Der Charakter, die Herrschaft, das Wissen: Begegnungen im Zeitalter der Imperien [1 ed.] 9783428548651, 9783428148653

Im imperial- wie globalgeschichtlichen Kontext um 1900 stehen die Phänomene von Charakterformierungen, Herrschaftspostul

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German Pages 92 Year 2016

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Der Charakter, die Herrschaft, das Wissen: Begegnungen im Zeitalter der Imperien [1 ed.]
 9783428548651, 9783428148653

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Der Charakter, die Herrschaft, das Wissen Begegnungen im Zeitalter der Imperien

Von

Benedikt Stuchtey

Duncker & Humblot · Berlin

BENEDIKT STUCHTEY Der Charakter, die Herrschaft, das Wissen

Lectiones Inaugurales Band 12

Der Charakter, die Herrschaft, das Wissen Begegnungen im Zeitalter der Imperien

Von

Benedikt Stuchtey

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2016 Duncker &Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 2194-3257 ISBN 978-3-428-14865-3 (Print) ISBN 978-3-428-54865-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-84865-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Annäherungen. Themen: Imperiale Biographien

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II. Besichtigungen. Spielen: Cricket . . . . . . . . . . . .

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III. Begegnungen. Panoramen: Imperienvergleiche 

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Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zum Autor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Einleitung* An Gelegenheiten, über drei historische Schlüsselbegriffe wie beispielsweise „Charakter“, „Herrschaft“ und „Wissen“ und ihre Bedeutung nachzudenken, hat es denjenigen, die sich mit der Geschichte des Imperialismus befassen, eigentlich nie gefehlt. Sie liegen gleichsam auf der Hand und ließen sich mühelos um weitere Begriffe ergänzen. Gewalt gehörte sicherlich dazu sowie ihre Mittel und Werkzeuge, etwa Herrschaft durchzusetzen. David Hume hat 1748 in seinem 21. Essay auf diese Verbindungen hingewiesen und dabei auf die Unterscheidung Wert gelegt, dass der Charakter eine unsichere Sache sei, auf den man sich nicht fest verlassen könne und der durch Vorbild ständig diszipliniert werden müsse, während Wissen sich kontinuierlich über die Generationen hinweg vermehre und von konstantem, universalem Nutzen sei. Übersetzt man den Quellenbegriff mit der modernen, aber überstrapazierten nationalen Identität, so besaßen seine Landsleute, Hume zufolge, diese nicht: „The English“, merkt er an, „of any people in the universe, have the least of a national character; unless this very singularity may pass for such“.1

* Leicht überarbeitete Fassung meiner Antrittsvorlesung, Philipps-Universität Marburg, 25. Juni 2014.

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Charakter galt Hume als ein Unsicherheitsfaktor, den Herrschaft und Wissen einhegen und für den die Gewalt, insbesondere die staatliche, wie ein Geburtshelfer ist und sie ihn dahin entlässt, wo er sich historisch voll entfaltet. Expansion und Revolution illustrieren dies und können zwei aufeinander bezogene historische Größen sein, und die große Anzahl deutscher, in der Zwischenkriegszeit und im Nationalsozialismus erschienener kolonialrevisionistischer, anti-englischer Schriften schloss sich mühelos an.2 Denn um Herrschaft auszuüben, imperiale oder revolutionäre, bedarf es der Gewalt. Ob Menschen sich ihr willig fügen oder nicht, ob sie einen Hang zur Unterwerfung haben, der sie nach starker Herrschaft rufen lässt, oder ob sie, im Gegenteil, der Wille zur Macht prägt, der den Gehorsamstrieb der Anderen ausnützt, ist eine von John Stuart Mills „Considerations on Representative Government“ (1861) erörterte Alternative.3 Dabei interessierte Mill nicht der Extremfall der 1 David Hume: Of National Characters, in: ders.: Essays Moral, Political, and Literary, hg. von Eugene F. Miller, Indianapolis 1987, S. 197–215, hier S. 207. 2 Victor Kiernan: Imperialism and Revolution, in: ders.: Imperialism and its contradictions, New York / London 1995, S. 121–143; vgl. Benedikt Stuchtey: Eric Hobsbawm und Victor Kiernan über Revolution und Expansion, in: Friedrich Wilhelm Graf u. a. (Hg.): Geschichte intellektuell. Theoriegeschichtliche Perspektiven, Tübingen 2015, S. 184–201. 3 Paul Smart: Mill and Nationalism. National character, social progress and the spirit of achievement, in: History of European Ideas 15 (1992), S. 527–534, bes. 529 ff.; Georgios Varouxakis: National Character in John

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Herrschaft, sondern deren Normalfall des administrativen Alltags, in dem sich gleichermaßen Autorität, Gewalt und Macht äußerten – im Übrigen ein intellektueller Traditionsbestand, der mindestens bis Hannah Arendt reichte und seinerseits beispielhaft von Macaulay in seinem Clive-Porträt (1840) entwickelt worden ist.4 Aber es wird sicherlich Mill gewesen sein, der erstmals auf eine systematische Analyse drängte, um nicht bei den ansonsten so üblichen Sammlungen von Anekdoten über nationale Stereotypen zu verbleiben: „Of all the subordinate branches of social science, this is the most completely in its infancy“, betonte Mill in seinem Buch „System of Logic“ (1843) und ergänzte: „Yet … it must appear that the laws of national character are by far the most important class of sociological laws.“5 Stuart Mill’s Thought, in: History of European Ideas 24 (1998), S. 375–391. 4 John Stuart Mill: Considerations on Representative Government, London 1861, Kap. 15 (Of Local Representative Bodies), hg. H. B. Brown, London 1987, S. 376–390; Hannah Arendt: The Imperialist Character, in: The Review of Politics 12 (Juli 1950), S. 303–320; Thomas B. Macaulay: Lord Clive, in: ders.: Critical and Historical Essays, contributed to The Edinburgh Review, 5 Bde., Leipzig 1850, Bd. 4, S. 1–96. 5 Hierzu Stefan Collini / Donald Winch / John Burrow: That noble science of politics. A study in nineteenthcentury intellectual history, Cambridge 1983, S. 132– 148; Stefan Collini: Public Moralists. Political thought and intellectual life in Britain 1850–1930, Oxford 1991, S. 91–118. 9

Nun sind diese Begriffe nicht immer trennscharf voneinander zu unterscheiden, woraus sich für die historische Arbeit das Problem ergibt, ihre eigentliche geschichtliche Vielfalt zu entwickeln. Autorität geht von einer einzelnen Person aus oder einem Amt, sie ist persönlich oder institutionell. Macht schließlich hängt demgegenüber eng mit Gewalt zusammen, ja, sie gebraucht sie, um zu expandieren, denn die Macht des einen wächst gewöhnlich auf Kosten des anderen. Im kolonialgeschichtlichen Kontext sind diese Inhalte eng miteinander verflochten, doch ein besonderes Spannungsfeld bilden Charakter-Herrschaft-Wissen in ihrer für die Expansionsgeschichte des langen 19. Jahrhunderts prägenden Bedeutung.6 Taine zufolge entfaltete der Charakter-Begriff seine Blüte im 17. Jahrhundert.7 Für die koloniale Literatur aber lässt sich dieser Befund um 200 Jahre nach hinten datieren, denn kein anderes Zeitalter als das viktorianische und die frühen Jahre des 20. Jahrhunderts machten sich derartig intensiv die Debatte über den imperialen Charakter angelegen.8 Sie suchten zum einen historische 6 F. J. Cross: Character and Empire-Building, London 1911; Henry Jones Ford: The Ethics of Empire, in: Political Science Quarterly 22 (1907), S. 498–505; Ramsay Muir: The Character of the British Empire, New York 1917. 7 Hippolyte Taine: Histoire de la littérature anglaise, 4 Bde., Paris 1864, Bd. 2 (L’âge classique). 8 Benedikt Stuchtey: „Charakter“ und Geschichtspolitik in Großbritannien, in: Neue Politische Literatur 52 / 3 (2007), S. 365–373; ders.: James Brooke, Rajah von

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Vorbilder bis in die römische, nicht selten auch griechische Antike,9 zum anderen Gegenbilder in der Gegenwart. Charakter wurde dabei nahezu synonym für den sozialen, kulturellen, ethischen und politischen Habitus begriffen, und er war sowohl in Teilen von Generation zu Generation vererbbar als auch stets von neuem sozialisierbar. Wer „Charakter“ besaß bzw. erworben hatte, hatte nach Bourdieu mit Hilfe kultureller Praktiken und Urteile seine soziale Identität ausgebildet, um sich durch sein Verhalten unter Seinesgleichen beständig identifizieren lassen zu können.10 Schlüsselbegriffe wie Pflichterfüllung, paternalistische Fürsorge, militärischer „Schneid“, Zähigkeit und Ausdauer, hohe Opfer- und Leistungsbereitschaft, Haltung und Diensteifer gehörten dazu, eine gewisse elitäre Bildungsdistanz verbunden mit einem ebenso klaren, elitären Herrschaftsverständnis und schließlich eine anti-urbane, anti-materialistische, in den Kolonien gelebte, nahezu asketische Naturnähe ebenfalls. „Charakter“ zu besitzen konnte anerzogen werden, um die Fähigkeit zur Abgrenzung zu erhalten und das Bewusstsein zu Sarawak. Vom „Charakter“ und der Konstruktion eines viktorianischen Kolonialhelden, in: Historische Zeitschrift 298 (2014), S. 625–652. 9 Vgl. z. B. Edward Chauncey Baldwin: The relation of the English „character“ to its Greek prototype, in: Publications of the Modern Language Association 18 (1903), S. 412–423; John Brown Patterson: An Essay on the National Character of the Athenians, Edinburgh 1860. 10 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede, Frankfurt / M. 1992 (1982), S. 277–354. 11

entwickeln, diese (soziale und kulturelle) Abgrenzung sichere den Besitz gesellschaftlicher und politischer Funktionen bzw. kompensiere deren allmählichen Verlust.11 Enthaltsamkeit und Selbstlosigkeit im Dienst einer Aufgabe, sowie Individualität, Eigenverantwortlichkeit und die Bereitschaft zu einem einfachen, als „karg“ überhöhten Leben bekräftigten Führungsstärke und qualifizierten zu Höherem, also zu einem persönlichen oder einem übergeordneten Ziel. Es war ein soziales und ein symbolisches Kapital, das hier erworben wurde und das in seinen charismatischen, elitären Denkmustern wie in seinen Lebenswirklichkeiten sehr nah an Militarismus und Rassismus grenzte. Insbesondere für Verwaltungsbeamte sollte dieser Befund zutreffen, die bekanntlich gerne von sich behaupteten, in einem Imperium fühle sich erst dann wirklich sicher, wer erlernt habe, es ohne Soldaten zu regieren. Aber natürlich trug dies auch zur Legendenbildung eines „moral empire“ bei, sobald Anspruch und Realität allzu weit auseinander klafften und Gewalt den kolonialen Alltag bestimmte.12 11 Marcus Funck / Stephan Malinowski: „Charakter ist alles!“ Erziehungsideale und Erziehungspraktiken in deutschen Adelsfamilien des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 6 (2000), S. 71–91. 12 Michael Carrington: Officers, Gentlemen and Thieves. The Looting of Monasteries during the 1903 / 4 Younghusband Mission to Tibet, in: Modern Asian Studies 37 (2003), S. 81–109; ders.: Officers, Gentlemen, and Murderers: Lord Curzon’s campaign against ‚colli-

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Das „Oxford English Dictionary“ bietet verschiedene Deutungen an, darunter die Verfügbarkeit über „moral strength, backbone, reputation“, „mental or moral constitution“ oder die Eigenschaften einer „odd or eccentric person“.13 Darüber allerdings schrieb Catherine Gore, eine der profiliertesten Autorinnen und Beobachterinnen ihrer Gesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts, zu viele Ecken und Kanten der Menschen seien im Zuge von Erziehung und Zivilisation bereits abgeschliffen worden, zu wenige richtige Originale seien unter den Zeitgenossen, und zu häufig gingen Klischees ins Leere. Gleichwohl begegne den Engländern das immer gleiche Vorurteil: sie erfreuten sich am belanglosen Geplauder, seien, wie auch William M. Thackeray in „Vanity Fair“ (1847 / 48) darstellte, eitel und regierten dabei große Teile der Welt: „no one conversant with the social life of other nations, will deny the fact.“14 sions‘ between Indians and Europeans, 1899–1905, in: ebd. 47 (2013), S. 780–819; Marcus Collins: The fall of the English gentleman. The national character in decline, c.1918–1970, in: Historical Research 75 (2002), S. 90– 111; Graham Dawson: Soldier Heroes. British Adventure, Empire and the Imagining of Masculinities, London 1994. 13 The Oxford English Dictionary on Historical Principles, Bd. 1, hg. von C. T. Onions, Oxford 1933, S. 293. 14 Catherine Gore: Sketches of English Character (1846), London 2005, S. 27; ebf. George Unwin: A Note on the English Character, in: International Journal of Ethics 18 (1908), S. 459–465; Anon.: National Education and National Character, in: Daily Mail 5163 (7. Mai 1902), S. 5. 13

Mithin war Charakter entweder auf eine Person oder aber, und zwar überwiegend, auf eine größere, übergeordnete soziale Zusammengehörigkeit bezogen. In der Regel ist aus diesem Grund in den Quellen und in der Forschungsliteratur der Begriff des „national character“ zu finden.15 Dieser Befund schließt andere europäische und nicht-europäische Kolonialreiche nicht aus,16 aber im angelsächsi15 Peter Mandler: The English national character. The history of an idea from Edmund Burke to Tony Blair, New Haven und London 2006; Kathryn Tidrick: Empire and the English Character, London 1992; Richard Chenevix: An Essay Upon National Character, being an inquiry into some of the principal causes which contribute to form and modify the characters of nations in the state of civilisation, 2 Bde., London 1832, hier bes. Bd. 1, Kap. 7 (On Government), S. 202–369, und Bd. 2, Kap. 5 (On the Mutability of National Character), S. 530–579; Mandell Creighton: The English National Character, London 1896; Charles H. Pearson: National Life and Character. A Forecast, London 1913; Ernest Barker: National Character and the Factors in its Formation, London 1927; Arthur Bryant: The National Character, London 1934. 16 So z. B. Gerhard Masur: Der nationale Charakter als Problem der Deutschen Geschichte, in: Historische Zeitschrift 221 (1975), S. 603–622; Eric T. Jennings: Visions and Representations of French Empire, in: Journal of Modern History 77 (2005), S. 701–721; Jörg Baberowski: Auf der Suche nach Eindeutigkeit. Kolonialismus und zivilisatorische Mission im Zarenreich und der Sowjetunion, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 47 (1999), S. 482–504; Ian Morley: The cultural expansion of America. Imperialism, civic design and the Philippines in the early 1900s, in: European Journal of American Culture 29 (2010), S. 229–251; Ghao Zhao: Reinventing China. Imperial Qing Ideology and the Rise

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schen Umfeld bieten sich aufgrund der reichen Quellenbasis besonders reiche Forschungsfragen an. Denn im viktorianischen und edwardianischen England war man geradezu davon besessen, sich in diesem Sinne selbst zu beobachten bzw. die Außenbeobachtung einzuschätzen, die ihren Platz in einem größeren Zusammenhang von Erziehung und Moral- und Tugendverständnis hatte.17 Die zahlreichen, fast ausnahmslos anonymen, in der Regel in einem überheblichen und selbstgefälligen Ton verfassten Veröffentlichungen dazu spiegeln die europäischen und nicht-europäischen Perspektiven wider.18 Für die Ausbildung des viktorianischen „Charakters“ galten beispielsweise Demut und Bescheidenheit einerseits, Gemeinschaftsgefühl, Treue, Hilfsbereitschaft und gesellschaftlicher Einsatz andererseits als ausschlaggebende Konstanten des Wertesystems. Die von Robert Baof Modern Chinese National Identity in the Early Twentieth Century, in: Modern China 32 (2006), S. 3–30. 17 Nathan Roberts: Character in the mind. Citizenship, education and psychology in Britain, 1880–1914, in: History of Education 33 (2004), S. 177–197. 18 A French View of English Character, in: Reynold’s Newspaper (18. Mai 1862), S. 3; Herbert Strong: English Character Seen Through Italian Spectacles, 2 Teile, in: The Academy (20. und 27. Juli 1912); Italian versus English Character, in: The Crayon 7 (1860), S. 7–14; English Character from a German Standpoint, in: The Pall Mall Gazette (11. Aug. 1880), S. 11–12; An American Estimate of English Character, in: The London Journal (11. Feb. 1854); American Views of the English Character, in: The Reader (3. Okt. 1863), S. 367; Indian Sketches of English Character, in: The Huddersfield Daily Chronicle (3. Dez. 1874), S. 4. 15

den Powell ins Leben gerufene Pfadfinderbewegung traf diesbezüglich auf ideale Voraussetzungen, wenngleich das Problem der Führung eines tugendhaften Lebens freilich keine ausschließlich britische Erfindung war.19 Aber es warf Debatten über das innere und äußere Wesen des Empires auf, ähnlich denjenigen, allerdings in umgekehrter Richtung, die die Kritiker der kolonialen Expansion führten. Während nämlich Letztere befürchteten, der Imperialismus werde den Grundprinzipien des nationalen Zusammenhalts schaden und Freiheit und Verfassung unterhöhlen, begrüßten die Bewürworter der Expansion die Anwendung des Charakter-Begriffs als Argument. Weil es der Nation nicht an Tugend und Patriotismus fehle, sei sie zur kolonialen Herrschaft berufen, lautete die Denkweise, und indem sie diese Herrschaft ernst nehme, wende sie Schaden von ihrer inneren Verfassung ab; tue sie dies indessen nicht, befänden sich „Metropole“ wie koloniale „Peripherie“ unweigerlich in einem Prozess des Niedergangs.20 Wie nah die Vorstellungen von „Charakterformierungen“ ethnischen, zum Ende des Jahr19 M. Rosenthal: The Character Factory: Baden Powell and the Origins of the Boy Scout Movement, London 1986; R. Romani: National Character and Public Spirit in Britain and France, Cambridge 2002. 20 Vgl. J. M. Robertson: Patriotism and Empire, London 1898; H. F. Wyatt: The Ethics of Empire, in: The Nineteenth Century 41 (1897), S. 516–530; J. Lawson Walton: Imperialism, in: Contemporary Review 75 (1899), S. 305–310; Lord Milner: The Nation and the Empire, London 1913.

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hunderts zunehmend rassistischen, biologistischen und darwinistischen Vorstellungen gleichkommen konnten, lässt sich bis in die Terminologie und ihre Ambivalenzen hinein verfolgen. Für extreme Imperialisten kam die Verteidigung des „Charakters“ einer Verteidigung nationaler und imperialer Werte und Ziele gleich; für die radikalen Kritiker der Expansion war es das Gegenteil: in ihren Augen unterhöhlte der Kolonialismus die tradierten Vorstellungen von einer liberalen Verfassung des angelsächsischen Staatswesens. Als zum Beispiel Theodore Roosevelt über den Wert der „weißen“ Besiedlung Nordamerikas und Australiens reflektierte, war der republikanische Vertreter der amerikanischen Großmachtpolitik und spätere 26. Präsident der USA noch Mitglied der Kommission für den öffentlichen Dienst und Polizeichef von New York. Doch schon in dieser frühen Phase seiner politischen Laufbahn liess er an seinen imperialistischen Ansichten keine Zweifel aufkommen, die er später aktiv auf den Philippinen im Krieg mit Spanien und in der Verhängung eines Protektorats über Kuba (1902) umsetzte. Ohne seine rassistischen Anschauungen aber wäre seine politische Münze nur zur Hälfte geprägt geblieben. Unverhohlen und sich in den Zeitgeist bestens einfügend bekundete Roosevelt, die „white settlements“ seien dank ihrer demokratischen Regierungen und ihres „weißen Charakters“ gegenüber der chinesischen Einwanderung resistent geblieben, was im Gegensatz dazu den europäischen, von Monarchen geführten Imperien nicht gelänge; die Sklaverei in den Südstaaten, so fügte er hinzu, 17

sei ein Erbe der Netzwerke transimperialer und transozeanischer Aristokratien: „The whole civilization of the future owes a debt of gratitude greater than can be expressed in words to that democratic policy which has kept the temperate zones of the new and the newest worlds a heritage for the white people.“21 Auch Goldwin Smith, einer der produktivsten viktorianischen Autoren und persönlicher Brückenbauer zwischen den USA, Kanada und Großbritannien, reflektierte über die „Größe Englands“, die er als die Fortsetzung der „Größe der Römer“ interpretierte und meinte, die innere Logik imperialen Denkens aus der Logik des nationalen Charakters ableiten zu können.22 Dazu zählten, so Smith, Kultur, Religion, politische Traditionen und Umwelt, die in dieser Kombination eine schwierig zu bestimmende angelsächsische Identität und damit die Grundlage des Empires geschaffen hätten. Wo genau der Unterschied zwischen „nation“, „race“ und „character“ zu finden war, sollte einem kulturellen Zugang zu Vergangenheit und Gegenwart überlassen bleiben. Schlussendlich konnte daraus die Vision eines globalen Imperiums abgeleitet werden. Wo immer Engländer, ob als Forscher oder Eroberer, sich in der Welt bewegten, sollte ihnen die Si21 Theodore Roosevelt: National Life and Character, in: The Sewanee Review 2 (1894), S. 353–376, hier S. 366. 22 Goldwin Smith: The Greatness of the Romans, in: Contemporary Review 32 (1878), S. 321–338; ders.: The Greatness of England, in: Contemporary Review 34 (1878), S. 1–19.

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cherheit gewährleistet sein, sich mit den ihnen bekannten Bedingungen zurecht finden zu können.23 So konnte „Charakter“ in jedem Fall als eine Rechtfertigung für die Zivilisierungsmission verstanden werden, die ihrerseits das Empire nicht allein als ein militärisches, politisches, wirtschaftliches oder wissenschaftliches Projekt (um nur einige wenige zu nennen) betrachtete, sondern in erster Linie als ein ethisches, nachgerade moralisch-philosophisches.24 Charakter konnte in seiner Verwendung als Kurzform dafür die Verantwortung übernehmen, was eine Gesellschaft in ihrer Gesamtheit dazu befähigte und in der Folge dazu berechtigte, koloniale Herrschaft über andere auszuüben. Ohne die moralische Füllung des imperialen Denkgebäudes hätte diesem eine zentrale Stütze gefehlt. Als der liberale Premierminister Gladstone Ägypten 1882 besetzen ließ, empfing ihn eine ähnliche Kritik seitens der Weltöffentlichkeit, wie er sie an Disraelis Kolonialpolitik zuvor geübt hatte. Aber mit dem Argument, England besitze eine Aufgabe und eine koloniale Mission, rief er zu einer Form ethischer Geschlossenheit der Gesellschaft auf, die sich ihm als politische Geschlossenheit nicht geboten hätte. Liberalität und Moralität der Politik waren ineinander übergegangen.25 23 Goldwin Smith: The Empire, in: ders.: Essays on Questions of the Day, New York 1893, S. 141–195. 24 Jürgen Osterhammel: Europe, the ‚West‘, and the Civilizing Mission (Deutsches Historisches Institut London, The 2005 Annual Lecture), London 2006, S. 20ff. 25 William E. Gladstone: England’s Mission, in: The Nineteenth Century 4 (1878), S. 560–584; Anon.: Mr.

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Einem sensiblen Kommentator der Zeitäufte wie dem Juristen und Autor des seinerzeit zu einem Klassiker avancierten Buches „Introduction to the Study of the Law of the Constitution“ (1885), Albert Venn Dicey, blieben diese Verbindungen nicht verborgen, die sich ihm auch in der französischen Staatsphilosophie eröffneten.26 Diese These ist insofern attraktiv, als auch in der Epoche um 1900 und erneut von der jüngeren Forschung eine gegenteilige Überlegung angestellt worden ist, derzufolge sich der Empire-Diskurs im Laufe des 19. Jahrhunderts vom Konzept des von Macaulay und John Stuart Mill in Großbritannien sowie von Tocqueville in Frankreich angestoßenen und vertretenen „liberalen Imperialismus“ entfernt habe; die angebliche Liberalität der Expansion sei von der Aggressivität des Hochimperialismus verdrängt worden und zu einer leeren Hülle verkommen, weil auch die Zeitgenossen ihr nahezu aufklärerisches, idealisiertes Vorhaben einer Verbesserung der Menschheit nicht verwirklichen konnten und an der kolonialen Realität der Karibik, Afrikas Gladstone on the Development of Character, in: The Sheffield Daily Telegraph 6949 (20. Sept. 1877), S. 3; vgl. Benedikt Stuchtey: Die europäische Expansion und ihre Feinde. Kolonialismuskritik vom 18. bis in das 20. Jahrhundert, München 2010, S. 201–215; Peter Cain: Gladstone, Radicalism and the Liberal Critique of Disraelian „Imperialism“, in: Duncan Bell (Hg.): Victorian Visions of Global Order. Empire and International Relations in Nineteenth-Century Political Thought, Cambridge 2007, S. 215–238. 26 Albert Venn Dicey: Alexis de Tocqueville, in: National Review 21 (1893), S. 771–784. 20

und Asiens scheiterten. Das habe sich beispielsweise an einer sich radikalisierenden Gewaltbereitschaft der britischen Kolonialadministration zur Niederschlagung von Aufständen wie 1857 / 58 in Indien und 1865 auf Jamaika bewahrheitet.27 Einer der wortmächtigsten Vertreter dieser Auffassung war seinerzeit Henry Sumner Maine, Professor für Internationales Recht in Cambridge und Autor von bis in die Gegenwart viel zitierten Schriften.28 Maine war der Auffassung, die koloniale Expansion habe vor dem Hintergrund der überstürzten und gewaltigen Aufteilung Afrikas jegliche moralische Schwungkraft verwirkt. In seinen intellektuellen Spuren folgten Kolonialadministratoren wie Alfred Lyall bis hin zu Lord Cromer, deren Politik es wurde, mit Hilfe lokaler kooperierender Eliten „indirect rule“ einzufüh27 Jennifer Pitts: A Turn to Empire. The Rise of Imperial Liberalism in Britain and France, Princeton 2005, hier S.146–162; Mark Tunick: Tolerant Imperialism. John Stuart Mill’s Defense of British Rule in India, in: The Review of Politics 68 (2006), S. 586–611; Katherine Smits: John Stuart Mill on the Antipodes. Settler Violence against Indigenous Peoples and the Legitimacy of Colonial Rule, in: Australian Journal of Politics and History 54 (2008), S. 1–15; Partha Chatterjee: The Curious Career of Liberalism in India, in: Modern Intellectual History 8 (2011), S. 687–696. 28 Henry Sumner Maine: Ancient Law. Its Connection with the Early History of Society and its Relations to Modern Ideas, London 1861; ders.: Village Communities in the East and West, London 1881; hierzu Karuna Mantena: Alibis of Empire. Henry Maine and the Ends of Liberal Imperialism, Princeton 2010.

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ren.29 Zum einem sollten so die traditionellen Werte der indigenen Kulturen gegen den „westlichen“ Einfluss geschützt werden; zum anderen hatten sich die kolonialen Autoritäten auf diesem Wege von der Verantwortung für den Erfolg der Zivilisierungsmission, oder vielmehr für deren absehbaren Misserfolg angesichts kolonialer Krisen freigesprochen. Es sollte der Eindruck erweckt werden, dass eine voreilige Dekolonisation in politische und gesellschaftliche Anarchie münde, für die aber nicht die Kolonialherrschaft, sondern die angebliche Rückständigkeit der kolonisierten Völker die Schuld trage. Hieraus leitete sich die Rechtfertigung für eine restriktive militärische, polizeiliche und politische Kontrolle ab, deren ökonomischer und strategischer Wert unbezahlbar war, während der Reputationsverlust als ehemals moralisch „guter“ Imperialmacht zugleich erträglich erschien. Der mit kolonialer Herrschaft eng verwobene Aspekt der Sicherheit drängte sich gleichsam auf. Nach dieser Lesart wäre Lord Lugards Konzept als Alternative zum „liberal empire“ herangereift.30 War aber die Charakter-Debatte seitdem wirklich nur noch eine Stellvertreterdebatte, ein Alibi, 29 Alfred Lyall: The Rise of the British Dominion in India, London 1893; Evelyn Baring, Lord Cromer: The Government of Subject Races, in: Edinburgh Review 207 (1908), S. 1–27; ders.: Ancient and Modern Imperialism, New York 1910; s. Roger Owen: Lord Cromer. Victorian Imperialist, Edwardian Proconsul, Oxford 2004, S. 325–348. 30 Frederick John Dealtry Lugard: The Dual Mandate in British Tropical Africa, London 1922.

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um die hässlichen Seiten des Imperialismus zu verbergen? Oder ist nicht vielmehr davon auszugehen, dass es sich eine intellektuelle, kulturelle, politische und administrative Führungsschicht in der „Metropole“ nach wie vor zum Thema machte, das Gegenteil zu bewirken und Charakterfragen sowohl in der imperialen als auch in der nationalen Politik fest zu verankern und letztlich beide Bereiche als aufeinander angewiesene zu begreifen? Als eine Klammer um den nationalen wie imperialen Zusammenhang bietet sich mit Peter Cain die Vorstellung von einer „geordneten Freiheit“ an, nach der die Errungenschaften der englischen Nationalgeschichte seit der Glorreichen Revolution in ihrer whiggistischen Interpretation auf die Kolonien übertragbar waren.31 Dieses Narrativ transportierte nicht nur die angebliche (liberale) Erfolgsgeschichte von Freiheit, Fortschritt und Wohlstand, sondern bestätigte ihre ungebrochene Tradition im „Zentrum“. Zweifellos profitierte davon eine kleine Elite der „gentlemen“, die in „Metropole“ wie in kolonialer „Peripherie“ ein dichtes, in diesem Sinne kulturelles und auf kolonialem Wissen basierendes Netzwerk errichtete. Durch ihr bloßes Wirken bewies sie die transnationale Verflechtung des Charakterbegriffs, wie ihn zum Beispiel Lord Meath 31 Peter J. Cain: Character, ‚Ordered Liberty‘, and the Mission to Civilise: British Moral Justification of Empire, 1870–1914, in: Journal of Imperial and Commonwealth History 40 (2012), S. 557–578; ders.: Empire and the languages of character and virtue in later Victorian and Edwardian Britain, in: Modern Intellectual History 4 (2007), S. 249–273.

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im 1903 von ihm ins Leben gerufenen „Empire Day“ einforderte.32 Auf dieser Fragestellung basieren die folgenden Schilderungen, sie sind in drei Schritte gegliedert: Der erste Teil entwickelt Themen und Panoramen, der zweite wendet sich einem konkreten historischen Beispiel zu, daraufhin benennt der dritte Forschungsprobleme.

32 Lord Meath: Our Empire. Past and present, Bd. 2 (Britain in Asia), London 1901.

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I. Annäherungen. Themen: Imperiale Biographien 1. Im „Zeitalter der Imperien“ (Eric Hobsbawm),33 um 1900, weite Rückblicke und Ausblicke miteingerechnet, kristallisierten sich in direkter Wechselbeziehung zueinander interkulturelle Begegnungen von Menschen heraus, deren Bewegungshorizonte im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend global geworden waren und deren intellektuelle und kulturelle Profile sich von den Zeitläuften der imperialen Expansion maßgeblich prägen ließen. Ihre Wahrnehmung des „Anderen“ äußerte sich ebenfalls im Selbstverständnis kolonialer Ausdehnung. Ihre imperialen Biographien und ihre Vorstellungswelten formten sich als ineinander verschränkte, über Begegnungen, über Charakterformierungen, Herrschaftspostulate und Wissensaneignungen geschaffene Systeme, denen ihrerseits, das ist selbstverständlich mitzudenken, Stereotype und Vorurteile gegenüber dem Nahen und Ferneren anhafteten.34 Forschungen mit bio33 Eric Hobsbawm: The Age of Empire, 1875–1914 (1987), London 1999; s. ebf. Christopher A. Bayly: The Birth of the Modern World 1780–1914. Global connections and comparisons, Oxford 2004. 34 Vgl. Anon.: Scottish National Character, in: Blackwood’s Edinburgh Magazine 87 (Juni 1860),

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graphiegeschichtlicher Perspektive und Arbeiten, in deren Mittelpunkt transimperiale, global wirkende Persönlichkeiten stehen, haben entsprechend in der jüngeren Zeit maßgebliche Impulse gegeben.35 Im Unterschied zur anglo-amerikanischen Forschung, die nicht zuletzt das unersetzliche Dictionary of National Biography besitzt und seit jeher die Biographie schätzt, wird in der deutschund auch in der französischsprachigen Forschungswelt erst allmählich der Wert biographischer Zugänge zur Geschichte wieder höher eingestuft. S. 715–731; J. L. Gorst: The Oriental Character, in: Anglo-Saxon Review 2 (1899), S. 124–138; Anon.: The Character of the Turk, in: The Sheffield Daily Telegraph 6699 (30. Nov. 1876), S. 5; Anon.: The Egyptian Character, in: The Sheffield Daily Telegraph 8492 (9. Sept. 1882), S. 3; Anon.: Chinese Character, in: Liverpool Mercury (23. Febr. 1878); E. G. J. Moyna: Western Influence on Japanese Character, in: Macmillan’s Magazine 92 (Mai 1905), S. 18–22; Walter Weston: The Influence of Nature on Japanese Character, in: The Geographical Journal 63 (Febr. 1924), S. 106–119; August William Reinhard: The German Character. Its Influence on the Formation of the American National Character, Dubuque / Iowa 1916. 35 Isabella Löhr: Lives Beyond Borders, or: How to Trace Global Biographies, 1880–1950, in: Comparativ 23 (2013), S. 7–21; Malte Rolf: Imperiale Biographien. Lebenswege imperialer Akteure in Groß- und Kolonialreichen (1850–1918), in: Geschichte und Gesellschaft 40 (2014), S. 5–21; David Lambert / Alan Lester (Hg.): Colonial Lives across the British Empire. Imperial Careering in the Long Nineteenth Century, Cambridge 2006; Sugata Bose / Kris Manjapra (Hg.): Cosmopolitan Thought Zones: South Asia and the Global Circulation of Ideas, Basingstoke 2010. 26

Für die Imperial- und Globalgeschichte bieten sie sich auch deshalb an, weil trans- und intraimperiale Bewegungen, Verflechtungen und Begegnungen gut nachverfolgt werden können – seien sie die (Kollektiv-)Biographien von Missionaren oder Forschern, Kolonialbeamten oder militärischem Personal, Kaufleuten oder Ärzten und vielen anderen. Sie bewegten und begegneten sich über die imperialen und kontinentalen Grenzen hinaus. Zudem lässt sich davon ausgehen, dass diese bürgerlichen gebildeten Schichten, im Englischen: „middle classes“ bzw. „gentlemen“, eine transnationale Kultur entwickelten und keineswegs ausschließlich im europäischen und amerikanischen „Westen“ in ihrer Bürgerlichkeit anzutreffen waren. Ihre Ideen, Vorstellungswelten und auch materiellen Werte waren nahezu global vorhanden. Sie bildeten – was mindestens ebenso wichtig ist – keine genuin „westlichen“ Erscheinungen aus, die vom „Westen“ in die Welt getragen worden wären, sondern waren von vorneherein transnational angelegt, indem sie seit Anbeginn von ihren professionellen globalen Verflechtungen profitierten. Will man nach einem Beispiel des 20. Jahrhunderts suchen, das zumal in der Verbindung mit dem Charakter-Begriff nahezu einmalig eine globale Biograpie verkörperte insofern, als er nicht nur in den Kontinenten Europa, Afrika und Asien zuhause war, sondern insbesondere weltweit zu Lebzeiten und seit seinem Tod rezipiert wurde, so gerät zwangsläufig Mohandas Karamchand Gandhi in den Blick. Wohl keine andere Persönlichkeit ist jemals und seitdem von einer derart authentisch 27

globalen Statur gewesen wie er.36 Und an seinen Sohn Manilal schrieb Gandhi aus Südafrika im Oktober 1904: „education does not mean a knowledge of letters but it means character building – it means a knowledge of duty.“37 2. Imperien wie das britische in Indien schufen sich zu Gandhis Zeit Ermöglichungsräume unzähliger Formen von Gewalt und Wissen, und sicherlich kann man feststellen, dass koloniale Herrschaft eine Art dauerhaften Ausnahmezustand darstellte. Die Extreme von Rassismus, Vertreibung, Folter, Flucht, Zwangsarbeit und Sklaverei, um nur einige zu nennen, illustrieren dies, die Folgen von kolonialer Misswirtschaft, Hunger und Teilung von Land ebenso. Zwiegespalten, ob sie schlussendlich bewundernd oder verurteilend das Britische Weltreich beschreiben sollten, nannten deutsche Kommentatoren oftmals seinen Wert in der Schaffung eines Gleichgewichts zwischen der amerikanischen und der russischen kolonialen Expansion. Aber ein Bedauern über den möglichen, an sich einer angeblichen historischen Gesetzmäßigkeit folgend unvermeidbaren Niedergang des Empires stellte sich nicht ein: „Weit eher würde man mit Schadenfreude auf das grosse Ereignis blicken, welches ja keinen wahrhaft tragischen Charakter hätte, weil das Gebäude der englischen Weltmacht doch weit 36 Ramachandra Guha: Gandhi before India, London 2014, S. 2. 37 Gandhi in einem Brief an Manilal, Okt. 1904, National Archives of India, New Delhi, Gandhi-Kallenbach Collection 121 / I-2.

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weniger auf moralischen Kräften als auf der überragenden Kapitalmacht beruht.“38 Denjenigen Zeitgenossen, die an die imperiale Expansion Charakterbildung und ethisches Handeln knüpften, stellte sich dieses Problem durchaus, weshalb sie davon ausgingen, dass koloniale Herrschaft, sofern sie „gut“ und im Sinne einer gezügelten Zivilisierungsmission ausgeübt werde, auf geringere berechtigte Kritik stoßen würde als jene, die beispielsweise politische, ethische oder ökonomische, in jedem Fall medienwirksame Skandale provozierte.39 In der deutschen Literatur gingen positive und negative Beurteilungen oftmals ineinander über; das Land Beethovens und Wagners glaubte behaupten zu können, sein Gegenüber besitze keine Musik, aber dafür habe es das „fair-play“ erfunden, das zu befolgen eine sportliche und eine militärische Pflicht und Tugend sei.40 In welchem Spannungsfeld es sich damit zum religiösen Leben befand, stand auf einem anderen Blatt.41 38 C. Frantz: Grossmacht und Weltmacht, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888), S. 675–722, hier S. 710. 39 Frank Bösch: Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, München 2009; Jean-Paul Lefebvre-Filleau: Les scandales de la IIIe République, Paris 2005. 40 Oscar A. H. Schmitz: Das Land ohne Musik. Englische Gesellschaftsprobleme, München 1915; Rudolf Kircher: Fair Play. Sport, Spiel und Geist in England, Frankfurt / M. 1927. 41 Anon.: Sunday Football and National Character, in: Essex County Chronicle 7365 (8. Dez. 1905), S. 3.

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Um den kolonialen Missständen zu begegnen, diente die „Charakterbildung“ im kolonialen bzw. imperialen Umfeld der Aufgabe, der vermeintlichen Selbstverständlichkeit, ja historisch begründeten „Natürlichkeit“ der Expansion eine Form der kontrollierten Verantwortlichkeit zur Seite zu stellen. Wer die koloniale Ausdehnung betreibe, der möge sie ethisch fundiert betreiben, empfahl ein Autor aus Baltimore und genauer Beobachter des amerikanischen Imperialismus. Die Bildung von Imperien sei welthistorisch „the universal tendency of organisms to extend into the media one of another, and gives a biological explanation of the fact – everywhere and always historically evident – that empire issues naturally from supremacy within any sphere.“42 Imperiale Formationen waren in ihrem eigenen Herrschaftsraum auf Kooperation, wenn nicht sogar Kollaboration der lokalen Bevölkerung angewiesen, und darüber hinaus auf intra-imperiale Begegnungen. Spätestens um 1900 war die Welt so zusammengerückt worden, dass Imperialismen und Sub-Imperialismen nicht völlig unabhängig voneinander bestanden, sondern unwillkürlich miteinander verflochten waren. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs schrieb der zeitweilige Geschichtsprofessor an der Universität Manchester und liberale Politiker, Ramsay Muir, das Rückgrat des Empires stelle die englische Verfassung dar, deren Wirkung er vornehmlich in den „self-governing dominions“ verfolgte. Eine Vergleichbarkeit 42

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Ford: The Ethics of Empire, S. 498–499.

mit anderen europäischen Kolonialmächten – Muir nannte Frankreich, Belgien, Italien und das Deutsche Reich – sei in diesem Kontext nicht gegeben, dagegen aber in der jüngeren kolonialen Inbesitznahme des Großteils Afrikas. Nur Algerien im französischen, Indien ähnlich im britischen Fall, seien hiervon als „ancient civilisations“ ausgenommen, für die die Anwendung der gleichfalls „ancient constitution“ der westeuropäischen Staaten gelte. Was sie verbinde, sei das Gerüst der freiheitlichen Verfassung, das sich im britischen Fall auf die Prinzipien von Recht und Gesetz stütze.43 Nach der Überwindung eines Ausnahmezustands (Krieg, Aufstand, Hungerkatastrophe) war es eine Aufgabe dieser Konstanten, den geregelten verfassungsmäßigen Zustand wieder einzurichten.44 Schon James Anthony Froude, Charles Dilke und andere hatten vor Muir diesen Punkt wiederholt angemahnt und auf die Bedeutung der „settlement colonies“ hingewiesen, die gemeinsam mit Indien ihrer Meinung nach das eigentliche Empire in Gestalt eines „greater Britain“ ausmachten und diesbezüglich Räume der Charakterbildung zur Verfügung stellten.45 Da43 Muir: The Character of the British Empire, S. 20; vgl. Benedikt Stuchtey: Freiheit und Gesetz. Über Völkerrecht und Verfassung im Britischen Empire, in: Der Staat. Beiheft 23 (2015), S. 115–135. 44 Jon Lawrence: Forging a peaceable kingdom: War, violence, and the fear of brutalization in post-First World War Britain, in: Journal of Modern History 75 (2003), S. 557–589. 45 James Anthony Froude: Oceana, or England and her Colonies, London 1886; Charles Wentworth Dilke: Problems of Greater Britain, 2 Bde., London 1890; vgl.

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mit gerieten sie in Konkurrenz zum Britischen Empire in Afrika und in der Karibik, aber rückten im Sinne einer „Anglo World“ näher zusammen.46 3. Inwieweit dies auch einem Sicherheitsbedürfnis entsprang, ist ein Forschungsdesiderat, das der ganz zu Unrecht unterschätzte Oxforder Beit Professor of the History of the British Empire, Vincent Harlow, in seinem Buch „The Character of British Imperialism“ bereits 1939 am Rande angedeutet hat. Harlow schrieb, der Imperialismus habe eine der schrecklichsten Geißeln der Menschheit sein können, aber, „contrariwise, it can provide a fruitful field of experiment in the difficult art of inter-racial co-operation.“47 Zeitgleich diskutierte John Murray, der liberale Politiker und Erziehungswissenschaftler, über die Bedeutung der britischen Kultur. Ihre Vielfalt verdanke sie einer Mischung aus „freedom and security“ (…) „Their domestic security the English owe to geography, common sense, and good method.“ Diesen „sense“ zu verstehen sei der Schlüssel zum Verständnis ihres Charakters.48 Auch Harlow, der Historiker, der zeitweise dem inneren Zirkel des Colonial Office Duncan Bell: The Idea of Greater Britain. Empire and the future of world order, 1860–1900, Princeton und Oxford 2007, S. 188–193. 46 James Belich: Replenishing the Earth. The Settler Revolution and the Rise of the Anglo-World, 1783– 1939, Oxford 2009, S. 456–478. 47 Vincent Todd Harlow: The Character of British Imperialism, London 1939, S. 7. 48 John Murray: English Character, in: Études anglaises 3 (1939), S. 20–26, hier S. 22. 32

angehört hatte und insbesondere ein ausgezeichneter Kenner der Geschichte der Karibik war, wusste, dass Wissen und Charakter ambivalent, aber erforderlich für Herrschaft, Autorität und für imperiale Macht waren. Letztere bezeichnete er als Ausdruck der dynamischen, gleichwohl kaum kontrollierbaren Qualitäten der menschlichen Natur und in diesem Sinne den Imperialismus als einen sich stets von neuem stellenden Testfall für den moralischen Zustand der Nation.49 Als Harlow diese Gedanken äußerte, stand er ganz unter dem Eindruck der einsetzenden Dekolonisation. Komplizierte und doppelwertige Begriffe wie Moral und Nation hinterfragte er nicht. Was ihn aber interessierte, war das Phänomen der historischen Kontinuität dekolonialer Prozesse, deren Krisenhaftigkeit er im Zuge der Amerikanischen Revolution und Unabhängigkeit als exemplarisch für das imperiale System wahrnahm. Der zweite, von ihm verfasste Band der „Cambridge History of the British Empire“ (1940) besitzt genau diese Fragestellung und spannt den Bogen vom atlantischen zum europäischen bis asiatischen Raum, indem er zwischen Amerika, Irland und Indien wichtige Parallelen in ihrer konstitutionellen Selbstverortung im Britischen Empire sah. Kein anderer als Edmund Burke hatte sich zuvor so konzentriert mit diesem Problem befasst.50 49 Vincent Todd Harlow: The Historian and British Colonial History, London 1951. 50 Frederick G. Whelan: Edmund Burke and India. Political Morality and Empire, Pittsburgh (PA) 1996, S. 19–23.

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Was Harlow für das britische Empire konstatierte, hatte der Karikaturist des amerikanischen „Schulbeginns“ bereits gleichermaßen in Szene zu setzen gewusst (vgl. Abb. 1: „School begins“). Der US-amerikanische Imperialismus war, verglichen mit seinen europäischen Entsprechungen, zwar ein Anfänger, aber in seiner Schule drängte es sich doch beeindruckend. So glaubt der strenge Schullehrer auf der anderen Seite des Atlantik zu wissen, warum er zu seinen Schülern in der ersten Reihe (Hawaii und Kuba, Porto Rico und Philippinen) besonders aufmerksam sein muss, gleichzeitig ihm aber gar nicht aufzufallen scheint, dass derjenige, der an der Eingangstür zum „American way of empire“ hockt, sein Schulbuch noch falsch herum hält. Und dann ist da ein weiterer (chinesischer) Schüler, der das Klassenzimmer von außen interessiert mustert, während die Personifikationen von Kalifornien, Texas, Alaska und allen anderen an ihren Tischen ordentlich sitzend strebsam studieren. Hinter ihnen auf der Tafel steht geschrieben: „The U.S. must govern its new territories with or without their consent until they can govern themselves“. Es fügte sich auch der US-amerikanische Imperialismus, der sich in der Regel und im Vergleich mit den anderen Imperialmächten als Ausnahme, nachgerade als außergewöhnlich begriff, in die zivilisierungsmissionarische Denkweise in einer Zeitspanne von mehr als 50 Jahren nahtlos ein.51 51 Anon.: Character, in: North American Review 102 (1866), S. 356–373; Arthur Twining Hadley: Our Nation-

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Abb. 1: School begins. Louis Dalrymple: Puck, 25. Januar 1899

Davon konnte sich ein Bild machen, wer dem Kolonialdienst beitreten wollte. Denn hier sollte das Lehrbuch der weiten Welt, nicht das blutleere Lehrbuch der engen Schulbank vermittelt werden, ein Standpunkt von beeindruckender Hartnäckigkeit im langen 19. Jahrhundert bis in das erste Drittel des zwanzigsten, als es seine Anziehungskraft endlich einbüßte.52 Dem viktorianischen Persönlichkeitsideal entsprach nicht der gewöhnliche al Character, its strength and its weakness, in: The Current History Magazine, New York (1. Okt. 1923), S. 1–9; vgl. Frank Schumacher: Das Imperium als historischer Auftrag. Geschichts-Bilder auf der Weltausstellung von St. Louis, 1904, in: Comparativ 19 (2009), S. 66–84. 52 So z. B. Outlines of Character: By a Member of the Philomathic Institution, London 1823, hier S. 75–86; Horace Hutchinson: The Evolution of the Englishman, in: The Monthly Review (April 1901), S. 136–146. 35

Funktionär, oder noch unliebsamer, der französische oder deutsche Bürokrat. Zur Mitgliedschaft in der imperialen Trägerschicht durfte sich berufen fühlen, wer stattdessen das Ethos des Gentleman pflegte, zu dem ein christliches, sendungsideologisches Selbstverständnis gehörte und die Fähigkeit zu charismatischem, heldischem Wirken. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Empire-Literatur dieses Bild des „charakterstarken“ Einzelnen, ob als Grenzkämpfer oder Siedler oder als sich selbst überlassener District Officer, die jeweils in der Einsamkeit ihrer Entscheidungen ihre Persönlichkeiten ausbildeten. So verstandene koloniale Herrschaft war einzigartige Berufung auf der einen, fortwährende Bewährung auf der anderen Seite. Es drückte sich in ihr die Vorstellungswelt einer mühelosen, ohne Anstrengung errungenen Überlegenheit aus, mit der, anschaulich am Beispiel Indiens, eine verschwindend kleine Minderheit von Briten die Macht über einen Subkontinent ausübte. Der bürgerlichen Erlangung von kulturellem Kapital durch Wissen und Bildung stand die Erlangung von militärisch diszipliniertem, konformistischem Kapital charakterlicher Eignung gegenüber – eine Schule der Moral für die Moral in der Politik.53 Für die Sozialisation auf der imperialen Karriereleiter war dies von entscheidender Bedeutung. Zähigkeit und Gemeinschaftssinn auf der einen Seite, eine gewisse Art sozialen Aufbegehrens 53 Julius H. Seelye: The Moral Character in Politics, in: North American Review 138 (1884), S. 301–309.

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und Ungehorsams auf der anderen waren schließlich aufs Engste aufeinander abgestimmt. Von zukünftigen Führungspersönlichkeiten konnte gleichsam erwartet werden, dass sie in ihrer Kindheit und Jugend in der Schule unglücklich, aber auf dem Kasernenhof des Lebens glücklich waren. Das war kein Widerspruch, sondern die Logik eines zum Mythos gereichenden Ideals.54 Für die Aufnahme in den Verwaltungsdienst des Empires mussten bis in die 1880er Jahre noch nicht einmal Tests bestanden werden.55 Das Prüfen von Blick und Lippenform sollte genügen, um den Esprit de corps eines Gentleman of leisure zu erkennen. Gelehrsamkeit war jedenfalls nicht nützlich, auch wenn die Erziehung gewöhnlich in den besten Public Schools und in Oxbridge genossen wurde. Ein Kandidat soll bei einer Aufnahmeprüfung durchgefallen sein, wohl weil er ostentativ jene Seite der Tageszeitung „Times“ zum Bewerbungsinterview aufgeschlagen mitbrachte, die das von ihm komplett gelöste Kreuzworträtsel zeigte.56 Es war ei54 Anon.: Character of a True Gentleman, in: Devizes and Wiltshire Gazette 2189 (31. Dez. 1857), S. 4. 55 Lord Carnarvon: Imperial Administration, in: Fortnightly Review, new series 24 (1878), S. 751–764; Hannis Taylor: England’s Colonial Empire, in: The North American Review 162 (1896), S. 682–697; im Vergleich dazu: Hans Zache: Die Ausbildung der Kolonialbeamten, in: Koloniale Abhandlungen 17 (1912), S. 2–34; Johannes Tesch: Die Laufbahn der deutschen Kolonialbeamten, ihre Pflichten und Rechte, Berlin 1912. 56 Nach wie vor eine unersetzliche Studie über die viktorianischen Kolonialgouverneure: L. H. Gann / P. Duignan: The Rulers of British Africa, 1870–1914, Lon-

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Abb. 2: The white man’s burden. Judge, 1. April 1899

nerlei: wo das Wissen nicht weiterhalf, oder wo es genügte – es ersetzte der Charakter, jene antiquierte und doch zugleich zeitlose Erscheinung der franziskanischen Selbstverleugnung im Dienste der Sache, nämlich der Zivilisation, zu der John Bull und Uncle Sam die Menschheit über alle Widrigkeiten hinweg führten (vgl. Abb. 2: „The white man’s burden“). Selbst der eloquente John Hobson, noch um 1900 der schärfste Kritiker der kolonialen Expandon 1978; zur Definition des „Gentleman“ s. Peter J. Cain / Antony G. Hopkins: British Imperialism. Crisis and Deconstruction 1914–1990, London 1993, S. 25: „Gentlemen continued to give ‚service‘ rather than to make profits, and this ideal of service formed a bond of union across the whole professional class.“ 38

sion, Autor erster systematischer Imperialismusinterpretationen und Advokat der Internationalisierung der Politik, ließ sich von der Begeisterung für eine gesellschaftliche Übertragung individueller charakterlicher Eigenschaften einnehmen.57 Die entsagungsvolle Aufopferung, mit der die Bürde des (angelsächsischen) „weißen Mannes“ getragen wurde, um die Völker der Welt (beispielsweise China und Indien von den Briten, Kuba und die Philippinen von den USA) zum Fortschritt zu geleiten, war um so bewundernswerter, je steiler der Weg bergauf die großen Felsen der Barbarei, Unterdrückung und Verderbtheit, desweiteren die Sklaverei und den Kannibalismus überwindend doch schließlich zum ersehnten Gipfel führte, auf dem die Zivilisation das Plakat der Freiheit in ihren Händen hielt. Kiplings gleichnamigem Gedicht von 1899 zufolge aber war die imperiale Verpflichtung zu einer weltweiten, insgesamt zwar notwendigen, aber auch bitteren Last geworden, die das Britische Empire nicht länger alleine schultern konnte.58 Das Empire kultivierte in Person seiner „Gentlemen“ die Tugend des „leadership“, und der missionarische Eifer und das evangelikale 57 John A. Hobson: Character and Society, in: P. A. Parker (Hg.): Character and Life. A Symposium, London 1912, S. 55–102; ders.: The Psychology of Jingoism, London 1901; ders.: Imperialism. A Study, London 1902; ders.: Towards International Government, London 1915. 58 Rudyard Kipling: The White Man’s Burden, abgedruckt in: Jane Samson (Hg.): The British Empire (Reader), Oxford und New York 2001, S. 188–189.

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Pflichtbewusstsein taten ihr Übriges für dessen globale Verbreitung: „The imperial mission was the export version of the gentlemanly order.“59 Insofern erwies sich der imperiale Konkurrent jenseits des Atlantiks ebenso als ein Partner, wozu Zeitgenossen wie John Robert Seeley, der intime Kenner der historischen Überdehnung des klassischen Römischen Weltreichs, wiederholt aufforderten, während Andere diese Tendenz kritisch beobachteten.60 Doch war eine lediglich geteilte Aufgabe noch keine wesentlich verringerte, aber man hatte zumindest die Idee angedacht, dass aufgrund der „charakterlichen“ Nähe zwischen Großbritannien und den USA eine allmähliche Übertragung der Verantwortung möglich und notwendig sei. Es war nur eine Frage der Zeit, so hofften so prominente Intellektuelle wie James Bryce und Industrielle wie Andrew Carnegie vor dem Hintergrund der virulenten britischen decline-Debatten, dass sich die USA ihrer menschheitsbefreienden Sen59 Peter J. Cain / Antony G. Hopkins: British Imperialism. Innovation and Expansion 1688–1914, London 1993, S. 34; ebf. bis in die Mitte des 20. Jhs.: Matthew Grimley: The Religion of Englishness. Puritanism, Providentialism, and „National Character“, 1918–1945, in: Journal of British Studies 46 (2007), S. 884–906. 60 John Robert Seeley: Roman Imperialism, I–III, in: Macmillan’s Magazine 20 (1869), S. 185–197, S. 281– 291, S. 473–484; ders.: Georgian and Victorian Expansion: The Rede Lecture, 1887, in: Fortnightly Review 42 (1887), S. 23–39; Goldwin Smith: Imperialism in the United States, in: Contemporary Review 75 (1899), S. 620–629; William Thomas Stead: The Americanization of the World, New York 1901.

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dung und der Selbstbestimmung und Gleichberechtigung aller Völker besannen.61 Bryce, der Jurist und Politiker, Mitglied im letzten Kabinett Gladstone und nach mehreren Aufenthalten exzellenter Kenner der USA sowie Indiens und Autor des dreibändigen Werks „The American Commonwealth“ (1888), entwickelte eine Vereinbarkeit zwischen den US-geschichtlichen Leitideen des non-intervention einerseits und geordneten, zukunftsorientierten und weltmarktpolitischen Richtsätzen andererseits, die eine Durchdringung der Welt mit den Mitteln des informal imperialism erlaubten. Carnegie, der 1848 aus Schottland in die USA gekommen war, setzte sein riesiges, mit Kohle und Stahl erworbenes Vermögen ein, um dem Modell des Anglo-Saxondom eine moralisch-humanitäre Basis zu verleihen, die indessen an der angelsächsischen Vormachtsstellung keine Zweifel ließ.62 Der oben genannte Begriff der „ordered liberty“ (Cain) fand so seine direkte Anwendung.63

61 James Bryce: An Age of Discontent, in: Contemporary Review 49 (1891), S. 14–30; Andrew Carnegie: Imperial Federation. An American View, in: The Nineteenth Century 30 (1891), S. 490–508; ders.: The Reunion of Britain and America. A Look Ahead, Edinburgh 1898. 62 Andrew Carnegie: Americanism versus Imperialism, in: The North American Review 168 (1899), S. 1–13. 63 Ebf. bereits Victor Kiernan: America, the New Imperialism: From white settlement to world hegemony, London 1980.

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II. Besichtigungen. Spielen: Cricket Trainiert werden sollten „geordnete Freiheit“ ebenso wie die Selbstverleugnung zum Beispiel auf dem Cricket-Pitch. In seinem Alterswerk schrieb der auffällig am Sozialreformer und Künstler John Ruskin sich orientierende anglo-irische Historiker Lecky, sportliche „out-of-door“-Aktivitäten wie z. B. Cricket und andere „athletic games“ (…) „give lessons of courage, perseverance, energy, self-restraint, and cheerful acquiescence in disappointment and defeat that are of no small value in the formation of character (…).“ Dabei habe der sportliche Ehrgeiz den geistigen übertreffen können, weil er mehr „extravagant glorification“ hervorrufe; stärker als durch intellektuelle Tätigkeiten bewähre sich der junge Gentleman auf dem Spielfeld, bevor ihn Aufgaben im Empire erwarteten.64 An diesem Beispiel lässt sich gut illustrieren, was sich als ein imperialer Exportartikel in seinem symbolischen, gleichsam zeitlosen Gehalt eignete und sogar amerikanische Begehrlichkeiten weckte, und seien sie auch nur im Sammeln von Trophäen und Pokalen 64 W. E. H. Lecky: The Map of Life. Conduct and Character, London 1899, Zitate auf den S. 224 u. 225; vgl. Anon.: Mr. Ruskin on English Character, in: The Manchester Guardian (17. Jan. 1888), S. 8.

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Abb. 3: The Collector, Punch, 6. August 1913

(vgl. Abb. 3: „The Collector“). Der Amerikaner wendet sich an den Briten mit den Worten: „Say, John, what’s this game anyway? Cricket? Well, see here, mail me a copy of the rules, with date of next international championship. I’m just crazy on cups.“ Die Clubmitgliedschaft besitzt er noch nicht und ebenso wenig die richtige Ausrüstung, was ihm einen skeptischen Blick seines britischen Gegenüber beschert. Aber indem er ein Schiffsmodell in den Händen hält, signalisiert er die Bereitschaft und Fähigkeit zur Kontrolle der Weltmeere, was dem Repräsentanten der Royal Navy, der noch konkurrenzlosen Seemacht im 19. und frühen 20. Jahrhundert, wenig gefallen haben dürfte. 43

Sollte er also überdies die Herrschaft über ein imperiales Spiel abtreten oder zumindest den Verein ausgerechnet für denjenigen wieder öffnen, der ihm seit dem 4. Juli 1776 doch gar nicht mehr angehört haben wollte? Aber wahrscheinlich ist die Skepsis mit einer gewissen Gelassenheit zu übersetzen, die dem innewohnte, der die sportliche Seite des Cricket vornehmlich als eine Übung in der Charakterbildung begriff. Der „Bat“, der aus einem einzigen Stück Weidenholz gefertigte Schlagstock des Batsman, ist wie das Langschwert des mittelalterlichen Ritters; das „Wicket“ gleicht einer Burg: es besteht aus drei in den Boden gerammten Holzpflöckchen, den „stumps“, die an ihren oberen Enden kleine Vertiefungen haben, in denen die Querhölzchen, die „bails“, liegen. Das Wicket mit einem Ballwurf zu zerstören, ist Aufgabe des „Bowlers“, es zu verteidigen diejenige des Batsman. Es geht also stets prinzipiell um Eroberung (wie die Eroberung einer Burg), um Herrschaft, präsizes Wissen, und doch zugleich um die Gelassenheit des Gentleman, der in der Geometrie des Spielfeldes, dem 22 yards langen Pitch, die Komplexität des Empires unterbringt, weniges dem Zufall überlässt, aber seinen Zuschauern den Eindruck vermitteln muss, als gehe ihn das leidenschaftslose, sich über mehrere Tage hinziehende Spiel anscheinend gar nichts an. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert war dies Empire-building der geistigen Abwesenheit ganz im Sinne Seeleys, die bedeutete, die Nationalgeschichte und die Expansionsgeschichte entfalteten sich Hand in Hand, beide seien miteinander ver44

woben mit Hilfe eines gesetzlich historischen Entwicklungsprozesses eines, wie Seeley sagte, „maritime, colonising and industrial country“, oder wie es sein Schüler Egerton in Worte fasste: „our Colonies are only England beyond the seas – a greater England but all the same.“65 Und dies war außerdem class-building zwischen Herrschern und Beherrschten. Bezeichnenderweise nannte man Cricket ursprünglich „handyn and handoute“.66 Einem Eintrag im Dictionary of National Biography zufolge gilt der frühviktorianische Thomas Arnold, Rektor der Privatschule von Rugby, als der Gründungsvater des „Sports and Character movement“,67 demnach eine unzertrennliche Angelegenheit, wie sich im Laufe der folgenden 50 Jahre und danach bestätigen sollte.68 Wer den Prozess 65 John Robert Seeley: The Expansion of England. Two courses of lectures, London 1883, S. 10 und 80; Hugh Edward Egerton: A Short History of British Colonial Policy, London 1897, S. 6. 66 Im Folgenden nach: Peter J. Cain: Education, Income and Status. Amateur Cricketers in England and Wales c.1840 – c.1930, in: Sport in History 30 (2010), S. 351–373; Derek Birley: A Social History of English Cricket, London 1999; ders.: Land of Sport and Glory. Sport and British Society, 1887–1910, Manchester 1993; Jack Williams: Cricket, in: Tony Mason (Hg.): Sport in Britain. A Social History, Cambridge 1989, S. 116–145. 67 Ebf. die klassische Studie von David Newsome: Godliness and Good Learning: Four Studies on a Victorian Ideal, London 1961, hier S. 195–206. 68 Vgl. Earl of Wilton: On the Sports and Pursuits of the English, as bearing upon their National Character, London1868; Rev. Brown: Sport as School of Character Extolled, in: Boston Daily Globe (23. Juni 1919), S. 10.

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der Globalisierung allein als einen Prozess der Beschleunigung erfasst, dem begegnet im Cricket ein Gegenbeispiel, indem Räume gesucht wurden, für die die Zeit, der Zeitverlauf und der Zeitgewinn eine untergeordnete Rolle spielten. Die koloniale Expansion, die überwiegend mit Vorgängen assoziiert wird, bei denen es um Zeitgewinn und um Beschleunigung ging, kann folglich auch als ein geradezu schleichender, zäher, überaus langsamer Prozess beschrieben werden. Dank seiner unaufgeregten Zeitlosigkeit wurde Cricket demnach zu einem wichtigen Identifikationsstifter für das Empire – ein Bekenntnis (erstens) zur Geschichte, die sich nicht anhand von Regeln gliedern lässt, sondern wie die Verfassung anhand von Gesetzen wie jene kanonischen „laws of cricket“ von 1744, die grundsätzlich noch heute gelten;69 (zweitens) zum Empire, denn seit jeher war Cricket neben Rugby das Spiel der Kolonien und hier trotz seines herrschaftlichen Anachronismus lange Zeit ebenso beliebt wie in England und Wales,70 sowie (drittens) zum Transfer von Wissen bei interkulturellen Begegnungen, das sich für jeden auszahlte, der den „code of laws“ respektierte: „(…) games are highly important in the life of a people because they inculcate strict and implicit obedience to the rules by which the play must be governed, and this 69 John Major: More than a game. The story of Cricket’s early years, London 2007, S. 95; Anthony Bateman / Jeffrey Hill (Hg.): The Cambridge companion to Cricket, Cambridge 2011. 70 J. A. Mangan: The Games Ethic and Imperialism. Aspects of the Diffusion of an Ideal, London 1998.

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teaching, carried out into daily conduct, makes the very foundation of a decent and orderly world.“71 Mandell Creighton, erster Herausgeber der „English Historical Review“, Lordbischof von Peterborough und Repräsentant der Anglikanischen Kirche bei der Krönung von Zar Nikolaus II. in Moskau (1896), hatte das Spezifikum der englischen Geschichte in seiner Distanz zu übergeordneten politischen Regeln gedeutet und in seiner Fähigkeit, die nationalen politischen Institutionen auf die Bedürfnisse des Empires einzurichten, dementsprechend Nation und Expansion eng aufeinander abzustimmen: „This is expressed in the familiar fact that the structural part of English history is constitutional history.“72 Gleiches ließe sich für die imperiale Einrichtung des Cricket denken, deren Verfassung die Züge der Ausgrenzung trägt, doch gleichzeitig die Elemente der Integration jener Kräfte bewirkt, für die Charakterbildung als herrschaftsstabilisierend wahrgenommen wurde. Die Erziehung zum Cricketspieler entsprach der Erziehung zum „citizen of the world“.73 Sie richtete sich nicht ausschließlich an die Oberschicht, sondern rückte vielmehr in die Aufmerksamkeit der gebildeten, auch auf den Kolonialdienst zielenden „middle classes“, deren sozio-ökonomischen Status im Kontext einer imperialen 71

Brown: Sport as School, passim. Creighton: English National Character, S. 13. 73 W. D. Rubinstein: Education and the Social Origins of British Elites, 1880–1970, in: Past and Present 112 (1986), S. 163–207. 72

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Sportgeschichte zu erfassen schon seit längerem als Forschungsdesiderat angemahnt worden ist.74 Man kann davon ausgehen, dass der überwiegende Prozentsatz von Cricket-spielenden Amateuren nicht nur Privatschulen und die herausragenden Universitäten besucht hatte, sondern sich zielgerichtet berufliche Tätigkeiten im Militär, in der Kirche, in Wirtschaft, Verwaltung und Politik suchte. Hatte sich die Ausbildung des „Charakters“ als erfolgreich erwiesen, so würde sich die berufliche Laufbahn nahtlos anschließen, indem sie sich selbstbewusst die Komponenten von Herrschaft und Wissen aneignete. Der nationale wie der individuelle Charakter: sie waren zur (globalen) Fortführung jener elitären Führungsqualität berufen, zu der sie in den schulischen Institutionen sozialisiert worden waren. War im lokalen Raum das (whiggistische) Rüstzeug von Freiheit und Verfassung erfahren worden, galt dessen Weitergabe in den globalen als eine Selbstverständlichkeit. Japan, so urteilte ein Kommentator nicht ohne Überheblichkeit, habe den Krieg gegen Russland (1904 / 05) gewinnen können, weil es sich im Laufe des 19. Jahrhunderts „westliche“ Tugenden zu Eigen gemacht habe.75 74 J. A. Mangan (Hg.): A Sport-Loving Society. Victorian and Edwardian Middle Class England at Play, Abingdon 2006. 75 Moyna: Western Influence on Japanese Character, S. 19; vgl. Anon.: Japanese Character, in: New York Times (4. Jan. 1904), S. 8; Frederic J. Haskin: The Empire of Japan, in: Washington Post (8. Okt. 1909); Anon.: The Russian Character. The National Traits as seen by an American Observer, in: Wall Street Journal (9. Juli

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Das ethisch-moralische Gebot lautete von daher Pflichtbewusstsein, Patriotismus, Opferbereitschaft und eine Hingabe an öffentliche Aufgaben.76 Um 1900 konnte diese Einstellung in ihrer angeblichen Selbstlosigkeit und Uneigennützigkeit nicht konträrer sein zum modernen „gentlemanly capitalism“, der in seinen globalen Wirkungsmöglichkeiten einen bis dahin nicht gekannten Wohlstand akkumulierte.77 Und zweitens konnte sie nicht konträrer sein zur Selbstwahrnehmung der westlichen imperialen Nationen, insbesondere Großbritanniens, die Sport, gesunde Ernährung bis hin zur Lebensreformbewegung als Gegengewicht zur Industrialisierung und Urbanisierung mit ihren Folgen vermeintlicher Degeneration propagierten.78 Aber ein Spannungsfeld blieb nicht aus: ein Gentleman mochte interesselos sich dem Dienst am Empire und dem Cricketspiel widmen, doch ohne solide finanzielle Grundlagen würde er das erlangte gesellschaftliche Prestige allzu rasch wieder verlieren. Im kolonialen Alltag sollte diese Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit besonders eindringlich gespürt werden. 1904), S. 6; Anon.: Elements of Empire in Russia the Mighty, in: Boston Daily Globe (20. März 1904). 76 Wilton: On the Sports and Pursuits of the English, S. 58: „The liberty of thought, and of free expression of that thought, once acknowledged, would seem to lead almost necessarily to an expansion of the liberty (…)“. 77 Besonders anschaulich zuletzt bei Sven Beckert: Empire of Cotton. A Global History, New York 2014. 78 Florentine Fritzen: „Gesünder Leben“. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006. 49

Denn Cricket ist außer in Großbritannien und Australien wohl nirgendwo so populär geworden wie in Indien und seit der Teilung auch in Pakistan. Familiäre Netzwerke, schulische Ausbildung, individuelle Förderer – diese Kriterien spielten seit jeher eine zentrale Rolle.79 Es wird von daher kaum überraschen, dass die gegenseitige, indischbritische Beobachtung im Allgemeinen sich auch auf die kritische Wahrnehmung des Anderen im Besonderen des Crickets übertrug.80 Auf die kulturelle und intellektuelle Formierung der oben beschriebenen Schicht der „gentlemanly servicemen“ warf die anglophile „Times of India“ deshalb einen besonders aufmerksamen Blick.81 In diesem Zusammenhang steht Ranjitsinhji Vibhaji, maharaja jam sahib of Navanagar, ver79 Peter Oborne: Wounded Tiger. A history of cricket in Pakistan, London 2014. 80 Stellvertretend für eine große Anzahl an Veröffentlichungen s. Anon.: Indian Sketches of English Character, in: The Huddersfield Daily Chronicle (3. Dez. 1874), S. 4; Anon.: An Indian Lady in England, in: The Times of India (5. März 1887), S. 6; Anon.: The British Empire. Thoughts of a Hindu, in: ebd. (9. März 1903), S. 6; Anon.: Glimpses of the British Empire, in: ebd. (28. Jan. 1881), S. 2; James Kerr: The Domestic Life, Character, and Customs of the Natives of India, London 1865; George Nugee: The Necessity for Christian Education to Elevate the Native Character in India. An Essay, London 1846. 81 Anon.: Athletics and Character, in: The Times of India (14. Juni 1902), S. 10; Anon.: Golf and Character, in: ebd. (12. Nov. 1897), S. 6; Anon.: British Sports, in: ebd. (7. Jan. 1908), S. 9; Anon.: Indian Cricket, in: ebd. (15. Juli 1907), S. 8; Anon.: Value of Sport in Development of Character, in: ebd. (3. Okt. 1935), S. 4.

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mutlich der erfolgreichste indische Cricket-Spieler Anfang des 20. Jahrhunderts (vgl. Abb. 4: „Ranjitsinhji Vibhaji“). Seine Biographie ist exemplarisch für die enge Verbindung von Sport, begriffen in seiner kulturellen (und militärischen) Dimension, und politischer Macht, wie sie sich im Empire darstellte. So wie Chris Bayly einen Machiavelli Indiens im Philosophen Chanakya und einen John Locke in Ram Mohan Roy ausfindig gemacht hat,82 so gab es neben den intellektuellen auch zahlreiche kulturelle biographische Parallelen. Ranjis Familie war mit dem Herrscherhaus der Nawanagar enfernt verwandt und durch Adoption sollte er in die Linie des Vibhaji eingeführt werden, um ihn dem Einfluss seines Vaters zu entziehen. Obwohl das nicht gelang, weil sich hier bald ein legitimer Erbe einstellte, verfolgte die Familie auch über Rechtsstreitigkeiten noch über viele Jahre das gleiche Ziel, die regionale Macht in Nawanagar zu erlangen.83 82 Vgl. Christopher Bayly: Recovering Liberties. Indian Thought in the Age of Liberalism and Empire, Cambridge 2012, S. 315 ff. 83 Ein substantieller Quellenbestand liegt in der Oriental and India Office Collection der British Library, London; weitere wichtige Informationen im Nachruf, Wisden Cricketers’ Almanack 1933; s. hierzu Simon Wilde: Ranji. A genius rich and strange, London 2005 (1990); Alan Ross: Ranji: Prince of Cricketers, London 1983; ebf. Ramachandra Guha: Cricket and Politics in Colonial India, in: Past and Present 161 (1998), S. 155– 190; ders.: Cricket, Caste, Community, Colonialism. The Politics of a Great Game, in: The International Journal of the History of Sport 14 (1997), S. 174–183; ders.:

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Abb. 4: Ranjitsinhji Vibhaji.

Dabei handelte es sich um einen in der Mitte des 16. Jahrhunderts entstandenen indischen Prinzenstaat, der sich in seiner dynastischen Konstitution erst 1948 mit der Gründung des indischen Staates auflöste. Seine Herrscher trugen den Titel des Jam Sahib. Er lag im Süden des Golfes von Kutch, ein Distrikt, der heute unter dem Namen Jamnagar bekannt ist und nur knapp 10.000 Quadratkilometer umfasst. Um 1900 lebten in dieser Provinz kaum A Corner of a Foreign Field. The Indian History of a British Sport, London 2002. 52

mehr als 350.000 Menschen84 (vgl. Abb. 5: „Indian Empire“). Was sich hier abspielte, war nicht zuletzt auch ein Kampf zwischen muslimischen und hinduistischen Seitenlinien einer großen und ehrwürdigen indischen Familie. Ranji entzog sich dem und ging im Herbst 1889 zum Studium an das Trinity College in Cambridge. Dass die Universität sich beträchtlich mit dem Sport der Gentlemen assoziierte, kam dem Studenten aus Indien sehr zustatten, und da er als ein besonders begabter „Batsman“ (Schlagmann) galt, ebnete ihm dies den Weg in die englische Gesellschaft. Zu diesem Zeitpunkt war das noch nicht vielen seiner Landsleute vergönnt – der illustre Dadabhai Naoroji, Unterhausabgeordneter für Finsbury im Norden Londons und Autor des Buches „Poverty and Un-British Rule in India“ (1901), zählte sicherlich dazu, ein Kontaktmann der indischen Intellektuellen in Großbritannien. Nach der Veröffentlichung urteilte Gandhi aus Johannesburg, Naoroji repräsentiere „the highest ideal of an Indian patriot“.85 Wie Naoroji von einer „unbritischen“ Herrschaft zu sprechen, war für einen zwar die indischen Interessen vertretenden, insgesamt aber durchaus anglophilen Intellektuellen nichts Außergewöhnliches. Man könnte ihn – etwa im Umfeld von John 84 Vgl. generell Bernard S. Cohn: Colonialism and its forms of knowledge. The British in India, Princeton 1996. 85 Gandhi an Miss Graham, 3.7.1905, National Archives of India, New Delhi, Gandhi-Polak Correspondence 459 / 462, vol. 1 / A, folio 1–3.

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Abb. 5: Political Divisions of the Indian Empire, 1909.

Morley – einen „Gladstonian liberal“ nennen, für den Kolonialherrschaft etwas mit „ordered liberty“ und „rule of law“ zu tun hatte.86 Armut, Hungersnöte, der Abfluss von Kapital und Vermögen aus Indien: diese in ihrer Regelmäßigkeit ständig wiederkehrenden Faktoren für die Krisenhaftigkeit der indischen Geschichte waren gewissermaßen nicht „vorgesehen“, sondern die Folgen einer Herrschaftspolitik, die sich von ihren Idealen, freilich oftmals fiktiven liberalen Traditionen weit entfernt hatte. Anstelle gradueller Reformierungen und Liberalisierungen des imperialen Systems, wie sie Gladstone vertreten hatte, breiteten sich zunehmend Korruption und Misswirtschaft aus, als habe das Leitbild des „charaktervollen“ Gentleman im Dienst des Empires seine Bedeutung eingebüßt. Dies genau störte Naoroji so sehr, dass er an den Kolonialminister einen Protestbrief im Namen des Cricketspielers verfasste und für ihn einforderte, sich im Britischen Empire vollkommen uneingeschränkt bewegen zu dürfen: „it is most galling to think that in British territories if Prince Rangitsinhjee wanted to enter the Transvaal he should have to apply for a permit and then in order that he might have a glass of beer he should have to apply cringingly to the Government for exemption from the Liquor ordinance … Is this the way in which the most Liberal Government that the Empire has 86 Vgl. Anon.: British Character, in: Sunderland Daily Echo and Shipping Gazette 8409 (22. Dez. 1900), S. 2; hierzu die Korrespondenz Dutt-Naoroji, Nehru Memorial Museum and Library, New Delhi, V.R. Bhende Papers / 317.

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seen for years will protect weak and helpless members thereof?“87 Ranji spielte erst für das Team der Universität, wurde bald Captain des Sussex Cricket Teams und dann Mitglied des englischen Nationalteams (1896–1904). Er tat nicht viel dagegen, dass man ihn in England mit einem indischen Fürstenhaus in Verbindung brachte, obgleich das ja nicht der Wahrheit entsprach, und schmückte sich gern mit adligen Insignien. Weil er ein aufwendiges und teures Leben führte, häuften sich die Schulden. Einen rapiden Verlust seines Ansehens konnte Ranji nur dadurch verhindern, dass er 1897, im Jahr des 60. Thronjubiläums Königin Viktorias, „The Jubilee Book of Cricket“ veröffentlichte, in dem er selbstbewusst behauptete: „There are very few newspaper readers who do not turn to the cricket column first when the morning journal comes.“88 Dieses Buch wurde ein Standardwerk seines Fachs, das in zahlreichen Neuauflagen erschien und innerhalb weniger Monate seinem schottischen Verleger einen seinerzeit als ein kleines Vermögen zu bezeichnenden Gewinn von 4300 Pfund Sterling einbrachte.89 War Ranji zwar ein ausgezeichneter CricketSpieler, so war er doch zum Herrscher selbst einer kleinen Region Indiens wie Nawanagar, in der er 87

Zitiert aus Guha: Gandhi, S. 211. Ranjitsinhji Vibhaji: The Jubilee Book of Cricket, Edinburgh 1897, S. 458. 89 David Finkelstein: The Publication of Ranjitsinhji’s The Jubilee Book of Cricket, in: Journal of the Edinburgh Bibliographical Society 3 (2008), S. 38–48. 88

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nur den kürzesten Teil seines Lebens überhaupt gelebt hatte, denkbar schlecht ausgebildet. Den britischen und indischen politischen Entscheidungsträgern, an deren Empirebild Ranji mitwirkte, muss das nicht so wichtig gewesen sein, solange dem Kriterium der „class“, das sich über die auf dem Cricket-pitch geschaffenen Zusammengehörigkeitsgefühle bestärkt sah, Genüge getan war. Denn funktionieren konnte das „System Ranji“, weil Cricket im augenfälligsten Unterschied etwa zu Rugby den körperlichen Kontakt vollständig ausschließt und auch auf diesem Weg seine Popularität begründete. Die Verbreitung und Akzeptanz des Sports stellvertretend für andere Themen zu studieren, heisst, ihn als Vehikel für Hegemonie, Assimilation, Adaption, disziplinäre Praktiken, Erziehung und vieles mehr zu verstehen. Nawanagar war eine arme, von Krankheiten, Seuchen und Dürreperioden heimgesuchte Provinz. Der Agrarreformer Romesh Chunder Dutt beklagte um 1900 wiederholt die Periodizität der indischen Hungerkatastrophen, die er in einen direkten Wirkungszusammenhang mit der britischen Kolonialherrschaft stellte. Die indische landwirtschaftliche Produktion hatte sich von den Bedürfnissen des Empires abhängig gemacht und war dadurch, wie Horace Plunkett gleichzeitig für Irland beobachtete, gänzlich anfällig für die globalen Konjunkturen geworden, anstatt die Versorgung des heimischen Marktes zu sichern.90 Den gleichen 90 Romesh Chunder Dutt: Famines in India, 1770 to 1900, und ders.: Paper on Famines in India, in: D. N.

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Vorwurf äußerten der indische Nationalkongress und britische Kolonialkritiker wie beispielsweise John Bright.91 Den neuen Herrscher Ranji kümmerte dies indessen weniger, obwohl er immerhin Bewässerungskanäle, einen Hafen bei Bedi und Eisenbahnlinien bauen ließ und ein umfassendes Neubauprogramm der Hauptstadt Jamnagar initiierte. Zugleich leistete er sich ein extravagantes Leben, führte zwei Paläste in Jamnagar, ein Haus im britischen Staines sowie ein Schloss an der Westküste von Irland, in Ballynahinch, wohin es ihn wegen der reichen Fischbestände zog. Er bereiste Europa, vor allem England, aber auch Australien regelmäßig für Testmatches. Das führte zu so viel Missbrauch, dass ihm die britische Regierung einen Finanzkontrolleur, Lieutenant-Colonel Henry Berthon, aufzwang. Bei Kriegsausbruch 1914 sollte sie wiederum für seine Loyalität dankbar sein, weil Ranji, der persönlich an der Front in Frankreich kämpfte, seine Provinz unverzüglich den Kriegsanstrengungen des Empires anheim stellte. Obwohl er wie viele andere indische Prinzen im Krieg kaum zum Einsatz kommen durfte, verlieh ihm der englische König den 1861 geschaffenen Gupta (Hg.): Open Letters to Lord Curzon & Speeches and Papers by Romesh Chunder Dutt, 3 Bde., New Delhi 1986, Bd. 1, S. 1–20 sowie Bd. 2, S. 1–27; Horace Plunkett: Ireland in the New Century (1904), New York 1908, S. 94–121. 91 Anon.: Mr. Bright on Our Indian Empire, in: Manchester Guardian (8. Dez. 1885), S. 8; vgl. Stuchtey: Europäische Expansion, S. 164–167. 58

Orden „The Most Exalted Order of the Star of India“ in der Klasse des Knight Commander (1917). Wer in der Erwartung der Gefahr die kriegerische Bewährung suchte, knüpfte daran nicht zuletzt die Erwartung auf Ehrungen und Trophäen. In Genf vertrat Ranji Indien bei zwei Sitzungen der Vereinten Nationen.92 So wurde dieser Mann, sowohl als Cricket-Spieler als auch als Provinzfürst, zu einem Symbol des Britischen Empires und einem biographischen Erinnerungsort, in dem sich „liberty“, Zivilisierungsmission, Kontinuität und Fortschrittsglauben, Individualismus und die Selbstinszenierung der imperialen Persönlichkeit zu einer eigenartigen Mischung zusammenfanden – zu einer whiggistischen, nach Identifikation rufenden Übersetzung der kolonialen Situation in einen imperialen Moment.93

92 Simon Wilde: Ranjitsinhji Vibhaji, maharaja jam sahib of Navanagar (1872–1933), in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004, Online Edn. Jan. 2011 (http: /  / www.oxforddnb.com / view / article / 35190). 93 Vgl. Kimberly Kagan (Hg.): The Imperial Moment, Harvard 2010, S. 60–77.

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III. Begegnungen. Panoramen: Imperienvergleiche Lässt sich folglich imperiale Herrschaft auch als ein innergesellschaftliches Phänomen zeichnen, so lenkt sie den Blick auf das Innere der beteiligten Kolonialgesellschaften. Die Frage nach den Triebkräften und Trägern der Expansion, ihren Motiven und Energien transnationalen Ausgreifens führt zur Frage nach den Erfahrungen und Erwartungen, sozialen Konflikten und Sozialisationsprozessen, Interessen und Konstellationen, Individuen und Gruppen im imperialen System. Davon hing die Bildung von Imperien maßgeblich ab. Sie hing überdies von einem von Klasse und Status definierten, bizarren Snobismus ab, wenn auch in einem begrenzten, wohl nicht zu überschätzenden Maße. Cannadine hat dafür den Begriff des „Ornamentalism“ geprägt.94 Denn natürlich war dies auch ein Unternehmen von heroischer, manchmal melancholischer Vergeblichkeit, von Inszenierung und Repräsentationsbedürfnis jenseits der Realität. Eben weil ihm nicht der Sinn nach der Enge von zuhause stand, hatte der Gentleman noch immer Sinn für die Herausforderung durch das Fremde. Bestand er diese, was zu erwarten war, behängte 94 David Cannadine: Ornamentalism. How the British Saw their Empire, London 2001.

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er sich, ob britisch, deutsch, französisch, belgisch, portugiesisch, habsburgerisch oder russisch, ob türkisch oder indisch, mit Orden und Medaillen. Doch wird ein derartig geschmücktes Bildnis zu Widerspruch aufrufen insofern, als sich die beiden abgebildeten Gentlemen von der angestrebten, idealisierten Einfachheit und Kargheit des Kolonialdienstes, wie sie eingangs beschrieben worden sind, weit entfernt zu haben scheinen (vgl. Abb. 6 und 7: „Lord Curzon &Maharaja Bhupendra Singh of Patiala“). Erstens abgebildet ist unverkennbar Lord Curzon, Vizekönig Indiens und Organisator des Durbar (Delhi, Januar 1903) zur Feier der Thronbesteigung von König Edward VII. Des Weiteren zu sehen ist Bhupendra Singh, Maharaja of Patiala, ein begeisteter Anhänger des Cricket, Polo und des Raj und Gebieter über den größten von Sikhs beherrschten Staat Indiens.95 In dieser Hinsicht mehr noch als Ranji verkörperte Singh in den Augen der britischen Kolonialherrschaft den Prototyp eines indischen Prinzen, indem er vortrefflich der Bestimmung nachkam, sowohl den „östlichen“, indischen als auch den „westlichen“, britischen Klischees zu entsprechen – in der Art sich zu kleiden und in der Wahl des kolonialen Sports. Im Ersten Weltkrieg stellte Singh dem Empire das nach Jammu und Kashmir zweitgrößte Kontingent indischer Soldaten zur Verfügung. 95 Hierzu Barbara N. Ramusack: Punjab states, maharajas and gurdwaras: Patiala and the Sikh community, in: Robin Jeffrey (Hg.): People, princes and paramount power. Society and politics in the Indian princely states, New Delhi 1978, S. 170–204.

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Abb. 6: Lord Curzon.

Vom Krieg begeistert, pflegte er das Bild des heroischen, „männlichen“ Todes auf dem Schlachtfeld und verachtete zugleich die Vorstellung von einem angeblich „unmännlichen“, beispielsweise durch Cholera oder andere Epidemien verursachten Tod. Demnach musste der Gentleman eine eindeutige Auffassung nicht nur von seiner Lebensführung, sondern auch von seiner Todesbereitschaft besitzen. Vor diesem Hintergrund können im Folgenden einige Problemfelder formuliert werden. 1. Die Geschichte des Imperialismus zieht eine Perspektivierung der verschiedensten Formen im62

Abb. 7: Maharaja Bhupendra Singh of Patiala.

perialer Herrschaft nach sich. Sie bildet ein Grundmuster schlechthin für eine internationale Geschichte der politischen Systeme. Auch die Monarchie lässt sich selbstverständlich nicht einfach auf einen Nenner bringen, auch sie hat verschiedenste Ausprägungen in der Vergangenheit erfahren, vergleicht man etwa die unterschiedlichen Regierungsformen der britischen Königin Viktoria, des französischen Königs Napoleon III., des russischen Zars Nikolaus II., des deutschen Kaisers Wilhelm II., des japanischen Tenno und des osmanischen Sultans: sie standen an der Spitze ihres Staates, gewöhnlich eines imperialen Nationalstaates 63

und der entsprechenden Kolonialreiche und haben diese auf ihre jeweils eigene Art regiert, mit oder ohne Parlament. Um dies nachzuvollziehen, hilft eine vergleichende Langzeitperspektive.96 Daraus ergibt sich zweitens, dass Imperialismusgeschichte auch die Geschichte der Beziehungen, Verbindungen, Anschlüsse und Scharnierstellen, zugleich selbstverständlich ebenso der Missverständnisse, Rassismen und Stereotype ist, wie die Bilder aus dem Simplizissimus illustrieren: das oberste mit dem Untertitel „So kolonisiert der Deutsche“, das mittlere, „So kolonisiert der Engländer“, die unteren beiden, „So der Franzose“, „und so der Belgier“ (vgl. Abb. 8: „Heine, Kolonialmächte“). Die Karikaturen korrespondieren eindeutig mit den zeitgenössischen Texten, in denen sich kontinuierlich die Stereotypen wiederholen, die Deutschen legten es in erster Linie auf militärische Disziplin und Unterwürfigkeit an, die Briten seien von Profitgier und religiös-missionarischer Doppelmoral getrieben, die Franzosen verbänden das koloniale Abenteuer mit freier Liebe und die Belgier in Person ihres Königs Leopold II. 96 Helen Hackett: Dreams or Designs, Cults or Constructions? The Study of Images of Monarchs, in: Historical Journal 44 (2001), S. 811–823; Volker Sellin: Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen, München 2011; Martin Kirsch: Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999; Johannes Paulmann: Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000.

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Abb. 8: Thomas Theodor Heine: Kolonialmächte. Simplizissimus, 9. Jg., Nr. 6 (1904–1905), S. 55

betrieben im Kongo eine unverhältnismäßig brutale Kolonialherrschaft.97 97 Pierre de Coubertin: A French View of the British Empire, in: Fortnightly Review 372 (Dez. 1897), S. 803– 816; Anon.: A French View of British Burma, in: The

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Nun hat sich imperiale Herrschaft immer verglichen. Im 17. Jahrhundert argumentierten die Niederländer, im 18. Jahrhundert die Engländer, ihre koloniale Expansion diene doch vornehmlich dem Handel und begründe sich lediglich über Seeherrschaft. Im Unterschied zum Imperium Romanum, das Europa territorial überzog, oder zum katholischen Herrschaftsbereich Karls V., der weite Teile des südlichen Amerika sein eigen nannte, begriffen sich die Frühformen des niederländischen und des englischen Kolonialismus primär in ihrer kommerziellen Natur.98 Das ist zum Teil durchaus richtig, großteils indessen selektiv gesehen, denn es lässt außer Acht, wie stark diese Herrschaft von der Sklaverei profitierte und wie stark die militärische Präsenz und die imperiale Gewalt beim Ausbau der maritimen Herrschaft waren. James AnReview of Reviews 5 (Febr. 1892), S. 161; T. C. Crawford: Little Belgium’s King. Judge Lambert Tree Discusses the Character of Leopold II., in: Chicago Daily Tribune (10. Febr. 1891); Anon.: A French View of the Germans, in: Saturday Review of Politics, Literature, Science and Art 80 (21. Sept. 1895), S. 374–375; Anon.: Germany and England. Prof. Cram’s Unflattering Picture of English Imperialism as Seen by the Germans and His Prophecy, in: New York Times (4. Okt. 1914), S. 45; Anon.: English Character from a German Standpoint, in: The Pall Mall Gazette (11. Aug. 1880), S. 11–12; Anon.: The Hohenzollerns and the German National Character, in: Contemporary Review (1. Jan. 1916), S. 57. 98 Anon.: The Mercantile Character of England, in: The Observer (6. Jan. 1856), S. 3; vgl. hierzu auch Anon.: The Chinese Trade and the Chinese Character, in: Devizes and Whiltshire Gazette 1511 (26. Dez. 1844), S. 4. 66

thony Froude, John Robert Seeley und ihre Zeitgenossen hatten dies positiv gewendet, indem sie Seeherrschaft und maritimes Wissen an die Charakterformierung des Einzelnen bzw. der Nation knüpften und, insofern sie hier Defizite sahen, einforderten.99 Auch werden von der Forschung andere Weltoder Kolonialreiche, die teils viel länger als die europäischen existierten, für den Vergleich inzwischen intensiv berücksichtigt: so z. B. das osmanische Reich oder das persische Reich der Safawiden, das zwischen 1500 und 1700 maßgeblich dafür verantwortlich war, den schiitischen Islam zur führenden Religion in Persien zu erheben.100 In99 Anon.: Character of British Seamen, in: Devizes and Wiltshire Gazette 565 (9. Nov. 1826), S. 4; Anon.: The British Sailor Character, in: The Huddersfield Daily Chronicle (6. Juni 1878), S. 3; James Anthony Froude: England and her Colonies, in: Fraser’s Magazine 1 (1870), S. 1–16; John Robert Seeley: Our Insular Ignorance, in: The Nineteenth Century 18 (1885), S. 861– 873. 100 Stellvertretend für eine mittlerweile reiche Forschungsdebatte über den Imperienvergleich s. Jörn Leonhard / Ulrike von Hirschhausen (Hg.): Comparing Empires. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century, Göttingen 2011; Robert Rollinger / Michael Gehler (Hg.): Imperien und Reiche in der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche, Wiesbaden 2014; Maurus Reinkowski / Gregor Thum (Hg.): Helpless Imperialists. Imperial Failure, Fear and Radicalization, Göttingen 2013; John M. Mackenzie (Hg.): European empires and the people. Popular responses to imperialism in France, Britain, the Netherlands, Belgium, Germany and Italy, Manchester 2011;

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dien betrachten heißt, sich selbstverständlich nicht auf die britische Herrschaft über Indien zu beschränken, wie James Mill, Vater des eingangs erwähnten John Stuart und wichtigster Schüler Benthams dies gemeinsam mit vielen englischen Zeitgenossen tat und damit die Kolonialadministration nachhaltig beeinflusste,101 sondern das mächtige Reich der Mogulen mit in Betracht ziehen, ein zwischen 1526 und 1858 auf dem indischen Subkontinent bestehender Staat, dessen Kernland in der nordindischen Indus-Ganges-Ebene lag und die Städte Delhi, Agra und Lahore mit einschloss. Gleichwohl befand sich das Mogulen-Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht im 17. Jahrhundert, nicht mehr im 19., als es fast den gesamten Subkontinent und große Teile Afghanistans umfasste. Als sich das Britische Empire nach Niederschlagung des Aufstandes von 1857 / 58 (mutiny) in Indien ausbreitete, profitierte es aber von zahlreichen Strukturen, die von der Mogulen-Herrschaft hinterlassen worden waren, wie zum Beispiel im Steuersystem und in der Provinzverwaltung. Ohne Jane Burbank / Frederick Cooper: Empires in World History. Power and the Politics of Difference, Princeton 2010. 101 James Mill: History of British India, 3 Bde., London 1817; Kerr: Domestic Life, bes. S. 87–116; R. Rickards: India; or facts submitted to illustrate the character and condition of the native inhabitants, London 1829; aber: John Malcolm Ludlow: British India, its races, and its history, considered with reference to the mutinies of 1857, Cambridge 1858, S. 33–82 über „Hindoos“ und „Mahommedans“. 68

diese vorhandenen Strukturen hätte sich das Empire kaum so zügig etablieren können und wäre wahrscheinlich auf seine wichtigsten Küstenregionen beschränkt geblieben. Anders und mit den Worten eines in Bengalen stationierten englischen Wirtschaftsprüfers formuliert, hätte es seine „charakterlichen“ Qualitäten als imperiale Macht nicht in diesem Maße entfalten können: „a more favorable view, and a more just and accurate conception of the British character, principles, and laws than they have hitherto been enabled to form; and may be expected gradually to diffuse among them a spirit of civilization.“102 Indische wie britische Autoren stimmten darin überein, dass die Wirkungen besonders nachdrücklich im Erziehungswesen zu finden waren.103 Der neben Charakter und Herrschaft hier angesprochene, dritte Aspekt des Wissens manifestiert sich hierin anschaulich. 102 Hugh David Sandeman: Selections from Calcutta Gazettes of the years 1806 to 1815 inclusive, showing the political and social condition of the English in India upwards of fifty years ago, Kalkutta 1868, S. 16. 103 J. Vanden: Character, in: Indian Education 4 (1905), S. 59–61; H. R. Hamley: Character Training at Home and in the School, in: The Educational Review 35 (1929), S. 17–21; C. B. Gilbert: Development of Character through School Education, in: Indian Journal of Education 5 (1897), S. 806–814; Girija Basu: English Opinion of Indian Character, in: The National Magazine 13 (1899), S. 483–486; Haridas Goswamy: The Influence of School Society on the Training of Character, in: The Collegian & Progress of India 19 (1920), S. 244– 249; Narendrakrishna Sinha: Was the British Empire of India the Result of Design?, in: The Calcutta Review 33 (1929), S. 57–63.

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2. Empires profitierten also von diachronen wie von synchronen Vergleichen, sie lernten von vergangenen wie zeitgenössischen Anregungen und sie konnten sich als Systeme jeweiligen Anforderungen anpassen. Imperien, oder genauer: imperiale Formationen, lernten durch den direkten Vergleich voneinander und sie konkurrierten und kooperierten miteinander.104 Dies kann auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass Krisen – seien sie z. B. Hungersnöte, Vertreibung, Epidemien wie Cholera oder Malaria, Zerstörung der Natur – ursächlich regional- bis imperialgeschichtlich zu verorten sind, aber in ihrer Folge in der Regel globalgeschichtliche Dimensionen entwickelten. Begegnungen im Zeitalter der Imperien sind somit ihrem Wesen nach eingewoben in eine Geschichte der vielfältigsten internationalen Beziehungen und Bezüge, differenzierten Kombinationen, Verbindungen und Abhängigkeiten. Umso wichtiger ist es, dass ihr Studium nicht länger nationalhistoriographisch verwurzelt bleibt und beispielsweise das deutsche Kolonialreich in seiner historischen Bedeutung globalgeschichtlich gedacht wird.105 Zwar ist es sicherlich nicht unkompliziert, einen britischen „Sonderweg“ in der neueren Geschichte 104 Dominic Lieven: Dilemmas of Empire 1850– 1918. Power, Territory, Identity, in: Journal of Contemporary History 34 (1999), S. 163–200. 105 Edward Ross Dickinson: The German Empire: An Empire?, in: History Workshop Journal 66 (2008), S. 129–162; Sebastian Conrad: Rethinking German Colonialism in a Global Age, in: Journal of Imperial and Commonwealth History 41 (2013), S. 543–566.

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seit 1688 zu konstatieren. Aber im Unterschied zum portugiesischen, spanischen, italienischen, niederländischen und französischen Kolonialreich besaß das Empire (erstens) Kolonien in Europa wie Malta, Gibraltar und Zypern, eine Tatsache, der häufig zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird; und (zweitens) wurzelte es über den bloßen Kolonialbesitz hinaus, der die anderen europäischen Nationen kennzeichnete, in einer genuin und wesenhaft imperialen Verfassung, durch die Nationalgeschichte und Imperialgeschichte aufs Engste miteinander verzahnt sind. Dieser Befund spricht, ohne den Ausdruck zu überdehnen, für die Eigengesetzlichkeit des Britischen Empires und lehnt diese an die russische Imperiumsvorstellung an. Schon 1897 stellte in diesem Zusammenhang ein französischer Autor die nach wie vor gültige und wichtige Forderung auf, endlich die eindimensionale Blickrichtung „Mutterland“-Kolonien zu überwinden: „In the past we have been accustomed to consider nothing but the relations of each colony with the metropolis. The precise nature and duration of these relations has hitherto been the chief problem of colonisation. Nobody ever thought that colonies could have relations amongst themselves.“106 Desweiteren wäre es attraktiv, die einzelnen Kolonialgeschichten als europäische Geschichten jenseits methodologischer Nationalismen zu integrieren. Zu lange haben die Nationalhistoriographien, besonders seit 1945, darüber Unklarheit ge106 De Coubertin: A French View of the British Empire, S. 807.

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schaffen, was eine Geschichte der europäischen Expansion leisten sollte. Überdies wird nach wie vor zu selten fächerübergreifend gearbeitet, obwohl die Geschichtswissenschaft doch so viel von anderen Disziplinen, etwa den Islamwissenschaften, lernen kann. Um von einer Begriffsinflationierung weg zu kommen, böte es sich an, wieder deutlicher Themen herauszuarbeiten, von denen Muster abgeleitet werden können, die sowohl intra-imperiale Aushandlungsprozesse verdeutlichen, als auch auf das Lösen von Problemen im gegenseitigen Interesse angelegt gewesen sind. Dem liegen – in Anlehnung an eine klassische Formulierung – „situations coloniales“ zugrunde,107 deren intellektueller Reiz des Sichtbarmachens der Imperien als gesellschaftlicher Ordnungssysteme, als Imaginationsräume, als mindset besonders groß ist. In der Geschichte der Imperien wird gewöhnlich von dem ersten Muster, dem der Konkurrenz ausgegangen (vgl. Abb. 9: „En Chine“). Wer die globalgeschichtlich einschneidenden Entwicklungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts betrachtet, die sich unter den Begriffen „scramble of Africa“, „scramble of China“, „great game“ in Asien und der Expansion des japanischen Reichs sowie des US-amerikanischen zusammenfassen lassen, wird Konkurrenz nicht ausschließlich, aber doch besonders zugespitzt in Begriffe wie Kolonial- und Im107 Georges Balandier: La situation coloniale: approche théorique, in: Cahiers internationaux de sociologie 11 (1951), S. 44–79.

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Abb. 9: En Chine. Henri Meyer: Le gâteau des Rois et des Empereurs. Le Petit journal. Supplément du dimanche, 16. Januar 1898.

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perialkriege, Vernichtungsfeldzüge, Genozide und Zerstörung indigener Kulturen übersetzen müssen. Indessen scheint die Geschichtslehrerin Clio, will man dem satirischen Wochenblatt Kladderadatsch vom Oktober 1900 Glauben schenken (vgl. Abb. 10: „Kladderadatsch“), anscheinend anfänglich Schwierigkeiten zu haben, ihre europäischen und nicht-europäischen Schüler für China zu interessieren, was vielleicht auch daran liegen mag, dass das Reich der Mitte, der Faulheit bezichtigt, weinend unter seiner geographischen Karte steht. Wer in der ersten Reihe ordentlich, aber nicht gerade voller Begeisterung aufzeigt, sind der Deutsche, der Italiener und der Österreicher. Der englische und der französische Schüler, direkt dahinter platziert, scheinen es demgegenüber nicht nötig zu haben, sich am Unterricht zu beteiligen, sie raufen lieber. Ganz am Ende des Klassenzimmers sind der russische, der japanische und der amerikanische Schüler in ein Kartenspiel vertieft.108 108 Zeitgleich ähnliche Beobachtungen u. a. bei Richard M. Meyer: German character as reflected in the national life and literature, in: International Journal of Ethics 3 (Jan. 1893), S. 202–242; Anon.: German Art and the German Character, in: The Burlington Magazine for Connoisseurs 8 (Nov. 1905), S. 76–79; Edmond Holmes: The Nemesis of Docility. A Study of German Character, London 1916; Herbert Strong: English Character Seen Through Italian Spectacles I u. II, in: The Academy (20. u. 27. Juli 1912), S.83–84 u. S. 113–114; Anon.: A German View of French Character, in: The Pall Mall Gazette (16. März 1881); Anon.: The English Character To-Day, in: Saturday Review of Politics, Literature, Science and Art 118 (1914), S. 245–246.

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Abb. 10: Kladderadatsch 21. Oktober 1900

So befindet sich im Mittelpunkt des Bildes nicht der Unterricht über die chinesische Geschichte, dessen Fortschritte gemäß Untertitel ohnehin gering sind, weil sich „nur bei wenigen Schülern der nöthige Eifer“ einstellte, sondern der preußische Generalfeldmarschall Alfred von Waldersee. Ein Soldat mit beeindruckender Karriere, war Waldersee als Gegner der Russlandpolitik Bismarcks an dessen Sturz beteiligt und versuchte, ihn als Reichskanzler zu beerben, woran er aber scheiterte, weil er das Vertrauen des Kaisers verlor. Seinerzeit als „Weltmarschall“ verspottet, erlangte Waldersee den Oberbefehl der alliierten Truppen im Boxeraufstand 1900 / 01. Laut Kladderadatsch ist er der Einzige, der auf die Frage der Lehrerin nach der Bedeutung Pekings eine gehaltvolle Ant75

wort zu geben vermag, weil nur sein Blatt auf seinem Pult beschrieben ist. Als die Gewalttätigkeiten der aufständischen, geheimbündlerischen „Boxer“ im Juni 1900 in Peking zunahmen, sich gegen die Missionsstationen und europäische Gesandtschaften richteten und dabei der deutsche Gesandte von Ketteler ermordet wurde, besetzte ein deutsches Kommando im August Peking und übernahm, noch bevor Truppen aus anderen europäischen Ländern, den USA und Japan eintrafen, unter Waldersee die Kontrolle über die Stadt. China wurde zu unermesslichen Kriegsentschädigungen gezwungen, die rassistischen Befehle Kaiser Wilhelms erlangten tragische und verhängnisvolle Berühmtheit und die internationale Koalition ging sehr bald in internationale (anti-deutsche) Interessensgegensätze über. Das im Zeichen des Kolonialrevisionismus stehende Deutsche Koloniallexikon bekräftigte die seit vielen Generationen von westlichen Kommentatoren benutzten Stereotype.109 Wenngleich diese Stereotype sich auch darin gleichen, kein einheitliches Bild vom „Anderen“ zeichnen zu können.110 109 Heinrich Schnee (Hg.): Deutsches Koloniallexikon, 3 Bde., Leipzig 1920, Bd. 2, S. 689–690. 110 Anon.: The Character of the Chinese, in: Northampton Mercury 14 (8. Juni 1822), S. 4; Anon.: The Chinese easily governed, in: Caledonian Mercury (3. Aug. 1840); Anon.: Remarkable Improvement in the Chinese Character, in: The Blackburn Standard (30. Sept. 1857); Anon.: Chinese Character, in: Liverpool Mercury (23. Febr. 1878); Anon.: The Chinese Character: Chinaman is Never Moved by the Suffering of Others, in: Los

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Aber Konkurrenz und Kooperation schließen sich nicht unbedingt aus, sondern sie existierten in der Imperialgeschichte nicht selten parallel zueinander. Sie konnten in vielen Bezügen voneinander profitieren, in anderen jedoch grenzten sie sich massiv ab. Wichtig erscheint es, sie noch viel nachdrücklicher als fließende Prozesse zu erfassen, bei denen Wissen und Wissensproduktionen eine wichtige Rolle spielten. Wer sich z. B. mit dem Spannungsfeld von metropolitanen Naturwissenschaften als hegemonialem Unternehmen auf der einen Seite, bzw. der eher jüngeren Auffassung auf der anderen, indigenes Wissen sei vornehmlich in den Kanon der „westlichen“ Wissenschaften integriert worden, befasst hat, wird nachvollziehen, dass dieses Spannungsfeld im eigentlichen Sinn auf ein komplizierteres System der Reziprozität der Naturwissenschaften innerhalb des kolonialen Kontextes hingeführt hat. So lokal oder regional wissenschaftliche Erkenntnis erworben werden konnte, so universal konnte sie Verwendung finden.111 Und so wie die Nationalstaaten bildeten auch die Imperien zu keiner Zeit hermetische StruktuAngeles Times (11. Juli 1900), S. 18; Anon.: The Chinese Character, in: The Evening News / Portsmouth (25. März 1903), S. 4. 111 Deepak Kumar: ‚New‘ Knowledge and ‚New‘ India. Lessons from the Colonial Past, in: ders. u. a. (Hg.): Education in Colonial India. Historical Insights, New Delhi 2013, S. 45–61; Benedikt Stuchtey: Towards a Comparative History of Science and Tropical Medicine in Imperial Cultures since 1800, in: ders. (Hg.), Science Across the European Empires, 1800–1950, Oxford und New York 2005, S. 1–45. 77

ren, die getrennt und isoliert voneinander analysiert werden können. Intra-imperiale Wahrnehmungen fanden stattdessen in kolonialen Kontaktzonen statt und materialisierten sich unter spezifischen politischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen. Sie zu studieren heißt, einen Eindruck davon zu erhalten, welche Empire-Konzepte führende Protagonisten seinerzeit besaßen und wie sie in die Praxis der kolonialen Herrschaft umgesetzt werden konnten – die indischen Prinzen und Cricketspieler Ranji und Singh mit eingeschlossen. In diesem Licht erscheinen die theoretischen Konzepte von Imperien weit weniger statisch, dafür umso komplexer und als vernetzte Phänomene. Die imperiale Praxis bestand nicht nur aus Rivalität, wenn auch zu einem sehr großen Teil, sondern eben auch aus Verbindungen, Transfers, Austausch, Interaktionen, Kooperationen sowie schließlich gegenseitigen Beobachtungen, wie es zum Beispiel um den „Charakter“ des anderen beschaffen war. Diese in eine Synthese zu führen, gleichsam zu vervollständigen, lässt noch klarer verstehen, warum im langen 19. Jahrhundert Imperien, und nicht die Nationalstaaten, die global betrachtet vorherrschenden territorialen und maritimen Organisationsformen von politischer Macht darstellten. Weil aber dem interkolonialen Kontaktraum mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, fordert dies schließlich zu einer neuen, alternativen Konzeption des Empire-Begriffs heraus – eingedenk des nicht von der Hand zu weisenden Unbehagens, dass es selbstverständlich nicht sinnvoll sein kann, Einzelgeschichten in homogenisierte 78

Meta-Narrative zu überführen und sie in ein einzelnes analytisches Gerüst zu zwängen. Denn erstens war die koloniale Expansion alles andere als ein kohärenter, monolithischer Prozess, sondern ein Vorgang voller Widersprüche und Ambivalenzen. Und zweitens äußerte sich auch der Widerstand gegen imperiale Herrschaft auf sehr unterschiedlichen Wegen – manchmal, in so idealisierter Interpretation des passiven Widerstands wie bei Leo Tolstoi, sogar mit dem Liebesbegriff: „passive resistance (…) is in reality nothing else than the teaching of love uncorrupted by false interpretations. That love – i. e., the striving for the union of human souls and the activity derived from the striving – is the highest and only law of human life, and in the depth of his soul every human being (as we most clearly see in children) feels and knows this.“112 3. Der aus Neuseeland stammende Althistoriker Ronald Syme hat im Jahr 1939 eine seitdem ebenso klassische wie kontroverse Studie über die Patrizier im Imperium Romanum vorgelegt und die Frage nach dem transkulturellen Elitentransfer und dessen Relevanz für imperiale Herrschaft gestellt.113 Die Geschichte Roms im Übergang zwischen später Republik und Kaiserzeit aus der Per112 Leo Tolstoi an Gandhi, Ketchety / Russland, 7. Sept. 1910, National Archives of India, New Delhi, Gandhi-Polak Correspondence 459 / 462, vol. 1 / A, folio 296–301. 113 Ronald Syme: The Roman Revolution, London 1939; Geza Alföldy: „Die römische Revolution“ und die deutsche Althistorie, Heidelberg 1983; Karl Christ:

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spektive der Senatoren zu erfassen, konnte man als ein historiographisches Gegenmodell zum verfassungsgeschichtlichen Ansatz Theodor Mommsens verstehen, nicht weniger aber auch als eine politische Interpretation von Augustus als dem zynischen Revolutionär, nicht dem Bewahrer der politischen Ordnung. Um seine Ziele zu erreichen, stützte sich der Kaiser auf eine handverlesene Oligarchie, deren individuelle Macht auf der Macht ihrer Familien und Netzwerke basierte. Weil sie eine ähnliche Erziehung genossen und eine ähnliche Charakterformierung erfuhren, entwickelten ihre Mitglieder eine gemeinsame „group mind“: „Roman history, Republican or Imperial, is the history of the governing class.“114 Damit hat Syme die Expansion auch als ein Phänomen psychischer Dispositionen von Herrenschichten („Gentlemen“) gedeutet bzw. als ein Relikt von Sozialstrukturen, ohne direkte Korrelation mit dem modernen, industriellen, marktorientierten und vom Imperialismus profitierenden Produktionskapitalismus, ohne Wechselbeziehung mit den nationalistischen Leidenschaften der Massen der modernen Großstaaten, aber in ihrer Übergangserscheinung als ein gutes Beispiel einer spezifischen sozialen Kleingruppe. Ihre Mechanismen der Machterhaltung in Phasen raschen sozialen und kulturellen Wandels bestanden fort, obwohl sich die politischen und materiellen Bezüge längst verNeue Profile der Alten Geschichte, Darmstadt 1990, S. 188–247. 114 Syme: The Roman Revolution, S. 7. 80

ändert hatten. Syme zufolge hatte die Stimme des patrizischen Widerstands sich gegen die plebejische Revolution erhoben, weil die erbliche Verantwortung für das Gemeinwesen, ob in Europa oder in Übersee, verpflichtete. Daran anknüpfend lassen sich der Werthorizont und die Mentalität sozialer Gruppen (Missonare, Ärzte, Forschungsreisende, Soldaten, Siedler, Administratoren, Händler, Sportler uvm.) erschließen, was idealerweise Licht auf Strukturbedingungen der Gesamtgesellschaft werfen kann. Es wirft Licht sowohl auf die biographische Verflechtungsgeschichte zwischen Nation und Expansion als auch die intra-imperialen Begegnungen, wie sich etwa am Beispiel des Cricket und der Bildung des „Charakter“ ablesen lässt: „In a sense, cricket was the demonstration sport of the whole Victorian ethos: the game that instilled the most patience and the most discipline and was, for long stretches at a time, the least like fun and the most like work.“115

115 Wilfrid Sheed: Why Sports Matter, in: The Wilson Quarterly 19 (1995), S. 11–25, hier S. 17; vgl. ebf. I. J. Pitman: Recreation and Games, in: Ernest Barker (Hg.): The Character of England, London 1947, S. 445–461.

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Schluss Es ist zu fragen nach der Koexistenz verschiedener Imperien nebeneinander, nach der kulturellen und sonstigen Vernetzung imperialer Ordnungen und Ordnungsvorstellungen und nach ihren unterschiedlichen Bedürfnissen nach Sicherheit. Danach sind nicht allein die einzelnen Imperien und, bezogen auf die sozialen Gruppen, nicht die einzelnen nationalen Repräsentationen, sinnvolle Analyseeinheiten, sondern sie bilden gemeinsam in ihrer Wechselwirkung Strukturen eines multiperspektivischen Weltsystems. Ihnen nachzuspüren, ist eine besonders attraktive Seite der modernen Imperialismusforschung. In Form der Biographieforschung, wie sie in jüngster Zeit entwickelt wird, richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf einzelne imperiale Akteure, selbstverständlich aber ohne diesen Akteuren eine übermäßige Autonomie zuzuschreiben, sondern im Gegenteil sie in den dichten Kontexten ihrer politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Netzwerke zu betrachten. In diesem Sinn greift eine (imperiale) Biographie die situative Selbstverortung in Gesellschaft und Kultur auf und positioniert sowie kontextualisiert das Leben vor dem Hintergrund der dieses umgebenden Strukturen und seinen begrenzten Handlungsspielräumen. Wie begrenzt seine Hand82

lungsspielräume waren, wurde selbst einem so wohlhabenden Prinzen wie Ranjitsinhji Vibhaji, maharaja jam sahib of Navanagar immer wieder schmerzlich bewusst, obwohl er gleichermaßen in Asien, Europa und Australien reiste. Imperiale Lebensentwürfe, eingebettet in die Lebensverläufe multiethnischer Kolonialreiche, individuelle Biographien im Kontext übergreifender Lebenszusammenhänge der Imperien: sie lassen an Einzelfällen rekonstruieren, was an strukturellen Ordnungsmustern inklusive den Idealbildern vom „Charakter“ längerfristig Gültigkeit beanspruchen kann.116 Das translokale, komplexe Gesicht eines Kolonialreichs zeigt sich darin, dass es von großen Räumen, Heterogenität und Mobilität gekennzeichnet ist, was sich seinerseits in den Gesichtern seiner Menschen spiegelt – in ihren beruflichen Karrieren, Ängsten und Ambitionen, ihrem Handeln sowie den Faktoren, denen sie zugehörig sind, ob Geschlecht, Religionszugehörigkeit, Stand, lokale Integration oder transnationale Vernetzung uvm. Dieses Problem hat Ende des 19. Jahrhunderts den bedeutenden Oxforder Philologen und Religionswissenschafter Friedrich Max Müller so begeistert, dass er in seinem Aufsatz „The Truthful Character of the Hindus“ schrieb: „(…) in judging others, whether in public or in private life, whether as historians or politicians, let us not forget that a kindly spirit will never do any harm. Certainly 116 Julia Stapleton: National Character in French and British Political Thought Since 1750, in: European Journal of Political Theory 2 (2003), S. 347–357.

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I can imagine nothing more mischievous, more dangerous, more fatal to the permanence of English rule in India, than for the young Civil servants to go to that country with the idea that it is a sink of moral depravity (…)“.117 Den anglophilen Müller hätten französische und deutsche, stereotypische Wahrnehmungen des Britischen Empires wie diese aus den Satirezeitschriften „Le Grelot“ vom September 1882 und „Simplizissimus“ vom Oktober 1914 vermutlich irritiert; mit einem „kindly spirit“, wie er ihn einforderte, sind sie jedenfalls nicht gezeichnet (vgl. Abb. 11 und 12: „La civilisation Anglaise“; „Der Engländer und seine Weltkugel“). Während die britische Königin und Kaiserin Indiens ihr Weltreich im trunkenen Zustand regiert, genaugenommen aber wohl nur mit dem vollen Gewicht ihrer Person unterdrückt, beschwört der Karikaturist Heine nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine herannahende Krise des Empires herauf: ebenfalls lediglich mit den Mitteln der Gewalt zusammengehalten, leidet der gesamte Globus unter dem Einfluss der britischen Expansion und blutet aus. Weder Viktoria noch der englische Gentleman mit Tropenhelm scheinen die Kultur der Charakterbildung beherzigt zu haben, denn von den wiederholt bekräftigten Tugenden der Enthaltsamkeit und Selbstkontrolle kann auf beiden Abbildungen nicht die Rede sein – zumindest also nicht aus französischer und deutscher Perspektive – und 117 Friedrich Max Müller: The Truthful Character of the Hindus, in: The Contemporary Review 42 (Nov. 1882), S. 684–706, hier S. 706.

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Abb.11: La civilisation Anglaise. Le Grelot, 24. September 1882

auch nicht aus russischer, wie schon ein Jahrhundert früher ein russischer Beobachter bekundete.118 118 N. Karamsin: Character of the English Nation, in: The Weekly Entertainer (14. Nov. 1803), S. 381–386,

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Verkörpern einmal die Monarchin, das andere Mal ein gewöhnlicher Kolonialist den „nationalen Charakter“, so spiegelt sich in ihren Personifizierungen ihre globale Präsenz wider. Im Zeitalter der Imperien hatte die Weltbevölkerung gar keine andere Alternative, als ihnen überall zu begegnen. Von der Aufgabe, einen Niedergang des „Charakters“ zu beklagen, bewahrte sie das nicht, auch wenn die Vorbildlichkeit der griechischen Antike und des griechischen Kolonialismus, der insbesondere in seiner Eigenschaft als Kulturexporteur wahrgenommen wurde, kontinuierlich am geistigen Horizont gegeben zu sein schien.119 Was die imperialen Biographien von lokalen oder nationalen unterscheidet, ist schließlich die Größe ihres Entfaltungsraums, die ihnen in den Worten John Morleys die Verantwortlichkeit politischer Mäßigung auftrug. Ein spätviktorianischer Liberaler und politischer Nachlassverwalter Gladstones, gab es wenige imperiale Netzwerker wie John Morley, die den Kompromiss anmahnten und vor den (extremen) Loslösungsprozessen warnten, weil sie Spaltungen, ob in Irland oder auf dem indischen Subkontinent, befürchteten. Eindringlich warnte er: „If there is to be any effective advance at all, it can only be secured by reasonable cooperation. Irrational demands ‚for the more‘ as I have put it, can hier S. 386: „to live in England, for the purpose of enjoying the pleasures of social intercourse – that would be like searching for flowers in a sandy desert.“ 119 Pearson: National Life and Character, S. 274 ff.; Patterson: An Essay on the National Character of the Athenians, S. 3. 86

Abb. 12: Thomas Theodor Heine: Der Engländer und seine Weltkugel. Simplizissimus, 13. Oktober 1914

only end in futility and confusion.“120 Es sollte daher versucht werden, die individuellen Biographien 120 Morley in einem Brief an Dutt, 25.10.1907, National Archives of India, New Delhi, Romesh Chunder

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in ihrem imperialen, wenn nicht globalen Bewegungs- und Erfahrungsraum darzustellen, der wiederum ihre Beziehungsgefüge und ihre Vorstellungswelten prägte. Auf den Punkt gebracht, bedeutet dies, dass die Biographien exemplarisch das Ineinandergreifen imperialer Ordnungsmuster verdeutlichen und die direkte Erfahrung von Mobilität im imperialen Raum als soziale und kulturelle Grenzziehung nachvollziehbar machen lassen. Die bewusste Beweglichkeit der Akteure hinterließ eine mental map der inneren Verfasstheit der Imperien und, hier exemplarisch, von dreien ihrer Grundzüge, nämlich Charakter, Herrschaft und Wissen. Dabei verwischt nicht nur der konstruierte Gegensatz zwischen „Metropole“ und „Peripherie“, sondern die binäre Gestaltung imperialer Herrschaftsbeziehungen überhaupt. Die Beziehung lautet entsprechend nicht allein zwischen „Mutterland“ und Kolonie. Vielmehr bildet sich eine Beziehung der Kolonien untereinander ab. Die Perspektive ist somit so vielfältig wie diejenige der Akteure selbst, weil diese innerhalb der kolonialen Systeme wanderten und die „Metropole“ zwar ein wichtiger, aber nicht ausschließlicher und einziger Referenzpunkt war. Unlängst hat dies Pankaj Mishra am Beispiel von Jamal al-Din al-Afghani überzeugend geschildert.121 Koloniale Expansion Dutt Papers, part 2, folio 59–61; vgl. ders.: On compromise, London 1897. 121 Pankaj Mishra: From the Ruins of Empire. The Revolt Against the West and the Remaking of Asia, London 2013, S. 46–123. 88

ist nie Stillstand, nie das Halten eines Status Quo. Sie ist stets Prozess, genauer: Bewegungsprozess bzw. Begegnung. An der Unterscheidbarkeit und der auf interkulturelle Transferleistungen zu prüfenden Vergleichbarkeit der Imperialismen ändert dies nichts. Noch David Hume beschrieb die Etablierung nationaler Charaktere auf globaler Ebene folgendermaßen: „The same set of manners will follow a nation, and adhere to them over the whole globe, as well as the same laws and language. The Spanish, English, French and Dutch colonies are all distinguishable even between the tropics.“122

122

Hume: Of National Characters, S. 205. 89

Abbildungsnachweis Abb. 1: „School begins“, Quelle: Library of Congress Abb. 2: „The white man’s burden“, Quelle: Ohio State Library Abb. 3: „The Collector“, © Punch Limited

Quelle:

Punch

Limited,

Abb. 4: „Ranjitsinhji Vibhaji“, Quelle: K. S. Ranjitsinhji Vibhaji, The Jubilee Book of Cricket, Edinburgh 1897 Abb. 5: „Political Divisions of the Indian Empire, 1909“, Quelle: The Imperial Gazetteer of India, Oxford 1909 Abb. 6: „Lord Cuzon“, Quelle: Library of Congress Abb. 7: „Maharaja Bhupendra Singh of Patiala“, Quelle: Library of Congress Abb. 8: Thomas Theodor Heine: © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

„Kolonialmächte“

Abb. 9: „En Chine“ © Bibliothèque nationale de France Abb. 10: „Kladderadatsch“ © Universitätsbibliothek Heidelberg Abb. 11: „La Civilisation Anglaise“ © Universitätsbibliothek Heidelberg Abb. 12: Thomas Theodor Heine: „Der Engländer und seine Weltkugel“ © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

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Zum Autor Benedikt Stuchtey, seit Wintersemester 2013 / 14 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Philipps-Universität Marburg. Studium der Fächer Philosophie, Deutsch und Geschichte in Münster, Freiburg / Brsg. und am Trinity College Dublin; Examen und Promotion in Freiburg, Habilitation in Konstanz; 2004–2013 Stv. Direktor des Deutschen Historischen Instituts in London; Gastprofessuren an den Universitäten Basel (2012 / 13) und Jawaharlal Nehru University, New Delhi (2015); Forschungsschwerpunkte in der Geschichte des Kolonialismus und Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert; zuletzt erschienen: Geschichte Irlands (Beck Verlag 2012); Die europäische Expansion und ihre Feinde. Kolonialismuskritik vom 18. bis in das 20. Jahrhundert (Oldenbourg Verlag 2010); Hg., Science Across the European Empires, 1800–1950 (Oxford University Press 2005).

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