nobel 356 Novalis 303 Ockham 50ff. Octavianus Aug. 24, 35 Odysseus 56, 119 Offenbach 301 Olivi 110 Ollig 329 Opitz 451 Oranien 219 Origenes 34 Orosius 37f., 39 Orwell 430 Osiander 74 v. Ossietzky 332 Osterhammel 312 Ostwald 357 Otto v. Fr. 46 Owen 237f., 242 Oxenstjerna 96 Paine 235f. Palmerston 300 Papin 233 Paracelsus 75 Parmenides 18 Pascal 107f., 159 Pasternak 420 Pasteur 356 Patočka 58, 97, 158, 439 Patterson 117, 138 Paulus v. T. 33, 38 Pearson 321, 322 Peirce 367 Pelagius 35 Penn 331 Perikles 14, 15, 17, 18, 27, 394 Perrault 148 Petersen 142 Petrarca 59, 60 Petty 128, 134 Peukert 361 Philipp d.Sch. 50 Philon v. A. 32f
518
Picard 421 Piccolomini E.S. 83 Picht 135, 439 Pico d.M. 58 Pilnjak 418 Pius IX 314 Platon 13, 14, 16, 17, 18, 19, 20, 55, 269, 346, 349 Plechanov 403 Plinius d.Ä. 23, 26, 28 Ploetz 321 Plutarchos 21, 26, 27, 69 Pocock 110, 167 Pokrovskij 420 Polenz 368 Polybios 13, 22f., 27, 66 Pompadour 160 Pompeius Tr. 23 Pope 11, 139, 146 Popper 461, 464 Porter 468 Poseidonios 22, 25 La Popelinière 81f Pribram 162 Price 225 Prokopios 39 Prometheus 11, 17, 19, 55, 455 Protagoras 56f. Ptolemaios 26, 43, 85 Pufendorf 163 Quesnay 160f., 162, 164 Quételet 300 Quinet 275 Rabelais 69 Raddatz 414 Rádl 312 Rákóczi 96 Ramm 244 Ramus P. 65 Ranke 335ff., 337ff., 340, 343, 348, 352, 355 Rapp 458, 463f., 359 Rathenau 360, 383f., 385ff., 396 Raynal 179, 182, 215 Reinhard 111 Renan 305f., 307f Rhodes 321 Ricardo 291 Richet 188
Riceur 452 Rickert 333, 341 Riedel 210 Riehl 302 Ritter 249 Robert v. N. 79 Robertson 174 Robespierre 182, 211, 260, 271, 393 Rockefeller 363 Rohbeck 295, 461f. Rohden 229 Rohkrämer 356, 390 Romein 457, 464 Roosevelt 427, 428f. Rosenberg 309 Rosenzweig 253, 256 Rostow W.W. 434 Rostovzeff 25 de Rougemont 72 Rousseau 162, 166, 169, 174, 179f., 181, 183, 184, 189, 191, 201, 212, 214, 226f., 269, 315, 349, 404 Le Roy 70, 82 Ruge 256ff., 260f., 265, 267 Ruskin 355 Russell 289, 378 Sabellius C. 79 Saint-Evremont 100 Saint-Lambert 184 Saint-Pierre 150, 157, 182 Saint-Simon 239f., 241f., 276, 278f., 280, 294, 300f., 358, 405, 445, 467 Sainte-Beuve 272 Salamun 432 Sallustius 23f. Salvianus 38 Samjatin 418 Sanchez 203 Sartre 422f. Savigny 336 Savonarola 59, 62, 110 Schäffle 302 Schedel 79 Scheibert 405 Scheler 413 Schelling 251, 259 Schelsky 360, 374 Schemann 318 Scheuchzer 205
Namensregister Schickele 331 Schiller 156,160, 218f., 220f., 346 Schilson 208 Schlegel 335 Schleiermacher 318 Schlobach 84 Schlögel 407, 418 Schlözer 203, 204, 206 Schluchter 371 Schmitt C. 373f., 432 Schnädelbach 338, 344 Schopenhauer 319, 345, 346 Schöffler 215 Schröder R. 259 Schröder W. 130f. Schulin 132, 133, 189 Schulz G. 387 Schulze H. 303 Schulze W. 115 Schumacher 289 Schumpeter 295 Schurz 265 Schwarz 391 Schweitzer 445 Scipio 13, 22 Sedgwick 357 Senghaas 468 Shaftesbury 145f. Shakespeare 85f., 114 Shelley 226, 243 Seneca 13, 23, 26, 28 Servet 76 Sforza 61 Siemens 356, 418 Siger v. Br. 44, 47 Simmel 391, 408, 413 Simon 142 Smith 164, 165, 169f., 171f., 212, 219, 226, 236, 250, 253, 278, 290, 303, 316 Sokrates 18, 145, 179, 335, 346, 399 Solon 18 Sombart 118, 363, 392 Sommer 130 Sonntag 63 Sophokles 18, 19 Sorel 390, 398ff., 405, 417 Southey 235 Sozinius 142 Spann 127
Spee 75 Spence 235 Spencer 286, 313f., 315f., 317, 322 Spener 203 Spengler 47, 391, 394ff., 397 Spinoza 101f., 105, 125, 215, 261 Sprat 104, 145 Stadler 272 De Stael 271 Stalin 128, 416f., 418f., 424f., 427, 430f. Stammen 268 Starobinski 190 Stead W.Th. 364 v. Stein 296 Stimson 426 Stolypin 402 Strabon 23 Strauss D.F. 307f., 319f., 328 Strauss L. 452 Stuart, (Jacob I.) 88 Stuart Mill, s.Mill Stuke 260 v. Suttner 332 Tacitus 25, 26, 81, 84 Taine 187 Talmon 278, 298 Tassoni 85 Taubes 31 Tawney 77, 104 Taylor A.J.P. 376 Taylor F. 359 Taylor H. 291 Temple 133 Tertullian 36 Thales 12 Theweleit 389 Thiers 273f., 301 Thomas v. A. 45f., 47, 125 Thomasius 116, 142, 203 Thukydides 12, 14, 16, 59, 204, 343 Tillich 11, 454 Tkačov 404 Tocqueville 276, 286, 289, 361f., 445 Toland 149 Tönnies 363 Torke 402
Torricelli 233 Toynbee 22 Trajan 26 v. Treitschke 308, 311 Trevelyan 135, 309 Troeltsch 33, 39, 46, 63, 64, 139, 153, 353 Trom 303 Le Trône 186 Trotzkij 400f., 405, 439 Truman 429 Turgot 163f., 187, 195f., 206, 234, 240, 278, 281 Turner 367 v. Unruh 387 Usselincx 129 Ustrjalov 418 Vacher de L. 320f. Valéry 383 Valjavec 141 Vasari 84 Vauvenargues 158 Verne 355 de Vertot 177 Vercingetorix 303 Vergilius 24, 29, 56 Vernant 15 Vesalius 65 Veyne 18 Vico 155ff., 159, 164, 166, 186, 215, 275 Vierhaus 204 Villaume 201 Virchow 305, 311 Vitruvius 28 Vives 68f. Voegelin 104 Volney 192ff., 199 Voltaire 106, 145, 150, 153ff., 159, 160, 168, 179f., 181, 186, 188, 194f., 199, 204, 205, 213, 215, 219, 236, 250f., 270, 349 Vovelle 191 Wagner R. 303, 318, 346f., 376 Wallace 379 Wallenstein 219 Watt 232
519
Namensregister Weber M. 28, 62, 77f., 111, 117, 118, 359f., 368f., 371, 375, 382, 389, 433, 463 Wehler 109 Weismann 321 v. Weizsäcker 93, 439, 441, 467 Wells 356, 376, 419 Weyer 75 Whitney 90
520
Wieland 202 Winch 171 Willoweit 99 Williams 363 Wilson 412f., 426 Wimpfeling 84 Windelband 29, 47, 91, 251, 341, 352 Winkler 304 Winter E. 142 Witte 401
Wittgenstein 8 Woltmann 323, 324 Woolstonecraft 237, 243, 332 v. Wright 466 Wyatt 320 Wycliff 51f. Xenophanes 20 Zenon 21 Zweig St. 377, 384
f ORTS ( H RITT, die Entwicklung hin zu einem Besseren, scheint in der heutigen Wahrnehmung der westlichen Welt eine historische Tatsache zu sein. Tatsächlich ist dies eine Annahme, ein geschichtsphilosophisches Theorem. Diese Annahme entspringt der europäischen Aufklärung, und man muss gedanklich einen Schritt zurücktreten um zu erkennen, dass auch ganz andere Inter pretationen historischer Verläufe denkbar sind und in anderen Kulturkreisen oder Epochen grundlegend waren. Bedrich Loewenstein geht der Idee des Fortschrittsglaubens, seinen Implikationen und Auswirkungen in einem großen historischen Essay nach, in einem Alterswerk, das sein lebenslanges Bemühen um diesen Gedanken zusammenfasst und gleichzeitig auch die Erfahrungen eines großen Europäers zwischen verschiedensten Ideologien und Utopien reflektiert. »Bedrich Loewenstein ist einer der wenigen philosophisch gebil deten Ideenhistoriker in Deutschland. Mit seiner Studie über den Fortschrittsglauben zieht er die Summe seines jahrzehntelangen Forschens. Sie ist sein opus magnum!« PROF. UWE PUSCHNER, FU BERLIN
Bedrich Loewenstein, geb. 1929 in Prag, gilt als einer der bedeutendsten Ideen-Historiker und Sozialtheoretiker des 20. Jhrs. Als Sohn einer deutsch jüdischen Familie und Nicht-Marxist musste er mehrere Unterbrechungen seines Ausbildungsweges hinnehmen, bevor er sich als Deutschlandhisto riker profilieren konnte. In Folge seines Engagements beim Prager Frühling wurde er mit Berufsverbot belegt und ging an die Freie Universität Berlin. Neben akademischen Auszeichnungen wird ihm 2011 für seinen heraus ragenden Einfluss auf die deutsch-tschechische Partnerschaft und für seine wissenschaftlichen Verdienste das Bundesverdienstkreuz verliehen.
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26666-1
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