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German Pages 306 Year 2014
Barbara Henry, Alberto Pirni (Hg.) Der asymmetrische Westen
Sozialtheorie
Barbara Henry, Alberto Pirni (Hg.)
Der asymmetrische Westen Zur Pragmatik der Koexistenz pluralistischer Gesellschaften
Die Veröffentlichung dieses Buches wurde unterstützt vom Italienischen Ministerium für Bildung, Universität und Forschung (MIUR – PRIN 2008).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Barbara Henry, Alberto Pirni Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1705-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung Barbara Henry, Alberto Pirni | 7
Erster Dialog – Das eigene Territorium erneut erkunden Universalismus und Partikularismus, heute. Ein philosophischer Gesichtspunkt Giuseppe Cacciatore | 25 Personale Identität als Politikum. Notizen zur theoretischen und politischen Bedeutung eines psychologischen Grundbegriffs Jürgen Straub | 41
Zweiter Dialog – Mögliche Verknüpfungen und Kontaminationen Ästhetische Kommunikation zwischen kulturellen Andersheiten Anna Czajka | 81 Interpretation und Kommunikation. Lebensformen im Dialog Fulvio Longato | 93
Dritter Dialog – Eine Topographie der Differenz Asymmetrien im Spiegelbild. Repräsentationen des Selbst und des/der Anderen Barbara Henry | 115
Das Gender-Prisma zwischen Identität und Alterität Anna Loretoni | 141 „Von Aussen Denken“. François Jullien und die Repräsentation des Anderen Heidrun Friese | 161 Vom Umgekehrten ausgehen: Alterität, Anerkennung und Freiheit Alberto Pirni | 187
Vierter Dialog – Asymmetrische Demokratien? Soziale Asymmetrie. Der Preis der pluralistischen Demokratie? Rortys Antwort auf Rawls Enno Rudolph | 211 Demokratische Differenzen. Anerkennung. Scham. Kritik der inklusiven Vernunft Antonio Carnevale | 225
Anhang Anfänge, Stadien, Probleme und Aufgaben interkultureller Philosophie. Ein Gespräch Anna Czajka, Franz Martin Wimmer | 255 Literatur | 273 Autorinnen und Autoren | 297
Einleitung B ARBARA H ENRY , A LBERTO P IRNI *
Von uns verlange nicht die Formel, die Welten öffne – nein, ein paar Silben nur, wie Reisig krumm und trocken. Nur eines ist’s, das heut wir sagen können: was nicht wir sind, was nicht wir wollen. EUGENIO MONTALE1
Der vorliegende Band zeichnet einen Weg nach, auf dem sich drei Themenbereiche, die für das kritische Verständnis unserer Gegenwart besonders relevant sind, miteinander verknüpfen. Obwohl sie in den einzelnen Beiträgen nicht in allen ihren Facetten beleuchtet werden, dienen sie allen Autorinnen und Autoren gleichermaßen als Orientierungspunkte. An erster Stelle steht das Thema des Westens. Er wird eher als politischer und kultureller, weniger als physischer „Ort“ betrachtet, als besonderer Standpunkt von hoher Komplexität, der einem kritischen „Blick“ unterzogen werden soll, um unser „Innen und Außen“, unsere eigene Verortung neu zu definieren. Zweitens geht es um
Aus dem Italienischen von Monika Pelz. *
Wie bei allen gemeinsamen Forschungsprojekten, ist der folgende Text das Resultat intensiver Zusammenarbeit der beiden Herausgeber, nichtsdestotrotz ist Barbara Henry die Autorin der Paragraphen 1 und 2, Alberto Pirni Autor der Paragraphen 3 und 4.
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Montale, Eugenio: Frag uns nicht nach dem Wort, in: Wer Licht abgibt, setzt sich dem Dunkel aus, Italienisch und deutsch, ausgewählt und übers. von H. Hinterhäuser, Waldbrunn: Horst Heiderhoff Verlag 1982, S. 11.
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das Thema der Asymmetrie und der damit verbundenen Emanzipation der Differenzen. Beide Aspekte sollen auf eine Weise dargestellt werden, die keine sozialen, kulturellen und politischen Vereinheitlichungen reproduziert. An dritter Stelle steht das Thema der Identität, sowohl in Bezug auf die individuelle Identität als auch auf die Identität von Gruppen. Die Auseinandersetzung konzentriert sich dabei auf Probleme der Anerkennung und des Pluralismus, und auf deren jeweilige Kehrseite, die Missachtung und die Eindimensionalität des Sozialen, die immer mehr oder weniger ausdrücklich vorhanden und zweifellos im Innern unserer Gesellschaft wirksam sind. Im vorliegenden Band versuchen wir, einen Überblick dieser oft simultan auftretenden Phänomene zu geben. Wie bereits deutlich geworden sein dürfte, handelt es sich um drei „kompakte“ Themenbereiche, drei engmaschige Gebilde, deren volle Komplexität erst in ihrer gegenseitigen Verflechtung offensichtlich wird. Die Autorinnen und Autoren des Bandes versuchen deshalb weniger diese begrifflichen „Knäuel“ zu entwirren, vielmehr geht es ihnen – um bei der Metapher zu bleiben – darum, einzelne Fäden aufzunehmen und andersartig miteinander zu verknüpfen. Zur Einführung in das Geflecht, gleichsam zum Einstieg in die Lektüre des Bandes, werden wir zunächst einige der Knotenpunkte vorstellen, die dann in den einzelnen Beiträgen genauer und ausführlicher analysiert werden.
1. Ü BER
DEN W ESTEN HINAUS : VON JENSEITIGEN B LICKWINKELN AUSGEHEN
Der Band stellt den Versuch dar, den eigenen, gewohnheitsmäßigen Standpunkt auszuklammern, jenen Blickwinkel, der so selbstverständlich ist, dass er zwar bekannt, aber, wie Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes bemerkte, deshalb nicht erkannt ist.2 Innerhalb eines gesicherten Mainstreams pflegt man eine Vielfalt sehr unterschiedlicher politischer, sozialer und kultureller Phänomene auf eine einzige
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„Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt“. Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes [1807], in: Werke in zwanzig Bänden, hg. v. E. Moldenhauer und K.M. Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, Bd. 3, S. 35.
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Kategorie zu reduzieren: den Westen. Doch was üblicherweise als der Westen bezeichnet wird, sollte eher im Plural definiert werden.3 Den Westen zu denken, ohne dabei sofort in die Falle eines – positiven oder negativen – Vorurteils zu tappen, kann als ebenso nutzlos angesehen werden wie die eigene Augenfarbe ohne die Hilfe eines Spiegels erkunden zu wollen.4 Doch so befremdlich dieser Versuch auch erscheint, er ist ebenso notwendig wie unvermeidlich, wenn man irgendwie der von Zufälligkeiten gelenkten politischen Praxis unserer Gegenwart entgegenwirken möchte, hinter der sich eine theoretische Unbeweglichkeit verbirgt. Der vorliegende Band basiert auf einer Gemeinschaftsarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die seit einigen Jahren dieses Forschungsfeld theoretisch und methodologisch reflektieren. Die gemeinsame Forschungspraxis hat sie so eng zusammengeführt, dass sie in ihrer Betrachtung der Begriffe Identität und Alterität, Anerkennung und Missachtung, sowie „Kultur“ (im weitesten Sinne des Wortes) weitestgehend übereinstimmen, ohne deshalb individuelle Unterschiede zu verwischen. Ihre Arbeit zu den Begriffen Anerkennung und Pluralismus verstehen sie als kritisch-reflexiven Beitrag zur Debatte über den Westen. Dabei sollen Phänomene, die als konstitutive Elemente und „Eckpfeiler“ der Gegenwart zu betrachten sind, begrifflich erfasst und mittels verschiedener Paradigmen der Sozialwissenschaften sorgfältig untersucht werden. Der hier angesprochene spezifische Westen ist konstitutiver Teil Europas. Wie jede Einzel- oder Gruppenidentität schafft und entwickelt er vornämlich aus sich selbst heraus ein ihm korrespondierendes Konzept der Alterität. Darüber hinaus wird er als polity sui generis betrachtet, als strategische, in die atlantische geopolitische Dimension eingefügte Makroinstanz, wenngleich er sich bekanntermaßen insgesamt grundlegend von den Vereinigten Staaten unterscheidet. Wie immer gewinnt das im Rahmen dialektischer und kontrastiver Betrachtungsweise aufgeworfene Problem „Wer sind wir?“ nur in Be-
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Von jetzt an steht der Westen für die Westen, auch wenn im Folgenden der Terminus weiterhin, wie allgemein üblich, im Singular verwendet wird.
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Wir spielen hier auf Versuche an, das Abbild des eigenen Körpers ohne die Hilfe eines Spiegels betrachten zu wollen. Man könnte zwar reflektiert in einem Schattenspiel oder mittels eines Wasserspiegels seine Umrisse erkennen, nicht aber die eigene Augenfarbe.
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zug auf die Frage „Wer sind die anderen?“ an Kontur. Das symbolische Gebilde des europäischen Westens stellt unter diesem Gesichtspunkt keine Ausnahme dar: Simultan zur eigenen Selbstkonstruktion kreiert der Westen beständig Alteritäten und Alternativen zu sich selbst. Das westliche Wissenschaftsparadigma ist noch immer ein System aus Gedanken und Diskursen, ein Begriffsinstrumentarium, vor allem aber war es über Jahrhunderte hinweg der Blick auf die Welt, das Konstruktionsmodell für soziale Wirklichkeiten, das als überall und für jeden gültig ausgegeben wurde. Andererseits aber findet man das aus dem Innern heraus wirkende Erosions- und Dekonstruktionspotential dieses Paradigmas in genau jenen politologischen und sozialen Wissenschaften, die zu seiner Errichtung beigetragen haben. Tatsächlich hat die Kritik an Begriffsapparaten und sozialen Praktiken, die negativ beurteilt werden, größere Aussicht auf Erfolg, wenn die Verfechter dieser Kritik mit und innerhalb der Konzepte arbeiten, die sie aufheben möchten: Wissenschaftler können über individuelle Stereotypen und Vorurteile forschen, um die kollektiven auszuhöhlen und zu entmachten.5 Neben einer Hermeneutik, die der vielschichtigen Bedeutung des Konzepts der Alterität gerecht wird, boten zunächst die gender studies, insbesondere der philosophische Ansatz des poststrukturalistischen Feminismus, wichtige Anregungen für den im vorliegenden Band eingeschlagenen Weg. Die gender studies, die in gewisser Weise die Lehren des Pragmatismus wieder zu neuem Leben erweckten, haben in der Diskussion um Identität und Alterität einerseits, Individuum und Kultur andererseits, zu innovativen Ansätzen geführt. Sie trugen verschiedentlich dazu bei, die Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen als beständigen Austausch zu betrachten. Statt einer linearen Bewegung, die von der Vereinigung zur Trennung führt, rücken sie ein asymmetrisches, konfliktgeladenes Gleichgewicht in den Vordergrund, das immerzu zwischen den beiden Momenten der Identitätskonstruktion und der Wahrnehmung der Alterität ausbalanciert werden muss.
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Schlägt man diese Denkrichtung ein, so darf der Band als ideale Fortführung einer in einer früheren Studie verdichteten Forschungslinie verstanden werden. Allerdings wird sie im vorliegenden Band sowohl in methodologischer als auch in thematischer Hinsicht erweitert. Vgl. Pirni, Alberto (Hg.): Logiche dell’alterità, Pisa: ETS 2009.
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Die gender studies haben somit dazu beigetragen, die Vielschichtigkeit und Komplexität eines Kontrapunkts zur monologischen Identitätstheorie aufzuzeigen, die ihrerseits häufig in schwerwiegende theoretische Sackgassen und gleichzeitig zu einschneidenden politischen Unterlassungen geführt hat. Die zweite thematische und methodische Erweiterung des mit dem vorliegenden Band eingeschlagenen Denkwegs, könnte als Weiterentwicklung der von den gender studies ausgehenden Anregung betrachtet werden. Die Offensichtlichkeit, wonach wir in einer Reihe von generationen- und kontextabhängigen Situationen nicht eigenständig sind, sollte uns die Tatsache vertraut erscheinen lassen, dass unser originärer Zustand nicht durch Unabhängigkeit, sondern durch Abhängigkeit gekennzeichnet ist. Wir werden geboren, leben und beenden nicht selten auch unsere Existenz innerhalb asymmetrischer Beziehungen, die wir häufig nicht ausgewählt haben und fast nie für wünschenswert erachten. Oft können, ja müssen wir mit diesen Beziehungen zurechtkommen. Um die „Grammatik“ der Gerechtigkeit – auch der individuellen, nicht nur der sozialen – neu schreiben zu können, müssen wir je nach den unterschiedlichen Prioritäten, die wir uns im Laufe unseres Lebens setzen, unterscheiden können, welche dieser Beziehungen wir lockern oder auflösen möchten, und welche wir andererseits für fundamental wichtig halten und weiter bestehen lassen wollen. Auch andere Male müssten wir eigentlich asymmetrische Situationen bewältigen, in die wir „geworfen“ wurden, doch ist uns die Möglichkeit dazu nicht gegeben. Zu denken wäre beispielsweise an soziale und ökonomische Asymmetrien, die extrem und von außerordentlicher Bedeutung sein können. Sie werden von unseren Gesellschaften sowohl in ihrem Innern als auch in Bezug auf ihr Draußen reproduziert und auf Dauer gestellt. Zur Abschaffung dieser Asymmetrien genügt gewiss kein voluntaristischer Akt der Distanzierung, insbesondere nicht von Seiten derjenigen, die von diesen Beziehungen persönlich betroffen sind und auf der „falschen“, d.h. auf der benachteiligten Seite stehen. Diese Asymmetrien verlangen vielmehr auf institutioneller und makrosozialer Ebene nach Ansätzen zu ihrer Beseitigung oder Abschwächung. Die politische und soziale Theorie darf sich deshalb der Thematisierung dieser Asymmetrien nicht entziehen.
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2. Ü BER DIE ASYMMETRIE HINAUS ? D IFFERENZEN , E MANZIPATION , D IALOG Der Hauptzweck dieses Bandes besteht folglich darin, die Kartographie eines sich im Laufe des Beobachtungsprozesses dynamisch und beständig verändernden Territoriums zu skizzieren, das für die meisten unsichtbar bleibt, dessen Gegenwart jedoch immer in irgendeiner Form von Individuen und Gruppen als eine immanente normative Notwendigkeit für die westliche Gesellschaft wahrgenommen wird.6 Es handelt sich dabei um den Bereich, in dem sich die theoretischen und methodischen Bedingungen für eine die Differenzen nicht vereinheitlichende Emanzipation abzeichnen, wobei unter Differenzen alle sich manifestierenden spezifischen Besonderheiten verstanden werden, sowohl die zu garantierende Diversität als auch die zu bekämpfenden Missachtungen und Diskriminierungen. Das Universum bzw. die Universen der Differenzen zu emanzipieren, bedeutet zunächst, diese beiden Pole sichtbar werden zu lassen. Ferner geht es darum, Diskurse, Gründe und Motivationen auszumachen, um Diversität bis zu ihrer vollständigen Einbeziehung zu fördern und Diskriminierungen solange zu ächten, bis sie wirklich ausgeschlossen sind. Dabei handelt es sich um eine kognitive, weniger um eine präskriptive Haltung. Die veränderte Verhaltensweise darf auch nicht auf das Innere demokratischer Zusammenhänge beschränkt bleiben, vielmehr sollte sie sich nach außen richten, d.h. sich jenen Bereichen zuwenden, die weder aktuell demokratisch strukturiert sind, noch andeuten, den Weg zur Demokratie in naher Zukunft einschlagen zu wollen oder zu können. Anzustreben ist eine dreidimensionale Kartographie, in der – metaphorisch gesprochen – Hydrographie und Orographie keine undurchdringlich nebeneinander existierenden Sektoren sind, sondern miteinander interagieren. In dieser kartographischen Wiedergabe gibt es keine Fixpunkte, die dem Prozess der Neudefinition und Neuverortung entzogen wären. Eine solche Darstellung des kulturellen, politi-
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Eine Kartographie beschreibt ein Territorium, das ständiger Veränderung unterliegt, deshalb ein ständig sich wandelndes Bild abgibt. Wir beziehen uns hier auf die philosophische Konstellation des feministischen Poststrukturalismus. Vgl. insb. Griffin, Gabriele / Braidotti, Rosi: Thinking Differently. A Reader in European Women’s Studies, New York: Palgrave Macmillan 2002.
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schen und juristischen Territoriums des Westens darf aber weder ideologisch noch militant erscheinen, weder apokalyptisch noch terrorisierend, vielmehr sollte sie realistisch, anpassungsfähig und pragmatisch sein. Vor allem müsste ein Territorium, das dieser Vorstellung entspricht, fähig sein, mit der Unvorhersehbarkeit (expliziter oder latenter) sozialer Konflikte umzugehen, die sich aufgrund zahlreicher Faktoren endogen bilden oder „einfach“ nur beherbergt werden, da sie von außen „importiert“ worden sind. Wir würden uns wünschen, dass eine solche aufklärende Kartographie in ihrer materiellen und symbolischen Verkörperung rezeptiv ist und das – nur mutmaßlich bekannte - Territorium „anzuhören“ versteht, seine Logiken, d.h. seine Sprachen, seine vorgebrachten und vergleichbaren Argumente, gleichzeitig aber auch seine vermeintlichen oder tatsächlichen Nicht-Logiken. Mit diesem Ausdruck soll auf etwas verwiesen werden, dass sich in seiner strukturellen Eigenständigkeit nur außerhalb des sprachlichen Mediums zeigt, nichtsdestotrotz aber für Individuen und Gruppen eine starke Motivation darstellt, etwas zu tun oder zu lassen, zu handeln oder sich einer vorgeschriebenen Handlungsweise zu entziehen. Dieses „etwas“ ist stets Teil unserer kulturellen, politischen und sozialen „Territorien“, auch wenn wir nicht die Fähigkeit haben, „es“ mit unseren Reflexionsformen vollständig zu erfassen. Das ehrwürdige Lemma „Logik“ mit seiner tausendjährigen Geschichte, die nicht zufällig in konzentrischen Bahnen um die Geschichte des Abendlandes verläuft, wird hier erwähnt, um zu versuchen, differente, aber nicht divergierende Semantiken zusammenzuhalten. Sie könnten das Resultat einer doppelten Notwendigkeit sein: „die Differenz ausdrücken“ – hier verweist „Logik“ auf die Notwendigkeit neuer Grammatiken der Differenz – und gleichzeitig „mit der Differenz und ausgehend von ihr handeln“ – hier verweist „Logik“ auf die entsprechende Notwendigkeit neuer Praktiken der Differenz. Diese beiden Reflexionsmomente beziehen sich einerseits auf das (theoretische) Problem der Identifikation und des Sagbaren in Bezug auf das Andere, das Unähnliche und Differente jenseits des Essentialismus und andererseits auf das (politische) Problem des Handelns mit dem (aber auch im Namen des) Anderen, Unähnlichen, Differenten, mit dem wir dieselben Räume unseres Alltags teilen müssen, mit dem wir aber gleichzeitig und wünschenswerter Weise in der Gegenwart und über sie hinaus zielgerichtete Projekte organisieren und teilen könnten.
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Eine die Differenzen nicht vereinheitlichende Emanzipation ermöglicht es, sich auf neuen Wegen dem Thema der Alterität, als der spiegelbildlichen Verdoppelung jedes möglichen Diskurses zum Identitätsthema, zu nähern. Gleichzeitig kann man auch der unumgänglichen begrifflichen Dyade sprechen über/handeln mit dem Anderen neu begegnen. Diese Wege versuchen wir mit dem vorliegenden Band zu beschreiten. Dennoch trifft auch diese Praxis, die alle verfügbaren Wege untersucht und erforscht, selbst diejenigen, die für den symbolischen und materiellen Austausch weniger offensichtlich sind, häufig auf Hindernisse, die, obwohl sie historisch konnotiert und situationsbedingt sind, unüberwindlich erscheinen. Die asymmetrische Gesellschaft der Unähnlichen, in der wir unweigerlich verortet sind und die den wahrscheinlichsten und dauerhaftesten Horizont unseres Zusammenlebens ausmacht, lässt uns bei jedem Schritt bewusst werden, dass sich die latente Radikalität der Gegensätze sowohl im Einzelnen als auch in der Gruppe, selbst der Gruppe der Herrschenden, zeigt. Der Verzicht auf einen Krieg unter den Bedingungen eines latenten Konflikts stellt die Regel dar, nicht die Ausnahme. Doch die Regel muss zum Habitus gehören, bewusst ausgebildet, gewollt und ausgeübt werden, andernfalls kommen schneller als gedacht andere Momente auf den Plan, derentwegen das Gleichgewicht zwischen den Unähnlichen zerstört und diese sich auf einen gewalttätigen Konflikt einstellen, für den es keine Kompensationspraktiken gibt. Die Regel sollte zu einer Pragmatik der alltäglichen Koexistenz „moralischer Fremder“ werden, insbesondere nach dem radikalen Bruch, den der 11. September 2001 im reflexiven Selbstverständnis der Bürgerinnen und Bürger des Westens bewirkte – und nicht nur in ihrem, wie die Umwälzungen in den arabischen und islamischen Mittelmeergebieten im Frühjahr 2011 zeigten.
3. J ENSEITS DER G RENZEN VON I DENTITÄT , ANERKENNUNG UND P LURALISMUS Die Kontextualisierung, die lexikalische und symbolische Behandlung, die der Verbindung von Identität, Alterität und Kultur vorbehalten ist, wird zu Recht innerhalb und außerhalb des Westens als experimentum crucis betrachtet: Der dekonstruktive Blick auf die facettenreichen, ausgefransten und asymmetrischen Identitäten des Westens bildet des-
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halb nicht zufällig das theoretische, aus unterschiedlichen Knäuel zusammengesetzte Beziehungsgeflecht des gesamten Bandes. Einerseits erlaubt, wie oben bereits ausgeführt, der in der Philosophie kanonisch gewordene Gebrauch der Kategorie des Westens, diesen als eine polymorphe, metaphysische, soziale und institutionelle Dimension vorzustellen, die von Brüchen und Spaltungen durchzogen wird, die nicht immer reflektiert, sondern, weil sie schmerzlich sind, häufig eher verdrängt und vergessen werden. Andererseits bedient sich der vorliegende Band einiger bemerkenswerter Beiträge der bereits klassisch zu nennenden Debatte, die auf unterschiedliche Weise zum Thema der Identität und der Anerkennung gehören. Diese beiden (politischen und kulturellen) Kategorien werden auf den folgenden Seiten zum entscheidenden Kriterium für die Analyse der zu untersuchenden Phänomene. Zu behaupten, eine Positionierung bezüglich des Identitätsbegriffs sei ein unumgänglicher Schritt, heißt, zu erklären, dass es divergierende und inkompatible Bedeutungen und Modalitäten der Identitätskonstruktion gibt, die als eindeutige Polaritäten auftauchen, wenn sie als Kollektividentitäten konzipiert werden. Zwei Identitätsmodelle sollen an dieser Stelle kurz vorgestellt werden: Das erste, sogenannte normativ-konstruierende Modell wird verwendet, um den wahren oder mutmaßlichen Mitgliedern der Kollektividentität gemeinsame Charakteristiken und Qualitäten, historische Kontinuität, Stabilität und Kohärenz in ihrem Verhalten und ihren Gebräuchen mit praktisch-moralischem Wert aufzuzeigen, vorzuschreiben oder sogar von außen aufzuzwingen. Diese vielfachen, gleichfalls determinierenden und statischen Zuschreibungen erfolgen, um die Mitglieder in einem einzigen Schicksal zusammenzuschließen. Das zweite, sogenannte reflexiv-interpretierende Modell wird verwendet, um die Praktiken, Selbstdarstellungen und Weltanschauungen zu beschreiben, die von konkreten Subjekten, die sich eine bestimmte, sowohl synchron als auch diachron verstandene Identität zuschreiben, definiert und kommuniziert werden. Der Beobachter betrachtet die Individuen als Handelnde und Gesprächspartner in wechselseitigen Beziehungen, wobei er die Möglichkeit schmerzlicher Auseinanderset-
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zungen und Krisen mit in Betracht zieht, die unabänderlich dazu neigen, den Rahmen bisher fraglos geteilter Wertbezüge zu sprengen.7 Infolge der aus den oben genannten typologischen Differenzierungen resultierenden Perspektive, zeichnet der Band weder die Diskussionen des multikulturellen Paradigmas nach, noch hält er sich mit der Betrachtung der Gründe seiner Gegner oder Kritiker auf. Außerdem verzichtet er auf die ermüdende Reproduktion der Denkbewegung jener (längst erschöpfend dargestellten) Gegenüberstellung des normativen Modells distributiver Gerechtigkeit (Fraser) mit dem diagnostizierenden und kritischen Modell der Anerkennung (Honneth). Mit diesem exzentrischen Ansatz, der implizit noch einmal auf Montales Verse verweist, soll vermieden werden, dass die philosophische, politische und soziale Debatte über Anerkennung und Gerechtigkeit in einer Art scholastischer Selbstreferenz verkümmert. Darüber hinaus hat sich die Diskussion über den Begriff der Anerkennung längst in verschiedene Richtungen ausgeweitet und zu zahlreichen neuen Verästelungen geführt.8 Auch wenn diesen an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen
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Straub, Jürgen: »Identität«, in: Jäger, Friedrich / Liebsch, Burkhard (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart: Metzler 2004, S. 277-303.
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Wir beschränken uns hier auf die Nennung einer eng begrenzten Auswahl von Arbeiten mit klarem Bezug zum Thema aus dem westeuropäischen Sprachraum, wenngleich es interessant wäre, nachzuprüfen, ob und auf welche Weise das Thema innerhalb der orientalischen Philosophie aufgegriffen wurde. Vgl. De Lucas, Javier: Globalización e identidades. Claves políticas y jurídicas, Barcelona: Icaria 2003; Bonan, Egle / Vigna, Carmelo (Hg.): Etica del plurale. Giustizia, riconoscimento, responsabilità, Mailand: Vita e Pensiero 2004; Betrán, Raúl Susín / San Martín Segura, David (Hg.): De identidades: reconocimiento y diferencia en la modernidad líquida, Valencia: Tirant lo Branch 2008; León, Emma (Hg.): Los rostros del otro: reconocimiento, invención y borramiento de la alteridad, Barcelona: Anthropos 2009; Verweyst, Markus: Das Begehen der Anerkennung. Subjekttheoretische Positionen bei Heidegger, Sartre, Freud und Lacan, Frankfurt am Main und New York: Campus 2000; Oliver, Kelly: Witnessing. Beyond Recognition, Minneapolis: University of Minnesota Press 2001; Thompson, Simon: The Political Theory of Recognition, Cambridge: Polity Press 2006; van den Brink, Bert / Owen, David (Hg): Recognition and Power. Axel Honneth and the Tradition of Critical Social
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werden kann,9 so darf doch behauptet werden, dass der gegenwärtige Stand der Ausarbeitungen zu diesem Thema eine Dyskrasie erkennen lässt. Einem Mehr auf theoretischer Ebene, das sich in einer eindeutig fortschreitenden Verfeinerung des Begriffs und einer immer größer werdenden Zahl von Autoren manifestiert, scheint ein Weniger auf Seiten der konkret angewandten Praxis gegenüberzustehen. Eine Übersetzung der innovativen Beiträge der politischen und sozialen Philosophie in konkrete policies scheint weder selbstverständlich, noch ohne Weiteres möglich. Der Band bemüht sich außerdem, die jüngsten, noch unvollständigen Beiträge der gegenwärtigen Diskussion aufzugreifen, in denen es um die Versprechen geht, die von beiden Paradigmen der Anerkennungstheorie nicht eingehalten wurden. Insbesondere unsere Epoche verlangt nach einer erneuten Analyse der Pathologie des Sozialen (die infolge notwendiger Einzelbetrachtungen sogar im Plural als Pathologien des Sozialen zu bestimmen sind). Der Band will also einerseits der politischen Philosophie zur Legitimation der demokratischen Institutionen einen neuen Beitrag liefern, indem Demokratie, die fundamentale Bedeutung des Begriffs selbst, reflektiert wird. Andererseits scheint es notwendig, zu klären, ob es
Theory, Cambridge: Cambridge University Press 2007. Vgl. außerdem die zwei monographischen Hefte der italienischen Zeitschrift post-filosofie mit den Titeln: »Multiculturalismo« (II, 2006) und »Interculturalità e riconoscimento« (IV, 2009). 9
Aus den erst kürzlich erschienenen Arbeiten, die diesen Themenbereich umfangreich dokumentieren, sei hier nur die monographische Sektion mit dem Thema „La teoria del riconoscimento“ in den Quaderni di Teoria Sociale (Nr. 8/2008, S. 9-215) erwähnt, die von Franco Crespi, Massimo Rosati und Ambrogio Santambrogio herausgegeben wurde; dazu Marcucci, Nicola / Pinzolo, Luca (Hg.): Strategie della relazione. Riconoscimento, transindividuale, alterità, Rom: Meltemi 2010, sowie Schmidt Am Busch, Hans-Christoph / Zurn, Christopher F. (Hg.): The Philosophy of Recognition: Historical and Contemporary Perspectives, Lanham: Lexington Books 2010. Eine ausführliche Sammlung von Studien mit den wichtigsten Stimmen der gegenwärtigen internationalen Debatte zum Thema bieten die monographischen Hefte »Riconoscimento e misconoscimento« sowie »Identità, alterità e riconoscimento« der Zeitschrift post-filosofie (I, 2005 bzw. II, 2006).
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möglich oder sogar wünschenswert wäre, die Sprache des Rechts mit der gebotenen Sensibilität für die Zusammenhänge des Lebens, in ein politisches Vokabular zu übersetzen, um gute Normen und gute Praktiken zu entwickeln.10 Beide Reflexionsmomente, die hier auf unterschiedliche Weise sondiert wurden, können unter bestimmten Umständen zu einer solchen Entwicklung beitragen, falls sie sich als Träger diagnostischer und möglicherweise auch therapeutischer Indikationen für die sozialen Pathologien erweisen, die durch verschiedene Formen der Missachtung ausgelöst werden.
4. D ER
THEMATISCHE
W EG
Der Band gliedert sich um die Themenkomplexe Identität, Alterität, Anerkennung, Differenz, Demokratie und Pluralismus. Ausgehend von kurzen, prägnanten Skizzen zur Bedeutung der einzelnen Begriffe, entwickelt sich der thematische Weg, dessen Grundstruktur nun abschließend vorgestellt werden soll. Die Notwendigkeit einer unermüdlichen und letztlich endlosen Auseinandersetzung zwischen dem Wissen und den Wissenschaften vorausgesetzt, wurde der Band in vier Dialoge unterteilt. Der erste Dialog (Das eigene Territorium erneut erkunden) schlägt Neuinterpretationen „begrifflicher Orte“ vor, die für die Ausbildung der Grundvorstellungen westlicher Männer und Frauen paradigmatisch sind. So wird die Dialektik zwischen Universalismus und Partikularismus, die dem westlichen Denken besonders wichtig ist, einer Überprüfung unterzogen. Die Autoren konzentrieren sich dabei auf die ständige Wechselbeziehung zwischen ausdifferenzierten Partikularitäten und der Tendenz zu einem geteilten Universalismus. Letzterer zielt darauf ab, ausgehend von seiner relationalen und dynamischen Programmatik, auf die Bestimmung eines „ewig“ gültigen bzw. dem Leben der Individuen übergeordneten Prinzipien- und Wertekatalogs zu verzichten (Cacciatore). Die Dialektik zwischen Universalismus und Partikularismus tritt mit einer anderen Grundkonstruktion unseres Seins oder
10 Diese unverzichtbaren Problematisierungen wurden unter vielfältigen Gesichtspunkten betrachtet, u.a. in einem kürzlich erschienenen italienischen Band von internationaler Relevanz: Carnevale, Antonio / Strazzeri, Irene (Hg.): Lotte, riconoscimento, diritti, Perugia: Morlacchi 2011.
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unseres „westlichen“ Selbstverständnisses in Dialog: dem Begriff der Identität. Er wird sowohl als Kategorie zur Erklärung der wichtigsten, seit Beginn der Moderne auftauchenden sozialen Veränderungen untersucht, als auch als psychologisch-heuristische Kategorie im Zusammenhang mit der Konstruktion der typisch modernen individuellen Subjektivität analysiert (Straub). Der zweite Dialog (Mögliche Verknüpfungen und Kontaminationen) verortet sich innerhalb dieser vorgeschlagenen Kategorieneinteilung. Hier wird in erster Linie die Möglichkeit der Dekonstruktion des autoreferenziellen Kerns der symbolischen Systeme der Kulturen diskutiert und nach einer Verhaltensweise gesucht, die authentische „Kontamination“ und interkulturelle Osmose, hauptsächlich im Bereich der Produkten der ästhetischen Kommunikation, ermöglicht (Czajka). Im Bewusstsein der einheitsstiftenden Funktion der Lebenswelt und der Unvollkommenheit der Interpretationsverfahren, setzt sich der Dialog fort, indem nun die Bedeutung analysiert wird, die in der Kommunikation und in der Verständigungspraxis in und zwischen den Lebensformen dem Prinzip der wohlwollenden Interpretation (principle of charity) zukommt (Longato). Der dritte Dialog (Eine Topographie der Differenz) ist der umfangreichste. Er stellt unterschiedliche Interpretationen des Universums der Differenzen vor, ihre Art, diese zu beschreiben und zu verstehen, sie aufzuwerten oder zu bekämpfen. Vor allem aber untersucht er, wie Differenzen persönlich erlebt werden, um auf diesem Weg zu ihrer zunächst eher pragmatischen denn theoretischen Legitimation zu kommen. Der Dialog dreht sich um das Thema der Selbstdarstellung, er berührt und dekonstruiert Makrokategorien wie die des europäischen Westens und des Gender-Mainstreaming. Die angestrebten oder fehlenden Effekte in der Widerspiegelung von geschlechtsspezifischen sozialen Rollen, ebenso wie die Folgen dieses Vorgangs, werden auf mikropolitischer und sozialer Ebene herausgearbeitet und anhand von Formen der symbolischen Gewalt und „adaptiven Präferenzen“ untersucht (Henry). An diese Argumentationslinie können weiterführende Überlegungen anschließen, die sowohl Formen der verzerrten Widerspiegelung als auch Formen der Legitimierung und Anerkennung anderer Dimensionen der Differenz betreffen. Es handelt sich dabei um Denkrichtungen, die vor allem durch das Prisma der gender studies sichtbar und in
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die zeitgenössische Debatte eingeführt wurden (Loretoni). Phänomenologisch betrachtet kann die Differenz auch im räumlichen Sinn als Distanz und Entfernung vom eignen Selbst wahrgenommen werden. Diese Reise steht im Zeichen des auf den Anderen Zugehens, aber auch des sich selbst Denkens „außerhalb seiner Selbst“; es geht um die Suche nach einem neuen individuellen Bewusstsein mittels eines „anderen“ Wegs, der potenziell die Quelle des Neuen und der Verwunderung ist (Friese). Doch weder kann das Selbst sich verstehen, indem es in der Dimension der Selbstreflektion verharrt, noch ist das Andere nur das, was wir außerhalb unseres Jetzt und Hier vorfinden. Das „Unbehagen der Nähe“ gegenüber zahlreichen Figuren der Alterität in unserer Gegenwart verlangt deshalb, die Verbindung zwischen der Anerkennung des Anderen und der Freiheit des Selbst erneut zu betrachten und nötigt zu einer genaueren Analyse der nur scheinbar osymorischen Formen sozialer Freiheit (Pirni). Dieselbe Notwendigkeit prägt auch den vierten und letzten Dialog (Asymmetrische Demokratien?), der den explizit institutionellen Auswirkungen des vorangegangenen Dialogs gewidmet ist. „Demokratie“ bedeutet vor allem „Pluralismus“. Letzterer kann von der reinen (d.h. blinden und tauben) Akzeptanz der Diversität zur sensiblen Wahrnehmung der Differenz und zur raffinierten Verwaltung der sozialen Asymmetrie werden. Anders ausgedrückt, aus der „Tatsache“ kann eine „Norm“ für eine neue Form des Zusammenlebens werden, das von Solidarität geprägt ist, aber auch die Individualität respektiert, also einen dritten Weg zwischen Pragmatismus und Liberalismus aufzeigt (Rudolph). Innerhalb eines nahezu unbegrenzten Vokabulars möglicher semantischer Verweise bedeutet „Demokratie“ nicht zuletzt auch „Konsens“. In diesem Sinne betont der zweite Teil des vierten Dialogs die Notwendigkeit, innerhalb demokratischer Gefüge überhaupt erst wieder so etwas wie Solidarität zu rekonstruieren, und zwar ausgehend von Leidenschaften, die den Zugang zum „Sozialen“ stimulieren oder hemmen (wie die Scham, die sowohl auf die Selbsthemmung als auch auf die heteroinduzierte Exklusion verweist). Daraus ergibt sich in Bezug auf die Diversität die Notwendigkeit eines neuen Begriffs der inklusiven kritischen Vernunft (Carnevale). Wie alle Dialoge, wollen auch die hier vorgestellten nur eine oder einige der unzähligen Möglichkeiten des Austauschs und der Erneuerung von Begrifflichkeiten anregen, die wir aus unterschiedlichen
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Denktraditionen und Wissenschaftsbereichen überliefert bekommen haben. Zum Abschluss erfährt der nach außen gerichtete und den eigenen Standpunkt von außen betrachtende Blick, der im vorliegenden Band durchgängig gefordert und angewandt wird, eine weitere Verfeinerung. Der letzte Dialog von Anna Czajka mit Franz Martin Wimmer bezeugt die konkrete Entstehung des philosophischen Gedankens und seiner idealen Weiterführung über die Grenzen des eigenen kulturellen und historischen Ausgangshorizonts hinaus. Die Herausgeber möchten an dieser Stelle all jenen ihren Dank auszusprechen, die zum Erscheinen des Bandes beigetragen haben. Unser erster und aufrichtiger Dank gilt den Autoren/-innen; insbesonders gilt er Heidrun Friese und Jürgen Straub, die uns, jeder auf seine Weise, bei der Verwirklichung des Buchprojekts konkret geholfen haben, sowie Anna Loretoni und Fulvio Longato, die einmal mehr unsere wissenschaftlichen Diskussionen bereichert haben. Besonderen Dank schulden wie Monika Pelz und Antonio Carnevale, die mit unterschiedlichen Kompetenzen, aber gleicher Leidenschaft und Professionalität das Buchprojekt von Anfang an begleiteten: Monika Pelz danken wir für ihre Übersetzung einiger italienischer Beiträge ins Deutsche, Antonio Carnevale für die Erstellung des Literaturverzeichnisses, vor allem aber für seine großzügige Unterstützung bei der redaktionellen Vereinheitlichung der Texte. Außerdem möchten wir uns bei Catrin Dingler für ihre lektorische Hilfe in der letzten Phase vor der Drucklegung bedanken. Schließlich gilt unser Dank den zahlreichen Personen, die die Diskussionen anregten, die zu den hier vorgelegten Texten führten. Unser Danken möchten wir nicht zuletzt der Scuola Superiore Sant’Anna di Studi Universitari e di Perfezionamento in Pisa, einem Ort für innovative Ansätze in der Didaktik und Forschung, an dem unsere Arbeiten immer wieder neue Anregungen zur Reflexion erfahren. Pisa, Dezember 2011
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V ORBEMERKUNG Schon beim ersten Blick auf das Inhaltsverzeichnis des vorliegenden Bandes tritt den Lesern eine Vielzahl an Diktionen und Bedeutungen entgegen, die die ebenso zahlreichen Facetten der Alterität betreffen. Im Folgenden möchten wir in dieser kurzen Vorbemerkung nur eine notwendigerweise begrenzte semantische Einordnung vornehmen, da in jedem der Beiträge Alterität vollkommenen frei interpretiert wurde. Fangen wir mit dem einfachsten Punkt an. Der Ausdruck Der/Die Andere (im Singular wie im Plural) verweist auf die Vielzahl der empirischen „Anderen“, in einigen Fällen in ihrer Konnotation als geschlechterspezifische Wesen, in anderen als „signifikante“ „Andere“, d.h. hier wird auf ihre Kontextualisierung pragmatistischen Ursprungs angespielt, oder auf das ein Anderer/eine Andere sein bezüglich des eigenen Selbst. Komplizierter wird es, wenn man Alterität von Anderssein und Andersheit unterscheiden möchte. In allen drei Fällen sprechen wir über die philosophische Dimension und die damit verbundenen differenten semantischen Repertoires. An dieser Stelle soll auch offen gelegt werden, dass in den vorliegenden Texten bei diesen Repertoires die Anklänge an metaphysische und erhaben religiöse Aspekte der Begriffe unfreiwillig, wenn auch vielleicht unvermeidlich sind, da sie dem symbolischen Gehalt entsprechen, den ein Vokabular spekulativer Art sowohl in der italienischen als auch in der deutschen Sprache in sich birgt. Die Herausgeber sind sich der Bedeutung dieser Komplexität innerhalb solcher unterschiedlicher, hier nur synthetisch angesprochener Diktionen vollkommen bewusst. Sie überließen willentlich der wissenschaftlichen Verantwortung der einzelnen Autoren/Autorinnen die (implizite oder explizite) Wahl bei der Verwendung des einen oder anderen Terminus. Es ist zweifellos nicht leicht, ein eindeutiges „Vokabular der Alterität“ zu erstellen. Wenn wir jetzt am Ende zurückblicken, wäre es vielleicht nicht abwegig, den vorliegenden Band (auch) als Versuch zu lesen, diese Schwierigkeit ernst zu nehmen.
Erster Dialog – Das eigene Territorium erneut erkunden
Universalismus und Partikularismus, heute Ein philosophischer Gesichtspunkt G IUSEPPE C ACCIATORE
Heute sind die Versionen des Universalismus, die sich vom Gesichtspunkt der politischen Philosophie aus kritisch untersuchen lassen, sehr zahlreich. Ich verwende in diesem Zusammenhang die Klassifikationen, die von einer Philosophin und einem Soziologen vorgelegt wurden. Seyla Benhabib (Philosophin und Politikwissenschaftlerin an der Yale University) hat zur Beantwortung ihrer Frage, ob der Universalismus ethnozentrisch sei, mindestens vier verschiedene Modelle analysiert. Das erste Modell geht von der Annahme aus, dass es eine menschliche Natur als begründendes Wesen gibt, das uns nach der alten Tradition des Naturrechts menschlich macht. Das zweite Modell betrachtet den Universalismus vor allem von einem kognitiven Gesichtspunkt aus und sieht diesen als eine „Rechtfertigungsstrategie“, sowohl im negativen Sinn einer geforderten Objektivität, die dem Kontextualismus der Kulturen und der historischen Begebenheiten jedoch nicht zu entkommen vermag, als auch im positiven Sinn einer Rechtfertigung der Gültigkeit des normativen Inhalts der menschlichen Vernunft. Das dritte Modell ist wahrscheinlich das klassischste Modell des moralischen Universalismus, der im Grundsatz der Gleichheit von Rasse, Religion, Geschlecht und Kultur zum Ausdruck kommt; das vierte ist das Modell des juristischen Universalismus, demzufolge die grundlegenden Rechte des Menschen (auf Leben, Freiheit, Sicherheit, Rede-, Presse- und Religionsfreiheit, auf einen freien Prozess usw.)
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bestimmt werden müssen, damit sie anerkannt und in möglichst viele juristische Systeme eingefügt werden können.1 Es ist hier nicht angebracht, die Position von Benhabib im Einzelnen zu verfolgen, die sich im Wesentlichen auf den Zusammenhang zwischen Universalismus und multikultureller Anerkennung konzentriert. Ich möchte hier nur hervorheben, dass es sich um eine Forschung handelt, die nicht mehr das jusnaturalistische oder das begrifflich-kognitive Modell des Universalismus bevorzugt, sondern das politische der „deliberativen Demokratie“, demzufolge der physische und moralische Wohlstand einer Gemeinschaft von den Ergebnissen eines „freien und vernünftigen Deliberationsverfahrens unter Individuen abhängt, die auf moralischer und politischer Ebene als gleich betrachtet werden“. Kommen wir nun zur Klassifikation, die von einem Soziologen vorgeschlagen wird. Immanuel Wallerstein (ebenfalls von der Yale University) spricht von drei möglichen Versionen des Universalismus. Die erste wird in der These der „paneuropäischen“ Demokratie der Menschenrechte erkannt; die zweite ist die sozusagen triviale Überlegenheit über alle anderen Modelle des westlichen Demokratiemodells; die dritte identifiziert sich mit der absoluten Wahrheit und Gültigkeit des Marktes. Auch im Fall Wallersteins geht es mehr um eine soziopolitische als um eine philosophische Frage, wobei seine Position viel radikaler als die von Benhabib ist. Die meisten seiner Analysen gehen von der Überzeugung aus, dass die gegenwärtige Welt immer noch von einer ideologischen Auseinandersetzung zwischen dem eurozentrischen Universalismus und dem, was er paradoxerweise „universalen Universalismus“ nennt, durchzogen wird und wurde. Gleichzeitig weist er jedoch auch darauf hin, dass damit nicht etwa eine These des Ultrapartikularismus vertreten wird, die am Ende doch nur eine Kapitulation gegenüber dem europäischen Universalismus ist.2 Die Diskussion, die ich hier dagegen führen möchte, geht von einem sozusagen persönlichen und existenziellen Bedürfnis aus. Wie bezieht sich heute, kann sich ein Intellektueller, der Begriffe und Kategorien handhabt, auf eine der Ideen, hier des Universalismus, beziehen, die schon immer die Geschichte des Denkens beherrscht haben?
1
Vgl. Benhabib, Seyla: The Claims of Culture. Equality and Diversity in the
2
Vgl. Wallerstein, Immanuel M.: European Universalism. The Rhetoric of
Global Era, Princeton: Princeton University Press 2002. Power, New York und London: New Press 2006.
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Es gibt ein kulturphilosophisches Paradox, das schon seit längerer Zeit meine Gedanken und auch nicht wenige Momente meiner theoretischen und historiographischen Forschung beschäftigt: Es handelt sich um die umgekehrt proportionale Beziehung zwischen dem langweiligen Sichwiederholen eines konformistischen und negativen Urteils über den Historismus, der im besten Fall als nunmehr an einer schweren und unheilbaren Krise leidender Historismus betrachtet wird, und der immer offensichtlicher werdenden Beständigkeit und Stichhaltigkeit eines der Grundmotive des Historismus in seiner kritischen und problematischen Version. Ich meine damit die Suche, die angesichts der beschleunigten Phänomene der sozialen und kulturellen Veränderung der gegenwärtigen Welt in verschiedenen philosophischen Stilen und Sprachen zum Ausdruck kommt, nach der wiederkehrenden Vermittlung zwischen einer Denkordnung (die sich, wie ich im Folgenden zeigen werde, auch in einen sinnvollen und „kritischen“ ethischen Universalismus übersetzen lässt) und der nicht zu unterdrückenden Vielfalt der phänomenalen Unterschiede der Tatsachen der Welt und der Geschichte. Sowohl auf philosophischem Gebiet3 als auch im juristisch-philosophischen Bereich4 rückt m.E. eines der Grundthemen unserer Gegenwart immer mehr in den Mittelpunkt: die Begründbarkeit und die Plausibilität eines ethischen Universalismus, der, auch wenn er auf der Suche nach einer moralischen Norm ist, den Reichtum der kulturgeschichtlichen Differenz weder verliert noch verbirgt. In diesem Zusammenhang werde ich parallel vorgehend versuchen, eine Theorie der Interkulturalität und ihrer Ethik von einem begrifflichen und historiographischen Gesichtspunkt aus zu erklären. Diese wird nun nicht mehr als Individuation einer abgeschlossenen Gesamtheit von Grundsätzen und Werten aufgefasst, die sich im Vergleich zu
3
Dabei beziehe ich mich nicht nur auf meine kritisch-historistische Perspektive, sondern auch auf die Formen, in denen man versucht hat, die kantische Ethik auf die Ethiken des Gesprächs und der Kommunikation zu übertragen, ferner auf die Modelle der politischen Philosophie, die auf einer Überarbeitung des Universalismus in deliberativem Sinn gründen und schließlich auf die narrativen und dialogischen Ethiken, die den Hintergrund von nicht wenigen Theorien des Multikulturalismus und der Interkulturalität bilden.
4
Ich denke hierbei besonders an die Diskussionen über die prozessualen und normativen Inhalte der Demokratie.
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den Erfordernissen des individuellen Lebens überlagern, sondern als stetige Beziehung zwischen differenzierten Besonderheiten und der Tendenz zu einem geteilten Universalismus, der ethische und juristische Systeme hervorzubringen vermag und dessen Merkmal die Relationalität und Modifizierbarkeit bleibt. „Universalismus und Kontextualismus verknüpfen sich in der jeden möglichen Dialog begründbaren Dialektik, das heißt in der Dialektik zwischen der nicht zu verbergenden Historizität jeder Kultur (Sprache, Religion, Kunst, Literatur, Lebensstile, usw.) und der Perspektive der höchsten Verallgemeinerung der 5
Freiheit und der Autonomie der menschlichen Person“.
Auch wenn man die Idee des Universalismus noch einmal überdenkt und dabei auf der Ebene höchster logischer und erkenntnistheoretischer Konzentration bleiben will, rückt (vorausgesetzt, dass die philosophische und historische Perspektive nie vollkommen voneinander getrennt werden können) das Problem der Suche nach den Modalitäten (und der Möglichkeit selbst) fast immer in den Vordergrund. In diesen Modalitäten treten die normativen Inhalte der Vernunft (in welcher Deklination das auch immer geschieht: in ihrer realistisch-ontologischen, analytischen, hermeneutischen, kognitivistischen und neurobiologischen Form) und die realen und besonderen empirischen Phänomene, die sich nicht nur in ihrer nackten Gegebenheit, sondern auch und vor allem in der vielfältigen Darstellung zeigen, die sie durch die Geschichtswissenschaften, die analogischen Methoden, die ethymologischen und philologischen Verfahren und die politischen und zivilen Strukturen des gemeinschaftlichen Lebens erfahren, zueinander in Beziehung. Gerade aus diesen Gründen glaube ich, dass die Einordnung einer kritisch-historistischen Perspektive unter diese allgemeinen Koordinaten der postmetaphysischen Philosophien des zwanzigsten Jahrhunderts eine Wiederaufnahme des Diskurses über den Universalismus fern von jeglichen alten und neuen Formen von Dogmatismus möglich macht und ihn an die reale Dialektik der Konflikte und an das ununterdrückbare Material der kulturgeschichtlichen Differenzen bindet, ohne dass dies zu einer schematischen Umkehrung führt.
5
Vgl. Cacciatore, Giuseppe: »Capire il racconto degli altri«, in: Reset 97 (2006), S. 16-19, hier S. 17.
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Ich sagte bereits, dass sich die Philosophie der Interkulturalität neben ihren erkenntnislogischen, geschichtlichen und anthropologischen Profilen – in meiner Interpretation – als ein möglicher neuer Versuch darstellt, Universalismus und Partikularismus in der gegenwärtigen Situation zu konjugieren. Ich gebrauche absichtlich nicht den Begriff Relativismus, weil dieser heute scheinbar schon mehreren instrumentellen Versuchen der ideologischen Überbelichtung durch die Massenmedien unterzogen worden ist, die oft dessen begriffslogischen Sinn und Geschichte selbst verdrehen. Hier möchte ich mit Bezug auf meinen letzten Artikel nur anmerken, dass ein korrekter philosophischer Diskurs über den Relativismus nur von der Voraussetzung der Kritik an jeder absoluten Grundlage des Wissens und der Erkenntnis ausgehen kann. Es sei jedoch unter Beachtung der elementaren Geschichtskenntnisse und ebenso elementaren begriffslogischen Formen stets daran erinnert, dass „der Relativismus nicht immer mit dem Skeptizismus übereinstimmt, da in den meisten Fällen die Annahme eines Relativitätsprinzips nicht den Verlust der Zentralität der Rolle des Geschichtsbewusstseins oder der Rolle des erkennenden Subjekts oder schließlich der Rolle der Ethik im Leben des Individuums mit sich bringt. Einige Kritiken am Relativismus sind, natürlich mit Ausnahme derer, die auf den theologisch-dogmatischen Universalismus und auf die Historizität radikal ablehnenden Argumente Bezug nehmen, durchaus begründet. So ist von mehreren Seiten eine sinnvolle Unterscheidung zwischen Relativismus in ‚starkem‘ Sinn und Relativismus in ‚schwachem‘ Sinn vorgelegt worden, das heißt zwischen einem Relativismus, der jede Ethik und Epistemologie des Absoluten kontextualisiert und kritisiert, und einem Relativismus, der die Besonderheit des Kontextes mit dem Kriterium der Gleichwertigkeit und Vergleichbarkeit (auch auf der Ebene der ethischen Optionen) der Kontexte verbindet. Es ist vollkommen klar, dass man nur in der zweiten Version einen interkulturellen Diskurs (und folglich eine interkulturelle Praxis) beginnen, und damit die Idee der Beziehung als nützliches und unverzichtbares Gut zum Überleben des menschlichen Geschlechts aufs höchste hervorheben kann“.
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Nun nehme ich das Thema der Philosophie der Interkulturalität wieder auf, um zu sehen, welches Ausmaß das Problem des Universalismus
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Cacciatore, Giuseppe: »Relativismo e relatività nel dibattito filosofico contemporaneo«, in: Come alla corte di Federico II, VIII (2007), S. 17-18.
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darin annehmen kann. Von einem moralischen und dann notwendigerweise politischen Gesichtspunkt aus (wobei diese beiden Momente in interkultureller Hinsicht scheinbar eng miteinander verbunden sind und sein müssen, wenn sie an Abstraktheit und Formalismus verlieren wollen) kann das universalistische Paradigma, vor allem wenn es sich mit der historischen Spezifität einer besonderen Identität misst, nur versuchen, das relationale Verfahren in die Erfahrung einer kulturellen Kommunikation zu übersetzen, die die Gleichheit der Ausgangspunkte voraussetzt und auf der Überzeugung beruht, dass eine Hegemonie nicht auf eine einzige und ausschließliche kulturelle Tradition aufgebaut werden darf. Die interkulturelle Philosophie zeigt sich deshalb auch als eine Modalität des Denkens, die, wenngleich sie von der historisch bestimmten kulturellen Singularität und damit von einer unabdingbaren Möglichkeitsbedingung für das Recht auf Besonderheit ausgeht, nicht auf eine Dimension der Universalität verzichtet, die durch die Erkenntnis und die Kommunikation von gemeinsamen Elementen und durch alle von der interkulturellen Kommunikation gebotenen Gelegenheiten plausibel geworden ist. Es wird nun verständlich, wie, in meiner Sichtweise, der Zusammenhang zwischen Universalismus und Partikularismus / Kontextualismus auf dieser Ebene der Interkulturalität wiederhergestellt werden kann. Ich habe keine Bedenken, alles, was vom Gesichtspunkt des rein ethischen Diskurses aus eine notwendige Kontamination (man kann auch sagen eine eklektische Mischung und das sollte meiner Meinung nach niemanden zu sehr erschrecken) mit sich bringt, als verfolgenswert zu betrachten. Ich verstehe darunter eine Kontamination zwischen den Voraussetzungen und den Inhalten der praxistischen und utilitaristischen Ethiken (im Sinn der Beachtung und der Betonung der realen Bedürfnisse und Interessen, die das Handeln von einzelnen Individualitäten und kollektiven Individualitäten und damit auch von Staaten, Kulturen und Gemeinschaften begründen) und denen der universalistischen und transzendentalen Ethiken (im Sinne der Erkennung von Grundsätzen, die das größtmögliche Spektrum an Zustimmung und Gültigkeit erga omnes aufweisen). Neben dieser Wechselwirkung zwischen realistisch-historistischer Instanz (oder auch relationaler Instanz, was nicht das gleiche wie relativistisch ist) und normativ-universalistischer Instanz wird eine weitere und parallele Instanz notwendig, die unter anderem die Möglichkeitsbedingung einer jeden interkulturellen Ethik bildet. Ich beziehe mich auf die Bereitschaft (man könnte
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auch sagen auf die moralische Vorbedingung jeder interkulturellen Dynamik) aller Kulturen zum Dialog und Verständnis, die, wie ich bereits sagte, auf einen Erkenntnisaustausch der gegenseitigen Erzählungen über individuelle Leben und Traditionen, über Sprachen, literarische und künstlerische Codes, über religiöse Strömungen gegründet sind, sowie auf die notwendige Beziehung zwischen dieser verstehenden und dialogisierenden Bereitschaft und der Verknüpfung (die das vollkommene Gegenteil von Zusammenstoss ist) von verschiedenen und gleichen ethischen Weltanschauungen. An diesem Punkt lässt sich m.E. behaupten, dass die interkulturelle Ethik (und die Betonung liegt natürlich auf den Kulturen als artikuliertes und komplexes Phänomen, das nicht nur intellektuell, sondern auch sozial, politisch und ökonomisch ist) nicht als die Suche nach einer universalistischen Wertegesamtheit beschrieben werden kann, die folglich die Probleme der kontextuellen Erkennung und Realisierung der individuellen Lebensfähigkeiten in den Hintergrund verbannt. Auch in diesem Zusammenhang gilt es, der trockenen und unproduktiven Alternative zwischen Universalismus und Kontextualismus zu entkommen, um der interkulturellen Ethik Sinn und Glaubwürdigkeit zu verleihen. Das ist in dem Maße möglich, in dem man eine Idee vom menschlichen Leben in Betracht zieht (und in die Praxis umsetzt), die gleichzeitig die kontextuellen und transformativen Aspekte von individuellen differenziellen moralischen Erfahrungen und die Elemente eines geteilten Universalismus aufweist, welcher auch immer dazu bereit ist, sich mit einer Relationalität von Lebensstilen (zum Beispiel Traditionen, die in der langen Zeit fortbestehen oder kritischen Verwandlungsprozessen unterworfen werden) sowie ethischen und juristischen Systemen zu messen (die auch wieder Veränderungsprozessen unterworfen sein können, welche jedenfalls deren Wert, der in diesem Moment von allen anerkannt wird, nicht abschwächen und die auch auf veränderten sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnissen beruhen). Zieht man einen Ausweg in Betracht, der nicht weit von Habermas’7 philosophischer Neuformulierung des Begriffs der menschlichen Natur entfernt ist, wäre der Gebrauch von normativen Paradigmen nicht grundsätzlich auszuschließen, vorausgesetzt, dass diese
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Ich beziehe mich auf: Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001.
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nicht den Anspruch erheben, dass verschiedene Lebensformen nur im Lichte von Ermächtigungsgesetzen miteinander sprechen können (und noch viel weniger dabei die Fahne der „Leitkultur“ schwenken). Die „postmetaphysische“ Moralphilosophie (und damit auch eine interkulturelle Ethik) muss sich von Mal zu Mal in einer kritischen Reflexion messen, die nicht fordert, absolute und unwiderrufliche Grundsätze zu bestimmen und zu spenden, sondern nur die Aufgabe verfolgt, „moralische Gesichtspunkte“ zu erarbeiten, aufgrund derer Bewertungen und Urteile über diejenigen Handlungen definiert werden können, die ein Gut für die meisten Personen sein können. Es geht nicht mehr darum, mit einer Idee des ‚Sollens‘ als von einer abstrakten moralischen Gemeinschaft formuliertem aprioristischem Gesetz passiv kohärent zu bleiben, sondern eher darum, von einer konkreten Perspektive dessen auszugehen, was die Sphäre der persönlichen Fähigkeiten sowohl auf der Ebene der individuellen Lebensgeschichten als auch auf der der besonderen Formen des Sozial- und Kulturlebens stets erweitern kann. Es wäre ein unverzeihlicher Fehler (wie es manchmal in der Vergangenheit geschehen ist und auch heute noch geschieht), die Interkulturalität als ein irenisches Auslöschen der individuellen Differenzen und Spezifitäten von Personen und Gemeinschaften zu betrachten und sie als Ergebnis einer fatalen Kapitulation vor den Reduktionismen sowohl der rationalistischen Gleichmäßigkeiten als auch der fanatischen religiösen Fundamentalismen zu sehen. Das bedeutet nicht, ich wiederhole es, dass die Inhalte der interkulturellen Ethik auf normative Bezüge oder auf regulative Grundsätze, die auch eine universale und formale Gültigkeit haben, verzichten müssen. Es bedeutet nur, dass diese Grundsätze und Bezüge ihre Bindung zum Kontext, in dem sie entstehen und sich messen, nicht verlieren dürfen. Man würde von einer falschen Optik ausgehen, wenn man die interkulturellen Beziehungen als vollkommen aus ihren Kontexten und Strukturen, von denen die beteiligten Gesprächspartner objektiv ausgehen, herausgerissen betrachten würde. Von diesen Kontexten und Strukturen ist auszugehen, und nicht von universalen Paradigmen oder von ein für alle Mal gegebenen Katalogen. Es ist kein interkultureller Dialog denkbar, der nicht ständig die Tatsache berücksichtigt, dass die Grundsätze und Regeln – nach den Kritiken an der traditionellen Metaphysik, die von der historischen, hermeneutischen, transzendentalpragmatischen und schließlich analytischen Perspektive geäußert worden sind – nicht mehr von einem abstrakten Universalismus kommen, sondern von ei-
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nem historischen Universalisierungsprozess, der die Grundsätze in Betracht zieht, ohne ihnen dabei die Gesamtheit der sie auszeichnenden historischen und kulturellen Spezifitäten wegzunehmen. Ich glaube, dass man nun mit Putnam die vollkommene Plausibilität einer Ethica without Ontology8 behaupten kann, d.h. einer Ethik, die sich mit den moralischen Dilemmata und den praktischen Fragen zu messen weiß, und zwar aufgrund eines korrekten Gleichgewichtes zwischen Wert und Tatsache, zwischen dem ethischen Urteil und dessen Grundlage, die schließlich immer in dem historischen Kontext zu sehen ist, der das moralische Problem oder die praktische Frage ins Leben gerufen hat. Bei der Überlegung, welchen philosophischen Sinn man heute noch einer universalistischen Perspektive geben kann, die am obligatorischen Fixpunkt festhält, den die Antimetaphysik und die Kritik eines jeden substantialistischen Ontologismus bilden, scheinen m.E. die Beobachtungen, die sich aus den theoretisch sehr intensiven Seiten Pietro Piovanis, des Meisters meines Meisters, ergeben, sehr aktuell zu sein. Er kehrt in seinem letzten Werk zu einem Thema zurück, das schon Ende der fünfziger Jahre – in einem zu Unrecht vergessenen Buch über die Rechtsphilosophie – den Leitfaden seiner theoretischen Forschung bildete: den Zusammenhang zwischen Universalismus und Partikularismus.9 Und er kommt darauf auch nach einer historiographischen Umschiffung von Analysen und Aufsätzen zurück, die sozusagen als ‚Senklote‘ fungieren, bevor er schließlich am sicheren philo-
8
Putnam, Henry: Ethics without Ontology, Cambridge: Harvard University Press 2004.
9
Ich beziehe mich auf: Piovani, Pietro: Linee di una filosofia di diritto, Padua: CEDAM 1958. Ich zitiere aus der zweiten Ausgabe von 1964. Insbesondere vgl. das Kapitel XII, »Oltre universalismo e particolarismo«. „Verbunden mit dieser Perspektive ist natürlich eine Anschauung der Normativität, die es ablehnt, zu bestimmen, welche die absoluten und endgültigen Normen sind, die aufgrund ihres Inhaltes als universal obligatorische Regeln übernommen werden, aber die als Prinzip der Normativität nur das Kriterium aufnimmt, das die Spannung zur Norm erhebt, aufgrund der jedes Denken, jede Handlung, die sich verwirklichen soll, sich idealisieren muss, indem es sich auf einen Begriff bezieht, der mehr als die Unmittelbarkeit des einzelnen Denkens und der einzelnen Handlung ist“, S. 190.
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sophischen Ufer der großen antisubstantialistischen und antikosmologischen Revolution des modernen Universums landet. „Das moderne Denken, das sich der eigenen Intuitionen stets bewusst ist, kann in seinen grundlegenden Merkmalen als eine Kritik aller Versuche gesehen werden, die das Sein substantialisieren und dessen Hochmut bezeugen. Nicht umsonst ist dieses eine bewusste Entkosmologisierung, also ein Abbau der Ordnung, von der das Sein, um sich Stabilität zu sichern, eine einbeziehende 10
Struktur gesucht hatte“.
Die Aufhebung des Kosmos, schreibt Piovani, wobei er sich auf eine berühmte Seite Koyrés bezieht, ist die bemerkenswerteste und entscheidendste Folge der modernen wissenschaftlichen Revolution, die einer offenen, relativen und unbestimmten Weltanschauung die Türen öffnet. „Jeder Diskurs über die Qualitäten des universalisierenden Universalen verliert an Interesse, weil sich das Universale als Universalisierendes darstellt und von uns verlangt, dass wir nach den Gründen, den Bedingungen des eigenen Universalisierens suchen“.11 Kurz und gut, das ist der Kern von Piovanis Gedankengang: Das Universum ist Universalisierung, die funktionale Weltanschauung nimmt den Platz der substantialen ein. Das Universale als Universalisierendes zu betrachten, bedeutet vor allem, das Besondere nicht als reine und wirkliche empirische Tatsache zu sehen, sondern als Problem, als Individualität, die es vor allem in ihrer hauptsächlich anthropologischen, humanistischen oder, wie Piovani zu sagen liebte, in ihrer humanologischen Bedeutung zu erkennen und zu verstehen gilt. Nach fast dreißig Jahren stoße ich auf ein interessantes Buch12 von François Jullien, einem französischen Sinologen und Philosophen, der, neben anderen Argumenten, den Begriff universalisierend als Gegenmittel für jeden arroganten Universalismus verwendet. Jullien analysiert und unterscheidet die Begriffe universal, gleich und gemeinsam, wobei er zum Beispiel den Unterschied hervorhebt zwischen dem, was in notwendig werdender Form zur Schöpfung eines transzendenten
10 Piovani, Pietro: Oggettivazione etica e essenzialismo, hrsg. von F. Tessitore, Neapel: Morano 1980, S. 102. 11 Ebd., S. 103. 12 Jullien, François: De l’universel de l’uniforme, du commun et du dialogue entre les cultures, Paris: Fayard 2008.
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Einen neigt, und dem, was vielmehr auf die Regelmäßigkeit von etwas, das sich mechanisch wiederholt, reduziert wird, zwischen dem, was dem singulären Individuellen entgegengesetzt ist, und dem, was dagegen als dessen Verneinung das Verschiedene hervorbringt. An dieser Stelle ist nicht genügend Raum, um Julliens Hypothesen ausführlich zu analysieren und zu diskutieren. Ich möchte hier nur einen interessanten Vorschlag erwähnen, in dem es darum geht, eine dritte, sozusagen kategoriale Ebene zu ermitteln, die den logischen Reduktionismus des Universalen und den ökonomisch-utilitaristischen Reduktionismus des Gleichen überwindet. Diese Ebene ist vom Gemeinsamen gegeben, im Sinne dessen, woran man teilnimmt, also in einer ursprünglich politischen Bedeutung, die sich aber auf alle Stufen der Gemeinsamkeit ausdehnen kann, die die Erfahrung des Menschen (des ethischen, religiösen, familiären, ideologischen, geschlechtlichen Menschen) kennzeichnen. Hier beende ich nun meinen Kommentar zu Julliens Meinungen, auch weil er dazu neigt, sich eine philosophische Sicht der communitas zu eigen zu machen, die m.E. einige zweideutige und ungelöste Elemente mit sich bringt, die auf eine nicht nur erkenntnistheoretische, sondern auch philosophisch-politische Emphatisierung (von Derrida über Nancy zu Esposito) des ursprünglichen anthropologischen Begriffs von munus und der Erfahrung der Gegenseitigkeit des Geschenks zurückgehen. In diesem Zusammenhang scheint mir der Bezug auf eine solche Neuformulierung und Neuinterpretation der Idee des Universalen sowohl in philosophischer als auch in politischer Hinsicht durchaus benutzbar. Vor allem unter einem politischen Aspekt, da das Universale als immer offenes und problematisches Universalisierendes die Distanz zwischen dem universalen Seinsollen der juristischen und/oder moralischen Norm und der besonderen historischen Kontingenz, auf der die Norm auch beruht, verringert (und mögliche Elemente, die den Vergleich zwischen Logik der Emanzipation der universalen Rechte und Logik der Integration der Erfahrungen von Gemeinschaft/Gemeinsamkeit verbessern, einführt). In diesem Sinn äußert und bezweckt jedes ethische und/oder juristische Prinzip keinen Status der Unveränderlichkeit, seine Universalität/Universalisierung „gilt dabei als Leitidee, die jedoch nie erfüllt wird und die Forschung auf unbestimmte
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Weise begleitet“.13 Die Rückführung des Problems auf eine propädeutische philosophische Ebene könnte mit der erneuten Unterscheidung zwischen Universalem und Universalisierendem die lähmenden Folgen einer langen Reihe von schwer lösbaren Fragen reduzieren: Ist der Universalismus eine neutrale oder ideologisch gerechtfertigte Theorie? Ist er das Ergebnis eines bedingungslosen Wahrheitsprinzips oder das Produkt eines eurozentrischen oder ethnozentrischen Kontextes? Kann man die trockene und unproduktive Dichotomie zwischen einer vorausgesetzten Universalität der Rechte und der moralischen Prinzipien und ihrer bestimmten kulturgeschichtlichen Genealogie vermeiden? Kann man im Namen eines ebenso dogmatischen Partikularismus wie der dogmatischste aller Universalismen auf den universalen Wert eines kosmopolitischen Kampfes für die Rechte des Menschen verzichten (wenn man dabei auch das immer breitere Fundament der Grundrechte berücksichtigt, die von einem eingegrenzten Bereich derjenigen Rechte, die die Person, deren Freiheit und Unverletzbarkeit garantieren, allmählich zu einem Bereich übergegangen sind, der auch Rechte der Arbeit, der sozialen Gleichheit und der Umwelt umfasst)? Die Idee der Universalisierung, die auch von Piovani herrührt und die nun in veränderten historischen, politischen und ebenso philosophischen Kontexten wieder aufgenommen wird, kann hier m.E. eine wichtige Voraussetzung für eine Kritik an jeder Form von Universalismus sein, der ein nicht nur ein für alle Mal gegebenes Universales, sondern auch das, was man immer a priori als Universalisierbares zu sehen und zu bestimmen glaubt, auf Wahrheitsaussagen a priori zurückführen will. Das bedeutet natürlich nicht, dass man auf die Bedeutung eines moralischen und politischen Kampfes verzichten muss, um diejenigen Menschenrechte zu realisieren, die, neben ihrer entwicklungsgeschichtlichen Zugehörigkeit zur demokratischen und aufklärerischen (aber auch liberalen und christlich-personalistischen) Kultur des europäischen Westens, bis heute jedoch als Universalgut der Völker anerkannt sind: Ich beziehe mich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und auf ihre nachfolgenden Veränderungen und Ergänzungen. Die Idee der Universalisierung beinhaltet in sich den Begriff und das Bild eines dynamischen Prozesses, eines sich Noch-Nicht-
13 Jullien, François: »Sono davvero universali i diritti dell’uomo?«, in: Le Monde diplomatique – Il Manifesto vom 22.02.2008, S. 20.
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Bewegenden und von etwas, das nichts mit der statischen Ergebung in eine Situation von scheinbarer Eindeutigkeit zu tun hat. Und die Individualität muss sich, auch wenn sie eine begründete und notwendige Suche nach Einheit zu beantworten versucht, immer als ein Universalisierendes zeigen, nicht als eine Gegebenheit, sondern als ein Problem. Der kritische Universalismus nimmt eine erkennende und zugleich anthropologische Dimension an, die nach Jahrhunderten und in den neuen Formen der globalisierten Welt von heute die Aufgabe der humanistischen Revolution erneuert. François Julliet erwähnt eine chinesische Anekdote: Ein Mann, der ein Kind sieht, das im Begriff ist, in einen Brunnen zu fallen, macht eine vollkommen natürliche und instinktive Geste, um es zu retten. Sein Verhalten wird gewiss weder davon diktiert, dass er das Kind kennen könnte, noch von der Angst vor einer Strafe. Es ist eine Geste, der wir uns nicht enthalten können, denn wie der chinesische Philosoph aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. Meng-tsu erklärt: „Wer kein ähnliches Mitleid empfindet, ist kein Mensch“. Diese Episode erinnert an das Gleichnis vom verlorenen Schaf in Mt. 12,11. Als die Pharisäer Jesus vorwarfen, am Sabbat Krüppel zu heilen, sprach er zu ihnen: „Wer ist unter euch, so er ein Schaf hat, das ihm am Sabbat in eine Grube fällt, der es nicht ergreife und aufhebe? Wie viel besser ist nun ein Mensch denn ein Schaf!“ Das Mindeste, von dem auszugehen ist, wenn man universalisierende Haltungen und Werte aufbauen will, ist der Gemeinsinn des Menschlichen. „Die Verschiedenheit der Kulturen und die Art, in der sie uns dazu zwingt, das Unvermutete unseres Denkens aufzuspüren, bedeutet also nicht, auf die Forderung des Gemeinsamen zu verzichten“.14 Für einen Leser Vicos ist der Bezug auf den Gemeinsinn fast obligatorisch, vor allem dann, wenn man, wie ich kürzlich zu zeigen versuchte, in seiner Philosophie auf einige Schlüsselstellen stößt, die helfen, den Zusammenhang zwischen Universalismus und Unterschied vom philosophischen Gesichtspunkt aus noch einmal zu überdenken.15 Im Lichte von Vicos Gedankengang kann man sagen, dass die
14 Ebd., S. 21. 15 Ich beziehe mich auf einen Vortrag zum Thema »Universalismo etico e differenza: a partire da Vico«, den ich auf dem II. Internationalen Seminar „Vico y el mundo moderno“ gehalten habe, das von der Universidad Autonoma Metropolitana von Mexiko organisiert worden war und vom 29.-31.
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„natürlichen Prinzipien der Sozialität und der Politizität in der Vollkommenheit der universalen Vernunft nicht bewegungslos bleiben. Diese müssen immer von neuem in der historischen Verschiedenheit des Gemeinsinns wieder erkannt und aufgefunden werden, das heißt in dem, was in der anthropologischen, geistigen und sprachlichen Verschiedenheit der Menschen allgemein wiederkehrt“.
Hier finden sich die möglichen Prolegomena eines Diskurses über den krtisch-humanistischen Universalismus wieder, der eine vernünftige „Vermittlung zwischen historisch-anthropologisch-sprachlicher Besonderheit und Universalität der gemeinsamen Elemente der Religionen und der Mythologien, wie auch der phantastischen Allgemeinbegriffe und der geistigen Wörterbücher vorbringt“. Der Gemeinsinn ist somit nicht nur kognitiv-logische Funktion, nicht nur Raum von verschiedenen geschichtspolitischen und kulturanthropologischen Erfahrungen, sondern auch und im Wesentlichen Universalisierung einer Vorstellung von Gemeinsamkeit als bevorzugter Ort der menschlichen Bedürfnisse und der gemeinsamen Nutzen. Die Verbindbarkeit des ethischen Universalismus und der Verschiedenheiten wirft Problematiken auf, die immer mehr unseren Horizont als Philosophen, Männer und Frauen durchkreuzen und von uns verlangen, dass wir uns mit den Herausforderungen der Globalisierung und ihren dramatischen Widersprüchen auseinandersetzen. Gerade angesichts dieser ‚Problematiken‘ glaube ich abschließend sagen zu können, dass eine Idee des ethischen und kritischen Universalismus durchaus vertretbar ist. Ein solcher Universalismus kommt nicht an Vicos historistischen Kritiken gegenüber dem kalkulierenden und uniformierenden Rationalismus vorbei. Der Philosoph aus Neapel glaubt an die Rückkehr zu den Dingen des Menschen, zur unumgehbaren „humanologischen“16 Dimension, die zur Zeit der entstehenden Moderne ‚revolutionär‘ war und sich heute im verzerrenden Spiegel der alten und neuen moralischen wie materiellen Absolutismen immer mehr aufzulösen scheint. In unserer schwierigen und gequälten Ge-
Oktober 2007 in Tepotzlan stattfand. Die nachfolgenden Zitate beziehen sich auf den oben genannten Vortrag. 16 Das ist ein beliebtes Thema in Piovanis Überlegungen zu Vico. Seine Aufsätze über Vico wurden von F. Tessitore herausgegeben in: Piovani, Pietro: La filosofia nuova di Vico, Neapel: Morano 1990.
U NIVERSALISMUS UND P ARTIKULARISMUS
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genwart blickt die „Anmaßung der Völker“, die in den Formen der Zerstörung des Anderen, der gezwungenen Aufnahme von historischen individuellen Identitäten und in der vorausgesetzten Einzigkeit eines fälschlich universalisierenden Denkens erkennbar ist, wieder stark auf die Geschichte und das Leben des Menschen. Die Erhaltung eines notwendigen Gleichgewichtes zwischen Universalismus und Partikulariamus muss sich in jedem Moment auf eine humanistische Kritik sowohl des Ethnozentrismus als auch jeder Erscheinungsform der Verachtung anderer Kulturen stützen, sie muss einen ständigen deskriptiven wie ‚verstehenden‘ und dialogischen Vergleich von verschiedenen juristischen und politischen Systemen, von Religionen und unterschiedlichen kulturellen Sensibilitäten fördern und sich schließlich von jeder Illusion der Herrschaft eines Volkes über die anderen befreien. Wallerstein hat – trotz der Fragwürdigkeit einiger seiner spezifischen Analysen – Recht, wenn er die Perspektive der Überwindung eines jeden Universalismus aufzeigt, der sich weiterhin als Rechtfertigung der existierenden Ordnung und der Suche nach einem „universalen Universalismus“ darstellt, „der die essentialistischen Kennzeichnungen der sozialen Wirklichkeit ablehnt, das Universale wie das Partikulare historisiert, die sogenannte wissenschaftliche und humanistische Epistemologie wiedervereint […] und uns erlaubt, mit wirklich unparteiischen und äußerst skeptischen Augen jegliche Rechtfertigung 17
der ‚Eingriffe‘ der Mächtigen gegen die Schwachen zu betrachten“.
17 I. Wallerstein: European Universalism, S. 104.
Personale Identität als Politikum Notizen zur theoretischen und politischen Bedeutung eines psychologischen Grundbegriffs * J ÜRGEN S TRAUB
1. E RINNERUNG G EGENWART
AN DIE VERGANGENE
Identität: Ausufernde Polyvalenz und unzähmbare Polyfunktionalität sind dem ‚Allerweltswort‘ ein und für allemal eingeschrieben. Viele Beobachter machte das schon in den 1970er Jahren skeptisch. Manche empfahlen kurzerhand den Abschied von dem alle begriffliche Schärfe einbüßenden Unwort und erklärten es bereits seinerzeit für tot.1 Der
*
Diese Abhandlung ist Hans Georg Tegethoff gewidmet – anlässlich seines bevorstehenden Abschieds von der „Sektion Sozialpsychologie und Sozialanthropologie“ in der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr Universität Bochum, in tiefer Dankbarkeit für die unerschöpfliche Unterstützung, die er mir seit meiner Ankunft vor gut drei Jahren an eben diesem Ort hat zuteil werden lassen.
1
Allgegenwärtige Begriffsverwirrungen verdanken sich nicht zuletzt begriffsgeschichtlichen Bedeutungsverschiebungen. Der aus der Mathematik und Logik herkommende Begriff besagt in den Sozial- und Kulturwissenschaften etwas ganz anderes als dort. Die semantischen Innovationen und Transformationen durch die metaphorische Übertragung in diesen Bereich sind radikal und verbieten es, Sinn und Funktion des sozial- und kulturwissenschaftlichen Terminus überhaupt noch durch die Bezugnahme auf das
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Begriff musste nicht selten als Musterbeispiel für Anachronizität herhalten. Diesem Kunstwort sei nach Zeiten inflationärer Verwendung kaum mehr anzusehen, was es einst begreifen helfen sollte, und obendrein sei ohnehin längst passé, worauf es einmal gemünzt war. Die mit sich selbst identische Person erscheint den Kritikern identitätstheoretischen Denkens bis heute als Fossil, reichlich verknöchert und versteinert schon, jedenfalls als rettungslos im Aussterben begriffene Variante des sprach- und reflexionsfähigen, selbstbezüglichen Menschen. Das sind nicht die einzigen Hypotheken, die der Identitätsbegriff – zunächst einmal das Konzept personaler Identität, auf das sich die folgenden Ausführungen beschränken – mit sich schleppt.2
mathematische und logische Konzept erläutern zu wollen. Davor haben Philosophen frühzeitig gewarnt, leider ohne durchschlagenden Erfolg: Henrich, Dieter: »Identität – Begriffe, Probleme, Grenzen«, in: Odo Marquard / Karl-Heinz Stierle (Hg.), Identität, München: Fink 1979, S. 133186; Tugendhat, Ernst: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 282ff. 2
Das Konzept der „kollektiven Identität“ bringt seine ganz eigenen Probleme mit sich; vgl. Niethammer, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek: Rowohlt 2000; Brubaker, Roger / Cooper, Frederick: »Beyond Identity«, in: Theory and Society 29 (2000), S. 1-47. Brubaker und Cooper verwerfen nicht allein die essentialistischen Varianten, mit denen ideologische Identitätspolitik ausgefochten wird. Sie verschmähen ebenso die ‚weichen‘, antiessentialistischen und konstruktivistischen Konzepte einer „konstruierten, fluiden, multiplen“ Identität, da gerade sie es nicht mehr erlaubten, konfrontative Identitätspolitiken und damit verwobene Kämpfe um Anerkennung angemessen zu begreifen. Im Folgenden geht es, wie gesagt, ausschließlich um die einer Person zuschreibbare Identität. Diese ist freilich in der primären Kulturalität und Sozialität eines jeden Menschen verankert, so dass ein beliebiges Subjekt stets gewisse Merkmale mit anderen Personen teilt. Auch deswegen ist der Identitätsbegriff ein sozial- und kulturtheoretischer Terminus, der vom Begriff der Individualität im Sinne der Einzigartigkeit, Unverwechselbarkeit und Unaussprechlichkeit eines Menschen – individuum ineffabile est – strikt unterschieden werden muss; vgl. Rudolph, Enno: Odyssee des Individuums. Zur Geschichte eines vergessenen Problems, Stuttgart: Metzler 1991.
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Nicht allein zahllosen Gebrauchsweisen im Alltag, in den Massenmedien oder der Politik wird längst eine unverkennbar ideologische, manipulative Funktion attestiert. Auch wissenschaftliche Identitätsdiskurse stehen im Verdacht, die ins Visier genommenen Subjekte nolens volens fragwürdigen Macht- und Disziplinartechniken auszusetzen, solche ‚Techniken‘ sogar zu legitimieren und die Menschen darauf einzustellen. Mit sich selbst identische Personen, solche jedenfalls, die auf „Identität“ verpflichtet, geeicht und fortan an diesem normativen Maßstab gemessen werden sollen (und sich selbst daran orientieren), gelten in dieser kritischen Perspektive als unterworfene, unterstellte ‚Sub-jekte‘. Deren psychische Strukturen seien ebenso von Repression, Zwang und Gewalt durchsetzt wie die sozialen Beziehungen zwischen ihresgleichen.3 „Identität“ galt und gilt vielen Kritikern längst als kryptonormatives Einfallstor für die von Macht und Herrschaft regulierte, gewaltsame Zurichtung des modernen Menschen, der sich über kurz oder lang selbst in Schach hält, unaufhörlich zügelt und gängelt. Identität und die mit ihr korrespondierende, imaginierte und dabei illusionäre Autonomie des vernunftbegabten Subjekts erweisen sich in dieser subversiven, meist als pauschale Kritik ‚der Moderne‘ angelegten Dekonstruktion als ideologische Chiffren einer Theorie, die den Menschen, seine Sinnlichkeit, sein überbordendes Begehren und unstillbares Wünschen zumal, kanalisiert, normiert und normalisiert, mit einem Wort: gewaltsam einschnürt und unterdrückt.4 „Identität“ wird damit ins komplette Gegenteil dessen verkehrt, was sie doch einst bezeichnen sollte. Die Kritiker erkennen in einer
3
Vgl. dazu Straub, Jürgen: »Personale Identität: anachronistisches Selbstverhältnis im Zeichen von Zwang und Gewalt?«, in: Jürgen Straub / Joachim Renn (Hg.), Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt am Main und New York: Campus 2002, S. 85113.
4
Symptomatisch und pars pro toto: Kamper, Dietmar: »Die Auflösung der Ich-Identität«, in: Friedrich A. Kittler (Hg.): Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, München: Fink 1980, S. 79-86; Sampson, E. Edward: »The Deconstruction of the self«, in: John Shotter / Kenneth Gergen (Hg.): Texts of Identity, London, Newbury Park und New Delhi: Sage 1989, S. 1-19; in eine ähnliche Richtung, wenngleich widersprüchlicher argumentiert Welsch, Wolfgang: »Identität im Übergang«, in: Ästhetisches Denken, Stuttgart: Reclam 1990, S. 168-200.
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vermeintlich auf die Emanzipation, Mündigkeit und Selbstbestimmung leiblicher Vernunftsubjekte gerichteten Aspiration lediglich noch einen versteckten Mechanismus repressiver und leidvoller Subjektivierungsvorgänge. Sie sehen in der Identität bloß noch die von Illusionen durchsetzte theoretische Artikulation eines kulturellen, sozialen und psychischen Modus der Selbstdistanzierung, Selbstkontrolle und Selbstdisziplinierung von Subjekten, die sich im Zuge ihrer unwillkürlich gehorsamen Anpassung ans allgemeine Gebot des erkennbaren und durchschaubaren, berechenbaren und verfügbaren Menschen eigener Lebensmöglichkeiten berauben. Je weniger sie sich Erlebnissen öffnen und Erfahrungen aussetzen, die sie um ihren Verstand bringen könnten, desto mehr berauben sie sich ihrer Phantasie und Sinnlichkeit. Obendrein seien es gerade diese Subjekte, die den Anderen, den Fremden zumal, wegen des das eigene Selbst konstituierenden Zwangs zur Identität systematisch ausgrenzten und ausschlössen, ja als aversiven Antipoden ‚abwehren‘ und über kurz oder lang (symbolisch, psychisch, physisch) malträtieren ‚müssten‘. Häufig geschehe das in sukzessiven, subtilen und unmerklichen, manchmal in offenen und brachialen Prozessen der Ablehnung und Verfeindung. Feindschaft und Gewalt erscheinen in dieser Perspektive als ebenso fatales wie unvermeidliches Ergebnis der scheinbar so harmlosen und angeblich so notwendigen Bildung personaler Identität (und damit verwoben: subjektiver Autonomie bzw. autonomer Subjektivität).5 Eine Antwort auf
5
Vgl. zu diesem Zusammenhang etwa Honneth, Axel: »Dezentrierte Autonomie. Moralphilosophische Konsequenzen aus der modernen Subjektkritik«, in: Christoph Menke / Martin Seel (Hg.): Zur Verteidigung der Vernunft gegen ihre Liebhaber und Verächter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 149-163; Quante, Michael: »Die Identität der Person: Facetten eines Problems«, in: Philosophische Rundschau 42 (1995), S. 35-59; Quante, Michael (Hg.): Personale Identität, Paderborn: Schöningh und UTB 1995; Straub Jürgen: »Personale Identität und Autonomie. Eine moderne Subjekttheorie und das „postmoderne Selbst“«, in: Klaus-Peter Köpping / Rainer Wiehl (Hg.), Die autonome Person – eine europäische Erfindung, München: Fink 2001, S. 255-271; Straub, Jürgen / Zielke, Barbara: »Autonomie, narrative Identität und die postmoderne Kritik des sozialen Konstruktivismus: „Relationales und „dialogisches“ Selbst als zeitgemäße Alternativen?«, in: Friedrich Jäger / Jürgen Straub (Hg.), Was ist der Mensch,
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die Identitätsfrage – wer bin ich (geworden), wer möchte ich sein? – ist in dieser Perspektive unweigerlich nicht bloß an soziale Vergleiche sowie (insbesondere qualitative) Unterscheidungen zwischen mir bzw. meinesgleichen auf der einen, den (fremden) Anderen auf der anderen Seite gekoppelt. Darüber hinaus ist sie, so wird konstatiert, unweigerlich an polemogene Grenzziehungen gebunden (an mehr oder minder gewaltsame Abgrenzungen, Ausgrenzungen; polemos, gr.: Kampf, Krieg). So jedenfalls sieht es eine wild entschlossene, freilich etwas einäugig verfahrende und erstaunlicherweise allerlei Begriffe und Diskurse über ein und denselben Leisten schlagende Kritik – als könne man, was der höchst polyvalente Begriff der „Identität“ in verschiedenen Kontexten und Theorien besagt, (zumindest im Wesentlichen) auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Das dient vielleicht der entlastenden Komplexitätsreduktion und ‚rechtfertigt‘ die vindizierten Überlegenheitsgefühle von ‚Kritikern‘ und ‚Kritikerinnen‘, keinesfalls aber verhilft es zu einer hinreichend differenzierten kritischen Analyse und Beurteilung des fraglichen Begriffs und Phänomens selbst. Gegen diese diskursive Praxis der epistemisch fahrlässigen Homogenisierung und pauschal pejorativen Verwerfung eines theoretischen Grundbegriffs der Sozial- und Kulturwissenschaften werden im vorliegenden Beitrag Einsprüche erhoben. Dafür stehen die Zeichen der Zeit günstig. Die Gegenwart der skizzierten Art von polemischer Attacke gegen die „Identität“ hat bereits selbst den Übergang in die Vergangenheit angetreten, ja: sie gehört schon zur vergangenen Gegenwart. Nicht zuletzt die Form einer rhetorischen Kritik, die mit kontraintuitiven Volten operiert, hat stark an Verblüffungspotential und Faszinationskraft eingebüßt. Kaum mehr jemand zeigt spontan aufgeregte Aufmerksamkeit oder fällt vor lauter Begeisterung gar vom Stuhl, wenn verkündet wird, schlechterdings überall, wo es angeblich um die Befreiung, Emanzipation, Verwirklichung oder ‚Humanisierung‘ des Menschen gehe, laufe doch bloß das üble Spiel einer mehr oder weniger untergründigen Unterdrückung und ‚Subjektivierung‘ im Zeichen der neuesten Kontroll- und Disziplinardispositive. Nicht, dass die vor allem von Michel Foucault inaugurierte Perspektive nicht außerordentlich
was Geschichte? Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Anthropologie. Jörn Rüsen zum 65. Geburtstag, Bielefeld: transcript 2005, S. 165-210.
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fruchtbar gewesen wäre und noch ist – nur erscheint sie heute eben auch als eine zur Verabsolutierung einer manchmal maßlosen und oft einseitigen Kritik neigende Sicht der Dinge. Man schüttet das Kind mit dem Bade aus, wenn man z.B. in der Psychoanalyse eine bloße Repressionsanstalt6 oder im Denken personaler Identität eine einzige, zutiefst gewaltförmige Zwangsveranstaltung sieht, die Subjekte eher herrichtet als aufrichtet, eher bevormundet und entmündigt als auf dem Weg zur freilich bedingten und begrenzten Freiheit sowie limitierten Autonomie begleitet. Um den ‚anti-humanistischen‘ Abgesang auf den Menschen ist es alles in allem doch etwas stiller geworden. Demgegenüber lebt die totgesagte Identität ziemlich munter fort. Diese Resilienz und Resistenz ist freilich nur dann erfreulich, wenn nicht tatsächlich anachronistische, theoretisch belanglose und normativ prekäre Konzepte aus den verstaubten Schubladen geholt werden. Da es m.E. einen hinreichend elaborierten, einigermaßen zufriedenstellenden Begriff bislang in keiner Theorietradition gibt, ist ohnehin klar: Man muss die in vielerlei Hinsicht noch ungetane Arbeit am theoretischen Begriff fortsetzen und weiterhin nach einem auch in normativer Hinsicht akzeptablen Konzept Ausschau halten. Letzteres ist wichtig, da ja zumindest darüber Konsens besteht: Personale Identität ist und bleibt ein Politikum. Noch heute wird der Identitätsbegriff von zahlreichen Autorinnen und Autoren theoretisch anspruchsvoll, empirisch gehaltvoll und normativ reflektiert bestimmt und in einer hinreichend transparenten Weise verwendet. Die Denkschwierigkeiten, die der Identitätsbegriff beinhaltet und symbolisiert, verschwinden dadurch ebenso wenig wie die Herausforderungen, mit denen er die Sozial- und Kulturwissenschaften konfrontiert. Ich erinnere kurz an wesentliche Aspekte – ohne das an anderer Stelle ausführlicher Dargelegte in allen Einzelheiten zu wiederholen7 –, um sodann einen spezifischen Punkt etwas näher zu be-
6
Genau das wird nahe gelegt im ersten Band von „Sexualität und Wahrheit“: Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983.
7
Straub, Jürgen: »Identitätstheorie im Übergang? Über Identitätsforschung, den Begriff der Identität und die zunehmende Beachtung des NichtIdentischen in subjekttheoretischen Diskursen«, in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 14 (1991), S. 49-71; Straub, Jürgen: »Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs«, in:
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trachten (dem bislang kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde). Bis heute sind die politischen Aspekte der Pragma-Semantik des interessierenden Begriffs unklar. Wenigstens erste Hinweise, die eine Analyse in dieser Richtung befördern mögen, sollen vor allem im letzten Teil dieses Beitrags gegeben werden.
2. D AS
THEORETISCHE V OKABULAR PERSONALER I DENTITÄT : ALLGEMEINE B EGRIFFSBESTIMMUNGEN
2.1 Handlungspotential und partielle Autonomie Alle nun folgenden Ausführungen laufen darauf hinaus, dass der Identitätsbegriff eine spezifische Antwort auf die Frage bereit hält, was es heißt, unter (spät- oder post-)modernen Lebensbedingungen eine Person zu sein und sein zu können. Die kulturelle Pragma-Semantik dieser spezifischen, theoretisch an formale Kriterien gebundenen Vorstellung besagt zunächst einmal, dass eine Person zeitlebens in das Projekt der Ausbildung und Bewahrung partieller Autonomie verstrickt ist. Das Konzept personaler Identität ist ‚logisch‘ bzw. pragma-semantisch an den Begriff des Erlebnis- und insbesondere des Handlungspotentials8 gebunden. Das Handlungspotential, um das es dabei geht, zielt letzt-
Aleida Assmann / Heidrun Friese (Hg.), Identität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 73-104; Straub, Jürgen: »Identität«, in: Friedrich Jäger / Burkhard Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart: Metzler 2004, S. 277-303; Straub, Jürgen: Theorien der Identität, Hamburg: Junius 2012 (in Vorbereitung). 8
Vgl. dazu die Ausführungen von Ernst Boesch, die weit über geläufige Überlegungen zum Konzept der agency hinausgehen und nicht zufällig mit einer Theorie des Selbst verwoben sind: Boesch, Ernst: Symbolic Action Theory and Cultural Psychology, Berlin und New York: Springer 1999; während das Handlungspotential Gegenstand zahlreicher Analysen war und ist, sind begriffliche Überlegungen zum Erlebnispotential – seit Wilhelm Diltheys Arbeiten, in denen das Erleben eine zentrale Stellung besitzt – eher rar gesät. Zum Zusammenhang zwischen Identität und Autonomie vgl. die Literaturangaben in Fußnote 5.
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lich auf jene Selbständigkeit, welche eine gewisse – niemals vollständige – Unabhängigkeit des Individuums von jenen (materiellen, sozialen und kulturellen) Bedingungen einschließt, unter denen es aufgewachsen ist und gegenwärtig lebt. Selbständigkeit ist stets bedingt und begrenzt, und sie ist im konkreten Fall eine persönliche Angelegenheit, in der inter- und intraindividuelle Vergleiche die Maßstäbe liefern für die Einschätzung der jeweils erreichten Qualität und des erlangten Grades partieller Autonomie. Diese Autonomie schließt ab einem gewissen Entwicklungsstand des Individuums auch jene Mündigkeit ein, welche es einer Person erlaubt, sich Immanuel Kants aufklärerische Devise sapere aude! zu eigen zu machen und im Sinne einer handlungsleitenden Selbstaufforderung zu befolgen, sich also nicht zuletzt in Akten der (bewussten) Selbstformung9 zu üben und um eine selbstbestimmte Lebensführung zu bemühen, die die Anerkennung anderer einzuschließen und deren legitime Ansprüche zu berücksichtigen versucht. Die lebensgeschichtliche Verwirklichung dieses Projekts einer sukzessiven, niemals abschließbaren Bildung partieller Autonomie ist nun allerdings nur dann möglich, wenn und solange es einer Person gelingt, eine durch permanente Selbsttransformationen konstituierte und dadurch gekennzeichnete psychische Struktur zu sein und diese Struktur in unablässigen Übergängen auszudifferenzieren und dadurch zu erhalten. Diese eben als Identität bezeichnete dynamische Struktur ist mithin offen für die Erfahrung von Neuem und damit für verschiedene Modi kreativer Selbsttranszendenz.10 Diesbezüglich bilden die für eine Person verbindlichen Lebensformen und Sprachspiele, die es an eine Kultur, Gesellschaft und diverse Gemeinschaften binden und
9
Zu diesem Begriff, der auch Modi einer auf bereits ausgebildeter, partieller Autonomie beruhenden sowie die Erweiterung von Autonomie anstrebenden Selbstformung einschließt, vgl. Kipke, Roland: »Ignoriert, dementiert, kritisiert: menschliche Selbstformung im Schatten der technischen Optimierungsstrategien«, in: Anna Sieben / Katja Sabisch-Fechtelpeter / Jürgen Straub (Hg.), Menschen besser machen. Die hellen und die dunklen Seiten humanwissenschaftlicher Optimierungsprogramme, Bielefeld: transcript 2011 (in Vorbereitung).
10 Zum erfahrungs- und handlungstheoretischen Begriff der Selbsttranszendenz vgl. Joas, Hans: Die Entstehung der Werte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992.
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die entsprechende Zugehörigkeiten signalisieren, eine wichtige Voraussetzung. Dasselbe gilt ebenso für die Standpunkte und Stimmen, Bedürfnisse, Wünsche und Begehren, Absichten und Ziele von anwesenden oder vorgestellten Anderen und sogar von Fremden. Die transitorische Identität einer Person ist keine ‚solitäre‘ Veranstaltung solipsistisch konzeptualisierter Monaden – obwohl bekanntlich auch in Abgeschiedenheit oder Einsamkeit sich einstellende Erlebnisse (z.B. religiöser Art oder Naturerlebnisse) wichtig sein können für die Bildung und Transformation personaler Identität. Als erstes Zwischenergebnis lässt sich festhalten: Identität bezeichnet jene prozessierende Struktur oder dynamische Form des kommunikativen Selbst- und Weltverhältnisses einer individuierten Person, welche durch radikale Offenheit charakterisiert ist – und welche alle damit verbundenen Zumutungen an Subjekte enthält, die in dem mit Anderen und Fremden geteilten Dialog (oder Polylog) sowie der damit verwobenen, auch nicht-sprachliche Modi der symbolisch vermittelten Kommunikation einschließenden Diapraxis (oder Polypraxis) virulent werden mögen. Wie lässt sich diese Struktur, der man ihre politische Bedeutung nun bereits ‚ansieht‘, in allgemeiner theoretischer Perspektive genauer bestimmen und sodann speziell im Hinblick auf die politische Pragma-Semantik des Begriffs näher erläutern? Um diese Fragen zu beantworten, werde ich kurz an den historischen Kontext der Einführung des interessierenden Begriffs erinnern.
2.2 Eriksons Erbe Das insbesondere vom Psychoanalytiker Erik Homburger Erikson während der 1940er und 1950er Jahre in den Rang eines theoretischen, sozial- und kulturwissenschaftlichen Begriffs – im Sinne des uns Heutigen geläufigen Lexems – erhobene und zugleich popularisierte Wort war von Anfang an schwierig, missverständlich und umstritten. Seine semantische Diversität und Komplexität nahm kontinuierlich zu, je mehr der Terminus in verschiedene – nicht immer miteinander vereinbare – Theoriesprachen integriert und dabei partiell neu definiert wurde. Bereits Erikson selbst hat nicht gerade für Klarheit gesorgt. Manche seiner Schriften besitzen unverkennbar populärwissenschaftliche Züge und belegen, dass dem Autor an begrifflicher Strenge nicht sonderlich gelegen war. Im Übrigen sorgte er selbst für den keineswegs
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unbegründeten Vorwurf, mit seiner Identitätstheorie klammheimlich einer teilweise problematischen Politik der konservativen Fortschreibung bestehender (Ungleichheits-)Verhältnisse unter die Arme zu greifen. Erikson war zwar alles andere als ein rückständiger Verteidiger des Status quo oder gar ein rückwärtsgewandter Anti-Moderner. Er hielt dennoch an seinen mitunter etwas prekären Vorstellungen von der menschlichen Natur fest und universalisierte bisweilen vorschnell, was er aus eigenem Erleben und eigener Anschauung besonders gut kannte und schätzte. Das wird etwa in seinen einigermaßen hilflosen Antworten auf die feministische Kritik an seiner Theorie überdeutlich. Die für ideologische Naturalisierungen faktischer Geschlechterverhältnisse (und der sie fundierenden ‚Bilder‘ von Mann und Frau, ihre vermeintlich naturgemäßen Eigenschaften, Aufgaben und Rollen) längst hoch sensibilisierten Frauen hatten dabei leichtes Spiel. Sie hielten dem grand old man der psychoanalytischen Ich-Psychologie zu Recht vor, geschlechtsspezifische Aspekte der Identitätsbildung – etwa in Eriksons spekulativen, um die vermeintliche ‚Natur der Frau‘ kreisenden Überlegungen zum „dritten Raum“11 – ebenso unangemessen zu deuten wie seinerzeit auf seine Weise schon Freud. Wie der Gründervater der Psychoanalyse hielt auch der abtrünnige Ich-Psychologe an vorurteilsbehafteten Vorstellungen von angeblich biologischen Geschlechtsmerkmalen und vermeintlich natürlichen Geschlechterrollen fest und zementierte so patriarchale Ungleichheitsverhältnisse im großen Stil.12 Die Ich-Psychologie beraubte die Freudsche Psychoanalyse nicht bloß ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Provokation, indem sie deren triebtheoretische Grundlagen weitgehend entsorgte und dem so-
11 Erikson, Erik H.: »Noch einmal: der innere Raum«, in: Lebensgeschichte und historischer Augenblick, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 233258. 12 Für die berechtigten Einwände und Anregungen einer feministischen Psychologie oder gar einer Queer-Psychologie, wie sie in jüngerer Zeit Gestalt annimmt, hatte sich Erikson einfach noch nicht weit genug öffnen können; er wehrte in diesem Feld einiges einfach nur ab und agierte seine Voreingenommenheiten und Ängste aus, wo er hätte hinhören sollen. Zum Stand einer für politische (Ver-)Ordnungen sensiblen feministischen und queerPsychologie vgl. Sieben, Anna / Scholz, Julia: Queer/Feministische Psychologien (Drucklegung in Vorbereitung).
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ziokulturell ‚gezähmten Ich‘ weit mehr zumutete und zugestand, als es Freud jemals in den Sinn gekommen wäre.13 Eriksons Geschlechtertheorie pflegte jenen politischen Konservativismus, welcher mit der pseudo-biologischen Naturalisierung historischer, kultureller und gesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse operierte. Das tat dem Ruf des Identitätsbegriffs in Kreisen, in denen patriarchalische Ideologien im Allgemeinen und Politiken der naturalisierenden Festschreibung des Status Quo im Besonderen aus guten Gründen attackiert wurden (und werden), einen schlechten Dienst. Bereits dieser Hinweis zeigt: Auch normative, ethisch-moralische und politische Vorbehalte gegen den hier interessierenden Begriff sind wahrlich nicht grundlos. Dennoch ist es falsch, die „Identität“ pauschal zu perhorreszieren. Es mag mühsam sein, bedenkenswerte und bewahrenswerte normative Gehalte dieses Konzepts herauszuschälen (und von einer politisch aufgeladenen Pragma-Semantik abzugrenzen, die heute keinerlei Verteidigung und Fortsetzung mehr verdient). Lohnenswert ist dieses Unternehmen gleichwohl, bringt es doch ans Licht, dass die „personale Identität“ zu einer politischen Semantik und Pragmatik gehört, die seit langem in vielerlei Verzweigungen ausbuchstabiert wird und bis heute attraktiv ist. Mehr noch: ein theoretisch anspruchsvoller, hinreichend komplexer Identitätsbegriff artikuliert eine Idee dezentrierter Subjektivität, die gerade in politischer Hinsicht noch immer von brennender Aktualität ist und auch deswegen Beachtung verdient. Sie ist, genau genommen, das Gegenteil eines konservativen oder gar reaktionären Beharrens auf dem Bestehenden. Sie steht vielmehr für eine seinerzeit und noch heute zeitgemäße Vorstellung einer partiell autonomen Person, die, wie angedeutet, vor allem durch
13 Auch das war und ist ein gängiger Vorwurf an die Adresse Eriksons. Ihn erhoben und formulieren noch immer alle möglichen Autorinnen und Autoren – also nicht allein Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker, die an der ‚mythologischen‘ und ‚spekulativen‘ Triebtheorie festhalten wollen, um weiterhin von der spannungsreichen Bipolarität des Menschen als Natur- und Kulturwesen her denken zu können. Dabei weiß selbstverständlich auch die psychoanalytische Anthropologie, dass die Kultur ein bloßer Aspekt der menschlichen Natur ist – und lediglich zu bestimmten analytischen Zwecken als deren Gegenbegriff bestimmt werden kann und muss, nämlich zum Beispiel immer dann, wenn in Freuds Sinne vom Unbehagen in der Kultur die Rede sein soll.
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eines gekennzeichnet werden kann: durch ihre konstitutive Offenheit und eine in sich reflexiv strukturierte Veränderungsbereitschaft (die wegen ihres reflexiven Moments keinen angeblich oder tatsächlich unabwendbaren Wandel bloß gefühllos zur Kenntnis nimmt, gedankenlos affirmiert und bedenkenlos mitmacht). Personale Identität ist eine offene Struktur und als solche unweigerlich anfällig für Konflikte, Krisen und Wandel, für kontingente Veränderungen zumal, die nicht zuletzt von den Stimmen und Einflüssen der Anderen und Fremden herrühren. Das klingt ein wenig überschwänglich, vielleicht allzu pathetisch. Überflüssig oder verkehrt wird der politisch eminent wichtige Gedanke einer in erster Linie durch ihre Offenheit charakterisierten Person deswegen nicht. Dieses Konzept erweist sich nämlich bei genauerem Hinsehen als subjektivitätstheoretisches Analogon und Komplement der politischen Idee einer offenen Gesellschaft, zu der es bis heute nach der hier vertretenen Auffassung keine wirklich attraktive, jedenfalls keine vernünftige Alternative gibt.14 Das wusste auch Erikson, ja: gerade auch dieser Autor, der Dänemark verließ, nach Wien gelangte, wo er als Laie zur psychoanalytischen Ausbildung zugelassen wurde, lernte und lebte, bevor er vor dem Terror der Nationalsozialisten in die Vereinigten Staaten von Amerika flüchtete, wo er bald schon zu den prominentesten Vertretern seiner Zunft zählen sollte. Im Übrigen ließe sich vieles von dem, was am Beispiel von Eriksons Theorie dargelegt werden kann, auch an anderen Ansätzen zeigen, allen voran am pragmatistischen Denken (und seinen Ausläufern etwa im Symbolischen Interaktionismus). Insbesondere George Herbert Meads Theorie des Selbst gilt bis heute aus guten Gründen als ein Denken personaler Identität und autonomer Subjektivität, das im Geist der Idee radikaler Demokratie verfasst wurde und an der spannungsreichen Vorstellung festhält, der ‚liberale‘ Wert der Freiheit des Individuums müsse keineswegs auf Kosten der universalistischen Moral und kommunikativen Ethik einer auf Gleichheit und Anerkennung,
14 Es sei angemerkt, dass man die „offene Gesellschaft“ keineswegs nur im Sinne des berühmten Konzepts von Karl Popper verstehen kann. Auf genauere Klärungen muss hier aus Platzgründen verzichtet werden.
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Gerechtigkeit, Solidarität und Verantwortung bauenden Gesellschaft und Gemeinschaft gehen.15 Ich werde im Folgenden auf genaue Zuordnungen zu besonderen Positionen und einzelnen Autoren verzichten. Es kommt fortan allein darauf an, Grundzüge eines zeitgemäßen, theoretisch anspruchsvollen, empirisch brauchbaren und auch in normativer (ethisch-moralischer, politischer) Hinsicht akzeptablen Identitätsbegriffs zu skizzieren. Zu diesem Zweck müssen erst einmal ein paar hartnäckige Vorurteile und fatale Missverständnisse ausgeräumt werden.
2.3 Jenseits binärer Oppositionen: Die triadische Pragma-Semantik von Identität, Totalität, Fragmentierung Lässt man Theorien personaler Identität Revue passieren, kann man bei genauerem Hinsehen einen Bedeutungskern ausmachen, der verschiedene Theorien verbindet und überdies unmissverständlich zeigt, dass die oben skizzierte Kritik die anspruchsvollen Konzepte personaler Identität oft stark verzerrt und weitgehend verfehlt. Warum? Ein entscheidendes Argument lautet, dass sich diese Kritik allzu häufig von einem stark simplifizierten Bild personaler Identität leiten ließ. Das setzt sich bis in unsere Gegenwart fort. Man kann das leicht erkennen, sobald man berücksichtigt, dass die Pragmatik und Semantik des interessierenden Begriffs gerade nicht in der spannungsreichen Dualität zwischen Identität und Nicht-Identischem aufgeht. Diese ebenso gängige wie verfehlte binäre Kodierung und dualistische Konstruktion hat die gesamte Diskussion zu ermüdenden Wiederholungen unhaltbarer Behauptungen verleitet und über Jahrzehnte hinweg in Sackgassen geführt. Die Bedeutung eines Begriffs hängt von den Unterscheidungen ab, denen er sich verdankt und die er eröffnet, die er impliziert und ermög-
15 Vgl. hierzu die wegweisende Arbeit von Joas, Hans: Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werks von G. H. Mead. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980; außerdem etwa Jürgen Habermas: »Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu G. H. Meads Theorie der Subjektivität«, in: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 187-241; J. Straub: Theorien der Identität.
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licht. Die Debatte, in der der Identitätsbegriff nunmehr seit vielen Jahrzehnten auf dem Prüfstand steht, geht fast ausnahmslos davon aus, dass sich der umstrittene Kandidat im Wesentlichen im Lichte seines – eines einzigen! – Gegenstücks bestimmen ließe. Das vereint die Verteidiger und die Verächter bis heute. Sie alle setzen auf die Möglichkeit und Notwendigkeit, den Identitätsbegriff im Rahmen einer oppositionell-dualistischen Konstruktion zu definieren. Er erscheint dann eben als pures Gegenteil des Nicht-Identischen. Diese (im 20. Jahrhundert nicht zuletzt vom Strukturalismus hoch gehaltene) binäre Logik greift in diesem Fall indes zu kurz. Das Unterscheiden muss hier triadisch angelegt werden, wenn die Bedeutung des Begriffs personaler Identität angemessen erfasst werden soll. Diese triadische Struktur besitzt dabei die Form eines Kontinuums, deren Enden durch die Begriffe Totalität einerseits, Fragmentierung (Diffusion, Dissoziation) andererseits abgesteckt sind. Der Identitätsbegriff liegt also, topologisch betrachtet, in der Mitte zwischen diesen (ebenfalls idealtypischen) Extremen. Es ergibt sich das folgende schematische Kontinuum: Totalität – Identität – Fragmentierung Nur wenn man als Identitätstheoretiker(in) auf beide Seiten an den Rändern des Kontinuums blickt, versteht man, was in deren Mitte liegt und bereits von Erikson genau dort angesiedelt wurde. Er nahm nämlich in seinen akzentuierenden Definitionen – von denen es mehrere gibt – stets beide kontrastive Vergleichshorizonte, eben die Gegenhorizonte Totalität und Fragmentierung, in Anspruch, um den Identitätsbegriff zu klären. Er hatte also eine Trias von soziokulturellen und psychosozialen Optionen der Strukturierung kommunikativer Selbstund Weltverhältnisse im Auge, wenn er von Identität sprach – also gerade keine bloß binäre Logik und duale Opposition. Er unterschied Identität einerseits vom Nicht-Identischen in Gestalt einer Fragmentierung (Diffusion, Dissoziation), die die Orientierungs- und Handlungsfähigkeit einer leiblichen und sinnlichen, fühlenden und spürenden, sprach- und reflexionsfähigen Person untergräbt. Erikson, der stets als ein im Umgang mit dem Leid seiner Analysanden erfahrener Therapeut sprach, sah hier im Übermaß sog. dystone Kräfte walten, die die Identität, mithin die leib-seelische Integrität einer Person, massiv bedrohen und untergraben können. Ein zerrissenes Selbst leidet an
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mangelnder Orientierung, mithin an einer massiven Beeinträchtigung seines Erlebnis- und Handlungspotentials. Es versteht sich beinahe von selbst, dass die Grenzen zwischen Identität und Fragmentierung durchlässig und sogar fließend sind, also keine Identität jemals frei von dystonen ‚Kräften‘ ist bzw. sein kann und soll. Auch der psychoanalytische Ich-Psychologe wusste bestens, dass Syntonie nur ein idyllisierender und idealisierender Name für die Verfasstheit eines Selbst wäre, das (zumal in modernen Gesellschaften) tatsächlich niemals und nirgends anzutreffen ist. Auch das ist eminent wichtig: Das NichtIdentische ist demnach nicht einfach nur ein Gegenbegriff, sondern auch – paradoxerweise – ein integraler Bestandteil personaler Identität. Diese ist als Einheit ihrer Differenzen eine dynamische und unabschließbare, permanent von Spannungen, Konflikten und Krisen bedrohte und zeitweise von ihnen ‚bewohnte‘ Synthese des Heterogenen, besser noch: ein mühsamer Versuch der Relationierung und Synthetisierung des Heterogenen (s.u.).16 Andererseits grenzte Erikson den Identitätsbegriff von einer Totalität ab, welche just jenes gewaltförmige, Gewalt nach „innen“ und „außen“ freisetzende Zwangsgehäuse symbolisiert, das manche Kritiker moderner Identitätstheorien – grotesker, ja absurder Weise – als „Identität“ missverstehen und bezeichnen. Totalität ist eine geschlossene, starr auf ihre eigene Reproduktion und möglichst rigide Verfestigung hin angelegte Struktur: nichts von Draußen, jedenfalls nichts Anderes und Fremdes, darf hinein, nichts von Drinnen hinaus, jedenfalls nicht mit dem Anderen und Fremden in Kontakt und – wie man sagen kann – in ko-modifikativen Austausch kommen (der wechselseitige Veränderungen impliziert). Totalität beschränkt den Austausch nach Möglichkeit auf die auto-reproduktive ‚Anrufung‘ des identifikatorisch besetzten Eigenen und Vertrauten. Sie versagt, vermeidet und versperrt Kommunikation im engeren Sinne. Wo Totalität den Ton angibt, kommt es nicht zu einer communio im Sinne einer partiellen (Ver-) Einigung zwischen Kommunikationspartnern, die einander etwas mitzuteilen haben, um es miteinander teilen und so gemeinsam an etwas
16 Diese Formel stammt von Paul Ricœur, der sie zunächst ganz allgemein im Hinblick auf spezifische Funktionen und Leistungen der Erzählung münzte; zusammenfassend zum Konzept speziell der narrativen Identität vgl. Ricœur, Paul: Das Selbst als ein Anderer, München: Fink 1996; J. Straub: »Identität«.
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teilhaben zu können (einer Erfahrung, einer Überzeugung, etc.), sei es im Konsens, sei es im Dissens. Wo ego und/oder alter in der personalen Gestalt der Totalität aufeinandertreffen, dichten sie sich gegeneinander ab und sperren einander aus. Sie verschließen sich und das Ihre, verbarrikadieren und hüten die Selbst-Grenzen in angespannter Rigidität, notfalls mit Gewalt. Totalität steht für Veränderungsresistenz und Abwehr des Neuen.17 Während diese Struktur „absolut exklusiv wie absolut inklusiv“ ist und ein Moment der Gewalt nach „innen“ und „außen“ enthält, lässt sich die transitorische Identität durch eine strukturell verankerte Beweglichkeit und die Offenheit für nicht gewaltförmige Erfahrungen der Selbsttranszendenz charakterisieren.18 Identität impliziert die Fähigkeit
17 Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 156; vgl dazu J. Straub: »Identitätstheorie im Übergang?«, S. 61f. 18 Zur „postmodernen“ Interpretation personaler Identität als (angeblich totalitär strukturiertes) Zwangs- und Gewaltverhältnis vgl. J. Straub: »Personale Identität: anachronistisches Selbstverhältnis«. Eine Kritik dieser Interpretation stellt keineswegs in Abrede, dass man (eigen- oder fremdinitiierte) Identitätszuschreibungen auch als Identitätsforderungen und – zumutungen erleben kann, unter denen man, insbesondere wenn sie sich als gewaltsame oder zwanghafte, irreversible Festlegungen auf ein bestimmtes – beispielsweise: „traditionales“ – „So-sein“ erweisen, leiden kann; vgl. dazu etwa Böhme, Gernot: »Selbstsein und derselbe sein. Über ethische und sozialtheoretische Voraussetzungen von Identität«, in: Annette Barkhaus et al. (Hg.), Identität, Leiblichkeit und Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 370-379, hier S. 334ff. Man muss diesbezüglich allerdings verschiedene Blickwinkel einnehmen, um der Vielfalt möglichen menschlichen Leids gerecht zu werden. Ebenso wie Personen unter Umständen an Identitätszumutungen, forderungen und -zuschreibungen leiden können, so mögen sie durch Identitätsdiffusion und -verlust Schaden an Leib und Seele nehmen – und zwar nicht allein zu Eriksons Zeiten, als „Identität“ als (mehr oder weniger) fraglose gesellschaftliche Norm galt, die der Psychoanalytiker, wie Böhme (ebd.) argumentiert, affirmativ in seine Theorie integrierte, sondern heute noch. Die empirischen Befunde sprechen diesbezüglich einstweilen noch eine andere Sprache als der postmoderne Abgesang auf die personale Identität; vgl. z.B. Helsper, Werner: »Das ‚postmoderne Selbst‘ – ein neuer
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zur Selbstdistanzierung (z.B. in Form der Selbstironie), zur Selbstreflexion und Selbstkritik.19 Während Totalität lediglich die dem „abso-
Subjekt- und Jugend-Mythos? Reflexionen anhand religiöser jugendlicher Orientierungen«, in: Heiner Keupp / Renate Höfer (Hg.), Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 11-39; vgl. auch die zahllosen empirischen Studien in der Tradition Marcia, James E.: »Identity Diffusion Differentiated«, in: Mary A. Luszcz / Ted Nettelbeck (Hg.), Psychological Development across the Life-span, North-Holland: Elsevier 1989, S. 289195; Marcia, James E. et al.: Ego Identity. A Handbook for Psychosocial Research, New York: Springer 1993. Marcia und viele andere diagnostizieren zwar Veränderungen in den Identitätsbildungsprozessen (vor allem Jugendlicher in modernen Gesellschaften), insbesondere eine Zunahme des Typs einer „nicht pathologischen Diffusion“, aber keineswegs einen völligen und völlig problemlosen Abschied von der Identität. Im Übrigen kann natürlich auch Identitätslosigkeit – etwa in der im heutigen Kapitalismus als „Flexibilität“ gefeierten Form unverbindlicher Bindungen sensu Sennett, Richard: Der flexible Mensch, Berlin: Berlin Verlag 1998 – zu einer gesellschaftlichen Norm werden, die Subjekte affirmieren und verinnerlichen, um ihr schließlich unterwürfig Folge zu leisten. So manche Kritik an modernen Identitätstheorien (und der psychosozialen Praxis, die diese auf den Begriff bringen) gerät so unversehens zu einer affirmativen Apologie von Sprachspielen und Lebensformen, die keineswegs zwangsläufig die Handlungsoptionen und Handlungspotentiale ästhetisch gesinnter Vagabunden, Spieler und Flaneure steigern, sondern vielleicht bloß eine neue Runde subtil wirksam werdender Machttechniken im Zeichen wuchernder Kontroll- und Disziplinardispositive einläuten. Nicht jeder „Ausbruch in die Unbelangbarkeit“ (Odo Marquard) ist ein Aufbruch in die postmoderne Leichtigkeit eines von hypertrophen sozialen Rücksichtnahmen und Begründungspflichten befreiten Daseins. Abgesehen davon ist es keineswegs ausgemacht, ob heutige spätmoderne Gesellschaften denn tatsächlich soweit sind (oder je soweit sein werden), dass sie tatsächlich auf Personen, denen Identität und Autonomie zugeschrieben werden kann, verzichten können und deswegen eine als „Freiheitschance“ ideologisch getarnte Identitätslosigkeit zum normativen Gebot der Stunde machen „müssen“. 19 Selbst-Ironiker sind, psychologisch betrachtet, Personen, die eine einigermaßen gelungene Identitätsbildung hinter sich haben und deshalb von sich Abstand nehmen können. Die Figur des ironischen Menschen ist heute
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luten“ Eigenen angeglichenen Mitmenschen inkludiert und alle „anderen Anderen“ ausschließt, fungiert Identität als Modus einer praktischen Selbstverwirklichung, die just diese „anderen Anderen“ und Fremden als eine im Prinzip willkommene Herausforderung des Eigenen anerkennt. Diese auf die „subjektive Realisierung von Allgemeinheit“20 gerichtete Identität verschließt sich den Anderen und Fremden nicht, sondern bedarf seiner – gerade auch deswegen, weil sie das Eigene über die Grenzen des Subjektiven hinauszuführen und somit den Horizont, das Erlebnis- und Handlungspotential einer Person zu bereichern vermögen. Das verläuft vielleicht niemals ganz ohne Furcht und Angst und wird manchmal von bleibender Sorge begleitet. Es wird aber dennoch nicht einfach psychisch abgewehrt und praktisch vermieden.21 Selbstverständlich sind die Begriffe „Identität“ und „Totalität“ Idealtypen im Sinne Max Webers (leider nicht die „Fragmentierung“, die bekanntlich tatsächlich zum vollständigen Zerfall von Persönlichkeitsstrukturen und zur kompletten Zerstörung des Erlebnis- und Handlungspotentials führen kann. Insofern hat man es hier mit einem bis ins
sehr beliebt, nicht nur in Rortys Verehrung des sich selbst schöpfenden Individuums, sondern sogar in Texten, die nach der vehementen Kritik „kollektiver Identitäten“ eine doch noch optimistisch stimmende Zukunft „ironischer Identitäten“ zeichnen, die „stark (sic!) genug“ sind, um oszillieren, sich bewegen und verändern zu können und „sich nicht auf Verhärtungen und Ausschließungen gründen müssen“ (Passerini, zit. nach Niethammer, Kollektive Identität, S. 627). Da steht, wie man sieht, nichts anderes als das hier skizzierte, „klassische“ Modell personaler Identität Pate. 20 Theunissen, Michael: Selbstverwirklichung und Allgemeinheit. Zur Kritik des gegenwärtigen Bewusstseins, Berlin und New York: de Gruyter 1981, S. 6. 21 Es läge nahe, den Identitätsbegriff mit gängigen (in jedem Lehrbuch vorgestellten) Konzepten der Persönlichkeitspsychologie in Beziehung zu setzen, so etwa mit den viel zitierten Persönlichkeitsmerkmalen, die als big five in die Fachliteratur eingegangen sind. Es ist offenkundig, dass es pragma-semantische Verwandtschaften mit verschiedenen dieser Dispositionen gibt, wobei die im Modell der big five auftretende „Offenheit für Erfahrung“ ohnehin eine der Konstituenten des Identitätsbegriffs ist.
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Extreme hineinreichende, graduell abstufbaren Realtypus zu tun).22 Es ist zu erkennen: Erikson hatte bereits auf dieser elementaren Ebene ein differenzierteres begriffliches Instrumentarium zur Verfügung als viele seiner Kritiker (die bekanntlich oft so sehr auf Differenzierung pochen und auf „Differenz“ schwören oder von Paradoxien schwärmen). Analoges gilt für Mead und einige weitere prominente Klassiker identitätstheoretischen Denkens – und selbstverständlich für neuere Ansätze.23 Identität liegt in der Mitte eines Kontinuums. Diese theoretische Topologie legt die Pragma-Semantik des fraglichen Begriffs in wissenschaftlichen Kontexten eindeutig fest. Je nach Zeitgeist und realen empirischen Lebensbedingungen (die für bestimmte Individuen und Gruppen auch in einer Gesellschaft oder Kultur bekanntlich ziemlich verschieden ausfallen können), geht es in identitätstheoretischen Debatten das eine Mal um die Risiken einer Annäherung an den äußersten Pol der Totalität, das andere Mal um die Gefahren einer rückhaltlosen Hingabe an die extreme ‚Option‘ der Fragmentierung. In psychologischer Perspektive besitzen übrigens beide diese Möglichkeiten ihre (manchmal) durchaus verführerischen, verlockenden Seiten, stellen sie doch kurzfristige ‚Lösungen‘ für womöglich drängende Probleme in Aussicht – wie hoch der Preis, den eine totalitäre Strukturierung des Selbst ebenso wie seine Fragmentierung (z.B. nach einer Zeit der exzessiven Dynamisierung, Flexibilisierung) früher oder später einfordert, auch sein mag. Zu beachten ist (erneut), dass es Erikson und allen anderen ernst zu nehmenden Identitätstheoretikern nicht einmal von der Ferne her in
22 Fragmentierung (Diffusion, Dissoziation) ist ein mögliches Resultat misslingender Identitätsbildung. Hätte Erikson gewusst – geahnt hat er es zweifellos –, welche Ausmaße leidvolle Phänomene, wie sie in der Psychologie, Psychopathologie und Psychiatrie heutzutage unter der summarischen Bezeichnung „Dissoziationsstörungen“ diskutiert werden, gegenwärtig annehmen, hätte er gewiss noch mehr über diesen möglichen Ausgang persönlicher Lebenswege zu sagen gehabt. Man denke etwa an die rasante „Karriere“ der „multiplen Persönlichkeit“ im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, zunächst fast ausschließlich in Nordamerika, sodann in anderen Teilen der Welt – eine Karriere, die dem „fröhlichen Abschied“ von der Identität, wie ihn manche Postmoderne feierten, doch etwas den Wind aus den Segeln genommen hat. 23 Zum Überblick s. J. Straub: Theorien der Identität.
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den Sinn gekommen wäre, das „Nicht-Identische“ pauschal zu perhorreszieren und es zur bloßen Barriere gelingender Identitätsbildung zu erklären, zu etwas gar, das möglichst ausgeschlossen werden müsste aus dem Erfahrungsraum und Erwartungshorizont von Menschen. Das macht die Sache noch einmal komplizierter und verleiht dem Begriff eine paradoxe Note: Das Nicht-Identische ist eine logische und empirische Voraussetzung einer lebenslangen, niemals abschließbaren, in paradoxer Weise sowohl notwendigen als auch unerfüllbaren Identitätsbildung. Im Übrigen ist das Nicht-Identische – gerade aus Sicht der Psychoanalyse, auch in Gestalt der Ich-Psychologie! – topologisch vor allem im dynamischen Unbewussten sowie im Vorbewussten angesiedelt und in dieser qualitativen Verfasstheit psychisch wirksam. Es ist mithin niemals bewusst kontrollierbar, kommunizierbar und willkürlich in das partiell autonom geführte und gestaltete Leben einzubeziehen. Wie das Unbewusste generell bricht es ins Dasein einer Person ein, ohne gebeten oder gefragt worden zu sein. An dieser Stelle mag es hilfreich sein, daran zu erinnern, dass Erikson (und viele andere) nicht zuletzt die Identität einer Person als eine in weiten Teilen unbewusste dynamische Struktur bestimmen. Das wird bereits durch die schlichte Tatsache angezeigt, dass für die Bildung, Bewahrung oder Transformation personaler Identität nach psychoanalytischer Auffassung auch Identifizierungen maßgeblich sind, also von Anna Freud oder Erikson als Ich-Leistungen konzeptualisierte unbewusste Abwehrmechanismen. Wer dies zur Kenntnis nimmt, ist vor dem grotesken Irrtum gefeit, Identität sei von Erikson, einem sonstigen Psychoanalytiker oder ernst zu nehmenden Theoretiker als eine Struktur bestimmt worden, die vollständig frei von dystonen Potentialen sein könne oder das NichtIdentische völlig zu eliminieren trachte. Identität ist eine Aspiration, eine Art Sehnsucht, die der SelbstBildung von Personen Form und Richtung verleiht. Diesen kontingenten Bildungsprozess sind Menschen, wenn sie sich im Rahmen der normativen kulturellen Semantik des offenen und dynamischen Selbst bewegen, bestrebt zu gestalten. Ihrem Gestaltungspotential sind dabei allerdings unüberwindliche Grenzen gesetzt. Das birgt zwar Risiken und Gefahren, ist aber (z.B. aus Eriksons Sicht) keineswegs rundum bedauerlich. Ganz im Gegenteil: dystone Potentiale und das NichtIdentische sind nicht bloß potentielle Störenfriede einer stets prekären Balance, in der sich eine Person zu halten hat – eines dynamischen Fließgleichgewichts, das mit der prästabilierten Harmonie von stabil in
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sich ruhenden Seelen offenbar rein gar nichts mehr zu tun hat. NichtIdentisches und dystone Potentiale sind als Quellen von psychosozialen Konflikten und Krisen oftmals auch (unbewusste) ‚kreative Kräfte‘, die Neues ermöglichen, mithin den Horizont, das Erlebnis- und Handlungspotential einer Person erweitern können. Die Psychoanalyse betrachtet gerade auch dies als unumstößliche Einsicht (jedenfalls solange sie genuin psychoanalytischem Denken treu bleibt): Der Selbstentzug gehört unweigerlich zu jenem Selbst, das die hier interessierenden Theorien transitorischer Identität seit gut einem Jahrhundert auf den Begriff zu bringen bemüht sind. Identität ist eine Aspiration unter empirischen Bedingungen gesteigerter Kontingenz-, Differenz-, Alteritäts- und Alienitätserfahrungen. Diese Aspiration als dynamische Struktur oder Form des kommunikativen Selbstund Weltverhältnisses einer Person zu bestimmen, verlangt ein Denken, das sich auf die scheinbare Alternative zwischen Differenz- und Identitätstheorie erst gar nicht einlässt. Identitätstheorien des hier interessierenden Typs denken Differenzen und halten an ihnen fest – was sonst? Identität ist nichts anderes als der Name für eine psychische Struktur in Form des kommunikativen Selbst- und Weltverhältnisses einer Person, die just mit diesem Terminus als soziokulturell konstituierte, höchst dynamische und entsprechend labile, fragile Einheit ihrer Differenzen begriffen wird. Offensichtlich ist dieses Konzept auf den Menschen in seiner Modernität gemünzt – also keine universale anthropologische Kategorie, unter die alle Menschen, unabhängig von Zeit und Raum, umstandslos subsumiert werden sollten. Es ist wohl noch nicht einmal so, dass dieser Begriff zu allen Angehörigen spät- oder postmoderner Gesellschaften und Kulturen gleichermaßen gut passt. Es leben gewiss auch heute so gut wie überall Leute, deren kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis mitnichten jener Struktur entspricht, welche in diesem Beitrag als „Identität“ zu bezeichnen (und von anderen Strukturen akzentuierend zu unterscheiden) vorgeschlagen wird. Ob die idealtypische Trias „Totalität – Identität – Fragmentierung“ bereits ein hinreichend differenziertes begriffliches Instrumentarium darstellt, ist keineswegs ausgemacht. Das sollte wohl eher bezweifelt werden, und zwar insbesondere dann, wenn kulturvergleichende Perspektiven eingenommen werden, die es gestatten, den historisch und weltweit vielfältigen Formen
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des kulturellen Selbst (und des Non-Selbst etc.) wirklich gerecht zu werden. Das sei hier jedoch dahingestellt.24 Identität ist ein (spät-)modernes Phänomen, und der Begriff trägt dieser historischen und soziokulturellen Signatur Rechnung. Er tut dies nicht zuletzt dadurch, dass er das kommunikative Selbst- und Weltverhältnis einer Person als dynamische Einheit von diachronen und synchronen Differenzen fasst. Wie der Begriff dies im Einzelnen bewerkstelligt, werde ich zumindest noch andeuten. Dabei werden Desiderate deutlich, die klar machen, dass wir keineswegs schon über einen genau analysierten und hinreichend bestimmten Identitätsbegriff verfügen.
3. I DENTITÄTSTHEORETISCHE G RUNDBEGRIFFE : K ONTINUITÄT , K ONSISTENZ , K OHÄRENZ Fragt man sich, wie Identität als Selbstheit und Einheit einer Person genauer bestimmt werden kann, sind drei Begriffe entscheidend. Diese Begriffe bezeichnen unterschiedliche Aspekte dieser Selbstheit und Einheit. Sie machen alle noch einmal klar, dass es dabei stets um eine als integrative Struktur von Differenzen verstandene Identität geht. Außerdem sind diese identitätstheoretischen Grundbegriffe, genauer besehen, allesamt keine Bezeichnungen von Zuständen, sondern Prozessbegriffe, die sich eigentlich auf das stets nur vorläufige, prinzipiell instabile Ergebnis von praxischen, symbolischen oder mentalen Handlungen des Subjekts beziehen (zu denen auch die an Deutungsleistungen gebundene ‚Wahrnehmung‘ und ‚Verarbeitung‘ von Widerfahrnissen zählt). Wie die Identität selbst bezeichnen auch Kontinuität, Konsistenz und Kohärenz keine feste Struktur, sondern ein temporäres und dynamisches, störungsanfälliges und entsprechend labiles Fließgleichgewicht.25 Diese Struktur muss praktisch andauernd ausbalanciert wer-
24 Vgl. hierzu: Straub, Jürgen / Chakkarath, Pradeep: »Identität und andere Formen des kulturellen Selbst«, in: Familiendynamik 36 (2010), S. 110119. 25 Auch diese auf den Biologen Ludwig von Bertalanffy zurückgehende Metapher ist, sobald sie im hier interessierenden Zusammenhang gebraucht wird, nicht unproblematisch; die denotative Bedeutung des Begriffs z.B. in der Enzymkinetik oder Thermodynamik wandelt sich im Fall einer Übertragung erheblich, da ein Fließgleichgewicht zwischen (teilweise sich wi-
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den. Sie ist niemals gegeben und fortan einfach vorhanden (wie ein gesicherter Besitzstand), sondern dem Subjekt als eine endlose Aufgabe auferlegt. Die um Identität bemühte Person muss von Anfang an und zeitlebens selbst für die Kontinuität, Konsistenz und Kohärenz ihres Lebenszusammenhangs sorgen. Sie muss diesen beweglichen und faktisch sich permanent verändernden, grundsätzlich nur als dynamisches Differenzenverhältnis bestimmbaren Zusammenhang immer wieder aufs Neue schaffen (bilden, hervorbringen, konstruieren, formieren; reformieren, rejustieren, restrukturieren; transformieren, verändern, umgestalten). Dies geschieht durch geeignete Handlungen und gebotene Unterlassungen, durch jeweils passende Aktionen und Passionen zur rechten Zeit, durch zweckdienliche Aktivität und Passivität, durch ein behutsames Wechselspiel aus entschiedenem Zupacken, abwartender Geduld und einer in der Einsicht in das Unverfügbare begründeten Gelassenheit, kurz: durch eine unübersehbare Vielfalt ‚äußeren‘ oder ‚inneren‘ Tuns und Lassens. Manche dieser identitätsrelevanten Verhaltensweisen richten sich auf die Relationierung und Synthese des zeitlich Differenten, mithin auf Kontinuität. Dieser wichtige identitätstheoretische Begriff besagt also keineswegs, dass ein Mensch sich im Laufe seines Lebens dadurch gleich bleibt (ein und derselbe, semper idem), dass sich in diesem Leben nichts geändert hätte, noch heute oder morgen ändern würde. Das Gegenteil ist der Fall: Kontinuität im identitätstheoretischen Sinn gibt es nur unter der theoretischen und empirischen Voraussetzung eines lebensgeschichtlichen Wandels des Selbst. (Was natürlich nicht heißt, dass sich dieses Selbst ständig in toto ändern müsste. Das ist gewiss ein Ding der Unmöglichkeit.) Dieser Begriff bezeichnet eine spezifische, an Aktivitäten des Subjekts gebundene Form der Integration temporaler Differenzen. Kontinuität ist an permanente Akte der Selbst-Kontinuierung in einem prinzipiell zeitlich strukturierten Leben gebunden. Diese Aktivität schafft einen Zusammenhang, der nicht an sich gegeben ist oder ohne das Dazutun eines Subjektes zustande käme. Es ist die Person selbst, die sich als sich veränderndes Subjekt erlebt und wahrnimmt, sodann aber solche Unterschiede in der Zeit rela-
derstreitenden) psychischen Phänomenen (wie Begehren und Wünschen, Intentionen und Motiven, Gedanken und Gefühlen, Erwartungen und Erfahrungen) in anderer Weise konzeptualisiert werden muss als im Falle physikalisch-chemischer Entitäten und Prozesse.
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tioniert – und zwar stets aus der Perspektive der Gegenwart (also immer wieder anders). Die Person bildet jenen Zusammenhang, welcher identitätstheoretisch als Kontinuität bezeichnet wird, aus lebensgeschichtlichen Erinnerungen, heutigen Erlebnissen und Eindrücken sowie Erwartungen einer imaginierten, erhofften oder befürchteten Zukunft. Selbstverständlich können dafür bleibende ‚Lebenselemente‘ wichtig sein, etwa die eigene Muttersprache, die auch nach der Migration Gemeinschaft verbürgt, oder das gewohnte Essen, traditionelle Kleidung usw. Abgesehen davon, dass sich vieles ändert und in besagtem Sinn bearbeitet werden muss, muss auch das Bleibende aktiv bewahrt und in einen emotional erlebten, kognitiv repräsentierten und/oder symbolisch artikulierten Zusammenhang eingebunden werden, der stets nur als Zeit-Zusammenhang thematisch werden kann. Eine besonders wichtige, jedoch nicht die einzige Form der aktiven Selbst-Kontinuierung bildet das Erzählen von (Selbst-)Geschichten. Demgemäß spricht man seit einiger Zeit von narrativer Identität.26 Konsistenz bezieht sich allein auf die logische Stimmigkeit von Satzsystemen, also speziell auf Widerspruchsfreiheit in den sprachlichen Selbstthematisierungen eines Subjekts. Wenngleich auch dies nicht unbedeutend für die personale Identität sein mag, sind Menschen keine ‚rationalen Zombies‘ oder ‚logische Automaten‘, mithin an Konsistenz weder immer interessiert noch in ihrem Selbstgefühl und Selbstbewusstsein stark davon abhängig. Im Gegenteil, der (spät- oder post-)moderne Mensch weiß um seine inneren Widersprüche und Konflikte und erträgt zumal logische Ungereimtheiten in seinen eigenen Selbstthematisierungen oft ganz gut. Das soll natürlich nicht heißen, dass krasse Widersprüche einerlei und dem Individuum und seinen Mitmenschen schlicht gleichgültig sein könnten. Durch die Beachtung logischer Konsistenzanforderungen bei Selbstthematisierungen ist dem praktischen Widerstreit und den seelischen Spannungen, die eine Person ausmachen, allerdings nicht beizukommen.
26 P. Ricœur: Das Selbst als ein Anderer. Welche (Typen von) Handlungen sonst noch zur Selbstkontinuierung eines in bestimmten historischen, kulturellen und sozialen Verhältnissen situierten Subjekts beitragen können, gehört zu den nach wie vor nur sehr unvollständig beantworteten, meistens kaum wahrgenommenen Fragen der Identitätstheorie und Identitätsforschung.
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Viel wichtiger für die Theorie personaler Identität ist der Begriff der Kohärenz. Damit ist ein stimmiger Zusammenhang bzw. die Verträglichkeit von sozialen Positionen und Rollen gemeint, die ein Mensch in verschiedenen Lebensbereichen und Handlungsfeldern (beruflichen und privaten) in der aktuellen Gegenwart einnimmt (z.B. als alleinerziehender Vater, General beim Militär, Homosexueller nach einem späten coming out, Vorsitzender des Rotary Club, professioneller Hochseesegler, Techno-Fan, usw.). Offenkundig ist dieses Kriterium nicht auf die rein logische Vereinbarkeit von sprachlichen Äußerungen reduzierbar, sondern vielmehr von soziokulturellen, institutionellen oder informellen Vorstellungen davon abhängig, was in einem Leben so alles zusammengehören und gut zusammenpassen kann – und was nicht. Ein strenger Katholik oder Priester gar könnte sich das coming out des Generals zu keiner Zeit erlauben, ohne massive Kohärenz- und damit Identitätsprobleme zu bekommen (von den veritablen Schwierigkeiten mit seiner Kirche einmal ganz abgesehen). Für einen General, einen Außenminister oder ein Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank ist die homosexuelle Orientierung hierzulande und heute kein prinzipielles Problem, das diese Person vor kulturell und sozial konstituierte Probleme der Kohärenz stellt (völlig ungeachtet der fortbestehenden Diskriminierung und Stigmatisierung, denen Homosexuelle in weiten Kreisen der Bevölkerung noch immer ausgesetzt sein mögen). Es ist zu sehen: Kriterien, anhand derer wir Kohärenz bemessen, sind soziokulturell höchst variabel und wandeln sich historisch erheblich – und sie sind obendrein offen für die Kreativität innovativer Individuen, die ‚Dinge‘ zusammenbringen, die andere bislang für völlig unvereinbar hielten (etwa das askriptive Merkmal des ‚weiblichen Geschlechts‘ mit der soziokulturellen Position und institutionellen Rolle, die mit dem katholischen Priesteramt verknüpft ist. Wer weiß, was kommen wird?). Identität hängt von Kontinuität und Kohärenz unmittelbar ab. Und sie hängt mit der Idee personaler Autonomie direkt zusammen. Ohne Identität ist die partiell autonomen Subjekten zugeschriebene Urteils-, Orientierungs-, Erlebnis- und Handlungsfähigkeit nicht denkbar. Identität und Autonomie sind interdefinierbare Begriffe. Auch dieser Zusammenhang ist ein wichtiger Aspekt der politischen Semantik „personaler Identität“. Im letzten Abschnitt dieses Beitrags möchte ich jedoch einen anderen Gesichtspunkt ins Zentrum rücken.
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4. I DENTITÄT
UND
D EMOKRATIE
In ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen ist die Tatsache, dass der Identitätsbegriff von Erikson gegen eine von der Politik und politischen Theorie herkommende Vorstellung von Totalität abgesetzt wird – und zwar, wie dargelegt, expressis verbis. Erikson verwendet diesen Begriff in einer seiner wichtigsten Abhandlungen an zentraler Stelle, so dass es verwunderlich ist, dass diese Tatsache heutzutage weitgehend aus dem Bewusstsein der scientific community verschwunden, kaum genauer bedacht und manchmal ins gerade Gegenteil verkehrt wurde. Ich bin mir nicht sicher, wie weit sich Erikson selbst auf die bislang noch kaum untersuchte Analogiebildung eingelassen hat und ob er an einer genaueren Aufklärung des Verwandtschaftsverhältnisses psychologischer und politischer Begriffe interessiert gewesen wäre. Dafür gäbe es jedenfalls nicht zuletzt wegen der Verwendung von „Totalität“ auf beiden Seiten Anlass genug. Der normative Gehalt des Identitätsbegriffs und insbesondere seine politische Bedeutung sind nicht zu verstehen, wenn man die Affinität zwischen psychologischem und politischem Denken ignoriert. Subjekttheoretische Konzeptionen auf der einen Seite, sozial- und kulturtheoretische Überlegungen, die sich speziell aus der politischen Ideengeschichte speisen, stoßen einander ab oder ziehen sich an, stehen jedenfalls niemals in Verhältnissen völliger Indifferenz zueinander. Greift man diesen Gedanken auf und spinnt ihn fort, wird es m.E. unumgänglich, identitätstheoretische und demokratietheoretische Überlegungen aufeinander zu beziehen. Ich kann dies hier nicht in aller Ausführlichkeit und Tiefgründigkeit tun. Ein paar Stichworte, die weitere Untersuchungen anregen mögen, müssen genügen. Im Bereich der politischen Philosophie und in verwandten Gebieten wird die „Demokratie“ – auch als normatives Konzept gesellschaftlichen Zusammenlebens – nicht zuletzt gegen totalitäre Gesellschaften (unterschiedlichen Zuschnitts) abgegrenzt.27 Analog sprach Erikson, wie dargelegt, in deskriptiver, explanativer und normativer Absicht von der Totalität als einer spezifischen Struktur oder Form des kommunikativen Selbst- und Weltverhältnisses einer Person. Identität
27 Es ist trivial, dass Demokratietheorien zahlreiche und historischem Wandel unterworfene Bestimmungsmerkmale aufweisen können – keineswegs immer miteinander verträgliche. All das wird im Folgenden vernachlässigt.
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galt ihm als (theoretisches und praktisches) Gegenstück, ja als regelrechter Widerpart zu totalitären Strukturen im psychosexuellen, psychosozialen und psychokulturellen Raum. Ihre geistesverwandte und praktisch komplementäre Entsprechung im Bereich des Politischen findet die personale Identität im hier explizierten Sinne in der radikalen Demokratie. Identität und Demokratie bedingen und bedürfen einander. Sie bringen einander hervor, stützen sich und verändern sich wechselseitig. Sie richten sich gleichermaßen gegen geschlossene und sich abschließende Strukturen – sei es im Bereich des psychischen und persönlichen, sei es im Feld des politischen und öffentlichen Lebens. Das Problem der Totalität ist hier wie dort auch heutzutage keineswegs verschwunden. Selbst wenn Idee und Wirklichkeit einer „offenen Gesellschaft“ und einer „offenen Person“, wie sie zu liberalen, pluralistischen Demokratien passen, in einer globalisierten Welt immer weitere Kreise ziehen und in the long run vielleicht kaum aufzuhalten sein mögen, bleiben sie gefährdet und, kontingent wie sie sind, alles andere als unumgänglich. Totalitäre Strukturen sind für politische Gemeinwesen und die Verfassung einer Person nach wie vor eine Option. Die spätmoderne Psychologie der Identität sowie alle damit verwobenen politischen und pädagogischen, präventiven und therapeutischen Projekte tun das Ihre dazu, dass diese Option dem Menschen in einer radikalisierten Moderne28 nicht besonders attraktiv erscheint und ihre Verführungskraft geschwächt wird. Sie suchen insbesondere zu verhindern, dass Totalität von den Subjekten als eine vermeintliche
28 Giddens, Anthony: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. Dieser Autor verknüpft die Perspektive einer historischen Soziologie und Sozialpsychologie auf besonders instruktive Weise, so dass die Beschreibung und Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen hier stets einhergeht mit einer sensiblen und subtilen Bestandsaufnahme der prekären seelischen Verfassung moderner Subjekte. Ähnliches gilt für einige weitere Autorinnen und Autoren, darunter: Willems, Herbert / Hahn, Alois (Hg.): Identität und Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999; Keupp, Heiner / Ahbe, Thomas / Gmür, Wolfgang: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek: Rowohlt 1999; Keupp, Heiner / Hohl, Joachim (Hg.): Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel: Zur Theorie des Subjekts in der Spätmoderne, Bielefeld: transcript 2006; Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994.
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Notwendigkeit erlebt wird. Sie analysieren den Schein dieser Notwendigkeit als imaginäre Institution und illusionäre Flucht aus der Wirklichkeit der späten Moderne. Sie warnen vor der Sehnsucht nach einer Rückkehr in eine Totalität, die die Subjekte von den Risiken, Zumutungen und Anstrengungen in einer komplexen modernen Welt zu befreien und das quälende Gefühl ontologischer Verunsicherung abzustellen verspricht. Sie machen insbesondere auf den Preis jeder Form der Totalität aufmerksam: solche Formen sind stets wiederbelebte oder erneuerte Systeme einer möglichst starren Organisation des soziokulturellen Lebens und repressiver Strukturen eines Selbst, das die komplexen Anforderungen personaler Identität nicht erträgt. Der Preis der Totalität wäre ein fragwürdiger Auszug des Menschen aus der mühsamen errichteten, zur Unfertigkeit verdammten Welt einigermaßen mündiger, um vernunftorientierte Selbstbestimmung zumindest bemühter Menschen. Sie wäre nicht zuletzt eine Schwächung der Demokratie. Dieser heute oft im Schatten stehende Zusammenhang ist in den Schriften der amerikanischen Pragmatisten häufig thematisiert worden. Er ist nicht allein in den Arbeiten George Herbert Meads präsent, dem sich bekanntlich eine klar an demokratische Ideale gebundene Theorie des Selbst verdankt, die noch immer und zurecht als eine der besonders anregenden Theorien personaler Identität rezipiert wird.29 Die
29 Vgl. dazu H. Joas: Praktische Intersubjektivität; Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981; J. Habermas: »Individuierung durch Vergesellschaftung«. Es ist deutlich, dass Habermas’ Bezugnahme auf Mead auf eine Einbeziehung des amerikanischen Pragmatismus abzielte, die dem Ziel einer Begründung der Demokratie verpflichtet war – im Gegensatz zu Richard Rortys bekanntem Diktum, die Demokratie habe zwar eine philosophische Artikulation nötig, sei aber einer im engeren Sinne rechtfertigenden (philosophischen, subjekt-, sozial- und kulturtheoretischen theoretischen) Begründung weder fähig noch bedürftig. Dass man sich bei dieser aparten Auslegung der Demokratie als eines radikal kontingenten Ereignisses, das sich den argumentativen Bemühungen der Vernunft letztlich entzieht, nicht auf John Deweys Denken im Besonderen oder den Pragmatismus im Allgemeinen berufen kann, wurde vielfach dargelegt, so etwa von Kloppenberg, James: »Demokratie und Entzauberung der Welt«, in: Hans Joas (Hg.), Philosophie der Demokratie.
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Idee einer radikalen Demokratie und ihres subjekttheoretischen Komplements in Gestalt der personalen Identität findet sich ebenso in den Texten anderer Pragmatisten, nicht zuletzt im Werk des wohl einflussreichsten public intellectual seiner Zeit: John Deweys Denken kreist beständig um eine „Philosophie der Demokratie“.30 Wenngleich er
Beiträge zum Werk John Deweys, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 44-80; Westbrook, Robert B.: »John Dewey und die Logik der Demokratie«, in: H. Joas (Hg.), Philosophie der Demokratie, S. 341-361. Der „Neopragmatist“ Rorty rückt, so Westbrook, den Pragmatismus häufiger ein wenig allzu sehr an eine Art sozialverträglichen und einigermaßen hoffnungsvollen Friedrich Nietzsche oder Michel Foucault heran. Dewey und seinen Mitstreitern hätte das kaum einleuchten und lieb sein können. Westbrook verweist diesbezüglich nicht nur auf die scharfe Kritik von Autoren wie Richard Bernstein, Hilary Putnam oder Richard Susterman (die sich allesamt ebenfalls als Neopragmatisten verstehen), sondern auch auf das Anliegen von Habermas, den Pragmatismus als Ressource für die Kritik und Überwindung des Poststrukturalismus in Europa zu nutzen und dabei gerade die Möglichkeit einer vernünftigen (oder, wie Dewey eher gesagt hätte: einer intelligenten) Begründung der Demokratie als Lebensform stark zu machen. 30 Diesen Punkt betont Joas bereits in seiner Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Buch: Joas, Hans: »Einleitung: John Dewey – der Philosoph der Demokratie«, in: H. Joas (Hg.), Philosophie der Demokratie, S. 719; zur herausragenden Rolle Deweys im Rahmen des Progressive Movement und New Liberalism vgl. etwa Jaeger, Friedrich: Die Intellektuellen und die Civil Society. Zur amerikanischen Politik- und Gesellschaftstheorie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2002. Der Autor legt dar, wie es den geistig und politisch verbundenen Intellektuellen gelungen ist, komplexe Zeit- und Gegenwartsdiagnosen an konkrete, lebensweltliche Erfahrungen anzubinden und viel beachtete Vorschläge für die praktische Bearbeitung der seinerzeit identifizierten Probleme zu entwickeln. Bloße moralische Appelle waren ihre Sache dabei nicht. Sie orientierten sich, allen voran Dewey, vielmehr an wissenschaftlichen Standards und stützten ihre Diagnosen und die darauf bezogenen politischen Reformstrategien auf empirisch gehaltvolle Untersuchungen sowie theoretische Reflexionen – wobei bereits ihre gegenseitige Beachtung und Kritik als dialogisches Korrektiv jedes Votums im öffentlichen Diskurs fungierte. Vieles davon ist von bleibendem Wert und verleiht
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nicht – wie Mead oder auch William James – systematisch mit der Struktur und Dynamik des modernen Selbst und seiner Funktionen in pluralistischen, liberalen Gesellschaften befasst war, hatte er das Subjekt stets mit im Blick. Deweys demokratietheoretische und praktisch-politische Interessen waren offenkundig nicht auf ein bestimmtes „Arrangement von Institutionen und Prozeduren“ eingeengt, sondern am Kern einer ebenso radikalen und abstrakten wie praktisch folgenreichen Idee orientiert.31 Angetrieben war dieses Interesse von Deweys Faible für die modernen Wissenschaften, von denen er sich – trotz seines ausgeprägten Bewusstseins für wissenschaftlich und technologisch bedingte Risiken in der industrialisierten Welt – weitere Fortschritte erhoffte. Dabei dachte er an das Leben aller Einzelnen und ihres organisierten und dennoch kreativen Zusammenlebens, in dem der liberale Wert der Freiheit in einer zwar spannungsreichen Beziehung zu den Werten der Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität steht, sich aber letztlich mit diesen verträgt und verbindet im Modell eines „liberalen Kommunitarismus“. Ganz grob lässt sich sagen, dass Dewey eine Art Verwandtschaft zwischen den Wissenschaften, ihrem sie beseelenden, unentwegt vorantreibenden Geist und der Idee der Demokratie vor allem darin sah, dass es hier wie dort um ein alle Kräfte menschlicher Intelligenz aufbietendes und kreatives Experimentieren mit neuen Perspektiven, Gedanken und Praktiken geht. Deweys Denken kreist um die Idee einer kreativen Lösung drängender Probleme. Wissen einerseits, Erlebnis- und Handlungspotentiale andererseits nehmen in Deweys Perspektive proportional zu, bereichern die Welt und das Selbst der sie bewohnenden Menschen. Verbesserungen verdanken sich nach Dewey einem untersuchenden und versuchenden, praktisch involvierten ‚Geist‘, der in den modernen Wissenschaften und demokratischen Gesellschaften gleichermaßen waltet – und der auch die Strukturen personaler Identität bestimmt, ja: sie eigentlich erst hervorbringt und erhält.
zahlreichen Debatten unserer Tage – etwa der Auseinandersetzung zwischen Liberalismus und Kommunitarismus – eine historische Tiefendimension, die aufschlussreich und inspirierend ist – etwa im Hinblick auf die komplexe, übrigens auch identitätstheoretisch sehr interessante Idee eines „libertären Kommunitarismus“ oder „kommunitaristischen Liberalismus“, an die auch Jaeger erinnert. 31 H. Joas: »Einführung«, S. 13.
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Für Dewey war klar, dass sich die Logic of inquiry auf alle Wissenschaften (einschließlich der Ethik und Moralphilosophie, der Politik und Ästhetik, der Psychologie und Pädagogik) erstreckt.32 Wie die wissenschaftliche Forschung zeichnet sich auch die praktizierte Demokratie durch ihren sich selbst korrigierenden Charakter aus. Rational motivierte Korrekturpotentiale sind integrale Bestandteile jener auf kreative Veränderungen hin angelegten Praktiken, wie sie wissenschaftliche und demokratische Lebensformen auszeichnen. Wissenschaft selbst ist in diesem Sinne, so Dewey, nur als demokratische Wissenschaft zu betreiben, wie umgekehrt die Demokratie von genuin wissenschaftlichen Idealen und Verfahren zehrt und lebt, insofern sie dem Geist jener forschenden Untersuchung verpflichtet ist, die allein angemessene Lösungen der praktischen Probleme moderner Gesellschaften und ihrer Angehörigen hervorbringen kann. Das suchende Handeln und versuchende Tun ist dabei kein blindes Spiel im Sinne einer behavioristischen Mechanik von trial and error, die gleichsam von selbst zum Lernen verhelfen soll, sondern eine ex post festum reflektierte kreative Praxis, in der die Einzelnen, die Gemeinschaften und Gesellschaften eben offen sind für die Entstehung des Neuen.33 Die in Deweys Augen just dadurch philosophisch gerechtfertigte Demokratie erscheint mithin „als ein sich selbst korrigierender Prozess des soziokulturellen Experimentierens mit politischen Hypothesen“,34
32 Vgl. hierzu etwa Krüger, Hans-Peter: »Prozesse der öffentlichen Untersuchung. Zum Potential einer zweiten Modernisierung in John Deweys „Logic. The Theory of Inquiry“ (1938)«, in: H. Joas: Philosophie der Demokratie, S. 194-234. 33 Ebd., S. 199. H.-P. Krüger spricht von einer Interpenetration von Wissenschaft und Gesellschaft, womit er die wissenschaftliche Praxis ebenso wie die demokratische an „den Respekt vor Autonomie, symmetrische Reziprozität und Diskursethik“ bindet und eine Demokratisierung der Wissenschaft fordern kann, ganz im Sinne von Putnam, Hilary / Putnam, Ruth Anna: »Dewey’s Logic: Epistemology as Hypothesis«, in: James Conant (Hg.), Hilary Putnam: Words and Life, Cambridge und London: Harvard University Press 1994, S. 216. Krüger arbeitet insbesondere den für Dewey so wichtigen Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Demokratie heraus, rückt also die im Folgenden nicht näher interessierende Logik der wissenschaftlichen Untersuchung in den Mittelpunkt. 34 H.-P. Krüger: »Prozesse der öffentlichen Untersuchung«, S. 200.
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der wegen seiner unauflöslichen Verbindung mit möglichst intelligenten Untersuchungen in pragmatischer und normativer Hinsicht überlegen erscheint – mithin anderen politischen Ideen und Lebensformen eindeutig vorzuziehen ist. Es ist leicht zu sehen, dass dieses wissenschaftsaffine, der freien und innovativen Forschung beinahe abgeschaute Verständnis der Demokratie – ungeachtet seines pragmatistischen Grundcharakters – einen kognitiven Akzent setzt. Nach Putnam ist die Demokratie hier nicht einfach „nur eine Sozialform unter vielen praktikablen Sozialformen […], sondern die Vorbedingung für die umfassende Anwendung von Vernunft auf die Lösung sozialer Probleme“,
kurz: „eine Grundbedingung für die experimentelle Untersuchung aller Gebiete. Die Ablehnung der Demokratie ist gleichbedeutend mit der Ablehnung der Vorstellung, experimentell vorzugehen“.35
Diese Überzeugung Putnams und Deweys – die keineswegs Putnams Auffassung impliziert, der Pragmatist habe eine philosophische, namentlich eine logische Begründung der Demokratie gleich mitgeliefert36 –, erstreckt sich nun nicht allein auf das weite Gebiet von Wissenschaft und Philosophie. Sie bezieht nämlich einen Begriff der Person mit ein, der die ungehinderte Entwicklung einer kulturell und sozial konstituierten, symbolisch vermittelten Identität ebenfalls an die Grundbedingung einer demokratischen Lebensform bindet. Nur diese erlaubt, ermuntert und fördert die riskante Öffnung von Selbstgrenzen und den experimentellen Umgang eines Subjekts mit sich selbst. Nur sie schließt diese Idee personaler Identität kompromisslos ein und verhilft ihr dauerhaft zur Geltung. Diese experimentelle Selbst-Praxis hat nun natürlich nur noch sehr locker und vage etwas mit dem wissenschaftlichen, zumal dem naturwissenschaftlichen Experimentieren im
35 Putnam, Hilary: »A Reconsideration of Deweyan Democracy«, in: Renewing Philosophy, Cambridge: Harvard University Press 1992, S. 180. 36 Genau das bestreitet R.B. Westbrook: »John Dewey«, S. 347ff., vehement.
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strengen Sinne zu tun, teilt mit diesem jedoch den praktisch-tentativen, innovativen und reflexiven Charakter. Das Selbst versucht und sucht sich in kreativen Lösungen emergierender Probleme, die im gelingenden Fall eine Selbstsuche in Gang gesetzt haben, in der nichts vorab Vorhandenes (ein eigentliches oder bislang verborgenes Selbst etwa) gefunden und entdeckt, sondern vielmehr etwas Neues erfunden und geschaffen wurde. Ohne Rortys überschwängliches Faible für das spontane und schöpferische, regelrecht sich selbst schaffende Individuum vorbehaltlos zu teilen,37 ist der damit verwobene offene Horizont einer demokratischen Lebensform, die Menschen zu selbsterfinderisch-experimentellen Projekten einlädt und anhält, ein wichtiger Aspekt auch von Deweys Ideal. Es ist beinahe mit den Händen zu greifen, dass dieses Denken ein naher Verwandter jener Theorien personaler Identität ist, welche die Person an die Notwendigkeit eines intelligenten Suchens und Untersuchens bindet, in dessen Verlauf ein Individuum immer wieder aufs Neue um Antworten auf die nicht still zu stellende Identitätsfrage ringt: wer bin ich (geworden) und wer möchte ich sein? Entscheidend ist auch hier, dass auf diese Frage keine Antwort vorgegeben ist oder von irgendwoher kommen oder von irgendwem einfach übernommen werden könnte. Der Mensch in der späten Moderne muss selbst zusehen, wie er zumindest zeitweise, wenigstens einigermaßen tragende Antworten auf die – kollektiv und individuell sich stellende – Identitätsfrage findet. Das persönliche Leben ist diesbezüglich nicht anders wie das politische, von dem Putnam mit Dewey sagt: „Dewey’s view is that we don’t know what our interests and needs are or what we are capable of until we actually engage in politics. A corollary of this view is that there can be a final answer to the question ‚How should we live‘ and that we should, therefore, always leave it open to further discussion and experimentation. And this is precisely why we need democracy“.38
37 Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. 38 H. Putnam / R. A. Putnam: »Dewey’s Logic: Epistemology as Hypothesis«, S. 217; oder auch H. Putnam: »A Reconsideration of Deweyan Democracy«, S. 189.
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Auch der oder die Einzelne müssen sich auf ihr Leben einlassen, um überhaupt in Erfahrung bringen zu können, wie sie dieses Leben denn führen wollen (soweit sie es mitzubestimmen vermögen als von den anderen und vielerlei kontingenten Umständen abhängige Wesen).39 Und wenn sie sich dabei ohne einschneidende soziokulturelle Begrenzungen und ängstlich-rigide Selbstbeschränkungen untersuchen und versuchen möchten, wenn sie neben den Mitteln und Wegen ihrer Selbstverwirklichung auch deren Ziele stets aufs Neue hinterfragen, bedenken und immer wieder neu artikulieren wollen, sind sie auf gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen angewiesen, die Deweys (von ihm geradezu religiös konnotierten) Idee einer demokratischen Lebensform affin sind. Sie stehen ihr jedenfalls näher als jeder anderen politischen Idee. Die demokratische Vorstellung einer unablässigen Selbstprüfung und Selbstreform ist auch dem (normativ gehaltvollen) theoretischen Begriff personaler Identität eingeschrieben. Die streckenweise gemeinsame, sich überlappende Entwicklung dieser Begriffe (Identität und Demokratie) – nicht nur, aber auch im Umfeld des amerikanischen Pragmatismus – ist wohl kein bloßer Zufall. Diese Koinzidenz und ‚Koevolution‘ hat Gründe und verweist auf pragmatische und semantische Verwandtschaften, die die Psychologie personaler Identität als subjekttheoretisches Komplement einer (sozial- und kulturtheoretisch versierten) Philosophie der Demokratie ausweisen. Wie das politisch gestaltete Leben kann auch das persönliche ins Stocken oder sogar aus den Gleisen geraten, weil Erwartungen enttäuscht werden und Routinen nicht mehr funktionieren, das gewohnte Handeln versagt und eingespieltes Problemlöseverhalten unwirksam bleibt. In solchen problematischen Situationen muss der Akteur einhalten und einen Schritt zurücktreten, Abstand gewinnen und sich darauf besinnen, wie im untersuchenden und versuchenden Handeln neue Lösungen ersonnen und probiert werden könnten (Besinnung und Erprobung können dabei durchaus in eins fallen, da nicht jedes Denken dem praxischen Handeln vorausgeht, sondern oftmals ein integraler Be-
39 In diesem beharrlichen, von Zweifeln und Zaudern freilich nicht verschonten „Sich-einlassen“ kann man, sehr profan und reichlich ernüchtert, vielleicht den dem modernen Menschen noch angemessenen „Sinn des Lebens“ ausmachen; so jedenfalls sieht es Eagleton, Terry: Der Sinn des Lebens, Berlin: Ullstein 2008.
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standteil desselben ist). Distanz und Reflexion sind dabei keine Widersacher von Spontaneität und Kreativität, sondern setzen sie und die emergierenden, intelligenten Innovationen oftmals erst frei – ohne jede Garantie, gibt es beim Handeln doch niemals Gewissheit. Fehleranfälligkeit und Korrekturbedürftigkeit gehören zum kreativen, produktiven und konstruktiven Handeln gerade auch dann, wenn symbolisch vermittelte, sprachliche oder praxische Handlungen auf die virulent gewordene Identitätsfrage bezogen sind und sich zu überzeugenden und befriedigenden, jedenfalls annehmbaren und lebbaren Antworten vortasten. Alan Ryan behandelt in einer interessanten Abhandlung die soziale oder genauer: die kollektive „amerikanische“ Identität und bindet speziell diese Untersuchung an eine Analyse von Deweys Philosophie und Pädagogik.40 Er stellt dabei unter anderem heraus: Mit der elitären und reaktionären Rückbesinnung auf das Wesen und die Ursprünglichkeit egal welcher kollektiven Identität konnte Dewey (und kann Ryan) ebenso wenig anfangen wie mit der Idee eines ursprünglichen und ewigen Charakters einer Person, die sich zeitlebens an ihren Ursprung und ihr wahres Wesen klammert.41 Da stand Dewey die antithetische
40 Ryan, Alan: »Pragmatismus, soziale Identität, Patriotismus und Selbstkritik«, in: H. Joas (Hg.), Philosophie der Demokratie, S. 316-340. 41 Das ist der Grund, warum Ryan sagen (und sich Deweys Empfehlung anschließen) kann, der amerikanische Pragmatist hätte geraten, von der vermeintlich tief schürfenden Frage nach einer wesenhaften Identität einfach abzulassen und sich wichtigeren Problemen und ergiebigeren Aufgaben zuzuwenden. Dazu gehöre zum Beispiel jene „kommunikative Beschreibung des Selbst“ – A. Ryan: »Pragmatismus«, S. 320 –, die der „naturalisierte Linkshegelianismus“ Deweys ebenso versuche wie Habermas im Rahmen seiner Reflexion des unvollendeten Projekts der Moderne. Beiden ginge es um „eine philosophische statt einer nur soziologischen Beschreibung von nationaler Identität in einer kulturell pluralistischen Gesellschaft“ (ebd.), mithin nicht um „das Hier-und-Jetzt eines spezifischen Nationalstaates, sondern die latente Gemeinschaft von sich ihrer selbst bewussten und auf produktive Weise intelligenten Personen, die in jedem spezifischen Nationalstaat nur teilweise zu Hause sind“ (ebd., S. 321). Auch in der letzten Formulierung ist die Brücke von genuin politischen, sozial- und kulturtheoretischen Überlegungen hin zu subjekttheoretischen Auffassungen personaler Identität bereits gebaut. Diese Brücke trägt im
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Auffassung einer nicht als Essenz und Substanz konzeptualisierten, personalen Identität im dargelegten Sinne sehr viel näher. Dieses praktisch so folgenreiche, höchst ‚lebensdienliche‘ Konzept verstand er nun ebenso wenig wie seine Vorstellung von der ‚amerikanischen Identität‘ als eine unvergleichliche ‚Spezialität‘ Nordamerikas, sondern als ein sehr viel allgemeineres, eben zutiefst modernes Phänomen. Der moderne Mensch muss sich stets aufs Neue kundig machen und erkunden, suchen und versuchen. Er wird sich, wenn alles einigermaßen gut geht, dabei eher erfinden als finden, eher erschaffen als wiederentdecken. Die experimentellen Handlungen, die Dewey von der wissenschaftlichen Forschung als der seines Erachtens am weitesten entwickelten Form menschlicher Intelligenz abschaut und als allgemeine Empfehlung der Lebensführung und Lebensgestaltung reformuliert, sind auch im persönlichen Feld der Selbstthematisierung und Selbstformung angemessen und fruchtbar. Ryans Lektüre Deweys verwandelt diesen Autor keineswegs (a la Rorty) in einen ‚imaginieren Spielkameraden‘ im bunten Feld aktueller Identitätsdiskurse im 21. Jahrhundert, sondern geht mit seinem Denken konform (auch wenn die Psychologie nicht die Domäne des Philosophen und Pädagogen war). Sie besagt im Übrigen, dass die Selbstverwirklichung einer um ihre Identität besorgten Person weder eine solipsistische noch eine egoistische Unternehmung ist und sein kann. Dewey verankert seinen Begriff der Person – wie Mead, der diesen Gedanken bekanntlich besonders konsequent ausformuliert hat – in einer primären Sozialität und Kulturalität. In einem Leben, in der jede(r) Einzelne von den anderen abhängig ist und, bei aller Eigenständigkeit, die die partielle Autonomie der Person gewähren mag, auf die Anerkennung durch andere angewiesen bleibt, haben diese „signifikanten Anderen“ (Mead) – jedenfalls dem Ideal einer demokratischen Lebensform gemäß – auch dann
Übrigen dann ausgezeichnet, wenn man von Ryans einseitiger Auslegung ‚des‘ Identitätsbegriffs als eines zurückblickenden und rückwärtsgewandten Konzepts Abstand nimmt, „Identität“ also nicht den vorausschauenden und vorwärtsgewandten, von Imaginationskraft und Kreativität zehrenden und dennoch „realistischen Utopien“ gegenüberstellt, sondern selbst in seiner unverkürzten temporalen Dimension und Dynamik begreift: „Identität“ ist dann eben, wie dargestellt, ein in die Zukunft weisendes und diese antizipierendes, sinnliche Begehren und reflektierte Wünsche einbeziehendes, zutiefst normatives Konzept.
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ein Wörtchen mitzureden, wenn es um „mich“ und „mein“ Leben geht. Freiheit und Autonomie sind Werte, die im Blick auf die anderen und in Rücksicht auf sie zu verwirklichen sind. Die Freiheit der Selbstbestimmung ist kein Freibrief für egoistische Selbstbehauptung und die rücksichtlose Durchsetzung lediglich eigener Bedürfnisse und Interessen. Quod erat demonstrandum: Deweys Ideal einer demokratischen Lebensführung lässt sich psychologisch als eine Aufforderung lesen, die Struktur des Selbst für die Stimmen der Anderen und noch der Fremden offen zu halten, ihnen Gehör zu schenken und sie für die stets mögliche Ausweitung des eigenen Horizontes, Erlebnis- und Handlungspotentials zu ‚nutzen‘. Es ist klar, dass just diese Struktur des kommunikativen Selbst- und Weltverhältnisses einer Person seit geraumer Zeit den Namen „Identität“ trägt. An Meads Ansatz hätte sich all das spielend leicht zeigen, präzisieren und vertiefen lassen. Aber auch am ‚Fall Erikson‘, der keineswegs völlig abseits des pragmatistischen Denkens und reformerischer Bewegungen in den Vereinigten Staaten von Amerika stand, sollte das deutlich geworden sein. Eriksons Werk wurde vor allem deswegen als wichtige Referenz gewählt, weil er es war, der die theoretischen Begriffe der (personalen) Identität und Totalität einführte, maßgeblich prägte und als interdefinierbare Konzepte vielfach aufeinander bezog. Man sollte im Übrigen nicht vergessen, dass der sich selbst suchende und versuchende, junge Mann Erikson dereinst Dänemark den Rücken zugewandt hatte, in Wien auf die Psychoanalyse gestoßen und dort ein vorübergehendes Zuhause gefunden hatte, bevor die Nationalsozialisten auch ihn verjagten. Er überquerte den Atlantik und wurde in den Vereinigten Staaten von Amerika einer der weltweit bekanntesten, meistgelesenen Psychoanalytiker. Als er von der National Endowment for the Humanities eingeladen worden war, 1973 die jährliche Jefferson-Vorlesung zu halten, entschied er sich für ein durchaus nahe liegendes Thema. Er sprach, wie es vor ihm auch die Pragmatisten, die Repräsentanten des Progressive Movement und New Liberalism sowie viele weitere wissenschaftliche Köpfe und politische Reformer in diesem Land getan hatten, über „Dimensionen einer neuen Identität“. Er dankte zuvor der Stiftung, die die Jefferson-Vorlesungen finanzierte und dadurch „zu einem wichtigen Element in der für unsere Nation so
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bedeutsamen Arbeit“ hat werden lassen.42 Erikson war Amerikaner geworden, und das heißt selbstredend: er sprach als durch und durch Moderner und speziell in seinen identitätstheoretischen Schriften als jemand, der den demokratischen Geist ‚amerikanischer‘ Philosophie und Wissenschaft kennen und schätzen gelernt hatte. Es braucht uns hier nun nicht mehr allzu sehr bekümmern, dass der europäische Amerikaner und auch an nicht-modernen Lebensformen interessierte Kosmopolit der „psychologischen Faszination des amerikanischen Traums“ manchmal vielleicht allzu sehr nachgegeben und dann ein wohl allzu idealisierendes Bild einer verschlungenen Geschichte und Gegenwart gemalt hat.
42 Erikson, Erik H.: Dimensionen einer neuen Identität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975.
Zweiter Dialog – Mögliche Verknüpfungen und Kontaminationen
Ästhetische Kommunikation zwischen kulturellen Andersheiten A NNA C ZAJKA
Joseph Conrad Korzeniowski, ein Autor, der im Westen und überhaupt in der Welt, ja auch in der englischen Sprache, die er allerdings großartig erneuerte, fremd geblieben ist, berichtet in seiner Erzählung Amy Foster von einem Überlebenden beim Schiffbruch eines nach Amerika fahrenden Dampfers. Der aus den Karpaten stammende Hochländer mit Namen Janko Goral bleibt mehrere Tage in Todesnähe, ohne von den wenigen Bewohnern der englischen Seeküste Hilfe zu erhalten. Endlich leistet ihm ein Mädchen Beistand, das ihn später heiratet und von ihm ein Kind bekommt. Das Andere am Mann, das anfangs die Phantasie des Mädchens entbrennen ließ und den Fremden attraktiv machte, wird jedoch für Amy mit der Zeit abstoßend. Die beiden verstehen einander nicht, nicht einmal ihre elementarsten Worte und Gesten. Janko, dem Schiffbruch und der mächtigen fremden Natur entkommen, stirbt unter den furchtbarsten Schmerzen, die die Menschen ihm zufügen, welche seine Andersheit nicht akzeptieren, nicht verstehen konnten, und die er selbst nicht imstande war zu kommunizieren. Der Erzähler kommentiert:
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„Es gibt Tragödien […], die [sich] aus Differenzen, die man nicht auszusöhnen vermag, und aus der Furcht vor dem Unbegreiflichen ergeben, das über den Köpfen von uns allen hängt“.
1
Die Andersheiten, die heute vielleicht am Stärksten erlebt werden, sind die kulturellen. Sie sind mit den „autotelischen“ (d.h. kein anderes Ziel als sich selbst habenden) Kernbeständen der symbolischen Systeme korreliert, welche (nach der Theorie von Antonina Kłoskowska) die Gemeinschaften konstituieren.2 Sie könnten eine überreiche Quelle der Steigerung der Suche nach der eigenen Identität sein; stattdessen werden sie oft – falls versteift und molekularisiert – zu Gründen von Ausschluss, Gleichgültigkeit oder gar Feindseligkeit. Die bloße Toleranz scheint keine angemessene Haltung zu sein angesichts der multikulturellen Wirklichkeit, in der sie alte Vereinzelungen zu bekräftigen oder neue hervorzubringen droht, wie Will Kymlicka feststellt.3 Aufmerksamkeit tut Not auf die Kanons der Kulturen, die zu beschreiben und zu interpretieren (nicht zu ideologisieren und zu instrumentalisieren) sind, und vor allem auf die Produkte der ästhetischen Kommunikation, an erster Stelle in den Künsten, in denen die Unterschiede „aufgehoben“, innerhalb eines gemeinsamen Horizonts „verschmelzt“ werden, der gewaltsame Zusammenstöße zweck- und sinnlos macht. Eine Haltung der Offenheit und Aufmerksamkeit, wie die soeben vorgeschlagene, erfordert den Bezug zu einer der interkulturellen Situation angemessenen Auffassung der Kultur. Dabei müssen wir uns mit
1
Conrad, Joseph: Dzieła wybrane, Warszawa: Państwowy Instytut Wydawniczy 1987, Bd. 7 S. 514 (Übersetzung der Verfasserin).
2
Antonina Kłoskowska (1919-2001), polnische Soziologin, Vertreterin der polnischen kulturalistischen Nationaltheorie, Autorin von Standardwerken der Kulturforschung und -theorie wie Kultura masowa (Warszawa: PWN 1964), Socjologia kultury (Warszawa: PWN 1981). In ihrem letzten Werk Kultury narodowe u korzeni (Warszawa: PWN 1996, übers. National Cultures at the Grass-Root Level, Budapest: Central European University Press 2001) legte sie u.a. die Methoden des permanenten Bestimmens der nationalen Identität dar und stellte ihre Konzeption der kulturellen Polyvalenz vor.
3
So etwa in der italienischen Veröffentlichung Kymlicka, Will: »Stati multiculturali e cittadini interculturali«, in: Emanuele Bardone / Enzo Rossi (Hg.), Oltre le culture, Como und Pavia: Ibis 2004, S. 171-199.
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der Fülle der bisherigen Kulturdefinitionen auseinandersetzen. Vor allem im 20. Jahrhundert ist eine außerordentliche Blüte von Kulturtheorien zu beobachten, von den anthropologischen (Alfred L. Kroeber, Clyde Kluckhohn, Edward B. Tylor) über die ethnologischen (Bronisław Malinowski) und strukturalistischen (Claude Levi-Strauss) bis zu den politikwissenschaftlichen (Charles Taylor, Samuel Huntington). Keine von ihnen war aber imstande, das Problem eines positiven Vergleichs zwischen Andersheiten zu treffen. Eine Lösung zeichnet sich m.E. ausgehend von Hans-Georg Gadamer ab, der in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode den Begriff der Kultur als „Bildung“ entwickelt, der „an die alte mystische Tradition erinnert, wonach der Mensch das Bild Gottes, nach dem er geschaffen ist, in seiner Seele trägt, und in sich aufzubauen hat“.4 Auf diese Weise stellte sich Gadamer einerseits Hegels Ausführungen, die die Kultur philosophisch vereinnahmen, sowie der neukantianischen Kulturphilosophie als „ganzheitlicher Philosophie“, andererseits den strukturalistischen Entwicklungen entgegen. Er bahnte so die Rezeption von Giambattista Vico an, die sich vor allem in den USA entfaltete – sowohl über die Studien zu Vicos Kritik an der Barbarei des „Konzeptualismus“ (Donald P. Verene, Michael Mooney) als auch über den kritischen Humanismus Edward Saids, eines der wichtigsten Theoretiker des Postkolonialismus, der Kultur als ein um den Kern der ästhetischen Produktion gebautes Diskursgeflecht auffasste. Die Bedeutung von Vicos Schriften, vor allem seiner Principj di una scienza nuova intorno alla comune natura delle nazioni (1744), für die Philosophie der Kultur und der Interkulturalität würde spezifische Untersuchungen und Ausführungen erfordern. Es sei hier nur auf einige Hauptmomente hingewiesen, auf die ein dem interkulturellen Zeitalter angemessener Kulturbegriff sich berufen kann. Jede Kultur gründet sich Vico zufolge auf ein Bild des Guten, das von der poetischen Weisheit der Menschen erzeugt wird. Ein solches Bild formiert sich angesichts einer dunklen und unbekannten Lage heraus; indem es Furcht und Ungewissheit überwinden hilft, konstituiert es den gemeinsamen Raum aller sich darauf beziehenden Tätigkeit. Die konstitutiven Bilder des Guten sind das Produkt des ganzen Menschen und aller seiner Sinne, sie sind also „menschengemäß“, ja sie bringen das Men-
4
Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, Tübingen: Mohr (1960) 1986, S. 16.
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schenmaß an seine äußerste Grenze und sogar auf ein „Übermaß“, indem sie eine „Fiktion“ darstellen, die eine Überwindung von Furcht und Dunkelheit enthält, der man sich anschließen kann; eine Fiktion, die dennoch immer die Grundlage der einzigen „gewissen“ Dinge war. Gerade beim Eingehen auf den Anderen wird der Mensch poetischproduktiv – homo non intelligendo fit omnia, sondern „creando“ (indem er schafft): „[…] die ersten Menschen […] schufen aus ihrer Idee die Dinge, aber […] infolge ihrer starken Unwissenheit taten [sie] es kraft einer ganz körperlichen Phantasie, und zwar einer solchen und einer so starken, dass sie sie selbst im 5
Übermaß erschütterte, die sich durch ihre Einbildung jene Dinge schufen“.
Um die Logik der Andersheit aufzubauen oder zu rekonstruieren, sollte man von Vico folgende unverzichtbare Momente übernehmen: das Poetische beim dem Anderen Entgegenkommen (eine zunächst sinnliche Haltung, bei der Begriffe noch fehlen) und die Notwendigkeit, den Horizont der Geschichte mit lebendigen Bildern zu erfüllen. Diese Momente gehen bei Vico mit einer realistischen Betrachtung der gemeinsamen Beschaffenheit des Menschen einher, die erhabener Dinge fähig, aber körperlich verankert und deshalb starken Einschränkungen und Entartungen (wie denen des Phantasieverlustes bzw. der Barbarei der Reflexion oder aber des verfehlten Ausgleichs von Poesie und Reflexion) ausgesetzt ist.6 Als Abhilfe dagegen weist Vico auf die stets bestehende Möglichkeit der Wiederkehr und eines neuen Anfangs (corsi e ricorsi storici) und auf die Philologie, welche „die Dinge in ihrer Ganzheit sehen lässt“, hin. Die Vicosche Vorstellung der Geschichte der verschiedenen, auf die Erfüllung der Humanität hin gemeinsam schreitenden Völker
5
Deutsche Fassung: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, übers. von V. Hösle und C. Jermann, Hamburg: Meiner 1990, S. 192, hier S. 171-172. Der poetischen Weisheit ist der Aufsatz des neapolitanischen Vicoforschers gewidmet: Cacciatore, Giuseppe: »Poesie und Geschichte«, in: Cacciatore Giuseppe (Hg.), Metaphysik, Poesie und Geschichte, Berlin: Akademie Verlag 2002, S. 109-139.
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Als auf ein Vorbild von solchem Ausgleich zwischen den Künsten und synthetisierender Philosophie weist Vico auf das Athen von Sokrates und Plato hin, ebd. S. 252-253.
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taucht später an anderer Stelle – zuerst in Ostpreußen und dann in Weimar – auf. Ohne Vico zu kennen, definiert nämlich Johann Gottfried Herder in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) die Kultur als Erhebung der Menschen zur Humanität. Er bereitet damit viele der entscheidenden Ansätze zum Heranreifen der außerordentlichen Zeit des Weimarer Humanismus vor. Von einer der Hauptgestalten dieser Zeit, Friedrich Schiller, stammt die Bekräftigung, ja sogar die Verherrlichung der ästhetischen Dimension in der Kulturauffassung, vor allem in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), die bekannterweise Kant’sche Anregungen originell entwickeln. Die schönen Formen, die im freien Spiel der Erkenntnisvermögen entstehen, betrachtet Schiller als Formen einer zweiten Kultur, die der ersten (auf der Entzweiung von Natur und Vernunft aufgebauten) nachfolgt und die dem Menschen ermöglicht, sich angemessen zu bilden, indem er den lebenden Formen in Freiheit und zum Unendlichen hin nachgeht. Die schönen Formen seien die der angemessensten Kommunikation unter Menschen. Die ästhetische Kommunikation vermeide Steifheit, Gewalt, Verletzung der Menschenwürde und bestehe im Grundsatz „Freiheit zu geben durch Freiheit“.7 Diese Vorschläge Schillers sind zunächst im Blick auf die Bildung der (deutschen) Nationalgemeinschaft entwickelt, aber sie zielen auch auf eine Weltgemeinschaft im Sinne des Finales von Beethovens Neunter Symphonie. Eine Berichtigung des Schillerschen Pathos der ästhetischen Bildung des Menschen (das kritische Stimmen bis zum berühmten Widerruf der Neunten im Zeitalter von Auschwitz hervorgerufen hat)8 findet man in der fast unmittelbaren Reaktion von Johann Wolfgang Goethe, der in der Zeitschrift „Die Horen“ die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter (1808) erscheinen lässt, die u.a. auch eine Vertiefung und Bereicherung von Schillers Vorschlag darbieten sollten. Noch stärker als bei Schiller ist hier der (auch heute wahrzunehmende) Aufruf Goethes, gerade in der Situation eines brutalen Konfliktes, die oft von der
7
Schiller, Friedrich: »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« (1795), in: Schillers Werke, Bde. 20-21, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1962, S. 410-412.
8
Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde (1947), Berlin: AufbauVerlag 1975, S. 647.
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Unvereinbarkeit der Begriffe verursacht wird, auf die Kulturformen und die Kommunikation zwischen ihnen zurückzugreifen. Dieser Aufruf schließt die Aufmerksamkeit auf die in anderen kulturellen Zusammenhängen herausgearbeiteten Formen in sich ein. Goethe weist solche Aufmerksamkeit in seiner Produktion auf, wie wir wohl wissen, indem er sich ständig mit den Formen anderer Kulturen auseinandersetzt (man denke nur an den Westöstlichen Divan) und diese permanente Auseinandersetzung dem Begriff der Weltliteratur zugrunde legt.9 Die Unterhaltungen, eine kleine Sammlung von Erzählungen, sind für die Entwicklung von Goethes Kulturbegriff wichtig: hier wird der Übergang vom Aufklärungsparadigma der Geselligkeit (als deutsches Pendant zur französischen civilisation) zum ästhetischen Paradigma der Bildung verdeutlicht. Dieses stellt die Aufgabe in den Mittelpunkt, die Fähigkeit zu entfalten, die gelebte Lage in einer Form, d.h. in einem angemessenen Bild zu fassen, das aus einem Gespräch hervorgeht. Bekanntlich spielen die Unterhaltungen in der Zeit der Französischen Revolution, einer Zeit von kriegerischen, politischen und kulturellen Zusammenstößen. Goethe schlägt, fast in Vicos Sinn, vor, dieser gefährlichen, das Unbekannte bergenden Lage dadurch zu begegnen, dass man Reden und Diskussionen ums Tagesgeschehen durch Erzählungen ersetzt. Schillers schöne Formen werden als allzu „monumentale“ durch einfache, lebhafte, zuweilen sogar banal scheinende Formen von Erzählungen ersetzt, die von Liebe, Altwerden und der Suche nach Glück handeln. Durch solche Geschichten erfolgt in der Gemeinschaft der Zuhörer ein Sich-Öffnen auf die unbekannten Dinge und auf das Wunderbare hin. Die Zuhörer nehmen an der Erfahrung der Entsagung und der Bildung des eigenen Selbst teil, die darauf basiert, dass man die eigenen wiederholten Spiegelungen auf Augenblicksbilder konzentriert, welche zwar „wetterhaft“, aber zugleich klar und dauerhaft sind – eben als „Formen, die lebend sich entwickeln“.10
9
Über den Begriff schreiben u.a.: Koch, Manfred: Weimaraner Weltbewohner. Zur Genese von Goethes Begriff „Weltliteratur“, Tübingen: Niemeyer 2000; Manger, Klaus (Hg.): Goethe und die Weltkultur, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2003.
10 Goethe, Johann Wolfgang: »Daimon«, in: Werke, Bd. 1, München: Beck 1988, S. 359.
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Höhe- und Endpunkt der Unterhaltungen bildet das Märchen, eine Art poetisch-musikalische Komposition, in der die Phantasie „ihre Flügel ausspannt“ und Wachträume von stärkster, man könnte auch sagen: überzeugender Sensibilität ausmalt. Das Märchen enthält verschiedene symbolische Botschaften, zu denen folgende gehören: das mögliche Walten der Liebe, welche durch ihre Kraft nicht herrscht, sondern bildet; die Schlange (Emblem der Vernunft), die zu einer Völker vereinenden Brücke wird; endlich der Tempel des Kulturerbes, das aus der Vergangenheit heraufsteigend den Lebenden die Fülle der in ihr gesammelten Formen weiterreicht. Das Märchen schließt mit den Worten: „und bis auf den heutigen Tag wimmelt die Brücke von Wanderern, und der 11
Tempel ist der besuchteste auf der ganzen Welt“.
Der Tempel der Kultur aus Goethes Märchen scheint (vermittelt durch die Diskussionen um das Leben und die Formen im Kreis um Georg Simmel und Margarete Susman, die vom Weimarer Dichter stark inspiriert waren) im Werk von einem der aufmerksamsten Goetheleser des 20. Jahrhunderts wieder aufzutauchen: Ernst Bloch. Die anthropologisch-ontologische „Grundlegung“ seines Hauptwerks Das Prinzip Hoffnung (1959) stellt den Menschen als ein undefiniertes, unfertiges Wesen vor, das auf der Suche seines Selbst durch die in der ihrerseits noch unfertigen Welt vorgezeichneten Formen ist.12 Der Kern dieser Bewegung der Suche nach dem Selbst über den Anderen lässt sich folgendermaßen umschreiben: „Das Ich, das ich in diesem Augenblick bin, bin ich nicht im nächsten, ich bin eine Vielfalt von Ichs und kann mein authentisches Selbst nur finden, indem ich über mich hinausgehe, mein Selbst in Anderen suche, in Begegnung und 13
Interaktion mit ihnen“.
11 Goethe, Johann Wolfgang: »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter«, in: Werke, Bd. 6, S. 241. 12 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1959. 13 Czajka, Anna: Poetik und Ästhetik des Augenblicks. Studien zu einer neuen Literaturauffassung auf der Grundlage von Ernst Blochs literarischem und literaturästhetischem Werk, Berlin: Duncker und Humblot 2006, S. 84.
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Um diesen grundlegenden Teil des Buchs herum spannt sich die Enzyklopädie der Hoffnungen, in der vornehmlich die beiden letzten Teile, „Konstruktion“ und „Identität“, die Erbschaft der Formen enthalten, in denen die Tendenz auf Steigerung und Vollendung der Humanität zum Ausdruck kommt. Auf diese noch nicht zur Verwirklichung gelangten Formen kann man zurückgreifen, um dem Dunkel der gelebten Aktualität zu begegnen, indem man versucht, sie in immer neuen Konstellationen ins Leben einzubeziehen. Der Rekurs auf eine vererbte Form kann nur in einer lebendigen Begegnung geschehen und er erfolgt so, als ob in der gelebten Lage aus dem Archiv (bzw. Thesaurus) der Kultur auf noch unerklärbare Weise ein Bild heraufkommen würde, das sie adäquat zu fassen vermöchte. Die Form aus der Vergangenheit kommt allerdings nicht buchstabengetreu so herauf, wie sie war, sondern sie kehrt im Gelebten derart verändert wieder, dass sie zu seiner Vollendung möglicherweise beiträgt. Selbstverständlich sind dergleichen Vorgänge nicht innerhalb einer essentialistischen, statischen, scharf abgrenzenden, sondern nur innerhalb einer lebendigen, pulsierenden, musikalischen Kulturauffassung möglich, deren Mittelpunkt das Gespräch bildet und von der ausgehend Brücken zu verschiedenen Andersheiten hin geschlagen werden. Kulturerbe wird im Prinzip Hoffnung als gemeinsame Erbschaft der Menschheit behandelt: das Erbe der Kunst und das der Religionen werden in ihren parallelen Entwicklungen gezeigt, die an geographische und geschichtliche Besonderheiten gebunden sind, welche ihrerseits bereichernde Differenzen hervorbringen; darüber hinaus in ihrem mehrfach aufeinander Verweisen, einander Begegnen, sich miteinander Verschränken und Vermischen, einander Entsprechen und Ergänzen. Im Prinzip Hoffnung wird keine Kulturform exklusiv behandelt, alle werden im Gegenteil einem querverlaufenden Blick unterworfen, der sie als verschiedene Versuche aufnimmt, die Frage nach der Identität zu beantworten. Dieser Blick zeichnet z.B. in der Entwicklung der Religionen die – nach Vico so zu nennenden – „phantastischen Universalien“ auf, notiert Entsprechungen, Gegensätze und Interpolationen sowie Wiedererscheinungen in anderen Epochen und geohistorischen Kreisen. Aus dem gemeinsamen Kulturerbe, das den ganzen Reichtum der in der Geschichte ausgearbeiteten Aspekte enthält, können jenseits aller nationalen, staatlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und religiösen Unterschiede alle Menschen schöpfen, indem sie
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jene Gehalte in den Horizont neuer gemeinsamer Ziele einbeziehen und dadurch den Aufbauprozess des Humanum steigern. Blochs Werk vereinigt verschiedene, geschichtlich ausgebildete Aspekte des Kulturbegriffs, indem Lessings, Herders und Goethes Bildungsprojekt dadurch vervollkommnet wird, dass es die (messianische) Dimension der Vollendung und totalen Grenzüberschreitung dabei betont: auch hier erscheint Kultur als eine Bildung/Erziehung der natürlichen Gaben der Personen (Kultur) im Zusammenleben der einzelnen Gemeinschaften (Zivilisation) und schließlich in der zwischengemeinschaftlichen Kommunikation auf dem Weg der Geschichte hin zu deren Vollendung. Diese philosophischen Voraussetzungen erlauben, literarische Texte, Kunstwerke und ästhetische Phänomene überhaupt im Sinn einer Logik der Andersheit zu lesen, welche sich im Sicherkennen des Selbst im Anderen vollzieht oder in der „Verschmelzung“ der sozusagen apriorischen Formen der eigenen Kultur mit denjenigen einer anderen, die, indem sie einen noch nicht verfügbaren Gesichtspunkt liefert, den Anblick der Wirklichkeit und deren Auffassung vollständiger macht. Dazu bieten die Erzählungen des italienischen Schriftstellers Mario Rigoni Stern (1921-2008) mehr als ein Beispiel. Seine Prosa ist weitgehend vom Erstaunen des Sich-selbst-im-Anderen-(Wieder-)Erkennens genährt. In seinem Hauptwerk Il sergente nella neve (1953)14 hat ein junger italienischer Soldat aus den Venetianischen Alpen mitten in der Russlandkriegskampagne den Eindruck, in der Unendlichkeit der russischen Schneeflächen die geliebte Heimatlandschaft wiederzuerkennen, samt dem Horizont von Zielen und Werten, den ihre Konturen zeichnen. Die „Verschmelzung“ der Schönheitsspuren der vertrauten und der fremden Landschaft verändert das Verhältnis des Soldaten zur Kriegswirklichkeit radikal. Die in den Kampfaktionen oder Gefängnislagern mit betroffenen Menschen erscheinen ihm als „Landsleute“, als Mitbürger der gemeinsamen Heimat, welche von der in ästhetischer Erfahrung vorscheinenden Schönheit gebildet wird. Und diese Vision, die sich aus einer ästhetisch wahrgenommenen Gemeinsamkeit ergibt, beginnt sich in den konkreten erzählten Situationen zu bestätigen.
14 Rigoni Stern, Mario: Alpini im russischen Schnee, übers. von H. Hinterhäuser, Heidelberg: Drei Brücken 1954.
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Ein anderer sehr bekannter Autor, Ryszard Kapuściński, betont ebenfalls in seiner Produktion die ästhetische Erfahrung, indem er in den Mittelpunkt seiner Beschreibungen der verschiedenen Realitäten der Erde und des menschlichen Lebens Bilder des Schönen (so etwa Bilder von Sonne und Licht in seinem Afrikabuch) stellt.15 Auch er ist ständig auf der Suche nach einer ästhetisch fassbaren Gemeinsamkeit, indem er alltägliche und gelehrte Bilder Seite an Seite stellt. Er ist sich sehr wohl bewusst, dass das Ästhetische auf das mit den gegebenen Kommunikationsmitteln nicht erforschbare Andere hinweist. Das Ereignis der Fusion der ästhetischen Formen als kulturelles Apriori ist überall in der Literatur auffindbar. Man darf sogar die Vermutung wagen, dass viele der großen literarischen oder poetischen Werke ihre Bedeutung dadurch erreichen, dass sie das interkulturelle Novum gefasst haben. Zum Beispiel erklärt der jüdische Schriftsteller Abraham Jehoshua: „Der Funken entspringt in meinen Romanen aus 16 der Begegnung mit dem Anderen“. Die Begegnung mit dem Anderen bildet die Grundlage der postkolonialen Literatur (Salman Rushdie, Nadine Gordimer), in der sogenannten Migrationsliteratur (mit Autoren wie etwa Rafik Schami, Libuše Moniková, Zafer Senocak), die vor allem in Deutschland Werke hervorgebracht hat, die in den deutschen Kulturkanon gerade hineintreten, in Filmen von Regisseuren wie Amos Gitai oder Elia Souleyman, darüber hinaus auch in musikalischen Kompositionen (wie Allah), wo neue zeitliche Intensitäten gefunden werden, die sich dann als unverzichtbar erweisen, wobei Andersheiten sich in der ästhetischen Dimension besser als in direkt politischen oder religiösen Auseinandersetzungen verdichten können (wie es vor Jahrhunderten Lessing zeigte, indem er mit Nathan der Weise eine erstarrende religiöse Debatte auf die Schaubühne versetzte).17 Das Sich-selbst-im-Anderen-(Wieder-)Erkennen erfolgt auch in den visuellen Künsten: dank der Bilder, die die Photographin Monika Bulaj in der Ausstellung und in dem Buch Genti di Dio (Gottesleute)
15 Kapuściński, Ryszard: Afrikanisches Fieber, übers. von M. Pollack, München: Eichborn 1999. 16 So in einem Interview mit der italienischen Tageszeitung La Repubblica vom 06.10.2007, S. 42. 17 Vgl. dazu Cunico, Gerardo: Da Lessing a Kant, Genua: Marietti 1991, S. 13 ff.
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gesammelt hat, werden wir der religiösen Erfahrungen teilhaftig, die von derselben Begegnung mit dem Anderen unterschiedliche Spuren in Raum und Zeit hinterlassen.18 Indem man sie alle zusammen anschaut, bekommt man den Eindruck des einander Überlappens und Steigerns ihrer Muster, das danach durch kein einzelnes Muster ersetzbar ist. Die ästhetische Kommunikation zwischen kulturellen Andersheiten wirft allerdings eine Reihe von Problemen auf. Das erste ist das Problem der Stellung und des Rangs der Kultur in unserer Wirklichkeit, die auch die interesselose Produktion den pragmatischen Zwecken des Konsums, der Wirtschaft und der Politik unterwirft. Das nächste Problem ist das der „Struktur“ der Kultur: in der weitverzweigten Debatte um die Konzeption von Charles Taylor ist deren starrer und hierarchischer Charakter oft kritisiert und sind neue Charakteristiken wie Flüssigkeit und Hybridisierung vorgeschlagen worden;19 was aber außer Acht blieb, ist die Stellung und Bedeutung der „autotelischen“ Sphäre der Kultur, deren Wichtigkeit von der polnischen Soziologin Antonina Kłoskowska betont worden ist als Sphäre, die „ästhetische Formen als kulturelle Apriori“ mit ihrer „nationalen“ Komponente enthält.20 Mit der autotelischen Sphäre verbinden sich zweierlei Aufgaben. Die Formen dieser Sphäre, der wir die Möglichkeit verdanken, „erfüllte Augenblicke“ zu (er)leben, verlangen die stärkste Aufmerksamkeit.
18 Bulaj, Monika: Genti di Dio. Viaggio nell’altra Europa, Mailand: Frassinelli 2008. 19 Siehe u.a. folgende Veröffentlichungen: Appiah, Anthony: »Identity, Authenticity, Survival: Multicultural Societies and Social Reproduction«, in: Charles Taylor (Hg.), Multiculturalism. Examining the Politics of Recognition, hrsg. von Amy Gutmann, Princeton: Princeton University Press 1994, S. 149-164; Baumann, Gerd: The Multicultural Riddle. Rethinking National, Ethnic, and Religious Identity, London und New York: Routledge 1999; Matera, Vincenzo: »Contro la cultura: note critiche su un concetto critico«, in: E. Bardone, E. Rossi (Hg.): Oltre le culture, S. 27-40; Dal Lago, Alessandro: »Esistono davvero i conflitti tra culture? Una riflessione storico-metodologica«, in: Carlo Galli (Hg.), Multiculturalismo. Ideologie e sfide, Bologna: il Mulino 2006, S. 45-79. 20 A. Kłoskowska: Kultury narodowe u korzeni; englische Fassung: National Cultures, S. 420-422.
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Sie stellen mehr dar als bloße Phantasiebilder, die in konkreten Situationen brauchbar sind; sie sind „goldene Nägel, die die Menschen am Leben halten“, wie der Maler und Dichter Józef Czapski sagte, der über polnische und deutsche, französische und russische kulturelle Kompetenzen verfügte.21 Der Status solcher Formen dürfte einen „entelechetischen“ Charakter (den der „unvollendeten Entelechien“ im Sinne Goethes),22 haben, wenn wir der metaphysischen Suche der Wahrheit in der ästhetischen Dimension folgen, welche die jüdische Dichterin und Philosophin Margarete Susman skizziert hat. Man sollte sich bemühen, diese Sphäre (mit ihren Kulturkanons) zu beschreiben, aber zugleich auch die schwierige Frage nach dem Status der Nationalität (wie etwa Deutschtum oder Polentum) in den konkreten (individuellen und kollektiven) Identifikationsakten stellen. Trotz der Behauptungen von Habermas23 scheint die Frage der Nationalität überhaupt nicht überwunden zu sein. Das Subjekt kann noch nicht „nomadisch“ sein, wie es Rosi Braidotti sehen möchte,24 könnte aber durch die Kenntnis der Anderen, durch die Gewinnung einer „kulturellen Polyvalenz“ interkulturell werden und dadurch auf der Höhe unserer Zeit sein.25
21 Czapski, Józef: Wyrwane strony, Warszawa-Besançon: Noir sur Blanc 1993, S. 173. 22 An den auch Taylor im Epiphaniekapitel seines berühmtes Buches anknüpft, siehe Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996. 23 Habermas, Jürgen: Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988; Habermas, Jürgen: Der gespaltene Westen. Kleine politische Schriften X, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. 24 Braidotti, Rosi: Nuovi soggetti nomadi. Trasposizioni e identità postnazionaliste, Rom: Sossella 2002. 25 Siehe dazu Czajka, Anna: »Un approccio interculturale al problema delle identità nazionali«, in: Alberto Pirni (Hg.), Comunità, identità e sfide del riconoscimento, Reggio Emilia: Diabasis 2007, S. 76-85.
Interpretation und Kommunikation Lebensformen im Dialog F ULVIO L ONGATO
1. D AS V ERSTEHEN
DES
ANDEREN
Eine der größten Herausforderungen des Jahrhunderts in den Politikund Sozialwissenschaften und sicher auch in der philosophischen Reflexion stellt das Verstehen des Anderen dar. Die Zeiten sind vorbei – könnte man meinen –, in denen die Europäer und generell der Westen die eigene Kulturerfahrung als Leitnorm für die gesamte Menschheit betrachtet und andere Erfahrungen und Kulturen als ein Anfangs- oder Zwischenstadium eines mehr oder weniger linearen, aber dennoch obligatorischen Entwicklungsganges angesehen haben, den sie selbst als schon vollendet wähnten. Dass eine derartige Einstellung zumindest auf breiter Meinungsebene tatsächlich aufgegeben wurde, kann bezweifelt werden. Viele Indizien deuten eigentlich auf das Gegenteil hin. Die jüngsten geopolitischen Ereignisse im Mittelmeerraum und vorher noch der Fall der Berliner Mauer scheinen eine Interpretation des Weltlaufs im Sinne von Hegels „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ eher zu bestätigen. Dabei steht nun nicht der spezifische Interpretationsschlüssel einer (wie auch immer gearteten) Geschichtsphilosophie in Frage, die auch je nach Gesichtspunkt und angewandter Leitnorm vollkommen anders aufgefasst werden kann. Wie von Taylor treffend hervorgehoben wird, dessen Behauptungen hier zu Beginn
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übernommen werden,1 wird die Möglichkeit bzw. die Anmaßung eines vollkommenen Verstehens des Anderen aufgrund der Projizierung der Lebensform des Interpreten auf die andere Erfahrung und Kultur als selbstverständlich angenommen. Auf dieser Basis wird dann ein Inklusionsverhältnis aufgebaut zwischen Lebensformen, die man meint, einer gewissen Hierarchie zuordnen zu können, an deren Spitze eine bestimmte Lebensform gestellt wird. Als Reaktion auf einen solchen Ansatz führt der Umstand, sich in gebotener Bescheidenheit zu üben, oft zu relativistischen Einstellungen, so Taylor weiter. Es handelt sich m.E. in erster Linie um Begriffsrelativismus, wonach unterschiedliche Lebens- und Denkformen von der Handhabung verschiedener je nach dem als Sprache, Theorie, Vorstellungs- und Klassifizierungssystem aufgefassten Begriffsschemata abhängen, was dazu führt, die Welt mit jeweils anderen Augen zu sehen bzw. in verschiedenen Welten zu leben. Die Verschiedenheit von Begriffsschemata würde implizieren, dass Mitgliedern einer bestimmten Kultur der Zugang zu einer anderen Kultur verwehrt bleibt und daher die Möglichkeit einer interkulturellen Kommunikation und überhaupt das Verstehen des Anderen an der Wurzel unterminiert wird.2 Der Begriffsrelativismus wird dann oft mit der moralrelativistischen These der Gleichwertigkeit unterschiedlicher Lebensformen assoziiert, obwohl zwischen den beiden streng genommen kein Folgezusammenhang besteht.3 Die Sorge über mögliche, wie immer gearteten Klassifizierungen oder Hierarchien entstammende diskriminierende Implikationen und Werturteile, die die Überlegenheit einer Lebensform im Vergleich zu anderen bestimmen, führt mitunter zu einer Urteilsenthaltung, die nicht selten mit einer respektvollen Toleranz begründet wird. Wie ersichtlich, wirft das Verstehen des Anderen epistemologische, epistemische und soziokulturelle Fragestellungen auf (um nur
1
Taylor, Charles: »Understanding the Other: a Gadamerian View on Conceptual Schemes«, in: Jeff Malpas / Ulrich von Arnswald / Jens Kertscher (Hg.), Gadamer’s Century. Essays in Honor of Hans-Georg Gadamer, Cambridge: MIT Press 2002, S. 279-297, hier S. 279.
2
Dazu siehe u.a. Baghramian, Maria: Relativism, London: Routledge 2004, S. 214-215 und Marconi, Diego: Per la verità. Relativismo e filosofia, Turin: Einaudi 2007, S. 57-69.
3
D. Marconi: Per la verità, S. 128ff.
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einige zu nennen), deren Verflechtung die Konkretheit des Anderen, d.h. nach Hegel dessen Komplexität widerspiegelt. Ist einerseits eine gesonderte Analyse vonnöten, um Ausmaß und Implikationen solcher Fragestellungen zu untersuchen, lauert andererseits stets die Gefahr des Reduktionismus, vor allem, wenn er sich als zu heuristischen Zwecken getarnt präsentiert. So ist beispielsweise eine simplifizierende Sicht von Kulturen als in sich geschlossene und homogene Systeme, als klar definierbare Totalitäten nicht selten irreführend und karikaturesk. Eine solche essenzialisierende und reifizierende Vision akzentuiert die Perspektive des Beobachters im Gegensatz zu einer prozessualen Auffassung, die auf den Handelnden, den Teilnehmer an den Praktiken und Interaktionen einer Kultur fokussiert ist. Baumann schlägt indessen vor, die Verflechtung beider Perspektiven zu erfassen.4 Kann eine Kultur als diskursives Gebilde, als eine Gesamtheit von Ideen und Praktiken, die das kollektive und individuelle Leben gestalten, angesehen werden, so sind es doch die Menschen, die diese Kultur ständig erneuern, umgestalten und verändern. Die bewahrende Erneuerung von Vorstellungen und Praktiken und ihre prozessuale Konstruktion befinden sich in einer kontinuierlichen Pendelbewegung. Ähnliche Überlegungen können auch in Bezug auf die persönliche Identität angestellt werden, deren Grenzen auch nicht immer eindeutig zu definieren sind. Die Ausbildung der persönlichen Identität erfolgt sowohl über selektive Identifikationen mit kulturellen und gesellschaftlichen Vorstellungen als auch über das Abstandnehmen und im äußersten Fall mit der Ablehnung derselben. Vor diesem Hintergrund präsentieren sich bekanntlich die binären Dynamiken der kulturellen Identität ‚Ichder Andere‘, ‚Wir-die Anderen‘, die von der Komplementarität bis sogar zur radikalen Gegensätzlichkeit reichen, und die sowohl auf interkultureller als auch auf intrakultureller Ebene stattfinden. Eine detaillierte Analyse dieser und vieler anderer Aspekte ist hier freilich nicht möglich. Signifikant ist, dass Taylor bei der Herausforderung, den Anderen zu verstehen, die Zentralität der Horizontverschmelzung in Gadamers hermeneutischer Theorie hervorhebt und sie als Leitkonzept für das Verstehen der eigenen und der fremden Kultur ansieht. Für Taylor besteht die Kultur aus einer Gesamtheit von diskursiven Praktiken, genauso wie die Sprache; das Selbst, die individu-
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Baumann, Gerd: The Multicultural Riddle. Rethinking National, Ethnic, and Religious Identities, New York und London: Routledge 1999.
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elle Identität bildet sich in „Geweben des sprachlichen Austausches“5 aus, welche transversal zu unterschiedlichen Kulturwelten sein können. Bei der Horizontverschmelzung, die für Gadamer das Ziel des Verstehens sowohl im alltäglichen Geschehen wie in der Auseinandersetzung mit fremdkulturellen Texten darstellt, „erkennen wir den Vollzug des Gesprächs, in welchem eine Sache zum Ausdruck kommt, die nicht nur meine oder die meines Autors, sondern eine gemeinsame Sache ist“.6 Die Bedeutung von Gadamers Horizont-Begriff entspricht nicht ganz der geläufigen. Horizont bezeichnet den „Gesichtskreis, der all das umfasst und umschließt, was von einem Punkt aus sichtbar ist“, und gleichermaßen „die Gebundenheit des Denkens an seine endliche Bestimmtheit und das Schrittgesetz der Erweiterung des Gesichtskreises“7 charakterisiert. Husserls Horizont-Begriff von der Wahrnehmungsebene der Objekte auf die propositionale Sprachebene übertragend,8 ist der Horizont die Gesamtheit der Überzeugungen, die das Verstehen der Aussagen des Anderen ermöglichen. Genauer: der Horizont liefert den Kontext, in dem ein Einverständnis in der Sache möglich wird und zugleich das Hintergrundwissen, das nie in toto, sondern nur für den jeweils relevant erachteten Teil aktualisiert wird, um das Objekt des Diskurses zu bestimmen. „Wenn zwei Menschen einander begegnen und sich miteinander austauschen, dann sind das immer gleichsam zwei Welten, zwei Weltblicke und zwei Weltbilder, die einander gegenübertreten“. Selbst bei dem gelungenen Verstehen, also in der Horizontverschmelzung, verschwindet „der unvertauschbare Blickpunkt des einzelnen“ nicht.9 Obwohl es eine ‚natürliche Neigung‘ ist, von einer Kultur als Ganzheit zu sprechen und Werturteile über sie als Totalität zu fällen, so handelt es sich in Wirklichkeit eben um einen logischen Fehler des
5
Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen
6
Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philoso-
7
Ebd., S. 307.
Identität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 71. phischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr Siebeck 2010, S. 392. 8
Vgl. Vessey, David: »Gadamer and the Fusion of Horizons«, in: International Journal of Philosophical Studies 17 (2009), S. 531-542.
9
Gadamer, Hans-Georg: »Die Unfähigkeit zum Gespräch«, in: Wahrheit und Methode, S. 209-210.
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Typs pars pro toto,10 wollte man auf Kants Auflösung der kosmologischen Antinomie anspielen. Man bezieht sich immer auf bestimmte kulturelle Praktiken, auf bestimmte Überzeugungssysteme auf der Basis präziser Interessen praktischer und/oder kognitiver Natur. Das Verstehen und die intra- und interkulturelle Kommunikation ereignen sich, wenn überhaupt, immer zwischen Subjekten, die eine Sicht der Dinge in der ersten Person artikulieren. Und eine solche Artikulation ist nicht die bloße Reproduktion eines vorgegebenen Wissens, sondern eine Leistung des Subjekts, das Elemente eines ihm aus Lern- und Sozialisierungsprozessen verfügbar gemachten Hintergrundwissens zusammensetzt und organisiert. Nur im übertragenen Sinn kann man dann von Kommunikation zwischen Kulturen und Lebensformen sprechen, die als solche keine Subjekte größeren Formats sind. Nicht Kulturen, Lebensformen, Gemeinschaften als solche sprechen, handeln, beurteilen, sondern immer nur ihre Mitglieder. In puncto Kommunikation ist also die Ich-Du-Beziehung als die grundlegende soziale Struktur zu betrachten.11 Auf dieser Basis sollten die verschiedenen vorgeschlagenen Kommunikationsprinzipien und -regeln verstanden werden.
10 Vgl. Benhabib, Seyla: The Claims of Culture: Equality and Diversity in the Global Era, Princeton: Princeton University Press 2002, S. 85ff. 11 Vgl u.a. Brandom, Robert B: Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 84: „Die façon de parler ist der Kern von Theorien gemeinschaftlicher Beurteilung. In ihr manifestiert sich der Orientierungsfehler […] Ich-WirBeziehungen statt Ich-Du-Beziehungen als die grundlegende soziale Struktur zu behandeln. Beurteilen, Billigen usw. sind alles Dinge, die wir Einzelne tun und einander zuerkennen, und wodurch eine Gemeinschaft, ein ‚Wir‘ entsteht. Doch diese Einsicht wird durch die Ich-Wir-Brille verzerrt“. Ob sich die Ich-Du-Beziehung auf den „methodischen Individualismus“ in seiner starken oder schwachen Version zurückführen lässt, sei hier dahingestellt. Entgegen deren kommunitaristischer Verkürzung, ist die Ich-Du-Beziehung weder einer atomistischen Sozialontologie, die mit einem „ungebundenen Selbst“ operiert, noch einer Unterbewertung des sozialen Charakters der Sprache verpflichtet. Dazu siehe Tietz, Udo: Die Grenzen des Wir. Eine Theorie der Gemeinschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 130ff.
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2. I NTERPRETATIVE C HARITY
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In seinem berühmten Aufsatz Ein Dutzend Daumenregeln zur Vermeidung interkultureller Missverständnisse vertritt Holenstein die These, dass kein qualitativer Unterschied zwischen intra- und interkultureller Kommunikation besteht. Als „den hilfreichsten Leitsatz zur interkulturellen Verständigung“ bezeichnet er „das alte Prinzip der Billigkeit, das Grundprinzip der Hermeneutik“, dem sich sämtliche Regeln, die einen Weg zum Verständnis fremder Kulturen bahnen können, zuordnen lassen.12 In der Tat teilen die so genannten „Prinzipien der wohlwollenden Interpretation“13 – insbesondere diejenigen, die in der heutigen auf die interkulturellen Dynamiken eingehenden Reflexion formuliert werden – die Annahme, dass es prinzipiell keine Inkommensurabilität zwischen verschiedenen Kulturwelten gibt. In diesem Zusammenhang stammt die bekannteste Argumentation von Davidson, der Begriffsschemata und Sprache verknüpft und die Möglichkeit der Kommunikation von der Übersetzbarkeit der Äußerungen des Sprechers abhängig macht.14 Damit wendet sich Davidson gegen zwei begriffsrelativistische Thesen, die den Inkommensurabilitätsgedanken stützen sollten. Die erste besagt, dass es verschiedene Begriffsschemata gibt und dass die korrespondierenden Sprachen ineinander gänzlich unübersetzbar sind, so dass der Zugang zu einem anderen Begriffsschema als dem eigenen verwehrt bleibt. Im Falle der partiellen Unübersetzbarkeit – so die zweite These – ist der Zugang zu anderen Begriffsschemata zwar gewährleistet, diese bleiben dennoch radikal
12 Holenstein, Elmar: »Ein Dutzend Daumenregeln zur Vermeidung interkultureller Missverständnisse«, in: (Hg.), Kulturphilosophische Perspektiven, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 288-312, hier S. 288. 13 Siehe dazu u.a. Künne, Wolfgang: »Prinzipien der wohlwollenden Interpretation«, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Intentionalität und Verstehen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 213-236; Scholz, Oliver R.: Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie, Frankfurt am Main: Klostermann 1999 (2. Aufl. 2002); Longato, Fulvio: Interpretazione, comunicazione, verità. Saggio sul „principio di carità“ nella filosofia contemporanea, Neapel: La Città del Sole 1999. 14 Davidson, Donald: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 261-282.
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verschieden. In der Annahme, dass ein Standpunkt außerhalb von Begriffsschema und Sprache, also ein neutraler Analysestandpunkt per definitionem ausgeschlossen ist, hebt Davidson zunächst hervor, dass verschiedene Standpunkte nur dann Sinn haben, wenn es ein gemeinsames Koordinatensystem gibt, in dem man ihre Stelle abtragen kann. Da ein solches System nur durch Individuationsmodi unserer Sprache erfolgen kann, müssen wir als Folge daraus bei der Beschäftigung mit einem anderen Begriffsschema bzw. einer anderen Sprache zwangsläufig eine Übersetzung, eine Interpretation in unser Schema bzw. in unsere Sprache vornehmen. Das Vorhandensein eines gemeinsamen Systems zeigt sich eben darin, dass wir eine Sprache bzw. ein Begriffsschema als different identifizieren. Die Möglichkeit von sinnvollen Meinungsverschiedenheiten hängt also ab von einer „gewissen Grundlegung in der Einigkeit“. Der Kern von Davidsons Strategie besteht in dem Nachweis, dass ohne Zuschreibung von propositionalen Einstellungen (Überzeugungen, Wünschen, Absichten) keine Zuschreibung von Sprachlichkeit erfolgen kann und dass es ohne die Übersetzung bzw. die Interpretation der Äußerungen des fremden Sprechers keine inhaltlich bestimmte Zuschreibung von propositionalen Einstellungen und also keine Bedeutung des geäußerten Satzes geben kann.15 Hier setzt nach Davidson das Nachsichtsprinzip („Principle of Charity“) an.16 Das Eindringen in den „hermeneutischen Zirkel“ der Interpretation propositionaler Einstellungen und somit in den Kreis der Interdependenz von Überzeugung und Bedeutung gelingt für Davidson dadurch, dass man den Überzeugungen des fremden Sprechers vorgreifend weitgehende Wahrheit und Kohärenz unterstellt. Während letztere der Attribution einer wenn auch minimalen Rationalität entspricht – in dem Sinne, dass die Überzeugungsstruktur des Sprechpartners möglichst wenige offenkundige Widersprüche enthält –, setzt die Wahrheitsunterstellung eine genügende Übereinstimmung in den Überzeugungen des Interpreten und des Sprechers voraus. Nur so kann eine Korrelation zwischen für wahr gehaltenen Sätzen des Sprechers und für wahr gehaltenen Sätzen des Interpreten hergestellt werden, wodurch nach Davidson die
15 Dazu siehe Seide, Markus: »Von Wahrheit über Bedeutung zum AntiBegriffsrelativismus? Davidsons Argumentation gegen den Begriffsrelativismus«, in: Facta Philosophica 10 (2008), S. 39-66. 16 D. Davidson: Wahrheit und Interpretation, S. 183-203.
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Bedeutungen der Worte und Sätze des Sprechers verstanden werden können. Wenn es also eine unumgängliche Voraussetzung der Interpretation ist, dass Sprecher und Interpret in ihren Überzeugungen im Großen und Ganzen übereinstimmen, dann können sie keine radikal voneinander verschiedenen Überzeugungssysteme bzw. Begriffsschemata aufweisen. Es kommt hier nicht darauf an, der Frage nach dem epistemologischen Status des Nachsichtsprinzips nachzugehen, nämlich ob es einen transzendentalen Charakter hat oder eine methodische Maxime oder eine Präsumptionsregel sprachlichen (und nicht sprachlichen) Verstehens darstellt. Sachlich konvergiert Davidsons Nachsichtsprinzip mit dem von Gadamer formulierten „Axiom aller Hermeneutik“, dem „Vorgriff der Vollkommenheit“, welcher der Möglichkeit der Horizontverschmelzung zugrunde liegt. Er besagt, dass das Verständnis der mündlichen und schriftlichen Rede des Anderen von „Sinnerwartungen“ geleitet wird, „die aus dem Verhältnis zur Wahrheit des Gemeinten entspringen“. Es wird also sowohl unterstellt, dass der Sprechpartner seine Meinung vollkommen ausspricht, als auch „dass das, was er sagt, die vollkommene Wahrheit ist“.17 All dies freilich, „bis zum Beweis des Gegenteils“. Es steht jedenfalls fest, dass Irrtümer und falsche Meinungen überhaupt erst als solche verständlich und erkennbar werden, wenn der Interpret dem Sprecher eine große Anzahl richtiger und gemeinsamer Überzeugungen unterstellt. Das Verstehen hängt von einem „Hintergrund großenteils ungenannter und nicht in Frage gestellter wahrer Überzeugungen“ ab.18 Charity ist weder auf Konsens angelegt noch verpflichtet sie zur Verständigung: sie ermöglicht Verständigung sowie Dissens und Meinungsverschiedenheit. Obwohl das Nachsichtsprinzip in der hier skizzierten Version moralisch nicht gerechtfertigt wird, scheint mir der springende Punkt in dem engen Zusammenhang zwischen der interpretativen Charity und der Betrachtung und der Behandlung des Anderen als Person zu liegen.19 Die Wahrheits- und Rationalitätsunterstellung trägt der oben
17 H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 299. 18 D. Davidson: Wahrheit und Interpretation, S. 244. 19 Davidson, Donald: Handlung und Ereignis, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 311-312: „Man kann es nicht als bloße Nachsicht gelten lassen, wenn man den Menschen ein hohes Maß an Widerspruchsfreiheit zubilligt. [...] Insoweit es uns misslingt, in den Einstellungen und Handlungen der
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erwähnten Konkretheit bzw. Komplexität des Anderen in dem Sinne Rechnung, dass dem Anderen die Fähigkeit zugeschrieben wird, in seinen lebensweltlichen Interaktionen und Verständigungsprozessen zumindest einigermaßen zurecht zu kommen, also die Fähigkeit, sich eine mehr oder weniger in sich konsistente Weltorientierung zu bilden und danach zu handeln. Und soweit dies nicht isoliert geschieht, sondern das Resultat von vielschichtigen Sozialisationsprozessen ist, kann man im übertragenen Sinne von immanenter Wahrheitsfähigkeit und Rationalität der lebensweltlichen Orientierungssysteme selbst sprechen. Das Nachsichtsprinzip, das nach Davidson in jedem Verstehensprozess zwischen den Gesprächspartnern als Mitgliedern derselben oder verschiedener Sprachgemeinschaften in actu ist, lässt sich eben durch das Zurückgreifen auf ein im Großen und Ganzen geteiltes lebensweltliches Hintergrundwissen erklären, das jedoch meistens unauffällig ist. Die Übereinstimmung in grundlegenden Fragen fällt nicht ins Auge, weil die geteilten Wahrheiten zu zahlreich sind oder als trivial gelten.20 Obwohl sie, wie Wittgenstein sagt, „schon offen vor unsern Augen lieg[en]“.21 Es handelt sich um die Gewissheiten, die das Fundament unseres Weltbildes bilden, um „den überkommenen Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide“. Diesen Hintergrund bilden zueinander passende Überzeugungen als ein „System, ein Gebäude“, innerhalb dessen „alle Prüfung, alles Bekräften und Entkräften einer Annahme geschieht“ und dies „ist nicht so sehr der Ausgangspunkt als das Lebenselement der Argumente“.22 Das Spektrum von Gewissheiten reicht nach Wittgenstein von den festen bis zu jenen „flüssigen“, die sich verändern, aber auch er-
anderen ein kohärentes Muster ausfindig zu machen, lassen wir uns schlicht die Chance entgehen, sie als Personen zu behandeln“. 20 Vgl. D. Davidson: Wahrheit und Interpretation, S. 285. 21 Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, § 89; Ebd., § 129: „Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, – weil man es immer vor Augen hat.) Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht erst auf. Es sei denn, daß ihm dies einmal aufgefallen ist“. 22 Wittgenstein, Ludwig: Über Gewißheit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, § 102 und § 105.
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starren, wie er in seiner bekannten Fluss-Metapher veranschaulicht.23 Es ist wichtig zu betonen, dass es dabei nicht um philosophische Prinzipien oder wissenschaftliche Theorien geht, sondern um Erfahrungssätze und lebensweltliche Überzeugungen, die für Wittgenstein aber auch für Davidson das Bezugsystem ausmachen, das alltägliche Kommunikation ermöglicht.24 In diesem Kontext verwendet Wittgenstein den umstrittenen Ausdruck „Lebensform“. Lebensformen bestehen für Wittgenstein – auf einen Punkt gebracht – aus grundlegenden Tätigkeiten und Praktiken, die in der biologischen und sozialen Natur des Menschen verwurzelt sind.25 Diese Formen betreffen Aspekte des Lebens, die sich gegenseitig stützen, wie Behausungen errichten, grüßen, reden, Befehle geben; Tätigkeiten, die auf unsere biologische Natur gründen, wie essen, gehen, spielen; Tätigkeiten, die zur Teilnahme am sozialen Leben befähigen. Er weist darauf hin, dass „befehlen, fragen, erzählen, plauschen […] zu unserer Naturgeschichte so wie gehen, essen, trinken, spielen“ gehören.26 Le-
23 Ebd., § 96-97: „Man könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionierten; und daß sich dies Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig würden. Die Mythologie [i. e. die unbezweifelten Sätze] kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flußbett und der Verschiebung [des Flussbettes]; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt“. 24 Vgl. Glüer, Kathrin: »Wittgenstein und Davidson on Agreement in Judgment«, in: Gianluigi Oliveri (Hg.), From the Tractatus to the Tractatus (and other Essays), Frankfurt am Main: Peter Lang 2001, S. 81-103. 25 Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Bd. 1., Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, § 630: „die Tatsache, dass wir so und so handeln, z.B. gewisse Handlungen strafen, den Tatbestand so und so feststellen, Befehle geben, Berichte erstatten, Farben beschreiben, uns für die Gefühle der Anderen interessieren. Das Hinzunehmende,
Gegebene – könnte man sagen – seien
Tatsachen
des
Lebens/seien Lebensformen“. Dazu siehe Saari, Heikki: »Wittgenstein on Understanding Other Cultures«, in: Grazer Philosophische Studien 68 (2004), S. 139-161. 26 L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 25.
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bensformen sind mit Sprachspielen untrennbar verflochten, weil die Teilnahme an solchen Tätigkeiten und Praktiken die Verwendung der Sprache erfordert: „das Sprechen der Sprache ist ein Teil einer Tätigkeit, oder einer Lebensform“.27 Da regelgeleitete Sprachspiele nicht einförmig und scharf gegeneinander abgrenzbar sind, können Lebensformen prinzipiell zugänglich sein und verstanden werden . 28 In dieser Richtung lässt sich der noch umstrittenere Ausdruck „gemeinsame menschliche Handlungsweise“ interpretieren, den Wittgenstein benutzt, um die Situation des Kontakts zwischen zwei Lebensformen darzustellen. Es geht um die ersten Schritte zum Verstehen von Sprechakten einer fremden Sprache: „Denke, du kämst als Forscher in ein unbekanntes Land mit einer dir gänzlich fremden Sprache. Unter welchen Umständen würdest du sagen, dass die Leute dort Befehle geben, Befehle verstehen, befolgen, sich gegen Befehle auflehnen, usw.? Die gemeinsame menschliche Handlungsweise ist das Bezugssystem, 29
mittels dessen wir uns eine fremde Sprache deuten“.
Wie überzeugend nachgewiesen worden ist,30 umfasst der Bereich, für den „ gemeinsam“ steht, sowohl die Mitglieder der beobachteten Gemeinschaft wie auch die der Gemeinschaft des Beobachters und er steht ferner für die Menschen als Gattung. Damit strebt Wittgenstein weder substantielle Aussagen noch eine allgemeine These über die Menschheit an, so in etwa, dass alle Menschen dieselben Handlungen und auf dieselbe Weise ausführen. In der geschilderten Situation geht es um eine konkrete Handlung oder um bestimmte Charakteristika von Handlungen. Er weist darauf hin, dass das Verstehen des Fremden nicht umhin kann, ihn als einen von ‚uns‘ zu betrachten, und zwar unter dem ‚Wir‘ der Menschen, das in dem Eigenen verwurzelt ist. Wir tun es, indem wir dem Anderen Handlungen zuschreiben, die zu denen
27 Ebd., § 23. 28 Vgl. L. Wittgenstein: Über Gewißheit, § 139: „Unsre Regeln lassen Hintertüren offen“. Dazu siehe Welsch, Wolfgang: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 407ff. 29 L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 206. 30 Vgl. Neumer, Katalin: »„Die gemeinsame menschliche Handlungsweise“ in Wittgensteins Nachlass«, in: Wittgenstein- Studien 1 (2010), S. 71-120.
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analog sind, auf die wir uns im Alltag verlassen. Die einheitsstiftende Funktion der Lebenswelt, auf welche sich Individuen einlassen und darin ihr Orientierungswissen bilden, wodurch sie handlungsfähig werden, erweist sich somit nicht auf partikuläre Sprachgemeinschaften beschränkt.31 Wenn die hier angenommene Lesart von Wittgensteins Ausführungen korrekt ist, besteht eine nicht oberflächliche Konvergenz auch zwischen ihnen und Davidsons Konzept der interpretativen Charity. Entgegen einer verbreiteten Meinung lässt sich Wittgenstein dann schwerlich zu den Verfechtern einer begriffsrelativistischen Position zuordnen.32
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Das Nachsichtsprinzip betrifft in erster Linie Vorbedingungen der Kommunikation, die erfüllt werden müssen, um sich auf einen Dialog überhaupt einlassen zu können. Im Verlauf des Dialogs bleibt das Prinzip in Form einer reziproken, interaktiven Anpassung des Spachverhaltens der Gesprächspartner präsent, wie Davidson auf das sokratische Gespräch als Exemplarfall von gelingender Kommunikation verweisend zeigt.33 Auch wenn Letzteres zu keinen definitiven Antworten führt, ändert es nichts an der Tatsache, dass das Verstehen anderer der Hauptweg ist, sich selber zu verstehen und das zu erfassen, was man mit seinen eigenen Worten meint.34 Die „ gemeinsame Basis“ wird im Verstehensprozess ermittelt: „wenn wir die Worte der anderen
31 Vgl. L. Wittgenstein: Über Gewißheit, § 509: „Ich will eigentlich sagen, daß ein Sprachspiel nur möglich ist, wenn man sich auf etwas verläßt“. Dazu siehe Nida-Rümelin, Julian: Demokratie und Wahrheit, München: C.H. Beck 2006, S. 70-75 und Nida-Rümelin, Julian: Philosophie und Lebensform, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 11-44. 32 In dieser Richtung argumentiert u.a. Oliva, Annalisa: »Was Wittgenstein an Epistemic Relativist?«, in: Philosophical Investigations 33 (2010), S. 1-23. 33 Vgl. Davidson, Donald: Wahrheit, Sprache und Geschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 369-397. 34 Vgl. Ch. Taylor: »Understanding the Other«, S. 295: „If understanding the other is to be construed as fusion of horizons…, then the slogan might be: no understanding the other without a changed understanding of self“.
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verstehen, gibt es bereits eine gemeinsame Basis – wir haben bereits eine gemeinsame Lebensform“.35 Es ist nicht eindeutig, ob Davidson den letzten Ausdruck in dem oben geschilderten Sinn verwendet. Nichtsdestoweniger kann er m.E. dahingehend gedeutet werden. Der Ausdruck bildet die Konklusion seiner Überlegungen bezüglich der Frage, ob es legitim ist, von objektiven – d.h. interpersonell gültigen – Wertungen und Werten zu sprechen. Mit ausdifferenzierten Argumentationen, auf die hier nur zum Teil eingegangen werden kann, vertritt Davidson die Auffassung, dass „was für die Überzeugungen gilt, gilt auch für …Wertungen“: Genauso wie man dem Anderen zum Verständnis seiner Überzeugungen Kohärenz und Richtigkeit unterstellen muss, so muss man auch dessen Werte mit den eigenen in Übereinstimmung bringen, und zwar nicht alle, aber doch hinreichend viele, um den Meinungsverschiedenheiten überhaupt Sinn zu geben.36 Eine solche ‚Übertragung‘ des Nachsichtsprinzips auf den Wertebereich scheint auf den ersten Blick kontraintuitiv, denn es ist gerade die Verschiedenheit der Werturteile, die die meisten Konflikte auslöst und somit zur geläufigen Annahme der Inkommensurabilität führt. Der ausschlaggebende Punkt liegt m.E. in der von Davidson aufgestellten Beziehung zwischen der Semantik der wertenden Sätze und der von Sätzen mit Wahrheitswert bzw. in dem Zusammenhang zwischen den wertenden und den kognitiven Einstellungen. Im Bezug auf die Überzeugungen und die propositionalen Einstellungen überhaupt sind zwei Aspekte hervorzuheben: ihr öffentlicher Charakter und ihre holistische Struktur. Für Davidson bilden nicht nur die Überzeugungen einer Person ein genügend kohärentes Gefüge, sondern es besteht eine grundlegende Interdependenz auch zwischen ihren Überzeugungen, Handlungen, Absichten und wertenden Einstellungen oder Werthaltungen. Eine Werthaltung drückt sich in der Einstellung aus, welche ein Sprecher zu einer Proposition, d.h. zum semantischen Gehalt eines Satzes, wie z.B. „Die Armut ist beseitigt“, einnimmt. Die evaluative Einstellung äußert sich dann darin, dass man als gut erachtet, dass die betreffende Proposition wahr ist. Sie liefert die Basis für den normativen Satz „Die Armut soll beseitigt werden“.
35 Davidson, Donald: Probleme der Rationalität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 101. 36 Ebd., S. 50-57 und im Folgenden S. 78ff.
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Dadurch wird das Eintreten des in dem eingebetteten deskriptiven Satz ausgedrückten Sachverhalts bzw. die Erfüllung der Bedingungen, die den Satz „Die Armut ist beseitigt“ wahr machen, bevorzugt. Genauso wie das Besitzen und das Fremdzuschreiben einer Überzeugung über die Armut die Annahme vieler anderer Überzeugungen impliziert – wie etwa wer arm sein kann, was Leiden bedeutet, was für Wesen die Menschen sind usw. –, von denen einige wahr und intersubjektiv geteilt sein müssen, um überhaupt kommunizieren zu können, so kann der Interpret nicht umhin, um die fraglichen Werthaltungen des Anderen zu verstehen, ihm vorgreifend evaluative Einstellungen zuzuschreiben, die den eigenen ähnlich sind.37 Das heißt jedoch nicht, betont Davidson, dass man vorgibt oder annimmt, wir seien uns einig, und es sollte auch nicht mit einer Art von Kulturimperialismus verwechselt werden. Die Funktion der Unterstellung ist es, wie bei den Überzeugungen, einen gemeinsamen Rahmen zu liefern, auf dessen Basis Differenzen erst erfasst und interpersonelle Vergleiche möglich werden. Das Verstehen des Anderen ist ein kompliziertes Unterfangen. Angesichts der Vielfalt der Faktoren, die bei der Fremdzuschreibung von propositionalen Einstellungen im Spiel sind, führen verschiedene Überlegungen oft zu verschiedenen Interpretationen. Das Nachsichtsprinzip ist ein Interpretationsverfahren, das viel Phantasie erfordert und graduelle Anwendung findet.38 Die Übereinstimmung zwischen den Gesprächspartnern muss in wichtigen Punkten ausreichen, um den Fällen von Nichtübereinstimmung, in denen Meinungsverschiedenheit herrscht über das, was für wahr gehalten und/oder hochgeschätzt wird, einen Sinn zu geben. Wie bereits erwähnt, beruht das Verstehen des Anderen und des Eigenen darauf, dass die „Geister in einem hinreichend gleichen Reich der Vernunft und in einer hinreichend gleichen materiellen Welt“ untergebracht werden.39 In diesem Zusammenhang spielt die einheitsstiftende Funktion der Lebenswelt eine wesentliche Rolle. Sie liefert die Orientierung dazu, eine Interpretation zu wählen, durch die die Überzeugungen und die Werte des Anderen nach Möglichkeit mit unseren eigenen in Überein-
37 Vgl. Myers, Robert H.: »Finding Values in Davidson«, in: Canadian Journal of Philosophy 34 (2004), S. 107-136. 38 Vgl. D. Davidson: Probleme der Rationalität, S. 132f. 39 Ebd., S. 129.
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stimmung gebracht werden, so dass die Anwendung des Nachsichtsprinzip nicht zu einer willkürlichen Projizierung des Eigenen auf das Fremde führt. In diesem Sinne möchte ich Davidsons These verstehen, der zufolge man davon ausgehen kann, dass in den grundlegenden Fällen gleiche Eigenschaften der Dinge oder Ereignisse oder Handlungen tendenziell zu ähnlichen propositionalen Einstellungen, also zu ähnlichen Überzeugungen und Wertungen beim Interpreten wie bei der interpretierten Person veranlassen.40 Aufgrund der Verschränkung von deskriptiven und normativen Aspekten, von Tatsachen und Werten – um mit Putnam zu sprechen – stellt die Übereinstimmung oder die Konvergenz den „Bereich der Überschneidungen“ dar, den „Bereich der Normen, die wir zu Recht als solche interpretieren, die uns und anderen gemeinsam sind“.41 Man könnte diese Behauptungen als Ausdruck eines unbegründeten und daher unhaltbaren Optimismus abtun. Ich bin hingegen der Ansicht, dass ihre Berechtigung am Beispiel der Menschenrechte gezeigt werden kann. Zunächst ist festzuhalten, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 und die darauf folgenden internationalen Dokumente, die das System der Menschenrechte aus einer holistischen Perspektive heraus bilden, das Resultat einer interkulturellen Konvergenz, eines Overlapping Consensus zwischen unterschiedlichen Welt- und Lebenssichten darstellen, um Rawls’ berühmten Begriff zu verwenden. Wichtig scheint mir hervorzuheben, dass in der Entstehungsgeschichte der Allgemeinen Erklärung selbst der Grund ihrer Kompatibilität mit einer Pluralität von verschiedenen umfassenden Konzeptionen liegt. Die Menschenrechte stellen gleichsam Schlussfolgerungen dar, zu denen man von verschiedenen Prämissen ausgehend bzw. durch unterschiedliche Begründungen gelangen kann. Wie aus Maritains Interpretation des bei den Vorarbeiten zur Allgemeinen Erklärung erreichten Konsenses hervorgeht, ist die erzielte und die zu erzielende Übereinstimmung von praktischer Natur. Es handelt sich nämlich um einen Block gemeinsamer Handlungsüberzeugungen, die eine „Philosophy
40 Ebd., S. 78 und S. 94. 41 Ebd., S. 99. Von Hilary Putman siehe: The Collapse of the Fact/Value Dichotomy and Other Essays, Cambridge: Harvard University Press 2002. Dazu siehe ausführlicher Vossenkuhl, Wilhelm: Die Möglichkeit des Guten. Ethik im 21. Jahrhundert, München: Beck 2006, S. 69ff.
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of Life“ auf der Ebene praktischen Handelns widerspiegelt.42 Dies lässt sich unschwer nachweisen, wenn man die Aufmerksamkeit nicht so sehr auf die verbriefte Form der Menschenrechte eben als Rechte, wohl aber auf die Inhalte der Menschenrechte richtet. Im Menschenrechtskatalog werden bestimmte Tätigkeiten, Zustände und Fähigkeiten angeführt, die Menschen für die eigene Lebensführung wertschätzen, und solche, die es für sie zu vermeiden gilt. Demnach können die Inhalte der Menschenrechte in Gadamers Stil auch als Antwort auf grundlegende Fragen verstanden werden: „Just ask any human being: Would you like to live or be killed? Would you like to be tortured or enslaved? Would you like to live freely or in bondage? Would you like to have a say in how you are governed?“43 Den von Sen und Nussbaum entwickelten Fähigkeitsansatz aufgreifend, beziehen sich die meisten Inhalte der Menschenrechte auf „Funktionsweisen“ (Functionings) bzw. auf „Befähigungen“ (Capabilities). Funktionsweisen als konkrete Handlungen und Zustände sind für Sen eng mit Lebensbedingungen verknüpft. Ihre Variationsbreite reicht von elementaren Gegebenheiten wie ausreichender Ernährung oder dem Entgehen vermeidbarer Krankheiten bis zu komplexen Tätigkeiten und persönlichen Zuständen, wie etwa am Gemeinschaftsleben teilnehmen zu können und Selbstachtung zu besitzen.44
42 Vgl. Maritain, Jacques: »Introduction«, in: UNESCO (Hg.), Human Rights. Comments and Interpretations, New York: Columbia University Press 1948, S. 1-12. 43 Ramcharan, Bertrand G.: »The Universality of Human Rights«, in: International Commission of Jurists Review 54 (1999), S. 106. Dazu siehe Viola, Francesco: »L’universalità dei diritti umani: un’analisi concettuale«, in: Francesco Botturi / Francesco Totaro (Hg.), Universalismo ed etica pubblica, Mailand: Vita e Pensiero 2006, S. 155-187. 44 Vgl. Sen, Amartya K.: Ökonomie für den Menschen, München und Wien: Carl Hanser Verlag 2000, S. 94-97; Sen, Amartya K.: »Human Rights and Capabilities«, in: Journal of Human Development and Capabilities 6 (2005), S. 151-166; Nussbaum, Martha: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010, S. 103-119. Auf die Unterschiede zwischen Sen und Nussbaum in Sachen Menschenrechte kann hier nicht eingegangen werden.
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Mit Rekurs auf den Menschenrechtskatalog kann man den Begriff der Lebensform als Bezeichnung von Grundformen des Lebens, die in den verschiedenen Kulturen vorzufinden sind, präzisieren. Als Ausdruck der biologischen und sozialen Verfasstheit des Menschen manifestieren sie sich im Alltagsleben als ein Bündel von Tätigkeiten und Praktiken, die auf unterschiedliche Weise miteinander verbunden und ausgeführt werden. Es sind gerade die unterschiedlichen, oft alternativen Kombinationen solcher Grundformen, die die kulturelle Vielfalt prägen und die Pluralität der Lebensformen ausmachen. Wie eingangs erwähnt, spielt dabei der Einzelne eine zentrale Rolle. Innerhalb der jeweiligen Sprach- und Lebensgemeinschaften ist die konkrete Lebensführung der Subjekte das dynamische Ergebnis einer personalen Kombination von Funktionsweisen, die hochgeschätzt und unter Umständen und nach Möglichkeit durch einen mehr oder weniger expliziten Prozess des Überlegungsgleichgewichts mit den jeweils „stärksten Intuitionen“ gewählt werden. Wenn also die Menschenrechte einen Grundstock von Handlungsüberzeugungen und -normen darstellen, die bei Mitgliedern verschiedener Kulturgemeinschaften Zustimmung fanden und noch immer finden, kann der Bezug auf die darin wenn auch unterschiedlich artikulierten Grundformen des Lebens jene „ausreichende gemeinsame Basis ermitteln“, die das Nachsichtsprinzip fordert und zugleich ans Licht bringt. Die Frage, ob „die den Inhalt moralischer Urteile bestimmenden Tatsachen Gründe liefern für die Annahme, … dass im Hinblick auf moralische und sonstige Werte mehr Einigkeit besteht, als der erste Eindruck ahnen läßt“,45 kann nicht pauschal bejaht werden. Bevor man zu der Auffassung gelangt, dass es radikal verschiedene Basiswerte gibt (so dass sie auf interkultureller Ebene unverständlich bleiben), sollte hierbei die aus der Menschenrechtsdebatte hervorgehende Ansicht in Betrag gezogen werden, der zufolge die gegenwärtig zu beobachtende moralische Vielfalt hauptsächlich auf der Verschiedenheit der Gewichtung prinzipiell gemeinsamer Werte beruht. Verschiedene Gemeinschaften wie verschiedene Mitglieder derselben Gemeinschaft tun es, indem sie geteilten Werten unterschiedliche Stellenwerte zuweisen.46
45 D. Davidson: Probleme der Rationalität, S. 87. 46 Dazu siehe M. Baghramian: Relativism, S. 280f. und Ernst, Gerhard: »Universelle Menschenrechte und moralische Vielfalt«, in: Gerhard Ernst /
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Verstehen impliziert per se freilich nicht Akzeptanz. Da sich moralische Bewertungen nicht auf Wünsche, auf Geschmacksfragen reduzieren lassen, gerade weil sie grundlegende Belange betreffen, ermöglicht die im Verstehensprozess vorgreifend ermittelte Basis sowohl die Kritik anderer Wertvorstellungen als auch die Revision des eigenen Standpunktes. Und dies sowohl intra- als auch interkulturell. Kritik wie auch Akzeptanz von Werten hängen davon ab, inwieweit man in der Lage ist, andere Wertumsetzungen als solche zu erkennen und sie mit den eigenen zu vergleichen. Die noch verbreitete Meinung, nach der die Kritik an Verhaltensweisen und moralischen Wertungen einer Kulturgemeinschaft durch Mitglieder anderer Kulturgemeinschaften nicht legitim ist – mit dem Argument, dass ein „neutraler“ Standpunkt fehlt, um sie zu beurteilen –, trägt unseren moralischen Praktiken nicht Rechnung. Genauso wie wir bestimmte moralische Wertungen gutheißen und sie als praktikable Optionen in unser Wert- und Überzeugungssystem integrieren, so kritisieren wir aus unserer Perspektive andere Wertvorstellungen, die wir zu diesem für nicht kompatibel halten. Die interpretative Charity zwingt nicht zu einer undifferenzierten moralischen Nachsicht.47 Sie führt vor Augen, dass selbst eine heftige Kritik an bestimmten Werten des Anderen nur auf der Basis anderer mit ihm geteilter, nicht in Frage gestellter Werte und Überzeugungen ausgeübt werden kann. Solche herauszufinden und explizit zu machen, kann in der Kommunikation unvorhergesehene Möglichkeiten zum Einverständnis eröffnen. Ein konstitutives Merkmal des Konsenses oder der Übereinstimmung und Konvergenz in dem hier intendierten Sinne ist die Unvollständigkeit. Auch ohne die Theorie der rationalen Entscheidung und die Sozialwahltheorie oder Simons Begriff der „Bounded Rationality“ heranzuziehen, lässt sich schwer leugnen, dass die Personen selten, und nur in besonderen Situationen, alle relevanten Tatsachen kennen, Probleme zur Gänze aufarbeiten, weil sie über eine allgemeine Theorie verfügen, aus der alle Regeln für konkrete Entscheidungen hervorgehen. Im Bereich der praktischen Rationalität, wie Sunstein, Maritains Behauptung aufgreifend, an der Menschenrechtsproblematik zeigt, kann man sich auf eine Praxis einigen, auch ohne dieselbe Menschen-
Stephan Sellmaier (Hg.), Universelle Menschenrechte und partikulare Moral, Stuttgart: Kohlhammer 2010, S. 109-113. 47 Vgl. D. Marconi: »Per la verità«, S. 128-138.
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rechtstheorie zu teilen, und zwar mittels nicht vollständig theoretisch durchgearbeiteter Übereinkünfte.48 Ein Konsens dieser Art über einen Grundsatz besteht, wenn sich die Konsentierenden nicht notwendigerweise auf das einigen können, was der betreffende Grundsatz für die einzelnen Fälle impliziert. Andersherum können Personen bestimmte Anwendungen, Sonderfälle oder Einzelentscheidungen vereinbaren, obwohl sie über die Auslegung allgemeiner Grundsätze uneinig sind. Vereinfacht gesagt: man kann wissen, dass eine bestimmte Handlung richtig ist, auch ohne vollständig erklären zu können, warum. Man kann einig sein, was zu tun ist, auch wenn man uneins darüber ist, was genau zu denken ist. Der jeweils erreichte Teilkonsens bildet die Basis und liefert Anhalts- und Ansatzpunkte für weitere Auseinandersetzungen. Bei der Auslegung und Umsetzung der Menschenrechte sowie in Fragen nach der Gestaltung von Grundformen des Lebens ist es die prinzipielle Unvollständigkeit, die Offenheit und Veränderung ermöglicht. Selbst die Horizontverschmelzung findet im Zeichen der Unvollständigkeit statt. Das Verstehen des Anderen ist nicht als Angleichung des Anderen an das Eigene zu denken. Für Gadamer gilt es, das Spannungsverhältnis zwischen Eigenem und Anderem, also die unaufhebbare Andersheit des Anderen im Verstehensprozess bewusst zu machen. Wenn wir nun die von Taylor aufgeworfenen Fragen wieder aufgreifen, kann man abschließend festhalten, dass das Verstehen des Anderen per se nicht dem Assimilieren des Anderen entspricht. Letzteres wäre der Fall, wenn wir in unseren Begriffsschemata gefangen und befangen wären, was sich allerdings als eine unhaltbare Position erwiesen hat. Der Andere als Subjekt sowie die andere Lebensform sind zwar zugänglich, werden aber nicht als Ganzes, sondern immer nur unter bestimmten Aspekten, über Aussagen und Handlungen erfasst.49
48 Vgl. Sunstein, Cass R.: »Incompletely Theorized Agreements«, in: Harward Law Review 108 (1995), S. 1733-1772. Dazu vgl. Longato, Fulvio: »Verfassung, Menschenrechte und Konsens. Eine philosophische Betrachtung«, in: Dieter Grimm et al. (Hg.), Verfassung in Vergangenheit und Zukunft. Sechs Jahrzente Erfahrung in Deutschland und Italien, Stuttgart: Franz Steiner 2011, S. 27-38. 49 Siehe dazu Vossenkuhl, Wilhelm: »Kann man sich eine Lebensform wirklich vorstellen?«, in: Solipsismus und Sprachkritik. Beiträge zu Wittgenstein, Berlin: Parerga 2009, S. 133-143.
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Kollektive wie personale Lebensformen (wobei die Grenzen zwischen den beiden fließend sind) unterscheiden sich hauptsächlich in den differenten Kombinationen, Bewertungen und Gewichtungen von nicht in Frage gestellten Grundformen des Lebens. Akzeptanz wie Kritik von bestimmten Tätigkeiten und Praktiken einer Lebensform sollten also nicht mit der Frage nach der Überlegenheit von einer als Totalität gefassten Lebensform über andere verwechselt werden. Selbst die interkulturelle Genese des 1948 erstellten Menschenrechtskatalogs verbietet eine kulturessenzialistische Vereinnahmung der Menschenrechtsidee in den geistigen Horizont einer bestimmten Tradition. Das Verstehen des Anderen ist ein kognitiver Akt, der zunächst an Wahrnehmung gebunden ist. Die Menschen als Menschen zu sehen, steht uns nicht zur Wahl, selbst wenn wir sie nicht als Menschen behandeln.50 Dass wir die Anderen verstehen können, hat moralische und politische Implikationen, ersetzt jedoch nicht die willentliche Entscheidung, die Anderen als Menschen anzuerkennen.
50 Vgl. Margalit, Avishai: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 118ff.
Dritter Dialog – Eine Topographie der Differenz
Asymmetrien im Spiegelbild Repräsentationen des Selbst und des/der Anderen B ARBARA H ENRY
1. D ER EUROPÄISCHE W ESTEN UND DIE K ATEGORIEN SYMBOLISCHE G EWALT V ERDRÄNGUNG
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In den letzten Jahren plädierten die Kultur- und Humanwissenschaften für eine interne Differenzierung der Kategorie „Westen“. Der Ansatz gewann rasch an Einfluss, er prägt inzwischen nicht nur kritischliterarische, sondern auch philosophisch-politische Arbeiten renommierter politischer Philosophen und kann daher als weitgehend akzeptiert gelten.1 Nun geht es weniger darum, den europäischen Kontinent neu zu „verorten“, als vielmehr die polity, d.h. seine strukturelle, formelle und institutionelle Ordnung, sowie die Spielregeln sozialer Interaktion neu zu bestimmen. Die neue polity charakterisiert den euro-
Aus dem Italienischen von Monika Pelz. 1
Emblematisch, wenngleich nicht übereinstimmend hinsichtlich der Bedeutung, die der Unterscheidung zweier Westen zukommen soll, sind die Arbeiten von Habermas, Jürgen: Der gespaltene Westen. Kleine Politische Schriften X, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004; Preterossi, Geminello: L’Occidente contro se stesso, Rom und Bari: Laterza 2007; Friese, Heidrun: »Europe’s Otherness. Cosmopolitism and the Construction of Cultural Unities«, in: Gerard Delanty (Hg.), Europe and Asia Beyond East and West: Towards a New Cosmopolitanism, London: Routledge 2006, S. 241-56.
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päischen Kontinent als internationales Subjekt, das sich in seiner Selbstdefinition von jener Dichotomie abgrenzt, in der ein „einziges“ Abendland einem „einzigen“ Orient entgegengesetzt wird. Die Deskription dessen, „was wir innerhalb der westlichen Hemisphäre sind und werden wollen“, muss sich neuen Variationen öffnen. Diese potentielle ethische und mentale Offenheit ist wichtiger als eine Übereinkunft im Hinblick auf die geopolitische Relevanz, die dem institutionellen Gefüge Europas gegenwärtig oder zukünftig zukommen soll. Ein pluralistischer Bezug auf jene Makrokategorien, die in der öffentlichen Diskussion von Bedeutung sind, und zu denen zweifellos auch die Kategorie des Westens zu zählen ist, vermeidet Vereinnahmungen und schwerwiegende Fehleinschätzungen. Die Auseinandersetzung mit den vielfältigen Aspekten der verschiedenen, im Westen beheimateten (sozialen und politischen) Identitäten ist von größtem Interesse, insofern sie innerhalb demokratischer Ordnungen die kollektive Sensibilität steigert. Dadurch erhöht sich auch die Bereitschaft zur Übernahme einer Verantwortung, die weder allgemein bleibt, noch den Charakter einer Abrechnung trägt, sondern offen ist für nicht-kanonische Interpretationen der historischen Wahrheit und ihrer Wirkungen auf das politisch Imaginäre. Oft sind es die unorthodoxen Lektüren, nicht die machtvollen Erzählungen der vermeintlich Mächtigen, die tiefgreifende, gemeinsame öffentliche Reflexionsprozesse über vergangene Untaten in Gang setzen. Emblematisch hierfür steht die Diskussion um den Kolonialismus. Dabei müssen nicht nur die nachhaltigen Konsequenzen herausgearbeitet werden, von grundlegenderer Bedeutung ist vielmehr, dass alle beteiligten Parteien die lexikalische Definition von Ereignissen, Untaten und Folgen bestimmen. Wir leben in einer Epoche des Okzidentalismus,2 in der der klassifizierende Blick die Richtung bewusst gewechselt hat. Einer Phänomenologie der Primärerfahrungen folgend, kann man sagen, dass dieser Blick sowohl mit dem visuellen als auch dem kategorialen Orientierungssinn verschiedener Lebenswelten identisch ist. Die Bedingungen des Blicks sind standortabhängig, sie stellen etwas ins Licht oder lassen es im Schatten, insofern begründen sie die
2
Said, Edward W. [1978]: Orientalismus, Frankfurt am Main: Fischer 2009; Shimada, Shingo: »Aspetti della traduzione culturale: il caso dell’,Asia‘«, in: Barbara Henry (Hg.), Mondi globali, Pisa: ETS 2000, S. 137-159.
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Sichtbarkeit und Relevanz der verschiedenen Typologien existierender Dinge, Wesen und Kulturen. Tatsächlich lässt sich bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, den Hütern des Expertenwissens, ein bewusster und gezielter Richtungswechsel beobachten. In den höheren Sphären des wissenschaftlichen Establishments wurde das bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts vorherrschende Modell einer intellektuellen Elite, die von weißen, männlichen und westlichen Gelehrten und Wissenschaftlern gebildet wurde, durch ein Modell ersetzt, das in größerem Maße gender-sensitive, entkolonialisierte und dezentralisierte Strömungen und Energien berücksichtigt. Dennoch ist es noch ein langer Weg von der Legitimierung des neuen Modells bis zu seiner Verankerung in der Wissenschafts- und Universitätspolitik.3 Daher prägt diese ideelle Umwälzung erst allmählich das allgemeine Bewusstsein, d.h. die in den westlichen Gesellschaften verbreiteten Bewusstseinsebenen. Man darf nicht vergessen, dass die alten Propagandisten der weltweiten Zivilisierungskampagnen und die Gralshüter des westeuropäischen Kulturschatzes erst seit wenigen Jahrzehnten methodisch und in den Institutionen, in denen Wissen produziert wird, von denjenigen beobachtet und erforscht werden, die einst selbst Herrschaftsprozessen unterworfen waren. Das bedeutet keineswegs, dass die Kolonialisierungsprozesse tatsächlich auf einer tabula rasa, in einem Niemandsland, stattfanden, sie schrieben sich, im Gegenteil, in die bereits existierenden sozio-institutionellen Verhältnisse und Strukturen ein, die wiederum, auch nachdem sie zerstört oder radikal assimiliert worden waren, auf das Kolonialsystem zurückgewirkt haben. In einigen Ländern ließ man die Beherrschten jedoch über Generationen hinweg an den „Mythos von den Völkern ohne Vergangenheit“ glauben. Zu den schwerwiegendsten Beschädigungen, die die Unterwerfungsdispositive dem kollektiven Selbstbewusstsein der Kolonisierten zufügten, gehört, dass auf institutioneller und wissenschaftlicher Ebene nicht nur die Bedeutung dieser geteilten und miteinander verwobenen Geschichten (entangled histories),4 sondern sogar ihre Existenz selbst negiert oder
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Said, Edward W.: »Globalizing literary study«, in: Publications of the Modern Language Association of America 116 (2001), S. 64-68, hier S. 65.
4
Conrad, Sebastian / Shalina, Randeria: »Einleitung. Geteilte Geschichten, Europa in einer postkolonialen Welt«, in: Jenseits des Eurozentrismus.
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verheimlicht wurde. In diesen Geschichten wurden trotz der asymmetrischen Positionen der Beherrschten gegenüber der kanonischen, deskriptiven Sprache die indigenen Aspekte der Selbstrepräsentation nicht vollständig ausgelöscht, sie verschmolzen vielmehr, wenngleich in vermittelter und verfälschter Form, mit den Vorstellungen, die sich die „Kolonialmächte“ von den Identitäten der Beherrschten machten. Um überhaupt eine gewisse Sichtbarkeit zu erlangen, mussten die autochthonen Repräsentationen bereits Vergleichs-, Selektions- und Mutationsprozesse durchlaufen haben. Der Begriff der Autoethnographie bezeichnet diese Situationen des nicht herrschaftsfreien Kulturaustausches.5 Es handelte sich dabei um multilaterale Konstruktionen, die sich je nach Kontext unterschiedlich ausdifferenzieren. Damit lassen sich die tieferen Wurzeln der zeitgenössischen Gegentendenz und teilweise auch ihre Verortung verstehen. Insbesondere in den zu den verschiedenen „Orienten“ gehörenden Ländern wurden Lehrstühle für Okzidentalismus eingerichtet, an denen die Träger von Expertenwissen, die beglaubigte Forschungsergebnisse vorlegen können, eine Interpretationsperspektive ex parte subjecti jener Kolonisationsphänomene eröffnen und etablieren, unter der ihre Vorgänger und ihre Ausgangsgesellschaft noch schwer gelitten haben. Diese Prozesse haben nicht zuletzt über die Konstruktion einer Nomenklatur, d.h. eines spezifischen Vokabulars, Prozeduren und Praktiken einer symbolischen Neuschöpfung in Gang gebracht. Sie gewannen eine strukturelle Bedeutung für die Identitäten sowohl der Kolonisatoren als auch der Kolonisierten, insofern sie die Bedingungen der Sichtbarkeit der natürlichen und menschlichen Gegebenheiten, der Subjekte und der sozialen Rollen, der kollektiven Zusammenschlüsse, der räumlichen und symbolischen Aufteilung des Territoriums, auf dem Kolonisten und Kolonialisierte auf asymmetrische Weise interagierten, festlegten. Die Binome Stadt-Land und Wildnis-Zivilisation wurden vor Ort neu geschrieben und die zuvor existierenden städtischen und dörflichen
Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main und New York: Campus 2002, S. 9-50. 5
Pratt, Louise: »Introduction«, in: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London und New York: Routledge 1989, S. 6-7.
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Strukturen so umgewandelt, dass sich die Identität der Bevölkerungen neu definierte.6 Die folgenden Reflexionen gelten den Subjekten, die vom herrschenden Diskurs ausgeschlossen sind: sie beziehen sich auf einen Komplex von Schriften, Gesetzessammlungen, Verzeichnissen, Vokabularien, Praktiken und Erlebnissen, die der soziale Zusammenhang erzwungen oder verhindert hat. Diese Elemente sind im Hinblick auf die Konstitution des Selbst all jener, die sich ihnen gegenüber in einem Zustand der kognitiven und symbolischen Ungleichheit befanden, noch dringlicher und „unanfechtbarer“. Das Thema der Herrschaft soll mit der gebotenen kritischen Umsicht als symbolische Gewalt neu interpretiert werden. Unter symbolischer Gewalt werden Prozesse und Sprachen einer asymmetrischen Konstruktion verstanden, die sich auf die Identität der Unterworfenen nachteilig auswirken. Eine bereits im Zusammenhang mit der Autoethnographie erwähnte wichtige Bemerkung sei hier noch einmal ausdrücklich wiederholt: Auch wenn man davon ausgehen muss, dass diese Subjekte beim Verfassen der symbolischen Erzählungen, die für sie und ihre Nachkommen von sozialer und politischer Bedeutung sind, ausgeschlossen blieben, so muss dennoch die Wahrhaftigkeit und die Allgemeinheit dieser allgegenwärtigen Annahme bestritten und für jeden einzelnen Kontext mit den Situationen und den Modalitäten ver-
6
Emblematisch hierzu bleibt die Arbeit von Lévi-Strauss, Claude: Traurige Tropen, Köln: Kiepenheur&Witsch 1960; einen aktuellen Überblick gibt Tedesco, Francescomaria: »Violenza simbolica«, in: Marcello Flores (Hg.), Diritti umani. Cultura dei diritti e dignità della persona nell’epoca della globalizzazione, Bd. 2, Dizionario (H-W), Turin: Utet 2007. Bezüglich der an den cultural studies orientierten cultural geography vgl. Legg, Stephen: Spaces of Colonialism, London: Blackwell 2007; Clayton, Dan: »Critical Imperial and Colonial Geographies«, in: Kay Anderson et al. (Hg.), The Handbook of Cultural Geography, London: Sage 2003, S. 354368; Clayton, Dan: »Imperial Geographies«, in: James Duncan / Johnson Nuala / Richard Schein (Hg.), A Companion to Cultural Geography, London: Blackwell
2004, S. 449-468; Berthon, Simon / Robinson,
Andrew: The Shape of the World. The Mapping and Discovery of the Earth, London: George Philip Ed. 1991.
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glichen werden, in denen sich der symbolischen Gewalt Sprachen der Kreativität und des Widerstands entgegensetzen.7 Wahr bleibt dagegen, dass immer dann symbolische Gewalt ausgeübt wird, wenn die „den Ton angebenden“ Sprachverwalter jede Dimension der sozialen Realität, die sich von der ihren unterscheidet, vorsätzlich aus einer übergeordneten, fälschlicherweise als neutral und universell vorgestellten Perspektive betrachten. Wenn dem europäische Westen bewusst würde, was es bedeutet, seinerseits von jemand anderem betrachtet zu werden, so müsste er sich mit mindestens drei Typen der Missachtung und des Verbergens der eigenen Gräuel und der eigenen (epistemischen, politischen und sozialen) Verbrechen hinsichtlich der kolonialen Vergangenheit und der Gegenwart auseinandersetzen: dem Ignorieren, Vergessen und Verdrängen.8 Wie uns die Entwicklungen in den qualitativen Sozialwissenschaften zeigen, gehören die drei genannten Modalitäten des Verbergens zu einem Vokabular, das inzwischen von den Studien zum Gedächtnis und zur Erinnerung geteilt wird, daher nicht mehr unbedingt den Terminologien der Psychoanalyse, der Psychologie und den Schulen der Psychotherapie vorbehalten ist; diese erfahren vielmehr ihrerseits durch die Beiträge der Geschichtswissenschaft, der Politologie und der Sozialwissenschaft eine Bereicherung. Auf der einen Seite steht das (individuelle) Gedächtnis heute für ein begriffliches Terrain, das sich auf den Erwerb und die Bewahrung (Archivierung, Speicherung) erlebter Erfahrungen und vergangener Handlungen beschränkt.9 Auf der anderen Seite verweist der Begriff
7
Die symbolische Gewalt ist von der deterministischen, den freien Willen ausschließenden, epistemischen Gewalt zu unterscheiden. Vgl. Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005.
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Ich verdanke diese Klassifikation Alberto Pirni.
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Im Unterschied zum allgemeinen philosophischen Wissen (das auch zur Errichtung des italienischen Schul- und Universitätssystems vor einem halben Jahrhundert eingesetzt wurde), für das der Begriff der Erinnerung „dem Subjekt die Präsenz eines vergangenen und als vergangen erkannten Bewusstseinsstandes“ anzeigte, vgl. Lamanna, Paolo E. / Adorno, Francesco: Dizionario di termini filosofici, Florenz: Le Monnier 1969. In der zitierten Definition wird, anders als bei der oben ausgeführten semantischen Unterscheidung beider Begriffe, die Erinnerung dem Gedächtnis zugerechnet.
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der Erinnerung an das Bewusstsein erlebter Erfahrungen und vergangener Handlungen als vergangene.10 Auch die Kategorie der Verdrängung, die nicht als reine Antithese zur Erinnerung zu verstehen ist, darf nicht mehr als exklusives Monopol der Freud’schen Analyse der frühkindlichen Triebentwicklung betrachtet werden.11 Das Stadium der Verdrängung bezieht sich in diesem Zusammenhang eher auf die sozialen Mechanismen des partiellen Erinnerns, mit dem die für ein Kollektiv relevanten schmerzhaften Situationen verringert werden sollen. Diese Mechanismen verzögern, umgehen oder vermeiden, dass eine Gruppe sich bestimmter Situationen, Bedingungen und Zustände bewusst wird, insofern deren bewusste öffentliche Abhandlung Leid und Zerwürfnis anzukünden drohen. Diese Mechanismen greifen häufig dann, wenn der Ursprung des vorausgesehenen Schmerzes in schuldhaften, in der Vergangenheit begangenen Handlungen liegt, die bisher weder angezeigt noch bestraft worden sind. Die Verdrängung führt zu sozialen Pathologien, weil sie hinter dem Rücken der Handelnden die Konstruktion des Bezugsrahmens, der die Generationen in eine geteilte Erzählung einbindet, irreführt und verfälscht. Die Anamnese, für Platon die Kunst der Erinnerung, kann sich hier als nützlich erweisen. Sie kann durch angemessene semantische Verschiebungen an der Grenze zwischen der Erkenntnistheorie und der therapeutischen Praxis verortet werden. Würde sie zu einer erzählerischen Rekonstruktion der pathologischen Formen, die der Lebendigkeit unserer Entwicklung noch immer entgegenwirken, so wäre sie die notwendige Voraussetzung für jedwede Therapie von kollektiver Relevanz. Die medizinische Metapher deutet die Notwendigkeit an, in geeignetem Maßstab unbelastete Identifikationsmöglichkeiten bewusst aufzuzeigen, die von uns Europäerinnen und Europäern reflektiert und angenommen werden können. Dies muss insbesondere für die Beseitigung der unerwünschten Aspekte – auf die ich noch zu sprechen komme – des politischen und symbolischen Modells gelten, das für
10 Quante, Michael: »Identität«, in: Nicolas Pethes / Jens Ruchatz (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek: Rowohlt 2001, S. 267-269. 11 In Freuds Psychoanalyse werden verschiedene Stadien der kindlichen Triebentwicklung unterschieden, in deren Verlauf sich die Potenzialität der Libido soweit verringert, dass das Kind durch Sublimation Sicherheit und ein lebensnotwendiges Gleichgewicht erreichen kann.
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unsere spezifische westliche Identität konstitutiv ist, d.h. für die republikanische Nation, die ihr eigene Form der Staatsbürgerschaft und die Sprache des Rechts, auf die sie sich gründet. In Bezug auf unsere Selbstrepräsentation als westliche Europäerinnen und Europäer, scheint das Beispiel des französischen, republikanischen Kolonialismus paradigmatisch zu sein, zumindest im Hinblick auf eine der wirkmächtigsten und nachhaltigsten Erzählungen, aus denen sich Europas Identität speist: den Universalismus der Freiheits- und Gleichheitsrechte, den Diskurs über die Befreiung von Unterdrückung. Bei der Abfassung und Rechtfertigung dieser Erzählung müssen die sozialen Subjekte, die sie erschaffen und von ihr profitiert haben, gegenüber ihren internen Widersprüchen blind gewesen sein. Diese Haltung hat in eine schwerwiegende Aporie geführt: die universale Menschenwürde wurde, jedenfalls vorübergehend, nur einigen ausgewählten, nicht allen Gruppen von Menschen zugestanden. Die Einheit des Menschengeschlechts wurde symbolisch als eine mit und durch die Zivilisation zu leistende Aufgabe vorgestellt und noch nicht als faktische Realität betrachtet. Die Tatsache, dass dieses Verfahren von einer universalistischen (insbesondere französischen) Philosophie und Politik außerhalb von und sogar in erklärtem Gegensatz zu jenen rassistischen Theorien, die die radikale, natürliche und unüberwindbare biologische Unvereinbarkeit zwischen höhergestellten und als minderwertig definierten Volksgruppen predigen, durchgeführt wurde, darf uns nicht beruhigen. Wenn für eine Bevölkerung der vorübergehende, aber zeitlich nicht begrenzte Verbleib in einem Status kultureller, institutioneller und sozialer Unmündigkeit proklamiert wird, der nur unter Führung und durch Nachahmung des Modells der Kolonisatoren überwunden werden kann, so stabilisiert, legitimiert und verewigt diese Proklamation die äußeren und inneren Bedingungen der Subalternität. Der asymmetrische Vergleich, den die Herrschenden den „anderen“ Kulturen aufgezwungen haben, führt zu einer begrifflichen und symbolischen Unterordnung. Solange die Auseinandersetzung mit dieser Tatsache verweigert wird, lässt sich die reale Bedeutung der kolonialen Kultur nicht nur innerhalb der französischen, sondern auch innerhalb der europäischen und westlichen Kultur nicht ermessen. Der schädlichste Aspekt des andauernden und fortgesetzten Nichteingeständnisses der eigenen Aporien besteht darin, dass dieses kognitiv „Verdrängte“ weiterhin hinterrücks das universalistische und progres-
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sive Emanzipationsmodell prägt. Trotz wiederholter Kritik an seiner Effektivität erachten es viele noch immer als unangefochtenen begrifflichen Dreh- und Angelpunkt für das zivile Bewusstsein und die politische Identität der Europäischen Union. Wird dieser Apparat nicht dekonstruiert, könnten sich alle legitimen Forderungen, den haltbaren und unangreifbaren Kern des Menschenrechts- und Emanzipationsdiskurses gegen ihre Verleumder zu verteidigen, als nichtig erweisen. Um diesen Kern zu stärken, bedarf es einer grundlegenden Überprüfung des Vokabulars. Außerdem müssen die schwerwiegenden Beschädigungen berücksichtigt werden, die den Unterworfenen im Hinblick auf ihre Selbstrepräsentationen zugefügt wurden. Diese moralischen „Verstümmelungen“ haben nicht zuletzt deshalb eine nachhaltige Wirkung, weil sie noch nicht als solche anerkannt wurden. Ein von anderen und für andere geformtes Selbst als Konfiguration oder Façon des eigenen Selbst anzuerkennen, beschreibt nur einen Teil des Geschehenen. Die wahren Probleme sind anderer Natur: Erstens geschah dieser Prozess, weil weder andere Modelle noch andere Methoden von hinreichender Glaubwürdigkeit vorhanden oder denkbar waren, mit denen angemessene neue Modelle hätten konzipiert werden können. Die vorhandene Identität erweist sich als ungeeignet und unterdrückend, insofern diejenigen, die Kontexte, Verpflichtungen und Regeln festlegen, nur eine einzige, exklusive und homogene Vorgabe kennen, die mögliche Alternativen von vornherein ausschließt. Zweitens lassen sich die okklusiven Effekte dieser reductio ad unum nicht durch einen reinen Willensakt beseitigen, vielmehr wirken sie über einen längeren Zeitraum zwischen den Generationen nach und ersticken nicht selten jede moralische, politische und soziale Regung. Das sind die Folgen jener Prozesse, in denen die Subalternen eine Identität verinnerlichen, die für andere maßgeschneidert wurde, für sie aber „unpassend“, unangemessen ist. Sie müssen sich an Identitätskonstruktionen anpassen, die gesellschaftlich anerkannte Eigenschaften aufweisen und unterschiedslos für alle als universales Ziel der Emanzipation festgelegt wurden. Genau diesen Konstruktionen sollen die Subalternen nacheifern; sie sollen sich selbst verbiegen, um sich dem Einheitsmodell anzupassen.
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Die von Charles Taylor beschriebene heteroinduzierte Verzerrung12 ist nur ein anderer Name für die von den gender studies analysierte „unpassende“ Identität oder adaptive Präferenz (adaptive preferences).13 Die Mechanismen, über die sich das Modell verbreitet, beschreiben Prozesse der Verinnerlichung, denn nur durch die mimetische Anpassung können sich die Subalternen im Wettstreit um die sozialen Ressourcen behaupten. Insofern die Kodes zur Klassifikation und Interpretation aller Ebenen und Dimensionen der Wirklichkeit heteronom bestimmt werden, entstehen bereits aus dem Abstand zwischen denjenigen, die die Bedingungen diktieren und denjenigen, die sie erleiden, nachteilige Identitätsvorstellungen für die Untergeordneten. Die dem kolonialen Dispositiv innewohnende konstitutive Ungleichheit im Verhältnis zwischen Herrschern und Beherrschten nicht zu beachten, hat äußerst negative Folgen: es lässt sich nicht mehr beurteilen, inwieweit sich bestimmte Inhalte nicht mehr nur auf das Ambiente des kolonialen Diskurses beschränken, sondern zum Gemeinplatz wurden, zum Spiegel der französischen Gesellschaft und in gewisser, noch genauer zu untersuchender Weise nun auch zum Spiegel der entstehenden Zivilgesellschaft der europäischen polity. 14 Wir brauchen kritische Untersuchungen, in denen durch die Dekonstruktion des Kulturbegriffs die Grenzen der legitimierenden Einteilung in zivilisierte und unzivilisierte Kulturen aufgezeigt werden. Es muss immer wieder betont werden, dass dieser Gegensatz auf einem falschen Postulat basiert, dem zufolge die Unübersetzbarkeit von Kulturen und die Präsenz von kulturellen Gefängnissen als wahr akzeptiert und verbreitet wird. Bekanntlich ist das Postulat eine Behauptung, aus der sich ohne Nachweis die weitere Argumentation ableitet. Dies ist ein gültiges Verfahren in der Mathematik, nicht aber in den Humanund Sozialwissenschaften. In diesem speziellen Fall ist außerdem zu
12 Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, mit Kommentaren von A. Gutmann, S.C. Rockefeller, M. Walzer und S. Wolf; mit einem Beitrag von J. Habermas, Frankfurt am Main: Fischer 1993. 13 Zincone, Giovanna: Uno schermo contro il razzismo, Bologna: il Mulino 1994; Zincone, Giovanna (Hg.): Secondo rapporto sull’integrazione degli immigrati in Italia, Bologna: il Mulino 2001. 14 Costantini, Dino: Una malattia europea. Il „nuovo discorso coloniale“ francese e i suoi critici, Pisa: Plus 2006.
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beachten, dass ein solches Debakel der Argumentationslogik kein theoretischer Defekt ist, der allein auf den rassistischen Ideologien lastet. Der französische republikanische Kolonialismus und seine Widersprüche bilden ein offensichtliches Beispiel für die eben skizzierte Akzeptanz einer dichotomischen Sichtweise, wonach die Grundsätze „meiner“ Kultur nicht in die Begriffe einer „anderen“ Kultur zu übersetzen sind, weil sie sich im Verhältnis zu meiner eigenen noch in einem Stadium der Unreife befindet. Dadurch erschwert sich die Arbeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ebenso wie die der Bürgerinnen und Bürger, die es sich zur Aufgabe machen, das Verdrängte unserer Identität zu enthüllen und darüber aufzuklären. „Un homme à cheval sur deux cultures est rarement bien assis“.15 Das Zitat steht für die These, Kulturen seien in sich abgeschlossene, wechselseitig undurchdringbare Dimensionen. Das Postulat von der Nichtkommunizierbarkeit zwischen den Kulturen kann sogar den Weg zur Naturalisierung kultureller Unterschiede ebnen und im schlimmsten Fall zum Rassismus führen. Der Rassismus ist insofern als eine endemische und ansteckende Krankheit zu definieren, als Kategorien des rassistischen Denkens auch in die Mentalität der Kolonisierten eindringen können. Auch sie werden dazu verleitet, den an den Herrschaftsverhältnissen beteiligten Gruppen bestimmte Charakteristiken undifferenziert und unauslöschlich zuzuschreiben, wobei der eigenen Gruppe bestimmte Merkmale zuerkannt werden, den Kolonisatoren dagegen andere. Die apodiktische Modalität der vermeintlich unwiderruflichen Zuschreibungen ändert sich auch dann nicht, wenn sich die Inhalte und die positiven oder negativen Merkmale der Zuschreibung ändern. Die positiven Werte, die von den Kolonisierten dem zivilen und sozialen Modell, dem Objekt der Nachahmung, zuerkannt werden, bestätigen die Position der Unangemessenheit und der Unmündigkeit, in der sich die Subalternen ihm gegenüber befinden.
15 Memmi, Albert: Der Kolonisator und der Kolonisierte: zwei Porträts, Frankfurt am Main: Syndikat 1980.
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Die Zuschreibungen erfolgen mittels Stereotypen,16 die hier im Sinne ihrer allgemeinen Bedeutung verstanden werden: Die Zuschreibung solcher charakterisierenden und unauslöschlichen Qualitäten auf alle Mitglieder einer entsprechenden Gruppe ist strukturell negativ konnotiert, weil sie statisch, dogmatisch und heteronom ist. Die Zuweisung erfolgt unabhängig von etwaigen gegenteiligen Erfahrungen, da ein der Logik der Stereotypen innewohnendes Prinzip jeden Gegenbeweis entwertet: die Ausnahme bestätigt die Regel. Mit der Zeit verfestigt sich dieser Mechanismus und bedingt die potentiell unbegrenzte Zunahme von sich selbst bewahrheitenden Prophezeiungen. Die konkreten Individuen verinnerlichen und verkörpern manchmal sogar die negative Beschreibung. Die für den Einzelnen und die Gemeinschaft an sich schon schädliche Situation lässt sich auf lange Sicht gesehen immer schwieriger beseitigen, denn sie wird von Mechanismen reproduziert, die darauf abzielen, dass sich die Subjekte den ihnen zugeschrieben Stereotypen mimetisch anpassen. Das spezifische Erkenntnisinteresse der postkolonialen Studien gilt deshalb den Verfahren, mit denen die Opfer die Stereotypen, ihr negatives Selbstbild, verinnerlichen. Durch das Konzept der adaptiven Präferenzen, das bereits als Beitrag der gender studies hervorgehoben wurde, kann die Wechselwirkung, häufig sogar die Kreisbewegung, die die Opfer und die Autoren der schädlichen und verletzenden Handlungen verbindet, genauer definiert werden. Im Folgenden werden die Definition und die Überprüfung dieser Hypothese an konkreten Situationen der Koexistenz unter asymmetrischen Herrschaftsbedingungen näher betrachtet. Das bedeutet auch, von einer Perspektive der Ungleichheit auszugehen, um überhaupt wieder zur Gleichheit zu gelangen.
16 Arcuri, Luciano / Cadinu, M. Rosaria: Gli stereotipi. Dinamiche psicologiche e contesto delle relazioni sociali, Bologna: il Mulino 1998. Im Hinblick auf den politischen Raum und die Identität Europas vgl.: Henry, Barbara: »Constitution, European Identity, Language of Rights«, in: Barbara Henry / Anna Loretoni (Hg.), The Emerging European Union. Identity, Citizenship, Rights, Pisa: ETS 2004, S. 37-57.
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2. U NGLEICHHEITEN
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ABHÄNGIGKEITEN
Unicuique suum tribuere bedeutet, jedem einzelnen Individuum das zu geben, was ihm aufgrund spezifischer Pertinenz und Inhärenz zusteht. Den historisch determinierten Kern dieses Gerechtigkeitsprinzips zu erkennen, erlaubt es, die Bedeutung dieser ursprünglich von Platon stammenden Formulierung, neu zu interpretieren. Auf diese Weise können (familiäre, biologische oder soziale) Abhängigkeiten und Schieflagen, die Platons metaphysische, hierarchische, anti-egalitäre und statische Betrachtung der Beziehungen zwischen den ontologischen, anthropologischen und sozialen Differenzen impliziert, thematisiert und schrittweise überwunden werden. Der durch eine solche Neuinterpretation gewonnene positive Begriff von Gerechtigkeit zeigt, dass sie kontextabhängig ist und sich je nach den konkret gegebenen Situationen innerhalb wechselseitiger Abhängigkeitsverhältnisse manifestiert. Das Kant’sche Prinzip der Spezifizierung hilft bei der Neufassung einer Grammatik der Gerechtigkeit, die, wie bei Wolgast bereits angedeutet,17 im Gegensatz steht zu einer Auffassung vom Subjekt als beziehungslosem, unabhängigem Individuum. Auf der Basis dieser (hier entschieden abgelehnten) atomistischen Sicht der Gleichheit werden die Beziehungen zwischen Individuen allein als Beziehungen zwischen einzelnen, sich selbstgenügenden Subjekten gedacht, die in Bezug auf Gleichwertigkeit und Austauschbarkeit in einem Verhältnis absoluter Parität stehen. Gemäß diesem Prinzip könnten ein Weißer und ein Schwarzer, ein Reicher und ein Armer, ein Katholik und ein Protestant ihren Platz in der Arbeitswelt, beim Sport und innerhalb des intellektuellen und politischen Diskurses tauschen, nachdem sie erst einmal mit der anfänglich erforderlichen Erziehung und Erfahrung ausgestattet worden wären. Dass sich dieses Prinzip nicht so leicht anwenden lässt, zeigt der Bezug auf die Kategorien gender und sex, mit denen die falsche Neutralität der Argumentaton enthüllt werden kann; aber auch der Bezug auf die Öffentlichkeit, in der, zumindest in der westlichen Tradition, die Reproduktions- und Erziehungsproblematik, aber auch alle Fragen der Fürsorge, Liebe und Freundschaft, nicht als sichtbare und wichtige Faktoren betrachtet werden. Zumal in einem derartigen Modell, das fast allen Theorien der
17 Wolgast, Elizabeth Hankins: The Grammar of Justice, Ithaca und London: Cornell University Press 1987.
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rechtlichen Gleichberechtigung zugrunde liegt, jedes Individuum nur sich selbst verantwortlich ist, sein eigener Herr, bindungslos, der Solidarität und Freundschaft nicht bedürftig, aber auch unfähig zu beiden. Diese Sichtweise verdeckt jedoch systematisch all jene durch Krankheit, Minderjährigkeit, asymmetrische Erziehungsverhältnisse, ökonomische, strategische oder affektive Abhängigkeiten gekennzeichneten Situationen, in denen sich jeder Mensch in einer Position der Unmündigkeit oder der Ungleichheit im Verhältnis zu spezifischen „Anderen“ befindet. Doch genau diese Situation beschreibt die Regel. Dieser weit verbreitete Umstand, der die unterschiedlichsten Formen annehmen kann, bedarf jeweils eines besonderen, „passenden“ Eingriffs zur Korrektur und Beseitigung der Hindernisse, die einer freien und gleichberechtigten Entfaltung der Autonomie, der individuellen Möglichkeiten und Fähigkeiten von Männern und Frauen entgegenstehen. Im Sinne dieser Perspektive muss daher bekräftigt werden, dass wir keine Atome sind, sondern uns innerhalb eines Beziehungsgeflechts bewegen. Die Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen (Vater-Mutter; Sohn-Tochter; Mutter-Kind usw.) zeigen sehr deutlich die Besonderheit und Einzigartigkeit, die Unersetzlichkeit der einzelnen Komponenten dieser Beziehungen. Es handelt sich um lebendige Beziehungen, die nicht nur den Intellekt betreffen, sondern Körper, Habitus, Verhaltensweisen und die den Kodex von Beziehungen strukturierende Funktion der Macht. Macht bedeutet nicht nur Unterdrückung, selbst wenn sie das bis zur Vernichtung sein kann, Macht bedeutet vielmehr auch Kreativität. Sie darf nicht ausschließlich als Macht der politischen Institutionen verstanden werden. Sie ist, wie Foucault und Braidotti gezeigt haben, ein pervasives Vermögen, das Geist und Körper der einzelnen Menschen formt, sich in die Handlungen, das Verhalten, in die Lern- und Anpassungsprozesse einschleicht.18 Sie kann die Realität daher nachhaltig stabilisieren oder modifizieren. Wir können uns ihrer bedienen, sobald wir wenigstens teilweise die Techniken und grundlegenden Mechanismen verstanden haben, aus denen die konkrete Macht erwächst.
18 Vgl. Foucault, Michel: Power/Knowledge. Selected Interviews and Other Writings 1972-77, hrsg. von C. Gordon, Brighton: Harvester Press 1980; Braidotti, Rosi: Metamorphoses. Towards a Materialistic Theory of Becoming, Cambridge: Polity Press 2002.
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Unsere Leiblichkeit ist immer auch symbolisch in Szene gesetzt, daher kann sie schmerzhaften und nie endgültig zu definierenden Auslotungs- und Entschlüsselungsprozessen unterzogen werden. Einerseits deutet sich mit dem Bewusstsein, in konkreten, veränderbaren und asymmetrischen Beziehungen verortet zu sein, etwas Positives an, ein Abstand oder ein Übergang, an dem die Macht ansetzen kann. Die Zugänge zu den Machtstrukturen dürfen deshalb nicht dämonisiert, sondern müssen für Veränderungen genutzt werden. Andererseits darf nicht nur die gegenseitige Abhängigkeit betrachtet werden, vielmehr muss die radikale Abhängigkeit als unumgängliche Voraussetzung begriffen werden, um im Bewusstsein der schwierigen Kontexte Veränderungen auszulösen. Kinder sind abhängig von ihren Eltern, insbesondere die Macht der Mutter ist eine Macht über Leben und Tod. Auf dem Janusgesicht der grundlegenden Macht, Leben zu geben bzw. sterben zu lassen, schreiben sich die symbolischen Kodes geschlechtsspezifischer Gewalt ein. Hier fällt die Entscheidung, wer leben darf und wer sterben muss. Diese grundlegende Macht gehört, auch wenn wir das nicht gerne wahrhaben wollen, zum Muttersein und die Ausübung dieser Macht prägt nicht zufällig die adaptiven Präferenzen. In bestimmten Ländern, wie auch in den Randgebieten der westlichen Metropolen, sterben, sobald sich eine Zeit der Knappheit ankündigt, zuerst die kleinen Mädchen, weil die Mütter eine Wahl treffen und ihnen im Wissen, dass den Jungen, den Namensträgern der Familie, Priorität gebührt, verhältnismäßig weniger Nahrung zukommen lassen. Auch die dunklen Seiten der adaptiven Präferenz, wenn die Frauen in einem Prozess, der die Opfer zu Komplizen der Unterdrückungsstrukturen macht, zermalmt werden, müssen nüchtern betrachtet werden. Insofern die Macht über Leben und Tod der Mutter gehört, müssen die Frauen dazu befähigt werden, sie freier und bewusster auszuüben. Bei einer derartigen Komplexität der Beziehungen wird die Macht, an der man teilhat oder von der man ausgeschlossen ist, nicht nur zur Fessel, sondern auch zum Instrument, das eine negative Situation verändern kann, sobald nur die Möglichkeiten der Macht erkannt und die kreativen Öffnungen gewinnbringend eingesetzt werden. Dies möchte ich auf den folgenden Seiten zeigen. Mit Hilfe dieses Ansatzes und den raffinierten Studien des bereits mehrfach erwähnten Poststrukturalismus sollen die gebräuchlichsten, für selbstverständlich erachteten sprachlichen Ausdrücke dekonstruiert werden, die im Hinblick auf die
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Verortung der Individuen in Machtbeziehungen als harmlos gelten. Diese Harmlosigkeit erweist sich dagegen als Fehleinschätzung, wenn man die These teilt, dass Macht symbolisch, definiert und für die Identitäten konstitutiv ist.
3. ADAPTIVE P RÄFERENZEN , D EKONSTRUKTION , GENDER STUDIES Ausgehend von einem bestimmten Kontext sei hier als konkretes Beispiel eine Reitstunde vorgestellt: Der Reitlehrer, der einer gemischten Gruppe von Reitern Befehle erteilt, sollte dabei die cavalieri (ital. Reiter) von den amazzoni (ital. Reiterinnen) unterscheiden.19 Würde er unterschiedslos den Begriff cavalieri gebrauchen, überginge er die Tatsache, dass auch Frauen den Reitsport ausüben. Nur wenige wissen, dass die amazzoni in diesem Sport die Mehrheit ausmachen und bei Wettbewerben beste Platzierungen erreichen. Es stellt sich daher die Frage, warum die Frauen diesem einzigen Fach zugeordnet werden, das doch nur für Männer gedacht wurde, also nicht einmal wirklich neutral ist. Wir könnten die Angleichung der beiden Geschlechter durch den Gebrauch des neutralen Genus akzeptieren, allerdings müssten wir, wenn wir dem zustimmen, zumindest verlangen, dass es sich wirklich um ein neutrales Terrain handelt. Im vorliegenden, scheinbar harmlosen Fallbeispiel, würde hingegen die weibliche Form mit der männlichen identifiziert. Unberechtigterweise schließt der männliche Begriff cavalieri auch die weibliche Komponente ein, er repräsentiert sie auf unkorrekte Weise, d.h. er nimmt einen Platz ein, der ihm nicht zusteht, indem er eine universelle Bedeutung vortäuscht. Weitere Beispiele aus der Linguistik können diese heimtückischen und negativen Verschiebungen in der Bedeutung von Wörtern verstehen helfen. Im Deutschen bezeichnet das Wort Mensch grammatikalisch das „menschliche Geschlecht“. Es wird bewusst als Begriff von universeller Bedeutung gebraucht, wann immer von beiden Geschlechtern gleichzeitig die Rede ist. Den Bibelvers aus der Genesis paraphra-
19 Ich übernehme dieses Beispiel aus meiner persönlichen Erfahrung. Ich führte und führe besonders mit meinen Reitfreundinnen Laura Rossi und Cecilia Castaldi Cuppari sowie mit unserem Reitlehrer Lorenzo Santarini lebhafte Diskussionen über Geschlechterfragen.
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sierend kann man sagen, „als Mann und Frau wurde der Mensch alias das Menschengeschlecht geschaffen“. Auch der Begriff homme bezeichnete ursprünglich das „menschliche Wesen“ und noch heute steht er nicht eindeutig für das „männliche Wesen“. Dennoch absorbierte der Begriff gerade in dieser Bedeutung stillschweigend auch das andere Geschlecht, er steht als einziger Signifikant für zwei verschiedene Signifikate, für Mann und Frau. Der Ort dieser unrechtmäßigen Vereinnahmung war von besonderer, epochaler Bedeutung: Die Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers von 1789 wurde zum Paradigma der Rechtssprache von unvorstellbarer Reichweite. Diese Präzisierung soll die Verschleierung, das implizite Verdrängen, die mechanische Reproduktion eines Herrschaftsdiskurses vermeiden, der das Denken strukturiert und keine Möglichkeit für verfängliche Nachfragen zum Status quo zulässt. Anlässlich einer Vorlesung oder eines Kongresses dringt beispielsweise die Tatsache, dass Studentinnen, dass Frauen in geringerer Zahl anwesend sind, nur selten ins allgemeine Bewusstsein. Eine rein männliche Zuhörerschaft, umso mehr noch ein allein mit Rednern besetztes Podium, erregt keinerlei Verwunderung, es erscheint normal, man versteht nicht, warum es anders sein sollte. Umgekehrt werden die – sehr seltenen – Versammlungen, auf denen nur Frauen anwesend sind, mit großem Erstaunen aufgenommen. Diese Normalisierung und Naturalisierung der Beziehungen vermag die Kategorie der epistemischen Gewalt, wenn man sie in diesem spezifischen und angemessenen Fall gebrauchen will, anzuzeigen.20 Man sollte jedoch nicht vergessen, dass die Kategorie der epistemischen Gewalt, wenn ihre Dimensionen und ihre erschreckend weite Verbreitung verabsolutiert werden, auch für diejenigen zu einer theoretischen Falle werden kann, die diese Situation verändern möchten. Zu Recht wird beispielsweise Spivaks Position die Frage entgegen-
20 Der Ausdruck verweist auf die Normalisierung der Herrschaft, auf die Tatsache der völligen Durchdringung und ihre kognitive, perzeptive und symbolische Verinnerlichung durch die Subalternen. Vgl. hierzu Spivak, Gayatri Chakravorty: »Can the Subaltern speak?«, in: Cary Nelson / Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana and Chicago: University of Illinois Press 1988, S. 271-313; außerdem Spivak, Gayatri Chakravorty: A Critique of Post-Colonial Reason: Toward a History of the Vanishing Present, Harvard: Harvard University Press 1999.
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gehalten, wie die Subalternen sprechen können. Geht man – mit Spivak – davon aus, dass sie von der herrschenden Nomenklatur und ihren Kategorisierungen vollständig bestimmt werden und deshalb keine kritischen und reflexiven Fähigkeiten besitzen, müsste man ausschließen, dass sie sich mit ihren ursprünglichen Stimmen zu Wort melden können. Diese Art der Argumentation erwächst aus derselben Wurzel wie der Dualismus von zivilisierten und nicht zivilisierten Kulturen. Trotz ihrer Kritik an der epistemischen Gewalt scheint Spivak in einigen ihrer Formulierungen den Dualismus zu reproduzieren, wonach es Herrscher und Beherrschte gibt und letztere auf definitive und stereotypische Weise auf ihr Unterdrücktsein festgelegt werden. Trotz aller Bemühungen fehlt Spivak offensichtlich die Kohärenz, um die von Kritikern dieses Ansatzes beschriebene kulturelle Dynamik, Osmose, Interrelationalität, aber auch Konflikte zu akzeptieren. Der Theorie der Subalternität kann man entgegengehalten, dass der Dualismus, wonach die Subalternen subaltern sind und es ohne Eingriffe von außen auch bleiben, zurückgewiesen werden muss, insofern er sich nur innerhalb des Bezugsrahmens Kolonisatoren/Kolonisierte realisiert. Dagegen können durch Beziehungen, Interrelationalität und Auseinandersetzungen Dinge verändert werden. Ein latenter oder offener Konflikt kann dazu führen, dass die Vorstellung einer scheinbar automatischen Reproduktion der Unterwerfungsstrukturen in Frage gestellt wird. Umgekehrt beinhaltet die Vorstellung der Unantastbarkeit dieser Strukturen auch von Seiten der postkolonialen Autoren eine weit reichende Anmaßung. Es zeugt von Arroganz anzunehmen, die Subalternen seien arm, ausgestoßen und vom Schicksal zum Opfer bestimmt; unfähig zu reagieren oder eigene Projekte zu verwirklichen, weil sie immer irgendwelcher von außen kommender Hilfe bedürften, die ihnen zu sprechen erlaubt. Das Problem liegt anderswo: Wenn die Subalternen mit ihrer eigenen Stimme sprechen würden, könnten sie die Theoretiker der Subalternität nicht verstehen, weil sie die Möglichkeit dieses Ereignisses nicht in Betracht ziehen. Dabei sollte man sogar vermeiden das Paradigma der Herrschaft tout court auf die verschiedenen Typen von Beherrschten zu übertragen. Die Beherrschten oder wenigstens bestimmte Gruppen von ihnen könnten in der Lage sein, für sich selbst zu sprechen oder sprechen zu wollen. Es besteht folglich die Gefahr, den Dualismus mit umgekehrten Vorzeichen zu wiederholen: der Kolonisierte wird dabei von denjenigen, die ihn „retten“ wollen, in seiner
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eindimensionalen, statischen, für Veränderungen undurchdringlichen Position niedergehalten. Hier liegen die Grenzen dieses theoretischen Ansatzes, d.h. einmal mehr werden die Beherrschten, wenngleich im Namen ihrer Befreiung, von außen zu einer heteronomen Definition ihres Selbst „verurteilt“. Auf diese Weise wird die Nomenklatur immer von Anderen entschieden und das Eingeständnis verweigert, dass die Wirklichkeit anders sein könnte. Umgekehrt hat niemand das Recht zu behaupten, es gäbe die universale Definition von Herrschaft, die überall und in jeder Situation gilt. Daraus folgt, dass man ohne große Verallgemeinerungen und Dualismen arbeiten und stattdessen einen wirksamen und kapillaren Prozess der Dekonstruktion beginnen müsste. Von innen heraus zu arbeiten bedeutet vor allem wie Clifford Geertz den Mut zu haben, ausgehend von der kritischen, partiellen und vorläufigen Diskussion eines Fragments in Situationen einzudringen, ohne dabei eine vorgefasste Definition des Fragments selbst abzugeben.21 Das bedeutet weiter, sich einzugestehen, dass die Fragmente sich von selbst herausbilden können und dass von der Hypothese auszugehen ist, unser Urteil bezüglich der epistemischen Gewalt könnte unilateral, fehlbar und dynamisch sein. Andernfalls wird die epistemische Gewalt erneut zu einem kolonialen Diskurs, dann besteht die Gefahr, dass Emanzipationsprojekte entworfen werden, die die Subalternen nicht wollen. Wir müssen akzeptieren, dass sie sie ablehnen, nicht weil sie sie nicht verstehen, weil sie rückständig sind und erst noch aufgeklärt werden müssen, sondern, weil sie sehr wahrscheinlich andere Widerstandsformen einsetzen oder eine Vorstellung davon haben, wie es sein könnte, die für uns undenkbar ist. Nicht zufällig wird darauf hingewiesen, der Art und Weise, in der sich Frauen mehr oder weniger an die adaptiven Präferenzen anpassen, besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Man darf sich nicht täuschen lassen: Widerstand, Formen kleinster Resistenz werden häufig von Frauen in Szene gesetzt. Sie agieren dabei hinter der Maske des patriarchalen Diskurses, den sie von innen heraus entleeren, indem sie ein Mikrosystem aus autonomen Kreationen und marginalen, aber
21 Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983.
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immerhin weiblichen Identitäten eines bestimmten Typs erschaffen.22 Es handelt sich um Formen einer „Sabotage aus dem Inneren“. Die Möglichkeit auszuschließen, dass subalterne Gruppen, insbesondere Frauen, fähig sind, einen Schutzschild und eine für sie negative Figur strategisch zu nutzen, erweist sich als epistemische Anmaßung. In vielen Fällen akzeptieren Frauen nach außen hin bestimmte Situationen, höhlen sie aber gleichzeitig von innen heraus aus. Diejenigen, die sich mit dem Thema der adaptiven Präferenzen beschäftigten,23 haben der Behauptung, es existiere zwischen den Sprachen eine wechselseitige Nichtkommunizierbarkeit, widersprochen. Martha Nussbaum hat in diesem Zusammenhang ein Beispiel geliefert: Wenn Inderinnen mit der Sprache der Menschenrechte in Kontakt kommen und man ihnen zeigt, dass diese Sprache „funktioniert“, so benutzen sie diese Sprache als Instrument im Kampf gegen die Unterdrückung.24 Es macht demnach keinen Unterschied, ob von den Menschenrechten oder der Menschenwürde die Rede ist, in den meisten Fällen bedienen sich die Frauen, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer be-
22 Bartoli, Clelia: »Subalternità, rappresentazioni sociali e rappresentanza politica«, in: Ragion pratica 2 (2004), S. 547-572. 23 Einige feministische Wissenschaftlerinnen, die über das Konzept der Subalternität hinausgingen, sprechen in Bezug auf die Frauen nicht von subalternen Gruppen, sondern von „moralischen Minderheiten“. Auf diese Weise wird die quantitative Seite des Minderheitenproblems beseitigt. Die Frauen sind nämlich rein numerisch die Mehrheit. Es handelt sich daher nicht um ein Problem numerischer Minderheit, sondern um moralische Minderheit. Die moralische Mehrheit ist die herrschende Gruppe, die die Verhaltensmodelle diktiert. Diese Modelle dulden keinen Widerspruch, sind absolut unumstößlich. Jeder weiß, dass das so ist und keiner zweifelt es an. Die moralische Minderheit bildet hingegen jene Gruppe, die durchaus sehr zahlreich sein kann, sich aber aus jenen Menschen zusammensetzt, die hinsichtlich der Gesamtheit der Identitätsmerkmale der Mehrheitsgruppe sich entweder nicht anpassen wollen oder können. Die Diskussion um das Konzept der sogenannten adaptiven Präferenzen gehört aus der Sicht der Feministinnen demnach einer Vorstellung an, wonach die moralische Minderheit jene Gruppe darstellt, die in Bezug auf das herrschende Modell mit dem Etikett der Minderwertigkeit behaftet ist. 24 Nussbaum, Martha: Women and Human Development: The Capabilities Approach, New York und Cambridge: Cambridge University Press 2000.
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stimmten Kultur, vielfältiger theoretischer Waffen, insofern diese ihnen erlauben, freier zu sein. Andererseits kann man auch zu dem Schluss kommen, dass es nicht möglich ist, sich aus allen Zusammenhängen zu emanzipieren, weil es unmöglich ist, sich einer gewissen „Opazität“, bestimmten Konditionierungen und einer unbestreitbaren Materialität zu entziehen. Wahr ist, dass nicht allen Opfern der adaptiven Präferenzen für immer die Opferrolle zukommt, wahr ist aber auch, dass man sich nie definitiv aus allen verzerrten und negativen Selbstbildnissen befreien kann. Sozialpsychologinnen sprechen in diesem Zusammenhang von einer Plastizität und Pervasivität der Veranlagungen, der moralischen Verhaltensweisen, der Art, wie wir uns selbst gewöhnlich im Spiegel sehen. Nicht alle adaptiven Präferenzen lassen sich immer vollständig ausschalten, denn es ist keine Frage der Rationalität, vielmehr geht es um das Problem, Teil eines Körpers zu sein, der ein symbolischmateriales, historisch-gesellschaftliches Konstrukt ist, das zwar veränderbar ist, allerdings nur langsam und nicht ohne Schmerzen. Dennoch bieten die gender studies immerhin den Vorteil, schädliche Verabsolutierungen – „Revolution oder Stillstand“ – zu unterlaufen. Weil empirische Untersuchungen gezeigt haben, dass unterdrückte Frauen häufig in der Lage sind, die Sprache des Rechts und der Emanzipation strategisch zu nutzen, erkennen sie ihnen einen Überschuss an Realismus und kontextbezogener Weisheit zu. Die Sprache der Emanzipation wird von den Frauen selbst eingefordert, sobald sie erkennen, wie sie mittels dieses Konglomerats aus Prozeduren, Kodes, Regeln, Symbolen und Praktiken ihre eigene Lebenssituation verbessern können. Alle verfügbaren Mittel sollten deshalb genutzt und anerkannt werden, ohne einem Purismus zu erliegen oder in Dualismen zu verfallen. Wenn es nicht gelingt, eine synkretistische Haltung einzunehmen, gibt man die wahre Emanzipation preis, d.h. die Emanzipation konkreter Subjekte – Männer, Frauen und Kinder – in realen Zusammenhängen. Die verschiedenen Situationen müssen mit den unterschiedlichsten Erkenntnis- und Interpretationsdispositiven, Übersetzungen und Transpositionen, analysiert werden. Nur so kann überprüft werden, ob eine Sprache des Rechts eingeführt werden kann und die Opfer der Unterdrückung einen ihnen angemessenen Gebrauch von ihr machen können. In vielen Fällen lässt sich leicht nachweisen, dass diese Sprache bereits existiert und von geschädigten, jedoch nicht wehrlosen Subjek-
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tivitäten genutzt wird, wenngleich auf unerwartet andere Art und Weise. Um eine erkenntnistheoretische Sensibilität zu fördern, die für die Veränderungen und die Vielgestaltigkeit der Unterdrückungen und Emanzipationen empfänglich ist, müssen Fallstudien und Innenansichten analysiert werden, entsprechend der von den englischen cultural studies in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts realisierten Arbeiten, die mit ihrer Forschungsrichtung den kulturellen Besonderheiten erstmals wissenschaftliche Würde und Relevanz verliehen. Das Besondere muss wirklich als solches hervortreten, nicht innerhalb einer übergeordneten Definition, die es verschleiert, sondern so, dass alle noch so mikroskopischen Bestandteile, aus denen es sich zusammensetzt, wissenschaftliche Dignität erlangen oder wenigstens erlangen können. Man kann deshalb nicht unbedingt davon ausgehen, dass die Regionalisierungen, die großen Systeme und strukturellen Angaben die Wahrheit beinhalten. Man muss eher den Fragmenten eine Stimme geben und beispielsweise auch die Herausforderung annehmen, dass Abschlussarbeiten den Titel tragen „Interkulturelle Ordnungen in einem mehrheitlich von Pakistanern bewohnten Wohnblock in der Gegend von Elephant & Castle in London“. Diese Studien sind erst möglich, seitdem Anthropologen, Ethnographen und die Fürsprecher der Kulturwissenschaften angefangen haben, das Einzelphänomen zu legitimieren und die Anmaßung aufgaben, a priori im Besitz gesicherter Erkenntnisse zu sein. Es geht nun darum, ein geeignetes Untersuchungsfeld einzugrenzen, das mit möglichst streng nachprüfbaren Mitteln von innen heraus analysiert werden kann. Das birgt selbstverständlich auch die Gefahr, unterschiedlichste Fehler zu begehen. Diese Vorgehensweise führt darüber hinaus zu keinem festen Ergebnis, das Resultat ist vielmehr einer Reihe von Veränderungen ausgesetzt, die zwar mit reflexiver und rekursiver Strenge nachprüfbar sind, die aber nicht nur epistemischer, sondern ebenso impressionistischer und emotionaler Natur sind und aus der Beziehung außenstehender Subjekte zu einer anderen Kultur und deren Angehörigen hervorgehen. In der Sprache gibt es die Grammatik, die Syntax und die Pragmatik, wobei letztere den lebendigen Gebrauch der ersten beiden aufzeigt und analysiert. Die reflexiv kontrollierte soziale Praxis konfiguriert sich im Verhältnis zur Theorie der Sozialwissenschaften. Die Praxis wird somit zum Schauplatz der neuen wissenschaftlichen Forschung. Die wichtigste Lehre der Praxis besteht darin, dass sie,
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wenn sie zur Pragmatik der lebendigen Sprache wird, gleichzeitig Objekt und Untersuchungsfeld der Erkenntnis wird. Das erfordert eine unendliche Zahl von Fallstudien und Mikrountersuchungen, denen eine eigene Dignität zugesprochen werden muss. Jede vorbestimmte Konstruktion muss dagegen als epistemische Gewalt begriffen werden. Das heißt freilich nicht, dass man keine bereits bestehenden Begriffe benutzt, sondern, dass man zugibt, sie zu benutzen und bereit ist, sie kritisch auseinanderzunehmen oder zurechtzurücken. Für diese Art der Forschung gibt es keine universell gültigen Rezepte. Man kann jedoch auf eine Form von kontextbezogenem und praktischem Wissen oder praktische Urteile zurückgreifen und daraus beispielhaft ablesen, wie man in bestimmten Zusammenhängen arbeiten kann. Diejenigen, die sich unbewaffnet und mit der Bereitschaft zum Zuhören in einer fremden Kultur aufhielten, können zweifellos eine Modalität des Verhaltens lehren. Ihre Beispiele gelten jedoch nicht in allen Situationen, sie sind narrativer Natur, d.h. sie wollen nicht verallgemeinern, sondern auf Differenzen, auf besondere, reale Situationen aufmerksam machen, die miteinander verbunden sind und ständiger Veränderung unterliegen. Auch wenn man von dieser Bescheidenheit seitens des Beobachters ausgeht, muss man umgekehrt davon ausgehen, dass eine ebenso „demütige“ Aktivität innerer Erosion existiert, d.h., dass nicht alle Formen des Widerstands der Subalternen eklatant sind, „aufständisch“, wie jüngst der sogenannte arabische Frühling in Tunesien und Ägypten. Es gibt beispielsweise interessante Widerstandsformen im Jemen oder in Afghanistan, denen sehr originelle Fallstudien gewidmet wurden. Diese Studien konnten zeigen, dass sich die jemenitischen Frauen schon lange weibliche Freiräume für Kritik und Widerstand geschaffen haben, obwohl sie einer Vollverschleierung unterworfen sind. Sie begründeten ein Netzwerk, das den Kontakt zu internationalen Vertretern und Beobachtern verschiedener NGOs herstellte. Auch die globale Verbreitung von handwerklichen Produkten der Ethnomode, ein Nischensektor mit hoher Nachfrage, wird von Frauenunternehmen in Afghanistan organisiert. Diese Frauen begannen ihre Arbeit, um ökonomische Unabhängigkeit zu erreichen. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit ist zwar nicht alles, aber sie können damit eine weniger subalterne Position einnehmen und fallen weniger leicht in die Opferrolle. Selbst wenn sie von ihren Männern verlassen würden, wären sie in der Lage, sich und ihre Kinder selbst zu versorgen und müssten nicht die spezifische, oft letale häusli-
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che und familiäre Gewalt akzeptieren. Die wirtschaftliche Selbständigkeit ist freilich nicht die Lösung schlechthin, aber immerhin eine der möglichen Lösungen. Afghanistan und Jemen sind zwei Beispiele, in denen es paradoxerweise trotz der von den Frauen erlittenen Unterdrückung aller Art interessante Handelsaktivitäten von Frauenunternehmen gibt, die funktionieren und Bestätigung aus dem Ausland erfahren. Es entstehen zunehmend transversale Verbindungen: Nichtregierungsorganisationen, internationale Institutionen und zurückkehrende Emigranten schaffen eine Vielfalt an Instanzen und Machtpositionen. Diese Vielfalt muss von einer Forschung, die an emanzipativen Prozessen interessiert ist, berücksichtigt werden, ohne deshalb die einheimische Sichtweise einer bestimmten Realität ex antea gutzuheißen. Wenn ich eine Metapher für diese Forschungspraxis vorschlagen müsste, wäre es die der Reise zu einem idealen, unbekannten Ort. Diese metaphorische Reise verlangt Bescheidenheit seitens des Reisenden, der darauf verzichtet, seine eigenen Ansichten zu äußern oder aufzudrängen. Es ist die Bescheidenheit eines Menschen, der sich in ein weit entferntes Land begibt, dessen Kultur ihm fremd ist, dort ein Jahr lang nichts spricht, sondern sich darauf beschränkt, zuzuhören. Diese Art, sich den Ereignissen und Situationen zu nähern, ist tatsächlich das Gegenteil der epistemischen Gewalt. Diese Haltung fordert dem Reisenden allerdings einiges ab: er muss versuchen, sich auf die Innenwahrnehmung zu konzentrieren, sich anregen zu lassen, er darf die Situationen nicht nur intellektuell erfassen, sondern auch infolge seiner eignen Positionierung und seines eigenen Handelns; gleichzeitig bleibt ihm grundsätzlich die Möglichkeit der Verweigerung, er muss sich nicht mimetisch anpassen. Es handelt sich nicht nur um eine moralische Bescheidenheit, eher um eine grundsätzliche erkenntnistheoretische Haltung. Es wäre wünschenswert, zu einer gehaltvollen, nicht nur suggestiven Dimension der Hermeneutik zurückzufinden, zu einer akroamatischen Hermeneutik des Zuhörens. Die Position des Zuhörens müsste als besondere qualitative Forschungsmodalität neu entdeckt werden. Es ist die Position des Schülers, der dem Meister zuhört, ohne selbst zu sprechen. Er befindet sich dabei in einer lebendigen, obgleich einseitigen Kommunikationssituation, die aber von geteilten Regeln zeitlich und kontextbezogen begrenzt wird. Da wir als Angehörige der herrschenden Erzählung notwendigerweise den übergeordneten Blick und die Symbole der Nomenklatur besitzen, müssen wir, wenn sich unsere Studien der lebendigen, fremden Welt zuwenden, vermeiden,
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unserer Perspektive auf eine spezifische Realität vorrangigen Kredit zu geben. Wir müssen den klassifizierenden Blick senken, abwenden und uns an erster Stelle auf das Zuhören vorbereiten. Unser Verhalten muss primär dem eines Konzertpublikums gleichen: es rumort und applaudiert nicht, sondern hört in respektvoller Stille zu, solange die Meister, denen wir vorübergehend eine privilegierte Position in der musikalischen Kommunikation zusprechen, ihre Partitur spielen und interpretieren. Das Altgriechische schenkt uns die beiden Begriffe ακροαστής und ακουσμαστικός (akroastes und akousmastikos). Insbesondere der zweite Begriff wurde von der pythagoreischen Schule als echte didaktische Praxis eingesetzt, die über mehrere Jahrhunderte, weit über ihren Ursprungskontext hinaus, zum überlieferten Kodex gehörte. Die ακουσματικοί (akousmatikoi) waren Schüler eines für alle zugänglichen Kreises, sie folgten weder den Ernährungsvorschriften noch den ethischen Regeln der engeren Mitglieder. Sie beschränkten sich darauf, den Lehren der Meister (die eher als Meister des Lebens, denn als Meister für den Erwerb von Kenntnissen wirkten) ein aufmerksames Ohr zu schenken. Die Bedeutung des ersten Begriffs, ακροαστής (akroastes), ist weiter als es im ersten Augenblick scheinen mag. Ursprünglich verweist er auf den Schüler, der sich darauf vorbereitet, durch Zuhören zu lernen. In späteren Jahren weitet sich der Verwendungsbereich, sowohl der pragmatische als auch der literarische und juristische Gebrauch des Wortes ακροαομαι (akroaomai) deutet später darauf hin, dass es nun auch in der Bedeutung von „urteilen“ verwandt wird. Derjenige, der spricht, ist mit der Aufgabe des Lehrens betraut. Er lehrt, weil er Autorität genießt, weil er ein privilegierter Zeuge ist. Derjenige, der seinen Reden folgt, ist ein betroffenes, teilnehmendes Subjekt. Diese erweiterte Semantik beinhaltet die Idee, sich – kontrolliert durch eine reflexive und rekursive Methode – von den Sprachen und den von ihnen ausgehenden Gefühlen mitreißen zu lassen. Diese Gefühle werden im Kontakt mit Lebenswelten verfeinert, die sich von der eigenen unterscheiden und die Gesetzen folgen, die nicht notwendigerweise einer kodifizierten, mehr oder weniger natürlichen Lexikographie bedürfen. Diese vorgeschlagene methodische Fähigkeit unterscheidet sich im Grunde nicht von einer intellektuellen Redlichkeit. Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler müssen von der Voraussetzung ausgehen, dass Phänomene anders sind, als ursprünglich angenommen. Zu Lösungen gelangt man, so darf
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man hoffen, am Ende eines Prozesses. Zeitweilig zu einem ακροαστής (Zuhörer) zu werden, ist keine endgültig festgelegte Ausrichtung.
Das Gender-Prisma zwischen Identität und Alterität A NNA L ORETONI
1. V ERSCHIEDENHEIT
IST KEIN
D EFIZIT
In der 1982 veröffentlichten Arbeit von Carol Gilligan Die andere Stimme bildet das Herzstück der Überlegungen eine dekonstruierende Strategie, die die Theorie der Entwicklung des moralischen Urteils von Lawrence Kohlberg in Frage stellt.1 Gilligan verschiebt den Blickwinkel auf die Fähigkeit der Theorie, eine Verschiedenheit, die nicht mehr als Defizit, sondern als Alterität gelesen wird, einzubeziehen. Damit regt sie eine Strategie der ‚Ausweitung des Blicks‘ an, die sich kritisch auf die Tradition des liberalen Individualismus bezieht. Sie schlägt – im Zuge ihrer vehementen Kritik an Kohlbergs Entwicklungsmodell einer androzentrisch verzerrten praktischen Vernunft – eine Ethik der Fürsorge vor, die in der Lage ist, sich von der Abstraktheit der moralischen Urteilsbildung sensu Kohlberg zu distanzieren, dem Kontext und der Bewertung der Konsequenzen moralischer Entscheidungen größere Aufmerksamkeit zu widmen sowie in den Akteuren konkrete Individuen und keine ‚unbestimmten‘, erfahrungs- und empfindungslosen Träger von Rechten zu sehen. Damit plädiert Gilligan für eine Auseinandersetzung mit der abstrakten Neutralität und leeren Abstraktheit einiger Züge des modernen Individualismus. Sie beginnt
Aus dem Italienischen übersetzt von Monika Pelz. 1
Gilligan, Carol: Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau, München: Piper 1984.
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dabei mit einem sehr wesentlichen Aspekt dieses Individualismus, nämlich mit der Beziehung zwischen (personaler) Identität und Alterität. Gilligans Arbeiten zur Geschlechterdifferenz im Bereich moralischen Denkens gehen zunächst einmal davon aus, dass die Identität einer Person nicht vollständig festgelegt ist. Personen leben zwar unter vielfältigen Bedingungen, die ihre Freiheit begrenzen, haben aber auch Wahlmöglichkeiten und Spielräume, ihre Identität selbständig und selbstbestimmt zu gestalten. Anders als gewisse liberale Traditionen der politischen Philosophie betonen Gilligans Studien jedoch nicht bloß die enge Verbindung von Autonomie, Selbstkontrolle und Identitätsbildung – jene Struktur also, die tief in die Genealogie des modernen Subjekts eingeschrieben ist. Zugleich stellen sie nämlich die Bedeutung des Anderen für die Entwicklung des Selbst und seiner moralischen Urteilsfähigkeit heraus. Gilligan gehört zu jenen Wissenschaftlerinnen, die monadologische, solipsistische Theorien des Selbst bzw. der Identität frühzeitig durch einen andere Personen einschließenden Ansatz ersetzten und dabei vom (historischen) Faktum einer bestehenden, viele Lebensbereiche durchdringenden Geschlechterdifferenz ausgingen. Solche Autorinnen interpretierten die Beziehung zwischen dem Selbst und den Anderen als einen stetigen und beständigen Austausch. Dabei unterstellen sie keinerlei lineare Bewegung, die von der Einheit (zunächst von Mutter und Kind) hin zur unabwendbaren Trennung und letztlich zur Individualisierung der einzelnen, autonomen Person führte, sondern ein immer neu auszubalancierendes und zu definierendes Gleichgewicht zwischen den beiden Momenten der Konstruktion der Selbst-Identität und der Wahrnehmung der Alterität in Gestalt anwesender Anderer. Laut Jessica Benjamin erscheint die Hypothese einer linearen Entwicklung des Ichs auf dem Weg einer sukzessiven Ablösung und Trennung von Anderen nur dann überzeugend, wenn man von der Annahme ausgeht, das die Abhängigkeit von Anderen die eigene Autonomie bedroht und das Selbst kompromittiert.2 Wenn jedoch die Anerkennung seitens des Anderen ebenso wichtig ist wie die Selbstbehauptung, muss man festhalten, dass jedes Mal, wenn das Subjekt „ich bin, ich mache“ sagt (und entsprechend handelt), es automatisch die Antwort „du bist, du hast gemacht“ erwar-
2
Vgl. Benjamin, Jessica: The Bonds of Love. Psychoanalysis, Feminism, and the Problem of Domination, New York: Pantheon 1988.
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tet. Dieses Wechselspiel stellt einen Prozess dar, der die Logik der Identität und Alterität eng miteinander verknüpft. Da die gender studies seit ihren ersten Anfängen das Verhältnis zwischen dem Selbst und dem bzw. den Anderen ins Zentrum ihrer Überlegung stellen, teilten sie von vorneherein gewisse Einstellungen des Multikulturalismus. Das betrifft erstens und vor allem den unvermeidlichen Bruch mit jedem monolithischen und monologischen, starren und ‚neutralistischen‘ Konzept der individuellen Identität. Zweitens gibt es die besagte Nähe aufgrund der Ablehnung der für den Individualismus charakteristischen Entwertung des Anderen, die der Multikulturalismus vielfach mit dem Problem einer mangelnden öffentlichen Anerkennung einer Vielzahl von Identitäten in Verbindung gebracht hat (z.B. der Identitäten von Minderheiten). Allerdings trennt die in den gender studies vorherrschende theoretische Position auch so manches von multikulturalistischen Ansätzen. Die konkreten Identitäten und ihre sozialen Kontexte wurden in feministischen und verwandten Konzeptionen nicht nur als Orte der Selbstverwirklichung, sondern immer auch als Orte der Unterdrückung und Diskriminierung aufgefasst. Diese (speziell auf Geschlechterverhältnisse gerichtete) kritische Perspektive führte sehr schnell zu einer Distanzierung vom Multikulturalismus.3 Den grundlegenden Aspekt dieser kritischen Absetzung seitens der gender studies kann man in der Notwendigkeit sehen, auf analytischer Ebene die autoritären und paternalistischen Dynamiken innerhalb kultureller Gruppen zu erfassen. Diese zeigen sich im hier interessierenden Feld besonders klar in der unterdrückenden Gestaltung des häuslichen Raumes, und zwar oftmals gerade im Rahmen einer (multikulturalistischen) Politik der Differenz, die die neutralistische Voraussetzung der liberalen politischen Theorie in ihren Fundamenten angreift. All das lässt sich etwa an den Überlegungen Charles Taylors zeigen, die der Autor gleich auf den allerersten Seiten seiner bekannten Arbeit über das Problem der Anerkennung anstellt.4
3
Okin, Susan Moller: Is Multiculturalism Bad for Women?, hrsg. von J. Cohen, M. Howard, M. Nussbaum, Princeton: Princeton University Press 1999.
4
Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, mit Kommentaren von A. Gutmann, S.C. Rockefeller, M. Walzer und S. Wolf; mit einem Beitrag von J. Habermas, Frankfurt am Main: Fischer 1993.
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Die Gefahr für die Geschlechtsidentität liegt, ähnlich wie im Fall der Identität von Minderheitenkulturen, in der auf die fehlende Anerkennung und Wertschätzung folgenden Unterdrückung. Der öffentliche Raum ist im Allgemeinen wenig ‚gastfreundlich‘, er lässt wenig Platz für Andere und zielt auf Vereinheitlichung des Heterogenen. Das betrifft sowohl diejenigen, die im Rahmen einer Politik der Differenz eine minoritäre kulturelle Position artikulieren und durchsetzen möchten, als auch diejenigen, die sich dem Druck einer mimetischen Anpassung im Zeichen einer (vermeintlich) allgemeinen Identität aus anderen Gründen energisch verweigern. Eine überzeugende Theorie der (Geschlechter-)Differenz muss sowohl das Risiko mangelnder Anerkennung und der damit verwobenen Missachtung von Anderen betonen, als auch die Möglichkeit in Rechnung stellen, dass in öffentlichen Diskursen ein entwürdigendes Bild von differenten Anderen gezeichnet wird, das manchmal dazu führt, deren praktische Benachteiligung und faktische Unterlegenheit theoretisch ‚widerzuspiegeln‘, zu stabilisieren und zu ‚verinnerlichen‘. Der Multikulturalismus bietet für die feministische Kritik an patriarchalischen Gesellschaften eine Vielzahl wertvoller Argumente, die allerdings auch ihre Risiken bergen. Erst in der Auseinandersetzung mit dieser komplexen Argumentationslage kann eine theoretische Perspektive heranreifen, die geeignet ist, sich von einer von außen aufgezwungenen Identität loszusagen, zu befreien. Dieser Vorgang bildet auch in der Gender-Debatte einen notwendigen Schritt, um bloß repräsentierende Repräsentationen der eigenen Subalternität (von Frauen) zu überwinden. Festzuhalten ist: Die Anerkennung der kollektiven Rechte jener Gruppen, die eine besondere Beachtung und Behandlung zu ihren Gunsten gefordert haben, kann sich bei kritischer Betrachtung durchaus als überhastet erweisen. In manchen Fällen birgt sie nicht zu vernachlässigende Gefahren. Auf dem Prüfstand steht hier die Idee multikultureller Staatsbürgerschaft selbst. Vielfach wird gegen diese Idee nämlich eingewendet, sie sähe über den patriarchalen, autoritären und diskriminierenden Charakter vieler Kulturen allzu ‚großzügig‘ hinweg und unterschlage die Nöte und Probleme, denen besonders Frauen und Kinder in solchen Kulturen
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ausgesetzt sind.5 Auch in diesem Punkt erwies sich die GenderPerspektive als sehr produktiv und öffnete der aktuellen theoretischpolitischen Reflexion neue Horizonte. Das ist bis heute so: gender studies beleuchten, Arm in Arm mit der kritischen Reflexion über kollektive Identitäten und identitätspolitische Strategien, die fragwürdige Liaison zwischen der Konstruktion ‚der‘ weiblichen Identität und jener Idee individueller Unabhängigkeit und Getrenntheit, mit der die liberale Tradition die Unterscheidung zwischen ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ interpretiert. In diesem Zusammenhang wenden die gender studies einfach nur jene Entlarvungsstrategie auf andere Kulturen an, die bisher auf die kritische Dekonstruktion der liberal-demokratischen Tradition selbst abzielte. Sie decken nämlich die Verfahren auf, durch die das Rechtssystem in ein bestimmtes Verhältnis zur Familie gerät. Das Recht betrachtete den häuslichen Raum bekanntlich lange Zeit als einen ‚Raum für sich‘, als eine Sphäre jedenfalls, die (weitgehend) außerhalb juristischer Kontrolle steht. Die im Zeichen des Liberalismus vorgenommene Konstruktion ‚familiärer Privatangelegenheiten‘ trug dazu bei, die patriarchale Macht über Ehefrauen und Kinder zu festigen. Der Raum der Familie wird demgemäß als Naturzustand oder als Reich der Notwendigkeit, als Bestandteil der physis auch, konzipiert und bewahrt.6 Damit wurde und wird die Trennung der öffentlichen und privaten Sphäre stabilisiert und vorangetrieben. Diese Teilung erst erlaubt es, die Familie nicht als Teil der im öffentlichen Raum situierten sozialen Welt zu denken, sondern sie von den Ereignissen und Entwicklungen just in dieser Welt zu isolieren. Sie verhindert nicht zuletzt Einsichten in die tiefen Widersprüche zwischen einer ‚äußeren‘, öffentlichen Welt, in der der Gleichheitsgedanke anerkannt ist und durchgesetzt wird, und einer ‚inneren‘, familären und privaten Sphäre, in der offensichtlich Bedingungen der Ungleichheit herrschen und das Geschlechterverhältnis geradezu konstituieren. All das wirft nicht zuletzt Fragen auf, die die Familie, die traditionell kaum einer theoretischen Reflexion für wert befunden wurde, nun mit ins Zentrum der Theorie-
5
Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship, Oxford: Oxford University
6
Die einschlägigen Überlegungen von S. Moller Okin zu diesem Thema
Press 1995. finden sich in ihrem wichtigen Werk zur Familie: Justice, Gender and the Family, New York: Basic Books 1989.
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debatte rücken können.7 Allerdings gibt es auch diesbezüglich ganz verschiedene Standpunkte und politisch-philosophische Ambitionen. Es ist bekannt, dass die bis zur Verherrlichung reichende Aufwertung der Mutterrolle dazu dienen kann, die Strategie der Privatisierung der Familie zu stärken. Damit wird sie von jenem Raum des Marktes getrennt, welcher sich vor allem im Zuge der industriellen Revolution als eine zunehmend von einer individualistischen Ethik durchtränkte Sphäre etablierte. In der Familie hingegen strebt der und schon gar nicht die Einzelne nicht nach ökonomischem Gewinn oder anderen individuellen Vorteilen in einer von Konkurrenz geprägten Praxis. Die Vorstellung, die Familie sei eine geschützte und zu schützende Privatsphäre einer von der Gesellschaft abgeschotteten Gemeinschaft, macht aus dem Familienleben einen Raum der Selbstaufopferung, der Fürsorge und Verantwortung, kurz: der gutwilligen Kooperation ohne jeden Wettbewerb. Gilligans Theorie einer geschlechtsspezifischen Entwicklung und Eigenart moralischer Urteile passt zu dieser Sicht der Dinge – jedenfalls überall dort, wo die Familie als Domäne der Frauen gilt. Die Stoßrichtung der um (diagnostizierte oder postulierte) Geschlechterdifferenzen kreisenden politischen Philosophie und Politik ist klar: Zumindest einige wichtige und starke Elemente einer altruistischen Ethik sollen die Lücken füllen, die der Solipsismus und Egoismus der Einzelnen im moralisch verfassten Leben der Angehörigen liberaler Gesellschaften hinterlassen hat. Das klingt auf den ersten Blick vielleicht ganz gut und sympathisch und ist doch eine ambivalente Angelegenheit. Eine öffentliche (Sozial-)Politik zum Beispiel, die mehr auf die Familie als ganze als auf den Schutz der individuellen Rechte ihrer einzelnen Mitglieder abzielt, arbeitet nicht selten der Wiederkehr oder Reproduktion von Bedingungen in die Hände, unter denen Subalternität als ein existentieller Modus für einen Teil der Subjekte innerhalb der Familie gedeihen kann. Die Frauen werden in solchen Verhältnissen zu ‚familiären Subalternen‘. Das Recht legt die Grenzen, Möglichkeiten und Modalitäten der familiären Beziehungen fest, bestimmt die ‚Natur‘ der Ehe einschließlich der Bedingungen, unter denen eine Scheidung möglich ist (falls sie überhaupt möglich ist). Es präfiguriert das Verhältnis zwi-
7
Hierzu erlaube ich mir den Hinweis auf meine Arbeit: »Stato di diritto e differenza di genere«, in Danilo Zolo / Paolo Costa (Hg.), Lo Stato di diritto. Storia, teoria, pratica, Mailand: Feltrinelli 2002, S. 406-423.
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schen den Ehepartnern ebenso wie deren Beziehungen zu ihren Kindern. Offenkundig ist in einer Familie so gut wie nichts ‚natürlich‘ oder vor-politisch. Das bedeutet, dass die politische Philosophie und alle mit ihr verwandten, mit ihr kommunizierenden und kooperierenden Wissenschaften in das ‚Innere‘ schauen müssen – also sich in jene Gefilde begeben müssen, welche als Privatangelegenheiten traditionell auch aus dem Blickfeld theoretischer Reflexionen und empirischer Studien geraten waren. Der Begriff gender entfaltet bis heute eine eindrucksvolle Kraft, die viele unumkehrbar sensibilisiert hat. In dieser Perspektive eröffneten sich auch für Theorien der Gerechtigkeit (und verwandte Ansätze), die die Problematik der Gleichheit innerhalb der Familie ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen, neue Reflexionsräume.
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UND
K ULTUR
Die dynamische Beziehung zwischen Identität und Alterität ist ein echter Kreuzungspunkt für theoretische, auf Geschlechterbilder und Geschlechterverhältnisse ausgerichtete Überlegungen. Solche Reflexionen müssen auf Tuchfühlung gehen mit den beachtenswerten semantischen Verschiebungen, die den Begriff der Kultur in den vergangenen Jahrzehnten verwandelt haben. Kultur wird heute – jedenfalls in den hier interessierenden Zusammenhängen, also auch im vorliegenden Beitrag – nicht mehr einfach nur als ein fester Bestand aus Sprache und (irgendwelchen) Traditionen definiert. Kulturen sind vielmehr niemals unabhängig von konkreten Geschlechterverhältnissen bestimmbar. Letztere sind ein integraler Bestandteil einer jeder denkbaren Kultur. Kultur und Geschlecht sind – begrifflich-theoretisch und praktisch-empirisch – interdependent. Die häusliche Sphäre und die gerade auch dort verhandelten Themen und behandelten Probleme, die um das Leben und den Tod, Ehe und Scheidung, Sexualität und Fortpflanzung, Kinder und Erziehung kreisen, stehen unweigerlich unter dem Einfluss der strukturierenden Kraft von Geschlechterverhältnissen. Das gilt analog für alle Aspekte der Kultur. Kultur erscheint in dieser (dekonstruktiven) Perspektive als das, was sie ist: eine historische und soziale Konstruktion, nicht aber ein unumstößlicher Fahrplan der Natur.
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Dieser Punkt führt unvermeidlich zu einer bereits betagten Debatte. Die relativistische Hypothese widerstreitet bekanntlich der Auffassung, alle Kulturen seien durch das gemeinsame Band eines ‚Universalismus der Rechte‘ miteinander verwoben. Relativistische Ansätze halten kulturelle Identitäten für ‚unteilbar‘ (jedenfalls in ihrem je individuellen Kern). Die hier anschließbare Definition von Alterität folgt dem damit verknüpften Essenzialismus oder Substanzialismus. Wie die Identität wird auch die Alterität im Sinne einer Wesenslehre ausgelegt, eben eines „Essentialismus der Alterität“8 interpretiert. In Arbeiten von Taylor ist das überdeutlich. Es sei festgehalten, dass nicht allein die (kommunitaristische) Position des Multikulturalismus problematisch erscheint, sondern auch ihr theoretischer Widersacher keineswegs vorbehaltlose Zustimmung verdient. Die Kritik an der liberalen Tradition weckt ebenfalls berechtigte Zweifel. Dennoch treffen die liberalen Einwände gegen die multikulturalistische Vision einen wesentlichen Punkt. Sie reflektieren nämlich die Gefahr, am Ende einen öffentlichen Raum aus lauter kulturellen Enklaven vorzufinden, die wie in sich gekehrte und gegenüber einander abgeschottete Monaden nebeneinander her leben. Diese multikulturalistische Idee verspielt jenen besonderen Kern aller ‚Modernität‘, welcher die Fähigkeit – von Individuen und minoritären Gruppen innerhalb einer Kultur – zum Dissens und Protest gegenüber den kulturellen, sozialen, politischen und religiösen Institutionen zur Geltung bringt. Gerade die spezifisch moderne Idee (personaler und gruppenspezifischer) Identität wird von den Anwälten essentialistisch konzeptualisierter Kulturen und ihrer vorgeblichen Sonderrechte untergraben, ja ausgehöhlt. Moderne Identitäten basieren auf dem reversiblen Projekt- und Wahlcharakter eines jeden identitätsstiftenden Lebensentwurfs. Sie leben davon, dass alle potentiell in der Lage sind, Alternativen (auch zum Eigenen, Vertrauten) zu entwerfen und sogar eine ‚Gegen-Identität‘ zu erkunden und zu vertreten. Im Hinblick auf die soziale Umgebung innerhalb der eigenen Kultur gilt jedenfalls: alle Einzelnen haben potentiell die Möglichkeit (und als Moderne ausdrücklich das verbriefte Recht), Dissens auszudrücken und, wenn nötig, Abtrün-
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Zur Debatte zwischen Universalismus und Relativismus siehe Tedesco, Francescomaria: Diritti umani e relativismo, Rom und Bari, Laterza 2009. Zur Problematik des Essentialismus der Alteritäten verweise ich auf: Pirni, Alberto (Hg.): Logiche dell’alterità, Pisa: ETS 2009.
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nigkeit in die Tat umzusetzen.9 Häufig wird der dynamische Charakter des Verhältnisses zwischen offenen Identitäten und Alteritäten nicht angemessen unterstrichen. Diese definieren sich nämlich in einem komplexen Wechselspiel um und neu, wieder und wieder. Und sie setzen sich in einem hermeneutischen Prozess, der das teilweise stets unterbestimmte oder unbestimmte Selbst-Verständnis des Ichs und seines Verhältnisses zum Nicht-Ich näher zu klären sucht, mit sich und ihrer Welt auseinander – und sie setzen sich im Zuge dieser permanenten ‚Auseinander-Setzung‘ stets aufs Neue, in wechselnden Gestalten, als ‚mit sich identische‘ Personen (und integrierte Gruppen) wieder zusammen. Ungleichheit und Unterdrückung von Frauen (und Kindern) nehmen in verschiedenen Kulturen bekanntlich besondere Formen an. Wenn und so lange Ungleichheit und Unterdrückung zugleich ein (alle) Kulturen strukturierendes Faktum ist, ziehen theoretische Ansätze, die eine ‚Kultur‘ naturalistisch als biologische Gegebenheit konzeptualisieren und als vorrangiges Gut interpretieren, das es im Bedarfsfall zu schützen und zu stabilisieren gilt, zu Recht Kritik auf sich. Die (heutzutage auch in diesem Feld dominierende) konstruktivistische Option definiert Kultur als ein ‚geteiltes Gemeinsames‘, das durch die soziale Praxis der Zuschreibung von Bedeutungen konstituiert wird. Eine Kultur ist ein praktisch fungierender Komplex, in dem sich Werte, Prinzipien und Regeln, die aus den beständigen Interaktionen zwischen den Individuen (und Institutionen) hervorgehen, zu einem Weltbild bzw. einer Weltanschauung verbinden.10 Wenn die Nation selbst, wie von Benedict Anderson vertreten,11 eine „imagined community“ ist, erscheint auch Kultur als etwas Konstruiertes, als etwas ‚fließendes Künstliches‘, zu dessen Definition die Handelnden im
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Zu einer kritischen Überarbeitung des Multikulturalismus unter dem Aspekt der Identität siehe Henry, Barbara / Pirni, Alberto: La via identitaria al multiculturalismo, Soveria-Mannelli: Rubbettino 2006.
10 Zu diesem Thema vgl. Song, Sarah: Justice, Gender and the Politics of Multiculturalism, Cambridge: Cambridge University Press 2007; Phillips, Anne: Multiculturalism without Culture, Princeton: Princeton University Press 2007; Phillips, Anne: Gender and Culture, Cambridge: Polity Press 2010. 11 Anderson, Benedict: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso 1991.
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öffentlichen Raum in verschiedener Weise beitragen. Daraus folgt, dass (noch immer) nicht allein eine Verlagerung unseres Verständnisses von „Kultur“ notwendig ist, die auf Anregung des Multikulturalismus von der (dominierenden Mehrheits- oder) Einzelkultur zu einer Pluralität der Kulturen führt. Die kulturellen Erscheinungsformen sind zugleich auch viel stärker und konsequenter als früher als Ergebnis von komplexen historischen und sozialen Prozessen aufzufassen. Sie sind eben keine unumstößlichen, statischen ‚Ur-Einheiten‘, sie sind keine harmonischen Gefilde, sondern intern von Differenzen und Konflikten durchzogene Konstellationen, die nicht zuletzt in permanentem Austausch mit anderen Kulturen stehen und sich in dieser Relationalität stabilisieren oder verändern. Eines der charakterisierenden Elemente aller Kulturen ist gerade ihre Durchlässigkeit (deren Grad freilich erheblich variieren kann). Daher erscheint die Forderung nach einer Überlebensgarantie für alle Kulturen (mit ihrem unvermeidlichen biologischen Beigeschmack) prekär. Im Fall von Kulturen gibt es letzten Endes keinen ‚Artenschutz auf dem Verwaltungsweg‘. Selbst wenn Kulturen in die Richtung eines definitiven Kollapses abdriften sollten, ist das noch kein unbedingter Grund, diesem Vorgang Einhalt zu gebieten (von den Möglichkeiten einer erfolgreichen Intervention ganz abgesehen). Die zuletzt angestellten Überlegungen setzen eine nicht-essentialistische Definition von Kultur voraus. Die vorgeschlagene Begriffsbestimmung weicht von jenem statischen Bild der Kulturen ab, das aus der Perspektive des Multikulturalismus, etwa in Taylors Ansatz, einfach ganz ‚natürlich‘ erscheint – an dem aber auch liberale Konzeptionen wie diejenige eines Kymlicka durchaus festhalten können. Im Einklang mit der hier lediglich angedeuteten Analyse der Begriffe „Identität“ und „Kultur“ wandten sich viele Autorinnen aus dem Feld der gender studies in kritischer Absicht jenen Konzepten des Multikulturalismus zu, die Kulturen mittels visueller Metaphern als Einheiten begreifen, die wie ein Mosaik aus bunten Steinchen koexistieren können, jeweils versehen mit sicheren und eindeutigen Grenzen im Inneren und nach außen hin. Hinter der Hypothese eines komplexen und dynamischen Dialogs zwischen den Kulturen steht hingegen die an akustischen Erfahrungen orientierte Vorstellung einer beständigen Interaktion zwischen vielen Stimmen, die aus ‚uns‘ und den Anderen permanent etwas Neues hervorgehen lassen. Die Individuen selbst sind in ständiger Konversation
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und in eine kreative Praxis verstrickt, die potentiell Neues schafft. Das Modell der Identitätsbildung, das solchen Gedankengängen zugrunde liegt, ist sowohl auf individueller als auch auf Gruppen-Ebene dynamisch und ‚offen‘. Seine Merkmale sind der freiwillige ‚SelbstBeitritt‘, die Freiheit der Individuen also, sich zusammenzutun, ihre Freiheit zum Ausstieg aus der Zugehörigkeit sowie ihre prinzipiell offene und dynamische Beziehung zur Alterität.12
3. E INE NEUE KONZEPTIONELLE K ARTOGRAPHIE : ABHÄNGIGKEIT UND B EHINDERUNG Stellt man die gender-spezifische Dimension ins Zentrum der Überlegungen, bringt das radikale Modifikationen in der konzeptionellen Landkarte mit sich. Betrachtet man die Beziehung zwischen Identität und Alterität und geht dabei von aus, dass Menschen bedürftige Lebewesen sind, die zeitlebens von Anderen abhängig sind, ist die überlieferte Vorstellung der politischen Philosophie (und verwandter Disziplinen) nur noch eingeschränkt zu gebrauchen. Das vermag keine abstrakte Rhetorik der Gleichheit aller vor Recht und Gesetz zu vertuschen. Es tut Not, den Blick einer Theorie auszuweiten, die manchmal einfach unfähig war und ist, die tatsächlichen Bedingungen zu begreifen, unter denen Personen gemeinhin leben und handeln. Diese kritische theoretische Strategie prangert mithin das ‚steuerlose Dahindriften‘ an, das zum liberalen Formalismus und Individualismus einer (allzu) abstrakten politischen Theorie gehört. So lassen sich wirkliche Positionen und der Status von Frauen schwerlich ändern. Frauen leben in konkreten sozialen Umfeldern, die auch die abstrakteste Theorie zu berücksichtigen hat. Um eine effizientere und vollständigere Theorie der Gerechtigkeit zu entwickeln, muss man von (auch geschlechtsspezifischer) Ungleichheit ausgehen sowie die anthropologische Dimension der Abhängigkeit und das Bedürfnisses nach Fürsorge in den Mittelpunkt der Reflexion stellen.13
12 Auf den zuletzt genannten Aspekt legt Gewicht: Benhabib, Seyla: The Claims of Culture. Equality and Diversity in the Global Era, Princeton: Princeton University Press 2002. 13 Vgl. Nussbaum, Martha: Women and Human Development: The Capabilities Approach, New York und Cambridge: Cambridge University Press
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Dieser Perspektivenwechsel führt nicht zuletzt zu einer größeren Aufmerksamkeit für den Kontext moralischen Denkens und Handelns. Wer eine zwar schon von Gilligan nahegelegte, zugleich aber von der wichtigen Kritik am essentialistischen und naturalistischen Multikulturalismus belehrte Position einnimmt, lässt jede rein formale Ebene der Betrachtung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit hinter sich. Er oder sie setzt den Akzent nicht zuletzt auf die deutlich komplexere und ambivalentere Dimension der indirekten Diskriminierungen, der unmerklichen Stereotype und der symbolischen Gewalt. Iris Marion Young sah in der Unterdrückung ein unerlässliches strukturelles Element der hier interessierenden Theorien. Die Grenzen des methodologischen Individualismus, der den philosophisch-politischen Diskurs dominiert, werden gerade in Youngs Ansatz verdeutlicht. Dieser stellt klar heraus, wie bei der Konstruktion der Identität die Realität der Gruppen bestimmend ist, eine Realität, die als Umwelt wirkt, in denen die Lebensbedingungen der Individuen maßgeblich von den Anderen geprägt werden. An Youngs Argumentation ist besonders interessant, dass die Bedingtheit und Abhängigkeit des Individuums – die Tatsache mithin, dass sich das Individuum in herrschende Signifikate hineingestellt sieht, die ‚von anderswo‘ herkommen und just so wahrgenommen werden –, oft mit Stereotypen und subalternen Vorstellungen zu tun haben. Diese produzieren einen verachtenden Blick auf das Selbst, sind also alles andere als neutral. Formen der Unterdrückung wie Ausnutzung, Marginalisierung, Machtentzug, kultureller Imperialismus und physische Gewalt verknüpfen sich und überlagern sich im Inneren der sozialen Umgebungen. Sie stellen theoretisch wichtige Gesichtspunkte dar und müssen analytisch berücksichtigt werden. Nur so kann man den wirklichen Status der Individuen begreifen. Individuen erleiden als ‚Gefangene‘ einer kollektiven Lebensform, die von Ungleichheiten bestimmt ist, nicht nur materielle Verluste bei der Verteilung der Güter, sondern auch eine vielfältige, oft unsichtbare und daher viel heimtückischere symbolische Gewalt. All dies siedelt sie im unteren Teil der sozialen Hierarchie an. Die erniedrigenden Erfahrungen werden selbst dann, wenn sie keineswegs völlig bewusst sind, klar artikuliert und reflektiert werden, von den Betroffenen auch in ihren kognitiven Aspekten verinnerlicht
2000; Kittay, Eva: Love’s Labor: Essays on Women, Equality and Dependency, New York und London: Routledge 1999.
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und als gültige Wirklichkeitsinterpretationen übernommen. Der oder die Subalterne läuft so Gefahr, selbst jenen Kodex der Macht und Herrschaft zu bestätigen, die ihn oder sie zu einem oder einer Anderen haben werden lassen. Er oder sie teilt jene Repräsentationen dieser Anderen, welche die Herrschenden durchgesetzt und in die Selbstdarstellungen der Subalternen eingeschrieben haben.14 Um diese heute von vielen akzeptierte Argumentation zu stärken und die damit kritisierte Realität zu attackieren, mithin das Konzept der (vermeintlichen) Gleichheit zu dekonstruieren, ist es mehr denn je notwendig, die Rolle derjenigen zu untersuchen, die sich lange Zeit allenfalls am Rande der Analyse befanden. Neben den seit Jahrzehnten ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückten Frauen sind das mehr und mehr andere marginalisierte Gruppen, z.B. Menschen mit Behinderungen. Damit gerät die Verantwortung einer Ungleichheit und Ungerechtigkeit reproduzierenden und bisweilen sogar subtil rechtfertigenden Politik noch genauer ins Blickfeld. Die Neuverteilung der bislang vielen Gruppen verweigerten Möglichkeiten sowie ganz allgemein die Beseitigung von Hindernissen, die Partizipationschancen ebenso untergraben wie Möglichkeiten der Selbstentfaltung, werden demgemäß zu einer allgemein wichtigen Aufgabe. Das Geschlecht von Frauen und Mädchen gilt ebenso wie eine körperliche oder geistige Behinderung nicht mehr länger als natürliche Tatsache, die irgendeine Form von benachteiligender Behandlung rechtfertigen könnte. Nussbaum vertritt als eine von vielen den heute geläufigen Standpunkt, dass Frauen oder Mädchen nicht als biologische Wesen (in irgendeiner Hinsicht) grundsätzlich unfähiger seien als Männer, sondern dass allenfalls ihre soziale und familiäre Stellung ihre Entwicklung einschränkt. Das allerdings ist bekanntlich seit jeher der Fall und bis heute alles andere als bloße Vergangenheit. Ihre Einkapselung in der Familie und die ihnen dort zugewiesene Rolle lässt – im besten Falle – eine Art von vor-politischer weiblicher Staatsbürgerschaft zu. Sie zwingt die Frauen, Bürgerinnen in einem ziemlich limitierten Sinne zu werden, nämlich genau so weit, wie es ihre familiäre Einbindung und der damit verwobene Status eben zulassen. Im schlimmsten Falle verhindert die Reduktion auf die Familien-
14 Ich verweise auf den Aufsatz von Barbara Henry in diesem Buch: »Asymmetrien im Spiegelbild. Repräsentationen des Selbst und des/der Anderen«.
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und Mutterrolle die Entwicklung von wichtigen Fähigkeiten und führt zu einer Versagung der Anerkennung und Würde von Frauen.15 Die Politik hat sich (in lokal variablem Ausmaß) in vielen Ländern bekanntlich der Aufgabe angenommen, im Bedarfsfall gegenzusteuern. Auch die Sprache des Rechts wurde entsprechend angereichert und differenziert. Viele politische Institutionen und Initiativen tragen dem skizzierten normativen Anspruch Rechnung, unterstützen die Potentiale von Personen und übernehmen kooperativ jene Aufgaben, welche Nussbaum als zentrale Pflichten der politischen Gemeinschaft bezeichnet: sie erweitern die Freiheitsräume jeder und jedes Einzelnen, indem deren Handlungspotentiale – und nicht das Funktionieren des Systems und der inkludierten Personen selbst – gefördert werden. In Nussbaums Modell der ‚aristotelischen Sozialdemokratie‘ haben die Personen innerhalb eines weiten Horizonts von Handlungs- und Lebensoptionen die Wahl, wobei eine Art anti-paternalistischer Kanon maßgeblich ist. Die Ziele des individuellen Handelns können nach Nussbaum nicht dauerhaft von der politischen Gemeinschaft angeregt und unterstützt werden, ohne von der Tatsache auszugehen, dass Männer und Frauen freie Akteure sind, die persönliche Entscheidungen treffen. Die Freiheit, an die Nussbaum denkt, hat also einen speziellen Beiklang: Der besondere Mehrwert der ‚kombinierten Fähigkeiten‘ eines jeden freien Individuums liegt in der Überschreitung „adaptiver Präferenzen“ und Prinzipien der individuellen Nutzenmaximierung. Die Perspektive des subjektiven Utilitarismus selbst wird kritisch beurteilt, da sie einen gefährlichen Bund mit den vom Kontext aufgezwungenen Einschränkungen eingehen kann und somit alle kreativen Potentiale untergräbt und motivierende Erwartungen herunterschraubt, ungeachtet bestehender Möglichkeiten und Chancen. Nussbaums Begriff von Freiheit erweitert zweifellos den Raum für die „positive Freiheit“16 und zeigt gleichzeitig Grenzen jedes Konzepts von Freiheit auf, das Freiheit lediglich als Abwesenheit von Hindernissen auslegt. Diese
15 In der Einleitung der italienischen Ausgabe des Werks von Martha Nussbaum entwickelt Chiara Saraceno diese Argumente auf überzeugende Weise: Saraceno, Chiara: »Introduzione«, in: Martha Nussbaum: Giustizia sociale e dignità umana, Bologna: il Mulino 2002. 16 Zu den beiden Formen von Freiheit, der negativen und der positiven, siehe: Berlin, Isaiah: Freiheit: vier Versuche, Frankfurt am Main: Fischer 2006.
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Auffassung reicht offenbar nicht aus, um die internen Spannungen einer Identität zu berücksichtigen, in der das (soziale) Geschlecht von Menschen in einen offenen Kontrast zur Macht der Tradition geraten kann. Eine solche theoretische Perspektive kritisiert den Standpunkt des liberalen Utilitarismus und spricht von einem „falschen Bewusstsein“, das sich in überzogener Weise am Nutzen ausrichtet. Sie bringt eine größere Komplexität und gesteigerte Dynamik in das Verhältnis sozial geprägter und positionierter Individuen einerseits, ihrer Fähigkeit zur Interpretation der eigenen Interessen, Bedürfnisse und Möglichkeiten andererseits. Dabei ist unbestritten: Die Grenzen, die Personen von einer Umwelt gezogen werden, welche bestimmte Gruppen unterdrückt, abwertet und diskriminiert, können von den Betroffenen nur mit Mühe überschritten und verändert werden. Kulturelle Kodes können massiv einschränkende Wirkungen entfalten. Wenn Frauen zugestanden wird, den Blick über das bereits Gegebene hinaus zu richten, dann muss man weiter gehen, als immer wieder nur den eigenen, bislang und noch heute identitätsstiftenden Weg abzuschreiten. Man muss auch gefestigte Zugehörigkeiten herausfordern können, obwohl sie Sicherheit und Schutz gewähren. Das Individuum muss seine Potentiale und schlummernden Fähigkeiten unabhängig von den aufgezwungenen Grenzen einschätzen und bewerten. Es muss auch gegen diese Grenzen vorgehen und aus den Käfigen der ihm zugeschriebenen Zugehörigkeiten ausbrechen können.
4. N OCHMALS :
INDIVIDUELLE
R ECHTE
In Ansätzen wie demjenigen Nussbaums kommt den potentiellen Fähigkeiten von Individuen eine wichtige Rolle zu. Sie erkennen in diesem Potential einen Widerstand im engmaschigen Netz einer Macht, die den Individuen ein festgefügtes, kollektives oder gemeinschaftliches Leben ‚einzuverleiben‘ trachtet.17
17 Zu diesem speziellen Aspekt erweist sich der Gedankengang von Ignatieff als interessant, obwohl er nicht auf gender studies ausgerichtet ist: Ignatieff, Michael: Die Politik der Menschenrechte, übers. von I. Utz Hamburg: Europäische Verlags-Anstalt 2002.
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Hier geht es nun sicherlich nicht darum, die konsolidierten Begriffe der Tradition des liberalen Individualismus erneut hervorzukramen. Vielmehr sollte (im Anschluss an verschiedene und vielfältige Traditionen auch in der Philosophie) ein ‚neues‘ Konzept des „Individuums“ vorgeschlagen und entwickelt werden (was hier natürlich nicht mehr zu leisten ist). Ganz grob lässt sich sagen, dass dabei vor allem folgende bekannte Facetten einbezogen werden müssten: neben der Rationalität des Individuums müsste all das bedacht werden, was den Menschen mit anderen Tieren verbindet; sein Status prekärer Abhängigkeit und seine konstante Beziehung zu den Anderen sind ebenfalls wichtige Stichwörter in diesem Zusammenhang; eine Ethik der Fürsorge, die ihre Aufmerksamkeit der konkreten Dimension der Alterität schenkt, ist schließlich unabdingbar. Eine zeitgemäße Theorie des Individuums müsste bereits bei der Untersuchung der Ausgangssituation nicht nur die „freien, gleichen und unabhängigen“ Individuen beachten, sondern auch jene konkrete Personalität mit einbeziehen, deren physische, psychische und speziell kognitive Kompetenzen den Rahmen der ‚gegebenen Normalität‘ sprengen (können). Dabei richtete sich der Blick nicht allein auf die kooperative Praxis friedlichen Zusammenlebens, sondern ebenso auf konfliktträchtige Asymmetrien. Wenn eine Theorie diese Bedingungen berücksichtigte, könnte sich die Untersuchung konkreter sozialer Welten auf die Bedürfnisse und Abhängigkeiten, die von Menschen permanent oder zeitweise empfunden werden, ausdehnen und sie im Licht einer Theorie der Gerechtigkeit betrachten, die eine andere, neue Verteilung von Gütern, Ressourcen und Chancen nahelegt.18 Die Alterität ernst zu nehmen und ihren dynamischen Charakter im Verhältnis zur Identität zu unterstreichen, ist wichtig und notwendig, bewahrt uns allerdings nicht vor Kritik. Skeptische Anmerkungen zu diesem Thema kamen und kommen nicht zuletzt von Vertreterinnen eines nicht-okzidentalen Feminismus. Sie werfen dem europäischen und nordamerikanischen Feminismus vor, auf die Anderen (außerhalb der sog. westlichen Welt) einen ziemlich paternalistischen und ethnozentrischen Blick zu werfen. Im Gegensatz zur westlichen Kultur, in
18 Eva Kittay schlägt vor, das Bedürfnis nach Fürsorge auf die Liste der primären Güter von Rawls zu setzen. Hierzu siehe: Nussbaum, Martha: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, Berlin: Suhrkamp 2010.
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der das politische Prinzip der Gleichheit der Geschlechter sich nach und nach durchgesetzt habe, würden die anderen Kulturen so betrachtet, als ob sie sich in einem einheitlichen und abgeschlossenen Raum befänden, eingesperrt und homogenisiert, ohne innere Konfliktsituationen und abweichende Stimmen – fernab von ‚emanzipatorischen‘ Bewegungen.19 Die von Okin selbst vorgenommene Darstellung der anderen Kulturen scheint im Übrigen weder lokale Traditionen des Widerstandes, noch indigene feministische Bewegungen oder lokale Quellen des politischen Protests einzubeziehen. Damit läuft man in der Tat Gefahr, die nicht-westlichen Kulturen aus weiter Ferne und von oben herab zu betrachten. Diese Sichtweise lässt die am wenigsten erfreulichen Züge jener patriarchalischen Haltung, die der liberalen Kultur seit langem anhaften, wieder aufleben. Wenn wir unsere Überlegungen so strukturieren, dass wir auf monolithische, starre und vereinfachende Weise einen liberalen Westen vom Rest der Welt unterscheiden, setzt dies eine statische Auffassung des bzw. der Anderen voraus, die sie kurzerhand in eine Welt ohne Zeit und Geschichte verbannt. Eine derartige Sicht der Dinge verneint die Fähigkeit der Anderen zu innerer und eigenständiger Veränderung. Geben wir den Individuen gegenüber der Gemeinschaft den Vorzug – im Sinne der oben erinnerten Kritik an den ein wenig rigiden und konservativen Varianten des naturalistischen Multikulturalismus – unterstützen wir also Männer und Frauen als Individuen, dann sind wir verpflichtet, ihnen die Möglichkeit zur Reform der eigenen Tradition, die Fähigkeit zum Ausdruck ihres Dissenses und zum Bruch mit der Gemeinschaft, der sie angehören, zuzugestehen. Nur wenn man den Blickwinkel der Individuen, gerade auch der schwächsten unter ihnen, einnimmt, nur wenn man ihre Teilnahme am öffentlichen Leben erleichtert, kann man die Menschen aus den möglicherweise einengenden und gewaltförmigen Maschen der Tradition befreien und den reformerischen Kräften, die sich innerhalb der verschiedenen Kontexte aus der ihnen aufgenötigten Subalternität befreien wollen, eine Stimme verleihen. Die These, die Taylor bezüglich der allen Kulturen zustehenden Anerkennung formuliert, kann sich unversehens in einen konservativen Schub verwandeln und eine essentialistische Sichtweise der
19 In diese Richtung gehen die Überlegungen von Homi K. Bhabba e Bhikku Parekh, beide in: S.M. Okin: Is Multiculturalism Bad for Women?
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Alterität nähren. Das alles würde zu Lasten der Fähigkeit der Individuen gehen, Abstand und Dissens gegenüber den Werten, Prinzipien und Normen auszudrücken, die in die Definition der ihnen jeweils zugeschriebenen Identität eingehen. Es würde ihnen die Möglichkeit zur Veränderung kultureller Lebensformen verweigern. Es ist evident: alle hier versammelten Argumente laufen auf eine erneuerte Theorie zu, die die individuellen Rechte hoch hält, ohne lediglich an der individualistischen Perspektive der liberalen Tradition zu kleben. Das erneuerte Konzept des Individuums biedert sich keinem ‚antiliberalen Gegenmodell‘ an und hält Distanz gegenüber den Fallstricken der falschen Abstraktheit des individualistischen Liberalismus.20
5. S CHLUSSBEMERKUNGEN Die hier vorgestelltenen Überlegungen stellten eine von den gender studies inspirierte (oder diesen zugehörige) politische Theorie in den Fokus. Ihr Kern könnte als eine zweigliedrige Bewegung zusammengefasst werden. Es wurde dafür plädiert, auf der einen Seite den Liberalismus gegenüber der Alterität gastfreundlicher zu machen, ohne dadurch die Würde und die Rechte des Individuums zu opfern. Sodann sollte auf der anderen Seite eine sehr zwiespältige Landung an den Gestaden naturalistisch interpretierter kollektiver Rechte vermieden werden. Kritik und Dissens gegenüber den vielfältigen Formen der Macht können die Handlungsfähigkeit von Männern und Frauen stärken. Individuen sollten auch fortan in die Lage versetzt werden, ihre eigenen Identitäten und Zugehörigkeiten – soweit dies prinzipiell und im konkreten Fall eben möglich ist – selbstständig zu wählen. Parallel dazu müsste die Gestaltung des öffentlichen Raums die Koexistenz und die Erhaltung der verschiedenen Identitäten – genderspezifische, politische und kulturelle – ermöglichen, ohne die Menschen lebenslang zwangszuverpflichten (als Angehörige dieser oder jener Kultur). Den
20 Hierzu, zur Suche nach dem neuen Individualismus, die in jedem Fall innerhalb der liberalen Tradition stattfindet, siehe Habermas, Jürgen: »Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat«, in: C. Taylor: Multikulturalismus, S. 147-196; sowie Marramao, Giacomo: La passione del presente, Turin: Bollati Boringhieri 2008.
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Einzelnen muss die Möglichkeit gelassen werden, von anderen Traditionen zu lernen und auf diese Weise ihrem eigenen identitätsstiftenden Weg einen authentischen, weil stets erneuerbaren und faktisch immer wieder revidierten Charakter zu verleihen. Kann dieses Plädoyer vielleicht die emanzipatorische Kraft der liberalen Ideale intensivieren, indem sie diese Ideale in einer radikaleren und zugleich offeneren Version vorschlägt? Die letzte Antwort auf diese Frage wird mit Sicherheit nicht ausschließlich in der Theorie gegeben werden. Vielmehr wird sie ihre Antwort durch die tatsächliche Fähigkeit der liberalen Demokratien erhalten, den mitspielenden Akteuren einen öffentlichen Raum anzubieten, der die Möglichkeit einer stetigen Neudefinition ihrer Interessen, Werte und Weltanschauungen zulässt. Wenn öffentliche Räume Orte des Austausches, des Aushandelns und der Argumentation sind, Orte einer Bewegung also, in der Identitäten auch in stabilen Beziehung angefochten, in einen neuen Kontext eingefügt, verändert und ausbalanciert werden können, dann kann eine Neuinterpretation der eigenen identitätsstiftenden Zugehörigkeiten für Männer und Frauen nicht nur eine grundlegende Aufgabe bilden, sondern zu einer Ausübung ihrer Freiheit werden.
„Von Aussen Denken“ François Jullien und die Repräsentation des Anderen H EIDRUN F RIESE
Aber das Eigene muß so gut gelernt seyn, wie das Fremde. FRIEDRICH HÖLDERLIN Auf die Schiffe, ihr Philosophen! FRIEDRICH NIETZSCHE Holz lautet ein alter Name für Wald. Im Holz sind Wege, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören. Sie heißen Holzwege. Jeder verläuft gesondert, aber im selben Wald. Oft scheint es, als gleiche einer dem anderen. Doch es scheint nur so. Holzmacher und Waldhüter kennen die Wege. Sie wissen, was es heißt, auf einem Holzweg zu sein. MARTIN HEIDEGGER
Philosophen, so scheint es, sind stets unterwegs. In der Antike wandeln sie im Peripatos, sie wandern (wie Friedrich Nietzsche oder Martin Heidegger), sie flanieren (wie Franz Hessel und Walter Benjamin),
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sie bewegen sich durch den Raum, über Land und auf Holzwegen, durch die Stadt, über das Meer. Denken ist Aufbruch, Abenteuer, Gefahr – Irrungen, Scheitern und Schiffbruch nicht ausgeschlossen. Philosophen machen sich auf, verlassen das lähmende Bekannte und das aus unterschiedlichen Motiven. Fluchtartig – „alles also war mir zuwider“1 – bricht beispielsweise Johann Gottfried Herder 1769 zur See nach Frankreich auf, fragt bereits in seinem Reisejournal nach dem „Ursprung des Menschengeschlechts, der Erfindungen und Künste und Religionen“2 und ahnt schon, dass im Zuge neuer Erkenntnisse der Weltzusammenhänge „wir mit unserem Moses auf der rechten Stelle stehen! Wie viel ist hier noch zu suchen und auszumachen!“3 Altes über Bord werfen, Europa, einst gebildet durch zwei Ströme aus dem Orient, den südlichen aus dem Orient, den nördlichen aus Asien und zukünftig den dritten aus Amerika4 wird neu gedacht werden: „Die Origines Griechenlands, aus Egypten oder Phönicien?... Nun die Origines des Nordens, aus Asien oder Indien, oder aborigines? Und der neue Araber? Aus der Tartarei oder China?“5 Und so „tritt er mit Einmal hinaus... ohne Bücher, Schriften“,6 um die „neue Denkart“ doch sogleich wieder zu verschriftlichen, dem eigenen Werk und den Bibliotheken einzuverleiben: „Welch ein Werk über das menschliche Geschlecht! Den menschlichen Geist, die Kultur der Erde! Aller Räume! Zeiten! Kräfte! Mischungen! Gestalten! Asiatische Religion!... Chinesische, Japanische Politik! Amerikanische Sitten... Universalgeschichte der Bildung der Welt!“ 7
Man sticht in See, lässt angestaubtes Bücherwissen, enge Studierstube und das sichere Ufer hinter sich – „Nun trete man mit Einmal heraus, oder vielmehr ohne Bücher, Schriften, Beschäftigung und Homogene
1
Herder, Johann Gottfried [1846]: Herders Reisejournal, mit einer Einleitung von E. Blochmann, Langensalza, Berlin und Leipzig: Verlag Julius Beltz 1931, S. 7.
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Ebd., S. 13.
3
Ebd., S. 14.
4
Ebd., S. 13.
5
Ebd., S. 14.
6
Ebd., S. 10.
7
Ebd., S. 14.
„V ON A USSEN D ENKEN“
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Gesellschaft werde man herausgeworfen – welch eine andre Aussicht...“8 – Schiff und Meer werden zur Metapher für Freiheit und Aufbruch. „Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“, ruft auch der heimatlose Wanderer Friedrich Nietzsche und bricht auf in das „Ungeheure“. Ortlosigkeit und Bewegung werden zur „Praxis der Freiheit“ (Foucault) und Denker, so scheint es, sind Nomaden. An einem Ort zu bleiben, bedeutet Stillstand. Sesshaftigkeit wird zum Signum (geistiger) Unbeweglichkeit und Beharrung im überkommenen Alten.9 Bewegung hat etwas Subversives, und noch die heutigen Nomadologien, wie sie etwa von Gilles Deleuze und Felix Guattari10 oder Vilém Flusser11 vorgeschlagen wurden, verweisen auf Ortswechsel „a nomad space without property or enclosur“, a call „from the outside“,12 der Sicherheiten und Traditionen zerstört.13 Kaum zufällig wird die Odyssee bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zum „Grundtext der
8 9
Ebd., S. 10. Damit ist schon ein Gegensatz etabliert, der sich auch durch die soziologische Tradition zieht. Bewegung heißt Freiheit, heißt Erneuerung und Mobilität heißt Moderne. Seßhaftigkeit heißt Stillstand, heißt Beharren, heißt Vormoderne und Tradition. Das was sich – angeblich – nicht bewegt, war für Soziologie und Anthropologie einfacher zu untersuchen und man erfand sich statische, unbewegliche Gesellschaften und Kulturen. Dynamik, Prozess wurde zum Problem für stabile Struktur und Funktion. Mobilität war ein für die Theorie bedauerlicher Sonderfall, nicht die Regel.
10 Deleuze, Gilles / Guattari, Felix: Nomadology. The War Machine, New York: Semiotext(e) 1984. 11 Flusser, Vilém: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Hamburg: EVA 2007. 12 Deleuze, Gilles: »Nomadic Thought«, in: Desert Islands and Other Texts 1953-1974, New York: Semiotext(e), 2004, S. 252-262, hier S. 145. 13 …,the nomad‘ jedoch, „is not necessarily someone who moves around: some journeys take place in the same place, they are journeys in intensity, and even historically speaking, nomads don’t move around like migrants. On the contrary, nomads are motionless, and the nomadic adventure begins when they seek to stay in the same place by escaping the codes“, ebd., S. 261.
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europäischen Zivilisation“,14 eine Odyssee, die nicht nur die Ablösung vom Mythos bekräftigt, sondern, wie sie formulieren, „insgesamt Zeugnis“15 von der Dialektik der Aufklärung ablegt. Bewegung, Beweglichkeit und geistiger Kosmopolitismus stehen für Freiheit, Zerstörung von Sicherheiten und: Befremdliche (Selbst-) Begegnung, die das „Selbst aus der Bahn seiner Logik herausziehen“.16 Auch der Heros der Anthropologie, Bronislaw Malinowski, schifft sich ein. Wie schon bei Herder 145 Jahre zuvor, soll über die Kenntnis des Fremden das Eigene deutlich werden und über die subjektive Erfahrung hinaus, das eigene Werk dann wirken und sich dem allgemeinen Wissen einschreiben: „Port Moresby, September 20, 1914. September 1st began a new epoch in my life [...] After paying the exorbitant hotel bill I boarded the ship. Several persons came to see me [...] I watched them a long time through binoculars and weaved my handkerchiefs – I felt I was taking leave of civilization. I was fairly depressed, afraid I might not feel equal to the task before me“.17
Offenbar ist diese besondere Verschränkung auch an Abschiede vom Bekannten, an räumliche Trennungen und das Gewinnen von Distanz gebunden. Schon Herder stellt fest: „Jeder Abschied ist betäubend [...] Nun aber erstlich sehet man, wie man Situationen hätte nutzen können, die man gar nicht genutzt hat“.18 Nun ist uns der individuelle Aufbruch, die Reise in ein unbekanntes Land immer wieder zur Metapher für Veränderungen des eigenen Lebens geworden – wir sprechen vom Lebensweg – und bezeichnet hier auch den Gegensatz von ‚zwei Welten‘, einem bekannt, vertrauten ‚Hier‘ und dem – mehr oder minder exotischen – ‚Dort‘, dem (vermeintlichen) Außen des Eigenen. Die Schilderung der (meist beschwerlichen) Reise zu fremden Völkern und
14 Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W. [1947]: »Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hrsg. von R. Tiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, hier S. 63. 15 Ebd., S. 61. 16 Ebd., S. 64. 17 Malinowski, Bronislaw: Ein Tagebuch im strikten Sinn des Wortes. Neuguinea 1914-18, hrsg. von F. Kramer, Frankfurt am Main: Syndikat 1985, hier S. 3. 18 J.G. Herder: Herders Reisejournal, S. 7.
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der Ankunft am unbekannten, fremden Ort sind seither zum festen Bestandteil ethnologischer Monographien geworden. Mit dem Ortswechsel nimmt man Abschied und – in der Erschütterung des Gewohnten – gewinnt man Distanz zum vertrauten Altbekannten, die das „Selbst aus der Bahn seiner Logik herausziehen“.19 Es entfalten sich ein eingespieltes Verfahren und ein bekannter Topos: Es gilt, Abstand zu gewinnen und damit zugleich, sich – über den Anderen und gegen den Anderen – zu erkennen.20 Die Suche nach dem Anderen wird zugleich zur Suche nach dem Eigenen. In diesen Topoi sind das Andere, das neue, unbekannte, erschütternde, bislang Ungedachte aneinander gebunden, bereitet das Andere den eigenen Weg. Auch der Philosoph François Jullien bricht auf, ist unterwegs, verlässt die Heimat, nimmt „Umwege“: „Der Umweg hat kein Ende, aber am Anfang steht die Rückkehr: Mein Ausgangspunkt war nämlich ein Interesse für Griechenland, wobei ich aber das Gefühl hatte, dass Griechenland mir vielleicht zu vertraut war, um es entdecken zu können; so entschied ich mich für, einen Weg einzuschlagen, der mich über eine außerhalb liegende Welt führte, um Abstand zu dieser vertrauten Welt zu gewinnen“.21
Er schlägt einen (unendlichen) Weg ein, der – wie die anthropologische Feldforschung – im Hinblick auf die Rückkehr unternommen wird. Schon die Odyssee kann nur im Hinblick auf die Rückkehr „zu Heimat und festem Besitz“ gelesen werden.22 Nach der agrégation in Philosophie begibt er sich auf die Reise nach China, macht sich auf zur Suche nach den Grundlagen des ‚westlichen‘ Denkens. „[I]ch unternahm diese Reise in den Orient nicht aufgrund einer ausgesprochenen Vorliebe für den Orient, sie war anti-exotisch und theoretisch. Ich habe
19 M. Horkheimer / T.W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 64. 20 Angesprochen werden aber nicht nur eine persönliche Anstrengung und die Rettung des Selbst vor den Zumutungen des Anderen. Sehr viel mehr steht – nicht nur bei Malinowski – auf dem Spiel: die Überführung subjektiver Erfahrung in allgemeingültiges Wissen. 21 Jullien, François: Der Umweg über China. Ein Ortswechsel des Denkens, übers. von M. Möller, Berlin: Merve 2002, hier S. 41. 22 M. Horkheimer / T.W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 64.
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mich aus drei Gründen für China entschieden: Ich wollte aus dem indoeuropäischen Raum, insbesondere der großen indo-europäischen Sprache herauskommen, indem ich mich von den Syntaxformen und den etymologischen Wurzeln abschnitt, deren Bedeutung für die Philosophie ja allgemein bekannt ist; und dann wollte ich auch einen Zivilisationskontext entdecken, mit dem uns bis in jüngste Zeit keine gemeinsame Geschichte oder gegenseitiger Einfluss verband; und schließlich war ein weiterer Grund, dass dieses Denken schon früh in Texten formuliert wurde… Ich konnte also weder Indien noch die arabische Welt wählen, über die ja Aristoteles wieder zu uns zurück gelangte, da blieb dann nur noch China übrig“.23
Erneut der vertraute Topos: Über die (räumliche) Distanz, über das Andere zum Eigenen zurückzufinden. Sprache, isolierte Zivilisation und Text sollen Alterität und ein Außen garantieren, einen fremden, anderen und vor allem einen unkontaminierten Ursprung. Eine andere Möglichkeit, „andere mögliche Kohärenzformen“, andere „Quellen der Intelligibilität“,24 durch die zugleich das eigene Denken entdeckt werden kann: „Wenn man die Möglichkeit einer Alterität sucht, wird man entweder Anthropologe, aber dann muss man das im Denken Mitgemeinte rekonstruieren (im Rahmen der Gesellschaften, die keine Schrift haben) oder man will auf dem Boden eines expliziten Denkens bleiben, dann wird man Sinologe“.25
Welch ein erstaunliches „Entweder/Oder“: Muss man als Sinologe nicht auch das im Denken Mitgemeinte rekonstruieren, liegt das explizite Denken auf der Suche nach Alterität offen und wartet geduldig darauf, als ‚anderes‘ Denken entdeckt und (endlich) gelesen zu werden? „Philosophieren heißt anders denken“, so François Jullien26 im Anschluss an Michel Foucault und Gilles Deleuze.27 Doch was heißt die-
23 F. Jullien: Der Umweg über China, S. 42. 24 Ebd., S. 174-175. 25 Ebd., S. 42. 26 Ebd., S. 184. 27 Der von Jullien angegebene Text von Foucault »Le Philosophe masqué« lässt sich am angegebenen Ort (Dits et écrits, Bd. 4, Paris: Gallimard, S. 923-929) leider nicht nachweisen.
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ses „anders“? Wie ist dieses „anders“ bestimmt und wodurch wird es näher qualifiziert? Das andere Denken denkt den Anderen. Muss das anders Denken einen ‚Umweg‘ über ein Außen nehmen? Kann man Alterität ‚suchen und finden‘? Was bedeutet ein Denken ‚von Außen‘? Und: Kann man das Vertraute nicht „entdecken“, weil Sprache und philosophisches Erbe es immer schon verdecken? Kann das Unvertraute, das Andere einen Weg zum Eigenen eröffnen? Im Weiteren möchte ich diesen Fragen nachgehen und werde versuchen, mich diesen in drei Schritten anzunähern. Ich werde zunächst zentrale Elemente des von Jullien vorgeschlagenen ‚Ortswechsels‘ problematisieren, die, wie ich andeuten werde, ein spezifisches Kultur(un)verständnis implizieren. In einem zweiten Schritt soll daher das (hoch umstrittene) Verständnis von kultureller Identität angesprochen werden. Vor dieser Folie werde ich auf Problematiken verweisen, die die Anthropologie lang schon beschäftigen. In einem dritten Schritt wird daher das herkömmliche ‚ethnographische‘ Verfahren skizziert, das sich im Spannungsverhältnis zwischen ‚dem Eigenen‘ und ‚dem Anderen‘, zwischen ‚Distanz‘ und ‚Nähe‘ entwickeln soll, eine Perspektive, die durch die Kritik der Repräsentation des Anderen im anthropologischen Text und damit auch durch die Lektüre eines anderen Denkens destabilisiert wurde.
1. „V ON AUSSEN D ENKEN “ François Jullien nimmt sich vor, das „Verborgene“ aufzudecken, die stillschweigenden Vereinbarungen und Vorentscheidungen der europäischen Vernunft zu befragen, die das philosophische Denken bestimmt und überwacht haben. „Man weiss, dass die Philosophie in ihren Fragen verwurzelt ist und sogar regelmässig in ihrer Tradition erstarrt. Um zu versuchen, in der Philosophie wieder neuen Spielraum zu finden, oder anders gesagt, um zu versuchen, wieder eine theoretische Initiative zu ergreifen, habe ich mich entschieden, mich von dem Geburtsland der Philosophie – Griechenland – zu entfernen und einen Umweg über China zu machen: Ein strategischer Umweg mit dem Ziel, die
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verborgenen Vorentscheidungen der europäischen Vernunft neu zu befragen und bis zu unserem Nicht-Gedachten zurückzugehen“.28
Natürlich kann man sich sofort fragen, ob diese Geste, die befragt und ‚Verborgenes‘ ‚aufdeckt‘, nicht immer schon ein Teil dessen ist, was befragt werden soll. Haben die vertrauten Philosophien und Wissenschaften – in nebenbei, männlichem Gestus –, nicht auch immer schon ‚entschleiert‘, ‚enthüllt‘, ‚entdeckt‘, ‚entborgen‘? Die eingesetzte Logik des – methodisch-strategischen – Umwegs soll dann jedoch den Abstand schaffen, der das vertraute, ererbte Denken aufdecken und zugleich relativieren kann. Erst wenn Denken vom allzu Bekannten abgeschnitten wird – von Sprachverwandtschaft, etymologischen Verwurzelungen und Verweisen, von syntaktischen Bezügen und semantischen Effekten –, erst wenn die philosophischen Erbschaften ausgeschlagen werden, erst wenn die überlieferte Gewohnheit (pli) des bekannten Denkens abgelegt wird, kann das eigene Denken sich entfalten (déplier). In diesem Versuch kann Jullien sich dennoch zugleich auf ein verzweigtes und vermischtes Erbe berufen, hatte doch schon Friedrich Nietzsche bemerkt, dass selbst die „möglichen Philosophien“ immer schon durch die „eingeborne Systematik und Verwandtschaft der Begriffe“ bestimmt werden: „Die wunderliche Familien-Ähnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen Philosophirens erklärt sich einfach genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, dass, Dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik [...] von vornherein Alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt: ebenso wie zu gewissen andern Möglichkeiten der Welt-Ausdeutung der Weg wie abgesperrt erscheint“.29
Die Strategie des „Umwegs“, mit der über die Studie von Grundmustern und Zentralbegriffen der chinesischen Denktradition entsprechende Muster in unserem europäischen Denken auf ihre Voraussetzungen
28 F. Jullien: Der Umweg über China, S. 171. 29 Nietzsche, Friedrich [1886]: »Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft«, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, 15 Bde., hrsg. von G. Colli und M. Montinari, München, Berlin und New York: DTV und de Gruyter 1993³, Bd. 5, hier S. 34-35.
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und Prinzipien hinterfragt und damit auch relativiert werden sollen, und das – im Zuge dieser Einsicht – von Jullien vorgeschlagene strategische Verfahren erlauben dann eine Vielzahl von (un)merklichen Verschiebungen dessen, was uns als Denken bekannt und gestattet ist, es erlaubt die Verrückung des Rahmens, der das Denken absperrt, begrenzt und festlegt. „Zwei Klippen müssen“ auf dieser waghalsigen Reise „umfahren werden: Die Klippe des ‚Selben‘ und die Klippe des ‚Anderen‘“.30 Um den rechten Weg zwischen Skylla und Charybdis auszuloten, gilt es, zwischen den drohenden Gefahren des Ethno- und Eurozentismus und der Faszination des Exotischen, der Differenz und der uneinholbaren Distanz zu navigieren und damit sowohl zugleich die Klippen „des billigen Universalismus“, als auch die eines „faulen Relativismus“31 zu umschiffen. Nun ist diese gefährliche Fahrt zwischen Skylla und Charybdis, der Umweg des Denkens keine blinde Irrfahrt, sondern sie ist gerichtet, gewollt und steuert entschlossen ein Ziel und einen Bestimmungsort an, denn „man unternimmt eine solche Reise über China auch mit dem Ziel, das Griechische besser lesen zu können“.32 Der Umweg wird mit Kurs und mit Blick auf die Rückkehr unternommen, denn es „handelt sich darum, von diesem Standpunkt der Exteriorität aus zu den Vorentscheidungen zurückzukehren, aus denen sich die europäische Vernunft entwickelt hat – verborgene, nicht klar formulierte Vorentscheidungen, die das europäische Denken so gründlich assimiliert hat, dass es sie als Evidenz weiterträgt“.33
Die Reise erlaubt also eine dezidierte Verschiebung des Standpunktes, den Blick von Außen auf die Vorentscheidungen und begrifflichen Dispositive einer Philosophie, deren Verkettungen und weit verzweigte Filiation das Denken notwendig determiniert, normalisiert und still
30 F. Jullien: Der Umweg über China, S. 173. 31 Ebd., S. 177. 32 Ebd., S. 171. 33 Ebd., S. 175-176.
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stellt.34 Abstand soll also nicht durch Reflexivität, (Begriffs-)Kritik und Begriffsgeschichte, ein phänomenologisches ‚Zurück zu den Dingen‘ oder die Dekonstruktionen geschaffen werden, vielmehr soll Exteriorität diesen herstellen und garantieren. Exteriorität als eine räumliche, nicht aber zeitliche Dissoziation soll erlauben, was auch die ‚immanente‘ (oder historische) Lektüre verwehrt, die Aufdeckung der Vorentscheidungen der (europäischen) Vernunft, eine Aufdeckung, die dann neue (philosophische) „Spielräume“ eröffnen soll und damit einen Dialog des Denkens einleiten kann. Exteriorität behauptet also nicht eine prinzipielle Alterität Chinas Europa gegenüber, sondern den historischen Fall, dass die beiden Kulturräume bis in das 16. Jahrhundert voneinander unabhängig zwei konsistente, philosophisch ausgereifte Denksysteme entwickelt und dabei offenbar aus unterschiedlichen, nicht-identischen Quellen der Intelligibilität geschöpft haben. Genau diese Differenz soll das Denken bewegen. Die Andersartigkeit Chinas will Jullien also mehr in einem faktischen Dort und Woanders, als in einem kategorischen Anderssein begründet sehen; ich werde auf diese Distanzierung noch zurückkommen. Eine Position, die überall nur – unterschiedlich ausformulierte – Universalbegriffe erkennt, wie die Gegenposition, die eine grundle-
34 Dieses Vorgehen kann sich u.a. auf Foucaults Unvoreingenommenheit in der Archäologie/Genealogie beziehen. Die Forderung nach Unvoreingenommenheit oder ‚Voraussetzungsarmut‘, kann sich auch auf Lyotards Anlehnung an die von Kant bestimmten Modi der Urteilskraft und das reflektierende Urteil stützen. Voraussetzungsarmut und „symmetrischen Betrachtung“ sind auch in die von Clifford Geertz vorgeschlagene Perspektive der „thick description“ und des „local knowledge“ eingegangen, die auf einer feinen Kasuistik beharren und versuchen, den Anderen über die symbolischen Formen zu beschreiben, in denen er sich selbst ausdrückt und repräsentiert; vgl.: Geertz, Clifford: Local Knowledge. Further Essays in Interpretative Anthropology, New York: Basic Books 1983; Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, übers. von B. Lucchesi und R. Bindemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987. Sie finden sich wieder in den Versuchen von Luc Boltanski, das Soziale nicht als gegeben vorauszusetzen, sondern als konzeptionell offen zu betrachten. Die klassische Frage nach der sozialen Ordnung, die die Existenz dieser Ordnung a priori annimmt – ohne zu erklären, wann und ob diese überhaupt vorliegt – wird auf diese Weise zur Disposition gestellt.
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gende Inkommensurabilität der Denkansätze behauptet, bleiben für Jullien im Hinblick auf einen fruchtbaren Dialog „gleichermaßen stumm“. Jullien beruft sich in dieser räumlichen Bewegung auf eine spezifische (topologische) Unterscheidung: „Die Utopien trösten; wenn sie keinen realen Sitz haben, entfalten sie sich dennoch in einem wunderbaren und glatten Raum [...] Die Heterotopien beunruhigen, wahrscheinlich weil sie heimlich die Sprache unterminieren“, bemerkt Foucault35 in der Einleitung zu Die Ordnung der Dinge. Kaum zufällig bezieht sich Jullien wieder und wieder auf diese Heterotopie als den anderen Ort, der „im voraus“ eine gemeinsame Syntax zerstört, die „Sätze konstruiert“ und „Wörter und Sachen ‚zusammenhalten‘ lässt“.36 Damit ist aber auch die Frage nach Übersetzung angesprochen. Wenn Friedrich Nietzsche bemerkt, dass man zuerst Philologe sein muss, bevor man Philosoph wird, so fragt auch Jullien wie das Andere und damit die Möglichkeit eines anderen Sinns angesprochen werden kann, „wo wir doch zwangsläufig unsere Worte, die Worte des Selben, benutzen, um ihn anzusprechen?“37 Aus der Unhintergehbarkeit der Sprache resultiert die Notwendigkeit, Sprache allmählich „auf die schiefe Bahn zu bringen und sie im Laufe der Zeit dazu zu befähigen, etwas Anderes zu sagen – oder anders zu sagen – als sie es vorher getan hat“,38 Jullien verwendet daher Ausdrücke und Begriffe, die kaum im Zentrum der bekannten philosophischen Begriffsarchitekturen liegen und spricht damit natürlich auch die Frage nach dem Status und der Reichweite von Übersetzung an. Jullien liest Texte zunächst als Philologe und seine Theorie der Übersetzung resultiert aus dieser philologischen Methode. Er entscheidet sich jedoch nicht für eine der Positionen, die entweder die grundsätzliche Möglichkeit von Übersetzung oder im Gegenteil eine prinzipielle Unübersetzbarkeit proklamieren. Dennoch sollte die Übersetzung zwei Ansprüchen genügen: Erstens, wenn ein chinesisches Wort verwendet wird, sollte immer dasselbe französische Wort benutzt wer-
35 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main: Suhrkamp 199110, hier S. 20. 36 Ebd. 37 F. Jullien: Der Umweg über China, S. 185. 38 Ebd.
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den, und zweitens, sollte die relative lexikalische Unabhängigkeit von unterschiedlichen philosophischen Sprachen gewahrt bleiben. Wenn wir umstandslos Begriffe wie Gott, Sein, Subjekt oder andere zentrale Begriffe der westlichen Philosophie benutzen, dann wird das chinesische Denken und das, was es ausmacht, ungenügend interpretiert. Übersetzungen sollten immer idiomatisch sein, Sprache umleiten und umarbeiten. Deshalb verwendet Jullien Ausdrücke, die nicht überdeterminiert sind und an den Rändern unserer philosophischen Tradition der theoretischen Diskurse stehen und nicht den Status von Begriffen erlangt haben, wie etwa ‚Regulierung‘, ‚Fadheit‘ oder ‚Neigung‘. Die niemals abschließende Bewegung der Übersetzung bedeutet dann, mehr oder minder voneinander entfernte Intelligibilitäten in Beziehung zu bringen, damit diese sich wechselseitig ausforschen können. Diese „Graeco-Sino-Philosophie“ ist vielfach kritisiert worden. Besonders prominent ist in diesem Kontext sicherlich die erbittert und durchaus mit polemischer Schärfe ausgetragene Jullien-BilleterKontroverse, die, ausgelöst durch Jean François Billeters Buch Gegen François Jullien (2006), auch in Deutschland fortgeführt wird und über die Fachgrenzen der Sinologie hinaus ausstrahlt.39 Im Gegensatz zu Jullien studiert Billeter das chinesische Denken nicht durch die Betrachtung einer Tradition oder verlässt sich auf Kommentatoren, sondern nähert sich diesem durch die ‚immanente‘ Lektüre der Texte selbst, die er allerdings gegen den Strich und gerade gegen eine chinesische Denktradition, besonders des Konfuzianismus, liest. Der Begriff Konfuzianismus und das Bild seiner Einheit wird hier eher vermieden, wurde diese Tradition doch durch unterschiedliche Interpretationen und Einflüsse – wie Daoismus oder Buddhismus – geprägt und lässt sich, ebenso wie der Platonismus, kaum als monolithische Einheit verstehen. Seine Interpretation sträubt sich gegen eine vermeintlich identitäre Denktradition und so liest Billeter nicht den Konfuzianismus als Überlieferung, sondern Konfuzius: Ein Philosoph wird für ihn erst dann interessant, wenn er sich von einer Schule distanziert, Konfuzius wird erst dann interessant, wenn er vom Konfuzianismus und seiner Lesart abgetrennt wird. Dieses Lektüreverfahren –
39 Für wertvolle Hinweise auf diese Kontroverse bin ich Jéôrome Pauchard (Pisa und Paris) sehr zu Dank verpflichtet. Vgl. hier nur die Beiträge in: Baecker, Dirk et al.: Kontroverse über China. Sino-Philosophie, Berlin: Merve 2008.
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das sich auch vor dezidierten Wertungen nicht scheut – unterscheidet sich von dem Julliens, der auf der Suche nach diskursiver Einheit einer ‚anderen‘ Tradition ist. Das chinesische Denken soll sich demnach immanent und ohne Rückgriff auf Transzendenz entwickeln, es erkennt eine Kontinuität zwischen Gegensätzen und nicht deren Opposition, wie etwa Subjekt und Objekt. Auch geht es dieser Philosophie nicht um ‚Wahrheit‘ sondern vielmehr um Angemessenheit, Handeln wird nicht als Ausführung eines Plans verstanden, sondern eher als strategische Nutzung eines Situationspotentials, wie sie etwa in der List, der metis, mitgedacht wurde und gleicht damit der Gischt auf einer Welle. Julliens Verfahren wird dann plausibel, wenn man „das chinesische Denken“ als Umweg nehmen möchte. Nun lässt sich eine ähnliche Bewegung auch bei Foucault finden: „Honnetement, je ne suis pas constamment intéressé par le Japon. Ce qui m’interesse, c’est l’histoire occidentale de la rationalité et sa limite“, bemerkt Foucault40 im Gespräch mit einem japanischen Zenmönch. Das Signifikat ‚China‘ wird dann zum „Werkzeug für das Denken“ und spielt die „Rolle des Enthüllers“.41 Wenn François Jullien die westliche Philosophie über einen Umweg befragen will, dann ist China nichts anderes als ein „Vorwand, oder wie Simon Leys ironisch formuliert hat, eine ‚theoretische Ware‘, die China nicht um seiner selbst Willen“ in den Blick nimmt, wie der Anthropologe Patrice Fava kritisch bemerkt. Zugleich kann man fragen, ob China anders dargestellt und analysiert wird, als das seit dem 16. Jahrhundert der Okzident für seine jeweiligen Zeitgenossen unternommen hat und sowohl Billeter als auch Jullien nichts anderes tun, als sich in diese Genealogie der westlichen Darstellungen des Ostens einzuordnen. Die – implizite oder explizite – Annahme, dass ‚China denkt‘ und das angestrebte ‚Denken von Außen‘ bedingen sich wechselseitig und verweisen damit auf die Problematiken, die an (die begrifflichen Bestimmungen von) Alterität und Identität gebunden sind.42
40 Foucault, Michel [1978]: »Michel Foucault et le zen: un séjour dans un temple zen«, in: Dits et écrits, Bd. 3, S. 618-624, hier S. 620. 41 F. Jullien: Der Umweg über China, S. 189. 42 Damit sind natürlich auch zentrale Problematiken des Kulturvergleichs angesprochen, vgl. hier nur: Matthes, Joachim: »The Operation Called „Vergleichen“«, in: Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor
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2. ALTERITÄT UND DES D ENKENS
DIE ( KULTURELLE ) I DENTITÄT
Foucault bemerkt im Anschluss an die von Jullien oft zitierten Überlegung zur Heterotopie als dem ‚anderen Ort‘, dass China „in unserem Traum gerade der privilegierte Ort des Raums“ ist: „Für unser imaginäres System ist die chinesische Kultur die metrikuloseste, die am meisten hierarchisierte, die taubste gegenüber den Ereignissen der Zeit, am meisten dem reinen Ablauf der Ausdehnung verhaftet. Wir denken sie als Zivilisation von Deichen und Barrieren unter dem ewigen Gesicht des Himmels. Wir sehen China ausgebreitet und auf die ganze Oberfläche eines mit Mauern umgebenen Kontinents geheftet“.43
Wir können uns nun fragen – und genau das haben Julliens Kritiker getan –, ob Jullien nicht die exotischen Phantasien Victor Segalens oder des Deutschen Richard Wilhelm fortsetzt und zudem an die (aufgeklärten und romantischen) Philosophenträume des achtzehnten Jahrhunderts anknüpft, die gegen die Willkür des europäischen Ancien Régime die Vorstellung einer ganz anderen, weisen Despotenherrschaft in die chinesische Wirklichkeit eingetragen haben und sich im Anderen, den Figuren der Inversion erkannten (und zugleich abgrenzten). Folgen wir Jean François Billeter, so ist Julliens komparatistische Position sowohl vom Standpunkt der Sinologie, als auch von dem der Philosophie unhaltbar, weil er von vornherein den Unterschied zwischen Abendland und China behauptet und diese lediglich mit solchen Texten untermauert, die seine These zu stützen vermögen. Billeters Buch Gegen François Jullien (2006) kritisiert den Mythos der Alterität Chinas, den Jullien fortgeführt und erneuert haben soll.44 Das Argument ist zutreffend und zugleich unpräzis, denn Jullien hat sehr wohl die Vorstellung einer radikalen Andersheit Chinas in Frage gestellt, auch wenn er den Unterschieden mehr Gewicht beimisst, als den Gemeinsamkeiten und vor der Gefahr der Assimilierung des Den-
dem Problem des Kulturvergleichs, Soziale Welt, Sonderband 8 (1992), S. 75-99. 43 M. Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 21. 44 Vgl. in diesem Kontext auch: Diény, Jean-Pierre: »Note critique. Mythologie et sinologie«, in: Études chinoises IX, 1 (1990) S. 95-127.
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kens deutlicher gewarnt hat, als vor der Etablierung von Distanz. Billeter verwahrt sich gegen den Mythos und gegen die Annahme einer chinesischen Tradition, wie sie uns gemeinhin überliefert wird, und seine Arbeiten können sowohl als soziologische, als auch als phänomenologische Versuche verstanden werden, den Mythos der Alterität45 und seine Genealogie zu befragen.46 Was mit einer solchen Kritik auch ins Spiel gebracht wird, ist letztendlich nichts anderes als der Orientalismusvorwurf, denn „Orientalism“, so Edward Said, „was ultimately a political vision of reality whose structure promoted the difference between the familiar (Europe, the West, ‚us‘) and the strange (the Orient, the East, ‚them‘)“.47Wenn der orientalistische Blick hier politisch entschärft ist, so tritt der Vorwurf der Anpassung an Strömungen des Neokonfuzianismus oder der Restauration der Ideologie des Chinesischen umso deutlicher hervor. Neben diesem Einwand können und müssen wir natürlich auch fragen, wie aus einer solchen Perspektive ‚die europäische Tradition‘ oder die Identität Europas begründet werden soll, die dem chinesischen Denken entgegengestellt wird und sich auf das philosophische
45 Vgl. Mélès, Baptiste: »Experience and subjectivity: François Jullien and Jean François Billeter«, in: http://baptiste.meles.free.fr/site/B.MelesExperience_subjectivity.pdf (2009), S. 12-13. 46 „Tu me comprends tout aussi mal“, so Billeter in Replik auf Fava „sur la question de l’altérité. Nul besoin de me rappeler que la Chine est différente, ou ‚autre‘. Ce qui me paraît critiquable, c’est que l’on fasse de cette ‚altérité‘ un mythe, c’est- à-dire un a priori irréfléchi. En disant cela, je me place sur le plan de la méthode. Le principe que je formule dans Contre François Jullien, à la page 82, me paraît entièrement juste. Je me prononce en faveur d’une dé- marche qui ne vise pas à nier les différences, mais à les comprendre. Il est absurde de me reprocher, comme tu le fais, de ‚chercher des analogies, des chevauchements, des points de rencontre plutôt que des différences‘. ‚Vive les ressemblances!‘, tel serait mon mot d’ordre. Relis ce que j’ai écrit, page 38 (mais aussi p. 41 et passim), sur la nécessité de prendre en considération les différences et les ressemblances. Se peut-il qu’on soit si mal lu par ses meilleurs amis?“, Billeter, Jean François: »Response à Partrice Fava«, in: http://www.afec-en-ligne.org /IMG/pdf/Controverse_Fava_Billeter.pdf (2006), hier S. 193. 47 Said, Edward W. [1978]: Orientalism. Western Conceptions of the Orient, London: Penguin 2003, S. 43.
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Erbe Europas berufen soll. Diese Frage ist umso dringlicher, als die Einheit des Signifikats Europa lang schon befragt wurde. Mit der Eroberung der Welt, dem, was Sloterdijk die „westliche Option“ nennt,48 erkennt Europa sich im Anderen und etabliert ein besonderes Verhältnis von Universalität und Partikularität. Zugleich erfährt das „europäische“ Denken seine Dezentralisierung, „Provinzialität“49 und ursprüngliche „Zweitrangigkeit“.50 Die europäische Identität lässt sich, so bemerkt Edgar Morin „trotz aller Metamorphosen [nicht] definieren, sondern sie besteht eben genau in diesen Metamorphosen“, einer „metamorphischen“ Identität, die er als unaufhaltsamen und kontinuierlichen Werdungsprozess beschreibt.51 Das polyzentrische Europa, diese Vielfalt von Kulturen und Zivilisationen konnte nur „in Konflikt und Austausch, nur im Widerstand gegen jegliche politische und kulturelle Hegemonie“ entstehen.52 Dem von Rémi Brague (1993) vehement evozierten „römischen Prinzip“ setzt er das Prinzip der „Dialogik“ entgegen. Diese die Einzigartigkeit Europas ausmachende Dialogik setzt sich gegen die Dialektik ab, erlaubt dieser Begriff doch nicht das Fortbestehen einer Opposition innerhalb einer Einheit.53 Die Dialogik – ihr Entstehen verdankt sich der Agora im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. – zeigt vielmehr den beständigen Widerstreit zwischen Glaube und Vernunft, Empirismus und Theorie, Wissen und Zweifel an. Wie das politische Europa historisch aus Brüchen und fortwährenden Antagonismen entsteht, so entwickelt es sich kulturell aus den Antagonismen zwischen dem jüdischen, christlichen und dem lateinischen Prinzip und dem beständigen Konflikt seiner Erbschaften,54 eine Bewegung, die sich mit der Renais-
48 Sloterdijk, Peter: Falls Europa erwacht. Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des Zeitalters ihrer politischen Absence, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. 49 Chakrabarty, Dipesh: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton: Princeton University Press 2000. 50 Brague, Rémi: Europa. Eine exzentrische Identität, übers. von G. Ghirardelli, New York und Frankfurt am Main: Campus 1993. 51 Morin, Edgar: Europa Denken, übers. von L. Gränz, Frankfurt am Main und New York: Campus 1988, hier S. 61-62. 52 Ebd., S. 66. 53 Ebd., S. 74. 54 Ebd., S. 79.
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sance intensiviert und so gleichsam zum Motor des geschichtlichen Werdens werden kann. In der Geschichte Europas wird dann der Zweifel, die Negation und der radikale Widerspruch der Vernunft, ebenso wie der Glaube zum Korrektiv, was letztlich die Grenzen von Wissenschaft und Vernunft offenbart. Grundlage dieses Werdens ist also die „rastlose Suche nach neuen Grundlagen und deren fortwährende Problematisierung durch immer neue theologische, philosophische, theoretische und ethische Antworten“.55 Europas Andersheit verdankt sich also nicht so sehr dem Primat des mit dem römischen Reich sich durchsetzenden Christentums, seiner Romanität, bzw. Latinität56 oder der vorgängigen und primären „römischen Haltung“ und seiner besonderen Zeit- und Raumerfahrung, sondern vielmehr den beständigen Antagonismen und Konflikten und damit also dem Aufeinandertreffen von Unterschieden, komplementären und konkurrierenden Anschauungen. Das „europäische Prinzip“ ist also nicht so sehr die römische translatio, die „Verpflanzung“ des Neuen,57 die als ursprungslos erfahrene vielfache Übertragung des antiken Erbes, sie besteht nicht in der Übersetzung, Übernahme und Tradierung von Texten und Kenntnissen, also ein bestimmender Augenblick oder Faktor, sondern zeigt sich im Dialog im Inneren seiner Vielfalt, seiner ‚Dialogik‘.58 Auch Brague vermag keinen eindeutigen Ursprung Europas zu erkennen, sein Ursprung, liegt „außerhalb“,59 Europas Identität ist „exzentrisch“. Seine Einzigartigkeit besteht in der „Zweitrangigkeit“ des Christentums seinem jüdischen Ursprung gegenüber60 und sie besteht in der kulturellen Zweitrangigkeit im Hinblick auf das griechische Erbe. Aus dieser Zweitrangigkeit leiten sich dann auch Entfremdung und ein Minderwertigkeitsgefühl ab, das von nostalgischer Wehmut nach einem Ursprung geprägt sein soll.61 Das Prinzip der Zweitrangigkeit führt nicht nur zur bis dato ungekannten Historisierung der Vergangenheit, sondern wird in Europa – und nur hier – zum Zentrum der Be-
55 Ebd., S. 81. 56 R. Brague: Europa, S. 24. 57 Ebd., S. 35. 58 E. Morin: Europa Denken, S. 128. 59 R. Brague: Europa, 111. 60 Ebd., S. 52-54. 61 Ebd., S. 92.
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ziehungen zum Absoluten.62 Weil Europa sich nicht aus sich selbst begründen, sondern sich nur auf fremde Quellen berufen kann, so gründet sich die Andersheit Europas in der besonderen Art der Beziehung zum Eigenen, sie zeigt sich in der „Aneignung dessen, was als fremd angesehen wird“ und Brague spricht hier von „Assimilationsprozessen“ (die sich aufgrund der Sprachpolitik in der lateinischen und arabischen Welt unterschieden).63 Das christliche Europa unterscheidet sich dann dadurch, dass es sein Wissen vom Fremden als „Instrument“ nutzt und durch Vergleich und „Selbstdistanzierung“ ein Bewusstsein von sich selbst und der „Unklarheiten seine[r] kulturelle[n] Praxis“ gewinnt.64 Erst Selbstreflektion und damit die Fähigkeit, sich mit den Augen der Anderen zu sehen, sich zu relativieren und zugleich „ein offenes Gefäß für das Allgemeine“ zu sein, erlaubt dann die Gesten der Wiedergutmachung für das Unrecht,65 das in seinem Namen verübt wurde.66 Im beständigen Aufschub deutlicher Zugehörigkeiten und gegen Annahmen einer zu identifizierenden Identität oder eines europäischen ‚Wesens‘ gilt es, die „Verrücktheit“ Europas deutlich zu machen.67 Europa begründet sich in seiner Andersheit, es verdankt sich „einer Zäsur, einem Einschnitt“.68 Damit kann zugleich deutlich werden, dass
62 Ebd., S. 96. 63 Ebd., S. 86. 64 Ebd., S. 98. 65 Ebd., S. 119. 66 Für eine detallierte kritische Darstellung dieser Perspektive, die dem römischen Katholizismus zutiefst verpflichtet ist und zudem Alessandria unterschlägt, vgl. Friese, Heidrun: »La otredad de Europa« (übers. von R. Ramirez), in: Special Issue on Empire. Política y sociedad 41, 3 (2004) S. 99112. Zur Konstruktion von kulturellen Identitäten, siehe: Friese, Heidrun: »Cultural Identities«, in: Gerard Delanty (Hg.), Handbook of Contemporary European Social Theory, London: Routledge 2005, S. 298-310; und Friese, Heidrun: »Europe’s Otherness. Cosmopolitism and the Construction of Cultural Unities«, in: Gerard Delanty (Hg.), Europe and Asia Beyond East and West: Towards a New Cosmopolitanism, London: Routledge 2006, S. 241-56. 67 E. Morin: Europa Denken, S. 123. 68 Marramao, Giacomo: Passaggio a Occidente. Filosofia e globalizzazione, Turin: Bollati Boringhieri 2003, hier S. 60.
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Europa – fern davon, in seinem Inneren von heimlichen, untergründigen oder gar abgründigen gemeinsamen Strukturen beherrscht zu werden, die seine Identität garantieren – durch Antagonismus, Widerspruch und Negation, durch ganz unterschiedliche Praktiken, Erzählungen und historische Schreibweisen konstituiert wird, die seine (kulturelle) Einheit immer schon verschieben, aufschieben und überschreiten. Nun kann man gegen diese Narrative einwenden, dass sie sich bereits innerhalb eines bestimmten Erbes entwickeln, dessen „verborgene Vorannahmen“ Jullien ja nun gerade aufdecken möchte. Zudem kann man einwenden – und das hat eine Strömung der postkolonialen Kritik getan –, dass sich diese Narrationen nur durch Verdrängung des kolonialen Erbes entwickeln und ein koloniales Symptom darstellen, mit dem Europa und sein Denken sich gegen den Anderen immunisieren, um die mythischen Narrationen von Logos, Renaissance, Aufklärung etc. fortschreiben zu können (eine Geste freilich, die mit einer Hand homogenisiert, was sie mit der anderen doch der fatalen Identitätspolitik entreißen möchte).69 Gegen eine solche Geste hat Derrida bemerkt, dass es ‚keine Kultur und keine kulturelle Identität ohne diese Differenz mit sich selbst‘ gibt und fügt hinzu: „Es gibt keinen Selbstbezug, keine Identifikation mit sich selbst ohne Kultur – ohne eine Kultur des Selbst als Kultur des Anderen“.70 Europa erweist sich dann auch in seinem Verhältnis zu (s)einem Anderen. In diesem Sinne hat Europa „eine andere Geste zu erfinden, eine lange Handlung, die das Gedächtnis voraussetzt, gerade um die Identität von der Alterität her zu bestimmen, vom anderen Kap und vom anderen des Kaps, von einem ganz anderen Rand und Ufer aus“, so verlangt Derrida.71 Neben den ‚Wegen‘ des Denkens haben sich lang schon andere metaphorische Ortsbestimmungen etabliert. So versucht bspw. Migno-
69 Chakrabarty und Gilroy verweigern sich freilich einer solchen vereinfachenden Perspektive. Vgl.: D. Chakrabarty: Provincializing Europe; Gilroy, Paul: The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness, London und New York: Verso 1993. 70 Derrida, Jacques: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, übers. von A.G. Düttmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 13. 71 Ebd., S. 26.
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lo72 deutlich zu machen, dass die Geschichte der Moderne nicht der westlichen Philosophie entstammt, sondern von den Rändern, den Grenzen gedacht werden muss, dem seltsamen und seit jeher unsicheren Ort soziokultureller imaginaires, die ‚Innen‘ und ‚Außen‘ unsicher und undeutlich werden lassen und an dem Denken sich aufhalten kann. Mignolos Versuch – „telling the story from its borders“ – sucht mit Anibal Quijanos, Enrique Dussel nach möglichen Ressourcen, die diese prekäre Situierung, das ‚andere Denken‘ (A. Khatibi), eine epistemologische ‚Kreolisierung‘ (Edouard Glissant) erlauben könnten und Zentrum und Peripherie, Innen und Außen durchkreuzen. Dieses Denken situiert sich nicht über einen Umweg, gar den „Seitensprung“ der „Abstand“ von schalen philosophischen Familienpflichten schaffen und „einen neuen Spielraum“ finden soll,73 sondern befragt bereits eindeutige kulturelle Einheiten, Denktraditionen und Diskurse. Wenn ein solches Verständnis die kulturellen Identitäten von Europa und China hintergeht, dann muss damit sogleich die Frage nach der Repräsentationen des Anderen gestellt werden.
3. N ÄHE UND D ISTANZ ANTHROPOLOGISCHE R EPRÄSENTATIONEN Im Versuch, die verborgenen Voraussetzungen westlicher Philosophie zu enthüllen, wird ‚China‘ zu einem Vorwand. Wie schon erwähnt, kann man zugleich sicherlich sagen, dass der Okzident seit dem 16. Jahrhundert ‚China‘ für seine jeweiligen Zeitgenossen beschrieben hat – und das gilt dann selbstverständlich sowohl für Julliens Darstellung, als auch für Billeters Repräsentationen:74
72 Mignolo, Walter D.: »Border thinking and the colonial difference«, in: Local Histories/Global Designs. Coloniality, Subaltern Knowledge, and Border Thinking, New York und Princeton: Princeton University Press 2000, S. 49-91. 73 F. Jullien: Der Umweg über China, S. 171. 74 Der Begriff Repäsentation wird hier in seiner dreifachen Bedeutung verstanden: als Darstellung‚ Vertretung und Vergegenwärtigung. Er beruht zunächst auf der Annahme einer „Differenz zwischen der Realität und ihrer ‚Verdoppelung‘“, die eine zweite „Differenz, oder besser: Distanz“
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„On ne peut manquer [...] d’être frappé par l’aspect subjectif de ces reconstructions, au point qu’il est permis de se demander si la Chine n’a pas été, depuis toujours, utilisée comme un simple prétexte pour fabriquer, au choix, une utopie ou le symbole de l’altérité“ (La Chine entre amour et haine, Actes du VIIIe colloque de sinologie de Chantilly, Desclée de Brouwer, 1998)“.75
Die Repräsentation eines Denkens – „China denkt“ – entwickelt einen imaginären Raum, ein ‚Dort und Woanders‘, in dem Utopie und Alterität sich durchdringen und Nähe und Ferne etablieren. Denn Jullien geht es ja um das Wiederfinden dessen, was „die Philosophie“ ungedacht ließ und was ihr entgeht, nämlich „jenes allzu Bekannte oder allzu Gemeinsame – jenes alles in allem allzu Nahe –, das die für jede theoretische Ausarbeitung notwendige Distanz nicht zulässt“.76 Nähe wird hier zweifach bestimmt, eine Bestimmung, die das allzu Bekannte, das allzu Gemeinsame in dem allzu Nahen zusammenbindet und die für die theoretische Arbeit erforderliche Distanz seltsam unterbe-
zwischen dem Erkannten und dem Erkennenden, demjenigen, der etwas sieht oder beobachtet, etabliert. Vgl. Fabian, Johannes: »Presence and Representation. The Other and Anthropological Writing«, in: Critical Inquiry 16, 4 (1990) S. 753-772. 75 Fava, Patrice: »À propos de Contre François Jullien«, in: http://www.afecen-ligne.org/IMG/pdf/Controverse_Fava_Billeter.pdf (2006), S. 182. 76 Jullien, François: Der Weise hängt an keiner Idee. Das Andere der Philosophie, übers. von M. Sedlaczek, München: Wilhelm Fink Verlag 2001, S. 7. Gegen eine solche Lesart, die Texte einer Tradition einschreibt, könnte man mit Derrida einwenden: „All texts are different“, so bemerkt er, „one must never try to measure them ‚on the same scale‘. And never to read them ‚with the same eye‘. Each text calls for, so to speak, another ‚eye‘. Doubtless, to a certain extend, it also responds to a coded, determined expectation, to an eye and to an ear that precede it and dictate it, in some way, or that orient it. But for certain rare texts, the writing also tends, one might say, to trace the structure and the physiology of an eye that does not exist and to which the event of the text destines itself, for which it sometimes invents its destination no less than it regulates itself by that destination“ (Derrida, Jacques: »Is there a philosophical language?«, in: Points. Interviews, 1974-1994, hrsg. von E. Weber, Stanford: Stanford University Press 1995, S. 216-227, hier S. 216.
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stimmt und undeutlich werden lässt. Heißt das zugleich, dass das Bekannte, Gemeinsame (ist das Bekannte zugleich das Gemeinsame?), das allzu Nahe einer theoretischen Ausarbeitung nicht zugänglich ist? Ist „das Bekannte [...] überhaupt darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt“, wie Hegel77 bemerkt? Und: ist Distanz zum Anderen bereits ‚ursprünglich‘ gegeben oder wird sie nicht erst geschaffen, um das Andere als Anderes konstituieren zu können? Wie soll die Repräsentation des anderen Denkens – selbst bei aller reflexiven Vorsicht – dann noch die Grundlagen des eigenen Denkens aufdecken oder erschüttern? Wir befinden uns hier ganz offensichtlich auf einem Terrain, das zu den grundsätzlichen Problematiken der Anthropologie zählt und u.a. über die Kritik an den anthropologischen Repräsentationen in der Writing Culture-Debatte und die von Johannes Fabian78 dargestellten Verfahren des „Othering“, also der Stilisierung und Festschreibung kultureller Differenz, problematisiert worden ist und an die begrifflichen Gegensatzpaare, die Spannung zwischen Nähe und Distanz gebunden ist, welche das Eigene vom Anderen trennen soll. Bereits das zentrale Verfahren der Anthropologie, die teilnehmende Beobachtung etabliert eine paradoxe Forschungspraxis. Denn einmal wird diese im Begriff „Beobachtung“ an das distanzierte und erkennende Sehen gebunden und – in Übereinstimmung mit einer Strömung der philosophischen Tradition – dem Auge, dem Blick, dem visuellen Sinn und der Position des Zuschauers ein Primat für die Erkenntnis zugesprochen. Die Tätigkeit dieses Sehens wird jedoch gleichzeitig näher bestimmt und qualifiziert, als das nämlich, das zugleich alltagspraktisch „teilnimmt“.79 Damit werden der Blick des Ethnographen und Erkenntnis einerseits an Teilnahme und Fremder-
77 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich [1807]: »Phänomenologie des Geistes« [1807], in: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von E. Moldenhauer und K.M. Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, Bd. 3, hier S. 35. 78 Vgl: Fabian, Johannes: Time and the Other – How Anthropology Makes Its Object, New York: Columbia University Press 1983; und J. Fabian: »Presence and Representation«. 79 Die philosophische Tradition hat den Blick lang schon an Erkennen, Wissen und theoria/theorein gebunden und damit eine Verbindung zwischen Neugier, Sehen und Wissen, Blicken und Erkennen, Sichten und Begriff hergestellt.
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fahrung gebunden, andererseits soll dieser unmittelbare partizipatorische Erlebnis- und Erfahrungszusammenhang durch die unterschiedlichen Medien der Aufzeichnung, Verschriftlichung und Archivierung Distanz erlauben und subjektive Erfahrung objektiviert werden. Diese Beobachtung fordert also einmal Distanz, zugleich aber auch Anteilnahme und Teilhabe. Pierre Bourdieu hat in Anlehnung an Malinowski von den „magischen Tugenden der ‚teilnehmenden Beobachtung‘“ gesprochen und darauf hingewiesen, dass die widersprüchliche Forderung nach teilnehmender Beobachtung an den platonischen Gegensatz von „Trennung“ (chorismus) und „Teilhabe“ an einem Ganzen (methesix) gebunden ist.80 Teilnahme verlangt Nähe und Beobachtung Distanz. Zugleich soll dieses prekäre Verhältnis es erlauben – wieder ist hier die Metapher des Sehens eingesetzt –, mit den Augen der Anderen und vom „Standpunkt des Eingeborenen“81 oder ihm „über die Schulter“ zu blicken und eine Perspektive einzunehmen, die Innenansichten und den „Blick aus der Ferne“82 miteinander verbindet. Das anthropologische Verfahren gründet methodisch in der Verfremdung, es zielt auf die Destabilisierung der alltäglichen Selbstverständlichkeiten und lässt das Andere fremder erscheinen, als es sich im tatsächlichen Alltagsvollzug und den vielfachen gelungenen oder eben nicht gelungenen Aushandlungen um die Interpretation einer Situation erweist. Der anthropologische Text konstruiert Kultur, schafft eine synoptische Zusammenschau von in einer Kultur zirkulierenden Texten, Textfragmenten, Interpretationen und Epistemologien, die nicht den alltagspraktischen und situativen Verständigungslogiken83 und denen der Aushandlung folgen.84
80 Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, hier S. 139. 81 B. Malinowski: Ein Tagebuch im strikten Sinn des Wortes, S. 49. 82 Lévi-Strauss, Claude: The View From Afar, Chicago: University of Chicago Press 1992. 83 Schiffauer, Werner: »Grenzen des ethnologischen Verstehens«, in: Gudrun Kühne-Bertram / Gunter Scholtz (Hg.), Grenzen des Verstehens. Philosophische und humanwissenschaftliche Perspektiven, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2002, S. 231-246, hier S. 242. 84 Der interkulturelle Dialog, oder besser: das interkulturelle Verstehen folgt seiner eigenen Logik. Es unterscheidet sich, wie Werner Schiffauer (ebd.
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Johannes Fabian hat darauf hingewiesen, dass die anthropologischen Repräsentationen auf den Verfahren der Distanzierung des Anderen beruhen „othering expresses the insight that the Other is never simply given, never just found or encountered, but made“.85 Diese Distanzierung des Anderen – die erst die Konstitution des Anderen leistet – wird durch die raumzeitliche Opposition von ‚Hier‘ und ‚Dort‘, ‚Jetzt‘ und ‚Damals‘ geschaffen.86 Erfahrung der Gleichzeitigkeit (co-presence) wird zur Ungleichzeitigkeit des Anderen und die dermaßen etablierten Trennungen können dann einmal dem Gegensatz zwischen Moderne und Tradition, Geschichte und Geschichtslosigkeit eingeschrieben werden oder sie sollen – wie im von Jullien vorgeschlagenen Verfahren – dann die Lesbarkeit des ‚Eigenen‘ garantieren. Wie der anthropologische Text schafft auch die Lektüre Julliens sich seinen Gegenstand – das chinesische Denken, die chinesische Tradition – distanziert das Andere und schließt es zudem in einem Allgemeinen und seiner Alterität ein.87 Reflexive anthropologische Perspektiven haben jedoch lang schon deutlich gemacht, dass wir kaum von generalisierbaren, homogenen Kulturen sprechen können, die dann über Bruchstellen hinweg in Be-
S. 232) betont hat, vom Alltagsverstehen und kann daher nicht umstandslos fruchtbar gemacht werden, denn genau die Bruchstelle zwischen „den beiden Formen des Verstehens markiert die Grenze des ethnologischen Verstehens“. 85 J. Fabian: »Presence and Representation«, S. 755. 86 J. Fabian: Time and the Other. 87 Anne Cheng hat diesen Binarismus kritisiert. Jullien geht allerdings nicht von statischen Kulturen aus, sondern sieht kulturelle Dynamiken und Transformationen; vgl. Cheng, Anne: ‚Pour en finir avec le mythe de l’alterité‘. La pensée en Chine aujourd’hui, Paris: Gallimard 2007. Statt kultureller Differenz (die sich durch Unterscheidung etabliert), sieht er eher einen Bruch, einen Einschnitt (der durch Distanz und die Spannung des Getrennten) geschaffen wird. Diesen Bruch bindet er nicht an Werte oder Normen, sondern vor allem an die Sprache (Jullien, François: L’universale e il comune. Il dialogo fra culture, übers. von B. Piccoli Fioroni und A. De Michele, Rom und Bari: Laterza 2010, S. 152-170). Der sogenannte Dialog der Kulturen verweist dann immer auch auf diesen Bruch (der dem Begriff ‚Dialog‘ ja bereits innewohnt) und daher fordert er eine Ethik des Übersetzens.
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ziehung zueinander treten – und von einer solche Annahme muss auch das ‚dialogische Modell‘ sich befreien –, vielmehr müssen diese als immer schon wechselseitig konstituiert, als Teil grenzüberschreitender und dynamischer, machtgeladener Prozesse gesehen werden, die sich einer definitiven und eindeutig bestimmbaren kulturellen Identität entziehen, welche ein Innen oder ein Außen garantieren könnten. In diesem Sinne wäre Julliens „Umweg über China“ dann eher eine Irrfahrt auf der Suche nach Lesbarkeit.
Vom Umgekehrten ausgehen: Alterität, Anerkennung und Freiheit * A LBERTO P IRNI
1. V ORBEMERKUNG : U NBEKANNTE
DAS
B EKANNTE
UND DAS
„Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt“.1 Auch das gegenwärtige Zeitalter scheint sich in gewisser, keinesfalls sekundärer Hinsicht weder dem beschwörenden Gehalt noch der heuristischen Potenzialität der Hegel’schen Maxime entziehen zu können. So lässt sich das Verständnis unserer Zeit zwar mit einer bekannten, jedoch in Bezug auf ihre zahlreichen Möglichkeiten und mannigfachen Risiken (noch) kaum erkannten Formulierung ausdrücken. Der Begriff, der üblicherweise in diesem Zusammenhang verwendet wird – und zweifellos eine neue Koiné begründete – bezeichnet unsere Epoche als globales Zeitalter.
Aus dem Italienischen von Monika Pelz. *
Erweiterte und überarbeitete Fassung des Textes »The Challenge of Living Together. Otherness, Recognition, and Freedom«, der auf dem von Axel Honneth koordinierten Workshop »Anerkennung und Freiheit« am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main vom 27.-28. Juni 2008 vorgestellt wurde.
1
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes [1807], Werke in zwanzig Bänden, hg. v. E. Moldenhauer und K.M. Michels, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, Bd. 3, S. 35.
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Von den unzähligen Bereichen und Zusammenhängen, in denen sich unsere fehlende oder mangelnde Erkenntnis zeigt, werde ich versuchen, eine Dimension zu beleuchten, die unser Wesen und unser Leben als Individuen innerhalb dieses Zeitalters direkt betrifft. Unsere Zeit scheint immer mehr von einem klaren, oft aber ungleichwertigen Bewusstsein für Differenz, Diversität und Alterität gekennzeichnet zu sein. Das ist zweifellos einer der wichtigsten Effekte der zahlreichen Prozesse, die allgemein unter dem Etikett der Globalisierung zusammengefasst werden. Die nähere Betrachtung dessen, was uns – prima facie – in ethischer, kultureller und politischer Hinsicht unermesslich weit auseinanderzuliegen scheint, erzeugt gleichzeitig das immer wieder neu auftretende Bedürfnis, uns selbst zu definieren. Diese Erfordernis wird sicher auch von der Gegenwart des „Anderen“, der uns zuletzt (vor allem physisch) immer mehr zum „Nächsten“ geworden ist, stimuliert, doch müssen wir uns heute mit ihr in einer Sprache auseinandersetzen, die sich von derjenigen unterscheidet, die wir traditionellerweise verwendet haben.2 Ein bedeutender Teil des „Identitätsdiskurses“ kreist um diesen Themenkomplex. Auch der vorliegende Aufsatz konzentriert sich auf diese Thematik und versucht sich infolgedessen an einer Neuinterpretation jenes „Dikurses“.
2
Unter diesem Aspekt scheint es in vielerlei Hinsicht wichtig, die Texte einiger philosophischer „Klassiker des 20. Jahrhunderts“ erneut zu lesen. Obwohl sie (noch) weit entfernt waren von der Sensibilität, die für das globale Zeitalter unvermeidlich ist, beschäftigten sie sich bewusst mit dem Versuch, die philosophische Tradition im Hinblick auf die Alterität kritisch zu überdenken. Zu einer ersten – und gleichzeitig grundlegenden – Einordnung siehe: Levinas, Emmanuel: Die Zeit und der Andere, übers. von L. Wenzler, Hamburg: Meiner 1984; Levinas, Emmanuel: Zwischen uns: Versuche über das Denken an den Anderen, übers. von F. Miething, München: Hanser 2007; Ricœur, Paul: Das Selbst als ein Anderer, übers. von J. Greisch, München: Fink 1996; Ricœur, Paul: Wege der Anerkennung: Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, übers. von U. Bokelmann und B. Heber-Schärer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. Darüber hinaus möchte ich auf folgende brillante Zusammenfassungen verweisen: Levinas, Emmanuel / Marcel, Gabriel / Ricœur, Paul: Il pensiero dell’altro, hg. v. F. Riva, Rom: Edizioni Lavoro 2008² und Marcel, Gabriel / Ricœur, Paul: Per un’etica dell’alterità. Sei colloqui, hg. v. F. Riva, Rom: Edizioni Lavoro 1998.
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Eine erste, intuitive Betrachtung des Begriffspaars IdentitätAlterität verführt dazu, den ersten Begriff im Gegensatz zum zweiten zu denken. Wollte man die Polarisierung weiter zuspitzen, könnte man sagen: entweder sorge ich mich um mich selbst (Weg der Identität) oder ich sorge mich um den Anderen (Weg der Alterität). Innerhalb dieses Schemas gibt es keinen Weg zur Identität, d.h. zu einem in der ersten Person Singular ausgebildeten Selbstverständnis, der nicht als Ausgrenzung des Anderen erscheint. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass in phänomenologischer, pragmatischer und normativer Hinsicht keine Identitätsentwicklung denkbar – und schon gar nicht konkret erfahrbar – ist, die nicht als Einbeziehung des Anderen beschreibbar wäre. Somit würde implizit oder explizit die Existenz des Anderen auch dort anerkannt, wo sie prinzipiell ausgeschlossen scheint: in der Artikulation dessen, was jedes Individuum sein kann oder will (1). Das Konzept der Anerkennung, genauer gesagt, die Verbindung zwischen Anerkennung und (individueller) Freiheit wird innerhalb des hier vorgestellten thematischen Rahmens analysiert und ausdifferenziert. Zunächst werde ich versuchen, die doppelte Ausrichtung der Anerkennung herauszuarbeiten: Die Anerkennung des Selbst und die Anerkennung des Anderen. Dabei soll gezeigt werden, dass erstere nie im Gegensatz zu letzterer stehen kann (2). Anschließend wird diese Frage im Rahmen des weit reichenderen „Freiheitsproblems“ neu interpretiert. Ich möchte behaupten, dass sich die hier beschriebene Betrachtungsweise der Anerkennung deutlich von der klassischen Definition von Freiheit als Willkür (arbitirum, free will) und ihren verzerrenden Effekten abgrenzt, die vielmehr allesamt unter das Etikett der Missachtung fallen (3). Abschließend soll anhand des Begriffs der Anerkennung eine Perspektive vorgestellt werden, die noch nicht ausreichend erforscht zu sein scheint und die Möglichkeit für eine neue Lesart der anderen klassischen Gegenüberstellung, der Unterscheidung zwischen negativer und positiver Freiheit, bietet. Der Begriff des Teilens spielt dabei eine entscheidende Rolle, insofern mit ihm der Übergang von einem reinen Zusammensein, das häufig erlitten wird und den Anderen ausschließt, zu einem Zusammenleben, das bewusst gewählt wird und den Anderen einschließt, aufgezeigt und angeregt werden kann (4).
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2. D AS U NBEHAGEN
DER
N ÄHE
Zunächst mag ungewöhnlich erschienen, dass ich den „Identitätsdiskurs“ ausgehend von seinem natürlichen negativum, seinem diametralen Gegensatz, entwickeln möchte: dem Begriff der Alterität. Ich beabsichtige jenes theoretisch nicht verfügbare determinatum, das individuelles Handeln orientiert und einschränkt, und das wir, vielleicht ein wenig zu vorschnell, gewohnt sind als Alterität zu bezeichnen, in seine einzelnen Bestandteile zu zerlegen und es anschließend wieder in einen Konstruktionsprozess des individuellen Selbstverständnisses einzufügen. Dazu möchte ich drei idealtypische Figuren der Alterität kurz vorstellen, mit denen sich gleichfalls drei Modalitäten der Beziehung zur Dimension der Identität aufzeigen lassen. Allerdings wird hier nur auf jene Alterität Bezug genommen, die wir einem „anderen“ Menschen attestieren können, d.h. jener Person, die nicht mit der übereinstimmt, die sich in der ersten Person Singular die Frage stellt: „Wer bin ich?“ Die erste Figur können wir als Mauer-Alterität bezeichnen. Phänomenologisch betrachtet geht sie jeder anderen Figur voraus. In dieser Dimension wird der Andere vor allem als Grenze wahrgenommen, als Schranke, an der sich unser Wille und unsere Handlungsfähigkeit stoßen und somit zum Einhalt gezwungen werden. Aus moralischem Blickwinkel erscheint uns der Andere als Schattenzone, ein Ensemble von wertbestimmten Gedanken und Vor-Verständnissen, das uns für sich genommen – abgesehen von offenkundigen äußeren Merkmalen – verschlossen bleibt, das uns prima facie nicht klar und deutlich vor Augen steht, sondern entlang einer Skala zunehmender Fremdheit entweder einfach verborgen, gewollt distanziert oder potentiell feindlich erscheint. In dieser ersten Modalität wird der Andere zum Fremden, zum Dissonanten, zum Gegensätzlichen gemacht und entsprechend erlebt.3
3
Zweifellos bilden die Forschungsarbeiten von Bernhard Waldenfels zu dieser besonderen Facette des Themas einen wichtigen theoretischen Bezugspunkt. Ich möchte hier von seinen zahlreichen Studien nur erwähnen: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, bes. Kap. 1; Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, bes. Kap. 5 u. 6; Grundmotive einer Phänome-
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Die zweite Figur ist die Spiegel-Alterität. Der so verstandene Andere erkennt uns an, weil wir ihm ähnlich sind, und aus demselben Grund wird er auch von uns unmittelbar anerkannt. Wir teilen mit dem Anderen Lebensmodelle, grundlegende Wertvorstellungen und Ziele des Zusammenlebens. Wir erkennen beide bestimmte Interpretationen unserer Vergangenheit als bemerkenswert an, wir können eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Lebensformen und Traditionen haben. In dieser Modalität erscheint uns die Alterität als ein anderes Selbst, das uns eher bestätigt und nicht in Frage stellt, wer wir sind und sein möchten. Es handelt sich um einen konsonanten, euphonischen Anderen, der zumeist mit meinen Wertmaßstäben übereinstimmt.4 Darüber hinaus kann man eine dritte Figur der Alterität unterscheiden, die man als Tür-Alterität bezeichnen könnte.5 Zur Erklärung der
nologie
des
Fremden, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, bes.
Kap. 5 u. 6. 4
In meiner Skizze zu den ersten beiden Figuren der Alterität beziehe ich mich auf die Arbeiten von Furio Cerutti [Vgl. »Identità e politica«, in: Furio Cerutti (Hg.), Identità e politica, Rom und Bari: Laterza 1996; »Identità politiche e conflitti. Definizioni a confronto«, in: Furio Cerutti / Dimitri D’Andrea (Hg.), Identità politiche e conflitti. Etnie, nazioni, federazioni, Mailand: FrancoAngeli 2000, S. 13-28] und von Barbara Henry [Vgl. »Fra identità politica e individualità«, in: Furio Cerutti (Hg.), Identità e politica, S. 167-183; Mito e identità. Contesti di tolleranza, Pisa: ETS 2000, bes. S. 80-85; »The Role of Symbols for European Political Identity. Political Identity as Myth?«, in: Furio Cerutti / Enno Rudolph (Hg.), A Soul for Europe, Bd. 2: On the Cultural and Political Identity of the Europeans. An Essay Collection, Louvain: Peeters 2001, S. 49-70; »Identities of the West. Reason, Myths, Limit of Tolerance«, in: Heidrun Friese (Hg.), Identities, New York und Oxford: Bergahn Books 2002, S. 77-106]. Zu präzisieren wäre, dass sowohl Cerutti als auch Henry die Begriffe „Mauer“ und „Spiegel“ dem Konzept der (politischen) Gruppenidentität zuordnen und bei beiden die Dimension des Spiegels der Dimension der Mauer vorausgeht.
5
Ich beziehe mich hier auf einen der Ästhetik gewidmeten Aufsatz von Georg Simmel, vgl. »Brücke und Tür«, in: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, im Verein mit M. Susman, hg. v. M. Landmann, Stuttgart: Köhler 1957, S. 1-7. Meine Lektüre des Aufsatz folgt der von D’Andrea und De Simone vorge-
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Symbolik, die der Begriff der Tür mit sich führt, heißt es in einer Passage bei Georg Simmel: „die Tür [stellt] in entschiedenerer Weise dar, wie das Trennen und das Verbinden nur die zwei Seiten eben desselben Aktes sind. […] Dadurch, dass die Tür gleichsam ein Gelenk zwischen den Raum des Menschen und alles, was außerhalb desselben ist, setzt, hebt sie die Trennung zwischen dem Innen und dem Außen auf. […] Es ist dem Menschen im Tiefsten wesentlich, dass er sich selbst eine Begrenzung setze, aber mit Freiheit, d.h. so, dass er diese Begren6
zung auch wieder aufheben, sich außerhalb ihrer stellen kann“.
Die Tür-Alterität spielt also auf die Fähigkeit des Anderen an, medium unificationis von Gegensätzlichem zu werden, sie „verbindet“ Differenzen7 und fügt zusammen, was bisher getrennt war. Diese Dimension erfasst aber auch die konstitutive Zweideutigkeit und Dualität der Figur des Anderen, die dem Ich entgegentritt, sich nicht selten sogar aufzwingt: der Andere ist wie ein bestversiegelter Schrein und gleichzeitig wie ein weitgeöffnetes Tal, die totale Verschlossenheit und die völlige Offenheit, eine Grenze und die Negation jeder Grenze, absolutes Hindernis und absolute Möglichkeit. Die letztgenannte Figur der Alterität erlaubt es, eine vorläufige Bilanz zu ziehen. Alle drei Dimensionen der Alterität bieten die Möglichkeit einer Antwort auf die Frage nach der Identität, d.h. auf die Frage „Wer bin ich?“ Die Antworten unterscheiden sich jedoch grundlegend voneinander. Auf die von einem einzelnen Handelnden ausgesprochene Frage nach der Identität erlaubt die erste Figur der Alterität eine oppositive Antwort oder eine Antwort des Kontrasts (von „Ich bin nicht der Andere“ bis hin zu „Ich bin gegen den Anderen“); die zweite Figur wird
schlagenen Interpretation, vgl.: D’Andrea, Fabio: »I problemi culturali dell’interazione. Legame sociale, alterità e globalizzazione«, in: Fabio D’Andrea / Antonio De Simone / Alberto Pirni: L’Io ulteriore. Identità, alterità e dialettica del riconoscimento, Perugia: Morlacchi 2005², S. 39-45; De Simone, Antonio: L’ineffabile chiasmo. Configurazioni di reciprocità attraverso Simmel, Neapel: Liguori 2007, bes. S. 127-132. 6
G. Simmel: »Brücke und Tür«, S. 3.
7
Vgl. Amselle, Jean-Loup: Branchements. Anthropologie de l’universalité des cultures, Paris: Frammarion 2001.
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hingegen eine konvergierende Antwort oder eine Antwort der Konsonanz („Ich bin wie der Andere“) vorschlagen. Insgesamt betrachtet erscheinen diese Aussagen ziemlich vorhersehbar, sie sind statisch oder von geringer Interaktionsdynamik. Die dritte Figur der Alterität unterscheidet sich dagegen in mancherlei Hinsicht. Sie eröffnet die Möglichkeit, dass der Andere „zu uns kommt“, dass er mit uns in eine starke, dynamische Beziehung tritt. Die Tür-Alterität impliziert zunächst die Einführung einer unendlichen Dialektik zwischen Innen/Außen, Offenheit/Verschlossenheit, im diachronischen Sinn legitimiert sie aber auch eine gewisse – a priori unbestimmbare – Porosität jener Grenzen, die der Andere uns gegenüber aufstellt und die wir ihm gegenüber errichten. Folglich ist die Antwort auf die Identitätsfrage hier eine relationale Antwort oder eine Antwort des Prozessverlaufs („Ich bin mit und durch den Anderen“): Nicht allein ausgehend von uns selbst oder dem, der wir nicht sind, noch davon, wie uns die anderen sehen, werden wir uns bewusst, wer wir sind, sondern im Ausgang von demjenigen, dem wir auf unserem Weg begegnen, von all denjenigen, die unsere Selbsterfahrung in Gesprächen verfeinern und reifen lassen. Diese Prozesshaftigkeit erinnert an die Entwicklungslogik der Hegel’schen Dialektik, nach der die Synthese weder der These übergeordnet werden darf, noch ohne Antithese sein könnte. Innerhalb dieses begrifflichen Rahmens ist die persönliche Identität nicht länger ein privates Problem, es entspringt, erstreckt sich und findet seinen Ausgleich im Dazwischen, in jenem auf subtile Weise epidermalen und deshalb grundsätzlich öffentlichen Grenzraum, der das Ich mit dem Anderen ver- und entbindet, vereint und gleichzeitig trennt und beide einer konstanten autopoietischen Dynamik unterwirft, die jedoch paradoxerweise, heteroinduziert erscheint.8
8
Vgl. zu diesem Grenzbereich und der autopoietischen Dynamik, die sich zwischen dem Selbst und dem Selbst der Anderen bezüglich der Identitätskonstitution einstellt Pirni, Alberto: »Il prezzo dell’identità: fra integrazione e misconoscimento«, in: Cosmopolis 1 (2006), S. 205-212 (einsehbar auch unter: www.cosmopolisonline.it/pirni.htm). Außerdem Gomarasca, Paolo: I confini dell’altro. Etica dello spazio multiculturale, Mailand: Vita e Pensiero 2004.
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3. F IGUREN
DER
ANERKENNUNG
Nach den bisherigen Ausführungen können wir nun zum Ausgangspunkt zurückkehren, um den Nexus zwischen Identität und Alterität aus einem anderen und umfassenderen Blickwinkel zu beleuchten. Das zuvor dargestellte Verhältnis Identität-Alterität ermöglicht es, zwei grundlegende Modalitäten zur Neuinterpretation der Identitätsproblematik herauszuarbeiten. Die erste, die wir als Dimension der missachtenden Identität bezeichnen könnten, bezieht sich auf die ersten beiden, oben vorgestellten, idealtypischen Formen der Alterität. Diese Identität missachtet die Existenz des Anderen sowohl im Erfahrungs- als auch im praktischoperativen Bereich, d.h. die Existenz des Anderen wird „ver-kannt“, sie wird nur teilweise und gelegentlich (auf kognitiver Ebene) erkannt und (auf der praktischen Ebene) anerkannt. Die Missachtung kann jedoch nicht ohne jene verzerrende Bedeutung gedacht werden, die ihr auch in diesem Zusammenhang zukommt. Missachten deutet nicht nur auf eine unvollständige Erkenntnis hin, sondern auf der weitaus wichtigeren ethisch-politischen Ebene auf eingeschränkten (und manchmal nur gelegentlich bezeugten) Respekt: Wenn der Andere einer Mauer entspricht, werde ich versucht sein, nur das an ihm anzuerkennen, was zu seinen äußeren Rändern und Grenzen gehört, um ihn auf dem Weg meiner Identitätsfindung möglichst zu meiden. Wenn der Andere dagegen einem Spiegel entspricht, wird sich mein Interesse vornehmlich darauf richten, die hellen Teile des von ihm widergespiegelten Abbilds zu verstehen, während ich eher vermeiden werde, auch das zu problematisieren, was im Hintergrund bleibt, sein Abbild, das sich nirgends widerspiegelt, d.h. die opaken und größtenteils verborgenen Teile des Spiegels. Die missachtende Identität ist demnach eine Identität, die den Anderen, wenn sie mit ihm in Beziehung tritt, unterschätzt und abwertet. Letztlich aber wertet sie sich dadurch mehr oder weniger bewusst selbst ab. Dies geschieht in erster Linie, weil die missachtende Identität die vielgestaltigen Entwicklungsmöglichkeiten nicht ernst nimmt, die der Andere, indem er Wertmaßstäbe oder alternative Praktiken vorstellt, bewusst – aber auch gegen seinen Willen – dem Selbst bietet, das mit ihm in Kontakt tritt. Zweitens wertet sich die missachtende Identität selbst ab, indem sie die „Auseinandersetzung in der Sache“ außer Acht lässt. Diese verlangt eine doppelte Form der intellektuellen
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Redlichkeit: vornehmlich gegen sich selbst, als Anreiz zur Unterstützung der Erzählung des eigenen Selbst „gültige“, nicht einfach nur rechtfertigende Argumente vorzubringen; aber auch gegenüber den Anderen, als Bereitschaft, ihre Gründe anzuerkennen und gegebenenfalls zu übernehmen, sollten sie „verdienstvoller“, d.h. in den Augen beider überzeugender sein. Schließlich kann man behaupten, die missachtende Identität werte sich selbst ab, insofern sie der (illusionären) Überzeugung anhängt, sie genüge sich selbst, sei autark. Mit dieser mehr oder weniger bewussten Selbstbeschränkung, reduziert sie die eigene Denk- und Schaffensfähigkeit ausschließlich auf die Verarbeitung eigener Inhalte.9 Dieser ersten Modalität des Identitätsdiskurses steht jedoch eine weitere Modalität gegenüber, die wir im Einklang mit der dritten idealtypischen Figur der Alterität erfassen können. Es handelt sich dabei um eine Dimension, die man als anerkennende Identität bezeichnen könnte. Sie steht für die Vorstellung, dass die Anerkennung des Anderen auf der Basis der Tür-Alterität bedeutet, sich selbst mit und durch den Anderen anzuerkennen, d.h. auf der Schwelle zu verweilen, in jenem Zwischen, das sich durch die Kluft zwischen der Selbstdarstellung und der heteroinduzierten Widerspiegelung des Selbst auftut, zwischen dem, was ich sein möchte und dem, was die Anderen möchten, wollen oder fordern, dass ich sei. Die anerkennende Identität ist sich der unerwarteten Gelegenheit zur Bereicherung bewusst, die aus jeder Interaktion mit dem Anderen entsteht. Sie weiß, dass der mögliche Gewinn, den sie produziert – in einer Beziehung zwischen Subjekten, die sich wechselseitig als frei und gleich wahrnehmen – höher ist als jeder mögliche Verlust, der sich im Hinblick auf die Selbstdarstellung daraus ergeben könnte. Es handelt sich um eine Identität, die „den Anderen ernst nimmt“, in der Absicht, „sich selbst ernst zu nehmen“ und im Bewusstsein, dass das Ich nur im Rahmen eines permanenten hermeneutischen Prozesses existiert, der es an jedes andere Ich bindet und gleichzeitig von jedem anderen Ich unterscheidet, dem es auf seinem Weg begegnet. Wir können an dieser Stelle ein vorläufiges Ergebnis festhalten: Während die erste Modalität des Identitätsdiskurses eine den Anderen ausschließende Perspektive aufzeigt, die tendenziell die Bedeutung des
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Im folgenden Abschnitt werde ich auf diesen Punkt noch einmal zurückkommen.
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Anderen für die Beantwortung der Frage nach dem Selbst abwertet und ihr letztlich jegliche Relevanz abspricht, nimmt die zweite Modalität eine den Anderen einschließende Perspektive ein, die den Beitrag des Anderen zur Beantwortung der Identitätsfrage tendenziell positiv bewertet und als förderlich einstuft. Auf der einen Seite steht demnach der semantisch-begriffliche Bereich des Missachtens, der auf Unkenntnis hindeutet; es ist die Sphäre, in der ich vom Anderen nichts weiß und nichts wissen will. Auf der anderen Seite lässt sich der Bereich der Anerkennung bestimmen, in dem die für die politische Agenda der Gegenwart besonders bedeutsame Problematik der Integration mitschwingt, d.h. jedes mögliche Selbst wird mit jedem möglichen Anderen in einen Strom stabiler zwischenmenschlicher Beziehungen zu beiderseitiger Zufriedenheit integriert. Ausgehend vom theoretischen Kontext der anerkennenden Identität kommt ein Ausweg (exit strategy) aus einer der Sackgassen in den Blick, in die die aktuelle Debatte über die Anerkennung – wenngleich nur indirekt – geführt zu haben scheint. Zur Diskussion steht, ob nicht alle möglichen Theorien der Anerkennung im Grunde nur Theorien zur Assimilation des Anderen sind, d.h. ob der Akt der Anerkennung des Anderen im Grunde vom Akt der Assimilation an das Selbst unterschieden werden kann. Den Titel von Nussbaums berühmtem Werk über die Fragilität des Guten10 paraphrasierend, könnte man von der Fragilität des Anderen sprechen, von seiner totalen Objektivierung in Funktion des Selbstverstehensprozesses des Selbst. Diese Objektivierung mündet tendenziell in einen Assimilationsprozess, innerhalb dessen alle Unterschiede annulliert, wenigstens aber unterbewertet werden, die zwischen jedem möglichen Selbst und jedem möglichen Anderen, die in einer Austauschbeziehung sind, bestehen und wünschenswerterweise bestehen bleiben sollten. Die Form der Tür-Alterität und die entsprechende Dimension der anerkennenden Identität versucht dagegen einerseits am Bewusstsein der Pervasivität und der Relevanz des Anderen für die Erzählung des Selbst festzuhalten und andererseits das Bewusstsein der Alterität des Anderen zu schärfen, denn trotz seiner Einbeziehung in den Selbstverstehensprozess des Selbst widersteht der Andere, d.h. er existiert wei-
10 Nussbaum, Martha: The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press 1986.
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terhin in einer offenen, aber autonomen Dimension, die von beiden geteilt, in der aber auch die jeweilige Individualität respektiert wird. Der Andere wird ein Teil von uns, ohne dass er deshalb aufhörte, ganz er selbst zu sein. Aus dieser Perspektive heraus bedeutet die Anerkennung des Anderen, zu verstehen, dass er in letzter Instanz nicht auf ein Selbst reduziert werden kann. Er steht über jedem reduktionistischen und reduzierenden Versuch und lebt „in autonomer Beziehung“ zum Selbst. Innerhalb der Beziehung bewahrt er sich, während er gibt, und er gibt nur, insofern er sich bewahrt, d.h. insofern er weiterhin ein vom Selbst Verschiedenes sein kann. Umgekehrt wird die individuelle Identität, wenn sie den Anderen anerkennt, d.h. wenn sie akzeptiert, dass sie keinesfalls vermeiden kann, dass der Andere zu uns kommt, dass er uns nolens volens zwingt, sich mit ihm auseinanderzusetzten, zu einem hybriden Selbst: die Hybridisierung der Identität ist unser Schicksal, unser zwangsläufiger Weg, sie bildet sowohl den Ausgangs- als auch den Endpunkt unserer irreduzibel individuellen Identitätserzählung.
4. D IALEKTISCHE Ü BERLEGUNGEN MÖGLICHEN F REIHEIT
ZU EINER
Mit der Thematisierung des zweiten, eingangs bereits erwähnten, zentralen Aspekts der Verbindung zwischen Anerkennung und Freiheit, soll nun geprüft werden, wie die bisher betrachtete Perspektive sich zur „Freiheitsproblematik“ in ihrer Gesamtheit verhält. Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf zwei für die Thematik klassische Unterscheidungen. Zum einen handelt es sich um die Abgrenzung zwischen Willkür (Arbitrium, free will, libero arbitrio) und Freiheit (libertas, freedom, libertà). Die imposante historische und begriffliche Komplexität, die jener berühmten Unterscheidung zugrunde liegt, kann hier nicht einmal ansatzweise angedeutet werden. Für den vorliegenden Beitrag genügt es, den ersten dieser Begriffe in Betracht zu ziehen, insbesondere jene paradigmatische Definition, die Kant im Kanon der reinen Vernunft in der Methodenlehre der ersten Kritik vorgelegt hat. „Eine Willkür nämlich ist bloß thierisch (arbitrium brutum), die nicht anders als durch sinnliche Antriebe, d.i. pathologisch, bestimmt werden kann. Dieje-
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nige aber, welche unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden, bestimmt werden kann, heißt die freie Willkür (arbitrium liberum), und alles, was mit dieser, es sei als Grund oder Folge, zusammenhängt, wird praktisch genannt“.11
Nach Kant entwickelt sich die Willkür also auf zwei Ebenen. Es gibt zunächst eine Basisebene, die als arbitrium brutum bezeichnet wird: Hier wird die Willkür als rein aneignende Begierde definiert, die von den grundlegenden Bedürfnissen bestimmt wird, die mit den natürlichen Trieben unseres Seins zusammenhängen. Von dieser ersten Ebene kann eine zweite, komplexere unterschieden werden, auf der die Willkür auf der Grundlage von Selbstinterpretationen jener individuellen Wünsche, Willensäußerungen usw. wirkt.12 Nur diese Ebene hat mit den Beweggründen des vernünftig Handelnden zu tun, nur auf dieser Ebene kann von freier Willkür (liberum arbitrium) gesprochen werden. Wenn wir diese berühmte Unterscheidung in einen Zusammenhang mit unserem Thema bringen, könnte man den im Konzept des liberum arbitrium beinhalteten Aspekt folgendermaßen zusammenfassen: „Es gibt für mein Handeln keine anderen – von mir anerkannten – Prinzipien, als jene, die mein Begehren meiner eigenen Prüfung unterstellt“. So verstanden erweist sich der liberum arbitrium als eine Form jener Perspektive, die wir gewöhnlich als „egoistisch“ definieren oder als „solipsistischen Standpunkt der ersten Person Singular“. Diese Perspektive tendiert zur Maximierung dessen, was ich sein möchte oder aus mir machen möchte und minimiert dabei systematisch die analogen Versuche jener Personen, mit denen ich denselben Raum und dieselbe Zeit teile.
11 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Originalausgabe, hrsg. von J. Timmermann, Bibl. von H. Klemme, Hamburg: Meiner 1998, S. 836 (B 830) [Hervorhebung A.P.]. 12 Ich lese die Kant’sche Unterscheidung im Licht der Reflexionen von Henry Frankfurt in seinem berühmten Werk: »Freedom of the Will and the Concept of a Person« [1971], jetzt in: The Importance of What We Care About, Cambridge: Cambridge University Press 1988, S. 11-25, wiederabgedruckt in Taylor, Charles: »What Is Human Agency?« [1977], jetzt in: Human Agency and Language. Philosophical Papers 1, Cambridge: Cambridge University Press 1985, S. 15-44.
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Auf diese Weise kehren wir zur Dimension der missachtenden Identität zurück. Wir begegnen hier erneut der bereits dargestellten Dynamik: Das Subjekt, das auf der Basis des liberum arbitrium handelt, nimmt die Anderen nicht ernst, zollt ihnen nur teilweise oder gelegentlich Respekt und behandelt schließlich – um die zweite Formel von Kants kategorischem Imperativ zu paraphrasieren – die anderen Personen immer und nur als Mittel und nie zugleich als Zwecke an sich selbst.13 Die Perspektive der missachtenden Identität steht, wie bereits erwähnt, derjenigen der anerkennenden Identität diametral entgegen. Wenn wir nun versuchen, diesen Gegensatz mit der begrifflichen Unterscheidung von freier Willkür und Freiheit zu interpretieren, ließe sich die Behauptung aufstellen, dass erstere gänzlich an die egoistische Perspektive der freien Willkür gebunden bleibt, während letztere sich auf der Seite der Freiheit verortet. Unter diesem Blickwinkel kann nun bezüglich der anerkennenden Identität die oben dargelegte zweite klassische Unterscheidung zwischen negativer und positiver Freiheit herangezogen werden. Vor dem Hintergrund der paradigmatischen, von Isaiah Berlin vorgeschlagenen Unterscheidung,14 verbinden wir mit dem Ausdruck negative Freiheit die Vorstellung vom Schutz des Individuums, d.h. die Garantie einer Nichteinmischung von außen: ich bin frei von allen – mehr oder weniger expliziten – Versuchen, mein Handeln durch Instanzen oder Überzeugungen, zu deren Entwicklung ich nicht – weder direkt noch indirekt – beigetragen habe, zu beschränken oder zu beeinflussen. Die positive Freiheit öffnet andererseits einen theoretischen Raum möglicher Antworten auf eine grundlegende Frage, die nur auf individueller Ebene gestellt werden kann: „Was will ich aus mir selbst ma-
13 Kants zweite Formel des kategorischen Imperativs lautet: „Handle so, dass jedes derselben sich selbst und alle anderen niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle“. Vgl. Kant, Immanuel: Grundlegung der Metaphysik der Sitten, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, hrsg. von der Preußischen (Deutschen) Akademie der Wissenschaften, Berlin: Reimer (de Gruyter), 1900- , S. 385-464, hier S. 429. 14 Berlin, Isaiah: »Two concepts of liberty« [1958], jetzt in: Liberty, hg. v. H. Hardy und I. Harris, Cambridge: Cambridge University Press 2002.
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chen?“ Diesen Raum könnten wir als einen „Raum der Selbstbestimmung“ bezeichnen oder mit den Worten Axel Honneths als einen „Raum der Reflexivität“.15 In diesem Raum reflektiert das individuelle Selbst über unterschiedliche mögliche Inhalte seiner Freiheit und richtet sein Verhalten entsprechend jener Inhalte, die es zu seinen eignen erwählt hat, aus. Die im Kontext der zweiten Unterscheidung vorgestellte spezifische Interpretation des Freiheitsbegriffs ermöglicht es, Berlins begrifflichen Entwurf noch einmal anders zu betrachten, insofern die Perspektive der anerkennenden Identität einen gehaltvolleren und differenzierteren Handlungsbegriff impliziert, während das Konzept des englischen Moralphilosophen dagegen im Wesentlichen in der solipsistischen Tradition der klassischen Theorie des modernen Individualismus verbleibt. Die größere Differenziertheit zeigt sich, wenn man die Aufmerksamkeit auf (mindestens) zwei verschiedene, die anerkennende Identität charakterisierende Kennzeichen lenkt.
15 Honneth, Axel: »Recognition as the Basis of Social Freedom and Justice in Hegel«, Paper vorgetragen beim Colloquium Philosophy & Society, geleitet von A. Ferrara am Centro Studi Americani, Rom, 09.05.2008, S. 2. Um den Reifegrad der Überlegungen Honneths zu diesem Thema zu erfassen, siehe: Honneth, Axel: »Gerechtigkeit und kommunikative Freiheit. Überlegungen im Anschluss an Hegel«, in: Barbara Merker / Georg Mohr / Michael Quante (Hg.), Subjektivität und Anerkennung, Paderborn: Mentis 2004, S. 213–227; Honneth, Axel: »From Desire to Recognition: Hegel’s Account of Human Sociality«, in: Michael Quante / Dean Moyar (Hg.), Hegel’s Phenomenology of Spirit. A Critical Guide, Cambridge: Cambridge University Press 2008, S. 76-90. Vom selben Autor eschien kürzlich, als das vorliegende Buch bereits im Druck war, ein Band, der die Überlegungen Honneths zum Thema vereint und detaillierter ausführt: Das Recht der Freiheit: Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin: Suhrkamp 2011. Zur Auseinandersetzung Honneths mit der These Berlins vgl. Honneth, Axel: »Zwischen negativer Freiheit und kultureller Zugehörigkeit. Eine ungelöste Spannung in der politischen Philosophie Isaiah Berlins«, in: Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 282-309. Ich möchte an dieser Stelle Antonio Carnevale danken, der mich auf die eben angeführten Texte hinwies.
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Erstens impliziert die Rede von der Identität an sich bereits eine besondere Aufmerksamkeit für die verschiedenen Kontexte, in denen sich alle möglichen Antworten auf die Frage nach dem Selbst herausbilden und artikuliert werden könnten. Diese Kontextabhängigkeit ist in Bezug auf das Gesamtergebnis weder sekundär noch auf irgendeine Weise vernachlässigbar. Zweitens eröffnet die Rede von der anerkennenden Identität eine Perspektive innerhalb derer, wie oben bereits angedeutet, zugestanden werden kann, dass sich die Antwort auf die Frage nach dem Selbst mit und durch den Beitrag der anderen Person bildet, bestimmt und immer wieder neu definiert. Beide Charakteristika entwerfen und beinhalten ein weitgefasstes und komplexes Beziehungsgeflecht mit den verschiedenen Antlitzen des „Anderen“, sowohl in bestimmter, persönlicher als auch in unpersönlicher Form (Kontexte, Situationen, Wertegemeinschaften). Die Relationalität trägt – in entscheidender, wenn nicht sogar invasiver Weise – dazu bei, dass sich die möglichen Inhalte, mit denen sich das Selbst konfrontiert sieht und für die es sich entscheidet, herauskristallisieren. Einerseits bewirkt das Beziehungsgeflecht mit seinen internen, potentiell unendlichen und a priori undefinierbaren Dynamiken, dass sich die Wahlmöglichkeiten in unvorhersehbarer Form erweitern. Andererseits hat es konkreten Anteil an der Konstitution der Gesamtheit der individuellen Freiheiten, mit denen das Selbst konfrontiert ist und aus denen es seine Wahl trifft. Nicht selten ist der potenzielle Einfluss der Relationalität so groß, dass sie diese Wahl direkt oder indirekt sogar lenkt.
5. I DENTITÄT
UND SOZIALE
F REIHEIT
Die konstitutive Bedeutung, die dem Kontext, insbesondere dem Raum der (nur potentiellen) individuellen Anerkennung zukommt, verlangt eine detailliertere Betrachtung der sozialen Dynamik, im Umkreis derer sich dieser Raum abzeichnet, definiert und strukturiert. Ohne diese Thematik mit der gebührenden Ausführlichkeit darstellen zu können, beschränke ich mich hier darauf, einen möglichen Zugang zu diesem komplexen Themenbereich zu skizzieren, indem ich in synthetischer
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Form zu entfalten versuche, was ich als Problem des Teilens (sharing question) bezeichnen würde.16 Unsere Gegenwart ist durch den unabänderlichen Niedergang des metaphysischen Horizonts und einheitlicher Wertvorstellungen geprägt. Deshalb verweist der Begriff des „Teilens“ heute immer mehr auf die Idee, etwas herauszustellen, hervorzuheben, d.h. etwas in die Öffentlichkeit zu tragen17 und immer weniger auf eine direkte Übereinkunft bezüglich dessen, was mit- und geteilt wird, was den öffentlichen Raum ausfüllt. Teilen bedeutet daher eher „zum Ausdruck bringen“ und weniger „Zustimmung geben“; wobei die Zustimmung heute offen und beinahe ausschließlich unter dem Aspekt des „Resultats“ betrachtet wird, insofern der Aspekt eines „Ausgangspunkts“, einer Einheitlichkeit der Anschauungen und Wertvorstellungen fast völlig aufgegeben oder jedenfalls stark in den Hintergrund gedrängt wurde.18 In diesem Zusammenhang gewinnt die Frage, ob man das, womit die andere Person mich direkt oder indirekt konfrontiert, indem sie mit mir zur selben Zeit in denselben Räumen ist, teilen kann oder nicht, eine besondere Bedeutung. Das Problem stellt sich offenbar nur in einer rein schematischen und abstrakten Situation, in der sich die Interaktion zwischen dem Selbst und den Anderen in einem Kontext vollkommener Fairness entwickelt, jenseits und über jede Machtdynamik hinweg, die unweigerlich dazu tendiert, die Ausrichtung und das
16 Vgl. für eine ausführlichere Einordnung dieser Fragestellung Pirni, Alberto: »Dire comunità, oggi?«, in: Alberto Pirni (Hg.), Comunità, identità e sfide del riconoscimento, Reggio Emilia: Diabasis 2007, S. 86-102. Den in diesem Zusammenhang eingeleiteten theoretischen Versuch, möchte ich hier teilweise noch einmal aufnehmen. Es geht darum, einige Autoren, die m.E. voreilig dem Solipsismus zugerechnet wurden, in die Diskussion um eine erneuerte, relationale Konstruktion des Selbst, die mit und durch die vielfältigen Dimensionen der Alterität erarbeitet wird, mit einzubeziehen. 17 Vereinfachend verstehe ich unter öffentlicher Sphäre hier die gesamte Dimension außerhalb des Ichs. 18 Ich entfalte diesen Aspekt unter besonderer Berücksichtigung der impliziten oder induzierten sozialen und politischen Konsequenzen in Pirni, Alberto: »Tra accettazione e approvazione: dimensioni normative del riconoscimento«, in: post-filosofie IV (2008), S. 77-79.
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Gleichgewicht jeder möglichen Beziehung entscheidend zu beeinflussen und teilweise auch zu verändern. Innerhalb des hier eröffneten Horizonts wird es möglich, einen negativen Aspekt des Problems des Teilens von einem positiven zu unterscheiden: auf der negativen Ebene können wir das Andere, das sich von uns unterscheidet und den Anspruch erhebt, das Zentrum unseres Selbst zu berühren, nicht teilen; während wir auf der positiven Ebene das Andere, das sich von uns unterscheidet und in die Peripherie unseres Selbst integriert, teilen können. Diese schematische Einteilung bedarf einiger Präzisierungen. Die positive Deklination des Problems geht von potentiell unzähligen Formen der Integration des Selbst aus, die eine geistige und moralische Bereicherung des Handelnden darstellen und grundsätzlich dazu tendieren, eine produktive und extensive Dynamik des Selbst zu entfachen, die zum Dialog und zur Auseinandersetzung mit dem Anderen anregt, wobei bereits erworbene und strukturierte Elemente der eigenen Identität bewahrt werden. Die negative Deklination des Problems versucht umgekehrt eben diese Formen als Verzerrungen des Selbst zu blockieren, die statt die dialogische Komponente der Identität anzusprechen und zu stimulieren, eher versuchen würden, was wir (geworden) sind zu verändern, potentiell sogar zu vernichten. Diese Art der Problemstellung schließt außerdem die Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie des Selbst mit ein, die an dieser Stelle nur kurz skizziert werden kann. Das „Zentrum des Selbst“ beschreibt, was wir sind, was wir beanspruchen zu sein oder zumindest sein wollen, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind oder unsere (mehr oder weniger) entwickelte Ausdrucksfähigkeit nicht ausreicht, es sprachlich zu fassen. Auf der anderen Seite umfasst die „Peripherie des Selbst“, was wir im Rahmen größerer Möglichkeiten sein wollen würden, gleichzeitig aber auch alles, was dazu beiträgt, jenes Gesamtbild von uns selbst aufzubauen und zu vervollständigen, das primär im Zentrum des Selbst entsteht. Das Zentrum des Selbst verweist also auf das, was ich nicht aufgeben will oder kann, während die Peripherie des Selbst all das umschreibt, worauf ich zwar nicht verzichten will, aber von dem ich überzeugt werden kann, es dennoch aufzugeben.19 Auf
19 Vgl. zur theoretischen Geschichte dieser Unterscheidung Ferrara, Alessandro: Modernity and Authenticitiy. A Study in the Social and Ethical Thought of Jean-Jacques Rousseau, Albany: State University of New York
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dieser Ebene wird deutlich, dass die Überzeugung, auf einen (sogar bedeutenden) Teil meines Selbstbildes und meines Selbstverständnisses zu verzichten, nur innerhalb eines Kontextes wirksam wird, in dem die Interaktion mit anderen Personen (von mir) als eine Art und Weise, mich selbst ernst zu nehmen, interpretiert und erlebt wird. Bekanntermaßen handelt es sich hierbei um den Kontext, der für die Perspektive der anerkennenden Identität ebenso konstitutiv wie charakteristisch ist. Wir nähern uns ihr nun noch einmal über einen weiteren Argumentationsstrang. Die zweifache Ausrichtung des Problems des Teilens steht im Einklang mit den zwei klassischen, oben vorgestellten Bedeutungen der Freiheit. In Bezug auf den ersten der beiden grundlegenden Aspekte des Problems, der Integration des Selbst, lässt sich die Vorstellung der positiven Freiheit (oder der reflexiven Freiheit, der „Freiheit zu“), die freie Selbstbestimmung des einzelnen Handelnden wiedererkennen. Sie entfaltet sich allein im Gehorsam gegenüber jenen Normen, die sich der Handelnde autonom auferlegt hat, d.h. in der Akzeptanz und Aneignung allein jener Wertvorstellungen, die ihm der Andere vorschlägt und die von ihm im Hinblick auf die Bereicherung des (im weitesten Sinne verstandenen) eigenen Selbst autonom angenommen werden. Betrachtet man andererseits den Aspekt der Verzerrung des Selbst und die Strategie, die der einzelne Handelnde anwenden kann und muss, um sie zu vermeiden, so kann man die Vorstellung der negativen Freiheit (die „Freiheit von“) neu bewerten, d.h. die Willensausübung desjenigen Handelnden, der Einmischung und Einflussnahme seitens anderer zurückweist, insofern Eingriffe von außen sein Selbstbild, was er ist und für sich sowie gegenüber anderen bleiben möchte, bedeutend, wenn nicht sogar entscheidend, verändern könnten. Es zeigt sich also, dass das Problem des Teilens das Freiheitsproblem impliziert, dass im Grunde das gesamte Leben des einzelnen Handelnden die Gemeinschaft und seine Beziehungen zu anderen Personen betrifft. Der Kontext des Teilens wird daher zum Ort, an dem individuelle Freiheit begründet und ausgeübt wird, insofern sie genau dort entsteht, wo Hindernisse ihre Entfaltung verhindern könnten. Wenn sie
Press 1993 (bes. Kap. 5) und Ferrara, Alessandro: Reflective Authenticity: Rethinking the Project of Modernity, London und New York: Routledge 1998 (bes. Kap. 4).
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hingegen allein in der individuellen Sphäre, in der Einzigartigkeit der eigenen Existenz gesucht würde, wäre ihre Erfahrung illusorisch. Die Beziehung zum Anderen, der anfänglich als determinatum, als monolithischer, feindlicher Block erschien, wird zum Ursprung der Freiheit und gleichzeitig zum ersten Bereich ihrer Ausübung. Der Kontext der anerkennenden Identität, innerhalb dessen das Problem des Zusammenlebens auftaucht und sich in verschiedener Ausprägung zeigt, erlaubt eine andere Lesart der Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit. Beide Freiheitskonzepte werden dabei in einen neuen begrifflichen Zusammenhang eingeführt, den Honneth mit dem Ausdruck soziale Freiheit bezeichnet.20 Folgt man seiner Argumentation in Bezug auf die berühmte Unterscheidung, so würde mit seinem Begriff der reflexiven Freiheit (der für die positive Freiheit steht) das größte, mit dem Begriff der negativen Freiheit verbundene Defizit gelöst: der Mangel jedes substantiellen Inhalts, d.h. das Fehlen jeder konkreten Vorstellung, was jeder aus sich selbst machen möchte. Doch auch der Begriff der reflexiven Freiheit würde seinerseits an Grenzen stoßen. Er würde zwar die individuellen Erfordernisse der Selbstbestimmung auf positive Weise herausstellen, allerdings (a) innerhalb einer im Wesentlichen monologischen Konzeption des Selbst und (b) jenseits der bewussten Darlegung der effektiven Bedingungen ihrer Verwirklichung. An diesem Punkt betritt die soziale Freiheit die argumentative Bühne und bietet sich als eine Form zur Überwindung der angesprochenen Defizite an. Mit den Worten Honneths: „What is „social“ […] is the circumstance that we no longer see a given particular institution of social reality as a supplement, but instead as a medium and the condition of the realization of freedom. From this perspective, the individual subject can only bring about the reflective acts that are inherent to selfdetermination when it cooperates in a social organization with others, who reciprocally realize this same kind of action. The institutional actuality, in this instance discourse, is no longer something that must be intellectually added to
20 Honneth, Axel: Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegel’schen Rechtsphilosophie, Stuttgart: Reclam 2001, Kap. II; vgl. auch A. Honneth: »Recognition as the Basis«.
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the selected concept of freedom in order to get to an idea of social justice, but instead is an element of the realization of freedom itself“.21
Ich möchte behaupten, dass die Perspektive der anerkennenden Identität, innerhalb derer die Frage nach der Freiheit gestellt werden kann, ein zusätzliches Element zu dieser Diskussion beitragen kann. Zusammenfassend lässt sich folgende These aufstellen: Das Konzept der anerkennenden Identität enthüllt die grundlegende Unzulänglichkeit der monologischen Perspektive bereits auf der Ebene der Konstruktion der eigenen Identität seitens des einzelnen Handelnden und bevor man sich bewusst die Frage nach der Freiheit stellt. Mit anderen Worten konstituiert sich die Perspektive der anerkennenden Identität als eine Vor-Voraussetzung und gleichzeitig als ein vor-institutioneller Rahmen der sozialen Freiheit. Sie öffnet einen Raum der Intersubjektivität, in dem jeder die ursprüngliche Möglichkeit entdeckt, mit jedem Anderen in Beziehung zu treten und in Beziehung zu bleiben. Er entscheidet dabei in jedem einzelnen Fall, ob er das, was das Zentrum oder die Peripherie des eigenen Selbst berührt, teilt oder nicht teilt. Um es erneut mit den Worten Honneths auszudrücken: Auf der Ebene der sozialen Freiheit wird die Anerkennung zweifellos zu einer „Struktur der Versöhnung“.22 Diese Versöhnung kann aber bereits auf einer der möglichen vor-institutionellen Ebenen stattfinden, insbesondere auf jener, die prima facie am weitesten von ihr entfernt liegt: auf der individuellen Ebene. Auf diese Weise wird das an die soziale Freiheit gebundene institutionelle Bewusstsein nicht nur in seinem Bereich verwirklicht und wirksam, in dem es als Moment einer (hegelianischen) Synthese auftreten würde, die auf die Position der These (die Konstruktion der Identität) und Antithese (die Entdeckung der Alterität) folgte. Im Ge-
21 A. Honneth: »Recognition as the Basis«, S. 3. Honneth kam zu dieser Überzeugung auf einem langen Weg der Reflexion über die Hegel’schen Gedanken. Als Beispiel hierfür kann folgende Textpassage gelten: „Die modernen Lebensverhältnisse werden am Leitfaden der bislang entwickelten Maßstäbe auf eine Weise normativ rekonstruiert, dass an ihnen diejenigen Interaktionsmuster zutage treten, die als unverzichtbare Bedingungen der Verwirklichung der individuellen Freiheit aller Gesellschaftsmitglieder gelten können“. Vgl. A. Honneth: Leiden an Unbestimmtheit, S. 91. 22 Ebd., S. 8.
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genteil, das wirkliche Bewusstsein von der Unvermeidbarkeit der Stufe der sozialen Freiheit wird bereits in jener konstitutiven Dynamik zwischen These und Antithese wirksam, die auf der Ebene der individuellen Freiheit verankert ist. Anders ausgedrückt, die soziale Freiheit wirkt in der Dynamik zwischen der Nicht-Einmischung (negativer Pol) und der Selbstbestimmung (positiver Pol), die den einzelnen Handelnden zu dem Bewusstsein führt, dass er die eigenen Freiheiten immer mit und durch die Anderen ausüben muss, auch schon bevor diese Freiheiten in der institutionellen Dimension eines Staates „verkörpert“ werden. Die unabdingbare Präsenz des Anderen im „Identitätsdiskurs“ erschließt so eine autopoietische und emanzipative Dimension für das Selbst. Sie lädt dazu ein, das legitime Bedürfnis nach einer Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ neu zu überdenken. Dabei sollte jene ausschließende Haltung, die meint, sie speise sich allein aus der Hinwendung zur Innerlichkeit, mit einer auf Pluralismus basierenden Haltung korrigiert und integriert werden, die die Tür zur und für die Alterität dauerhaft offen hält. Nur innerhalb dieses Rahmens dürfen wir hoffen, unsere soziale (und institutionelle) Relationalität mit den „Figuren der Alterität“ zu verändern – weg von einer reinen und eingeschränkten Koexistenz mit „moralischen Fremden“23 hin zu einem bewussten und weitreichenden Zusammenleben von Alteritäten, die sich
freimütig anerkennen und wechselseitig ergänzen.
23 Dieser Ausdruck stammt von Engelhardt, H. Tristram Jr.: Bioethics and Secular Humanism. The Search for a Common Morality, London und Philadelphia: SCM Press und Trinity Press 1991.
Vierter Dialog – Asymmetrische Demokratien?
Soziale Asymmetrie Der Preis der pluralistischen Demokratie? Rortys Antwort auf Rawls E NNO R UDOLPH
1. P LURALISMUS –
VOM
F AKTUM
ZUR
N ORM ?
Unter soziokulturellem Pluralismus verstehen Anhänger und Gegner dasselbe: die Vokabel bezeichnet die regionale oder globale Koexistenz unterschiedlicher Weltanschauungen, Religionen, Riten, Lebensformen und Wertorientierungen unter dem Dach einer die Vielfalt garantierenden und schützenden Rechtsordnung. Gelingender Pluralismus ist Ausdruck einer konsequent geübten aktiven Toleranz, die sich in diskreter Indifferenz gegenüber anderen Lebensformen ebenso äußert wie in der Bereitschaft, die der natürlichen Diversität der individuellen Kompetenzen korrespondierende Asymmetrie der sozialen bzw. ökonomischen Erfolge zu akzeptieren. Die der diskreten Indifferenz entsprechende Haltung wurde von Thomas Jefferson in einem formelhaften Motto zusammengefasst: „Wenn mein Nachbar meint, es gebe 20 Götter oder es gebe keinen Gott, tut es mir nicht weh“. Die Bedingungen der Bereitschaft zur freiwilligen Akzeptanz sozialer Asymmetrie hat John Rawls in seiner Theory of Justice aufgestellt. Rawls spricht vom „Faktum des Pluralismus“,1 dem ‚gerecht‘ zu werden Aufgabe und Auftrag der Verfassung einer „well ordered society“
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Rawls, John: Die Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 299.
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ist, die auf zwei Grundsätzen beruht – dem der Freiheit und dem der Gleichheit –, deren so festgelegte („lexikalische“) Reihenfolge die unvermeidliche soziale Asymmetrie mit einem für alle Beteiligten akzeptablen Gerechtigkeitsmodell kombinieren soll. Es gehört zu den spezifischen Leistungen der gut belegten und für beide Autoren aufschlussreichen Interpretation, die Rorty der Gerechtigkeitstheorie von Rawls gewidmet hat, dass er die logische und politische Voraussetzung, die mit dem „Faktum des Pluralismus“ gegeben ist, radikalisiert hat: Der „Vorrang der Demokratie vor der Philosophie“2 impliziert die These vom normativen Vorrang des Pluralismus vor der philosophischen Begründung einer der Politik vorgeordneten politischen Anthropologie, die eine bestimmte politische Option aus einer Theorie der Wesensmerkmale der Gattung Mensch ableitet. Philosophischer Essentialismus hat ausgedient; die Plausibilität der Demokratie als optimaler Regierungsform und Gesellschaftsordnung zugleich lässt sich nicht aus anthropologischen Axiomen ableiten, wie demjenigen einer gattungsspezifischen Vernünftigkeit als integrierende Universalie, wie sie das Menschenbild in den westlichen Regionen seit der Aufklärung geprägt und normiert hat. Dieser anthropologische Idealismus wurde Rorty zufolge wissenschaftsgeschichtlich überzeugend dementiert: zunächst durch den Siegeszug des darwinistischen Naturalismus in den Naturwissenschaften, sodann, und komplementär dazu, durch denjenigen des Historismus in den Geisteswissenschaften. Rortys wiederholt abgeliefertes Bekenntnis zur kulturgeschichtlichen Bedeutung von Darwinismus und Historismus als points of no return in der Wissenschaftsentwicklung der westlichen Kulturgeschichte,3 kommt einem Bekenntnis zum Nietzscheanismus gleich: Rortys Apologie des Pluralismus nämlich lässt sich lesen wie eine Aneignung von Nietzsches sarkastischer Kritik am „Genius der Gat-
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Rorty, Richard: »Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie«, in: Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, Stuttgart: Reclam 1988, S. 82ff.
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Rorty, Richard: »Menschenrechte, Vernunft und Empfindsamkeit«, in: Wahrheit und Fortschritt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 241-268.
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tung“:4 Nietzsche polemisiert gegen den Hang der Moderne, die ihr inhärente Förderung des Individualismus kontrafaktisch durch Festlegung der menschlichen Individuen auf metaindividuelle, gattungsspezifische Merkmale wie Bewusstsein und Sprache (zoon logon echon) zu unterlaufen. Wie Nietzsche setzt Rorty auf die unhintergehbare Zäsur des Historismus, der nicht zulässt, die Erfahrung historischer Kontingenz durch Annahmen vom ahistorisch identischen Wesen des Menschen zu dementieren. Zudem folgt er Nietzsche in der uneingeschränkten Anerkennung der ‚zweiten Kränkung der Menschheit‘, der zufolge dem Menschen im Verlauf der Evolution kein Privileg zukommt – er ist ein hinreichend im Rahmen des naturalistischen Paradigmas erklärbares Phänomen, ein Mängelwesen mit biologischen Eigenschaften, die der Mängelkompensation dienlich sind. Unter diesen Voraussetzungen wird „Pluralismus“ zu einer Vokabel, die ein Lebensmilieu beschreibt. Verstanden als Erhaltungsbedingung lässt sich folgern, dass die von Rorty gegebenen Empfehlungen – besser Tugenden – sich als konsequente Strategien zur langfristigen Konsolidierung des Milieus verstehen lassen müssen. An erster Stelle steht die Tugend der „Toleranz“, und zwar ausdrücklich im Sinne John Stuart Mills, Thomas Jeffersons und John Deweys: Toleranz verstanden als rationaler Habitus zwecks interessierter Aufrechterhaltung der diskreten Indifferenz. Hinzu kommt die Tugend der „Empfindsamkeit“. Sie ist erlernbar, wie diejenige der Toleranz auch. Die Schule der Toleranz besteht in dem sich trotz Terror und Fanatismus unaufhaltsam global durchsetzenden Pluralismus selbst: es ist in unserem Interesse, die Anderen, die schon da sind, zu dulden, anstatt sie zu diskriminieren oder zu vertreiben. Die „Schule der Empfindsamkeit“ hingegen ist der Roman – verstanden als narrative Verdichtung von Menschenschicksalen, Konflikten und Konfliktbewältigungen, die allesamt gemeinsam haben, die Vielfältigkeit des Menschlichen nicht auf den Singular Mensch zu reduzieren: der Roman, ob von Charles Dickens oder Milan Kundera, handelt von Menschen, nicht vom Menschen: er belehrt nicht, er erzählt; er fordert nicht, er zeigt; er missioniert nicht, er fasziniert ästhetisch; er richtet
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Nietzsche, Friedrich: »Die fröhliche Wissenschaft«, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, 15 Bde., hrsg. von G. Colli und M. Montinari, München, Berlin und New York: DTV und de Gruyter 1980, Bd. 3, S. 590.
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sich nicht an die Menschheit, er richtet sich an die Menschlichkeit: Kundera hat recht mit der Feststellung, „der Roman sei die für die Demokratie geltende Gattung“.5 Das Ziel dieser pragmatischen, weil aus gesundem Selbsterhaltungsinteresse erwachsenen Tugenden liegt in einer nachhaltigen Sensibilisierung für das Leid anderer, – ein Ziel, das mit dem Mittel der offensiven Verteidigung abstrakter und universalistisch formulierter Grundsätze, wie sie etwa den geläufigen Definitionen der Menschenrechte zugrunde liegen, auch bona fide nicht zu erreichen ist: sie sind Manifestationen einer essentialistischen und keiner historistischdarwinistischen Anthropologie. Angehörige verschiedener Kulturen bedürfen in Fällen von Normenkonflikten einer besonderen Fertigkeit – derjenigen, sich Geschichten zu erzählen, Erfahrungen zur Diskussion zu stellen, um sich wechselseitig für ihre jeweiligen Empfindsamkeiten zu sensibilisieren. Dazu eignen sich im westlichen Kontext narrativer Stoffe auch deshalb vornehmlich Romane, weil sie als Vorbilder für den Versuch gelten können, die Gewohnheit doktrinärer Belehrung und Apologetik durch den Stil narrativer Vermittlung zu ersetzen. Die Frage stellt sich, wie die beiden markierten kulturhistorischen Zäsuren – Darwinismus und Historismus (Nietzsche eingeschlossen) – mit den zwei Tugenden einer pluralistischen Demokratie zu tun haben, und in welchem Sinne sie als plausible Konsequenzen aus dem von Rorty geteilten Konzept von Rawls zu bewerten sind, die Möglichkeit einer genuinen Kompatibilität von sozialer Asymmetrie und Gerechtigkeit nachzuweisen.
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Rorty, Richard: »Heidegger, Kundera und Dickens«, in: Eine Kultur ohne Zentrum, Stuttgart: Reclam 2008, S. 76.
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2. R ORTYS R AWLS –
ODER P LURALISMUS ALS TERTIUM ZWISCHEN L IBERALISMUS UND P RAGMATISMUS
Rorty unterscheidet in einem kleinen Traktat „Solidarität und Objektivität“ (prägnanter als in Contingency, Irony and Solidarity, 1989)6 grundsätzlich zwei Archetypen von kollektiven ‚Sinngebungsstrategien‘: deren eine realisiert sich durch Solidarität mit einer vorhandenen – Hegels bürgerliche Gesellschaft könnte hier als Beispiel benannt werden – bzw. einer erst noch zu etablierenden Gesellschaft – Kants Weltbürgergesellschaft könnte hier als Beispiel dienen, – während deren andere sich durch kollektive Orientierung an einer Wahrheit realisiert, die nicht nur für Partikulargesellschaften gilt (Hegel), sondern für alle Menschen zu aller Zeit (Kant). Für diesen zweiten, an einem universal gültigen Wahrheitsbegriff orientierten Typ reserviert Rorty den Terminus „Objektivität“, und zwar in offenkundig dekonstruktiver Absicht, nämlich als Bezeichnung für die Idealform eines Wissens, das mit einer exakten Methode der Erkenntnis generierenden ‚Selbstüberschreitung‘ des individuellen zum transzendentalen Subjekt erzielt wird, an der alle Menschen unabhängig von ihrer geographischen oder ethnischen Position partizipieren können, um so zu einem universal verbindlichen Wissensbestand zu gelangen. Evident ist, dass Rorty damit den modernen, auf Descartes und Kant zurückgehenden Erkenntnisobjektivismus als Modell einer säkularen Strategie universaler Sinngebung und demzufolge Wissenschaft als einen Fall von Weltanschauung bewertet. Das Ziel der Strategie liegt ebenfalls auf der Hand – es sollen Solidaritäten erzeugt werden, wie sie bei Kant durch eine korrespondierende Ethik eigens eingeklagt werden, und wie sie bei dem Kantianer Charles S. Peirce bereits durch den sensus communis einer scientific community generiert werden. Es handelt sich Rorty zufolge bei einer solchen intersubjektiven Verpflichtung auf Objektivität um einen Fall von modernem Transzendenzbezug, insofern die vormals religiös, nunmehr wissenschaftlich integrierten Menschen sich selbst als solche sehen, die ihre jeweilige Partikularperspektive überwinden und auf diese Weise in „unmit-
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R. Rorty: Solidarität oder Objektivität?
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telbarer Beziehung stehen zu einer nichtmenschlichen Realität“.7 Diese zweite Form von Sinngebung, die ohne Gott oder eine andere außerweltliche Transzendenz auskommt, hat das moderne Wissenschaftsideal bekanntlich mit nachhaltigem Erfolg bis heute geprägt. Die an epistemischer Objektivität interessierten Wahrheitsfreunde sind vom Typ des Sokrates: Sie zweifeln an der Tauglichkeit bloß partikularen Wissens und verzweifeln an der exklusiven Selbstgenügsamkeit partikularer Gesellschaften. Dies ist das sokratische Motiv der Moderne, auf das bereits Nietzsche wiederholt verwiesen hat. Die große Schar der praktizierenden Anhänger dieses Solidaritätskonzepts sind zudem überzeugte „Realisten“, d.h. sie glauben, wie noch Peirce, der eigentliche Erfinder des Pragmatismus, an die Übereinstimmung der Wahrheit, die wir entdecken und objektivieren können, mit einer unabhängig von unserer Wahrnehmung existierenden Realität,8 und auch deshalb sind sie Universalisten: d.h. Wahrheit gilt für sie überall in gleicher Verbindlichkeit und nicht nur in einer Region der Erde oder innerhalb einer Ethnie dieser Welt. Deshalb konstruieren die Realisten eine Erkenntnistheorie, die Rorty – hier gänzlich auf Kants Spuren – konsequent unter dem Titel „Metaphysik“ subsumiert, und die geeignet sein soll, den Verbindlichkeitsanspruch der Wahrheit intersubjektiv zu sichern, indem sie ihren Ursprung in die intellektuelle Natur des menschlichen Subjekts verlegen. Die Post-Peirce’schen Pragmatisten – von James über Dewey bis Rorty – hingegen sind die anderen; sie verzichten auf einen emphatischen Wahrheitsanspruch: „Nach ihrer Auffassung ist Wahrheit das, woran zu glauben für uns gut ist, um mit William James zu reden“.9 „Soweit Pragmatisten überhaupt einen Unterschied machen zwischen Wissen und Meinung, handelt es sich bloß um die Unterscheidung zwischen Themen, bei denen man verhältnismäßig leicht zu einer Übereinstimmung gelangen kann, und Themen, bei denen Einhelligkeit schwer zu erreichen ist“.10
7 8
Ebd., S. 11. Vgl. Peirce, Charles S.: Über die Klarheit unserer Gedanken, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1985, S. 81.
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R. Rorty: Solidarität oder Objektivität?, S. 14.
10 Ebd., S. 15.
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Es geht also um den Grad der Anwendbarkeit des Wörtchens „Wir“: geteilte Meinungen – z.B. diejenige, der zufolge es sinnvoll ist, unbegrenzt viele Meinungen nebeneinander bestehen zu lassen – solidarisieren, ohne für die betreffende Meinung den Anspruch objektiver Verbindlichkeit zu erheben. Sie dienen der pragmatischen Lebensbewältigung durch und in Gemeinschaft – bis auf Widerruf. Pragmatismus – verstanden als das Prinzip des solidarischen Umgangs mit sozialer Diversität bzw. weltanschaulicher Divergenz – und Pluralismus – verstanden als die normative Gestalt der irreduziblen Pluralität individueller und kollektiver Lebensformen auf diesem Globus – komplementieren einander. Diese Auffassung spiegelt sich in Rortys Berufung auf die paradigmatische Bedeutung von Historismus und Darwinismus: „Eine Untersuchung des Wesens der Erkenntnis kann nach pragmatischer Auffassung nur eine soziohistorische Darstellung der Verfahren sein, mit deren Hilfe verschiedene Leute versucht haben, Einigkeit über die zu vertretenen Überzeugungen zu erzielen“.11 Eine solche Einigkeit wird sich nach Überzeugung der Pragmatisten stets eher in zumeist ethnisch integrierten Partikulargruppen herstellen, – und dies genügt dem Pragmatisten: der Pragmatist ist ein strategischer, kein ideologischer Etnozentrist: „Sich ethnozentristisch verhalten heißt: das Menschengeschlecht einteilen in diejenigen, vor denen man seine Überzeugungen rechtfertigen muss („wir“; ER), und die übrigen. Die erste Gruppe – der ethnos – umfasst diejenigen, mit deren Meinungen man genügend übereinstimmt, um ein fruchtbares Gespräch möglich zu machen“.12
Dies ist der Punkt, an dem die konstruktive Bezugnahme Rortys auf Rawls eine gewisse Brisanz zu bewältigen hat. Rorty ist sich dessen bewusst, dass „kantianische Liberale wie Rawls“ eher als Gegner der ethnozentrisch orientierten, des Relativismus verdächtigen und vor allem der wahrheitsenthaltsamen Pragmatisten einzustufen sind. Der „einsame Provinzialismus“ dieser Haltung, wie sie ihn bei den kommunitaristischen Apologeten des kulturellen und politischen Partikularismus zu spüren glauben, ist ihnen unheimlich. Man muss allerdings hinzufügen, dass sich die Haltung des Rawls’schen Liberalismus kei-
11 Ebd., S. 17. 12 Ebd., S. 27f.
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neswegs darin erschöpft. Vielmehr sieht der Liberalist seines Profils, dass epistemischer Realismus nur eine mögliche Variante methodischer Objektivierung ist (Peirce), aber keine notwendige. Es ist diese Flexibilität, die es Rorty ermöglicht, sich, trotz seiner Selbstzurechnung zum „Ethnozentrismus“, als bekennender Rawlsianer zu profilieren – genauer: er stilisiert die Rawl‘sche Verteidigung des Pluralismus von Optionen des Guten – den „rationalen Pluralismus“ als Einsicht in die Faktizität des Gegebenen – zum Markenzeichen des ethnozentristischen Pragmatismus und vermittelt ihm damit normative Bedeutung. M.a.W.: Ethnozentrismus und Pluralismus bewertet Rorty als zwei Seiten einer Medaille – und durch diese Wendung macht Rorty sich nicht nur Rawls’ Intention zu Eigen, er stiftet vielmehr eine originäre politische Synthese aus Pragmatismus und Liberalismus. Rorty weiß und bekennt: die Liberalisten haben unseren Demokratien unverzichtbare Freiheitsgrade verschafft: „Selbst wenn der typische Charakter der Menschen in liberalen Demokratien tatsächlich fade, berechnend, kleinlich und unheroisch sein sollte“ – hier markiert Rorty mit auffälliger Ironie das Feinbild der Kommunitaristen –, „kann die Vorherrschaft solcher Personen dennoch ein angemessener Preis sein für die politische Freiheit“:13 Pluralismus der Ethnien als dritter Weg zwischen Individualismus und Universalismus.
3. V OM
VERMEINTLICHEN
T ROST
DER
M ETAPHYSIK
Die Frage stellt sich: was erklärt den Erfolg des realistischen Universalismus von Platon bis Peirce, bzw. den der abgewandelten nominalistischen Version Kants? Was an ihm ist nützlich, ja unverzichtbar, was überholt in der Zeit eines sei es faktisch gegebenen, sei es normativ vorgegebenen sozialen und weltanschaulichen Pluralismus? Die universalistischen Realisten sind erkenntnistheoretische und wahrheitskonstruktive Metaphysiker, die ihrer Position eine anthropologische Legitimation verschaffen. Diese Eigenschaften zählen nicht zu ihren Attraktionen aus Rortys Sicht. Diese Metaphysik führte zum Erfolg,
13 Rorty, Richard: »Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie«, in: Solidarität oder Objektivität?, S. 103.
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weil sie ein anthropologisches Bedürfnis auf hohem Niveau befriedigt: sie dient der Tröstung: „Die Vorstellung von der menschlichen Natur als einer inneren Struktur, durch die alle Angehörigen der Art zur Annäherung an denselben Konvergenzpunkt und zur Anerkennung der Ruhmwürdigkeit der gleichen Theorien, Tugenden und Kunstwerke gebracht werden, gibt uns die Gewissheit, dass die Künste und Wissenschaften der Griechen auch im Falle eines Sieges der Perser früher oder später an anderer Stelle zum Vorschein gekommen wären. Sie gibt uns die Gewissheit, dass die Errungenschaften der westlichen Demokratien von unseren späten Nachfahren wiederholt werden, selbst wenn die Orwellschen Bürokraten des Terrors tausend Jahre lang regieren. Sie gibt uns die Gewissheit, dass sich der Mensch durchsetzen wird...“14
Und: der Mensch habe ein „Recht“ darauf, er zählt darauf. Die Überzeugung von einer objektiven Gegebenheit der Welt – verständlich für eine die Gattung organisierende Vernunft – korrigiert nicht nur den Subjektivismus partikularer Perspektiven, sondern: Wahrheit – wenn sie der Kontingenz entzogen ist – tröstet, und darin liegt ihr religionsäquivalenter Wert. Keine Gesellschaft ohne Trostbedürfnis, ergo: keine Gesellschaft ohne Appetit auf Wahrheit. Was die Religion auf diesem Markt nicht mehr verbürgen kann, bietet das Wissen. Das Geheimnis des epochalen Erfolgs der Säkularisierung scheint gelüftet – anders allerdings als bei Hans Blumenberg, der glaubt, dass die Säkularisierung erfolgreich war, weil der Mensch sich hinreichend dafür gerüstet hatte, ohne Trost leben zu können. Der Transzendenzbedarf der Realisten befriedigt sich über eine anthropologische Begründung der Rechte des Menschen auf universal verbindliche Verankerung ihrer Gattungsprivilegien. Das wesentliche Privileg besteht in der theoretischen und praktischen Verfügung über eine objektiv gegebene Welt. Der Pragmatist hingegen beansprucht für sich, ohne einen solchen immer noch metaphysischen Trost leben zu können, und stattdessen mit einem sozialen Trost auszukommen, der den metaphysischen ersetzt: „Er will es erreichen, dass die Solidarität als unser einziger Trost gilt, und man solle einsehen, dass sie keiner metaphysischen Stützung
14 R. Rorty: Solidarität oder Objektivität?, S. 29.
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bedarf“.15 Das wirkt ebenso souverän wie moderat, ebenso nüchtern wie selbstbewusst, zugleich aber verweist Rorty auf den Anspruch der Pragmatisten, eine attraktivere Form von Solidarität zu ermöglichen, nicht diejenige in Gestalt der verbindenden Übereinstimmung in der gegebenen Objektivität der Wahrheit – ich nenne sie die „abstrakte“ oder „vertikale“ Transzendenz –, sondern diejenige in Gestalt praktikabler Solidarität, wie sie in überschaubaren und bereits traditionell integrierten Ethnien herstellbar ist – ich nenne sie „konkrete“ oder „horizontale“ Transzendenz. Bliebe es bei diesem Ergebnis – Rorty ersetzt den Trost der Metaphysik durch den der Solidarität –, entstünde der Verdacht, dass Rorty im Anschluss an die erste der beiden eingangs unterschiedenen Sinngebungsstrategien zum Advokaten einer pragmatistischen Version des Kommunitarismus geworden ist – wofür auch sein Plädoyer für einen spezifischen Ethnozentrismus sprechen würde. Aber als Gegengift gegen eine drohende babylonische Gefangenschaft im Lager des kommunitaristischen Antiliberalismus wirkt seine originelle Aneignung des pluralistischen Credo von John Rawls, und zwar, wie ich zeigen will, über die schon erwähnte Synthese Ethnozentrismus und Pluralismus hinaus in zwei Schritten: 1) Rorty vollzieht die Abgrenzung zu den Kommunitaristen wie auch zu solchen Autoren, die die liberale Demokratie nur durch das Fundament einer essentialistischen Anthropologie als legitimiert erachten – hier stellt er in provokanter Manier die frühen Frankfurter als auch Heidegger mit den Kommunitaristen in eine Reihe – nahezu polemisch: Charles Taylor, Martin Heidegger und die Autoren der „Dialektik der Aufklärung“ würden behaupten, dass keine Gesellschaft überleben könne, die die Idee einer „ahistorischen moralischen Wahrheit“ beiseite räume: „Horkheimer und Adorno etwa vermuten, in einer entzauberten Welt könne es keine moralische Gemeinschaft geben, weil es nicht klar sei, wie es sich verhindern ließe, daß ‚das blindlings pragmatisierte Denken seinen aufhebenden Charakter (verliert), und darum auch die Beziehung auf Wahrheit‘“.16
15 Ebd., S. 29. 16 R. Rorty: »Der Vorrang der Demokratie«, S. 86.
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Rorty, selbst markanter Kritiker der Moderne, der nicht verwechselt werden möchte, sieht den antimodernen Essentialismus der Frankfurter, Heideggers und Taylors dort, wo sich keiner von ihnen wieder finden möchte: in einem gemeinsamen Boot. 2) Gegen diese nicht ohne Provokation markierte Front rüstet sich Rortys nachmetaphysischer Pragmatismus mit Rawls, indem er Rawls aus den Fesseln von Kants normativem Vernunftuniversalismus befreit. Zwar hat Rawls in Theory of Justice affirmativ erklärt, sein fiktiver „Urzustand“, – in dem sich die Menschen hinter einem „Schleier der Unwissenheit“ auf einen von ihnen als gerecht akzeptierten Status in einer künftigen Gesellschaft verständigen –, lasse sich auffassen „als eine verfahrensmäßige Deutung von Kants Begriff der Autonomie und des Kategorischen Imperativs im Rahmen einer empirischen Theorie (kursiv v. Vf.)“.17 Aber nur oberflächlich betrachtet liest sich dies wie ein klares Bekenntnis zum Kantianismus. Genau besehen ist Rortys Versuch einer ‚freundlichen Übernahme‘ der Position von John Rawls gerade auf der Grundlage solcher Festlegungen nicht aussichtslos, da die Transformation des transzendental verankerten sittlichen Imperativs in eine bloß „empirisch“ begründete Theorie, wie Rawls sie ausdrücklich für sich reklamiert – eine Theorie nämlich, die auf Fakten, wie den Pluralismus, und mehr oder weniger gesicherte Befunde, wie den natürlichen „Gerechtigkeitssinn“ baut –, von Kant wohl schwerlich akzeptiert worden wäre: sie ist mit dem Ansatz einer gerade nicht empirisch, sondern transzendental fundierten Rechtsethik unvereinbar. Nach Rortys Deutung kann Rawls zufolge „die Philosophie als Suche nach der Wahrheit in Bezug auf eine unabhängige metaphysische und sittliche Ordnung keine anwendbare gemeinsame Basis abgeben für ein politisches Gerechtigkeitskonzept in einer demokratischen Gesellschaft“.18
Rawls ist Rorty zufolge ein konsequenter Empiriker, der dem methodischen Zugang genüge,
17 Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 289. 18 R. Rorty: »Der Vorrang der Demokratie«, S. 91.
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„eingefleischte Überzeugungen zu sammeln, wie etwa den Glauben an religiöse Toleranz und die Ablehnung der Sklaverei, um dann zu versuchen, die in diesen Überzeugungen enthaltenen intuitiven Grundgedanken und Prinzipien in ein kohärentes Gerechtigkeitskonzept einzugliedern“.19
Mit dieser „durch und durch historisch und antiuniversalistischen“ Einstellung könne sich Rawls erfolgreich gegen Kant behaupten und das Bemühen der Aufklärung, sich von der Überlieferung und der Geschichte loszusagen, um sich auf Vernunft oder Natur zu berufen, als Selbstbetrug entlarven“.20 Damit hat Rorty Rawls da, wo er ihn hin haben will: emanzipiert von Kant und eo ipso unbetroffen vom Universalismus des zweiten Solidaritätmodells – dem der „horizontalen Transzendenz“ – versöhnt er ihn mit dem Prinzip des Historismus und entzieht ihn nicht nur ‚solidarisch‘ dem Visier der Kommunitaristen, sondern mehr noch – er schließt einen Pakt und konstruiert mit ihm eine originäre Synthese aus Pragmatismus und Liberalismus: Ein exemplarisches Specimen dekonstruktivistischer Mehodik.21 Rawls – ein pragmatistischer (und nicht metaphysischer) Liberaler, Rorty ein liberaler (und nicht kommunitaristischer) Pragmatist: die Koalition ist geschmiedet. Der dritte Weg – nicht in Frankfurt, sondern derjenige eines Bündnisses zwischen Princeton und Havard – ist gefunden. Er führt zu einem Moderne-kritischen Liberalismus, der nicht in der Weise, wie die erwähnten ‚drei Männer im Boot‘ (Horkheimer, Heidegger, Taylor) mit der Moderne in toto bricht. Die-
19 Ebd. 20 Ebd. 21 Für das, was sich Rawls vorgenommen habe, sei es dementsprechend unnötig, das menschliche Ich als eine Entität mit Zentrum, Wesen, Vernunft oder göttlichem Funken zu denken; „Es steht uns frei, das Ich als etwas ohne Zentrum, als reine historische Zufälligkeit anzusehen. Den Vorrang des Rechten vor dem Guten so zu verteidigen, wie Kant – nämlich durch Berufung auf eine Theorie des Ich, die es für mehr erklärt als ein ‚empirisches Ich‘, für mehr als ein ‚radikal situiertes Subjekt‘, hat Rawls weder nötig, noch will er so vorgehen“ (R. Rorty: »Der Vorrang der Demokratie«, S. 99). Rawls könne sich zufrieden geben mit einer Konzeption, die das Ich des Menschen als mittelpunktloses Netz historisch bedingter Überzeugungen und Wünsche auffasst (ebd. S. 104f.).
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ser dritte Weg ist weder kommunitaristisch – er glaubt nicht an die Verpflichtung frei situierter Individuen auf eine Polismoral –, noch ist er klassisch liberalistisch im Sinne einer Bereitschaft zur Integration der Individuen durch einen homogenen Freiheitsbegriff als Gattungsmerkmal vernunftbegabter Wesen. Er ist allenfalls liberalistisch in zweiter Potenz, da er die Auffassung teilt, dass es – unter Berufung auf Mill und Jefferson, bei auffälliger Unterschätzung Kants – so viele Freiheiten gibt wie Menschen, denen Freiheit zugebilligt wird. Mit Kant ist diese pluralistische Auslegung seines Freiheitsbegriffs durchaus vereinbar – ergibt sie sich doch zwingend aus der Anwendungslogik des moralischen Imperativs, der zufolge jedes Individuum in autonomer Entscheidung von der Freiheit Gebrauch macht, die zu erhalten der Imperativ gebietet, ohne dem Einzelnen den Inhalt seiner Entscheidungen vorzuschreiben. Diese pluralistische Konsequenz aus Kants Freiheitskonzeption billigt Rorty Kant nicht zu. Zu sehr ist er fixiert auf Kants Vernunftmonismus als Paradigma eines seit Darwin, Nietzsche und Historismus unhaltbar gewordenen ahistorischen und nicht selten kulturimperialistisch auftretenden anthropologischen Essentialismus.
4. F AZIT Die Rorty‘sche Synthese aus Liberalismus und Pragmatismus unterläuft nicht nur das Trostangebot des sokratisch-kantischen Transzendenztyps, sondern ebenso den des solidaristischen im Sinne der Gemeinschaftsverpflichtung, wie sie von den kommunitaristischen Missionaren gefordert wird: die pragmatistische Bedürfnislosigkeit an inklusiver Wahrheit, vormoderner oder moderner Metaphysik und den ihnen korrespondierenden Trostangeboten konvergiert mit der kontingenten Situiertheit des “ungebundenen Selbst“ im Sinne David Humes und John Deweys. Das ungebundene Selbst als Gegenentwurf zum animal rationale: dem pragmatistischen Liberalismus eine Tugend, den Kommunitaristen ein Fluch. Die Gemeinschaft dieser Individuen ist weder nur Gesellschaft von „atomistischer Struktur“ (so die geläufige Kritik der Kommunitaristen am Liberalismus), noch republikanisch im traditionellen Sinne. Sie ist ein Zweckbündnis von Menschen, die sich in der ersten Person Plural auf sich beziehen, weil und solange sie dieselben Überzeugungen teilen – z.B. die, dass das Leid der Menschen
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auf dieser Welt verringert werden soll, vor allem aber die, dass eine Gesellschaft erst dann das Prädikat „well ordered“ verdient, wenn sie unbegrenzt viele unterschiedliche und einander entgegengesetzte Überzeugungen nebeneinander bestehen lassen kann, ohne zu zerbrechen. Rorty markiert seine Differenz zu den Kommunitaristen in diese Sache hinreichend deutlich: „Anstatt…anzudeuten, die philosophische Reflexion oder eine Rückkehr zur Religion könne uns instand setzen, die Welt erneut zu verzaubern, sollten sich die Kommunitarier meines Erachtens an die Frage halten, ob die Entzauberung uns per Saldo mehr Schaden als Nutzen gebracht oder mehr Gefahren herbeigeführt als verhütet hat“.22
Die durch Entzauberung gewonnenen Freiheiten waren das Experiment jedenfalls wert, selbst wenn es scheitert – etwa daran, dass die zur Stabilisierung des sozialen Pluralismus erforderlichen Tugenden das unvermeidbare Ausmaß an sozialer Asymmetrie nicht in zumutbaren Grenzen halten können.
22 R. Rorty: »Der Vorrang der Demokratie«, S. 109.
Demokratische Differenzen. Anerkennung. Scham Kritik der inklusiven Vernunft A NTONIO C ARNEVALE
O trinke Morgenlüfte, Bis dass du offen bist, Und nenne, was vor Augen dir ist, Nicht länger darf Geheimnis mehr Das Ungesprochene bleiben, Nachdem es lange verhüllt ist; Denn Sterblichen geziemet die Scham, Und so zu reden die meiste Zeit, Ist weise auch, von Göttern. HÖLDERLIN / GERMANIEN
Alle politischen Systeme – auch die Demokratie – sind historische Systeme. Das bedeutet weniger, dass jedes politische System einen Anfang hat und ein Ende haben kann (doch auch wer die Demokratie für eine endgültige Errungenschaft hält, irrt), es bedeutet vielmehr, dass die Lebensdauer eines politischen Systems davon abhängt, auf welche Weise es ihm gelingt, sich selbst zu stärken und zu legitimieren. Dabei kommt es auf eine gerechte Partizipation der sozialen Differenzen an, die die Grundlage des demokratischen Konsenses bilden.
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An diesem Punkt unterscheidet sich die Demokratie m.E. von allen anderen politischen Systemen, die wir bis heute kennengelernt haben.1 Der historische Charakter jedes politischen Systems impliziert, hegelisch gesprochen, Endlichkeit, allerdings eine Endlichkeit, die sich der Vergänglichkeit, der Notwendigkeit zu entziehen weiß. Endlichkeit bedeutet nicht sinnliche Gewissheit seiner selbst, seiner Einzigartigkeit, im Gegenteil, sie steht für das Bewusstsein einer Differenz, für das Bewusstsein, dass jedes politische System eine „offene Wette“ zwischen Vergangenheit und Zukunft darstellt, dass es keine Verantwortung ohne Partizipation, keine Solidarität ohne gute soziale Beziehungen gibt und der Konsens sowohl Gehorsam als auch Revolte beinhalten kann.2 Die historische Qualität politischer Systeme lässt sich deshalb nicht daran ermessen, wie lange sie an ihren Gründungsprinzipien festhalten, sondern daran, inwiefern es ihnen gelingt, aus sich herauszugehen, ihre eigene Autorität hinter sich zu lassen, um nach neuen Möglichkeiten zu suchen, den expliziten und impliziten Pflichten gegenüber der Zivilgesellschaft nachzukommen. In diesem Beitrag möchte ich zeigen, wie das Thema der Differenz die Demokratie gezwungen hat, sich zu „häuten“ (1 und 2) und schließlich dazu führte, dem demokratischen Prozess die Züge eines „Kampfs um Anerkennung“3 zu verleihen (3), d.h. eines dialektischen Kampfs, der uns zwingt – das ist meine Hauptthese – einmal mehr das moralische Empfinden unserer politischen Systeme neu zu definieren: Nach der Angst als Grundlage des Gesellschaftsvertrags der frühen Moderne und der Schuld als Basis für Toleranz und Recht in den multikulturellen Gesellschaften, sind wir bei der postmodernen Scham angelangt, jenem intersubjektiven Gefühl, in dem sich das Private und das Öffentliche, die Stimme und der Blick, das Selbst und der Andere, Flucht und Präsenz, Freiheit und Kontingenz, intersubjektive und institutionelle Vulnerabilität vermischen und überschneiden (4). Anhand der Analyse dieses Gefühls werde ich versuchen, einige kurze
Aus dem Italienischen von Monika Pelz. 1
Bobbio, Norberto: Die Zukunft der Demokratie, übers. von S.G. Alf Berlin: Rotbuch 1998.
2
Moore Jr, Barrington: Injustice: Ungerechtigkeit: die sozialen Ursachen von Unterordnung und Widerstand, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982.
3
Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992.
D EMOKRATISCHE DIFFERENZEN
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Schlussbetrachtungen zu skizzieren, die auf halbem Wege zwischen einer Kritik der inklusiven Vernunft und einer kritischen inklusiven Vernunft liegen (5).
1. In den letzten sechzig Jahren der Geschichte der demokratischen politischen Systeme hat die Problematik der sozio-ökonomischen und ethno-kulturellen Differenzen auf dramatische Weise deutlich werden lassen, wie weit die Demokratie davon entfernt ist, die am wenigsten schlechte unter den verschiedenen möglichen Regierungsformen zu sein. D.h. immer noch ist sie keine Regierungsform, die um ihrer selbst willen angestrebt wird, statt einer Zivilkultur beschreibt sie eher ein System von Regeln, das von den Subjekten, für die es bestimmt ist, aus Gewohnheit oder Trägheit akzeptiert wird. So zeigt sich, dass es in unseren Gesellschaften eine tief verwurzelte „demokratische Kultur“ immer noch nicht gibt. Sie bleibt ein am Horizont fixiertes Ideal, ein undefiniertes Bild, das uns nicht zu verstehen erlaubt, ob es sich nähert oder entfernt. Darüber hinaus zeitigt die demokratische Kultur, wenn sie sich in der Realität zeigt, m.E. paradoxe Resultate: sie ist nur im Bewusstsein von wenigen präsent, die ihre Fahne hochhalten, während sie in vielen Situationen, die durch Ungerechtigkeit und Unfreiheit gekennzeichnet sind, fehlt, wenngleich sie gerade dort am meisten gebraucht würde. Seit den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts brachten moralische Forderungen von Männern und Frauen, ihr Anspruch auf Differenz, gemeinsam mit sozialen Bewegungen jeder Art, in den Kämpfen für die Anerkennung marginalisierter sozialer Gruppen und ausgegrenzter kultureller Minderheiten das Fundament des Gesellschaftsvertrags, auf den sich die alte demokratische Ordnung stützte, ins Wanken. Zunächst vor allem in praktischer Hinsicht. Die Bilder von Feministinnen, Arbeitern, antirassistischen Aktivisten, Pazifisten, Umweltschützern, Schwulen und Lesben, die im Namen der höchsten demokratischen Prinzipien gegen die Institutionen der weithin als demokratisch geltenden Länder (USA, Kanada, Frankreich, Deutschland, Italien und Großbritannien) protestierten, sollten uns zu denken geben: Wie alle ihr vorausgegangenen Regierungssysteme muss sich auch die Demokratie ernsthaft mit der historischen Kontingenz der sozialen
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Bewegungen und den politischen Kämpfen, die sie durchziehen, auseinandersetzen. Das führt zu einer Reihe von bedeutsamen Konsequenzen. Betrachtet man die Prozesse zur Institution öffentlicher Politiken, lassen sich Veränderungen feststellen. Jahrelang setzten unsere Demokratien auf ein an der kulturellen Mehrheit ausgerichtetes politisches System, das auf einem mononationalen Staatsbürgermodell beruhte. Innerhalb dieses Modells galt die ethno-kulturelle Diversität als Gefahr für die politische Stabilität. Kulturelle Differenzen wurden in die Privatsphäre verbannt, es fehlte jegliche öffentliche Unterstützung im Kampf um die Anerkennung differenzierter Rechte. Daraus resultierten eine Reihe von politischen Zwangsmaßnahmen gegenüber Migranten, nationalen Minderheiten und indigenen Populationen, mit denen die Angehörigen dieser Gruppierungen zu der Wahl gezwungen wurden, sich zu assimilieren oder aber marginalisiert zu werden. Heutzutage ist man sich dagegen des Zwangscharakters dieser öffentlichen Politiken bewusst, weshalb wir von einem Assimilationsmodell, das die Differenzen leugnet, zu einem Anpassungsmodell übergegangen sind, das Diversität anerkennt. Die Gesamtheit der von den verschiedenen Staaten allgemein angewandten Verfahren lassen außerdem Wertmaßstäbe für Interventionen erkennen, die nicht nur eine Veränderung im Ansatz oder der momentanen politischen Mentalität andeuten, sondern einen grundlegenden Wandel in der Natur des demokratischen Konsenses widerspiegeln. Viele Wissenschaftler haben deshalb kein Problem damit, offen von einem Übergang zu einem anderen Demokratiemodell zu sprechen. Auch wenn man die aufeinanderfolgenden Demokratiemodelle unterschiedlich charakterisieren kann (David Hell schlägt ca. zehn Kriterien vor),4 möchte ich in diesem Beitrag, ausgehend von Iris Marion Young,5 behaupten, dass die große normativ bedeutende Veränderung sich im Übergang von einem ersten Modell der „aggregativen Demokratie“ zu einem zweiten Modell der „deliberativen Demokratie“ vollzogen hat.
4
Held, David: Models of Democracy, Cambridge: Polity Press und Stanford University Press 1987.
5
Young, Iris Marion: Democracy and Inclusion, Oxford: Oxford University Press 2002.
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Unter aggregativer Demokratie versteht man einen Demokratietyp, bei dem sich Vereinigungen oder Gruppen von Bürgern allein aufgrund ihrer an Interessen orientierten Präferenzen ihre Vertreter wählen und vor allem entsprechend eines politischen Opportunismus festlegen, von wem sie sich repräsentieren lassen wollen.6 Die allgemeine Regelung des demokratischen Prozesses stützt sich auf eine doppelte politische Verpflichtung. Die erste Verpflichtung betrifft Fragen der Vollmacht und Repräsentation: Da es nicht möglich ist, dass alle im Namen aller regieren, ist es besser, sich wenigen Ausgewählten zur Repräsentation anzuvertrauen. Jeder Bürger überträgt die Verteidigung seiner eigenen Interessen an seine Repräsentanten, die seine Ansprüche und Forderungen im Rahmen eines freien und unparteiischen Wahlkampfs vertreten. Die zweite Verpflichtung betrifft nicht den Wahlkampf, sondern die Regierungsprinzipien, allen voran das Prinzip, wonach die „Mehrheit“ regiert: In einem freien Wettstreit zwischen Interessengruppen werden die Repräsentanten der Sieger vor allem zur Förderung der Interessen der eigenen Gruppe in die Regierung gerufen. Es ist leicht einsichtig, dass bei dieser Art von Demokratiemodell der Wahlkampf nicht nur ein Mittel der Politik ist, sondern vor allem einer ihrer grundlegenden Zwecke, eine ihrer Bedingungen, wichtiger noch als der Konsens, wichtiger als die Macht (kratos) des Volkes (demos). Aus diesem Grund wird diese Demokratieform auch als „Wahldemokratie“ bezeichnet. Zweifellos erfährt der Pluralismus innerhalb dieses Modells einige Beachtung, er erscheint als natürliche Konsequenz der Durchsetzung freier Interessen unterschiedlicher Gruppen in der Öffentlichkeit. Dennoch begünstigt allein die Anerkennung des politischen Werts der Interessen einer einzelnen Gruppe in keinster Weise das Entstehen einer öffentlichen Debatte, die offen und demokratisch geführt wird. Robert Dahl sprach in diesem Zusammenhang von der Demokratie als „Polyarchie“.7 Die in einem bestimmten Interessenumfeld entstandenen Gruppen haben das Ziel, ihre eigenen Interessen um jeden Preis durch-
6
Vgl.: Macpherson, Crawford Brough: The Life and Times of Liberal Democracy, Oxford: Oxford University Press 1977; Lijphart, Arend: Democracies. Patterns of Majoritarian and Consensus Government in Twenty-one Countries, New Haven: Yale University Press 1984.
7
Dahl, Robert: Democracy and Its Critics, New Haven und London: Yale University Press 1989.
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zusetzen und betrachten ihr zielgerichtetes Verhalten selten als begründungsbedürftig. Sie neigen dazu, normative Kriterien anzuwenden, die politische Diskussionen möglichst verhindern, um zu vermeiden, sich rechtfertigen zu müssen. Wie die Erfahrung der Weimarer Republik8 gezeigt hat, kann eine Vielzahl von Verbänden und Vereinen unter gewissen Umständen eher als Zersetzungsfaktor, denn als soziales Bindemittel wirken. Im Fall der Weimarer Republik begünstigte die sprunghaft ansteigende Zahl von Vereinigungen, die in ihrer Struktur durch eine starke Tendenz zur Segmentierung und Fragmentierung charakterisiert waren, die Instabilität, nicht aber die demokratische Konsolidierung. Dies wird als einer der Faktoren für den Niedergang der Weimarer Republik und gleichzeitig für das Aufkommen des Nationalsozialismus betrachtet. Die Grenzen des aggregativen Modells zeigen sich nicht nur in Bezug auf seine egoistische und eher unkommunikative Natur, sie werden auch unter einem anderen Blickwinkel sichtbar: dieses Modell unterscheidet nicht zwischen einfachen Vereinigungen von Individuen und komplexeren Gefügen wie den „sozialen Gruppen“.9 Während Vereine von Individuen getragen werden, die autonom und auf der Basis eines spezifischen Interesses entscheiden, diese Vereine zu gründen oder ihnen beizutreten, beschreibt die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe eine weniger freiwillige Tatsache. In einigen Fällen gehört man ihr durch Geburt an (kulturelle Gruppe), in anderen ergibt sie sich aus der Interaktion mit der gesellschaftlichen Struktur (soziale Klasse) und meistens handelt es sich um eine Mischung aus beiden Fällen. Beim Eintritt in eine soziale Gruppe übernehmen die Personen nicht
8
Berman, Sheri: »Civil Society and the Collapse of the Weimar Republic«, in: World Politics 49, 3 (1997), S. 401-429.
9
Iris Marion Young definiert „soziale Gruppe“ in ihrem Hauptwerk: Justice and the Politics of Difference, Princeton: Princeton University Press 1990. Siehe auch die Definition von „sozialer Gruppe“ in Bashir, Bashir: »Il risarcimento delle minoranze sociali storicamente oppresse: la democrazia deliberativa e le politiche di riconciliazione«, in: Antonio Carnevale / Irene Strazzeri (Hg.), Lotte, riconoscimento, diritti, Perugia: Morlacchi 2011, S. 353-384.
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wirklich eine Identität, sondern eher einen Habitus (Pierre Bourdieu),10 d.h. bestimmte Verhaltens- und Denkweisen, aus denen Erzählungen der Anpassung an die Umgebung hervorgehen. Martha Nussbaum sprach in diesem Zusammenhang von „adaptiven Präferenzen“.11 Sie bezog sich dabei auf die Rolle, die den Präferenzen rückwirkend in öffentlichen Entscheidungsprozessen zukommt, in der Absicht einschätzen zu können, wann es richtig ist, sie zu berücksichtigen und wann es notwendig ist, sie einer kritisch-rationalen Überprüfung zu unterziehen.12 Auch wenn einerseits kein Zweifel besteht, dass die Interaktion innerhalb einer sozialen Gruppe bei den Mitgliedern Gemeinsamkeiten hinsichtlich des Geschmacks, der Erinnerungen, der Verhaltensweisen hervorbringt und schließlich das allgemeine Kommunikations- und Argumentationsvermögen prägt, so darf andererseits diese Zugehörigkeit nicht als eine tief verwurzelte, essentialistische Identität verstanden werden. Zugehörigkeit entsteht nicht durch Beitritt, sondern durch Partizipation an einer geteilten Geschichte, in der es Ähnlichkeiten und Abweichungen gibt. Die Mitglieder der sozialen Gruppen teilen diese Geschichte in Bezug auf ihren Lebensstil und ihre Erfahrungen, im Gebrauch sozialer Normen und indem sie Beziehungen zu ihrer Umgebung eingehen: zu anderen Gruppen, Institutionen oder Einzelpersonen.13 Nicht immer wird innerhalb einer sozialen Gruppe etwas Positi-
10 Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976. 11 Ich verweise auf den Aufsatz von Anna Loretoni in diesem Buch: »Das Gender-Prisma zwischen Identität und Alterität«. 12 Nussbaum, Martha: »Adaptive Preferences and Women’s Options«, in: Economics and Philosophy 17 (2001), S. 67-88. Vgl. auch: Henry, Barbara / Carnevale, Antonio: »Tecniche ermeneutiche ed epistemologia delle scienze sociali« in: Revista Europeia de Etnografia da Educação 7-8 (2010), S. 73-84; Loretoni, Anna: »Tra identità e appartenenza. La critica di genere alla tradizione liberale«, in: Antonio Carnevale / Irene Strazzeri (Hg.), Lotte, riconoscimento, diritti, Perugia: Morlacchi 2011, S. 203-218. 13 Hier mag ein Verweis auf die indische Philosophin Gayatri Chakravorty Spivak von Interesse sein, insbesondere auf ihre Idee des „strategischen Essentialismus“. Individuen hätten demnach die Tendenz, wenn der Abstand zur Gesellschaft zunehme und unüberbrückbar erscheine, eine strate-
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ves übertragen, nicht immer werden affirmative Aspekte der Zugehörigkeit geteilt. Im Gegenteil, oft wird eine Geschichte oder eine Erinnerung kollektiv erlittenen Leids von Generation zu Generation weitergegeben. Einige Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass Generationen, die in der Vergangenheit unterdrückt wurden, ihre Angst über Erzählstrategien an die nachfolgende Generation derselben Gruppe übertragen.14 Man denke etwa an die Erzählungen von Juden über die Shoah, von Palästinensern über die israelische Enteignung ihrer Häuser und Ländereien oder von amerikanischen Ureinwohnern, die in den USA in Reservate eingeschlossen wurden. Schließlich übersieht diese Auffassung von Demokratie, dass die Gruppen im Vortragen eigener Forderungen über die subjektiven Präferenzen hinaus mit der Gesellschaft interagieren und somit dazu beitragen, die gesellschaftlichen und moralischen Fundamente zu verändern, auf denen der institutionelle Konsens ruht. Die Gruppen werden sich durch ihre Handlungen ihrer Bedeutung bewusst, d.h. sie verstehen, dass der empirische Charakter ihres Protests nicht nur der Ausdruck eines partikularen Interesses ist, sondern die Manifestation eines normativen Bedürfnisses nach Veränderung, das innerhalb der Sphären der sozialen Anerkennung in der Gesellschaft selbst heranreift. Aufgrund dieser Intuition haben einige postmarxistische Autorinnen und Autoren das Konzept einer „radikalen Demokratie“ vorgeschlagen (Chantal Mouffe, Ernesto Laclau).15
gische Haltung einzunehmen und einer Gruppe beizutreten. Sobald die subjektiven Bedürfnisse und die kollektiven Forderungen verstärkt auseinanderdrifteten, entschieden einige Personen, Gruppen auf vorgetäuschte Weise beizutreten, um somit ihre Forderung nach Gerechtigkeit besser zum Ausdruck zu bringen – diese Entscheidung fällten sie vor allem dann, wenn die Diskrepanz zwischen ihnen und der Gesellschaft aus einer gewollten Differenz resultiere, der ethischen, kulturellen oder religiösen Diskriminierung seitens der dominanten sozialen Gruppe. Vgl.: Spivak, Gayatri Chakravorty: A Critique of Post-Colonial Reason. Toward a History of the Vanishing Present, Harvard: Harvard University Press 1999. 14 Brooks, Roy L. (Hg.): When Sorry Isn’t Enough. The Controversy Over Apologies and Reparations for Human Injustice, New York: New York University Press 1999. 15 Laclau, Ernesto / Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie: Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien: Passagen 1991; Mouffe,
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An diesem Punkt bedürfte es, wie Jürgen Habermas behauptet, eines Demokratiemodells, in dem eher der kommunikative Austausch im Zentrum steht, weniger der Interessenkonflikt zwischen verschiedenen Gruppen; eine Demokratie, die auf einem Konsens basiert, bei dem die gesellschaftlichen Akteure zu einer Verständigung kommen. Dabei erreichen sie nicht nur eine Verständigung über etwas, vielmehr nähern sie sich über die Kommunikation einem Einverständnis, insofern sie gezwungen sind, ihr „Nein“ und ihr „Ja“ mit Kriterien der Gerechtigkeit, nicht nur des Eigennutzes zu begründen.16 Man muss deshalb von einer Wahldemokratie zu einer Demokratie der Diskussion17 gelangen.
2. Das von Habermas geforderte alternative Modell wird als „deliberative Demokratie“ bezeichnet. Laut seiner Verfechter können die Forderun-
Chantal (Hg.): Dimensions of Radical Democracy. Pluralism, Citizenship, Community, New York: Verso 1992. 16 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns (2 Bde.), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. 17 Zu einer Demokratie, in der die Diskussion eine zentrale Rolle in der Öffentlichkeit spielt, und zu den Grenzen einer Demokratietheorie, in der die politische Rolle der Wahl im Mittelpunkt steht, vgl.: Elster, John: »The Market and the Forum: Three Varieties of Political Theory«, in: John Elster / Aanund Hylland (Hg.), Foundations of Social Choice Theory, Cambridge: Cambridge University Press 1986, S. 103-132; Dryzek, John: Discursive Democracy. Politics, Policy, and Political Science, Cambridge: Cambridge University Press 1990; Benhabib, Seyla: »Toward a Deliberative Model of Democratic Legitimacy«, in: Seyla Benhabib (Hg.), Democracy and Difference. Contesting the Boundaries of the Political, Princeton: Princeton University Press 1996, S. 67-94; Bohmam, James: Public Deliberation. Pluralism, Complexity, and Democracy, Cambridge: MIT Press 1996; Chambers, Simone: Reasonable Democracy. Jürgen Habermas and the Politics of Discourse, Ithaca: Cornell University Press 1996; Young, Iris Marion: »Communication and the Other: Beyond Deliberative Democracy«, in: S. Benhabib: Democracy and Difference, S. 120-136.
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gen der Individuen innerhalb einer sozialen Gruppe nicht allein auf korporative Interessen zurückgeführt werden. Andererseits muss auch das andere Extrem vermieden werden, d.h. der politische Raum und die Sichtbarkeit, die den Forderungen einiger sozialer Gruppen gewährt wird, darf nicht zur Benachteiligung anderer sozialer Gruppen führen. Um im Pluralismus einen Ausgleich zu schaffen, werden offene Diskussionsverfahren und ein Informationsaustauch eingeführt, in denen jene Subjekte, die die Konsequenzen der politischen Entscheidungen zu tragen haben, ihre Meinung äußern und ihre Zustimmung geben können. Die Gültigkeit dieses zweiten Modells führt zu einer Ausdehnung der politischen Tragweite der anfänglichen moralischen Forderungen, einer Ausdehnung, die durch die Kommunikation und die Diskussion einen prozesshaften Charakter gewinnt: die Notwendigkeit, die eigenen Forderungen begründen zu müssen, verleiht jenen Thesen, die am stärksten mit den Werten oder den Prinzipien verwurzelt sind, die das Individuum zu seinen eigenen erwählt, nicht direkt eine größere Aufmerksamkeit, dagegen begünstigt die moralische Verpflichtung, die eigenen Ansprüche zur Sprache zu bringen, den Dialog und letztlich diejenigen moralischen Ansprüche, die sich vernünftig begründen lassen. Aus diesem Grund setzen die Individuen in den deliberativen demokratischen Verfahren weniger auf den numerischen Konsens, den sie durch die Koalition zu Interessengruppen erreichen können (wie in der Wahldemokratie), sondern auf einen pluralistischen Konsens, der umso stärker sein wird, je mehr Individuen sich durch den öffentlichen Gebrauch der Vernunft (Kant) an ihm beteiligt und ihn begründet haben. Das deliberative Modell ist demnach inklusiver als das aggregative Modell. Nicht nur, weil es sich von Beginn an auf einen Typus des sozialen Handelnden beruft, der zweifellos komplexerer Natur ist und der – im Gegensatz zum Mitglied einer Interessengruppe – zu qualitativen Beziehungen fähig ist, sondern vor allem, weil ein solches Modell die Einrichtung öffentlicher Diskussionsforen vorsieht, die die relationale Komplexität der intersubjektiven Beziehungen auf einer institutionellen Ebene weiterführt. In einer deliberativen Demokratie leben keine passiven Individuen, die auf ihren zivilen und politischen Protagonismus verzichtet und die Vertretung ihrer Bedürfnisse korporativen Vertretungen übertragen haben. Im Gegenteil, sie nehmen am institutionellen Leben der Gemeinschaft mit ihrem individuellen Inventar an Bedürfnissen, Glaubensvorstellungen, Grundsätzen und persönlichen
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Prinzipien teil. Entgegen einer allgemein verbreiteten Ansicht ist m.E. auch in der von John Rawls erdachten und berühmt gewordenen Figur des hypothetischen „Urzustands“ (original position) die Funktion des „Schleiers des Nichtwissens“ (veil of ignorance) auf die (übertriebene) Aufmerksamkeit zurückzuführen, die Rawls der aktiven und positiven Rolle der comprehensive doctrines bei der Formulierung des Gesellschaftsvertrags widmet.18 Die Fähigkeit, sich in Beziehung zu setzen und damit den Unterschieden zwischen dem Selbst und dem Anderen Gewicht zu verleihen, wird von der deliberativen Theorie nicht vernachlässigt. Dieser Aspekt wird vielmehr auf die praktische Vernunft übertragen, die das Individuum als Potential besitzt (Human beings are reasonable). Insofern wir uns auf potentiell unzählige Weise von den Anderen unterscheiden können, haben Autoren wie Rawls (und Habermas) an eine Art Gesellschaftsvertrag gedacht, in dem die Stabilität dadurch garantiert wird, dass man von allen verlangt, einen Schritt zurückzutreten, d.h. der Gesellschaftvertrag soll unterzeichnet werden, wohl wissend, dass keiner der Vertragspartner im Voraus die realen Eigenheiten kennen kann, die seine Position in der Gesellschaft hinsichtlich seiner Fähigkeiten, seines Reichtums, seiner ethnischen Zugehörigkeit, seines Geschlechts oder seiner Gesundheit bestimmen. Doch auch die deliberative Theorie stößt an Grenzen. Der schwächste und angreifbarste Punkt betrifft die Frage, wie die sozialen Differenzen der Individuen ausbuchstabiert werden müssen. Die Differenz ist sicherlich ein charakteristischer Aspekt der Ausstrahlungskraft des deliberativen Modells, doch wenn sie nicht korrekt verstanden und entwickelt wird, erscheint sie letztlich als simple Tatsache. Einmal zur Tatsache reduziert, wird die Differenz entweder moralisiert oder monetisiert. Im ersten Ansatz ist die Differenz unüberbrückbar, unermesslich und repräsentiert die Distanz, die zwischen dem Selbst und dem Anderen besteht. Der Andere nimmt hierbei keine Position innerhalb einer Beziehung ein, er verkörpert vielmehr die Idee einer Menschheit, derentwegen er Anerkennung fordert, unabhängig vom Typus des empirischen Verhältnisses, in dem die Menschen zueinander stehen. Vom moralischen Standpunkt aus bedeutet den Anderen zu integrieren, keinem Individuum die Art von Respekt zu verweigern, den man jedem
18 Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979.
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Menschen im Allgemeinen schuldet. Die moralische Differenz verwandelt den Anderen in eine Alterität, d.h. in eine Vision, in der der Andere wie eine ursprüngliche Figur erscheint, aber ohne Gesicht, wie ein metaphysischer Blick, der keine Augen hat, um uns anzusehen. Die moralische Alterität, die im Anderen eine solchermaßen überhöhte und entrückte Figur sieht, erinnert letztlich sehr an etwas uns sehr Nahestehendes: die Stimme unseres Gewissens. Insofern sie nach innen gekehrt und an der inneren Stimme festgemacht wird – die Stimme ruft die Dinge, aber sie ruft auch uns zum Handeln auf –, objektiviert sich die moralische Inklusion vor allem in den Formen einer Disziplinierung des Sprechverhaltens. Deshalb entstanden am Ende der Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts an den amerikanischen Universitäten die speech codes,19 die die gesamte nachfolgende Entwicklung der Praktiken des politically correct entscheidend beeinflusst haben. Es handelt sich um soziale Verhaltensweisen, die dem Respekt eine außerordentliche Beachtung zukommen lassen und den Gebrauch (die Nennung) von Ausdrücken ablehnen, die Beleidigungen oder irgendeine Form von rassistischen, ethnischen, religiösen, geschlechtsspezifischen, altersbedingten, sexistischen oder behindertenfeindlichen Vorurteilen enthalten. War die Differenz im ersten Ansatz unermesslich, so verkehrt sie sich im zweiten Ansatz in ihr Gegenteil: jede Differenz verweist auf das Ausmaß einer quantitativen Disparität von Ressourcen. Die Differenz steht für die Negation prästabilierter Wohlfahrtsstandards, sie ist insofern das konkrete Anzeichen einer sozio-ökonomischen Ungleichheit innerhalb des Mechanismus der Einkommensverteilung. In diesem Sinne kann jede Differenz quantifiziert, indexiert und monetisiert werden, um die entsprechenden Ressourcen, die jedem zustehen, zu kalkulieren. Aus diesem Blickwinkel heraus betrachtet, impliziert eine inklusive Demokratie die Materialisierung zahlreicher Aspekte des Lebens (Gesundheit, Mutterschaft, Arbeit, Arbeitslosigkeit, Ferien u.a.), deren sich letztlich ein paternalistischer Wohlfahrtsstaat annimmt, in-
19 Zu den speech codes vgl. Grey, Thomas: »Civil Rights Versus Civil Liberties. The Case of Discriminatory Verbal Harassment«, in: Social Philosophy and Policy 8 (1991), S. 1-105; Hentoff, Nat: »„Speech Codes“ on the Campus and Problems of Free Speech«, in: Dissent 38 (1991), S. 546549; Fish, Stanley: There’s No Such Thing as Free Speech and It’s a Good Thing Too, Oxford: Oxford University Press 1994.
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dem er mit ökonomischen Ressourcen die Schäden auszugleichen versucht, die die kapitalistischen Mechanismen der gesellschaftlichen Deregulierung verursachen (Martha Nussbaum).20 Diese beiden Arten, Inklusion zu begreifen, führen zu partiellen Ausdrucksformen der Differenzen, die offensichtlich an praktische und theoretische Grenzen stoßen. Der erste Ansatz ist zu enthusiastisch in Bezug auf die Möglichkeit, Situationen sozialer Exklusion dadurch zu verbessern, dass verzerrte Kommunikationsweisen der Differenz korrigiert werden (Phänomene des labelling); während der zweite Ansatz einen besonders wichtigen Aspekt völlig außer Acht lässt. In unseren Gesellschaften betreffen die Verteilungsprobleme häufig weniger die allen zustehenden Ressourcen, sondern, im Gegenteil, die gesellschaftlichen Positionen, die nur wenigen zugänglich sind. Sind es nicht die Machtstrukturen der Gesellschaft die darüber entscheiden, wer die wenigen hochvergüteten Arbeitsplätze bekommt? Was ist undemokratischer: Eine Gesellschaft, die die wirtschaftlichen Mittel für das Recht auf Bildung kürzt oder eine Gesellschaft, die nichts zur Bekämpfung eingeschworener Korporationen wie die der Universitätsprofessoren unternimmt? Und auf welcher Basis wird die Schulleistung als Kriterium zur Bewertung der Arbeitseignung festgelegt?21 Kann man nicht in all diesen Fällen vom Mythos der „Vorzugsbehandlung“ sprechen?
20 Nussbaum, Martha: Für eine aristotelische Sozialdemokratie, Essen: Klartext 2002. 21 Iris Marion Young vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, man erlerne in der Schule nicht so sehr technische Fähigkeiten als vielmehr einen Komplex an kulturellen Werten und gesellschaftlichem Verhalten wie Gehorsam und Referenz gegenüber der Autorität. Dennoch ist die Schulleistung zu einem wichtigen Kriterium für die Bewertung der Arbeitsfähigkeit geworden. Wie abzusehen war, hat dies zu einer Inflation der Titel und Abschlüsse geführt: nachdem das Abiturzeugnis für die Mehrheit der Personen zugänglich geworden war, wurde der Hochschulabschluss für viele Tätigkeiten unerlässlich. Aber das ist noch nicht alles. Heute reicht nicht einmal mehr der Hochschulabschluss aus: wer „vorankommen“ will, muss renommiertere Schulen besucht haben, den Masteroder den Doktortitel besitzen. Vgl.: Young, Iris Marion: »Education and Testing as Performance Proxies«, in: Justice and the Politics of Difference, S. 206 -210.
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Der Multikulturalismus hat versucht, auf diese Fragen eine Antwort zu geben. Seit Beginn der Neunzigerjahre hat er eine aktualisierte und reflektierte Version des Begriffs „soziale Differenz“ vorgeschlagen: Differenz nicht nur als Distanz zwischen sich und den Anderen, zwischen der eigenen und der anderen kulturellen Gemeinschaft, sondern Differenz gleichermaßen als Distanz im Innern des eigenen Selbst, als heuristisches Instrument, um Phänome wie die Verinnerlichung, die symbolische Interaktion oder die bedingte Zustimmung zu verstehen. In den zwanzig Jahren seiner kurzen, aber erfolgreichen Geschichte ist der Multikulturalismus bereits ausführlich interpretiert worden: Manche warfen ihm bezüglich dem Machtgefälles innerhalb der sozialen Gruppen Blindheit vor, deshalb halten sie ihn für besonders gefährlich für Frauen (Susan Moller Okin); einige hielten ihn für ein wichtiges Korrektiv innerhalb der liberalen deliberativen Demokratie (Will Kymlicka, Amy Gutman); andere verstanden ihn dagegen als politisches Projekt für eine noch nicht existierende imaginierte Gesellschaft (Charles Taylor). Meiner Meinung nach ist das multikulturelle Modell nur eine der letzten Ausdrucksformen durch die wir verstehen können, dass sich die Struktur der Demokratie in kontinuierlichem Wandel befindet. Indem wir die objektiven und psychologischen Grundlagen des (zunächst) aggregativen und (später) deliberativen Konsenses wieder aufnehmen und erweitern, lässt der Multikulturalismus jene wesentlichen Punkte erahnen, entlang derer sich die zukünftigen Demokratien weiter verändern werden: die positionalen Differenzen und die Kämpfe um Anerkennung.
3. Mein Verständnis von positionalen Differenzen und Kämpfen um Anerkennung schließt an die Arbeiten von Iris Marion Young und Axel Honneth an.22 Ich möchte mich hier auf die Beobachtung beschränken, dass m.E. beide theoretischen Ansätze ähnliche Phänomene interpre-
22 A. Honneth: Kampf um Anerkennung; Young, Iris Marion: »Structural Injustice and the Politics of Difference«, in: Kwame Anthony Appiah / Seyla Benhabib / Iris Marion Young / Nancy Fraser: Justice, Governance, Cosmopolitanism, and the Politics of Difference, Distinguished W.E.B. Du Bois Lectures 2004-2005, Berlin: Humboldt Universität 2007, S. 79-116.
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tieren: Sie stellen uns eine demokratische soziale Praxis vor, die sich verändert und neue moralische Grammatiken erfordert, um zum Ausdruck gebracht zu werden, aber auch neue Formen des Gesellschaftsvertrags, um sich regulieren zu können. Die Verwundbarkeit und die moralischen Gefühle, die wir mit Anderen teilen wollen (Solidarität) ändern sich ebenso wie die Formen der Pflicht, deren Respektierung wir von allen erwarten (Legalität). Der Gesellschaftsvertag der frühen Moderne war auf Angst gegründet: Angst vor dem Anderen und seinen zerstörerischen Handlungen, die das Eigentum gefährdeten und den Ertrag der Arbeit, mit der das moderne Individuum begann, der Welt jenen Sinn zu geben, der die Verwestlichung charakterisiert. Diese Art der Angst rechtfertigte kontrafaktisch sowohl die Notwendigkeit eines souveränen, kontrollierenden Staats (Hobbes), als auch das Recht des Volkes auf Revolution gegen den Souverän, wenn dieser sich nicht an den ausgehandelten Vertrag hielt (Locke). Die Kultur der Aufklärung und des Rechtsstaats verschoben in der Folge diese Angst von einer objektiven Ebene (Verteidigung des persönlichen Eigentums) auf eine subjektive Ebene (Verteidigung der Menschenwürde): ein Gesellschaftsvertrag soll nicht nur den Stolz und die Ehre des Eigentümers verteidigen, sondern den Respekt für den Menschen im Allgemeinen sowie die Ausübung seiner gesellschaftlichen Funktionen fördern. Einige verfügen über Besitz, andere stehlen, manche sind Herren, andere Sklaven, doch alle sind gleichermaßen denselben Gesetzen unterworfen (Rousseau, Hegel). Letztlich haben, wenngleich auf unterschiedliche Weise, sowohl der „Kampf um Anerkennung“ von Honneth als auch die „Politik der Differenz“ von Young gezeigt, dass die Zustimmung zu einem Gesellschaftsvertrag keine Frage individueller Entscheidungen sein kann, aus denen ein vernünftiges Abkommen oder ein kommunikatives Einverständnis über gemeinsame Wertmaßstäbe resultiert. Man denke an gesellschaftlich verursachtes Leid (Marginalisierung, Diskriminierung, Missachtung), in diesen Fällen sind individuelle Entscheidungen häufig nicht möglich und genauso häufig werden die Motive, weshalb sie unmöglich sind, verdrängt, denn würde man sie erinnern, verursachte das einen zusätzlichen Schmerz zum bereits erlittenen Leid. In allen diesen Fällen ist der fehlende Beitritt zu einem Vertrag nicht das Resultat einer verzerrten Idealsituation (Rawls hypothetischer „Urzustand“), sondern die Konsequenz aus der Tatsache, dass etwas in den konkreten intersubjektiven Beziehungen nicht passiert oder verweigert
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worden ist. Soziale Pathologien führen deshalb nicht nur hinsichtlich der Autonomie des isolierten Individuums zu Dysfunktionen, sondern auch in Bezug auf eine Reihe von eher relationalen emotionalen Zuständen, wie beispielsweise dem Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten, dem Respekt vor sich selbst oder dem Selbstwertgefühl. Wie man erkennen kann, ging die Entwicklung des Gesellschaftsvertrags mit einer Stärkung der emotionalen, psychologischen und normativen Grundlagen einher. Diesen Prozess dürfen wir uns jedoch nicht als eine ruhige Aufeinanderfolge von Ereignissen vorstellen. Im Gegenteil, jede neue Erweiterung hin zu komplexeren moralischen Empfindungen ist ein dramatischer Übergang, der den Gesamtprozess instabiler und verwundbarer werden lässt. Während die ursprüngliche Angst vor dem Anderen beruhigt werden konnte, indem die menschlichen Gefühle dank der absoluten Macht des Leviathans exorziert wurden, lockerte sich mit den sozialen Transformationen der Moderne der Bezug zu den Institutionen, wodurch die beruhigende Distanz zwischen der Macht der Menschen und der Macht der Gesetze verringert wurde. Die Kultur der Menschenrechte, die Globalisierung, die Risikogesellschaft haben die absolute Macht des Leviathans absorbiert, sie ging in der Prekarität und Vorläufigkeit des historischen Weltverlaufs auf. Der Prozess der Demokratisierung setzt demnach der Macht des Staates und der Ausübung seiner Schutzfunktionen Grenzen23: heute wird es für uns als Individuen, die wir – historisch betrachtet – verstärkt nach dem persönlichen Glück, nach Befriedigung, Erfüllung und Absicherung suchen, immer wichtiger, die politische Rolle jener Gefühle zu verstehen, die als emotions of self assessment24 definiert wurden. Hieran knüpfe ich die Aktualität eines Gefühls wie der Scham.
4. Die Scham gehört zu den Licht- und Schattenseiten der menschlichen Natur, sie ist Teil der Entwicklungsgeschichte eines jeden von uns,
23 Castel, Robert: Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, Hamburg: Hamburger Edition 2005. 24 Taylor, Gabriele: Pride, Shame, and Guilt. Emotions of Self-Assessment, Oxford: Oxford University Press 1985.
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insofern die Geschichte unserer Schwächen eine Art Archiv errichtet, auf das die Scham offen zurückgreifen kann. In diesem Archiv nehmen alle Erfahrungen von traumatischem Charakter oder der Missachtung einen besonderen Platz ein. Es handelt sich um Erfahrungen, in deren Verlauf das Subjekt seine eigene Hilflosigkeit erfährt; es ist, angesichts einer Reizüberflutung, die psychisch nicht verarbeitet werden kann, diesem Zustand der Hilflosigkeit ausgeliefert.25 Auf den letzten Seiten dieses Beitrags will ich versuchen, die Vielseitigkeit dieses Gefühls zu veranschaulichen, seine häufig vernachlässigte Aktualität, die ich in wesentlichen Bereichen des menschlichen und demokratischen Lebens wiedergefunden habe: (a) im Verhältnis von Welt und Freiheit; (b) im Verhältnis von Objekt und Abjekt; (c) im Verhältnis von Interund Intrasubjektivität und (d) im Verhältnis der sozialen Normen zur Macht. (a) Wie Günther Anders richtig erkannt hat,26 erscheint die Aktualität der Scham bereits im Verhältnis zwischen Welt und Freiheit. Als Menschen erfahren wir uns selbst als kontingente Wesen, wir sind gezwungen, in der Welt zu sein, während wir im Innern eine tiefe Fremdheit verspüren. Existenz (von lat. ex-sistentia) bedeutet vorhanden zu sein, gleichzeitig aber auch nicht bei sich zu sein, außerhalb zu sein. Die Existenz ist demnach eine gebrochene Dialektik, die durch die Aufteilung in die Kontingenz der Welt und die Geschichte des eigenen Lebensentwurfs gekennzeichnet ist. Diese Doppelung zeigt sich bereits am Beginn des Lebens, die Geburt ist gleichzeitig Ausgang und Eingang, ein Austreten aus dem Mutterleib und ein Eintreten in die Welt. Bei der Geburt erzeugt der Bruch mit der syntaktischen Einheit des Lebens einen Schock, einen Anakoluth in der Verbindung zur Welt. Im Gefühl der Scham wiederholt sich der Bruch mit der Einheit der Welt, man fühlt sich deshalb klein, lächerlich und beschränkt, man fühlt sich der Welt nicht zugehörig und reagiert darauf mit einer Freiheit, die einer Flucht nach vorn gleicht. Das ist eine Reaktion auf die psychische Fremdheit, die die kalte Objektivität der von der Technik
25 Ballerini, Arnaldo / Rossi Monti, Mario: La vergogna e il delirio, Turin: Bollati Boringhieri 1990. 26 Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: Verlag C.H. Beck 1956.
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erzeugten Dinge hervorruft (Anders spricht hier von der „prometheischen Scham“). Doch frei sein heißt nicht, sich endgültig von der Welt loszulösen. Wie Jean-Paul Sartre zu Recht betonte, birgt die Freiheit die Last, sich selbst wählen zu müssen. Flüchten bedeutet immer vor etwas oder vor jemandem zu flüchten: die Flucht bestätigt die ontologische Notwendigkeit unseres In-der-Welt-seins. Die Scham suggeriert deshalb ein anderes Verhältnis von Freiheit und Welt: beide öffnen sich einander nicht allein aufgrund der menschlichen Charakteristiken der freien Willkür, des freien Willens und der freien Entscheidung, vielmehr indem sie sich wechselseitig durchdringen, indem sie sich im Unbehagen der Fremdheit manifestieren. Diese Fremdheit konnotiert die menschliche Verfasstheit, einen Zustand der „Geworfenheit“ und des Ausgeliefertseins an die Alterität, der man nicht entfliehen kann. Im Verhältnis von Welt und Freiheit erscheint die Scham innerhalb der menschlichen Verhaltensweisen also noch bevor sie durch das Erlernen irgendwelcher gesellschaftlichen Normen konditioniert wurde. Studien der Psychiatrie und der Psychoanalyse27 verbinden das Auftauchen der Schamgefühle mit dem Ende jener Phase der Allmacht und Vollkommenheit, die das Kind in den ersten Lebensmonaten als seine eigene Welt wahrnimmt. Das Kind hat zu diesem Zeitpunkt weder ein Bewusstsein seiner selbst als besonderes Objekt, noch hat es ein Bewusstsein von den Personen, die es umsorgen, es lebt in einem Stadium des Narzissmus, in dem sich die Vorstellung von einem Selbst erst noch entwickeln muss, in der Freiheit und Welt noch nebeneinander existieren. (b) Wie wir gesehen haben, zeigt sich die Scham durch die Verbindung Welt-Freiheit im Menschen bereits von der Geburt und der ersten Lebensphase an. Doch ihre Aktualität reicht weiter. Wenn sich zwischen Welt und Freiheit langsam ein Bewusstsein Platz macht, ein Selbst, ein Ich, konstituiert sich die Grenze der Innenwelt als Körperlichkeit. Nicht nur das Bewusstsein, nicht omnipotent zu sein, bereitete uns nun Scham, sondern alle Anzeichen und alle Schnitte, die die Endlichkeit unseres Körpers sichtbar machen (angefangen beim „Schnitt“, der die Nabelschnur durchtrennt, bis hin zu einem einfachen Haar-
27 Stern, Daniel: Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart: Klett-Cotta 1992.
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schnitt, der uns mit Scham erfüllen kann, so dass wir vom Friseur nach Hause kommen und die Anderen fragen: „Wie sehe ich aus?“). Julia Kristeva hat in diesem Zusammenhang vom „Abjekt“28 gesprochen. Das Abjekt ähnelt dem Objekt, verweist jedoch auf eine andere Konstitutionslogik. Während das Subjekt gelernt hat, das Objekt dem Selbst gegenüber zu stellen, es also erkennen, auf Distanz halten, sich vorstellen und in Worte fassen kann, ist das Abjekt ein ausgeschlossenes Objekt, das sich dem Ich widersetzt und sich somit der Verbalisierung und Imagination entzieht. Wenn das Verhältnis Subjekt-Objekt als Fundament der Identitätskonstitution betrachtet werden kann, so tendiert das Abjekt dazu, die Identität hinter die Grundfesten seines Fundaments zu führen, diese zum Einsturz zu bringen. Auf der gesellschaftlichen Ebene hat die Kraft der Abjektion zu Phänomenen wie der Medikalisierung und Biologisierung der Differenzen geführt (man denke beispielsweise daran, wie häufig Frauen als infantile, dumme Wesen dargestellt wurden, die aufgrund einer vermeintlichen Vernunftschwäche stärker als Männer vom Wahnsinn befallen würden; oder an Afro-Amerikaner, von denen behauptet wurde, sie seien von Natur aus mit einem niedrigeren Intelligenzquotienten ausgestattet). Es ist kein Zufall, dass für lange Zeit ausgerechnet die Scham psychologisch als typisch weibliches Gefühl29 und anthropologisch als Charakteristik einer aus westlicher Sicht unterentwickelten Kultur interpretiert wurde.30
28 Kristeva, Julia: Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection, Paris: Éditions du Seuil 1980. 29 Einige behaupten, es existierten in der Gesellschaft ideologische „Drehbücher“, dank derer der Mann via Differenzierung über die Macht sein Bewusstsein ausbildet, während die Frau via Kommunikation und Affektäußerungen ihr Bewusstsein formt, vgl.: Kaufman, Gershen: Shame, the Power of Caring, Rochester: Schenkman Books 1992. 30 Folgen wir einer anthropologischen Sichtweise, gibt es Gesellschaften, die auf einer Schamkultur basieren, die in diesem Gefühl die typische Reaktion auf die Schande erkennen, die von begangenem Verrat oder vom Übertreten der in der eigenen Gruppe geltenden Werte herrührt. Vgl.: Benedict, Ruth [1946]: Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. Zur Scham als keineswegs veraltetem, sondern heute noch im Zivilisationsprozess präsenten
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Der Frauenkörper mag hier exemplarisch zur Veranschaulichung dienen: In der Gesellschaft und der Kommunikation der Massenmedien herrscht ein bestimmtes, kulturell geprägtes Bild von der verehrungs- und begehrenswürdigen weiblichen Schönheit vor, gleichzeitig enden Frauen, die sich aufgrund ihres Alters, aus sozialen Gründen oder aufgrund moralischer Einstellungen in Abweichung zu diesem Ideal der kalten Perfektion präsentieren, als Gefangene ihrer Körper. Auch wenn sie nur die normalen Anzeichen des Älterwerdens zeigen, werden sie als schlampig, hässlich, schmutzig und furchterregend empfunden.31 Aus demselben Grund sieht man im Fernsehen immer häufiger schöne Körper ausländischer Showgirls, die ethnischen Gruppen angehören, die in der sozialen Wirklichkeit ausgestoßen und marginalisiert werden. Es scheint, als wäre die Schönheit ihrer Körper, die unser ideologisiertes Auge wahrnimmt, ein schmeichelhaftes Surrogat all dessen, was wir nicht sehen wollen. Aber der Frauenkörper ist nur eine Form der Abjektion. Für Slavoj Žižek basiert das fetischisierte Verhältnis zur Körperlichkeit auf einer Kastration, die die Moderne bezüglich der menschlichen Bedeutung von „Mangel“ vorgenommen hat.32 „An etwas mangeln“ ist normalerweise nur eine andere Ausdrucksweise für „etwas begehren“: der Mangel an etwas ist die Erwartung einer Vollständigkeit, die über das einfache Begehren der Sache hinausgeht. Entgegen dieser menschlichen Grundannahme hat die kapitalistische Logik der Konsumbefriedigung die Vorstellung vom Mangel als „Leere“ produziert: der Mangel sei eine Leere, die man ausfüllen könne, indem man den Wunsch nach Genuss eines bestimmten Objekts befriedigt. Die Vorherrschaft des kapitalistischen Diskurses ließ gegenwärtig die Illusion aufkommen, das Objekt des Begehrens sei im Objekt des Genusses verkörpert, bzw. es sei möglich, durch den Konsum des Objekts des Genusses die Verletzung zu heilen, die die menschliche Wirklichkeit durchzieht, ihr eine prekäre und mangelhafte Struktur verleiht. Das Begehren als erotisch-amouröser Wechselträger weicht der einseitigen Beziehung mit einer unbegrenzten Serie von unmenschlichen Partnern (Drogen, Nahrungsmittel, Alkohol, Psychopharmaka, virtuelle Welten usw.). Das
Gefühl vgl.: Dürr, Hans Peter: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bd. 1: Nacktheit und Scham, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. 31 I.M. Young: Justice and the Politics of Difference. 32 Zizek, Slavoj: Politica della vergogna, Rom: Nottetempo 2009.
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Objekt-Abjekt, der zum Fetisch gewordene Körper und der entstellte und verstümmelte Körper sind allesamt zu verdichteten Bildern unserer kulturellen Vorstellungswelt geworden, die bereits mit unseren ästhetischen und moralischen Wahrnehmungen interagieren. Wir entdecken auf diese Weise, wie sehr wir uns daran gewöhnt haben, gequälte und verstümmelte Körper zu sehen, während wir beim Betrachten der Empfängnisszene Scham und Ekel empfinden. Die Analyse des Verhältnisses Objekt-Abjekt hilft uns, zwei starke und allgemein akzeptierte Annahmen zu dekonstruieren. Die erste betrifft den „politischen Raum“, der häufig als bloßer Behälter angesehen wird, in den wir freiwillig Aspekte des menschlichen Lebens integrieren können, die zuvor abgelehnt, zurückgewiesen und aussortiert wurden. Die Abjektion zeigt dagegen, dass sich die Grenze zwischen dem, was politischen Wert hat, und dem, was als unpolitisch gilt, nicht beliebig manövrieren lässt. Im Verfahren selbst werden durch die Integration einiger Dinge, andere außen vor gelassen, daher kann auch die Wiedereinführung dieser, jene nicht unverändert lassen. Nicht der Behälter bestimmt den Grenzverlauf, sondern der Grenzverlauf formt den Behälter. In Bezug auf die zweite Annahme widerspricht die Abjektion vielen der anthropologischen und ethnographischen Überzeugungen, die wir hinsichtlich der Logik der Inklusion hegen: Es stimmt nicht immer, dass wir eher bereit sind, uns nahestehende Realitäten zu teilen, während wir Realitäten, die uns ferner stehen, ablehnen. Oft lehnen wir eigene Aspekte ab, von denen wir uns nicht befreien können, die an uns haften bleiben, zu denen wir keine Distanz finden; Aspekte, die uns vertraut sind und die wir gerne wie Objekte verlieren würden, die wir aber stattdessen als „Abjekte“ bewahren. (c) Doch erst auf intersubjektiver Ebene entfaltet sich die gesamte Phänomenologie der Scham. Im Innersten der menschlichen Beziehungen zeigt sie sich zwar auf verschiedene Weise, jedoch nie ohne eine starke emotionale Investition in den relationalen Charakter der Subjektivität. Die Scham agiert somit perzeptiv sowohl in Bezug auf die Verteidigung des Subjekts33 als auch in Bezug auf verzerrte Verhältnisse und die in intersubjektiven Beziehungen erlittenen Demüti-
33 Lewis, Michael: Shame: The Exposed Self, New York: The Free Press, 1992.
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gungen.34 Um ihre adaptive Vielfalt zu verstehen hilft ein kurzer Vergleich mit ihrem alter ego, dem Gefühl der Schuld. Beide Gefühle wurden unterschieden, indem man das eine (die Schuld) als gut und das andere (die Scham) als gefährlich bestimmt hat. Die Schuld ist ein Gefühl der Selbstverurteilung in Bezug auf eine spezifische Handlung (die man nicht hätte ausführen dürfen, aber ausführte oder umgekehrt, die man hätte ausführen müssen, aber unterließ). Als Gegenmittel gelten das Eingeständnis, die Suche nach Vergebung und Versöhnung und falls möglich die Wiedergutmachung. Die Schuld ist demnach weniger das Zeichen für den Verstoß gegen eine Maxime des Verhaltens als vielmehr ein Verstoß gegen ein Moralgesetz: In der Schuld denkt der Handelnde, er habe mit seinem Tun die korrekte Funktionsweise eines Korpus von allgemeinen Regeln so sehr beeinflusst, dass irgendeinem anderen Individuum, das demselben Regel-Korpus unterworfen ist, direkt oder indirekt, Schwierigkeiten entstanden sein könnten. Im Gegensatz dazu wendet sich die Scham an das, was ich bin, denn wir empfinden sie in der ersten Person, wir vernehmen sie nicht als Stimme des Gewissens, nehmen sie nicht als Gefühl der Reue wahr. Dieser Unterschied führte dazu, dass die Sozialund Rechtswissenschaften (von der Psychologie bis zur Moralphilosophie) die Schuld der Scham vorgezogen haben: das Schuldgefühl hilft, da es eine große Lektion beinhaltet, d.h. man lernt, dass die Anderen separate, mit Rechten ausgestatte Wesen sind, die nicht geschädigt werden dürfen. Die Scham droht hingegen, indem die Anderen den Notwendigkeiten des Selbst untergeordnet werden, diese für die Entwicklung fundamentale Aufgabe zu unterminieren.35 Häufig wurden mit der Schuld verschiedene Moralvorstellungen bezüglich der Menschenrechte, des Postkolonialismus, des Feminismus, sowie Fragen bezüglich des Rechts und der Toleranz verknüpft. Entgegen dieser Interpretation bin ich, hierin den Überlegungen Bernard Williams‘ folgend, der Auffassung, dass die Struktur der Scham die Möglichkeit enthält, die Schuld zu kontrollieren und von ihr zu lernen, weil beide eine offene Rekonstruktion der ethischen Identität des Individuums liefern. Andererseits gilt: „Scham kann
34 Battacchi, Marco W.: Vergogna e senso di colpa, Mailand: Raffaello Cortina Editore 2002. 35 Nussbaum, Martha: Hiding From Humanity. Disgust, Shame, and the Law, Princeton: Princeton University Press 2004.
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Schuld verstehen, aber Schuld kann sich nicht selbst verstehen“.36 Ich kann die Forderungen der Opfer mir gegenüber für richtig halten, ebenso ihre Wut und ihre Empörung, weil ich mir bewusst werde, dass sie sich gegen eine von mir begangene, als willkürlich zu definierende Tat (oder eine Reihe von Taten) richtet. Bei genauerer Betrachtung kann die moderne Moraltheorie demnach in der Schuld ein aufrichtigeres Gefühl erkennen als in der Scham, da sie die Handlung von der Vorstellung, die man von sich selbst hat, während man die Handlung vollzieht, unterscheidet. Man kann sich Menschen gegenüber schuldig fühlen, die Unrecht erlitten haben und Wiedergutmachung fordern, aber diese Schuld hilft uns nicht zu verstehen, weshalb das Unrecht oder der erlittene Schaden mit deren Forderungen in einem Verhältnis stehen. Der Scham kann das gelingen, insofern in ihr Auffassungen in Bezug auf die Natur des Individuums und seines Verhältnisses zum Anderen verschmelzen. Der Gefühlsbereich, in dem sich die Scham entwickelt, vermischt das Innere mit dem Äußeren, das Öffentliche mit dem Privaten, das Dasein mit der Flucht. Diese Gefühls- und Vorstellungswelt durchdringt die Körper, sie lässt sich übertragen und wirkt ansteckend. Man schämt sich, sich zu schämen. Man schämt sich, jemanden in Verlegenheit gebracht zu haben. Man schämt sich auch für jemanden, der dem direkten Umfeld des eigenen Selbst angehört. Die Scham bildet, insbesondere wenn sie von systematisch erlittenen Beleidigungen durchdrungen ist, Narrative aus, die mehrere Generationen betreffen und belasten. Dies haben uns die Romane Ist das ein Mensch? oder Die Untergegangenen und die Geretteten von Primo Levi eindrücklich aufgezeigt. Die Scham vermengt sich demnach mit der Schuld und den moralischen Gesetzen, denn man kann sie als Signal definieren, sowohl für etwas, dass uns betroffen hat oder betreffen wird („präventive Scham“, so als wüssten wir im Voraus, dass wir etwas Tadelnswertes begehen werden) als auch als Signal für eine mögliche Reaktion auf etwas. Doch die Scham bezieht sich nicht auf die Stimme eines Gewissens, die merkt, eine vorweg bestimmte soziale Norm nicht ausreichend beachtet zu haben; vielmehr signalisiert sie, dass etwas nicht im Verhältnis zur Norm, sondern in der tieferen sozialen Natur der Anerken-
36 Williams, Bernard: Scham, Schuld und Notwendigkeit: Eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral, Berlin: Akademie Verlag 2000, hier S. 109.
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nungsdynamiken, in der Qualität der sozio-politischen Standards der Organisation und Bewertung einer Gesellschaft nicht funktioniert hat. Die Scham erschüttert die gesellschaftlichen Normen als „Normen“, d.h. als Resultat eines gesetzgebenden Akts der menschlichen Vernunft. (d) Allzu oft wurde Scham für ein explosives Gefühl gehalten, wie etwa die Schamesröte; ein Gefühl, das das Gewissen mit zeitweiligem Übermaß angreift. In Bezug auf das Verhältnis zu den sozialen Normen, betrachtete man die Scham als Reaktion auf eine Demütigung oder ein Versagen, wie man es bei Verrat oder der Überschreitung von bewährten, identitätsstiftenden Werten empfindet. Doch handelt es sich hier nur um eine erste Art von Scham, die wir als „Enthüllung“ bezeichnen können. Die Empfindung der Demütigung resultiert allein aus einem Sich-ausgesetzt-fühlen. Allerdings geht dieser Form der Scham ein Verständnis für die „Dialogstruktur“ der Scham verloren, d.h. für die Tatsache, dass das Gefühl des Versagens oft nichts mit dem zu tun hat, was wir zu sein glauben, sondern mit der Fähigkeit, was wir jemanden über uns glauben lassen. Das ist eine Art Scham der „Demaskierung“, wie sie augenscheinlich wird im Fall einer nicht geglückten Selbstdarstellung.37 In dieser Situation gelingt es der Person nicht nur nicht, vor den Anderen so zu erscheinen, wie sie es gewollt hätte, es gelingt ihr auch nicht, so zu erscheinen, wie sie verkündet hatte zu sein. Diese Art von Scham kommt der Erfahrung von Scham wie wir sie heute erleben sehr viel näher. In diesem Zusammenhang müssen die normativen Veränderungen der letzten beiden Jahrhunderte berücksichtigt werden. Männer und Frauen leben nicht mehr in kleinen Gemeinschaften zusammen, sie sind deshalb vermehrt gesellschaftlichen Normen ausgesetzt, denen Gesetzgebungsverfahren zugrunde liegen, d.h. rationale Kodifizierungen von Verhaltensweisen. Das alles hat einerseits zu gesellschaftlichen Legalisierungsprozessen geführt, die die Veränderbarkeit und Verbesserungsfähigkeit der Normen durch die öffentliche Meinung
37 Ich entnehme die Unterscheidung Scham als „Enthüllung“ („svelamento“) und Scham als „Demaskierung“ („smascheramento“) M.W. Battacchi: Vergogna e senso di colpa. Zu Scham und Maske, vgl.: Wurmser, Léon: Die Maske der Scham: Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten, Magdeburg: Klotz Verlag 2007.
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begünstigten. Andererseits aber sind die Normen des Moralverhaltens (Strafen, Verbote, Verwarnungen), die nicht mehr zum Kern der Gesetzgebung gehören, nicht verschwunden. Sie haben nur einen Prozess der Personalisierung und Privatisierung durchlaufen.38 Der Paternalismus der elterlichen Bestrafung hat im Verlauf der Personalisierung der elterlichen Autorität seine Erscheinungsform und seine Bedeutung verändert: die Bestrafung wird nun als Mangel an Liebe wahrgenommen. Während sich die Logik der Soziologie der Macht entpersonalisiert, wird paradoxerweise die Logik der Übertragung von Macht personalisiert und privatisiert, am Körper festgemacht. Insgesamt betrachtet erscheint die Gesellschaft zunehmend von einer normativen Rationalität regiert, schaut man jedoch genauer hin, wird eine andere Realität erkennbar. Die Existenzformen haben sich in den letzten Jahrzehnten dermaßen individualisiert, dass die Selbstverwirklichung zum zentralen Faktor der Organisation der Gesellschaft wurde. Die Mitglieder der westlichen Gesellschaften wurden im Hinblick auf ihre Zukunftschancen dazu gezwungen, gedrängt oder ermutigt, sich zum Zentrum der eigenen Lebensplanung und –führung zu machen.39 Innerhalb der verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhänge, in die wir durch einen Lebensstil gedrängt werden, der durch vielfältige Zugehörigkeiten charakterisiert ist, sind wir stets mehr darauf bedacht, den Vorschriften (und nicht den Normen) zu entsprechen, die in den jeweiligen Situationen vorherrschen. Sich nicht den Vorschriften entsprechend zu verhalten, bringt uns in Verlegenheit, wir spüren, dass wir verspottet oder lächerlich gemacht werden könnten. Dadurch, dass wir die in den einzelnen Gesellschaftbereichen vorgeschriebenen Regeln akzeptieren, könne wir auch „akzeptiert“ werden, doch das bedeutet, dass niemand unsere moralische Ratlosigkeit, unsere Zweifel und Anmerkungen je ernsthaft in Frage gestellt oder kritisch überprüft hat, dass in Wirklichkeit nie jemand unsere Fähigkeit, die richtigen Entscheidungen treffen zu können, auf die Probe gestellt
38 Verhaltensnormen, auf die Agnes Heller in diesem Zusammenhang verweist, sind beispielsweise jene, die Eltern auf ihre Kinder übertragen, vgl. Heller, Ágnes: The Power of Shame, London: Routledge 1985. 39 Honneth, Axel: »Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung«, in: Axel Honneth (Hg.), Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt am Main und New York: Campus 2002, S. 141-158.
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hat. Die Distanz zu den Anderen, die geringer geworden zu sein scheint, hat sich in Wirklichkeit vergrößert. Wir konfrontieren die Anderen nie mit unserer gesamten Persönlichkeit, sondern nur mit dem, was wir glauben oder glauben machen wollen. Auch der Narzissmus wird zu einer Inszenierung,40 wir beurteilen die Anderen auf der Grundlage unserer Fähigkeit, gute Vollstrecker der sozialen Rollen zu sein.
5. Demokratie und Inklusion sind zwei Praktiken, die erste ist politisch, die zweit gesellschaftlich, aber beide sind historisch. Die Kombination aus beiden hat eine Reihe von Modellen des Zusammenlebens ins Leben gerufen (aggregative → deliberative → multikulturelle → kosmopolitische Modelle), die eine immer aktivere Präsenz des Anderen auf den zahlreichen Stufen der Inklusion erfordern. Aus diesem Grund benötigen wir die analytische Struktur eines Gefühls, das die vielfältigen Formen der Demütigung bezeugen kann, die man innerhalb der Inklusionsprozesse erleiden kann.41 Es bedarf phänomenologischer Kartierungen, in die die Signale der verschiedenen Erscheinungsformen der Demütigung, der Exklusion und der Unterdrückung eingeschrieben werden. Wir brauchen Gesellschaftswissenschaften, die uns erlauben, uns zwischen einer Kritik der inklusiven Vernunft und einer kritischen inklusiven Vernunft zu bewegen. Die Scham gibt uns diese Möglichkeit. Die Situation der Scham liefert uns drei, in unterschiedliche Richtungen weisende Signale: sie handelt von einem narzisstischen und demütigenden Anderen, jenem allmächtigen und perfekten Anderen, der wir so gerne wären und dessen Versagen uns beschämt; sie handelt von einem fetischistischen Anderen, jenem gedemütigten Anderen, den wir nicht wahrhaben wollen und der uns deshalb Scham empfinden lässt und schließlich handelt sie von einem außenstehenden Anderen, der weder demütigt noch selbst gedemütigt ist, sondern der sich
40 Lasch, Christopher: Das Zeitalter des Narzissmus, München: DTV 1982. 41 Landweer, Hilge: Scham und Macht: phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen: Mohr Siebeck 1999. Neckel, Sighard: Status und Scham: Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit, Frankfurt am Main und New York: Campus 1991.
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schämt, weil er Zeuge einer Demütigung ist, d.h. sie handelt von jedem, der sich in eine derartige Situation hineinversetzen kann und sich dadurch bewusst zu machen vermag, wie verheerend sie sein kann.
Anhang
Anfänge, Stadien, Probleme und Aufgaben interkultureller Philosophie Ein Gespräch* A NNA C ZAJKA , F RANZ M ARTIN W IMMER
A.C.: Was war der Ursprung Ihres Interesses an interkultureller Philosophie? Eine prägende Erfahrung? Eine intellektuelle Begegnung? Wer waren Ihre Lehrer oder jene Personen, die vielleicht Ihre Interessen zu Philosophen und Philosophien gelenkt haben, die anders sind als die okzidentalen? F.M.W.: Wenn ich an meine Studienzeit denke, sehe ich wirklich nicht, was meine Aufmerksamkeit in Richtung auf Interkulturalität hätte wecken können. Außer vielleicht meine ersten Studien der Philosophie und Theologie im Jesuitenorden, den ich dann verlassen habe; dort wurde natürlich, auf dem allgemeinen Hintergrund des Katholizismus, die Idee der Gleichheit der Kulturen vermittelt. Die Studien, die ich danach unternommen habe, nämlich Philosophie und politische Wissenschaft in Salzburg, standen im Zeichen der Phänomenologie und der analytischen Philosophie. Meine Dissertation1 behandelt her-
*
Das Gespräch wurde 2005 in Parma auf Deutsch geführt, von Anna Czajka ins Italienische übersetzt und später gedruckt (Wimmer, Franz Martin / Czajka, Anna: »Gli altri sono esseri pensanti come noi. Inizi, tappe, problemi e compiti della filosofia interculturale«, in: Alberto Pirni (Hg.), Logiche dell’alterità, Pisa: ETS 2009, S. 173-186). Der Text er-
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meneutische Probleme aus dem Gesichtspunkt der Wissenschaftstheorie analytischer Prägung – und nicht einmal da findet sich etwas, was meine späteren interkulturellen Interessen ankündigen würde. Keinerlei Hinweis auf nichtwestliche Hermeneutik, keinerlei Frage nach theoretischen Betrachtungsweisen, die in den anderen Kulturen vorliegen. Offensichtlich existierten derartige Probleme für mich in dieser Periode nicht. Ich könnte nicht einmal sagen, dass ich einen Lehrer in diesen Fragen der Interkulturalität gehabt hätte. Dennoch gibt es immer irgendeinen Lehrer, auch wenn es nicht jemand ist, der einen auf direkte Weise lehrt. So ist es auch in meinem Fall. Bald nach der Beendigung des Studiums, während ich Lehrveranstaltungen zur Geschichtsphilosophie und auch zur Geschichte der Philosophiegeschichte abhielt, habe ich Werner Stark2 getroffen, einen Religionssoziologen, der nach seiner zwangsweisen Emigration (aus Deutschland nach Prag, von dort nach England und schließlich in die USA) nach Österreich zurückgekehrt war, und er machte mich auf zwei Autoren aufmerksam, die mir vollkommen unbekannt geblieben waren: Den barocken Geschichtsphilosophen Giambattista Vico und Ibn Khaldun,3 den
scheint hier in einer von beiden Gesprächspartnern teilweise aktualisierten und redigierten Form. 1
Wimmer, Franz Martin: Verstehen, Beschreiben, Erklären. Zur Problematik geschichtlicher Ereignisse, Freiburg im Breisgau: Alber 1978.
2
Werner Stark (1909-1985) emigrierte nach Studien in Hamburg 1933 nach Prag und 1939 nach Großbritannien, schließlich in die USA, wo er als Professor für Soziologie in New York lehrte. Von 1975 bis zu seinem Tod lebte und lehrte er in Salzburg. In seinen Forschungen zur Wissenssoziologie und Soziologie der Kultur taucht die Notwendigkeit eines interkulturellen Zugangs auf. Hauptwerke: Wissenssoziologie, Stuttgart: Enke 1960. Montesquieu, Pioneer of the Sociology of Knowledge, London: Routledge 1960; The Sociology of Religion, London: Routledge 1966-1972 (5 Bde.); The Social Bond, New York: Fordham University Press 1976-1986 (6 Bde.).
3
Ibn Khaldun (1332 Tunis – 1406 Kairo): Politiker, Historiker, Philosoph, entwickelt aus einer Gesamtschau der Geschichte der arabischen, berberischen, griechisch-römischen, persischen, mongolischen und christlichen Welt eine Philosophie und Theorie der Geschichte ante litteram. Diese entwickelt er vor allem in der »Einleitung« (muqaddima) zu seinem historischen Hauptwerk. Vgl.: Khaldun, Ibn: Ausgewählte Abschnitte aus der
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Kultur- und Geschichtstheoretiker aus dem Maghreb. Beide begeisterten mich. Besonders die Lektüre von Ibn Khaldun – den ich immer noch lese – hatte eine gewissermaßen beunruhigende Wirkung. Mir kam dabei ein Zweifel: Ja, ich hatte mich ziemlich intensiv mit der Geschichte der europäischen Philosophie und insbesondere mit der Geschichtsphilosophie befasst, aber das, was ich da kannte, konnte möglicherweise qualitativ ungenügend sein. Es konnte sein, dass die Geschichte der menschlichen Vernunft sich in unterschiedlichen Formen und Traditionen manifestiert hatte, von denen ich nur einen geringen Teil kennen gelernt hatte, jedenfalls nicht das Ganze. Dieser Zweifel verstärkte sich bei mir immer mehr, auch auf Grund verschiedener persönlicher Erfahrungen. Als ich dann zu Anfang der 80er Jahre Gastdozent an der Universität von Kalifornien in Irvine war, war es mir gar nicht mehr möglich, mich nicht beispielsweise mit chinesischer Philosophie zu befassen. Und es war nicht möglich – wenn man in einer bestimmten Umgebung lebte – indische Philosophie nicht zu kennen. Und so habe ich mir nach dem Doktorat noch ein Studienprogramm, veranschlagt auf etwa zehn Jahre, verordnet und es auch mehr oder weniger durchgeführt. Ich sagte mir damals: Ich muss zumindest die Grundzüge der chinesischen Philosophie kennen. Um das zu erreichen, muss man Chinesisch lernen, man muss auch andere Studien durchführen usw. Wie gesagt, das Programm war nur teilweise erfüllbar und es hat sich im Lauf der Jahre auch wieder verändert. 1988 veröffentlichte ich nach langen Vorarbeiten in Wien Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika4 und von diesem Zeitpunkt an wurde mir bewusst, dass es überall in Europa Leute gab, die gleichzeitig und unabhängig voneinander sich mit denselben Problemen beschäftigten. Plötzlich entstanden Kontakte und Austausch. So erschien 1989, ein Jahr nach meinen Vier Fragen, in Bonn ein Buch von Heinz Hülsmann und Ram Adhar Mall mit dem Titel Die drei Geburtsorte der Philoso-
muqaddima, hrsg. von A. Schimmel, Tübingen: Mohr, 1951. Khaldun, Ibn: The Muqaddimah. An Introduction to History, übers. von F. Rosenthal, Auswahl und hrsg. von N. J. Dawood, Princeton: Princeton University Press 1981. Khaldun, Ibn: Buch der Beispiele. Die Einführung, hrsg. von M. Pätzold, Leipzig: Reclam 1992. 4
Wimmer, Franz Martin (Hg.): Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika, Wien: Passagen 1988.
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phie.5 Es sprach von China, Indien und Griechenland, und was mich daran einzig störte, war der Artikel im Titel, es sollte doch ‚Drei‘ und nicht ‚Die drei‘ heißen, denn es gibt viele Geburtsorte von Philosophie. Schon 1988 war in der damaligen DDR ein Sammelband erschienen: Wie und warum entstand Philosophie in verschiedenen Regionen der Erde?6 Ich hatte daher auch schon Kontakt mit einigen dieser Wissenschaftler aufgenommen, mit Gerd-Rüdiger Hoffmann, der wie ich zur afrikanischen Philosophie arbeitete; mit Steffi Richter, heute Professorin für Japanologie in Leipzig, und anderen. Einige von ihnen wurden nach dem Ende der DDR „abgewickelt“, andere wie der Sinologe Ralph Moritz, Herausgeber des Bandes, wirkten weiterhin an der Universität. A.C.: Also könnte man von einer Art Zeitgeist sprechen, der sich an verschiedenen Orten damals manifestierte? Wie würden Sie die verschiedenen Zentren von interkulturellem Interesse damals charakterisieren? F.M.W.: Soweit es sich um Deutschland handelt, muss man sagen, dass diese Zentren sich vorwiegend im Osten, in der DDR befanden. Und dieser Zustand kam von den unterschiedlichen Arten, wie sich die Philosophie in den beiden deutschen Staaten nach 1945 bzw. 1947 entwickelt hat. In der BRD, aber auch in Österreich, hatte die akademische Philosophie ihre Position vorwiegend in einer „historischen“ Ausrichtung in dem Sinn gehalten, als sie die eine oder andere philosophische Tradition (nach einem Autor, einer Schule, einer Universität) pflegte, studierte, interpretierte. So war es nicht in der DDR, wo die Philosophie nach dem Selbstverständnis der Marxisten ein Instrument intellektueller Orientierung sein sollte. Ein zweiter Unterschied lag darin, dass der Marxismus – oder der Marxismus-Leninismus – stets seinen Internationalismus und Interkulturalismus betonte. Auch die sechsbändige Geschichte der Philosophie, die von der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften (noch im Geist des Stalinismus
5
Ram, Adhar Mall / Hülsmann, Heinz: Die drei Geburtsorte der Philoso-
6
Moritz, Ralf / Rüstau, Hiltrud / Hoffmann, Gerd-Rüdiger (Hg.): Wie und
phie. China, Indien, Europa, Bonn: Bouvier 1989. wann entstand die Philosophie in verschiedenen Regionen der Erde, Berlin: Dietz 1988.
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verfasst) herausgegeben worden war, behandelte buchstäblich die ganze Welt. Es war klar, dass man die philosophische Tradition der Kasachen, die usbekische wie die kanadische oder argentinische Philosophie usw. zu behandeln hatte. Und genau dies traf in den westlichen Ländern nicht zu: Die Geschichte der Philosophie behandelte lediglich die westliche Philosophie in ihren Verzweigungen, sie war auf den Okzident zentriert. Die Studenten in der DDR waren anders orientiert und wenn sie in den letzten Jahren der DDR auch nicht mehr in den strengen Kategorien der Abfolge von Gesellschaftsformationen dachten, wie sie für den Marxismus-Leninismus typisch gewesen waren, so waren sie eher aufmerksam auf kulturelle, regionale, linguistische Unterschiede. Darum möchte ich unterstreichen, dass die Problematik einer interkulturellen Philosophie innerhalb des deutschen Sprachraums in der DDR stärker entwickelt war als in den anderen Regionen. Ich habe vorhin das Buch von Hülsmann und Mall erwähnt. Dieses Buch war damals etwas völlig Neues, Überraschendes. Hier ist es vielleicht wichtig zu betonen, dass einer der Autoren des Buches, sein spiritus movens Mall,7 jemand ist, der Interkulturalität in eigener Person erlebte und lebt: Er ist Familienvater in Deutschland, kommt aber aus Indien und hat rein indische Wurzeln. Auch in seiner akademischen Existenz als Universitätslehrer und Autor ist er jemand, der die Erfahrung der Interkulturalität in jeder Hinsicht gemacht hat. All das ist bei mir nicht der Fall. Ich denke lediglich, dass die Philosophie als akademische Disziplin, wenn sie eine Rolle für die Gegenwart und die
7
Ram Adhar Mall (geb. 1937 in Indien) hat in Kalkutta, Göttingen und Köln Sanskrit und Philosophie studiert. Er lehrte an mehreren Universitäten in Deutschland (u.a. Köln, Bremen und München), derzeit in Jena. Wichtige Bücher neben dem oben genannten sind u.a.: Ram, Adhar Mall: Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philosophie – eine neue Orientierung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995. Ram, Adhar Mall: Der Hinduismus. Seine Stellung in der Vielfalt der Religionen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997. Ram, Adhar Mall: Mensch und Geschichte. Wider die Anthropozentrik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000. Ram, Adhar Mall: Zur Theorie und Praxis der Toleranz. Eine interkulturelle und interreligiöse Perspektive, Frankfurt am Main: Verlag Otto Lembeck 2003; Ram, Adhar Mall / Soni, Jayandra: Kleines Lexikon der indischen Philosophie, Freiburg im Breisgau: Alber 2009.
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Zukunft der Menschheit spielen soll, etwas mehr tun muss als weiterhin die eigene überkommene Erbschaft zu interpretieren und auszuarbeiten. Die Philosophie sollte sich, indem sie die verschiedensten regionalen Traditionen aktiviert, der Welt öffnen und zumindest diese anderen Traditionen wahrnehmbar machen. Für mich, der ich ohne irgendwelche existenziellen Probleme kultureller Art in Österreich lebe, ist diese Forderung evident und überdies offensichtlich als zentrales und immanentes Problem für das Erfassen von Philosophie. A.C.: Sie haben über die Entwicklung des Interesses an Interkulturalität in Ostdeutschland gesprochen. Was könnten – außer den Motivationen, worüber wir schon gesprochen haben, die persönlichen Begegnungen und der zunehmende Bedarf im Bereich der Geschichte der Philosophie – die Ideen für diese Interessen in Westdeutschland sein? Eine überraschende Ähnlichkeit wie beispielsweise jene zwischen dem Denken Heideggers und dem daoistischen Denken wie es in den Forschungen von Günter Wohlfart8 auftaucht? Die Erweiterung der Interessensrichtungen der Phänomenologie, wie die Forschung von Bernhard Waldenfels9 sie zeigt? F.M.W.: Ja, Sie haben Recht, diese Anregungen gab es. Ich bin nicht sicher, ob ich Wohlfart oder Waldenfels gut interpretiere, auch wenn ich mit beiden persönlich über diese Dinge diskutiert habe. Aber ich denke, dass sie beide, wenn auch in unterschiedlicher Weise, auf die interkulturelle Problematik durch die Probleme gestoßen sind, die ihren philosophischen Positionen immanent sind. Die interkulturelle Problematik lässt sich nicht umgehen, wenn man sich als Phänomenologe mit dem Fremden oder dem Anderen befasst wie Waldenfels, wenn man anderen Phänomenologen wie Paul Ricoeur, oder wenn man wie Enrique Dussel aus Lateinamerika Levinas und Derrida begegnet. Wohlfart ist anders vorgegangen und versucht in seiner theore-
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Wohlfart, Günter: Der philosophische Daoismus, Köln: Chora 2001.
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Vgl. Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. Waldenfels, Bernhard: Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006.
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tischen Herangehensweise meiner Ansicht nach tatsächlich, sich von Europa zu verabschieden. Das scheint mir nicht unvermeidlich. Ich halte es nicht für notwendig, Daoist zu werden, wenn man sich mit dem Daoismus befasst, und selbst wenn das vorkommt, so kann man gleichzeitig ruhig Wittgensteinianer sein. Vielleicht ist es auch nötig, zuweilen Daoist zu werden, aber man braucht deswegen Husserl oder Heidegger oder Wittgenstein nicht zu vergessen. A.C.: Und die Positionen von Kimmerle10 oder Holenstein?11 Sie haben im Bereich der interkulturellen Philosophie zusammengearbeitet... F.M.W.: Ja, wir haben alle zusammengearbeitet und das diskutiert. Zusammen waren wir 1993 in Köln auch an der Gründung der internationalen Gesellschaft für interkulturelle Philosophie (GIP) beteiligt. Mall war der Gründer und erste Präsident, Kimmerle war im Vorstand, ich war Vizepräsident. Seit einigen Jahren ist Claudia Bickmann, Professorin in Köln, Mall als Präsidentin gefolgt, seit kurzem zusammen mit Georg Stenger (Würzburg) als Ko-Präsident.12 Diese Gesellschaft hat
10 Siehe z.B.: Kimmerle, Heinz: Philosophie in Afrika – afrikanische Philosophie. Annäherungen an einen interkulturellen Philosophiebegriff, Frankfurt am Main: Campus 1991. Kimmerle, Heinz: Interkulturelle Philosophie zur Einführung, Hamburg: Junius 2002. 11 Elmar Holenstein, Emeritus der Philosophie an der ETH Zürich, lebt in Japan. Vgl. von ihm v.a.: Holenstein, Elmar: Menschliches Selbstverständnis, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. Holenstein, Elmar: Kulturphilosophische
Perspektiven, Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1998;
Holenstein, Elmar: Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens, Zürich: Ammann Verlag 2004; Holenstein, Elmar: China ist nicht ganz anders. Vier Essays in global vergleichender Kulturgeschichte, Zürich: Ammann Verlag 2009. 12 Claudia Bickmann ist Professorin für Philosophie an der Universität Köln, nachdem sie an mehreren europäischen und außereuropäischen Universitäten gelehrt hat. Von ihr vgl.: Bickmann, Claudia: Differenz oder das Denken des Denkens, Hamburg: Meiner 1996. Bickmann, Claudia: Immanuel Kants Weltphilosophie, Nordhausen: Bautz 2006. Georg Stenger lehrte an der Universität Würzburg und hat kürzlich die neu geschaffene Professur für Philosophie in der globalen Welt an der Universität Wien übernommen; von ihm vgl.: Philosophie der Interkulturalität. Erfahrung und
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Konferenzen auf allen Erdteilen organisiert und eine wirklich internationale Zusammenarbeit befördert. A.C.: Wir haben noch nicht über die angelsächsischen Länder gesprochen oder besser gesagt über die Forschung in englischer Sprache. F.M.W.: Ja, das ist ein komplexer Punkt. Denn die Forschung in englischer Sprache ist nicht auf England, die USA usw. beschränkt. Während ich beispielsweise zu Philosophien und Philosophen in Afrika forschte, war nicht zu übersehen, dass es eine sehr heftige Debatte darüber gab, was afrikanische Philosophie eigentlich sei. Diese Debatte fand in englischer (und französischer) Sprache statt, abgesehen von wenigen Arbeiten in Deutsch, damals vor allem in der DDR. Das Englische ist zunehmend die Weltsprache auch in der Philosophie, es ist aber auch eine ehemalige Kolonialsprache und darum ist es kein Zufall, dass etwa die Idee von der Notwendigkeit einer „Entkolonisierung philosophischer Begriffe“ gerade aus der Erfahrung einer afrikanischen Philosophie in dieser Kolonial- und Weltsprache entstanden ist. Sie stammt von Kwasi Wiredu,13 einem Philosophen aus Ghana, der seit langem in den USA lehrt und wie ich der analytischen Tradition nahe steht. Er ist einer der wichtigsten Theoretiker des 20. Jahrhunderts (zumindest denke ich, dass die Nachwelt ihn einmal so sehen wird), und von ihm habe ich etwas für mich sehr Wichtiges gelernt, die
Welten. Eine phänomenologische Studie, Freiburg im Breisgau und München: Alber 2006. 13 Kwasi Wiredu (geb. 1931 in Ghana) studierte zuerst in seinem Land, später in Oxford bei Gilbert Ryle und Peter Strawson. Er ist Professor für Philosophie an der University of South Florida in Tampa. Die Grundlagen eines interkulturellen Verstehens untersucht er vor allem in seinen Werken: Wiredu, Kwasi: Philosophy and an African Culture, Cambridge: Cambridge University Press 1980. Wiredu, Kwasi: Cultural Universals and Particulars. An African Perspective, Bloomington: Indiana University Press 1996. Wiredu, Kwasi: A Companion to African Philosophy, Oxford: Blackwell 2003. Zu seinem Projekt einer „Entkolonisierung philosophischer Begriffe“ vgl.: Wiredu, Kwasi: »The Need for Conceptual Decolonization«, in: Heinz Kimmerle / Franz Martin Wimmer (Hg.), Philosophy and Democracy in Intercultural Perspective. Philosophie et démocratie en perspective interculturelle, Amsterdam: Rodopi 1997, S. 11-24.
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Erfahrung einer afrikanischen Philosophie in englischer Sprache mit dem gleichzeitigen Bewusstsein einer afrikanischen Primärsprache. Wenn wir nun auf Ihre Frage nach dem Zeitgeist noch einmal zurückkommen – das Thema der unterschiedlichen kulturellen Formen von Philosophie zeigte sich plötzlich überall, in Indien wie in Japan usw. Es war, als wäre bei so vielen Menschen die eine meiner Vier Fragen aus dem Buch von 1988 fühlbar, die ich immer noch für wichtig und weder als erledigt noch überflüssig halte: „Was sind die Beiträge der unterschiedlichen regionalen Philosophietraditionen, die für die Zukunft der Menschheit fruchtbar gemacht werden können?“ A.C.: Sehen Sie Unterschiede, verschiedene Akzente in den interkulturellen Ansätzen der Philosophie, wie sie sich in den verschiedenen Sprachräumen herausbilden, im französischen, deutschen, englischen? Vielleicht herrscht in den interkulturellen Ansätzen in französischer oder englischer Sprache die postkoloniale Problematik vor? Sie erwähnen beispielsweise selten Said,14 dessen Diskurs mir eine Pionierleistung zu sein scheint, wenn auch gleichsam ein heroischer, indem er sich gegen Tendenzen der westlichen Humanwissenschaften stellt, die jahrhundertealte Wurzeln haben und in Machtverhältnissen gründen. F.M.W.: Es stimmt, ich nenne ihn selten, das wird mir gerade klar, aber ich zitiere ihn. Wir haben schon darüber gesprochen, dass die Herausbildung interkultureller Philosophie in sich eine Affinität zum Zeitgeist hatte, der sich gleichzeitig an unterschiedlichen Orten manifestierte. Dasselbe kann man von der postkolonialen Situation sagen, die auf charakteristisch andere Weise in Europa und außerhalb von Europa verlief, wobei klar wurde, dass das Ende des politischen Kolonialismus nicht die Lösung aller Fragen bedeutete. In dieser Periode
14 Edward Said (1935-2003), Literaturkritiker und Kulturphilosoph, Vertreter des sog. „Postkolonialismus“ und einer Kritik am „Orientalismus“, der eine lange Tradition humanistischer Forschung über außereuropäische und insbesondere „orientalische“ Kulturen analysiert, im Wesentlichen gestützt auf tatsächliche Berichte über wirtschaftliche, politische und militärische Macht. Unter seinen bekanntesten Werken vgl.: Said, Edward W.: Orientalismus, Frankfurt am Main: Ullstein 1978. Said, Edward W.: Kultur und Imperialismus: Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, übers. von H.-H. Henschen, Frankfurt am Main: Fischer 1994.
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ereignete sich auch der Zusammenbruch des Systems der sozialistischen Länder Osteuropas und der Sowjetunion, und damit wurde auch eine Einteilung der Welt problematisch, die für einige Generationen einen Bezugsrahmen selbst dann geliefert hatte, wenn man sie negativ sah. Denn auch das Verschwinden gewisser Selbstverständlichkeiten war dem Wirken des Zeitgeists ähnlich. In dieser Periode begann man auch das Wort „Globalisierung“ zu verwenden. Den Ausdruck gab es zwar schon lange, er war beispielsweise von Toynbee verwendet worden, aber er wurde zu einem kategorialen Term in dieser Zeit. Ein anderes Beispiel: Als ich begann, in der Philosophie von „Interkulturalität“ zu sprechen, war dies ein relativ neues Wort, denn damals sprach man vor allem von „Multikulturalität“, womit gemeint war, dass eine Gesellschaft zu formen wäre, in der alle möglichen Kulturen zusammenleben würden, in den urbanen Orten oder in den Megastädten der Zukunft. Mir schien damals schon, dass dieses ‚multi‘ keine gute Vorsilbe sei, denn es scheint nichts weiter als ein Nebeneinander, eine bloße Vielheit anzusprechen. Und das könnte auch bedeuten, dass die Einen die Anderen irgendwie tolerieren, dass sie einander im Grunde aber nicht ernst nehmen. Dies war und ist auch mein Einwand gegen die komparative oder vergleichende Philosophie, sofern sie eben die Begriffe und kulturellen Formen von Philosophie nur vergleicht, ohne sie in einen kritischen und auch selbstkritischen Diskurs einzubeziehen. Darum habe ich es vorgezogen, von Interkulturalität zu sprechen. Noch eine Weile danach gab es diesen Ausdruck beispielsweise im Englischen gar nicht; als ich daher zu einer Konferenz 1994 in Indien meinen Vortrag zu der Frage ankündigen wollte „Is Intercultural Philosophy a New Branch or a New Orientation in Philosophy?“15 wurde mir erklärt, niemand würde verstehen, wovon die Rede wäre, denn das Wort „intercultural“ existiere nicht. Ich sollte also „cross-cultural“ oder „comparative philosophy“ sagen. Diese Wörter kannte ich wohl, aber das hatte ich eben nicht im Sinn.
15 Wimmer, Franz Martin: »Is Intercultural Philosophy a New Branch or a New Orientation in Philosophy?«, in: Gregory D’Souza (Hg.), Interculturality of Philosophy and Religion, Bangalore: National Biblical, Catechetical and Liturgical Centre 1996, S. 45-57.
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Ich halte diese Vorsilbe „inter“ für ziemlich wichtig, doch hat sie zwei Konkurrenten: ‚multi‘ und ‚trans‘. Wolfgang Welsch16 beispielsweise spricht lieber von Transkulturalität. Und er hat mit diesem Terminus in bestimmter Hinsicht einen sehr wichtigen Punkt bewusst gemacht. Wenn aber das mit trans Gemeinte sich auf etwas beziehen soll, was über alle bestimmten Kulturen hinausgeht, so scheint mir dieser Term keine gute Wahl. Inter verweist auf etwas Neues, was zwischen Kulturen oder besser: Zwischen kulturell unterschiedlich geprägten Menschen sich ereignet. Und so haben wir – d.h. Autoren, über die wir schon gesprochen haben, Holenstein, Mall, Kimmerle und andere – uns für den Begriff Interkulturalität entschieden. A.C.: Man könnte in der kurzen Geschichte der interkulturellen Philosophie einige Stadien unterscheiden. Meiner Ansicht nach besteht das erste Stadium im Angriff auf das Paradigma der okzidentalen Philosophiegeschichte, dem zufolge jede vorangegangene Epoche den nachfolgenden gegenüber unterlegen und die okzidentale Philosophie das beherrschende Zentrum des gesamten menschlichen Denkens sei. Das zweite Stadium scheint mir etwa mit dem Vorschlag eines „Polylogs“ eröffnet, also mit der Grundlegung eines interkulturellen Zugangs zu systematischen Problemen der philosophischen Reflexion. F.M.W.: Ich muss Ihnen Recht geben. Ich war mir dieser Abfolge nicht bewusst, zumal ich selbst in diesem Prozess verfangen war, aber rückblickend muss ich jetzt feststellen, dass meine ersten Texte zu diesen Fragen, und sogar noch das Buch aus dem Jahr 1990 (Interkulturelle Philosophie. Geschichte und Theorie), sich kein anderes Ziel setzten als eine andere Zugangsweise zur Geschichte der Philosophie. Es handelte sich darum, das Feld der Philosophiegeschichte auszuweiten; und um die Notwendigkeit, deren ausschließliche Orientierung
16 Wolfgang Welsch, geb. 1946, Professor für Philosophie an der Universität Jena, hat das Konzept der „Transkulturalität“ ausgearbeitet, mit dem er eine Sicht der Kultur zu überwinden bestrebt war, die sich auf die Abgrenzung nach außen stützt, und beabsichtigt eine kulturelle Gemeinschaft zu befördern, die durch gegenseitigen Austausch, Übergänge und Kontakte geschaffen wird, wie dies vor allem in seiner Abhandlung: »Transkulturalität. Zur veränderten Verfasstheit heutiger Kulturen«, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 45, 1 (1995), S. 39-44, erfolgte.
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(man sollte besser sagen: Okzidentierung) an der okzidentalen Philosophie zu kritisieren. Das war Gegenstand dieses Buches. Ich sah, als es erschien, noch kaum, dass dies auch Konsequenzen für die systematischen Fragen der Philosophie haben musste, also auch für die Logik, für die Theorie der Erkenntnis, für die Ethik. Von all dem war noch nicht die Rede, die Geschichtsschreibung der Philosophie stand im Vordergrund. Sie haben sehr wohl bemerkt, dass mit dem Vorschlag oder mit der regulativen Idee des „Polylogs“, wie ich ihn Mitte der Neunzigerjahre gemacht habe, sich eine ganz andere Forderung stellte. Es sollte sich um eine Methode oder Herangehensweise handeln, um Schwierigkeiten und auch Möglichkeiten zu begegnen, die viel mehr betreffen als bloß die Geschichte des Denkens, nämlich die Art und Weise, Thesen oder Theorien in jedem Bereich der Philosophie systematisch zu begründen. Hier befinden wir uns auf einer anderen Reflexionsebene, die jedoch aus der ersten als Konsequenz folgt. Die Abfolge der beiden Schritte, die Sie da sehen (Geschichte der Philosophie und Begründungsproblem) lässt sich auch in den Curricula anderer Kollegen nachvollziehen, die mit interkultureller Philosophie befasst waren – so gut wie alle haben sich zunächst mit historischen Problemen befasst (Philosophie in Afrika, in Lateinamerika usw.), um dann an systematische Probleme heranzugehen: An die Begründung von Menschenrechten unter dem Aspekt der Interkulturalität, an eine interkulturelle Ästhetik usw. Diese Abfolge (Geschichte-Systematik) kann man auch in der Lehre beobachten: Die Studenten studieren zuerst historische Probleme und dann systematische Lösungsversuche. A.C.: Können Sie die Arbeitsweise des „Polylogs“ näher erklären? Gibt es dafür Beispiele? F.M.W.: Der Begriff des „Polylogs“ bezeichnet etwas, das in erster Linie zwingend ist auf theoretischer Ebene; in zweiter Linie ist es auch notwendig auf praktischer Ebene; und in dritter Linie ist es auch möglich – aber es gibt den Polylog in reiner Form nicht in der Wirklichkeit. Ich kenne keinen Fall eines reinen „Polylogs“ und kann mir nicht einmal einen solchen real vorstellen. Das Ausgangsproblem dieses Konzepts ist Folgendes: Es gibt mit Bezug auf bestimmte Grundprobleme nicht eine einzige Begriffstradition, aus deren Gesichtspunkt sie behandelt werden könnten – sondern viele davon. Dies trifft bereits im Umfeld eines bestimmten einzigen
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(und wohl jedes) kulturellen Kontextes zu; im Austausch zwischen kulturell geprägten Traditionen zeigt es sich noch stärker. Es sind eben in den verschiedenen Traditionen auch durchaus unterschiedliche philosophische Grundkonzepte, Denkmethoden, Begriffe und auch Theorien entwickelt worden, die sich nicht immer decken und sogar manchmal widersprechen oder zumindest so verstanden werden. Philosophie in einer globalen Umwelt kann und darf solche Differenzen nicht ignorieren. Sie kann es nicht, weil inzwischen nicht nur die westliche Tradition weltweit wahrnehmbar spricht, sondern auch andere. Mit denselben Medien und teilweise in denselben Sprachen. Es ist nicht mehr so wie in der Blütezeit des europäischen Kolonialismus, dass Philosophen – zwar nicht zu Recht, aber doch in voller Überzeugung – sagen konnten, Philosophie im strengen Sinn habe eine einzige Geschichte von den Griechen an bis in die okzidentale Moderne, und was andere Denktraditionen betrifft, seien diese höchstens Vorstufen dazu geblieben. Die Anderen denken wirklich und es hilft für die Behandlung einer philosophischen Frage nicht, wenn wir sie mit der Begründung ignorieren, ihre Gedanken seien nicht ganz eindeutig bekannt, interpretiert oder beschrieben. Denn dies trifft in der Philosophie überall zu. Was tun in einer solchen Situation? Es gibt zwei Möglichkeiten. Die erste liegt darin, dass Wir – ein jeweils bestimmtes Wir allerdings – uns bemühen, alle Anderen in einseitiger, aktiver Weise zu beeinflussen und so zu überzeugen, also die Möglichkeit des Monologs. Bei näherem Hinsehen stellt ein reiner Monolog sich jedoch als unmöglich, sogar undenkbar heraus, jeder wirkliche Monolog hat auch ein dialogisches Element, schon dadurch, dass er sich an bestimmte Andere richtet und darum von diesen verstanden werden will; aber auch, weil in jedem Monolog irgend etwas vom Anderen zurückwirkt, die Einflussnahme nie, wie intendiert, gänzlich einseitig ist. Dennoch gibt es die Intention des Monologs zumindest als Strategie im Umgang mit Anderen und sei es als jene quasi tolerante Form, die der Gründer des Jesuitenordens als Missions-Regel etwa so formuliert hat: „Ich gehe mit jedem Menschen bei seiner Tür hinein, um ihn bei meiner Tür wieder hinauszuführen“. Das setzt natürlich voraus, dass die Tür des Anderen objektiv ein Umweg war, endgültig eigentlich zu schließen, nur aus subjektiven oder didaktischen Gründen zu benutzen. Dies aber verweist auf einen zweiten, für philosophische Intentionen fatalen Aspekt monologischer Verfahren –
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sie setzen absolute Gewissheit oder Wahrheit ohne ernsthafte Auseinandersetzung mit dem anderen Denken voraus. Es ist dabei eine notwendige Voraussetzung, dass von dem, was die Anderen anders denken, nichts zu lernen ist, dass vielmehr alles, wozu die Menschheit rechtens fähig ist, bereits in der einen wahren Denkgeschichte vorzufinden ist. Da Philosophie keine Religion ist, ist diese Voraussetzung eines Monologs eben fatal. Die zweite Möglichkeit liegt theoretisch darin, in ganz anderer Weise zu argumentieren, die ich eben polylogisch genannt habe: In einer Weise, in der mehrere – vielleicht vier, fünf, sechs usw. – verschiedene Positionen in einer philosophischen Frage, die alle in differenzierter Form und möglicherweise in langer Theoriegeschichte entwickelt worden waren, miteinander in völliger Gleichrangigkeit an dasselbe Problem herangehen und so an einer Klärung oder Lösung arbeiten. In dieser Form rein gedacht, gibt es den Polylog – ebenso wie den Monolog – nicht, aus unterschiedlichen Gründen: Alle diese in verschiedenen Denktraditionen geprägten PhilosophInnen müssten eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Begriffe, Argumentationskriterien usw. entwickeln, wobei keine Tradition von vornherein als überlegen zu betrachten wäre; jede Tradition müsste jederzeit bereit sein, ihre Konzepte, ihre Selbstverständlichkeiten und Ergebnisse zur Disposition zu stellen und aufgrund von Argumentation zu revidieren; und schließlich dürfte es in solchen Verfahren keinerlei andere Machtverhältnisse geben als das bessere Argument. Da dies alles realistisch nicht erwartbar ist, gibt es einen reinen Polylog so wenig wie einen reinen Monolog. Es ist auch bei Argumentationen zwischen unterschiedlich kulturell geprägten Philosophierenden immer notwendig, von den je eigenen Begriffen und Maßstäben auszugehen, weswegen ich von einem „tentativen“ oder versuchsweisen Zentrismus spreche, der interkulturellen Auseinandersetzungen in der Philosophie angemessen ist: Alle Beteiligten gehen notwendigerweise von der Überzeugung der Richtigkeit ihrer eigenen Position oder Tradition aus, gestehen aber allen anderen genau diese Überzeugung auch zu. Somit setzt dieses Modell – im Gegensatz zu einem monologischen – nicht voraus, dass die absolute Wahrheit, die für Alle einsichtig sein müsste, bereits irgendwo fraglos gefunden worden sei; an ihr ist vielmehr zu arbeiten, von allen Seiten her.
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Die Wirklichkeit von Diskursen – auch von interkulturellen – wird stets irgendwo zwischen der Position des Monologs und derjenigen des Polylogs liegen. Polylogische Verfahren und Strategien finden wir in der Geschichte des Denkens immer wieder, besonders in Situationen, in denen eine Vielheit von weltanschaulichen Traditionen im Zusammenleben einer Gesellschaft nicht reduzierbar ist. Derartige Situationen gibt es beispielsweise in der Geschichte des Islam, beginnend mit der Einrichtung eines „Hauses der Weisheit“ in Bagdad unter der Dynastie der Abbassiden,17 wo Menschen unterschiedlicher Religion, Sprache und Kultur sich treffen und strittige Fragen miteinander diskutieren, wobei die Regel galt, dass niemand sich auf seine eigene Tradition oder Religion als absolute Wahrheit berufen könne, sondern unabhängig davon argumentieren müsse. Vergleichbare Verfahren werden auch aus dem mittelalterlichen Andalusien berichtet. In einem ganz anderen Zusammenhang hat Jean Bodin zur Zeit der Glaubenskämpfe im christlichen Europa eine Utopie beschrieben, die uns hier auch einiges lehren kann: In Bodins Colloquium Heptaplomeres18 findet eine Art von Polylog in einer ziemlich reinen Form statt. Sieben Männer – jeweils ein Vertreter einer der zeitgenössisch in Europa konkurrierenden Religionen, sowie ein Freidenker – ziehen sich zurück, um gemeinsam die strittigen Fragen zwischen ihnen zu sichten und mit Hilfe gegenseitiger Argumentation zu klären. Sie tun das in einer Sprache, die nicht die Mut-
17 Das Haus der Weisheit (Bayt al-Hikma) war eine Akademie, die nach dem Vorbild der persischen Akademie von Gundishapur 825 von dem Abbassiden-Kalifen al-Mamun begründet wurde und ein Observatorium, eine Bibliothek und ein Krankenhaus umfasste. Darin arbeiteten auch Christen, Juden und Sabäer mit und schufen unter anderem viele arabische Übersetzungen, insbesondere aus dem Griechischen. Diese Einrichtung war ihrerseits das Vorbild für die Akademien von Sevilla, Córdoba und Kairo. 18 Jean Bodin (1529-1596), französischer Jurist und Staatstheoretiker, verfasste Ende des 16. Jahrhunderts ein Colloquium heptaplomeres in dem sich sieben Männer, Vertreter unterschiedlicher Religionen, in einem allseitigen und gleichberechtigten Dialog über ihre Auffassungen austauschen und im Ergebnis eine Gleichberechtigung aller Religionen behauptet wird, die als Varianten einer einzigen natürlichen Religion aufzufassen seien. Engl. Übersetzung: Bodin, Jean: Colloquium of the Seven about Secrets of the Sublime, Princeton: Princeton University Press 1975.
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tersprache eines von ihnen ist, die ihnen allen aber verfügbar ist, nämlich in Latein. Und wenn einer von ihnen sich auf eine Autorität seiner Tradition beruft, so muss er allen anderen einsichtig machen, warum dies eine Autorität ist. Heute können wir uns fragen, wie derartige Verfahren praktisch zu entwickeln wären. Das wird bereits bei der Sprache problematisch, in der sie stattfinden könnten, denn das Englische (das ja am ehesten in Frage kommt) ist verschieden vom Latein in Bodins Text, sofern Englisch eben die Muttersprache vieler Menschen ist, die allein damit in einem solchen Verfahren bereits privilegiert wären. Ein zweiter Punkt, der in Bodins Fiktion auffällt und schwer zu realisieren sein wird: Alle Teilnehmer sind gleichberechtigt und erkennen einander als solche an. Es ist besonders diese Gleichrangigkeit bei differenten Traditionen, die schon auf Grund der Geschichte des weltweiten Kolonialismus Europas nur sehr schwer in der Praxis verwirklichbar sein dürfte. A.C.: Wobei sollten denn heute polylogische Verfahren angewandt werden? F.M.W.: Zum Beispiel bei der Begründung von Menschenrechten. Es ist nicht nur die juristische und historische Begründung von Bedeutung, sondern auch eine philosophische. Und dabei ist das zentrale Problem, dass dort, wo Differenzen bezüglich menschlicher Grundrechte in den Denktraditionen sich zeigen, Repräsentanten der verschiedenen Kulturen verhandeln, konkret also Vertreter von Staaten, von Religionen, von Organisationen, und als Repräsentanten spielen sie nicht das Spiel der Philosophie, sondern das Spiel der Macht. Das müssen sie, es geht nicht anders. Ein Repräsentant einer Religion z.B. kann sich nicht von den Grundlagen seiner Religion distanzieren – es werden also die Dogmen nicht zur Disposition stehen. In einem solchen Fall kann man aber nicht von einem philosophischen Diskurs oder einem philosophischen Polylog sprechen. Ich denke im Allgemeinen, dass viele Diskurse, die als interkulturelle Dialoge bezeichnet werden, weder Dialoge noch Polyloge im philosophischen Sinn sind, sondern lediglich Erläuterungen von Differenzen oder Verhandlungen über Kompromisse. Sollen wir deshalb verzweifeln? Ich glaube nicht. Allerdings stellt uns diese Situation vor eine Aufgabe. Und ich bin überzeugt, dass wir, wenn es uns gelingt, als Philosophen zu diskutieren, wirklich zu einer philosophischen Begründung kommen werden,
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zu Begriffen, die philosophisch fundiert sind, dass wir fähig sein werden, einander auf kritische Weise ernst zu nehmen. Wird diese Überlegung auch den Rest der Welt überzeugen können? Hier stehen wir vor dem alten Problem der Beziehung zwischen der Philosophie und der realen Welt. A.C.: Ich komme zu meinen letzten Fragen: Was sind die zentralen Aufgaben für die Zukunft? Und was sind die stärksten Mängel der interkulturellen Philosophie? F.M.W.: Die erste Aufgabe wird sein, sich von der anfänglichen Konzentration auf die Geschichte der Philosophie zu distanzieren. Das wurde sehr klar in einem Literaturbericht zur interkulturellen Philosophie, der vor einigen Jahren in der Zeitschrift „polylog“ erschienen ist.19 Die interkulturelle Philosophie bezieht sich zu sehr auf die Geschichte der Philosophie. Gewiss ist es nicht richtig, die Geschichte zu vergessen, vor allem ist es nicht richtig, die Geschichte der Anderen zu ignorieren. Wir dürfen nicht den Fehler machen, uns weniger mit den Griechen oder mit dem Buddhismus zu befassen, darum geht es nicht. Aber die Aufgabe der Philosophie kann sich nicht im ausschließlichen Interesse an der Interpretation ihrer Vergangenheit erschöpfen; die Hermeneutik ist nicht das einzige Problem der Philosophie, es gibt auch die Probleme der Ethik, der Logik, der Erkenntnistheorie. Alle philosophischen Probleme sind zugleich Probleme der interkulturellen Philosophie, wenn wir es nicht bei separaten, ghettoisierten Einrichtungen belassen wollen. Die Ausführung der interkulturellen Dimension in jeglicher philosophischen Problematik, denke ich, ist die zentrale Aufgabe der interkulturellen Philosophie heute. Und die Aufgabe für die Zukunft ist die wirkliche und immer intensivere Aktivierung von Polylogen.
19 Chini, Tina Claudia: »Interkulturelle Philosophie. Disziplin, Orientierung, Praxis? Ein Literaturbericht«, in: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 12 (2004), S. 120-131.
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A.C.: Ich habe den Eindruck, dass dies schon geschieht und dass die kommenden Jahre der Philosophie – trotz „identitärer“ Tendenzen – dem Problem der Interkulturalität des philosophischen Denkens selbst gewidmet sein werden. Und das kann nur zu einer Erweiterung der Humanität führen.
Literatur
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Autorinnen und Autoren
Cacciatore, Giuseppe Ordinarius für Geschichte der Philosophie am Department für Philosophie „A. Aliotta“ der Universität „Federico II“ in Neapel. Er ist korrespondierendes Mitglied der Accademia dei Lincei, war Koordinator des Doktorats in „Geopolitica e Culture del Mediterraneo“ am Istituto Italiano di Scienze Umane (SUM) und koordiniert gegenwärtig das Doktorat in „Storie, filosofie e interculturalità del Mediterraneo“ des SUM. Forschungsschwerpunkte: Vico, Dilthey, Historismus, Einbildungskraft, Hispanische Philosophie der Gegenwart, interkulturelle Philosophie. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen: Geschichte zwischen Leben und Struktur. Die Zweideutigkeit der Sprache der Geschichte bei Dilthey (2008); L’infinito nella storia. Saggi su Vico (2009); Interculturalità. Tra etica e politica (Hg. mit G. D’Anna, 2010); Interculturalità. Religione e teologia politica (Hg. mit. R. Diana, 2010). Carnevale, Antonio Studium der Philosophie an der Universität von Bari, Doktorat in Politikwissenschaft an der Scuola Superiore Sant’Anna in Pisa, an der er aktuell als Research Fellow der politischen Philosophie tätig ist. Er beschäftigt sich mit der Theorie und Ethik der Anerkennung; Theorie der Intersubjektivität, Emotionen und Sozialtheorie sowie sozialer Gerechtigkeit. Zu Studienzwecken hielt er sich in Frankfurt am Main am Institut für Sozialforschung und in Chicago am Committee on Social Thought auf. Veröffentlichungen in mehreren italienischen Fachzeitschriften. Er besorgte die Übersetzung des Buches von Axel Honneth Leiden an Unbestimmtheit (2001) ins Italienische und übersetzt im Augenblick dessen Pathologien der Vernunft (2007). Publikationen u.a.: Il «sociale» della giustizia. Questioni di genere e questioni di riconoscimento (mit A. Lenci, 2008); Lotte, diritti e politiche del riconoscimento (Hg., mit I. Strazzeri, 2011).
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Czajka, Anna Professorin für Philosophie, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, zunächst an der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau, dann an den Universitäten Tübingen, Parma und Genua. Ab 2010 Professorin an der Kardinal-Stefan-Wyszyński-Universität in Warschau (Kulturwissenschaften, Schwerpunkt Interkulturalität). Wichtigste Veröffentlichungen: Człowiek znaczy nadzieja (1991), Tracce dell’umano (2003), Poetik und Ästhetik des Augenblicks (2006), Per una filosofia dell’interculturalità, in: G. Cunico / A. Pirni (Hg.), Spazio globale: politica, etica e religione (2005). Herausgeberschaften: Ernst Bloch, Das Abenteuer der Treue. Briefe an Karola 1928-1949 (2005); Margarete Susman, Il senso dell’amore (2007); Antonina Kłoskowska, Alle radici delle culture nazionali (2007). Im Druck: Kulturen der Welt im Dialog (Hg., 2011). Preise: JanNiecisław-Baudouin-de-Courtenay, Warszawa 1974; Ernst-Bloch-Förderpreis, Ludwigshafen am Rhein 1988; Salvatore Valitutti, Salerno 2004. Herausgeberin der Reihe „Polnische Bibliothek“ in Italien. Friese, Heidrun vertritt derzeit den Lehrstuhl Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa Universität Viadrina (Frankfurt/Oder) und arbeitet an einem Forschungsprojekt über „Die Grenzen der Gastfreundschaft“, das sich mit „undokumentierter“ Mobilität zwischen den Ländern des Maghreb und Europa beschäftigt und mit aktuellen Diskussionen der politischen Philosophie zur Gastfreundschaft verbindet. Associate editor des European Journal for Social Theory, Veröffentlichungen u.a.: Identitäten (Hg. mit A. Assmann, 1998); The Moment. Time and Rupture in Modern Thought (Hg., 2001); Europa, costituzione e movimenti sociali (Mithrsg., 2003); Cultural Identities, in: G. Delanty (Hg.), Handbook of Contemporary European Social Theory (2006); Europe’s Otherness. Cosmopolitism and the Construction of Cultural Unities, in: G. Delanty (Hg.), Europe and Asia Beyond East and West: Towards a New Cosmopolitanism (2006). Henry, Barbara ist ordentliche Professorin für Politische Philosophie an der Scuola Superiore Sant’Anna in Pisa, an der sie den Master in „Human Rights and Conflict Management“ und anschließend den PhD-Kurs in „Politics, Human Rights, and Sustainability“ leitete. Bis 2010 war sie verantwortlich für die Leitung und Supervision des Instituts Confucius in Pisa. Sie ist Mitglied des Scientific Board des European Journal of Social Theory und der Global Studies
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Association. Forschungsschwerpunkte: Interkulturalität, moderne politische Mythen, Gender Issues. Publikationen u.a.: Der Ort der Politik im Werk Cassirers, in: E. Rudolph (Hg.), Cassirers Weg zur Philosophie der Politik (1999); The Role of Symbols for European Political Identity: Political Identity as Myth?, in: F. Cerutti / E. Rudolph (Hg.), A Soul for Europe. On the Cultural and Political Identity of the Europeans (2001); Identities of the West. Reason, Myths, Limit of Tolerance, in: H. Friese (Hg.), Identities (2002); Vorstellungswelt, Kulturen und künstliche Identitäten. The Myth of Cyborg, in: E. Rudolph (Hg.), Brauchen die Europäer eine Identität? (2011). Ausgewählte Monographien: (mit A. Pirni) La via identitaria al multiculturalismo (2006 – mit dem Wissenschaftspreis „G. Matteotti“ im selben Jahr in Rom ausgezeichnet); Mito e identità. Contesti di tolleranza (2000). Sie zeichnet als Herausgeberin verantwortlich für die Bände: Laicità e principio di non discriminazione (mit A. Loretoni und A. Pirni, 2009), und The Emerging European Union. Identity, Citizenship, Rights (mit A. Loretoni, 2004). Longato, Fulvio ist Ordinarius für Geschichte der Philosophie an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Triest. Er ist Mitglied des Wissenschaftlichen Komitees der Zeitschrift „Etica & Politica – Ethics & Politics“, der Reihe „Impulse“ des Franz Steiner Verlags (Stuttgart), des Kuratoriums des Istituto internazionale di studi sui diritti dell’uomo (Triest) und Projektrat des Cultural Competencies Network EUniCult (Berlin). Zu seinen Publikationen zählen u.a.: L’argomentazione trascendentale. Sulla „prova“ in filosofia nel confronto con la Critica della ragion pura (1994); Interpretazione, comunicazione, verità. Saggio sul „principio di carità“ nella filosofia contemporanea (1999); G.W.F. Hegel, in: Großes Werklexikon der Philosophie (2000) und in: Enciclopedia de obras de filosofía (2005); La città tra benessere e diritti, in: C. Tatasciore (Hg.), I filosofi e la città (2003); Stand und Praxis der Politischen Theorie in Italien, in: Politisches Denken. Jahrbuch (2010); Verfassung, Menschenrechte und Konsens. Eine philosophische Betrachtung, in: D. Grimm / F. Longato / C. Mongardini / G. Vogt-Spira (Hg.), Verfassung in Vergangenheit und Zukunft (2011).
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Loretoni, Anna Professorin für Politische Philosophie an der Scuola Superiore Sant’Anna in Pisa. Sie ist Koordinatorin des PhD-Kurses in „Politics, Human Rights and Sustainability“ und des Direktoriums des Centro Interuniversitario per la Ricerca sui Conflitti e la Pace (CIRPAC) sowie Präsidentin des Komitees für Gleichberechtigung der Scuola Superiore di Sant’Anna. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der internationalen Beziehungen bei Themen wie Frieden und Krieg, europäische Integration, der politischen, kulturellen und geschlechtsspezifischen Identität. Zu ihren wichtigsten Veröffentlichungen gehören: Teorie della pace. Teorie della guerra (2005); Pace e progresso in Kant (1996). Sie zeichnet als Herausgeberin verantwortlich für die Bände: Interviste sull’Europa. Integrazione e identità nella globalizzazione (2001); The Emerging European Union. Identity, Citizenship, Rights (mit B. Henry, 2004), und Laicità e principio di non discriminazione (mit B. Henry und A. Pirni, 2009).
Pirni, Alberto ist wissenschaftlicher Assistent für Politische Philosophie an der Scuola Superiore Sant’Anna in Pisa. Er gehört zu den Dozenten, die den PhD-Kurs in „Politics, Human Rights and Sustainability“ betreuen, und ist Koordinator der Scuola di Alta Formazione in Acqui Terme sowie Mitglied des wissenschaftlichen Komitees der Zeitschrift Fenomenologia e Società, des Direktoriums von Cosmopolis und der Redaktion des Lessico di Etica Pubblica. Er ist Mitbegründer der Reihe „Boulé“. Publikationen u.a.: Kant filosofo della comunità (2006); La via identitaria al multiculturalismo (2006 – mit dem Wissenschaftspreis „G. Matteotti“ im selben Jahr in Rom ausgezeichnet); Filosofia pratica e sfera pubblica (2005); L’Io ulteriore (mit A. De Simone und F. D’Andrea, 2005²); Charles Taylor (2002); Il ,regno dei fini‘ in Kant (2000). Übersetzung ins Italienische und Herausgabe von C. Taylor, La topografia morale del sé (2004). Er fungierte als Herausgeber u.a. bei: Globalizzazione, saggezza, regole (2011); Logiche dell’alterità (2009); Comunità, identità e sfide del riconoscimento (2007).
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Rudolph, Enno ist seit 2000 ordentlicher Professor für Philosophie und Leiter des Kulturwissenschaftlichen Instituts an der Universität Luzern. Nach dem Studium der Philosophie und der Evangelischen Theologie in Münster und Heidelberg wurde er 1974 mit einer Dissertation über Kant promoviert und habilitierte sich 1983 mit einer Schrift über Aristoteles. Ab 1990 war er außerplanmäßiger Professor für Religionsphilosophie an der Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Kulturphilosophie (Cassirer-Forschung), die Wirkungsgeschichte der Antike, die Philosophie der Renaissance und die Philosophie des 20. Jahrhunderts. Seit 2008 Projektleiter (mit M. Luminati und W. Müller) des interdisziplinären Forschungsprojekts „Text und Normativität“ an der Universität Luzern. Publikationen u.a.: Der häretische Perspektivismus der Renaissancephilosophie, in: I. U. Dalferth / P. Stoellger (Hg.), Wahrheit in Perspektiven. Probleme einer offenen Konstellation (2004); Euro-scepticism. Its Benefits and Shortcomings, in: B. Henry / A. Loretoni (Hg.), The Emerging European Union. Identity, Citizenship, Rights (2004). Er zeichnet als Herausgeber verantwortlich für die Bände: Diktatur und Diskurs. Zur Rezeption des Totalitarismus in den Geisteswissenschaften (mit S. Poggi, 2005); Intoleranz im Zeitalter der Revolutionen. Europa 1770-1848 (mit A. Mattioli und M. Ries, 2004); Brauchen die Europäer eine Identität? (2011). Straub, Jürgen ist seit 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Sozialtheorie und Sozialpsychologie in der interdisziplinären Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum (RUB), wo er derzeit einen kulturpsychologischen sowie sozial- und kulturtheoretischen Schwerpunkt in Forschung und Lehre aufbaut. Seit 2011 ist er Dekan dieser Fakultät. Seit 2009 ist er Sprecher des Arbeitsbereichs „C: Wahrnehmung und Erfahrung“ des Center for Religious Studies (CERES). Seit 2009 ist er Mentor der Mercator Research Group „Spaces of Anthropological Knowledge: Production and Transfer“ in der RUB; seit 2009 Leiter der Koordinationsstelle des Hans-Kilian-Preises in der Fakultät für Sozialwissenschaft der RUB (gefördert durch die KöhlerStiftung). Ausgewählte Buchpublikationen: Verstehen, Kritik, Anerkennung (1999); Menschen machen. Die hellen und dunklen Seiten humanwissenschaftlicher Optimierungsprogramme (Hg. mit A. Sieben und K. Sabisch-Fechtelpeter, 2011); Dark Traces of the Past. Psychoanalysis and Historical Thinking (Hg. mit J. Rüsen, 2011); Wie
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lehrt man interkulturelle Kompetenz? Theorie, Methoden und Praxis in der Hochschulausbildung (Hg. mit A. Weidemann und S. Nothnagel, 2010); Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz (Hg. mit A. Weidemann und D. Weidemann, 2007); Pursuit of Meaning. Theoretical and Methodological Advances in Cultural and Cross-Cultural Psychology (Hg. mit D. Weidemann, C. Kölbl und B. Zielke, 2006). Wimmer, Franz Martin Philosoph, Studium der Philosophie und Politikwissenschaft in München und Salzburg. Gastprofessuren in den USA, Costa Rica, Indien, Deutschland und Österreich. A.o. Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien (bis 2008); Forschungsschwerpunkt: Interkulturell orientierte Philosophie. Präsident der Wiener Gesellschaft für interkulturelle Philosophie (WiGiP), Herausgeber und Redakteur von „Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren“ (seit 1998). Publikationen u.a.: Verstehen, Beschreiben, Erklären (1978); Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika (1988); Interkulturelle Philosophie – Theorie und Geschichte (1990); Vorlesungen zu Theorie und Methode der Philosophie im Vergleich der Kulturen (1997); Interkulturelle Philosophie. Vom Dilemma der Kulturalität zum Polylog (2001); Globalität und Philosophie (2003); Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung (2004).
Sozialtheorie Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.) Bourdieu und die Frankfurter Schule Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus August 2012, ca. 350 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1717-7
Wolfgang Bonss, Ludwig Nieder, Helga Pelizäus-Hoffmeister Handlungstheorie Eine Einführung Mai 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1708-5
Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat April 2012, ca. 400 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2036-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Sozialtheorie Nadine Marquardt, Verena Schreiber (Hg.) Ortsregister Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart September 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1968-3
Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze September 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-703-5
Stephan Moebius, Sophia Prinz (Hg.) Das Design der Gesellschaft Zur Kultursoziologie des Designs Februar 2012, 438 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1483-1
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Sozialtheorie Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Dagmar Freist (Hg.) Selbst-Bildungen Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung August 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1992-8
Fritz Böhle, Sigrid Busch (Hg.) Management von Ungewissheit Neue Ansätze jenseits von Kontrolle und Ohnmacht April 2012, ca. 388 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1723-8
Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft April 2012, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5
Bernd Dollinger, Fabian Kessl, Sascha Neumann, Philipp Sandermann (Hg.) Gesellschaftsbilder Sozialer Arbeit Eine Bestandsaufnahme Mai 2012, ca. 230 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1693-4
Iris Dzudzek, Caren Kunze, Joscha Wullweber (Hg.) Diskurs und Hegemonie Gesellschaftskritische Perspektiven Juli 2012, ca. 230 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1928-7
Leon Hempel, Marie Bartels (Hg.) Aufbruch ins Unversicherbare Zum Katastrophendiskurs der Gegenwart April 2012, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1772-6
Konstantin Ingenkamp Depression und Gesellschaft Zur Erfindung einer Volkskrankheit Februar 2012, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1930-0
Herbert Kalthoff, Uwe Vormbusch (Hg.) Soziologie der Finanzmärkte April 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1806-8
Susanne Lettow (Hg.) Bioökonomie Die Lebenswissenschaften und die Bewirtschaftung der Körper Mai 2012, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1640-8
Mathias Lindenau, Marcel Meier Kressig (Hg.) Zwischen Sicherheitserwartung und Risikoerfahrung Vom Umgang mit einem gesellschaftlichen Paradoxon in der Sozialen Arbeit April 2012, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1762-7
Stephan Lorenz Tafeln im flexiblen Überfluss Ambivalenzen sozialen und ökologischen Engagements Januar 2012, 312 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2031-3
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