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German Pages 128 [129] Year 2015
Michael Erbe Christoph Kampmann Günter Müchler Volker Reinhardt Uwe Schultz Benjamin Steiner Martin Wrede
Das Zeitalter des Sonnenkönigs
Ludwig XIV., gerüstet, so wie ihn der Maler Charles Le Brun sah: Diesen Teilentwurf für den Spiegelsaal in Versailles fertigte der Künstler um 1678/79 an.
Herausgegeben in Zusammenarbeit mit DAMALS — Das Magazin für Geschichte
Abbildungsnachweis akg-images: S. 1, 2, 8, 9, 10, 11 oben, 12, 16, 18, 20 oben, 22, 23, 24, 25, 28, 29 oben, 31, 32, 33, 34 oben, 35, 37, 38, 42 unten, 43, 45 oben, 52, 53, 55 unten, 57, 61, 62, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 73, 74, 84, 85 unten, 87, 88 unten, 89, 91, 92, 94, 97, 98, 100, 102, 104, 108, 110, 114, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123 unten, 124, 125; bpk Berlin: S. 40, 79; Bridgeman Art Library: S. 14, 15, 17, 19, 26, 27, 29 unten, 30, 34 unten, 36, 39, 42 oben, 44, 45 unten, 47, 50, 51, 54, 56, 58, 59 oben, 60, 77, 80, 81, 83, 85 oben, 93, 99, 105, 107, 111, 113, 123 oben; HEMIS: S. 48; interfoto München: S. 7, 11 unten, 13, 20 unten, 21, 41, 46, 49, 55 oben, 59 unten, 63, 72, 75, 76, 82, 88 oben, 90, 95, 96, 103, 106, 109, 112, 115; picture desk / The Art Archive: S. 78; Ullstein Bild: S. 126, 127 Karten: Peter Palm Berlin (S. 64/65, 91)
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Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Lektorat: Stefan Bergmann, Ralph Schmidberger Bildrecherche: Carsten Felker Layout, Satz und Prepress: schreiberVIS, Bickenbach Umschlaggestaltung: Stefan Schmid, Stuttgart Umschlagabbildung: „Vue perspective du château de Versailles sur la place d’Armes et les écuries“. Gemälde, um 1688, von Jean-Baptiste Martin. Foto: © akg-images/CDA/Guillot. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-2953-0 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF) 978-3-8062-3261-5 eBook (epub) 978-3-8062-3262-2
Vorwort 6 Uwe Schultz
Das System Versailles
Ein Traumschloss gegen das Trauma 7 – 14 Uwe Schultz
Der junge Ludwig
Vom „Gottesgeschenk“ zum „Sonnenkönig“ 15 – 26 Michael Erbe
Französische Kultur in ganz Europa
Die neue Klassik 27 – 40 Volker Reinhardt
Psychogramm eines Königs
Herrscher – 24 Stunden am Tag 41 – 46 Volker Reinhardt
Auf dem Weg in den Staatsbankrott
Das Chaos der Kassen 47 – 60 Martin Wrede
Ludwigs Kriege
Auf Angriff eingestellt 61 – 82 Christoph Kampmann
Rivale und Antipode Ludwigs
Kaiser Leopold I. – Stratege der Macht 83 – 86 Benjamin Steiner
Das Kolonialreich Nordamerika
Frankreich jenseits des Atlantiks 87 – 102 Martin Wrede
Was bleibt von Ludwig XIV.?
Sehnsucht nach Größe 103 – 114 Günter Müchler
Versailles und kein Ende
Mahnmal zur Bescheidenheit 115 – 127
Literatur 128
Die Blütezeit des unumschränkten Herrschers „L’État c’est moi“ – der Staat bin ich. Zwar ist es zweifelhaft, ob Ludwig XIV. diesen Ausspruch je getan hat. Aber wohl kein Satz beschreibt besser, was den „Sonnenkönig“ und das von ihm geprägte Zeitalter des Absolutismus ausmachte: eine auf den monarchischen Entscheider zugeschnittene Zentralgewalt, personifiziert durch den Herrscher selbst, der alle Macht in seiner Hand bündelt. So zumindest dürfte die Idealvorstellung jenes Projektes ausgesehen haben, das Ludwig XIV. seit 1661 in Form einer Alleinregierung in Szene setzte. Hauptantrieb für den jungen König aus dem Haus Bourbon, sofort nach dem Tod des langjährigen Ersten Ministers Kardinal Jules Mazarin die ganze Macht an sich zu reißen, war sein tiefes Misstrauen gegenüber dem Adel. Dieser sah sich – schon unter Ludwig XIII. in die Defensive gedrängt – als Stand immer konsequenter von der Mitsprache ausgeschlossen und hatte von 1648 bis 1653 in mehreren durchaus bedrohlichen Aufständen, der „Fronde“, rebelliert. Ludwig und das von ihm regierte Frankreich wurden zum Taktgeber einer Entwicklung in Europa, in der zahlreiche Herrscher versuchten, nach seinem Vorbild ebenfalls einen absoluten Machtanspruch durchzusetzen – ohne Mitwirkung ständischer oder parlamentarischer Institutionen. Als Leitfigur wirkte der „Sonnenkönig“ nicht nur durch seinen Herrschaftsanspruch, sondern auch in der äußeren Prachtentfaltung: Die gigantische, von Ludwig ausgebaute Schlossanlage von Versailles prägte den Baustil in ganz Europa, die dort gepflegte höfische Kultur galt als Synonym für raffinierte Festlichkeit in höchster Vollendung. Auch außenpolitisch drückte Ludwig XIV. seinem Zeitalter den Stempel auf. Mit einer fast ununterbrochenen Kette von Kriegen wollte er die Hegemonie Frankreichs durchsetzen – nicht nur in Europa, sondern auch auf dem kolonialen Schauplatz Nordamerika im Ringen mit dem Rivalen England.
In diesem Band zeichnen namhafte Autoren nach, wie der lange im Schatten seiner Mutter Anna von Österreich, der Regentin, stehende Dauphin in seine Aufgaben hineinwuchs. Sie beschreiben Struktur, Finanzierung sowie Stärken und Schwächen des absolutistischen Staates, schildern das von Ludwig entwickelte „System Versailles“ und zeigen auf, wie Ludwig in 34 Jahren der Waffengänge – immer wieder auch gegen seinen großen Widersacher Kaiser Leopold I. – die Finanzen seines Landes ruinierte und parallel dazu die von ihm intensiv geförderte französische Kultur zum begehrten Exportgut wurde. Faszinierend und erschütternd zugleich ist, dargestellt in einem eindringlichen Psychogramm des Königs, mit welcher Konsequenz Ludwig XIV. seine Rolle als Herrscher durchhielt: Der Mann, der mehr als ein halbes Jahrhundert das Machtzentrum Frankreichs verkörperte, hat kein Wort hinterlassen, das Aufschluss über seine persönliche Befindlichkeit geben könnte. Der abschließende Text des Bandes widmet sich der besonderen symbolischen Bedeutung, die das Schloss von Versailles, lange nach dem Ableben Ludwigs, im Dauerkonflikt zwischen den Nachbarn Frankreich und Deutschland gewonnen hat. Das Zeitalter des „Sonnenkönigs“ begründete wenn nicht unbedingt eine tatsächliche Vormachtstellung Frankreichs, so jedoch seinen dauerhaften Anspruch auf Größe. Der absolutistische Staat Ludwigs XIV. entfaltete eine beachtliche Gestaltungskraft, aber in ihm waren ebenso bereits die Schwächen angelegt, die mit der Revolution von 1789 zum Untergang dieses Systems führen sollten: die Abhängigkeit von den persönlichen Fähigkeiten des Herrschers, die zunehmend katastrophale Lage der Finanzen, gepaart mit einer ineffektiven Verwaltung, fehlende Mitsprache sowie die ungerechte Verteilung der immer schwerer drückenden Last von Steuern und Abgaben. Stefan Bergmann Chefredakteur des Geschichtsmagazins DAMALS
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Das System Versailles
Ein Traumschloss gegen das Trauma Uwe Schultz
1661 entschloss sich der junge Ludwig XIV. zur Alleinherrschaft. Er begann, das ehemalige Jagdschloss in Versailles auszubauen. Es sollte das Zentrum seiner Pracht- und Machtentfaltung werden. Das traumatische Erlebnis von 1649, mit seiner Mutter aus Paris fliehen zu müssen, hatte Ludwig dazu angeregt.
Es war die Nacht vom 5. auf den 6. Januar 1649. Königin Anna von Österreich, die Witwe Ludwigs XIII., war mit ihrem ältesten Sohn Ludwig, elf Jahre alt, ins Glücksspiel vertieft. Im Kleinen Kabinett des Palais Royal herrschte familiäre Ruhe. Ihre Vertraute, Madame de Motteville, erklärte später, dass ihr die Königin in dieser Nacht „sogar fröhlicher als gewöhnlich“ erschienen sei und angeordnet habe, die Karosse am frühen Morgen vorfahren zu lassen, denn sie wollte sich – dies geschah nicht selten – zu Andachten in das Kloster Val-de-Graˆce zurückziehen. Ihr Sohn bot ihr den Gute-Nacht-Gruß, und sie versprach ihm, er dürfe sie am nächsten Morgen begleiten. Nachts um drei Uhr erhob sich Anna von Österreich in ihrem Schlafgemach und ließ ihre beiden Söhne wecken. Charles de Neufville, der Erzieher des jungen Königs wie seines jüngeren Bruders Philippe d’Orléans, kleidete beide eilig an. Über eine Geheimtreppe gelangte Anna von Österreich mit ihren beiden Söhnen in den Garten des Palais Royal, wo eine
Anna von Österreich (1601 – 1666), Karosse wartete. Über den Coursdie Mutter Ludwigs XIV., übernahm la-Reine flüchtete die königliche 1643 nach dem Tod Ludwigs XIII. die Familie aus Paris, in Richtung Regentschaft für ihren noch minderWesten zum Schloss Saint-Gerjährigen Sohn (Gemälde von Peter main-en-Laye, wohin der regiePaul Rubens). rende Minister, der vorsichtige Kardinal Jules Mazarin, nur vier Feldbetten hatte transportieren lassen, um die Aktion strikt geheim zu halten. Die Flucht vor der gegnerischen „Fronde“, in der Hochadel und Parlament sich zur Gegnerschaft gegen den König vereinigt hatten, gelang. Aber zwei Jahre später, in der Nacht vom 9. auf den 10. Februar 1651, drang eine aufrührerische Volksmenge mit Waffengewalt ins Palais Royal ein – bis in das Schlafgemach Ludwigs XIV., und der junge König konnte nur mit Mühe entkommen. Diese Bedrohungen hinterließen tiefe Spuren in der Psyche des Königs – beide Erniedrigungen sollte er nie vergessen und noch weniger verzeihen. Die Folge dieses Traumas war das Schloss Versailles.
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Als er 1661 nach dem Tod des Kardinals Mazarin die Alleinherrbegann Ludwig XIV. mit dem Ausbau schaft übernommen hatte, wandte von Versailles. Das Gemälde von sich Ludwig XIV. dem schlichten Pierre Patel entstand 1668. Jagdschloss seines Vaters zu – von den Zeitgenossen wurde es als „Kartenschloss“ bespöttelt. Aber schon im nächsten Jahr fand zum letzten Mal im Hof der Tuilerien ein Reiter- und Tanzfest statt, bei dem Ludwig XIV., der einer der besten Tänzer Frankreichs war, brillierte – das Fest trug den Namen „Carrousel“, und ein gelehrter Pater meinte sogleich, das politische Programm entdeckt zu haben. „Carrus soli“ („der Sonnenwagen“) sollte den König siegend und Segen spendend um den Erdkreis tragen. Alle späteren Feste fanden in Versailles statt.
Arbeiter tätig gewesen waren und für dessen harmonische Gestaltung es sein Eigentümer Nicolas Fouquet, der Generalkontrolleur der Finanzen, tatsächlich der Finanzminister Frankreichs, verstanden hatte, die besten Künstler zu gewinnen – den Architekten Louis Le Vau, den Maler Charles Le Brun und den Gartenarchitekten André Le Nôtre. Das Einweihungsfest in Vaux-le-Vicomte sprengte alle festlichen Dimensionen jener Epoche – wie es nur dem Herrscher Frankreichs zugestanden hätte. Man aß von 6000 silbernen Tellern, eine Lotterie wies nur wertvolle Gewinne aus, und die Fontänen bildeten eine Allee aus glitzernden Wasserbäumen. Der mit seiner Mutter und seiner jungen spanischen Gemahlin Maria Teresa eingeladene König war zur Bewunderung gezwungen und verzieh Fouquet diese Demütigung nicht. Nur 17 Tage später ließ Ludwig XIV. Fouquet verhaften und verlangte vom Gericht das Todesurteil für ihn, das die Richter jedoch in Verbannung abmilderten. Dieser Spruch missfiel dem jungen König, und er veränderte die Strafe, obgleich einem Herrscher mit dem Gnadenakt nur die Verminderung einer Strafe zustand, in lebenslange Festungshaft. Wichtigster Zeuge war Jean-Baptiste Colbert, der
Sofort nachdem er sich im Jahr 1661 zum Alleinherrscher erklärt hatte,
Nicht einem Minister, dem König steht das prächtigste Schloss zu Aber es fiel noch ein Schatten auf den „Sonnenkönig“ – diesen Namen für sich selbst entlieh Ludwig XIV. alsbald von den Ägyptern. Es war der Glanz des Schlosses Vaux-le-Vicomte, 50 Kilometer südlich von Paris gelegen, für dessen Errichtung 18 000
8 Ein Traumschloss gegen das Trauma
Tausende Seiten der Dokumente, die zugunsten Fouquets sprachen, verschwinden ließ und sein Nachfolger als Generalkontrolleur der Finanzen wurde. Fouquet starb erst 1680 in der fernen Grenzfestung Pignerol, aber unmittelbar nach seiner Verhaftung 1661, dem ersten Jahr der Selbstregierung Ludwigs XIV., bewegte sich ein endloser Raubzug von Vaux-le-Vicomte nach Versailles. Möbel, Gemälde, Bücher, Essbestecke, Teppiche, Statuen und Orangenbäume – alles wechselte ins Tal von Galie. Louis Le Vau, Charles Le Brun und André Le Nôtre folgten nun dem Ruf des „Sonnenkönigs“, bot er doch Aufträge in weit größerer Dimension. Aus Vorsicht, der königlichen Gnade verlustig zu gehen, hat es Le Nôtre später nicht gewagt, nach Vaux-le-Vicomte zurückzukehren. Aber die Zielsetzungen Fouquets und Ludwigs als Bauherren waren völlig unterschiedlich. Fouquet wollte ein Palais der spielerischen Faszination, der verführerischen Liebesspiele, der heiteren Poeten-Phantasie. Ludwig XIV. wollte dagegen eine massive Maschine seiner Macht und deren reibungsloses Funktionieren. Zunächst und vor allem sollte Versailles das glanzvolle Gefängnis seines unruhigen Adels werden. Schon in den ersten zwei Jahren investierte der junge König zum Entsetzen Colberts, der das Zentrum der königlichen Macht im Louvre sah, nicht weniger als 1,5 Millionen Livres in den Ausbau des bescheidenen Jagdschlosses seines Vaters. Es wurde nicht zerstört, sondern in immer größeren Dimensionen in der Breite umbaut – noch heute ist es zwischen Marmorhof und Park der Mittelpunkt der ausladenden Schlossanlage. Dort im ersten Stockwerk hatte die königliche Macht im prachtvollen Schlafgemach ihr Zentrum, hier zelebrierte der König den strengen Rhythmus von „Coucher“ (schlafen gehen) und „Lever“ (aufstehen). Verlässlich wie der Lauf der Sonne sollte sich die Zeremonie vollziehen und seinen Untertanen das sichtbare Symbol seiner fördernden und kontrollierenden Herrschaft sein. Ursprünglich hatte der König im Nordflügel seine Gemächer, die Königin die ihren im Südflügel. Aber nach deren Tod im Jahr 1683 zog Ludwig in die Mitte des sich über Jahrzehnte erwei-
ternden Gebäudekomplexes, wo er bis zu seinem Tod ausharrte und wo auch sein Nachfolger Ludwig XV. nächtigte – dieser allerdings nur zum Schein, denn war das Ritual der feierlichen Bettlegung vollzogen, flüchtete er heimlich in seine Privatgemächer und in die Arme vom Madame de Pompadour und später die der Madame Du Barry. Ausbau und Erweiterung des Schlosses zogen sich über Jahrzehnte hin, bis zu 30 000 Handwerker waren bisweilen vor Ort tätig, doch bis zum Tod Ludwigs XIV. blieb die weitläufige Anlage, einschließlich des Trianon – ein Seitenpalais am rechten Arm des Kanals –, eine permanente Baustelle. Nur in den Perioden des Friedens konnte sich die Bautätigkeit voll entfalten, weil dann ausreichend Geld und Arbeitshände zur Verfügung standen, aber Ludwig XIV. führte während seiner 54-jährigen Regierungszeit nicht weniger als 34 Jahre Krieg. Der Südflügel wurde zur heutigen Galerie des Batailles verlängert, der Nordflügel gegen Ende seiner Herrschaft um die Ka-
Nicolas Fouquet, Generalkontrolleur der Finanzen, hatte sich 50 Kilometer südlich von Paris das prunkvolle Anwesen Vaux-le-Vicomte errichten lassen (Blick vom Park auf das Schloss). Rund 18 000 Arbeiter wirkten am Bau mit.
9 Nicht einem Minister, dem König steht das prächtigste Schloss zu
pelle erweitert – ein großer finanzieller Kraftakt in der Zeit des Spanischen Erbfolgekrieges (1701 – 1714). Erst Ludwig XV. hat die Schlossanlage schließlich zur Vollendung gebracht – anlässlich der Hochzeit des Dauphins mit Marie Antoinette entstand der Anbau der Oper – wie die Kapelle die Staatsschulden in immer neue Höhen treibend. Der Schuldenstand war schließlich im Jahr 1715 auf drei Milliarden Livres gestiegen, so dass auf den Tod des „Sonnenkönigs“ sogleich der Staatsbankrott folgte.
chend wohnte er näher oder ferner vom königlichen Schlafgemach. Wenn jedoch ein Hochadliger sich die Freiheit nahm, länger vom Schloss abwesend zu sein, wurde er mit steinernem Gesicht empfangen, und der König behauptete, ihn nicht zu kennen. Anders als der englische oder preußische Adel, der den Sommer auf seinen Landsitzen verbrachte und nur zur Wintersaison mit festlichen Bällen in der Hauptstadt erschien, war der französische Adel an den Hof Ludwigs XIV. gefesselt. Damit verlor er seine Machtbasis auf dem Land, büßte so auch die Gelegenheit zu jeglicher konspirativen Aktivität ein. Und er war nicht zuletzt der Verarmung ausgesetzt. Denn die Adligen, zu Höflingen degradiert, lieferten sich einen ständigen Wettstreit um den höchsten Aufwand für Garderobe, Karosse, Tafel – oder überboten sich gegenseitig bei den Verlusten im mit hohen Einsätzen geführten Glücksspiel. Einen Ausweg aus den Schulden konnte nur Ludwig XIV. bieten, indem er Posten und Donationen vergab. In den Glanz seiner Gunst drängten sich alle, und diese Gnadenakte waren für die Begünstigten nicht nur Beweise ihres Rangs am Hof, sondern auch Indiz für den Grad ihrer Abhängigkeit. Waren es 95 Millionen Livres, die Ludwig XIV. über Jahrzehnte für seine Schlossanlage aufwendete, so gab er im selben Zeitraum nicht weniger als 37 Millionen Livres für seine Feste aus – eine kostspielige Fesselung seines Adels. In seinen Memoiren von 1662, die nicht für die Veröffentlichung, sondern für die politische Erziehung seines Sohnes bestimmt waren, hat Ludwig XIV. die Einbindung aller Bewohner des Schlosses in jene pompösen Spektakel gefordert, die er selbst so grandios zu gestalten verstand: „Diese Gemeinschaft der Vergnügungen, die den Personen des Hofes eine ehrenvolle Vertrautheit mit Uns gewährt, berührt und begeistert sie mehr, als man zum Ausdruck bringen kann. Einerseits haben die Menschen ihr Vergnügen am Spektakel, bei dem Wir im Grunde stets zum Ziel haben, ihnen zu gefallen; und andererseits sind alle Unsere Untertanen entzückt zu sehen, dass Wir lieben, was sie lieben. Auf diese Weise nehmen Wir ihren Geist und ihr Herz gefangen, gelegentlich viel wirkungsvoller als durch Belohnungen und Wohltaten.“ Die so beschworene Festgemeinschaft bezog sich nicht auf die gemeinsame Betrachtung von Spektakeln, sondern auf deren gemeinsame Gestaltung. Das achttägige Spektakel vom 7. bis zum 14. Mai 1664, das erstmals den Ruf des Königs als Arrangeur glanzvoller Festlichkeiten begründete, trug den
Der Adel ist zur permanenten Anwesenheit am Hof gezwungen Aber das Schloss von Versailles sollte schließlich auch und vor allem Regierungszentrum sein, was 1682 nach dem Ausbau der beiden Flügel für die Ministerien vollzogen wurde. Bis zu 5000 Aristokraten bildeten den Hofstaat. Sie nahmen, einschließlich der 8000 Bediensteten, ihren Wohnsitz im Schloss. Hinzu kam eine große Zahl von Amtsträgern, die für das Funktionieren der Regierung notwendig waren und zum überwiegenden Teil in der aufblühenden Stadt Versailles wohnten. Im Schloss Das Schlafzimmer Ludwigs XIV. in selbst waren die Appartements Versailles: Dort durften ausgesuchte oder auch nur Kammern streng Untertanen dem Monarchen beim nach dem Rang, den der BewohRitual des Aufstehens (lever) und des ner in der Hierarchie des Adels Zubettgehens (coucher) zuschauen. einnahm, geordnet – entspre-
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Namen „Vergnügungen der Zauberinsel“ (Plaisirs de l’île enchantée), und schon im Morgengrauen des ersten Tages vollzog sich eine kunstvolle Reiterkavalkade. An ihrer Spitze ritt, als königlicher Page in antikisierendem Kostüm, der Kommandant der königlichen Garde, Charles d’Artagnan, der Fouquet verhaftet hatte. Es folgten zwölf Trompeter, in ihrer Mitte der Kammerherr des Königs, Paul de SaintAignan, der den neuen Roland ankündigte – natürlich Ludwig XIV. In Gold und Silber gekleidet, ritt der König im mit Edelsteinen besetzten Harnisch einher, und in seinem Gefolge waren sie alle, mit bunten Federhüten und in Phantasiekostümen, die Adligen der ältesten und mächtigsten Geschlechter seines Königreichs: die Guise, Noailles, Armagnac, Foix, Lude, Humières, Duc.
Ludwig XIV. hielt den Adel am Hof – mit sanftem, aber wirksamem Zwang (Kammerherren in Versailles; Kupferstich von 1699).
Latona, die Mutter Apolls und Dianas, im gleichnamigen Brunnen im Schlosspark
Versailles: Demonstration französischer Macht für ganz Europa
von Versailles. Die
Auch der medialen Fernwirkung war sich Ludwig XIV. früh bewusst und bestrebt, sie als außenpolitisches Programm einzusetzen: „In Hinsicht auf die Fremden macht es [das Fest] einen sehr vorteilhaften Eindruck des Großartigen, der Macht und des Reichtums und der Größe, ohne noch die Geschicklichkeit in allen Körperübungen zu rechnen.“ Ludwig XIV., der nicht selten im strahlenden Sonnenkostüm auf-
gebene Göttin
von Fröschen (nicht im Bild) umsollte offenbar für Anna von Österreich stehen, die sich als Regentin des rebellierenden Adels erwehren musste.
11 Versailles: Demonstration französischer Macht für ganz Europa
Ludwig XIV. arrangierte im Mai 1664 erstmals persönlich ein achttägiges Spektakel, die „Vergnügungen der Zauberinsel“. Dazu gehörte auch dieses Feuerwerk (kolorierter Kupferstich).
um die Erde nach Westen beginnt. Aber der König blickte auch im Zorn zurück – die Göttin Latona, die Mutter Apolls und Dianas, geflüchtet auf einen Wasserfelsen und umringt von ihren beiden ihre Hilfe suchenden Kindern, ist bedroht von höhnisch quakenden Fröschen, den zu kleinen hässlichen Kröten degradierten Mitgliedern der Parlamente, welche die königliche Familie während der Fronde in Bedrängnis gebracht hatten. Und im Wasser seiner Fontäne versinkt auch der Gigant Enceladus, der es wagte, Felsen gegen die Götter im Olymp zu schleudern – er wird für seinen anmaßenden Aufstand von seinen Steinen selbst erschlagen. Zum universalen Machtanspruch des Sonnengottes hat Ludwig XIV. sich in seinen Memoiren unver-
trat, liebte die eigenen Auftritte bis zum Jahr 1664: Damals konfrontierte ihn Jean Racine in seinem Drama „Britannicus“ mit dem Vergleich, dass Nero seinen kaiserlichen Rang aufs Spiel gesetzt habe, als er sich im Wettbewerb der Schauspieler erniedrigte: „Als erstes Verdienst, als höchste Tugend, / Glänzte er, einen Wagen in der Spur zu halten; / Um Preise zu gewinnen, unwürdig seiner Hände, / Gab er sich den Römern zum Schauspiel hin.“ Die großen Gartenfestspiele Ludwigs XIV. in Versailles endeten nach Theater, Ballett, Konzert, Tanz und Festmahl mit einem furiosen Feuerwerk, das Isaac Sylvestre als Graphik festzuhalten beauftragt war, damit die bildliche Opulenz auch Bewunderer sogar an den Höfen mancher europäischen Kleinstaaten finden konnte. Diese beeilten sich, mit ähnlichen, wenn auch kleiner dimensionierten Schlossbauten und imitierenden Spektakeln diesem Ideal nachzueifern. Der Machtanspruch Ludwigs XIV. nahm zunehmend auch in den Statuen des Schlossparks Gestalt an – im Zentrum der Sonnenwagen Apolls, mit dem sich der Gott am Morgen aus dem Wasser seiner Fontäne erhebt und seinen Lauf wie die Sonne
Fontäne im Garten des Schlosses Marly-le-Roi, das Ludwig XIV. bauen ließ (Gemälde von Hubert Robert, um 1780).
12 Ein Traumschloss gegen das Trauma
hüllt bekannt: „Ich würde ohne Zweifel stark genug sein, auch noch andere Reiche zu regieren, wenn sie ebenfalls meinen Strahlen ausgesetzt wären.“ Dies war eine deutliche Warnung an die europäischen Mächte, unter denen Frankeich im 17. Jahrhundert mit rund 18 Millionen Bewohnern das reichste und volkreichste war.
Unterhalb von Marly-le-Roi wurde ne liefern sollte – diese floss im an der Seine ein mechanisches PumpNordosten von Versailles in 14 werk – die sogenannte Maschine von Kilometern Entfernung zum Marly – errichtet. Diese einzigartige Schloss und 150 Meter tiefer Anlage sollte Versailles mit Wasser für gelegen in einem Mäander dadie aufwendigen Fontänen versorgen. hin. Mit Hilfe kühner Ingenieurkunst, für die der belgische Zimmermann Rennequin Sualem aus Lüttich angeworben worden war, gelang es, das Flusswasser zu stauen und in ein Reservoir zunächst ans Ufer zu befördern – 48,45 Meter über dem Wasserspiegel des Flusses. Eine erste Pumpstation hob es weitere 56,52 Meter in die Höhe und eine zweite nochmals 57,17 Meter, bis das monumentale Aquädukt erreicht war, so dass die begehrte Flüssigkeit nach Versailles fließen konnte. Doch die aufwendige Anlage machte einen Höllenlärm und beförderte täglich nur 2000 Kubikmeter Wasser in die Höhe – bei weitem nicht ausreichend, um die Fontänen in die vom König gewünschte Höhe springen zu lassen, schon gar nicht für die gesamte Dauer seiner Feste. Das zweite, noch anspruchsvollere Projekt sollte einen wesentlichen Teil des Flusses Eure, der südlich von Rouen in die Seine mündet, an seinem Oberlauf abzweigen und in einem separaten Flussbett bis nach Versailles führen – nur 26 Meter betrug der Höhenunterschied. Sogar Schiffe sollten von der Seine auf der Eure bis zum Schloss Versailles segeln
Nur das Wasser widersetzt sich dem Willen des „Sonnenkönigs“ Aber da war noch das Wasser, neben dem Licht der Sonne der zweite Garant für Leben und Wachstum, das im Park von Versailles nicht in ausreichender Menge zur Verfügung stand – es ließ sich im Gegensatz zum gestaltenden Beschnitt der Eiben auch nicht in immer neuen geometrischen Figuren beliebig domestizieren. Sein Widerstand wurde für Ludwig XIV. zu einem lebenslangen Ärgernis, einfach nur dadurch, weil die zahlreichen Fontänen, unter anderem in den kunstvoll gestalteten Wäldchen (den bosquets) wie dem „Wassertheater“ oder den „Quellen“, nur für kurze Zeit glitzernd emporsteigen konnten. Zwei Großprojekte der Wasserbeschaffung betrieb Ludwig XIV. mit immensem Einsatz von Material und Menschen. Zum einen ließ er die „Maschine von Marly“ bauen, die neben den ober- und unterirdischen Bassins zusätzliches Wasser aus der Sei-
13 Nur das Wasser widersetzt sich dem Willen des „Sonnenkönigs“
dukts konnte Madame de Maintenon, seine zweite Gemahlin zur linken Hand, später von ihrem gleichnamigen Schloss melancholisch betrachten – sie bietet noch heute von dort einen romantischen Anblick.
1789: Das System von Versailles funktioniert nicht mehr Das Schloss von Versailles war eine monumentale Machtdemonstration, allein seine Masse sollte Bewunderung erzwingen und ebenso der Glanz seiner Prachtsäle, an ihrer Spitze der Spiegelsaal. Aber die spielerisch-heitere Lebenskultur, die sich in Vauxle-Vicomte und Chantilly, ja sogar im nahen SaintCloud, wo sein Bruder Philippe d’Orléans residierte, entfaltete, hat Ludwig XIV. mit Versailles nie erreicht. Zum Wassermangel des Tals von Galie fügte sich ein unerwünschtes Element der Natur, das der Marschall François de Bassompièrre gegenüber dem König zu erwähnen sich erlaubte, als dieser stolz darauf hinwies, dass da, wo nunmehr sein grandioses Schloss stehe, einst nur eine Windmühle gestanden habe: „Ja, Sire, die Mühle ist verschwunden, aber der Wind ist geblieben.“ Am Ende, als 1789 die Pariser Marktfrauen in revolutionärem Furor nach Versailles zogen, funktionierte das mit dem Schloss verbundene politische System nicht – einerseits geographisch nicht, was Ludwig XIV. hätte bedenken können, denn es lag zu nah an Paris. Andererseits funktionierte es auch machtpolitisch nicht, denn der hohe Schwertadel Frankreichs, den Ludwig XIV. zu kontrollierter Anwesenheit in seiner Nähe und zur permanenten Teilnahme an seinen Festen gezwungen hatte, dachte 74 Jahre später nicht daran, seinen Nachfolger Ludwig XVI. zu verteidigen. Und im Gegensatz zu Anna von Österreich, die im letzten Augenblick vor ihren politischen Gegnern zu flüchten verstand, zögerte Marie Antoinette zu lange, als eine Karosse für sie im Park von Versailles zur Flucht bereitstand. Schon einen Tag später, als es zu spät war, lamentierte sie: „Ich werde niemals verstehen, warum ich gestern nicht fortgegangen bin.“ Das System Versailles, das nach dem Willen LudwigsXIV. seine Dynastie aus der Falle von Paris befreien sollte, war selbst zur Falle geworden.
können. Ludwig XIV. ließ Zehntausende Soldaten, zumal gefindet sich der Enceladus-Brunnen, rade nicht Krieg geführt wurde, benannt nach einem Giganten aus für die Erdarbeiten antreten, und der griechischen Mythologie (Gesein Festungsbaumeister Sébastien Le Prestre de Vauban sollmälde von Jean Cotelle d. J.). te für die stabile Konstruktion eines Aquädukts von fünf Kilometern Länge und einer Höhe von zweimal der Pariser Kathedrale Notre-Dame sorgen – Vorbild war natürlich das Aquädukt von Gard (Pont du Gard), wie in jener Epoche generell das Vorbild der Römer häufig der gültige und möglichst zu übertreffende Maßstab war. 6000 Soldaten waren an Fieber gestorben, und neun Millionen Livres hatte die Konstruktion bereits verschlungen, als Ludwig XIV. das Unternehmen abbrach – es war zu gigantisch, und seine Soldaten wurden auch wieder im nächsten Krieg gebraucht. Die schöne Ruine des unvollendeten AquäIn einem der künstlichen Wäldchen des Schlossparks von Versailles be-
Dr. Uwe Schultz, geb. 1936, ist Rundfunkjournalist, Literaturforscher und Publizist. In zahlreichen Werken hat er sich mit dem absolutistischen Frankreich beschäftigt.
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Der junge Ludwig
Vom „Gottesgeschenk“ zum „Sonnenkönig“ Uwe Schultz
„Gottesgeschenk“ hatten die Franzosen den spät geborenen Sohn Ludwigs XIII. genannt. Die eigene Herrschaftsvision des Thronfolgers entwickelte sich im Schatten der langen Regentschaft durch seine Mutter und den mächtigen Ersten Minister Mazarin: Ludwig XIV. wollte sich als ruhmreicher „Sonnenkönig“ profilieren. scheidende Rolle. Denn sollte sie Der kleine Ludwig und seine Mutter: Nach weit über 20 Jahren Ehe der jungen Bourbonen-Dynastie hatte Anna von Österreich ihrem keinen Erben gebären, musste sie Mann Ludwig XIII. am 5. September ihre Rücksendung nach Spanien 1638 doch noch den ersehnten und danach ihr Verschwinden in Thronfolger, den Dauphin, geboren einem Kloster fürchten. Im Morgengrauen verließ Ludwig XIII. (Ölgemälde aus dem 17. Jahrhundas gemeinsame Nachtlager – er dert, französische Schule). hatte seine königlichen Pflichten erfüllt. Als neun Monate später der Nachfolger geboren wurde, sprachen die Zeitgenossen, die schon nicht mehr auf den Dauphin zu hoffen gewagt hatten, von einem „Geschenk Gottes“ und gaben dem am 5. September 1638 geborenen Kind den Namen „Le Dieudonné“ (der Gottgegebene). Ludwig XIII. wusste, dass sein Leben – er war an Tuberkulose erkrankt – sich schnell dem Ende näherte. Der Vater von zwei späten Kindern – 1640 wurde Philippe d’Orléans geboren – starb bereits 1643 – nur ein knappes halbes Jahr nach seinem mächtigen Mi-
Spät in der Nacht des 5. Dezember 1637 war Ludwig XIII. fast wider Willen in den Louvre gekommen, vom Oberst seiner Garden dazu überredet, sich endlich ein weiteres Mal seiner Gemahlin zuzuwenden. Mit Anna von Österreich war der König seit 22 Jahren verheiratet, und deren drei Fehlgeburten, die letzte im Jahr 1623, zudem durch ihren Leichtsinn herbeigeführt, hatten die Hoffnung auf einen Thronfolger, einen Dauphin, immer tiefer sinken lassen. Bei Kinderlosigkeit würde die Krone an seinen Bruder Gaston d’Orléans fallen. Kardinal Richelieu, der mächtigste Mann des Königs, hatte diesen permanent in politische Ränke verstrickten Unruhestifter immer wieder in seine Schranken weisen müssen – nur wegen seines königlichen Blutes durfte er ihn nicht hinrichten lassen. Das politische Interesse Ludwigs XIII., als er seine Kissen ins Schlafgemach seiner Gemahlin tragen ließ, stand außer Frage. Aber auch die politische Ambition Annas von Österreich spielte eine ent-
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Die wahre Macht bleibt in den Händen von Mutter und Erstem Minister Diese Zeremonie der Machtübergabe an den jungen König und deren Weitergabe an seine Mutter vollzog sich bereits vier Tage nach dem Tod Ludwigs XIII. Frankreich stand seit 1635 in einem langen, das Land belastenden Krieg gegen Spanien, und allseits war die Vermutung, dass die sich als Spanierin fühlende Königin, die stets gegen den von Richelieu und Ludwig XIII. hartnäckig betriebenen Krieg gekämpft hatte, nun Frieden mit ihrem Heimatland schließen würde. Die Überraschung war groß, denn gleichsam über Nacht wandelte sich Anna von Österreich zur reinen Französin und zur Verfechterin von ausschließlich Frankreichs Machtinteressen. Noch größer war die Überraschung, als sie nicht einen französischen Hochadligen, mit denen sie wiederholt konspiriert hatte, zum Ersten Minister berief, sondern den Italiener Giulio Mazarini. Schon Richelieu hatte diesen begünstigt, als „Jules Mazarin“ zum Franzosen naturalisiert und durch seinen Einfluss in Rom auch zum Kardinal ernennen lassen – der Krieg gegen Spanien ging weiter. Durch die Ernennung Mazarins zum die Geschicke des Landes bestimmenden Minister zog sich die Regentin den Zorn des Hochadels zu, der sich von der Macht ausgeschlossen sah. Die innenpolitische Front ihrer Gegner, die sich langsam zur „Fronde“ formierte, reichte bis zum Kardinal de Retz (eigentlich Jean-François Paul de Gondi) – einem machtbewussten Kirchenfürsten mit den Gelüsten eines Lebemannes, der seinen Gegner Mazarin so charakterisierte: „Er hält alles für Schande, was ein anderer als Ehre betrachtete. Er machte sich über die Religion lustig. Er versprach alles, weil er nichts zu halten entschlossen war. Er war weder sanft noch grausam, weil er sich weder der Wohltaten noch der Beleidigungen erinnerte. Er sah das Übel gut voraus, weil er sich oft fürchtete … Er besaß Geist, arbeitete mit Anspielungen, zeigte stets Heiterkeit, verfügte über Manieren.“ Anna von Österreich ernannte Mazarin 1645 auch zum „Superintendanten für die Hofhaltung und die Erziehung des Königs“, denn der junge Ludwig XIV. war mit dem Eintritt in das „Alter der Vernunft“, das mit sieben Jahren als erreicht galt, von der Betreuung durch Frauen in die Erziehung durch Männer übergeben worden. Mazarin war sorgsam bemüht, dem jungen König eine gute Ausbildung zuteilwer-
nister Richelieu. Anna von Österreich, die an seiner Seite im Philippe de Champaigne den MonSchloss Saint-Germain-en-Laye auf seinen Tod gewartet hatte, archen nach der siegreichen Belagewann damit ihre persönliche gerung der Hugenotten-Festung La und politische Freiheit zurück, Rochelle (1628). Mit der Berufung denn Ludwig XIII. hatte ihre Rolle Kardinal Richelieus zum Ersten Minister stärkte Ludwig die Zentralfast völlig auf die einer Gefangenen verringert. Er hatte sie – übgewalt – ein erster Schritt auf dem rigens zu Recht – der vielfältigen Weg zum Absolutismus. Konspiration mit Spanien verdächtigt. Nun eilte sie bereits am Morgen nach seinem Tod nach Paris, um ihren Rang als Regentin zu sichern. Dazu bedurfte es der Zustimmung des Pariser Parlaments, vor dem der fünfjährige König sich mit der Formel begnügte: „Ich bin hierher gekommen, um dem Parlament meinen guten Willen zu bezeugen; der Kanzler wird das Übrige sagen.“ Ludwig XIII. (1610 – 1643), bekränzt von der Göttin Victoria. So malte
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den zu lassen. Für die Hofhaltung des Thronfolgers zuständig war Nicolas de Neufville de Villeroy und für den Unterricht Hardouin de Péréfixe de Beaumont – einstiger Kammerherr Richelieus und späterer Erzbischof von Paris. Er war verantwortlich für die Auswahl der weiteren Lehrer – je einer fürs Schreiben, Lesen, Rechnen, für Italienisch und Spanisch sowie das Zeichnen. Hinzu kam die Unterweisung im Gitarrenspiel, auch die Laute zu schlagen erlernte Ludwig. Vor allem aber der Tanzunterricht weckte in ihm die Leidenschaft zum Solotanz – schon mit 13 Jahren gab Ludwig sein Debüt im Ballett „Cassandre“.
ren zurück auf die Zeit „… von den schrecklichen Unruhen überall im Königreich vor und nach meiner Volljährigkeit, von einem seltsamen Krieg, durch den die inneren Aufstände Frankreich um abertausend Vorteile brachten … und von den Parlamenten, die noch im Besitz einer usurpierten Macht waren und sie missbrauchten“. So waren Anna von Österreich und Mazarin, die sorgsam über die Sicherheit und Nach dem Tod Ludwigs XIII. machte Ausbildung des jungen Königs die Regentin Anna von Österreich wachten, bestrebt, dessen AutoKardinal Jules Mazarin zum neuen rität stetig zu steigern, und dastarken Mann. Ähnlich wie sein für bot das Erreichen der VolljähVorgänger und Förderer Richelieu rigkeit den würdigen Anlass – nur zog Mazarin den Hass des Hochzwei Tage nach seinem 13. Geadels auf sich (Gemälde von Philippe burtstag am 7. September 1651. de Champaigne). Die feierliche Zeremonie fand
Schweigsam, aber mit einem vorzüglichen Gedächtnis ausgestattet Ludwig XIV. war ein ziemlich normales Kind, mittelgroß, gesund, gut gewachsen, nicht so lebhaft wie sein jüngerer Bruder, zudem bereit zum Gehorsam, weniger geneigt, oft zu lachen; mäßigen, aber wachen Geistes, eher schweigsam und ausgestattet mit einem vorzüglichen Gedächtnis. Das Fluchen gewöhnte ihm Anna von Österreich selbst ab, indem sie die Peitsche bemühte und ihn für zwei Tage einsperren ließ. Während seine Neigung fürs Lesen und Schreiben begrenzt war, bevorzugte er körperliche Übungen und das Leben im Freien. Auch ein „Lehrmeister der Übungen des Krieges“ fehlte nicht – mit Spielpistolen und kleinen Kupferkanonen hantierend, erzeugte der kindliche König mit seinen Spielgefährten erheblichen Lärm im Palais Royal, so dass der besorgte Mazarin herbeieilte und das Treiben untersagte. Als der Kardinal eines Tages mit großem Gefolge über die Terrasse des Palais Royal schritt, sagte der König hörbar: „Das ist der große Türke.“ Die Herkunft des Satzes, der Mutter und dem Minister zugetragen, gab Ludwig XIV. trotz eindringlicher Befragung nicht preis – die Tugend des Verschweigens, die er sich lebenslang bewahrte, war früh entwickelt. Als dann 1648 die ersten Unruhen der „Fronde“ ausbrachen, vollzog sich jene abenteuerliche Szene, in der die königliche Familie bei der von Mazarin organisierten Flucht nach Saint-Germain-enLaye auswich. Dieses Erlebnis wurde zum mentalen Anstoß für Ludwig XIV., später das Zentrum seiner Macht von Paris nach Versailles zu verlegen. Der Horror, in seiner königlichen Person bedrängt und bedroht worden zu sein, sollte ihn als Trauma begleiten. Voll Bitterkeit blickte er in seinen Memoi-
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wieder im Pariser Parlament denheit des französischen Adels, statt, wohin Ludwig XIV. mit seizunehmend von der Macht ausgenem Pferd Isabelle selbst geritschlossen zu sein, in einer Folge ten kam – sein Gewand ebenso von Aufständen, der sogenannten wie die Decke des Pferdes waren Fronde, die die königliche Familie übersät mit den Kreuzen des Heilig-Geist-Ordens, der höchsten zur Flucht zwangen. Das zeitgenösAuszeichnung Frankreichs, und sische Gemälde zeigt Kämpfe vor an goldenen Lilien als Dekoraden Mauern der Bastille. tion fehlte es ebenfalls nicht. Feierlich übergab Anna von Österreich die Machtbefugnisse ihrer Regentschaft ihrem Sohn, nicht ohne ihre Genugtuung darüber zum Ausdruck zu bringen, nun von der Last der Regierungsverantwortung befreit zu sein. Doch umgehend antwortete ihr der nun zur Regierung berechtigte junge König: „Madame, ich danke Ihnen für die Sorgfalt, die es Ihnen gefallen hat, auf meine Erziehung und die Regierung meines Königreiches zu verwenden. Ich bitte Sie, damit fortzufahren, mir gute Ratschläge zuteilwerden zu lassen, und ich wünsche, dass Sie nach mir das höchste Mitglied in meinem Rat sind.“ Mazarin war bei diesem feierlichen Akt der offiziellen Regierungsübergabe nicht anwesend. Er war
nach Brühl bei Köln ausgewichen, eine kaum verhüllte Flucht, und umgehend wurde vom Parlament ein Kopfgeld von 50 000 Talern auf seinen Kopf ausgesetzt. Obgleich die Parlamentsräte des höchsten Gerichtshofes in Paris hochgebildete Persönlichkeiten waren, beschlossen sie, das für Mazarins Ermordung vorgesehene Geld durch Verkauf seiner Bibliothek zu beschaffen – der Hass auf den ausländischen Kanzler schien keine Grenzen zu kennen. Mazarin, der selbst kein eifriger Leser war, hatte als Sammler nicht weniger als 40 000 wissenschaftliche Bücher von hohem Wert und Bibel-Raritäten in 200 Sprachen in seinem Palais zusammentragen lassen und diese Bibliothek den Wissenschaftlern seiner Epoche zugänglich gemacht. Die wertvollen Werke wurden zu Schleuderpreisen in alle Welt verstreut – eine kundige Käuferin war übrigens die Königin Christina von Schweden, die 1649 den Philosophen René Descartes an ihren Hof gezogen hatte. Auch er war der Fronde ausgewichen und lebte lange in den liberalen Niederlanden. Seine vorübergehende Flucht lehrte Mazarin nicht zuletzt, für künftige Situationen ähnlicher Art Vorsorge zu treffen. Für den Fall, erneut rasch das
Seit 1648 entlud sich die Unzufrie-
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Land verlassen zu müssen, bedurfte es eines Vorrats an Gegenständen von geringem Volumen und zugleich hohem Wert, die sich zu Geld machen ließen: Diamanten. Er sammelte sie später in erheblicher Zahl. Es gelang Mazarin listenreich, auch in Brühl mit Anna von Österreich in brieflichem Kontakt zu bleiben und so die Zügel der Regierung Frankreichs in der Hand zu behalten. Dieser verschlüsselte Briefwechsel, dessen Code heute dechiffriert ist, beweist, dass den Kardinal und die Königin eine sexuelle Liebesbeziehung verband.
Eine Hofdame führt den Monarchen in die Kunst der Liebe ein Da trotz der Volljährigkeit des Königs die Ausübung der Regierungsgeschäfte vorerst weiterhin ohne Einschränkung in den Händen des Kardinals und der Königin verblieb, verfügte Ludwig XIV. für alle Aktivitäten jenseits der Regierung über einen großen Freiraum – und damit nicht zuletzt für die Liebe. Als er 16 Jahre alt war, hatte Anna von Österreich in sein Ausbildungsprogramm auch die diskrete Kunst des Umgangs mit Frauen eingefügt und als seine Lehrerin ihre Erste Kammerfrau Madame de Beauvais ausgewählt. Diese erfüllte ihre pädagogische Aufgabe offensichtlich so zufriedenstellend, dass der stets bestens informierte Kardinal die geschickte und taktvolle Verführerin zum Dank mit einem Palais bedachte. Ludwig XIV. konnte sich fortan als „Mann mit Erfahrung“ betrachten. Dass er sich auf diesem Terrain alsbald voll entfalten konnte, dafür hatte Mazarin selbst gesorgt – absichtlich oder auch nicht. Er ließ in mehreren Wellen nicht weniger als sieben Nichten und drei Neffen, die Kinder von zwei Schwestern, aus Italien kommen. Noch vor dem Ausbruch der Fronde waren 1647 die Schwestern Laura und Olympe Mancini eingetroffen. Bereits in seinem 16. Lebensjahr wandte sich Ludwig XIV. leidenschaftlich werbend Olympe zu, die schnell zu seiner bevorzugten Tänzerin aufstieg – Anna von Österreich sah es mit besorgtem Auge. Doch Olympe, mit den strengen Liebes- und Ehegesetzen ihrer Heimat vertraut, versagte dem jungen König gewiss die letzte Gunst. Sie wählte stattdessen 1657 als sichere Partie die Ehe mit dem Prinzen Eugen Moritz von Savoyen-Carignan – kein geringer Aufstieg für ein Mädchen ohne Adel und Geld. Es kam zu einem erotischen Zwischenspiel mit einer Mademoiselle de La Motte-Agencourt, die, da sie
Im Spätsommer 1658 verliebte sich um die Verpflichtung des KöLudwig XIV. in Maria Mancini (1639 – nigs wusste, aus dynastischen 1715), eine der Nichten des Kardinals Gründen eine Prinzessin von Mazarin. Diese Liebe hatte aus dyköniglichem Rang zu heiraten, nastischen Gründen aber keine Channur die Stellung einer maîtresse ce (Gemälde von Pierre Mignard). en titre anstrebte. Doch der wachsame Mazarin fürchtete den einflussreichen Familienklan, und Anna von Österreich sah in dieser Neigung ihres Sohnes nichts Geringeres als „eine Beleidigung Gottes“. Auch schritt sie zu einer Aussprache mit ihrem Sohn, die mit dem gewünschten Ergebnis endete, dass der junge König, der „zitterte, seufzte, aber sich überwand“, schließlich einlenkte.
Eine unmögliche Verbindung: Ludwigs Liebesverhältnis mit Maria Mancini Damit war der Weg frei für eine weitere Nichte Mazarins, die aber ebenfalls nicht erwarten durfte, in der königlichen Gunst bis zum königlichen Rang aufzusteigen, und es dennoch erhoffte – Maria Mancini. Sie war zunächst fast als ein hässliches Entlein in Versailles erschienen, von dem die Schriftstellerin
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Am 7. September 1651, zwei Tage nach seinem 13. Geburtstag, wurde Ludwig XIV. für volljährig erklärt. Den Regierungsgeschäften blieb er aber vorerst fern. Auf dem Gemälde von Justus van Egmont (1651/1654) ist er im Krönungsmantel zu sehen.
Françoise de Motteville ein keineswegs schmeichelhaftes Porträt zeichnete: „Sie konnte hoffen, von schöner Figur zu sein, weil sie für ihr Alter groß war und sehr gerade; aber sie war mager, und ihre Arme wie ihr Hals erschienen so lang und abgezehrt, dass es nicht möglich war, sie in dieser Hinsicht zu loben. Sie hatte braune Haare und eine gelbe Haut; ihre Augen, die sehr groß und schwarz waren, jedoch noch keinerlei Feuer besaßen, erschienen hart; ihr Mund war groß und flach, und außer ihren Zähnen, die sehr schön waren, konnte man von ihr nur sagen, dass sie hässlich war.“ Aber sie war, zumal sie das Wohlwollen Annas von Österreich gefunden hatte, zunächst zu ihrer Schwester Laura in die Provence geschickt worden – diese Nichte hatte wie ihre Schwester Olympe eine hochrespektable Ehe geschlossen, und zwar mit dem Herzog von Vendôme, der inzwischen zum Gouverneur der Provence aufgestiegen war. Dort erhielt die junge Frau in acht Monaten eine gute Ausbildung in der französischen Sprache sowie in der Lebensart ihrer neuen Heimat. Aber Maria erwarb auch überdurchschnittliche Kenntnisse in Geschichte, Philosophie und Literatur der Antike – sie las griechische und lateinische Texte im Original, zitierte Augustinus, Ovid und Seneca und versank in der Lektüre der spätmittelalterlichen Ritterromane, in denen das Ideal der stolzen, freien und freimütigen Heroen noch einmal auflebte. Von diesem Lesestoff zog sie eine direkte Linie zu den Aufständischen der Fronde, eine Haltung, die keineswegs dem politischen Konsens am Hof Ludwigs XIV. entsprach. Dennoch und vielleicht gerade deshalb war der junge König von ihr fasziniert – ihre Sprache ließ ihn Ideen jenseits der ihm ständig entgegengebrachten Schmeicheleien der Höflinge entdecken. Selbst kein intensiver Leser, ließ er sich in diese kulturelle Welt locken und machte Maria Mancini im Spätsommer des Jahres 1658, als der Hof in Fontaine-
Die Regentin, der Kardinal und der kleine König: Der zeitgenössische Stich von Nicolas Picart fasst die Machtverteilung nach dem Tod Ludwigs XIII. zusammen.
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bleau weilte, zur Königin seiner Feste. Sie blühte auf, denn sie liebte, und auch Ludwig XIV. brachte ihr leidenschaftliche Zuneigung entgegen. Sie dürfte, schließlich war sie ein Temperament von großem Unabhängigkeitsdrang, dem jungen Monarchen zumindest angedeutet haben, dass sie gewillt sei, sich der Fuchtel ihres Onkels zu entziehen, und dass er sich nicht in jedem Fall der Dominanz seines mächtigen Ministers zu unterwerfen habe – vielleicht sogar nicht einmal in der Wahl seiner zukünftigen Gemahlin. Damit aber störte sie empfindlich die Pläne Mazarins, der seit langem den Frieden mit Spanien anstrebte und als Siegel darauf die Ehe des Königs mit der Infantin Maria Teresa vorsah. In dieselbe Richtung gingen auch die Hoffnungen Annas von Österreich, die sich ihre Nichte zur Schwiegertochter wünschte. Doch Mazarins Perspektive reichte weiter – der spanische König Philipp IV., der mit Elisabeth, der älteren Schwester Ludwigs XIII., verheiratet war, hatte, da von Syphilis und sexuellen Exzessen geschwächt, nur eine überlebende Tochter und keinen Sohn – also würde Maria Teresa die Universalerbin der spanischen Krone sein, denn in diesem Land galt nicht das salische Recht der einzig männlichen Erbfolge. In seiner Verzweiflung hatte Philipp IV., der befürchten musste, dass ganz Spanien an Frankreich fallen könnte, nach dem Tod seiner Gemahlin Elisabeth noch einmal geheiratet – Maria-Anna von Österreich. Diese gebar nach mehreren Fehlgeburten schließlich einen Sohn – Philipp Prosper. Dieses Kind, gesundheitlich gefährdet, überlebte – damit war die Option einer Vereinigung Spaniens mit Frankreich zwar nicht aufgegeben, aber zumindest aufgeschoben – rund vier Jahre. Diese frühen Ansprüche sollte der späte Ludwig XIV. geltend machen – in einem verlustreichen Krieg von 14 Jahren Dauer, in dem Frankreich sich fast allen Mächten Mitteleuropas feindlich gegenübersah. Es gelang Ludwig XIV., einen seiner Enkel als Philipp V. auf den spanischen Thron zu setzen, aber die machtpolitische Vereinigung beider Länder kam nicht zustande. Doch im Jahr 1659 war nicht einmal die Ehe mit Maria Teresa gesichert, denn Ludwig XIV. gab erstmals seine wortlose Fügsamkeit auf und war entschlossen, Maria Mancini zu heiraten. Selbst Anna von Österreich, die strikt gegen eine solche Verbindung war, hätte sie doch ihren Lebenstraum eines Friedens mit ihrem Heimatland zerstört, brachte ihrem Sohn dennoch Verständnis entgegen: „Der Kö-
Madame de Montespan (eigentlich nig erweckte mein Mitleid, er ist Françoise-Athénaïs de Rochechouart zugleich so zärtlich und vernünfde Mortemart, Marquise de Montetig, dass er mir eines Tages für span; 1640 – 1707) war eine Mätresse den Schmerz danken wird, den Ludwigs XIV. (Gemälde von Pierre ich ihm bereite, und so wie ich Mignard). Mit ihr hatte er sieben ihn kenne, zweifle ich nicht darKinder. an.“ Melodramatisch soll sich die definitive Trennung der Liebenden gestaltet haben: Bevor Maria Mancini in die Kutsche stieg, sagte sie zu dem bewegten Ludwig XIV., der glaubte, dieses Opfer der Machtpolitik seines Landes schuldig zu sein: „Sie weinen. Und Sie sind der Herr. Ach! Sire, Sie sind der König, und ich gehe.“ Maria Mancini hat diese angemaßte und gescheiterte Hoffnung, die Liebe des Königs bis zur Eheschließung gewinnen zu können, lebenslang nicht verwunden. Ihr Onkel arrangierte das ehrenvolle
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Frankeich und Spanien hatten 1615 mit einer Doppelhochzeit ihre dynastischen Bande gestärkt: Ludwig XIII. heiratete Anna von Österreich aus der spanischen Linie der Habsburger, und Philipp IV. von Spanien ehelichte Elisabeth von Bourbon (zeitgenössischer Kupferstich).
Eheangebot des Fürsten Lorenzo Onofrio Colonna in Rom, wo sein Vater seinen Aufstieg als Hausverwalter begonnen hatte. Die Braut stimmte eher widerwillig zu, und ihr Gemahl beeilte sich, kurzfristig für den Vollzug der Ehe zu sorgen, denn in Europa verbreitete sich das Gerücht, Maria Mancini sei nicht mehr im Stand der Jungfräulichkeit bei ihm eingetroffen, was auf seinen lauten Protest stieß. Zwar gebar sie Colonna drei Söhne, aber ihre Ehe missriet – auch weil er seine Gemahlin über das übliche Maß hinaus betrog. Sie trennten sich, und Maria zog mit ihrem Bruder Philipp, dem letzten und missratenen Neffen des Kardinals, nach Venedig. Er leb-
te dort im Karneval seine Homosexualität exzessiv aus, und auch Maria Mancini gab sich diversen Galanen derart freizügig hin, dass ihr Ruf bald völlig ruiniert war. Erst 1672, als Madame de Montespan zur maîtresse en titre aufgestiegen war, führte ihr Weg wieder nach Paris, doch Ludwig XIV. untersagte ihr den Zutritt zum Hof und bot ihr zum Aufenthalt zwei Klöster an, ausreichend weit von Paris entfernt. Sie lehnte ab und wurde zur Unruhestifterin in Frankreich, weshalb der König sie unter Zwang nach Italien zurückbringen ließ. Auf der Rückreise entzog sie sich ihren Bewachern in Lyon und versuchte in Savoyen, den dortigen Herzog Karl-Emmanuel zu verführen. Als dies misslang, ebenso wie der Ausgleich mit dem Fürsten Colonna reiste sie über die Schweiz, Deutschland und Flandern, wo sie ein Schiff bestieg, nach Spanien. Dort lebte sie im Kloster Santo Domingo el Real wenig diskret wie in einem Gasthof – zudem eingeschränkt in ihren Finanzen. Aus dieser Bedrängnis befreite sie der Tod des Prinzen
Im Juni 1660 feierten Ludwig XIV. und die spanische Infantin Maria Teresa von Österreich ihre Hochzeit. Damit machte Frankreich seinen Anspruch auf den spanischen Thron deutlich, sollte Philipp IV. keinen männlichen Erben haben (Ausschnitt aus einem Gobelin).
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Colonna im Jahr 1689, und als 1701 der Spanische Erbfolgekrieg begann und Ludwig XIV. Italien angriff, kehrte sie in ihre Heimat zurück. Ihre Unruhe trieb sie noch einmal nach Frankreich, sogar nach Paris, wo ihr der König „tausend Aufmerksamkeiten“ zuteilwerden ließ, ohne dass es zu einer Wiederbegegnung kam. Sie starb 1715 in Pisa, nur wenige Monate vor Ludwig XIV.
Das simple Wort hieß „mittels“, und die Formulierung im Vertrag lautete: „Dass mittels der effektiven Bezahlung, geleistet von seiner Christlichen Majestät …, die hochedle Infantin durch diese Mitgift sich für zufriedengestellt betrachten würde, ohne dass sie später irgendein anderes Recht geltend machen könne.“ Diese diplomatische Falle schnappte bereits zu, als weder beim Ehevollzug noch jemals später ein einziger Ecu in Frankreich eintraf. Der Vollzug dieses Rechtsanspruchs konnte erst vier Jahrzehnte später geltend gemacht werden – zwar starb der männliche Thronerbe Philipp Prosper schon 1661, aber inzwischen hatte die spanische Königin einen weiteren Infanten zur Welt gebracht, der als Karl II. bis 1700 lebte. Da erst konnte die Klausel, die Frankreich die Einverleibung seines südlichen Nachbarlandes gestatten sollte, zur berechtigten politischen Forderung werden. Ludwig XIV. zögerte nicht, seinen letzten und längsten Krieg zu beginnen. Doch zunächst, als seine Hochzeit mit Maria Teresa im Juni 1660 in Saint-Jean-de-Luz gefeiert wurde, beschränkte sich Ludwig XIV. auf die Rolle des Bräutigams, der sich schließlich zu der Ansicht durchgerungen hatte, dass seine Braut „viel Schönheit besitzt“ und es ihm leicht sein werde, „sie zu lieben“. Allerdings hatte er da bereits erhebliche Kraftakte der Verdrängung geleistet, denn Maria Teresa
Die Staatsräson verlangt nach einer Ehe mit Maria Teresa von Habsburg Doch zurück ins Jahr 1659, als sich der französische Hof auf die Reise an die spanische Grenze machte, wo es den Friedens- und Ehevertrag auszuhandeln galt. Die Verhandlungen vollzogen sich langsam und zäh, zumal Spanien keinen Quadratmeter Boden seines Landes für den Fall preiszugeben bereit war, dass Maria Teresa zur Universalerbin Spaniens aufsteigen sollte. Schließlich einigte man sich auf eine reiche finanzielle Mitgift von 500 000 Ecus, in französischer und nicht in spanischer Münze, denn deren Wert befand sich im freien Fall – zahlbar in vier Raten, die erste am Tag des Ehevollzugs. Doch der Sekretär Mazarins, Hugues de Lionne, verstand es, ein einziges Wort in das Vertragswerk einfließen zu lassen, das Frankreich einen entscheidenden Vorteil verschaffte.
Im Oktober 1652 kehrte Ludwig XIV. nach Paris zurück – im Juli waren die Truppen der Fronde von königstreuen Einheiten geschlagen worden (Kupferstich). Einen triumphalen Einzug nach Paris vollzog er 1660 mit seiner frischangetrauten Gattin Maria Teresa. Dabei wurde noch einmal an den Sieg über den aufständischen Adel erinnert.
23 Die Staatsräson verlangt nach einer Ehe mit Maria Teresa von Habsburg
ßerstande zu tun, was zu tun notwendig ist.“ Ludwig XIV. war am Ende ein willfähriger Schüler seines politischen Erziehers, beherrscht in seinen Gefühlen und entschlossen, keinen seiner wahren Gedanken in seinem Gesicht sichtbar werden zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt waren auch die ersten Züge jener maskenhaften Strenge in seinem Gesicht zu sehen, die sich langsam zur unnahbaren Statuenhaftigkeit des „Sonnenkönigs“ steigern sollte. Als der Hof gleichsam im Triumphzug des nach 14 Jahren endlich erreichten Friedens nach Paris zurückkehrte, demonstrierte Mazarin dem jungen König noch ein letztes Mal, wie die politische Rechnung aufgehen würde, wenn Ludwig XIV. die Ohnmacht seines Gefühls mit der Macht vergleichen würde, die sich zu königlicher Pracht entfalten könne. Es war zugleich die Demonstration, dass nunmehr die absolute Monarchie zur vollen und unangefochtenen Entfaltung gekommen war – in ihm, dem Alleinherrscher Ludwig XIV. Der Zug, in der bewussten Tradition des römischen Triumphzugs, führte wie einst in Rom die Besiegten mit sich – die Frondeure des Hochadels, die im östlichen Vorfeld von Paris auf der eigens hergerichteten Place du Trône, heute Place de la Nation, ihre Huldigung darbrachten, indem sie vor einer achtstufigen Empore das Knie beugten, auf der Ludwig XIV. und Maria Teresa huldvoll lächelten. Auf dem Weg zum Louvre war das Pflaster mit einem Teppich aus Blättern und Blüten bedeckt, und Statuen von Herkules und Pallas Athene symbolisierten die Flüsse Seine und Marne. Auch Spanien und Frankreich waren in opulenten Sinnbildern gegenwärtig, zudem durch den Gott Hymen, den Gott der Hochzeit, vereint. Der Zug durchquerte mehrere Triumphbögen – der aufwendigste und prachtvollste an der Place Dauphine war Herkules und Minerva gewidmet: Der Halbgott trug die Züge des Königs und die Göttin jene seiner königlichen Gemahlin. Mazarin, der die Opulenz der italienischen Oper liebte, hatte die Parade selbst inszeniert und sich seinen „Höhepunkt“ vorbehalten. An der Spitze führten 35 grünlivrierte Männer 72 Maultiere – die ersten 24 Tiere bedeckt mit einfachen Decken, die nächsten 24 mit Schabracken aus Seide, verziert mit golddurchwirkten Figuren, die letzten „24 mit roten Samtdecken, auf denen Wappen und Wappensprüche gestickt sind, daneben Füllhörner, aus denen Früchte und Blumen quollen“. Nach weiteren Steigerungen rollten elf sechsspännige Karossen heran, die Pferde jeweils aus einer anderen Region Frankreichs und
hatte den Wuchs einer Zwergin, verfügte über die Habsburger errichtete einen mächtigen KuppelSchlapplippe sowie ein fliehendes bau, in dem eine Bildungsstätte für Kinn und besaß schlechte Zähne, die sie geschickt zu verbergen ausgewählte Schüler untergebracht war – das heutige Institut de France. wusste, indem sie selten und weDort ist auch der pompöse Sarkonig sprach, zumal sie wegen ihrer phag Mazarins aufgestellt. dürftigen Ausbildung auch wenig zu sagen hatte. Zudem hatte man es am spanischen Hof versäumt, der schon lange als französische Königin vorgesehenen jungen Frau ein einziges Wort in französischer Sprache beizubringen. Aber Ludwig XIV. hatte sich die Machtmaximen Mazarins zu eigen gemacht, die dieser seinem königlichen Schützling früh angeraten hatte: „Erinnern Sie sich, was ich Ihnen mehrere Male gesagt habe, als Sie von mir zu wissen verlangten, welcher Weg einzuschlagen sei, um ein großer König zu werden: dass er mit den größten Anstrengungen beginnen müsse, von keiner Leidenschaft beherrscht zu werden; denn wenn dieses Unglück eintritt, man mag dabei noch so guten Willens sein, ist man auKardinal Mazarin hinterließ eine
von ihm gegründete Stiftung. Diese
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zusätzlich einer anderen Rasse zugehörig. Die letzte Steigerung bildete die Karosse seiner Eminenz, des Kardinals, eine Karosse, nicht von sechs Pferden gezogen, welche Ehre den Herzögen und Marschällen zustand, sondern von acht Pferden, aber es war nicht die größte von allen Karossen des Triumphzuges, sondern die kleinste und – sie war leer. Wo war Mazarin? Er fehlte nicht, denn er stand auf dem Balkon des Palais Beauvais in der Rue Saint-Antoine und genoss seinen Theatercoup – seine Macht bis zur Unsichtbarkeit gesteigert zu sehen und dabei die Überraschung als wesentliches Element seiner Politik zur Anschauung zu bringen. Doch er selbst, an seiner Seite Anna von Österreich und der siegreiche Marschall Henri de Turenne, war erschöpft – die Gicht und die langwierigen Verhandlungen auf der sumpfigen Fasaneninsel im Grenzfluss Bidassoa zwischen Frankreich und Spanien hatten seine Kräfte ebenso verbraucht wie vorher die strapaziösen Reisen zu den diversen Schlachtfeldern, ganz abgesehen von der Flucht ins deutsche Exil. Gab es noch einen letzten Dienst nach der definitiven Friedenssicherung und der gesicherten Vormachtstellung Frankreichs in Europa, den er dem nun über eine stabile Monarchie verfügenden König erweisen konnte – den rechtzeitigen Tod?
keit, Hochmut oder Vorsicht? Mazarin konnte also unbegrenzt seinen Reichtum auf seine Familie verteilen und Schenkungen in jede beliebige Richtung vergeben – die größte war seine Stiftung des „Collège Quatre-Nations“. Der Name nahm Bezug auf die vier Provinzen, um die er Frankreich vergrößert hatte: Elsass, Pinerolo, Artois-Flandern-Hennegau und Roussillon. Der mächtige Kuppelbau des heutigen Institut de France, der nach seinem Tod am linken Seine-Ufer gegenüber dem Louvre aus Mitteln seines Vermögens errichtet wurde, beNur einen Tag nachdem der Erste herbergte ein Bildungsinstitut für Minister Mazarin gestorben war, zwölf Professoren und 60 Schüergriff Ludwig XIV. am 10. März ler sowie die Académie française. 1661 die alleinige Macht. Für den Der in diesem Gebäude plazierbisherigen Kontrolleur der Finante pompöse Sarkophag Mazarins zen, Nicolas Fouquet (Gemälde von zeigt ihn in lebensgroßer Statur Charles Le Brun), war dies eine voll nobler Gelassenheit auf eischlechte Nachricht. Er wurde durch nem Liegebett ausgestreckt – ein Jean-Baptiste Colbert ersetzt. Denkmal in Marmor.
Einen Tag nach Mazarins Tod reißt der Monarch alle Macht an sich Schließlich war Ludwig XIV. bereits 23 Jahre alt, und die Macht lag noch immer ungeteilt in den Händen Mazarins. Aber der nun in seiner Machtfülle unumstrittene Minister wusste um seinen nahen Tod. Er verfügte über ein immenses Vermögen, das er in weniger als acht Jahren nach seiner Rückkehr aus Brühl zusammengerafft hatte – es betrug nicht weniger als 36 Millionen Livres und übertraf damit das seines Vorgängers Richelieu erheblich, in dessen Testament die Summe von rund 22 Millionen Livres aufgelistet gewesen war. Die horrende Geldmasse Mazarins war und blieb die größte in privater Hand, so lange die Monarchie in Frankreich existierte, und die Verfügung darüber war seine letzte Herausforderung. Hatte Richelieu sein Palais Cardinal gegenüber dem Louvre, das mit seinem Tod zum Palais Royal wurde, rechtzeitig Ludwig XIII. vermacht, so entschloss sich auch Mazarin, alle seine Reichtümer dem jungen König zum Geschenk anzubieten. Drei Tage zögerte Ludwig XIV. und entschied dann, keine Münze vom Kardinal anzunehmen – aus Dankbar-
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gesprochen haben … Und Ihnen, Herr Finanzminister [Nicolas Fouquet], werde ich erklären, was mein Wille ist; ich bitte Sie, sich Colberts zu bedienen, den mir der verstorbene Kardinal empfohlen hat.“ Fouquet war gewarnt, und der junge König dürfte zu diesem Zeitpunkt über den herausfordernd opulenten Bau Fouquets wohlunterrichtet gewesen sein: Das Schloss Vaux-le-Vicomte hatte schließlich fünf Jahre Bauzeit in Anspruch genommen und war nun gerade fertiggestellt worden. Fouquet mochte von der falschen Annahme ausgegangen sein, dass der junge Monarch, der sich bisher von politischen Problemen ferngehalten und seine Aufmerksamkeit fast ausschließlich seinem Schloss Versailles und den dortigen Festen gewidmet hatte, in dieser Abstinenz von der Regierung verharren würde – nach der Ernennung eines neuen mächtigen, die Regierungsgeschäfte führenden Ministers. Fouquet machte sich vielleicht sogar selbst Hoffnungen auf diesen Posten. Er unterschätzte den Ehrgeiz und auch den Arbeitswillen Ludwigs XIV. sträflich, und die Strafe folgte fünf Monate später in Form seiner Verbannung. Mit Festen und deren Glanz ließ sich Aufmerksamkeit und Achtung in Europa gewinnen – nicht jedoch Ruhm. Ruhm war nur im Krieg und durch Landgewinn zu erwerben und hatte keineswegs wie heute den moralisch anrüchigen Ruf, Menschen und Wohlstand eines Landes aufs Spiel zu setzen, sondern galt als legitimes Recht eines Herrschers, seine Herrschaft auf Kosten anderer zu vergrößern. Dies war in jener Epoche das Ideal eines großen Königs. So konnte Ludwig XIV. ohne Skrupel gestehen, die „Neigung, die ich für den Ruhm hatte“, direkt ausleben zu wollen und in dem „Verlangen, den Ruhm meiner Krone zu erhöhen“, sein königliches Recht, ja dessen Zielsetzung zu sehen, mochte diese Maxime ihn auch zum Gegenstand „der Furcht, der Liebe oder auch der Beachtung in ganz Europa“ machen. Wenig später genügte ihm die Begrenzung auf Europa nicht, er wollte „ruhmreich vor allen Nationen der Erde erscheinen“ – es war ein Programm, das sich an einem die Erde umrundenden Sonnengott orientierte. Ludwig XIV. war bereit und willens, diese Doktrin eines kriegerischen, ja imperialistischen Herrschers zum Ziel seiner Herrschaft zu machen. Und er verfuhr konsequent: In den 54 Jahren seiner Selbstregierung befand er sich immer wieder von neuem im Krieg – und stets war er der Angreifer.
Als Mazarin am 9. März 1661 in Vincennes starb, wohin er sich mit seiner umfangreichen, aber auch eher willkürlich zusammengestellten Bildersammlung zurückgezogen hatte, zögerte Ludwig XIV. gerade einen Tag. Spät, aber umso entschlossener griff er nach der Macht. In morgendlicher Frühe bestellte er die wichtigsten Mitglieder seiner Regierung zu sich und proklamierte in deutlichen Worten seine Selbstregierung – direkt an den Kanzler gewandt: „Mein Herr, ich habe Sie hier mit meinen Ministern zusammenkommen lassen, um Ihnen zu sagen, dass ich bis jetzt gern den verstorbenen Kardinal meine Regierungsgeschäfte ausüben ließ; es ist aber Zeit, dass ich selbst regiere. Sie werden mir dabei helfen mit Ihren Ratschlägen, wenn ich Sie darum ersuche. Außer den laufenden Geschäften, woran ich nichts zu ändern beanspruche, bitte und befehle ich Ihnen, Herr Kanzler, keinen Befehl zu unterzeichnen, der nicht auf meine Anordnungen zurückgeht und über den Sie nicht mit mir
Ludwig XIV. als Sieger über den
rebellischen Adel (Gemälde von Charles Poerson).
Dr. Uwe Schultz
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Französische Kultur in ganz Europa
Die neue Klassik Michael Erbe
Ludwig XIV. förderte das geistige und kulturelle Leben. Die von Frankreich ausgehenden Impulse für Architektur, Literatur und Musik knüpften an die antiken Vorbilder an und maßen sich an ihnen – mit starken Auswirkungen auf die europäischen Nachbarn. gann in Frankreich insofern eine Ludwig XIV. im Kreis seiner Familie. Alle Familienmitglieder sind als Gottneue Ära, als Ludwig seine „Minisheiten der griechisch-römischen ter“ gewissermaßen an der kurzen Mythologie dargestellt, der MonLeine führte, sich durch intensives arch posiert im Zentrum als Apollo Aktenstudium über alle Details der (Gemälde von Jean Nocret, 1670). Staatsgeschäfte sowie stets über die geplanten politischen Schritte informierte und sich die letzte Entscheidung vorbehielt. Bis zu seinem Lebensende bestimmte und prägte er sämtliche Bereiche der Politik. Zwar hat er den ihm zugeschriebenen Ausspruch „Der Staat bin ich!“ („L’État c’est moi!“) nie getan, doch trifft er voll auf ihn zu. Im deutschen Sprachraum ist Ludwig XIV. lange Zeit negativ beurteilt worden, einmal wegen seiner gegen die Hugenotten gerichteten religiösen Intoleranz sowie zweitens wegen seiner Kriege gegen das Reich, vor allem gegen die Habsburger. Zweifellos hat die zeitweise äußerst aggressive, der Ruhmsucht des Königs und seinem Drang nach territorialem Erwerb untergeordnete französische Außenpolitik
In seinem 1751 erschienenen Werk über „Das Jahrhundert Ludwigs XIV.“ („Le siècle de Louis XIV“) schildert der französische Dichter und Philosoph François Marie Arouet, genannt Voltaire (1694 − 1778), die Zeit der Regierung des „Sonnenkönigs“ als eine der bedeutendsten Epochen der europäischen Kulturgeschichte. Er bezeichnet sie als gleichrangig mit der Klassik im alten Griechenland und im Römischen Reich sowie mit der Renaissance, die im 15. und 16. Jahrhundert von Italien aus auf das übrige Europa ausstrahlte. Bis heute gilt in Frankreich die Regierungszeit Ludwigs XIV. als „Klassisches Zeitalter“ (âge classique). Dies betrifft nicht nur sein Königreich allein, sondern auch dessen kulturellen Einfluss auf weite Teile Europas. Worin bestand diese Ausstrahlung? Üblicherweise ist damit die Selbstinszenierung Ludwigs als „absoluter“ Herrscher gemeint, die anderen Landesherren als Vorbild diente. Nachgeahmt wurde zudem sein politisches Wirken: Mit der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch ihn im Frühjahr 1661 be-
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Der Komponist Jean-Baptiste Lully (eigentlich Giovanni Battista Lulli) machte Karriere am Hof des „Sonnenkönigs“. Seine Oper „Roland“ (Kupferstich des Szenenbilds) wurde am 8. Januar 1685 in Versailles uraufgeführt.
von ihm ausgehenden Impulse für das geistige und kulturelle Leben in Europa eher als zweitrangig an. Erst in jüngster Zeit – nach den Tragödien der beiden Weltkriege – hat man ihn wieder stärker als den gesehen, der er vor allem war: als Initiator einer kulturellen Ausstrahlung, die man mit Voltaire durchaus ähnlich würdigen kann wie die italienische Renaissance im 15./16. Jahrhundert.
Mit Ludwig wird Französisch zur Leitsprache Die Einschätzung dieses bedeutenden Vertreters der Aufklärung entspricht eher dem kulturellen Gewicht Frankreichs im 17. wie auch im darauffolgenden Jahrhundert. Die Besonderheit der Regierung Ludwigs XIV. lag darin, dass er nicht allein politisch wirkte (dabei allerdings auch Fehler beging und schließlich durch seine Kriege die Finanzen seines Königreichs übermäßig beanspruchte), sondern dass er während seiner Herrschaft einen Glanz entfaltete, der für fast ganz Europa zum Vorbild wurde. Das Leben in seiner Umgebung bestimmten ganz und gar
nicht nur große Opfer gefordert, sondern auch mit ein Vorbild für die Skrupellosigkeit geliefert, mit der Herrscher wie Karl XII. von Schweden (1697 − 1718) oder Friedrich II. von Preußen (1740 − 1786) ihre Kriege vom Zaun brachen bzw. die Herrscher über Russland, Preußen und Österreich das zwischen ihren Staaten liegende, politisch schwache Polen zwischen 1772 und 1795 unter sich aufteilten. Dagegen sah man die Bedeutung des „Sonnenkönigs“ und der
Beim „Grand Carrousel“, einem zweitägigen Festival aus Musik und Tanz im Juni 1662 in den Tuilerien, wirkte der junge Monarch aktiv mit: Der Kupferstich von Israel Silvestre d. J. zeigt ihn als römischen Kaiser.
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auf seine Person zugeschnittene Verhaltensregeln, die von vielen Fürstenhöfen Europas übernommen wurden. Die Kulisse dafür bildete das Schloss in Versailles. Von hier aus regierte der König sein Reich und lenkte die französische Außenpolitik, von hier aus erhielt zudem das kulturelle Schaffen entscheidende Anregungen. So konnte sich Frankreich zu dem Land entwickeln, das für mehr als ein Jahrhundert in ganz Europa in weiten Bereichen des kulturellen und geistigen Lebens vorbildhaft wirkte. Dies betraf nicht nur die Ausübung der Herrschaft im gesamten Land, sondern neben der Organisation des Hoflebens auch die Entwicklung in den Bereichen der Architektur, der Bildhauerkunst und der Malerei sowie die Blüte des Musiklebens, der Literatur und die Leistungen in fast allen Wissenschaften. In diesem Zusammenhang ist zunächst auf das minutiös geregelte höfische Leben und dessen ganz auf den König bezogenes Zeremoniell hinzuweisen. Im zwischen 1668 und 1684 in Versailles von einem Jagdschlösschen zu einem prunkvollen, ja gigantischen Gebäudekomplex ausgebauten Palast glänzte er inmitten der zum Hofdienst verpflichteten Vertreter der bedeutenden Adelsfamilien gewissermaßen als Zentralgestirn, als Roi-Soleil. Nach ihm richteten sich sowohl der Tagesablauf – vom Aufstehen des Herrschers in der Frühe bis zu seinem abendlichen Zubettgehen in Gegenwart ausgewählter und somit besonders ausgezeichneter Höflinge – als auch die Abfolge der höfischen Festlichkeiten. Sie waren nicht nur von Glücksspiel und Tanz bestimmt, sondern gingen auch mit Theater- und Opernaufführungen einher, die wiederum das literarische wie das musikalische Leben im Land mit prägten. Die prunkvoll arrangierten Darstellungen bei Hof bildeten aber nur einen Teil der Unterstützung, die der „Sonnenkönig“ dem kulturellen wie dem geistigen Leben zukommen ließ, denn er kümmerte sich auch um die Wissenschaften und förderte die bereits bestehenden oder neugegründeten Akademien. Der prägende Einfluss, den Frankreich im ausgehenden 17. wie im 18. Jahrhundert auf das geistige und kulturelle Leben nicht nur seiner unmittelbaren Nachbarn, sondern auch weiter entfernt liegender Gebiete wie Skandinavien und Russland ausübte, war so in hohem Maß auf den „Sonnenkönig“ zurückzuführen. Dies drückte sich auch darin aus, dass seit dem späten 17. Jahrhundert das Französische zu der Sprache wurde, die man als Diplomat wie als Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler ebenso gut beherr-
Jules Hardouin-Mansart (1646 – 1708) war seit 1681 „Erster Architekt des Königs“ und seit 1699 Oberaufseher über das gesamte Bauwesen Frankreichs (Gemälde von Hyacinthe Rigaud, 1685).
Der tanzende Monarch: Ludwig XIV. begeisterte sich für das Ballett (hier in der Rolle des „Apollon-Violin“).
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Charles Le Brun (1619 – 1690) stieg zum „Ersten Maler des Königs“ und
(1598 − 1680) im Rahmen eines Wettbewerbs dafür einen Entwurf, der ganz im Barockstil gehalten war, jedoch beim König auf Ablehnung stieß. Den Auftrag erhielt schließlich der einheimische Architekt Claude Perrault (1633 −1688), der eine eher zurückhaltend gestaltete Fassade mit korinthischen Doppelsäulen im gleichmäßigen Abstand vorsah, sich also mehr an der Renaissance-Baukunst orientierte. Dieser Baustil wurde anschließend in gewisser Weise auf das Schloss in Versailles übertragen und gilt seitdem als französische Variante der frühneuzeitlichen Architekturklassik. Teilweise haben bei der Gestaltung dieses Schlosses auch spanische Vorbilder eine Rolle gespielt – schließlich stammte die Mutter des „Sonnenkönigs“, Anna von Österreich, aus dem spanischen Königshaus – wie der seit 1637 in Madrid errichtete und von einem großen Park umgebene „Palacio de Buon Retiro“. Im Kern jedoch beruht die Anlage in Versailles auf den Ideen der Baumeister und Künstler Ludwigs XIV., neben Perrault, um nur die bekanntesten aufzuführen: Louis Le Vau (1612 − 1670), der durch die Ummantelung der älteren Schlossteile für die Vereinheitlichung des Fassadenstils sorgte, Jules Hardouin-Mansart (1646 − 1708), der unter anderem den berühmten Spiegelsaal schuf, sowie Charles Le Brun (1619 − 1690), der für einen großen Teil der Wandund Deckenmalereien verantwortlich zeichnete. Versailles hat vor allem die deutsche Schlossarchitektur beeinflusst – neben dem stärker von der Baukunst in Italien gepflegten Barockstil, der eher im katholischen Teil des Reiches besonders für den Kirchenbau vorbildlich blieb. Ein Beispiel für den französischen Einfluss ist der unter dem ersten preußischen König Friedrich I. (als Kurfürst von Brandenburg Friedrich III., 1688 − 1713) seit 1698 errichtete Westteil des Berliner Stadtschlosses. Ähnliche Bauformen zeigen die königlichen Paläste in der Umgebung Berlins wie das Schloss Charlottenburg (seit 1695) und das Neue Palais in Potsdam (1763 −1769). In Verbindung mit dem Potsdamer Schlosspark unterhalb des von Friedrich II. in den Jahren 1744 bis 1746 errichteten kleinen Schlosses Sanssouci zeigt die damit zusammenhängende, bis zum Palais reichende Parkanlage einen Anklang an den allerdings von der Fläche her viel größeren Park in der französischen Residenz Versailles. Die großen Schlösser in Berlin und Potsdam sind zwar Nachahmungen des neuen Louvre-Baustils, jedoch hat das Vorbild Versailles zahlreiche weitere Palastanlagen in den übrigen Reichsterritorien be-
schen musste, wie das heutzutage für das Englische der Fall ist.
zum Generalintendanten der königlichen Kunstsammlungen auf. Außerdem war er Direktor der staatlichen Kunstwerkstätten und Manufak-
Versailles prägt den Baustil in ganz Europa
Die kulturelle Eigenständigkeit und bald auch Vorbildfunktion Frankreichs für das übrige Europa zeigt sich besonders deutlich in der Nachahmung des in Paris wie vor allem in Versailles praktizierten Baustils. Die seit dem späten 16. Jahrhundert von Italien ausgehende „barocke“ Architektur in ihrem die jeweiligen Fassaden bisweilen fast erstickenden Zierrat hatte Kirchen- wie Profanbauten, dazu städtische Anlagen – Plätze, Straßenzüge und um diese gruppierte Häuser – geschaffen, die inzwischen als vorbildlich galten. Die Abkehr von dieser durch ihren Prunk überladenen Bauweise leitete in Frankreich die Planung für die Neugestaltung der Ostfassade des Louvre, des königlichen Stadtschlosses in Paris, ein: 1664 schickte der durch die Errichtung der Kolonnaden um den Petersplatz in Rom berühmt gewordene Baumeister Gianlorenzo Bernini
turen (Gemälde von Nicolas de Largillière, 1686).
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einflusst. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die ähnlich angelegten höfischen Residenzen im 1720 zur Hauptstadt der Kurpfalz erhobenen Mannheim sowie in Karlsruhe, das seit 1718 dem Haus der Markgrafen von Baden-Baden und seit 1771 der wieder vereinigten Markgrafschaft Baden als Residenz diente. Vergleichbar mit Versailles sind hier auch die planmäßigen Grundrisse der jeweiligen Schlossbauten sowie die der mit ihnen zusammenhängenden Stadtanlagen, beide allerdings in Kreisform errichtet, da sie – anders als Versailles – von Festungsmauern umschlossen waren. Das seit 1715 erbaute Karlsruher Schloss ist dabei insofern eine Besonderheit, als es im Mittelpunkt der kreisförmigen Stadtanlage mit ihrem Sonnenstrahlen ähnlichen Straßensystem bzw. dem Wegenetz steht, das den an den Palast angrenzenden Schlossgarten im nördlichen Teil der Stadtfläche erschließt. Während das Karlsruher Schloss nur Anklänge an das in Versailles zeigt, scheint das in Mannheim dem französischen Vorbild geradezu abgeschaut zu sein. Dies ist kein Zufall, denn die Schwägerin des „Sonnenkönigs“, Liselotte von der Pfalz (1652 − 1722), stammte aus der Familie der pfälzischen Kurfürsten.
Weitere Parallelen (mit dem daAngeregt durch das Vorbild von Versailles, ließ der württembergizugehörenden Inventar) sind die sche Herzog Eberhard Ludwig von außerhalb der jeweiligen Residen1704 bis 1733 in Ludwigsburg ein zen gestalteten Schlösser und ihgroßes Residenzschloss erbauen. re Umgebung in verschiedenen Reichsterritorien, so in Nancy (im formal bis 1766 zum Reich gehörenden, faktisch jedoch seit 1735 dem König von Frankreich unterstehenden Herzogtum Lothringen), ferner in Ludwigsburg bei Stuttgart, Nymphenburg bei München, Hubertusburg bei Dresden und Herrenhausen bei Hannover, um nur diese Beispiele zu nennen. Hier spielen die mit den jeweiligen Schlössern harmonierenden Garten- und Parkanlagen eine Rolle, manche sind aber auch niederländischen oder englischen Vorbildern abgeschaut. Schließlich seien noch die im Auftrag des (in Versailles aufgewachsenen) Prinzen Eugen von Savoyen (1663 − 1736) zwischen 1717 und 1726 errichteten Belvedere-Schlösser in Wien erwähnt. Sie sind zwar im barocken Stil gehalten, ihre Gartenanlagen aber ähneln denen in der Residenz des „Sonnenkönigs“. Versailles bildete auch das Vorbild für den Entwurf eines neuen Jagdschlosses in Schönbrunn
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Einfluss ausgeübt, wenn man einmal von den sogenannten Grünen Lungen absieht, die man als bewaldete Flächen bei der Expansion der jeweiligen Städte in der Form von Parkanlagen zu erhalten versuchte. Ein Rest der alten Baugestaltung hat sich aber im 19. Jahrhundert in den Vierteln der Oberschicht erhalten. Auch hier spielte neben dem Barock das französische Beispiel eine Rolle. Zu einem glanzvoll ausgestatteten Hof gehörten auch durch strenge zeremonielle Regeln bestimmte, auf den jeweiligen Herrscher und seine engeren Familienmitglieder zugeschnittene Verhaltensweisen. Diese Regeln gingen zurück auf die RenaissanceHöfe in Italien, aber auch auf die Residenz der Herzöge von Burgund, die ihr Hofleben in Brüssel bereits im 15. Jahrhundert streng organisiert hatten. Nachdem die Habsburger deren Gebiet geerbt hatten, war es von Karl I. (1500 −1558, als Kaiser „Karl V.“ 1519 −1566) in Spanien eingeführt worden. Von dort aus kamen entsprechende Anregungen über dessen Urenkelin, die bereits erwähnte Mutter Ludwigs XIV., Maria Anna, nach Frankreich. Dort versah der „Sonnenkönig“ die Regelung des Hoflebens mit noch rigideren Formen. Sein Ziel war die Domestizierung des zuvor oft zur Opposition gegen die Krone neigenden Adels. Seine bedeutenden Familien mussten bei Hof oft dauerhaft oder wenigstens durch sich abwechselnde prominente Mitglieder aus der weiteren Verwandtschaft vertreten sein. Vom Versailler Schloss, das entsprechende Unterbringungsmöglichkeiten erhielt und dessen offizielle Räumlichkeiten nicht zuletzt auf die Inszenierung des königlichen Zeremoniells hin ausgerichtet waren, strahlte das französische Hofleben auf einen großen Teil Europas aus. Im Reich galt dies allerdings eher für die protestantischen Fürsten. Dabei spielte auch die Einwanderung der aus Frankreich vertriebenen Hugenotten seit den 80er Jahren des 17. Jahrhunderts eine Rolle. An den Höfen katholischer Herrscher wie den geistlichen Fürsten, den Habsburgern und den bayerischen sowie seit 1685 den pfälzischen Wittelsbachern blieb dagegen die spanische Tradition noch länger von Bedeutung. Dies betraf sowohl den sprachlichen Umgang als auch die Kleidermode und die höfischen Sitten: Der Sprachgebrauch tendierte seit der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert immer mehr zum Französischen, das sich durch die Bemühungen der führenden Persönlichkeiten des Hofes noch vor der Regierung Ludwigs XIV., besonders aber unter seinem Einfluss immer mehr zu einer geschliffe-
bei Wien, den Kaiser Leopold I. (1658 − 1705) im Jahr 1688 bei dem d’Armes in Versailles im Jahr 1686 Architekten Johann Bernhard Fischer von Erlach (1656 − 1723) mit (Gouache). dem Ziel in Auftrag gab, die Anlage des „Sonnenkönigs“ möglichst weit in den Schatten zu stellen. Sie sollte das während der Belagerung Wiens durch die Türken 1683 zerstörte vorherige Schloss ersetzen und zugleich die kaiserliche Herrlichkeit gegenüber dem im Rang niedrigeren König von Frankreich zur Schau stellen. Das geradezu gigantische Projekt wäre allerdings so teuer geworden, dass man bald von seiner Realisierung absah. Das zwischen 1706 und 1711 an gleicher Stelle im Rokoko-Stil errichtete Schloss, später Sommersitz der Kaiserin Maria Theresia (1740 −1780), war wesentlich bescheidener. Der Anlage des Schlosskomplexes von Versailles ähnliche Bauten aus dem späten 17. und 18. Jahrhundert, die entweder eine hauptstädtische Bebauung oder eine weitläufige Garten- oder Parkanlage mit dem jeweiligen Schloss verbinden, findet man in weiten Teilen Europas, von Kopenhagen und Stockholm bis hin nach St. Petersburg. Meistens sind dabei allerdings Pläne der Renaissance-Zeit für „ideale“ (also nie erbaute) Städte mit realisierten Vorbildern – besonders dem Modell Versailles – vermischt worden. Hinzu kam bei den drei genannten Hafenstädten die Einbeziehung von Wasserläufen und Inseln in das urbane Gesamtbild. Auf die Stadtplanung des Industriezeitalters haben diese Vorbilder kaum Auch das gehörte zum Hofleben: ein Damenturnier auf der Place
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nen Hochsprache entwickelte. Sie wurde in der Literatur und auf den verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten zur Umgangssprache der Gebildeten, nicht nur in Frankreich, sondern auch außerhalb. Wer sie beherrschte, der passte sich auch den Regeln eines gewählten Ausdrucks und zivilisierten Gedankenaustauschs an. Diese Gepflogenheit bürgerte sich in den Nachbarländern vor allem in höfischen Kreisen ein, verbreitete sich aber auch bald im höheren und gebildeten Bürgertum.
zu nahe zu treten, spielte dabei eine wichtige Rolle. In Versailles entwickelte sich eine Tanzkultur nach vorwiegend beschwingter, rascher Musik mit eleganten, raumgreifenden Bewegungen, die bald an den meisten europäischen Fürstenhöfen nachgeahmt wurden. Dies galt auch für die Mode, die auf allzu schwerfällige Kleidungsstücke möglichst verzichtete, allerdings noch nicht die Leichtigkeit des späteren Rokoko aufwies. Parallel zu den zahlreichen Hofbällen gab es Ballettauftritte, bei denen in seinen jungen Jahren sogar der König des Öfteren mit auftrat. Sie bereicherten nicht nur das Musikleben, sondern wurden auch in Aufführungen von Theaterstücken wie von Opern integriert. Was die Oper – das musikalische Theater – betrifft, so erhielt diese Kunstform in Versailles ihre eigene Prägung durch den aus Florenz stammenden, seit 1653 am französischen Hof wirkenden und 1661 zum königlichen „Surintendant de la Musique“ ernannten Komponisten Jean-Baptiste Lully (ursprünglich Gianbattista Lulli; 1632 − 1687). Er verstand es, vor allem in Kooperation mit dem Theaterdichter Molière, die komische Oper zur Blüte zu bringen, in der das Ballett eine besondere Rolle spielte. Daneben komponierte er – ebenfalls in Zusam-
„Höflichkeit“ – beim Benehmen geht der „Sonnenkönig“ mit gutem Beispiel voran Der Begriff „Höflichkeit“, der in ähnlicher Form auch in anderen europäischen Sprachen vorkommt, ist eine Lehnübersetzung des französischen Wortes courtoisie, abgeleitet von la cour (= der Hof). Er verweist auf die „höfischen“ Wurzeln guten Betragens, bei dem der „Sonnenkönig“ selbst mit gutem Beispiel voranging. „Hofgemäßes“, also wahrhaft königliches Benehmen bestimmte das gesamte Verhalten seiner Umgebung. Auf dieser Grundlage wurden auch die Gepflogenheiten bei den Hofbällen eingehalten. Das Paartanzen mit entsprechenden Schritten und Figuren, ohne den jeweiligen Partnern wie Partnerinnen
Beim Tanzen setzte der französische Hof ebenfalls Maßstäbe. Auf dem Kupferstich von Jean Lepautre aus dem Jahr 1676 ist der König als Paartänzer zu sehen.
33 „Höflichkeit“ – beim Benehmen geht der „Sonnenkönig“ mit gutem Beispiel voran
Die Komödie „Der eingebildete Kranke“ („Le Malade imaginaire“), 1673 kurz vor dem Tod des Dichters uraufgeführt, ist das wohl berühmteste Stück des französischen Autors Molière (Stich von 1718).
deren Literaturgattungen an italienische Vorbilder hielt. Es galt aber auch für erzählende Prosawerke, während das Theaterleben weniger hervorstach. Mit den Religionskriegen in der zweiten Jahrhunderthälfte und den inneren Auseinandersetzungen nach 1600 war die literarische Blüte fast zum Stillstand gekommen. Kardinal Richelieu (Armand du Plessis, Herzog von Richelieu; 1585 − 1642), seit 1624 „Erster Minister“, hatte durch seine Förderungsmaßnahmen eine erneute Blüte eingeleitet: 1634/35 wurde auf seine Initiative hin eine private Vereinigung gelehrter Männer, die sich um die Ausformung einer einheitlichen Literatursprache bemühten, in den Rang einer „Königlichen Akademie“ („Académie Royale“) erhoben, die bis heute unter dem Namen „Académie française“ fortbesteht. Als Hauptaufgabe wurde ihr die „Reinigung“ des Französischen von volkstümlichen Begriffen und Redewendungen zugewiesen. Damit einhergehen sollte die Umwandlung in eine streng geregelte Literatur-
menarbeit mit den damaligen Größen des französischen Theaters – auch tragische Opern. Eine von ihm eingeführte Neuerung bildete die sogenannte Ouvertüre, eine Zusammensetzung von Musikteilen der jeweiligen Oper zu deren Beginn, die während des 18. Jahrhunderts auf diese Form der „Theater-Musik“ im Reich und darüber hinaus in ganz Europa nachhaltigen Einfluss ausüben sollte. Musik und Literatur gingen so geradezu eine Symbiose ein. Was die französische Literatur betrifft, so erreichte sie durch die Förderung bei Hof gleichfalls einen Höhepunkt ihrer Entwicklung. Bereits im 16. Jahrhundert hatte sie sich, vor allem unter italienischem Einfluss, in bemerkenswerter Weise entfaltet. Dies war vor allem – etwa was die Sonettdichtung betrifft – in der Lyrik der Fall gewesen, die sich – wie die Dichtergruppe der „Pléïade“ – stärker als die an-
Molière (eigentlich Jean-Baptiste Poquelin; 1622 – 1673) war Schauspieler, Theaterdirektor und Dramatiker. Der König begeisterte sich früh für seine Werke. Nicolas Mignard malte den Künstler in der Rolle des Caesar.
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sprache, die sich an der Reinheit des klassischen Lateins, aber auch am humanistisch geprägten Italienischen orientierte. Zugleich wurden literarische Werke gefördert, die nach antiken Regeln verfasst waren. Dies betraf vor allem Theaterstücke, die das von Aristoteles in seiner „Poetik“ formulierte „Gesetz“ der Einheit von Zeit, Ort und Handlung einzuhalten hatten. Bereits Richelieu förderte den ersten bedeutenden französischen Dramatiker Pierre Corneille (1606 −1684), dessen große Theatererfolge noch vor der Regierungszeit Ludwigs XIV. lagen. Dieser nun knüpfte an Richelieus Bemühungen an, sowohl was die Förderung der „klassischen“ Ausprägung der französischen Sprache als auch was die Unterstützung begabter Dichter betraf, deren Stücke vielfach zuerst bei Hofe aufgeführt wurden. Während Corneilles Stern allmählich verblasste, machten sich sowohl Jean-Baptiste Poquelin, genannt Molière (1622 −1673) durch seine Komödien als auch Jean Racine (1639 −1699) durch seine Tragödien einen unsterblichen Namen: Beide zählen bis heute zu den Großen der Weltliteratur. Bedeutende Autoren, die der König gleichfalls förderte, waren außerdem der Fabeldichter Jean de La Fontaine (1621 − 1695), der sich an den antiken Autoren Äsop und Phaedrus orientierte, sowie die Verfasserin von galanten Romanen, Madeleine de Scudéry (1607 − 1701). Sie alle wurden bald auch im Ausland, wo man sich das neue, gewissermaßen gereinigte Französisch angeeignet hatte, gelesen und nachgeahmt.
Förderer der Wissenschaften: Der zeitgenössische Kupferstich zeigt Ludwig XIV. im Gespräch mit Naturwissenschaftlern.
chen (1750), Mannheim (1763) sowie Görlitz (1779). Im übrigen Europa entstanden Akademien in Uppsala (1710), Madrid (1713), St. Petersburg (1725) und in Edinburgh (1782). Älter als die französischen Akademien waren nur die in Italien, die nach der Entstehung der Gesellschaft für Platon-Studien in Florenz (1438) während des 16. Jahrhunderts in vielen Städten ins Leben gerufen worden waren, sowie die 1660 gegründete „Royal Society“ in London. Eine große Zahl der damals entstandenen Werke wurde für die Literatur in den Nachbarländern mehr oder weniger zum Vorbild. Auf der Apenninen- und auf der Pyrenäen-Halbinsel war dies weniger deutlich, da man vor allem in Italien zu den Verhältnissen in Frankreich gewissermaßen auf Augenhöhe blieb. Deutlicher war der Einfluss der französischen Klassiker (wie auch später der Autoren in der Aufklärungszeit) auf den benachbarten deutschen Sprachraum. Hier spielte ähnlich wie für die bildenden Künste die höfische Kultur eine wichtige
„Gelehrte Gesellschaften“ allerorten: der Aufschwung der Wissenschaften Zwar galt die Aufmerksamkeit des „Sonnenkönigs“ vor allem der Literatur, dem Theater und der Oper, er förderte aber auch die Wissenschaften. Die von Richelieu ins Leben gerufene „Königliche Akademie“ blieb nicht die einzige Gelehrtenvereinigung in Frankreich: 1666 wurde für die Naturwissenschaften eine „Académie des Sciences“ gegründet, daneben entstanden noch Akademien für Malerei und Bildhauerkunst sowie die bereits erwähnte für Musik. Darüber hinaus gab es bald Akademien in der Provinz, die im Lauf des 18. Jahrhunderts vermehrt wurden. Dies regte außerhalb Frankreichs die Errichtung zahlreicher, bald geradezu aus dem Boden schießender „Gelehrter Gesellschaften“ an, von der in Berlin (1700) bis hin zu zahlreichen anderen in Städten des Reiches wie Göttingen (1742), Erfurt (1758), Mün-
35 „Gelehrte Gesellschaften“ allerorten: der Aufschwung der Wissenschaften
Die Gründung der „Académie des Sciences“ 1666 sowie die Einrichtung des Pariser Observatoriums im Jahr darauf wurde von Henri Testelin in diesem Ölgemälde festgehalten. Der König ist sitzend im Zentrum zu sehen.
eigen machten. Nicht zufällig taten das diejenigen Landesherren, die sich – ebenfalls, um von sich reden zu machen – neue Schlösser errichten ließen. Dort förderte man vor allem die Musik (man denke etwa an die berühmte Mannheimer Schule, in der in erster Linie Komponisten aus Böhmen wirkten) bis hin zu Opernaufführungen, jedoch auch das Theaterleben, das in der kurpfälzischen Hauptstadt im 1779 gegründeten „Nationaltheater“ eine wichtige Heimstatt fand: Dort gelangten die ersten Stücke Friedrich Schillers zur Aufführung. Aber auch Dresden, die Hauptstadt Kursachsens, stach hervor, besonders nachdem Kurfürst August der Starke 1697 die polnische Königskrone erlangt hatte. Hinzu kam München, die Residenz Bayerns, dessen Landesherren es dem Kaiserhaus Habsburg gleichtun wollten, auch wenn der kurzfristige Erwerb der Kaiserkrone durch den Kurfürsten Karl Albrecht (als Kaiser: Karl VII., 1742 − 1745) dessen Fürstentum nahezu in eine Katastrophe führte und sich kaum positiv auf die kulturelle Landschaft im süddeutschen Raum auswirken konnte. Dafür glänzte Wien als habsburgischer Herrschaftssitz ebenso wie als Kaiserstadt während des 18. Jahrhunderts innerhalb des Reiches, ja bald auch über dessen Grenzen hinaus als bedeutendes Zentrum des Musiklebens. Die deutsche Literatur blieb noch länger unter dem Einfluss der französischen Vorbilder. Dies lässt sich gut am Beispiel des aus Schlesien stammenden Andreas Gryphius (1616 − 1664) ablesen. Seine Gedichte – vor allem die Sonette –, aber auch die Dramen waren in den in Frankreich üblichen gereimten Alexandrinerversen (bestehend aus jeweils aufeinanderfolgenden 12 bzw. 13 Silben umfassenden Verspaaren) verfasst. Weil es im Deutschen wesentlich geringere Reimmöglichkeiten gibt als im Französischen, wirkten sie oft recht schwerfällig. Eine Wende brachte die Dichtkunst des aus Sachsen stammenden Gotthold Ephraim Lessing (1729 − 1781), der sich nach antikem Vorbild des Blankverses in fünffüßigen Jamben bediente und dadurch die Sprache seiner Stücke ungemein lebendig machte. Mit ihnen nahm das klassische deutsche Drama seinen Lauf, das sich trotzdem am Geist und an der Poesie der französischen Vorbilder schulte.
Rolle, waren doch die Fürstensitze in den zahlreichen Territorien ideale Orte zur Förderung von Dichtern und Prosa-Autoren, Musikern, Malern, Bildhauern und Architekten. Allerdings gab es während des Dreißigjährigen Krieges sowie in den wirtschaftlich kritischen, zudem wiederum von Kriegen geprägten Jahrzehnten danach kaum finanziellen Spielraum für ein fürstliches Mäzenatentum. Im frühen 18. Jahrhundert dann waren es vor allem die größeren Höfe, die sich – auch um der Reputation der betreffenden Landesherren willen – die Förderung der Künste sowie wesentlich später auch der Literatur zu
Der Schriftsteller Gotthold Ephraim Lessing (1729 –1781) schulte seine Dichtkunst an französischen Vorbildern (Gemälde von Anton Graff, um 1771).
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Fürstliches Mäzenatentum, ähnlich wie in Frankreich, führte 1779 zur Gründung des Nationaltheaters in der kurpfälzischen Hauptstadt Mannheim (Kupferstich um 1780).
Was die Förderung der Literatur im Reich betrifft, so wurde sie von fürstlicher Seite eher halbherzig betrieben, und es mutet fast wie ein Wunder an, dass sich schließlich ausgerechnet die Hauptstadt eines der kleinsten Territorialflecken im Reich, das thüringische Weimar, um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zum eigentlichen Zentrum der deutschen und zu einem wichtigen Ort der Weltliteratur entwickelte. Dies hatte auch damit zu tun, dass man sich dort – anders als in den romanischsprachigen Ländern Europas – stärker an der altgriechischen Klassik orientierte, ja den Begriff „Klassik“ gewissermaßen für sich in Anspruch nahm. Trotz einer gewissen Bewunderung für die großen französischen Dichter schätzte man sich als origineller ein und stempelte schließlich die Entwicklung im Frankreich des 17. Jahrhunderts als bloßen „Klassizismus“ ab, das heißt als schlichte Nachahmung antiker Vorbilder. Zu einer mit Versailles vergleichbaren Kulturblüte kam es indes nirgends. In Berlin ließ der zweite preußische König, Friedrich Wilhelm I. (1713 − 1740), den Löwenanteil seiner steuerlichen Einnahmen in den Aufbau eines für sein Land eigentlich viel zu großen Heeres fließen, und sein Sohn Friedrich II. verpulverte in der ersten Hälfte seiner Regierungszeit den angesparten Staatsschatz in seinen drei Kriegen um Schlesien. Trotz seiner schöngeistigen Neigungen und seines nicht bestreitbaren musikalischen Könnens kann man bei Friedrich II. jedoch von einem echten Mäzenatentum kaum sprechen, auch wenn Friedrich zeitweilig mit Voltaire, dem letzten Stern am Him-
mel der inzwischen ausklingenden französischen Literaturblüte, in einem freundschaftlichen Verhältnis stand und ihn sogar zwischen 1750 und 1753 an seinen Hof holte (wo dieser sein eingangs erwähntes Buch über das Zeitalter Ludwigs XIV. vollendete). Denn Friedrich, dem man inzwischen den Beinamen „der Große“ zubilligte, war mehr des Berliner Dialekts mächtig als der deutschen Hochsprache: Er bevorzugte dafür das Französische, das er indes auch nicht ganz fehlerfrei beherrschte. Für die preußische Kultur waren (und sind) jedoch seine Anlagen in Potsdam und die Ausschmückung des Schlosses Sanssouci von großer Bedeutung. Sie richteten sich allerdings weniger am Prunk von Versailles, sondern eher an den beiden im dortigen Park errichteten Trianon-Schlösschen aus.
Der Versuch, die klassischen Vorbilder zu übertrumpfen War nun das „Jahrhundert Ludwigs XIV.“ wirklich ein Zeitalter, das sich der von Italien ausgehenden italienischen Renaissance sowie der attischen und der augusteischen Klassik als ebenbürtig erwies? Im 16. Jahrhundert waren die Intellektuellen und Künstler noch stolz auf die kulturellen Leistungen im Zusammenhang mit der Wiederentdeckung des Altertums und bestrebt, diesem nachzueifern. Dennoch deutete sich schon früh an, dass man auch Besseres könne, als lediglich die Vorbilder der antiken Kunst und Literatur nachzuahmen. Jedoch richtig zum Ausdruck kam dieses Selbstbewusstsein, das auch
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Der preußische König Friedrich II. beherbergte von 1750 bis 1753 den französischen Schriftsteller und Philosophen Voltaire (eigentlich François-Marie Arouet; 1694 – 1778) an seinem Hof (Porzellanfigur).
Im Januar 1687 verlas der Dichter Charles Perrault (1628 −1703) in der „Académie française“ ein „Gedicht über das Jahrhundert Ludwigs des Großen“ („Poème sur le siècle de Louis le Grand“). Darin behauptete er, dass das Zeitalter des „Sonnenkönigs“ nicht nur dem des römischen Kaisers Augustus ebenbürtig, sondern ihm sogar überlegen sei. Dagegen polemisierte kein Geringerer als der Autor Nicolas Boileau-Despréaux (1636 − 1711), der 1674 ein Lehrgedicht mit dem Titel „Die Dichtkunst“ („L’Art poétique“) verfasst hatte. Es stellte in bewusster Anlehnung an die Poetik des Aristoteles und die „Ars poetica“ des Horaz verbindliche Regeln für die zeitgenössische Dichtkunst auf. Für Boileau konnten nur die klassischen griechischen wie lateinischen Autoren der Antike als Richtschnur dienen. Perrault begründete seine These ausführlicher in einem fünfbändigen, zwischen 1688 und 1697 erschienenen Werk mit dem Titel „Vergleich zwischen den Alten und den Modernen hinsichtlich der Küns-
in Versailles gängig war, erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, und zwar in der sogenannten Querelle des Anciens et des Modernes, dem „Streit zwischen den Alten und den Modernen“. Dieser war – trotz des französischen Begriffs – keine Angelegenheit der französischen Kulturträger während der Regierung Ludwigs XIV. allein, sondern diese Auseinandersetzung fand zeitgleich auch in England und etwas zeitverschoben in Deutschland statt.
Im Vergleich zu Versailles nahm sich Schloss Sanssouci in Potsdam eher bescheiden aus. Der 1745 bis 1748 nach den Skizzen Friedrichs II. errichtete Bau wurde 1841/42 unter König Friedrich Wilhelm IV. erweitert (Luftaufnahme von 1994).
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Der Dichter Charles Perrault (1628 – 1703) sah mit dem
Eine deutsche Stimme in dem von Frankreich ausgehen-
Zeitalter des „Sonnenkönigs“ eine Epoche anbrechen,
den Streit um die Wertigkeit von Moderne und Klassik:
die der des Kaisers Augustus überlegen sei (Gemälde
der Dichter Friedrich Schiller (1759 – 1805; Gemälde von
von Philippe Lallemand).
Franz Gerhard von Kügelgen).
te und Wissenschaften“ („Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences“). Darin streiten sich in einem fingierten Dreiergespräch im Schlosspark von Versailles ein „Abbé“, ein „Chevalier“ und ein „Président“ (also ein Kleriker, ein Adliger und ein hoher Beamter bürgerlicher Abkunft, wenn man so will: je ein Vertreter der drei Stände). Perraults These, vertreten durch den Geistlichen und den Mann von Adel, lautete: Die Neuerungen auf dem Gebiet der Mathematik und der Naturwissenschaften haben ein neues Zeitalter eingeläutet, in dem auch die Kunstwerke und die literarischen Produkte der Antike übertroffen worden sind. Der Künstler Charles Le Brun stehe demnach hoch über dem großen griechischen Maler Zeuxis (435/425 − 390 v. Chr.) und auch über dem großen Renaissance-Maler Raffael; Blaise Pascal (1623 − 1662) sei als Philosoph bedeutender als Platon, und Boileau übertreffe Horaz ebenso wie die übrigen römischen Dichter. Diese sehr heftig geführte Debatte griff bald nach England über. Hier vertrat Sir William Temple (1628 −1699), der lange im Ausland diplomatisch
sowie auch kurz als Minister für Auswärtige Angelegenheiten tätig gewesen war und die Universität Cambridge im Unterhaus des Parlaments vertreten hatte, in seinem Essay „Über antike und moderne Gelehrsamkeit“ („On Ancient and Modern Learning“) den Standpunkt, die neue Zeit sei zwar dem klassischen Altertum überlegen, doch man stehe gewissermaßen wie Zwerge auf den Schultern von Riesen. Sein Freund Jonathan Swift (1667 − 1745) schrieb darüber 1704 eine seiner Satiren mit dem Titel „Die Schlacht der Bücher“ („The Battle of the Books“). Die Debatte verebbte schließlich, schwelte aber im Stillen weiter. Den deutschen Sprachraum erreichte sie einige Jahrzehnte später. Hier fachte sie vor allem Johann Joachim Winckelmann (1717 − 1768) mit seiner Schrift „Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerei- und Bildhauer-Kunst“ (1755) an. Seine These lautete: „Der einzige Weg für uns, groß, ja wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.“ Damit meinte er die altgriechische Klassik, weniger ihre Fortsetzung in der Zeit des Hellenismus
39 Der Versuch, die klassischen Vorbilder zu übertrumpfen
Zeit des „Sonnenkönigs“ angestoßenen Debatte unterschiedliche Auffassungen zwischen dem künstlerisch-ästhetischen Bereich, in dem die antiken Vorbilder ihre starke Stellung bewahrten, und dem Gebiet des „Rationalen“: Die Fortschritte der neuzeitlichen Wissenschaft stellten dieser Auffassung nach die Antike weitgehend in den Schatten, denn die Sicht der Welt war inzwischen eine andere geworden. Infolgedessen waren moderne Dichter – so Friedrich Schiller (1759 − 1805) in seiner Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ von 1795/96 – in der misslichen Lage, die in sich früher so harmonische Welt nicht mehr einfach so abbilden zu können, wie sie sich darstellte. Man müsse sie, so Schiller, gewissermaßen mit der neuen Welt der forschenden Vernunft zu einer Synthese vereinen. Antike und Moderne hätten jeweils ihren eigenen Wert. Der Weg etwa zurück nach „Arkadien“, in jene antike Ideallandschaft der Hirtendichtung, sei somit endgültig versperrt. So wirkte eine der wichtigsten geistigen Auseinandersetzungen über die geistig-kulturelle Tradition im Abendland weiter. Sie zeigt sehr gut, wie stark das Zeitalter Ludwigs XIV. kulturell gesehen den Vorbildern der Antike ebenso wie der Renaissance verpflichtet war, aber auch, wie originell sich die kulturelle Blüte Frankreichs im Spätbarock und im Übergang zum Rokoko entfaltet hat. Für Frankreich bleibt der Ruhm, Kultur und Wissenschaft besonders intensiv gefördert zu haben, was für die meisten anderen Länder Europas als beispielhaft und nachahmungswürdig galt. Die Besonderheit dabei war, dass dies in einem zentral verwalteten Staat geschah, und zwar nach dem Willen eines Königs, der seinen Ruhm vermehren wollte, und dies nicht nur durch Kriege, sondern auch durch von oben gesteuertes, wenn auch bisweilen reglementiertes kulturelles und wissenschaftliches Schaffen. Insofern ist die Bezeichnung „âge classique“ für das von Ludwig XIV. beherrschte Frankreich um 1700 durchaus angemessen. Ohne die Anregungen, die um diese Jahrhundertwende von dort ausgingen und in den meisten Kulturen Europas entweder bewundernd aufgenommen oder lediglich kritisch rezipiert wurden, so dass sich Künstler, Dichter und Denker neue Ziele setzten, wäre die Kultur unseres Kontinents um vieles ärmer.
Mit seiner Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ bezog Schiller Stellung: Sowohl Antike als auch Moderne hätten ihren eigenen Wert.
bzw. durch die Römer. Dies drückte er mit den Worten aus: „Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterwerke ist eine edle Einfalt und stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdruck … Je ruhiger der Stand des Körpers ist, desto geschickter ist er, den wahren Charakter der Seele zu schildern: Kenntlicher und bezeichnender wird die Seele in heftigen Leidenschaften, groß aber und edel ist sie in dem Stande der Einheit, in dem Stande der Ruhe.“ Im europäischen Maßstab zeigten sich in dieser von den genannten französischen Gelehrten zur
Voltaire war sich ganz sicher: In seinem Werk „Das Jahrhundert Ludwigs XIV.“ („Le Siècle de Louis XIV“) von 1751 bescheinigte der Philosoph dem Zeitalter des „Sonnen-
Prof. Dr. Michael Erbe, geb. 1940, lehrt Neuere Geschichte an der Universität Mannheim.
königs“, eine der bedeutendsten Epochen der Geschichte gewesen zu sein (Manuskript mit der Signatur Voltaires).
40 Die neue Klassik
Psychogramm eines Königs
Herrscher – 24 Stunden am Tag Volker Reinhardt
Alles, was Ludwig XIV. sagte oder tat, war Teil seiner Rolle als König. Keine einzige wirklich private Äußerung des Herrschers ist überliefert. Hinter dieser undurchdringlichen Fassade wird der Charakter eines ruhmsüchtigen, misstrauischen Mannes sichtbar. Mätresse schlief – alles wurde soUnter der Perücke und der königlichen Robe steckt nur ein alter fort Hofgespräch. Was er an KleiMann: Etwa so lautete die bösartidung trug, wer neben ihm an der ge Botschaft, die der englische Tafel saß, wen er zur Jagd einSchriftsteller William Makepeace lud, selbst was und wie er tanzte, Thackeray (1811–1863) mit seiner war ein Politikum ersten Ranges. Karikatur verbreitete. Es war seine Auch das ist richtig, beantwortet Art und Weise, sich der Person des aber immer noch nicht die Frage. absoluten Herrschers zu nähern. Ludwig XIV. war die öffentlichste Persönlichkeit, die Europa bis dahin gesehen hatte, seine Präsenz in den damaligen Medien war unerreicht, sein Image überall bekannt, sein Bildnis allgegenwärtig, sein Name in aller Munde, doch sein innerstes Ego blieb unbekannt. Natürlich war das Methode. Der König wollte als Symbol herrscherlicher Größe und der französischen Nation und nicht anders gesehen werden. Menschlich-Allzumenschliches störte da nur und wurde wegritualisiert. Wenn Kinder und Enkel des Königs starben, trauerte er ritualisiert, wenn seine Heere siegten, feierte er ritualisiert. Seine Selbst-
Wer war Ludwig XIV. oder, wie er genannt zu werden wünschte, Ludwig der Große? Gebildeten Europäern fällt dazu einiges ein, meistens das angeblich vom König selbst ausgesprochene geflügelte Wort: Der Staat, das bin ich. Zu den spontanen Assoziationen gehört weiter das Schloss Versailles als sein Herrschaftszentrum und Herrschaftssystem, in dem die Günstlinge jeden Tag aufs Neue darum bangen mussten, ob sie dem König beim nächsten morgendlichen Aufstehen noch den Rock reichen und beim Mittagsmahl das Poulet vorschneiden durften – oder ob sie bereits abgestürzt waren in die Abgründe der Ungnade und Namenlosigkeit. Alle diese Antworten sind richtig, beantworten die Frage jedoch nur zum Teil. Aber wie war der „Sonnenkönig“ als Mensch? Die Historiker schrecken nicht nur ob des kumpelhaftstammtischseligen Tons dieser Frage zurück, sondern sie haben sofort auch methodologische Einwände. Der wichtigste von ihnen lautet: Bei Ludwig XIV. war nichts privat. Ob er mit seiner Gattin oder einer
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gen, die liebgewordenen Gewohnheiten und Antipathien, die Sehnsüchte und die Enttäuschungen und, heutzutage besonders hoch im Kurs, die Ängste und Traumata. Das alles gehört in der einen oder anderen Weise zur Grundausstattung des Menschen, bedeutet zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen sozialen Lagen allerdings auch wiederum nicht dasselbe. Dabei gilt die Faustregel: Je höher gestellt eine Persönlichkeit der frühen Neuzeit ist, desto weniger darf sie von dieser gewissermaßen demokratischen Gefühlsmasse des Menschlichen durchscheinen lassen. Wer ganz oben steht, muss übermenschliche Gefühlsstärke nach dem christlich-stoischen Muster „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt“ zur Schau stellen. War diese Rüstung im Fall Ludwigs XIV. ohne Achillesferse? Oder gibt es Situationen, in denen sich die berühmten Fenster nach innen öffnen, nach denen die Leserschaft von Biographien so hingebungsvoll lechzt? Gibt es Texte, in denen sich das Innerste des „Sonnenkönigs“ offenbart, ohne Rücksichtnahme auf Normen und Konventionen? Prominente von heute behaupten das von sich, und die naive Öffentlichkeit nimmt ihnen diese dümmliche Lüge auch noch ab: Ob Justin Bieber oder Bill Clinton, Autobiographien gelten als intimste Selbstenthüllungen und enthalten doch alles außer dieser letzten, verschwiegensten Wahrheit.
Louis de Rouvroy, Duc de Saint-Simon (1675 – 1755), Politiker und Schriftsteller, der dem König unter anderem als Offizier gedient hatte, stand dem Monarchen kritisch gegenüber – er sympathisierte mit der Adelsopposition
Einer wie Ludwig hinterlässt kein Dokument persönlichen Erlebens
(Gemälde von Hyacinthe Rigaud).
Für den erbarmungslosesten Richter über den Menschen und das Menschliche, den Genfer Reformator Jean Calvin, konnte es auch gar nicht anders sein, denn der Mensch erträgt es nicht, sich so zu sehen, wie er wirklich ist: als durch und durch sündige, verlogene und verworfene Kreatur, die die Größe ihres Schöpfers permanent mit Füßen tritt. Um sich nicht mit dieser Teufelsfratze im Spiegel sehen zu müssen, verschließt der Mensch die Augen vor sich selbst und redet sich schön. Die kritische Geschichtswissenschaft hat Calvins Ansicht mit sehr viel nüchterneren Akzentsetzungen bestätigt: Menschen aller Charaktertypen und Klassen inszenieren sich mit all ihren Zeugnissen, weil sie ein bestimmtes Bild von sich verbreiten bzw. hinterlassen wollen. Ob sie sich selbst wirklich so oder anders gesehen haben, ist dabei letztlich unerheblich. Wirklich persönliche Zeugnisse hingegen sind sehr selten. Briefe sind in der frühen Neuzeit halb-
Saint-Simons Hauptwerk waren seine „Mémoires“, in denen er aus seiner Zeit als Höfling in Versailles berichtete (Titelblatt).
beherrschung war legendär. Als ihn ein Höfling eines Morgens ungebührlich lange warten ließ, lautete Ludwigs berühmte Antwort: „Um ein Haar hätte ich mich über Sie geärgert.“ Doch selbst zu dieser Emotion kam es offenbar nicht. Die eiserne Affektkontrolle verdeckte alles andere. Und doch muss es dieses andere gegeben haben. Das andere, das sind: die Vorlieben und Abneigun-
42 Herrscher – 24 Stunden am Tag
öffentlich, zirkulieren weit über den Adressaten hinaus in breiteren Kreisen; Memoiren sollen die Weichen für die Nachkommen stellen – und so weiter. Wirklich intim wäre, so betrachtet, das berühmte „Mémorial“, das man nach Blaise Pascals Tod im August 1662 in sein Rockfutter eingenäht fand und das mit kühnen Feuermetaphern vom Bekehrungserlebnis des großen Physikers, Philosophen und Theologen in der Nacht vom 23. auf den 24. November 1654 kündet. Dieser Text war zur Selbstvergewisserung und zur Selbsterziehung und für kein anderes menschliches Auge bestimmt. Solch ein Dokument fehlt im Fall Ludwigs XIV., der wie kein anderer ein Leben zum Anschauen, überwiegend aus ehrfürchtiger Distanz, geführt hat. Auf diese Weise wissen wir vieles über seine Strategien und Ziele, seine politischen Ambitionen und Befürchtungen sowie die Methoden, derer er sich bediente. Doch das alles betrifft die öffentliche Persönlichkeit. Bleiben die Zeitgenossen, die mit ihm Umgang pflegten und seine Persönlichkeit ergründen mussten, um an seinem Hof Erfolg zu haben. Doch auch sie deckten als gesicherte Fakten nur die Regeln auf, die man in seiner Umgebung befolgen musste. Mit anderen Worten: Sie vermochten im besten Fall zu ergründen, was der König von ihnen erwartete, was er billigte und verwarf. Natürlich haben sie trotzdem nicht mit Charakteranalysen gespart, doch diese sind voller Emotion und Parteilichkeit und sagen daher viel über die Urteilsfinder, doch wenig über den Beurteilten aus. Das gilt vor allem für den emsigsten aller Tagebuchschreiber am Hof von Versailles, den Herzog von Saint-Simon, der Ludwig aus tiefster Seele hasste und ihm daher Pläne von dämonischer Schläue und Perfidie unterstellte. So hatte der König laut SaintSimon die hohen Aristokraten an seinem Hof stets zu immer kostspieligerem Luxuskonsum gedrängt, um sie in den Ruin zu treiben und sie dadurch von seinen Pensionszahlungen abhängig zu machen. Ob Ludwig die Konkurrenz unter seinen vornehmsten Höflingen mit so weit blickender Perspektive beförderte, ist genauso ungewiss wie die tatsächliche Verschuldung des Adels zu dieser Zeit. So machten sich alle, die von Ludwig XIV. abhingen, ein Bild von ihm, das von ihren eigenen Interessen und Gesichtspunkten bestimmt war. Zudem erlebten sie ihn alle in ein und derselben Rolle, aus der er kaum je fiel. Natürlich beobachteten sie ihn gerade deshalb mit Argusaugen: ein Königreich für eine menschliche Schwäche dieses Königs, denn sie
Ludwig XIV. als „aufgehende Sonne“ im „Ballet Royal de la Nuit“, das am 23. Februar 1653 am französischen Hof uraufgeführt wurde. Diese Selbststilisierung entsprach dem Bild, das der König von sich verbreiten wollte (Aquarell: Kostümentwurf von Henri de Gissey).
wäre ein archimedischer Hebel, den man gegen seinen Anspruch, alle und alles zu lenken, verwenden könnte. Doch wirklich fündig wurden sie nicht. Bleibt eine letzte, die unsicherste, gleichwohl unumgängliche Methode, aus Handlungen Rückschlüsse auf die dahinter stehenden Antriebe persönlicher Art zu ziehen. Da die allermeisten Handlungen des Königs öffentlich oder zumindest für eine partielle Öffentlichkeit bestimmt waren, bleiben für eine solche Auswertung nur die ungewöhnlichen, die aus dem Rahmen fallenden oder sogar die den politischen Interessen entgegenstehenden Auftritte übrig.
Tiefes Misstrauen gegen die Günstlinge, die um seine Aufmerksamkeit buhlen Nimmt man alle Selbst- und Fremdzeugnisse zusammen und verknüpft sie mit dem, was über die Lebensumstände Ludwigs XIV. zwischen Kindheit und Greisenalter bekannt ist, so blicken wir immer noch nicht von Angesicht zu Angesicht auf ihn, aber immerhin wie durch eine Milchglasscheibe. Der vorherrschende Charakterzug des Roi-Soleil, des „Son-
43 Tiefes Misstrauen gegen die Günstlinge, die um seine Aufmerksamkeit buhlen
sel in die Hände des rebellischen Hochadels und seiner Verbündeten unter der noblesse de robe des Pariser Parlaments zu fallen. Es ist keine Küchenpsychologie, wenn man diese erzwungene Flucht als ein Schlüsselerlebnis zugrunde legt: für die persönliche Befindlichkeit und für künftige politische Ausrichtungen. Wer so viel Misstrauen hegt, braucht zumindest einen Verbündeten, dem er rückhaltlos vertraut – das kommt der Küchenpsychologie sehr nahe und findet dennoch im Fall Ludwigs XIV. und Jules Mazarins seine Bestätigung. Gewiss, der König vertraute dem italienischen Kardinal, der aus dem Nichts aufgestiegen war, weil dieser seine Stellung in einem italophoben Frankreich ihm allein verdankte und ohne die königliche Unterstützung ins Nichts zurückfallen würde. Doch im Verhältnis Ludwigs zu Mazarin kommt mehr als die Staatsräson ins Spiel. Als Mazarin Anfang 1661 im Sterben liegt, ist der 22-jährige König in Tränen aufgelöst; in der Sterbenacht des Kardinals lässt er sich ein Feldbett neben dem Lager des Todgeweihten aufschlagen und ist nach dessen Ableben untröstlich. Das bezeugt mehr als den Verlust eines unverzichtbaren Staatsmanns; früh vaterlos, dürfte Ludwig Mazarin wie einen Vater verehrt haben.
Eine zeitgenössische protestantische Karikatur brandmarkt den „Sonnenkönig“ als denjenigen, der mit der Rücknahme des Toleranzedikts von Nantes Jagd auf die französischen Protestanten machen ließ.
nenkönigs“, ist demnach das allgegenwärtige Misstrauen gegenüber den Menschen um ihn herum und gegenüber dem Menschen an sich. Seine Sicht lässt sich so zusammenfassen: Adlige wollen regieren, offiziell unter ihm und mit ihm zusammen, doch in Wirklichkeit wollen sie ihn zur Marionette ihrer Interessen machen. Menschen wollen immer mehr, als sie haben, selbst wenn sie reich und mächtig sind. Man darf ihnen daher nie vertrauen, außer, wenn ihre Interessen mit den eigenen zusammenfallen. Auf Dankbarkeit kann man sich am allerwenigsten verlassen, wie das Beispiel so vieler Günstlinge zeigt, die ihren Förderer verrieten oder wie Nicolas Fouquet zu übertrumpfen versuchten. Deshalb muss man die Menschen mit ihren Interessen an sich binden und gegeneinander ausspielen. Das entspricht ganz dem Menschenbild Machiavellis und auch den laut Machiavelli daraus zu ziehenden Konsequenzen. Diese Folgen sind öffentlich, doch die zugrunde liegende Haltung dürfte den ganzen Menschen kennzeichnen. Dieser Charakterzug lässt sich zudem nahtlos mit den gesicherten Fakten der Biographie in Übereinstimmung bringen. Ludwig war zehn Jahre alt, davon fünf nominell König, als ihn der Aufstand der Fronde zwang, Paris bei Nacht und Nebel fluchtartig zu verlassen, um nicht als Gei-
Drangsalierung der Calvinisten: Irrationale Maßnahmen aus voller Überzeugung Aus der Rolle fiel der König nicht, wenn er im Ballett die Rolle des Apoll tanzte, wohl aber, wenn er sich nach der Aufführung mit dem Dichter und dem Komponisten traf. Vor allem das Verhältnis zu Molière war im Verhaltenskodex des roi très chrétien, des allerchristlichsten Königs, nicht vorgesehen. Schauspieler gehörten nach den Maßstäben der Zeit zu den Ehrlosen, die Kirche verweigerte ihnen ein christliches Begräbnis. Gewiss, Ludwig XIV. hatte gute Gründe, Molière zu protegieren, erscheint er doch in mehr als einem Stück als überparteilicher Schlichter und Problemlöser. Doch seine Passion für das Theater geht über diese strategischen Erwägungen deutlich hinaus; zudem findet diese Vorliebe ihre Entsprechung in unverdächtigen Zeugnissen, dass der König im ganz kleinen Kreis ausgesprochen amüsant sein konnte und geistreiche Scherze seinerseits goutierte. Sogar über sich selbst konnte er dann witzeln, über seine mäßige Schulbildung zum Beispiel. Das Lernen hatte ihn notorisch gelangweilt, ganz im Gegensatz zum
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Viele der protestantischen Glaubensflüchtlinge aus Frankreich zog es nach Preußen. Für sie wurde von 1701 bis 1705 in Berlin die Französische Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt erbaut. Von 1780 bis 1785 kam der Kuppelturm, der sogenannte Französische Dom, hinzu (Gemälde von Carl Traugott Fechhelm).
Fechten und Reiten. Der deutlich über 1,80 Meter große König, fast schon ein Riese für seine Zeit, war stolz auf seinen athletischen Körperbau und führte diesen auch gerne öffentlich vor. Obwohl er passabel Latein gelernt hatte, dürfte er gegenüber humanistisch beschlagenen Prunk-Rhetorikern wie dem ungeheuer wortgewaltigen Jacques-Bénigne Bossuet (1627 −1704), seinem Hofprediger, Minderwertigkeitsgefühle gehegt und diese mit entsprechenden Bonmots überspielt haben. Aus der Rolle fiel der König auch, als er im Oktober 1685 das von seinem Großvater 1598 erlassene Dekret von Nantes rückgängig machte, das den französischen Calvinisten die zivilrechtliche Gleichstellung im gesamten Königreich, freie Religionsausübung in ihren Hochburgen und dazu Schutzgarnisonen und Festungen zusprach. Ausgehöhlt hatte es Ludwig schon lange zuvor durch zahllose Schikanen gegen die religiöse Minderheit von etwa 800 000 Seelen. Doch jetzt sah sich diese vor die äußerste Alternative gestellt: Übertritt zum Katholizismus oder Verlust jeglicher Existenzgrundlage. Mindestens 200 000 wählten die verbotene dritte Lösung und wanderten aus. Frankreich verlor damit eine ökonomische und intellektuelle Elite, wie die Berater des Königs sehr
Mit dem Edikt von Fontainebleau nahm Ludwig XIV. am 18. Oktober 1685 das Edikt von Nantes zurück. Damit hatte sein Großvater, König Heinrich IV., den französischen Protestanten im Jahr 1598 Glaubensfreiheit zugesichert. Infolge der Rücknahme mussten in den folgenden Jahren Hunderttausende von Hugenotten ihre Heimat verlassen.
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zur Beichte ging, nicht entkräftet. Im Gegenteil: Diese „sündige“ Vergangenheit wird jetzt gleich mit entsühnt. Gewiss, auch das Streben nach dem Ruhm, über ein im Glauben wiedervereintes Königreich zu gebieten, kam hier ins Spiel, doch wog dieser Zugewinn an Prestige die Ansehensverluste in Europa nie und nimmer auf. Denn auch außenpolitisch wirkte sich die Rücknahme des Edikts von Nantes für Frankreich zum Nachteil aus. Für die protestantischen Mächte demaskierte sich der „Sonnenkönig“ damit endgültig als finsterer Tyrann, für ihre Geistlichen sogar als Antichrist. Die politische Bilanz fällt somit eindeutig negativ aus; der Verdacht, dass irrationale, mit der reinen Staatsräson unvereinbare Motive ausschlaggebend waren, verhärtet sich umso mehr. In seinen „Mémoires“ nannte Ludwig XIV. selbst das Streben nach Ehre und Ruhm als seinen lebenslang stärksten Antrieb. Beides ist von seinen politischen Strategien und Zielen nicht zu trennen, doch dürfte auch hier ein persönlicher Identitätskern freizulegen sein. Als seine Mutter und Mazarin seine Verheiratung mit einer spanischen Prinzessin in die Wege leiteten, während er selbst die Liaison mit Maria Mancini fortzusetzen gedachte, spöttelte der junge König über die Herkunft seiner Braut: Die Habsburger seien schließlich kleine Grafen gewesen, als „wir“ schon seit Jahrhunderten als Könige von Frankreich geglänzt hätten, sagte er. Das Argument war historisch zutreffend und ließ zugleich tiefer blicken: auf gewachsenen dynastischen Stolz und das daraus erwachsende Bewusstsein, vornehmer und von Gott begünstigter zu sein als alle anderen regierenden Familien. War Ludwig XIV. „intelligent“? Kritische Zeitgenossen attestierten ihm mäßige Begabung, doch muss man fragen, was sie darunter verstanden. Der König war, wie gesagt, kein Intellektueller nach höfisch-humanistischen Maßstäben. Aber Intelligenz lässt sich nicht erst heute unterschiedlich definieren. Und selbst die feindlichsten Beobachter kamen nicht umhin, ihm eine phänomenale Menschenkenntnis und eine ebenso überragende Fähigkeit zuzuschreiben, Menschen für seine Zwecke zu benutzen: soziale und politische Intelligenz in höchster Ausprägung.
wohl wussten. Kein Wunder also, dass einer der klügsten von diesen, der Marquis de Vauban, den Monarchen beschwor, diese kontraproduktive Maßnahme rückgängig zu machen – vergeblich. Warum dieser Religionsterror zu einer Zeit, die doch von konfessionellem Tauwetter geprägt war? Schon für Voltaire, der mit seinem 1751 veröffentlichten „Siècle de Louis XIV“ nicht nur die neuere Kulturgeschichte begründete, sondern auch ein bis heute literarisch unübertroffenes Porträt des Königs selbst, seines Hofes und seiner Epoche lieferte, war dieser Akt des Fanatismus ein Rückfall in eine gerade überwundene Vergangenheit und daher unbegreiflich. Umso näher lag es, ihn perfiden Einflüsterern beiderlei Geschlechts, dem Kanzler Michel Le Tellier oder Ludwigs zweiter Gemahlin, der frömmelnden Madame de Maintenon, zuzuschreiben. Doch Ludwig XIV. wusste, was er tat, und warum. Sein Glaube an die allein selig machende Kraft der katholischen Kirche, gepaart mit tiefer Abneigung gegen die Reformierten, ist von Kindesbeinen an authentisch bezeugt und wird durch rebellische Akte aus seinen Saft-und-Kraft-Jahren, als er wegen der kirchlichen Vorwürfe gegen seine Mätressen nicht
Der alternde König: Ludwig XIV.
im Profil (zeitgenössische Arbeit aus Wachs).
Prof. Dr. Volker Reinhardt, geb. 1954, lehrt Geschichte der Neuzeit an der Universität Freiburg (Schweiz).
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Auf dem Weg in den Staatsbankrott
Das Chaos der Kassen Volker Reinhardt
Nicht der Bau von Versailles oder die verschwenderische Hofhaltung dort trieben Frankreich seit Ludwig XIV. Schritt für Schritt in den Staatsbankrott – es waren die teuren Kriege. Hinzu kam eine aufgeblähte, völlig uneffektive Finanzverwaltung.
Während seiner nominell 72 Jahre währenden Regierung hat Ludwig XIV. zu keinem Zeitpunkt auch nur ansatzweise einen Überblick über den Stand seiner Finanzen gehabt. Nicht, dass es ihn besonders interessiert hätte – ein Adliger richtete seinen Umgang mit Geld nach den notwendigen Ausgaben und nicht wie ein knauseriger Bürger nach den vorhandenen Einnahmen. Prestige verpflichtete, auch wenn es teuer zu stehen kam. Die vollständige Ahnungslosigkeit des Roi-Soleil in Sachen seines eigenen Kontostands steht allerdings in merkwürdigem Gegensatz zum Begriff „absolut“, mit dem man seine Herrschaft lange Zeit kennzeichnen zu können glaubte. Ein Monarch, der sein Monopol der drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative nicht nur in feierlichen Erklärungen beschwor, sondern gegen alle Widerstände und Mitregierungsansprüche auch durchsetzte, musste als Allererstes seine Finanzen im Blick, mehr noch: im Griff haben. Anderenfalls war er auf Mutmaßungen angewiesen, die regelmäßige Zahlungsunfähigkeit zur Folge haben und seine Herrschaft dadurch empfindlich schwächen mussten.
Genau das war nicht nur unter Obwohl Frankreich in der Ära des „Sonnenkönigs“ zu den finanzLudwig XIV., sondern auch unter stärksten europäischen Nationen all seinen Vorgängern und Nachfolgern der Fall, bis die Revolugehörte, reichten die Geldmittel für tion seit 1789 das ganze polidie Vorhaben des Monarchen nicht tische System schrittweise zum aus. Im Bild: eine goldene GedenkEinsturz brachte. medaille. Die Vorderseite zeigt LudDie andauernd schwelende Fiwig XIV.; die Rückseite die Kolonnanzmisere war nicht die Hauptnaden des Louvre. ursache des Umsturzes, wohl aber dessen Anlass und darüber hinaus ein Stein des Anstoßes, der das Ansehen der Monarchie im Vorfeld mehr als ein Jahrhundert lang in steigendem Maß beschädigt hatte. Pauschales Fazit vorab: In keinem anderen Bereich der Machtausübung erweist sich der Begriff „Absolutismus“ als so widersinnig wie im Sektor der Finanzen. Hier war der König nicht nur nicht Souverän, sondern in oft grotesker Weise abhängig, und zwar von seinem eigenen Personal, das seine Ämter in der Verwaltung der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben gekauft hatte und damit de facto unkündbar geworden war. Im gar nicht einmal
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Leitungspersonal in die Provinzen entsandt worden, das aus der Perspektive der Zentrale betrachtet einen entscheidenden Vorteil aufwies: Wie ihre offizielle Bezeichnung commissaires départis anzeigte, waren die Intendanten für einen genau umrissenen Zweck mit genau definierten Kompetenzen ausgestattet und vor Ort geschickt worden, von wo aus sie im Gegensatz zu ihren Vorgängern ohne Konflikte und komplizierte Kaufpreis-Rückzahlungsprozeduren nach Erfüllung oder auch Nicht-Erfüllung ihrer Mission jederzeit wieder abberufen werden konnten. Die Tatsache, dass neben diesem modernsten und effizientesten Beamten-Typus die beiden Auslaufmodelle fortbestanden, erlaubt tiefe Einblicke in die konservativen Grundprinzipien der Monarchie, die durch die alles beherrschende Propaganda des allmächtigen Königs verdeckt, aber nicht aufgehoben wurden. Da man sich nicht befugt bzw. liquide genug fühlte, die älteren Stellen zu streichen, blieb nur die Methode, ihre Kompetenzen zu beschneiden. Da aber auch diese Zuständigkeiten nicht völlig gelöscht wurden, ergab sich ein heilloses Durcheinander an Überschneidungen, Unklarheiten und Unübersichtlichkeiten aller nur denkbaren Art. Historisch gewachsen waren nicht nur die Institutionen, sondern auch die Ansprüche der Personenkreise, die sie besetzten. Auch diesen Traditionen stand die Monarchie hilf- und machtlos gegenüber. Diese Ohnmacht erklärt sich aus der finanziellen Abhängigkeit vom eigenen Personal, die wiederum nur dadurch zustande kam, dass man das ganze System nicht von Grund auf neu ordnete – ein Teufelskreis, in dem die französische Monarchie bis zur Revolution gefangen blieb. Da sich die durch den Wirrwarr zum Vorteil der Finanzverwalter verursachten Verluste nicht vermeiden ließen, musste die Krone versuchen, ihre Einnahmen durch höhere Steuern zu steigern. Im Lauf des 18. Jahrhunderts erwies sich jedoch auch die Seite der Erträge als blockiert. Die Parlamente, vor allem das Pariser, das zu seinen Funktionen als oberster Gerichtshof das Recht für sich in Anspruch nahm, neue Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit den geheiligten Traditionen des Königreichs zu überprüfen und gegebenenfalls für ungültig zu erklären, erwiesen sich im jahrzehntelangen Streit um neue Abgaben als dem König überlegen. Dieser konnte die Kammern zwar auflösen und neue einberufen, doch gegenüber den vielfältigen Widerständen der abgesetzten „Parlamentarier“ war er am Ende machtlos und musste durch ihre Wiedereinsetzung klein beigeben.
so seltenen Extremfall kam es dabei so weit, dass der König für die tagne in Rennes – gehörten zu den Bereitstellung seiner eigenen Gelhistorisch gewachsenen Institutioder Wucherzinsen an seine eigenen innerhalb der französischen nen „Beamten“ zu zahlen hatte. Monarchie. Aus Sicht des Königs Die Ursache für dieses instistörten sie seine Machtentfaltung. tutionalisierte Chaos war in der Geschichte angelegt. Im Lauf der Jahrhunderte waren – wie in allen Staaten der Neuzeit, einerlei, ob Republiken oder Fürstentümer – neue Einrichtungen geschaffen und neben die alten gestellt worden, ohne dass diese aufgehoben wurden. Dasselbe galt für die Typen der Amtsträger und deren Rekrutierung. Unter Ludwig XIV. gab es Posten wie die der Provinz-Gouverneure, die nach dem ältesten und für die Monarchie gefährlichsten Prinzip altadliger Abstammung vergeben wurden, sowie Kaufämter, vor allem in der Justiz und bei der Steuererhebung, die vor allem im 16. Jahrhundert als eine besonders schädliche Form des Staatskredits auf den Markt geworfen, seit 1604 erblich gemacht worden waren und dadurch eine zweite Adelsschicht, die noblesse de robe, entstehen ließen. Unter den Kardinalministern Richelieu (1624 − 1642) und Mazarin (1642 − 1661) war schließlich mit den sogenannten Intendanten neues Aufsichts- und Die Parlamente in Frankreich – hier das ehemalige Parlament der Bre-
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Die Macht der financiers: Private Bankiers verwalten die öffentlichen Erträge
rung belegen sollte, aber natürlich häufig geschönt ausfiel. Hier genauer hinzusehen und nachzurechnen konnte sich auszahlen. Vor allem unter Ludwigs bekanntestem Finanzminister Jean-Baptiste Colbert sah man den Bankiers genauer auf die Finger und ließ sie veruntreute Summen, mit spektakulären Strafgeldern gespickt, zurückzahlen – rendre gorge, wieder auswürgen, nannte die entzückte Öffentlichkeit dieses äußerst populäre Verfahren. Solche Exempel hatten fraglos ihre Abschreckungswirkung, doch auf Dauer verbessern konnten sie die Lage nicht, dafür war diese zu unübersichtlich. Denn nicht wenige der Unternehmer, die für die Verwaltung bestimmter Einnahmen zuständig waren, hatten diese in Personalunion zugleich gepachtet und waren auf diese Weise für Zahlung, Einzug, Anlage und Ausgabe zugleich zuständig. Solche Verquickungen ergaben sich zum Beispiel, wenn ein Finanzunternehmer das Amt des Kassenführers für die Weinsteuer in der Provinz Burgund gekauft und darüber hinaus dieselbe Steuer gepachtet hatte. Nicht nur solche KombinatioEin französisches Provinz-Parlament nen von Ämtern und Funktiozur Regierungszeit Ludwigs XIV. nen, sondern auch die ModaliDiese Kammern bestanden darauf, täten der Steuerpachten selbst über die Erhebung von neuen Abwaren für die Zentrale schwer gaben mitzubestimmen – auch dem überschaubar und daher verlust„Sonnenkönig“ gelang es nicht, den reich. Denn dafür, dass ein BanEinfluss der Parlamente komplett kier die Eintreibung der besagten zu unterbinden (zeitgenössisches Steuer auf eigene Kosten und auf Ölgemälde). eigenes Risiko übernahm, musste
Zum innersten Kreis des französischen Finanzsystems zur Zeit Ludwigs XIV. zählten einige Dutzend Unternehmer (financiers), die mit dem König Verträge abschlossen, also als private Bankiers in seinem Auftrag seine Einnahmen und Ausgaben verwalteten. Mit anderen Worten: Die „absolute“ Monarchie hatte keine eigens dafür ausgebildeten und abgestellten Amtsträger, um die diversen Erträge des Königreichs in Empfang zu nehmen und ihren Verwendungszwecken zuzuführen. Natürlich hätten sich solche Spezialisten mühelos finden und gegen ein angemessenes Salär auch in Dienst stellen lassen. In den diversen Räten des Königs gab es genügend solcher „Technokraten“ mit dem nötigen Fachwissen, nicht zuletzt unter den besten Intendanten. Doch hätte eine Auswechslung gegen solche Bürokraten des neuen Typs unweigerlich zur Folge gehabt, dass die entlassenen financiers der Krone die Kredite gekündigt hätten, was wiederum zum sofortigen Staatsbankrott geführt hätte. Der Monarch hätte das Risiko der Zahlungsunfähigkeit durchaus eingehen können, zumal sich die Situation dadurch wohl grundlegend und langfristig gebessert hätte. Doch zu einem solchen Schritt fehlten alle Voraussetzungen, nicht zuletzt der Mut zur Innovation und zum Risiko. Wenn man den financiers ihre lukrativen Tätigkeiten sperrte, musste man von ihrer Seite mit Repressalien rechnen, die den Staat eine Zeitlang gezwungen hätten, mit seinen Einnahmen auszukommen. Doch das war unter Ludwig XIV. fast immer ebenso undenkbar wie im Euro-Europa des frühen 21. Jahrhunderts. Es fehlte nicht an weiteren Versuchen, um die bestehenden Verhältnisse zu rechtfertigen. Unternehmer – so lautete eines der Standardargumente, vor allem aus den Kreisen der financiers selbst – wirtschafteten sparsamer, weil es um ihr eigenes Geld ging. Staatsbeamten hingegen konnte es egal sein, wie effizient sie die Einnahmen des Königs verwalteten, zogen sie aus besseren Leistungen doch keinen direkten Vorteil. Zudem unterstellte man ihnen Bestechlichkeit und die unwiderstehliche Neigung, in die eigene Tasche zu wirtschaften. Da man sich zu durchgreifenden Schritten nicht durchringen konnte, blieben nur kleine Verbesserungen. Die financiers mussten jedes Jahr einen Rechenschaftsbericht abliefern, der ihre korrekte Amtsfüh-
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häufig durch dieselben Firmen abgewickelt. Diesen unterstellten sie eine grenzenlose Verachtung für das Volk und allerlei erpresserische Machenschaften, vor allem complots de famine, weitgespannte Verschwörungen, mit denen die Massen ausgehungert und die Gewinne der Spekulanten in schwindelerregende Höhen getrieben werden sollten. Die Vorstellungen breiter Schichten von einer gerechten Wirtschaftsordnung verpflichteten den Herrscher hingegen, das gesicherte Überleben der Armen buchstäblich um jeden Preis zu garantieren und zu diesem Zweck das Gewinnstreben der Großpächter und Großhändler zu zügeln. Auf sie war der König also einerseits angewiesen, andererseits musste er zu ihnen auf Distanz gehen: eine Gratwanderung, die oft genug misslang.
Samuel Bernard, Comte de Coubert (1651 – 1739), war ein französischer Bankier. Er finanzierte die Kriege des Königs und wurde durch die Zinsen für diese Anleihen zu einem der reichsten Männer seiner Zeit (Gemälde von Joseph Vivien, 1699).
Hunderte voneinander unabhängige Kassen existieren nebeneinander Die Aufblähung der Finanzverwaltung hatte unter Ludwig XIV. eine inflationäre Vermehrung der Kassen und damit auch der caissiers zur Folge gehabt, die diese im Auftrag des Königs, doch letztlich auf eigene Rechnung führten. Um diese Posten möglichst lukrativ zu verkaufen, hatte man viele von ihnen einfach verdoppelt, so dass sich zwei Unternehmer bei ein und derselben Tätigkeit im Jahresrhythmus abwechselten, doch selten genug zusammenarbeiteten. Im Gegenteil: Da es sich meistens um konkurrierende Firmen handelte, versuchte jede, in ihrem jeweils „aktiven“ Jahr so viel Gewinn wie möglich herauszuschlagen und die „ruhende“ Rivalin zurückzudrängen. Jeder dieser caissiers verfügte zudem über ein Netz nachgeordneter Agenten, die ebenfalls auf ihre Kosten zu kommen und die Gegenseite auszustechen versuchten. Bei der bunten Aneinanderreihung von Kassen mit ihren spezifischen Einkünften war man in der Regel so verfahren, dass diesen bestimmte Aufgabenbereiche zugeordnet worden waren, bei denen die zu tätigenden Ausgaben etwa den zu erwartenden Erträgen entsprachen. Da diese Relationen in der Folgezeit kaum überprüft wurden, hatten sich nicht selten groteske Missverhältnisse ergeben. So waren einige Kassen chronisch unterfinanziert, andere erwirtschafteten Überschüsse, für die keine unmittelbare Verwendung vorgesehen war. Ein Ausgleich zwischen den verschiedenen Töpfen aber fand nicht statt, da sich die Unternehmer von ihren Konkurrenten nicht in die Bücher sehen lassen wollten.
man ihm entsprechende Anreize, sprich verlockende Gewinnspannen, bieten. Diese bestanden in der Differenz zwischen der Pauschalsumme, die er jährlich als Entgelt für die Pacht in die von ihm selbst verwaltete Kasse einzuzahlen hatte, und den tatsächlich eingezogenen Summen. Wie hoch diese tatsächlich ausfielen, wusste außer ihm und Gott niemand. Die königliche Zentrale konnte nur von grob geschätzten Sollsummen ausgehen, die regelmäßig zu hoch veranschlagt wurden und für endlose Dispute mit den Pächtern sorgten. Wenn die Profitmarge der Steuerpächter zu knapp bemessen wurde oder ganz entfiel, musste man mit Zahlungsverzögerungen und -schwierigkeiten rechnen, was ebenso wenig im Interesse des Staates lag wie deren übermäßige Bereicherung. Der König konnte sehr schnell zwischen die Fronten geraten. Geriet er in den Verdacht, die Unternehmer zu begünstigen, so wurde sein Ansehen beim Volk irreparabel beschädigt, vor allem in schlechten Erntejahren, wenn die Angst vor unerlaubten Getreideexporten mit dem Ziel der Preistreiberei umging. Die drei Viertel der Bevölkerung, die bei Steuer- und Brotpreiserhöhungen ihr Überleben gefährdet sahen, machten keinen Unterschied zwischen Steuerpächtern, financiers und Großhändlern, und zwar durchaus zu Recht, wurden alle diese Geschäfte doch
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sogar ausschließlich vom Ertrag seines Eigenguts, der domaine, leben. Zu diesem Zweck waren der Krone im Lauf der Jahrhunderte zahllose Felder, Weiden, Wiesen, Wälder und Seen übertragen worden, und zwar unter dem Siegel der Unveräußerlichkeit, zumindest in der Theorie. Doch für die Bedürfnisse eines seit Franz I. (1515 − 1547) stetig wachsenden Hofes und die weit ausgreifenden außenpolitischen Unternehmungen dieses Herrschers, der mit dem Habsburger Karl V. um die europäische Hegemonie rang, reichte dieser notorisch schlecht verwaltete Eigenbesitz schon lange nicht mehr aus. So war ein guter König jetzt der König, der keine neuen Steuern einführte und die alten nicht erhöhte. Aber auch diesem Kriterium wurde Ludwig XIV., der doch bei seiner Volljährigkeitserklärung beschworen worden war, ein guter Vater seines guten Volkes zu sein, in keiner Weise gerecht. Schon zu Lebzeiten war die „Verschwendung“ am Hof des Roi-Soleil legendär; nach seinem Tod ging sie geradezu in den schwarzen Legendenschatz Europas ein. Nach den Maßstäben bürgerIn schlechten Erntejahren trafen lich solider Haushaltsführung war Steuererhöhungen und steigende das Leben im Schloss Versailles in Brotpreise die Armen besonders der Tat der Gipfel der Vergeudung: hart. Diese zeitgenössische KarikaEin aufwendiges Fest – sei es Theatur prangert das Unwesen der ter, Ballett, Feuerwerk oder KonSpekulanten an, die von der Not zert, oft alles zusammen – jagte das der kleinen Leute profitierten. andere. Hofämter, deren Funktion
Die caissiers, die für zwei oder mehr solcher Finanzquellen zuständig waren, deckten zwar das Minus in der einen durch das Plus in der anderen Kasse ab, ließen sich diese Operationen jedoch durch hohe Überziehungszinsen vergüten, ein für die königliche Finanzzentrale äußerst kostspieliges System. Überhaupt machten die financiers zwischen öffentlichen und privaten Geldern nicht den geringsten Unterschied. Mit den Überschüssen aus königlichen Erträgen spekulierten sie genauso ungehemmt wie mit eigenem Kapital, so dass private Bankrotte regelmäßig tiefe Lücken in das staatliche Budget rissen. Für die direkten Steuern existierten unter Ludwig XIV. nach neuesten Berechnungen etwa 50 Haupt- und 418 Unterkassen; für die indirekten Abgaben sowie für die Verwaltung des königlichen Eigenbesitzes ist jeweils von einer mindestens ebenso großen Zahl auszugehen. Dazu kamen zahlreiche weitere Kassen für wichtige Institutionen wie Ministerien, Schulen, Straßenbau und die Kolonien, so dass insgesamt von mehreren hundert getrennten Finanzströmen auszugehen ist. Die wichtigste von diesen schmückte sich mit dem pompösen Titel trésor royal, königlicher Schatz. Auch ihm stand ein Paar von trésoriers vor, das sich bei seiner Führung abwechselte. Ihr Amt kostete im 18. Jahrhundert die astronomische Summe von 1,2 Millionen Livres und war dennoch eine lohnende Investition. Doch auch in diese Zentralschatulle floss am Ende immer nur ein Teil der königlichen Einnahmen. Die Krone selbst behandelte ihre Finanzen als Staatsgeheimnis. Einen ersten Gesamthaushalt legte im Februar 1781 erstmals der königliche Finanzminister Jacques Necker (1732 − 1804) vor. Diese Veröffentlichung der Staatseinnahmen und -ausgaben war ein revolutionärer Akt und wurde vom Publikum auch so verstanden – erstmals erfuhr die Öffentlichkeit auf diese Weise vom Stand der Finanzen, die nicht mehr allein dem König, sondern der Öffentlichkeit gehören sollten. Drei Monate später war Necker entlassen.
Kriegskosten stellen die Verschwendung des Hofs in den Schatten Trotz der enormen Reibungsverluste, die die völlig unkoordinierte Finanzverwaltung verursachte, konnte ein sparsamer König mit deren Gesamtaufkommen durchaus leben. Und ein sparsamer König war ein guter König, zumindest nach der Herrschaftstheorie des einfachen Volkes. Im Idealfall sollte er
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Die bei weitem wichtigste Investition dieser Art war die neue Schloss-Stadt in Versailles, die nach 20-jähriger Bauzeit 1682 endgültig bezogen wurde und schließlich an die 20 000 Personen Platz bot: dem König und seiner Familie, dem handverlesenen Hofadel und dem Heer der Domestiken. Versailles scheint bis heute jedem Besucher den Verschwendungsvorwurf zu bestätigen: Wozu brauchte ein König, der doch den Louvre in Paris hatte (und ebenfalls aufwendig umbauen ließ), diese riesenhafte Residenz? Die Bilanzen sprechen eine andere, nüchternere Sprache. Die Errichtung der gigantischen Anlage und die Kosten für den Unterhalt des Hofes zusammen machten zu keinem Zeitpunkt mehr als 20 Prozent des Gesamtbudgets aus. Die Baukosten kletterten zwar seit 1670 stetig über 2,5 Millionen Livres jährlich, doch machte dieser für sich genommen zweifellos enorme Betrag gerade einmal ein Dreißigstel der Gesamteinnahmen aus, die nach vorsichtigen Schätzungen damals aus den Hunderten verschiedener Kassen tatsächlich verfügbar gewesen sein müssen. Der Schlossbau hat Frankreich also nicht ruiniert, und auch der Hof nicht. Im Gegensatz zum Hof mit seinen Gehältern und Pensionen für ohnehin schon betuchte Aristokraten war die Errichtung der Schloss-Stadt zudem eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Zehntausende: vom hochbezahlten Gartenarchitekten Le Nôtre bis hinab zu den Tagelöhnern, die die zahlreichen Brunnen ausschachteten. Versailles und sein Hof wurden schnell zum Symbol des Königs und seiner Regierung: zuerst ruhmvoll und am Ende als Anklage. Bezeichnenderweise blieben Einnahmen und Ausgaben trotz Schlossbau im Gleichgewicht, solange Friede herrschte. Friedenswahrung war in den Augen des Volkes nach der Versorgungssicherung die Hauptaufgabe eines guten Königs. Dieser Pflicht war schon Ludwig XIII. nicht nachgekommen. Frankreichs Weg in den Dreißigjährigen Krieg hatte im Dezember 1630 mit Subsidienzahlungen an den lutherischen Schwedenkönig Gustav II. Adolf (1611 –1632) begonnen, sich seit 1635 in Form direkter Interventionen fortgesetzt und erst 1659 durch Abschluss des Pyrenäenfriedens mit Spanien triumphal geendet. Schon die anfangs relativ begrenzte Kriegführung hatte die regulären Finanzmittel bei weitem überstiegen und ein breites Spektrum an Notfinanzierungen, vor allem durch Kredite, erforderlich gemacht. So hatten sich die Gesamtausgaben Frankreichs schon 1635, im ersten Jahr der „ak-
Die Taschen vollgestopft mit Geldsäcken, dicker Bauch, einen Geier wie einen Hut auf dem Kopf tragend: So stellte der Maler Jean-Charles Delafosse (1734 – 1791) den typischen „Financier“ dar.
sich darauf beschränkte, die königliche Tafel zu bedienen oder die Stallungen des Monarchen zu überwachen, verschlangen mit phantastischen Gehältern an nutzlose Hochadlige Riesensummen – so die spätere Wahrnehmung, die dem Selbstverständnis des Monarchen jedoch in keiner Weise gerecht wird. Bestimmte Ausgaben mussten getätigt werden, auch wenn sie nicht durch Einnahmen abgedeckt waren, so verlangte es die aristokratische Wirtschaftsethik unnachsichtig. Umgekehrt war alles, was der Ehre und der Reputation des Herrschers diente, optimal investiertes Geld.
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tiven“ Kriegführung, um das Fünffache gegenüber dem Normalstand von 1630 aufgebläht. Doch diese Schulden waren nichts im Vergleich mit den Verbindlichkeiten, die Ludwig XIV. für seine seit 1672 kaum noch abreißenden Kriege eingehen musste. In den letzten Friedensjahren waren die Solleinnahmen des Staates über die magische 100-Millionen-Grenze angewachsen. Ein Vierteljahrhundert danach waren sie nochmals um 50 Prozent gesteigert worden, doch damit war ein Höhepunkt und zugleich ein unüberschreitbares Limit erreicht – von nun an ging es stetig bergab, während die Kosten für den Spanischen Erbfolgekrieg von 1701 bis 1714 alle bisherigen Rekorde schlugen. Zudem ist bei den Sollbeträgen die Differenz zu den tatsächlich eingenommenen Summen in Rechnung zu stellen; sie machte aufgrund der chaotischen Organisation, der Firmenbankrotte, der Unterschlagungen und der Zinszahlungen für Schulden bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts etwa zwei Fünftel aus, wurde danach auf etwa ein Drittel herabgedrückt, um sich am Ende der Regierungszeit Ludwigs XIV. auf über zwei Drittel der theoretisch geschuldeten Beträge zu belaufen. Parallel dazu stiegen die Kriegskosten ins Unermessliche, vor allem seit 1700, als es mit den Waffenerfolgen der französischen Armee ein Ende hatte. Beim Tod Ludwigs XIV. im September 1715 schlugen so ungefähr 3,5 Milliarden Livres Schulden zu Buche – eine Hypothek, die die beiden Nachfolger des Roi-Soleil bis 1789 nicht nur nicht abzutragen vermochten, sondern nochmals um die Hälfte vermehrten. Das berühmt-berüchtigte Defizit erzwang bekanntlich die Einberufung der Generalstände zum Mai 1789 und wurde auf diese Weise zum Anlass der Revolution, an deren fernen Anfängen somit Ludwig XIV. steht. Legt man in dessen Todesjahr Realerträge von nur noch 35 bis 45 Millionen Livres zugrunde, so lässt sich ermessen, wie schwer diese Verschuldung um das 80- bis 100fache der jährlichen Einnahmen wiegen musste. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik Deutschland betrug die Gesamtverschuldung der öffentlichen Hand im Dezember 2014 gut 2,17 Billionen Euro; sie war damit etwa siebenmal so hoch wie der Bundeshaushalt für das Jahr 2015. Im Verhältnis zu den Kriegskosten waren alle anderen Ausgabenposten unter Ludwig XIV. letztlich unerheblich. Selbst in den immer selteneren Friedenszeiten – zwischen 1630 und 1715 kaum ein Drittel – wurde das Militärwesen immer kostspieli-
ger, weil die stehenden, also gewissermaßen für den Ernstfall bereitstehenden Heere stetig anwuchsen: von gut 10 000 Mann um 1600 auf 120 000 Mann 1672 und 190 000 Mann knapp drei Jahrzehnte später. Diese Aufgebote bestanden nur noch zum kleineren Teil aus Soldregimentern, wie sie zum Beispiel die Eidgenossenschaft Frankreich 1663 für sechs Jahrzehnte vertraglich zusicherte; dabei wurden den auswärtigen Offizieren weitgehende Freiräume gegenüber den staatlichen, speziell den polizeilichen Institutionen des „Gastlandes“ Unter Ludwig XIV. war es üblich, garantiert. bestimmte Steuern zu verpachten – Doch auch über die eigenen der Pächter zahlte die festgelegte Soldaten gebot der König nur inSumme an den Staat und trieb das direkt. Die adligen Offiziere revorgestreckte Geld mit Gewinn auf krutierten und organisierten iheigenes Risiko in Form der Steuer re Regimenter in der Regel selbst; wieder ein (Erlass zur Salzsteuer aus oft kaufte der vermögende Vadem Jahr 1662). ter dem Sohn eine solche Trup-
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Colbertismus: Linderung der schlimmsten Auswüchse, aber keine Reform des Systems
pe zusammen, die dann unter einem sehr jungen und schlecht ausgebildeten Offizier in die Schlacht zog – die katastrophalen Niederlagen gegen das sehr viel besser organisierte und geführte Heer des Prinzen Eugen im Spanischen Erbfolgekrieg finden auch darin eine Erklärung. Für ihre Aufgebote erhielten die französischen Offiziere meistens Pauschalsummen, von denen sie dann ihre Truppen besolden und unterhalten mussten. Dieses mangelhafte System war schon in Friedenszeiten schwer überschaubar und wenig effizient; im Krieg gerieten seine Kosten vollends außer Kontrolle. 1710 machten diese Summen schließlich vier Fünftel aller öffentlichen Ausgaben aus. Mit dem Friedensschluss von Utrecht drei Jahre später kam der lange Krieg zu einem für Ludwig XIV. akzeptablen Ergebnis – immerhin Die Kriege waren es, die Frankreich bestieg sein Enkel Philipp V. den unter der Herrschaft Ludwigs XIV. spanischen Thron. Doch die fiZug um Zug in Richtung Ruin trienanziellen und moralischen Kosben (Schlacht bei Almansa im Spaten dieser Gesichtswahrung wanischen Erbfolgekrieg, April 1707). ren langfristig gesehen ruinös.
Das gesamte Finanz- und Wirtschaftssystem Frankreichs hatte in den Augen seines Königs den Hauptzweck, ihm die zur Wahrung und Mehrung seiner Ehre erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen. Der Posten eines finanziellen Oberaufsehers, eines contrôleur général des finances, war daher ehrenvoll und gefahrvoll zugleich. Einsparungen in den sensiblen Bereichen Krieg und Hof kamen nicht in Frage. Im Gegenteil – in diesem Fall lautete die Devise: Geld muss immer da sein, und zwar um jeden Preis. Der berühmteste Finanzminister Ludwigs XIV., JeanBaptiste Colbert, konnte ein Lied davon singen. Colbert verdankte seinen Erfolg nicht, wie es die Legende will, allein seinen persönlichen Fähigkeiten, so unbestritten diese Talente auch waren. Seine Familie hatte um die Mitte des 17. Jahrhunderts bereits einen langen Aufstieg hinter sich: Als Bauunternehmer wohlhabend geworden, waren seine Vorfahren ins Bankgeschäft übergewechselt und hatten ihr stattli-
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Die Errichtung und der Unterhalt des Schlosses von Versailles machten rund 20 Prozent des Gesamtbudgets aus, über das der König verfügte (Gemälde von Pierre-Denis Martin, 1722).
ches Familienkapital schließlich in Ämter angelegt, die ihnen den Adel einbrachten. Wie alle großen Klans der noblesse de robe waren auch die Colbert ausgezeichnet vernetzt, innerhalb ihrer eigenen Schicht, aber auch mit Dynastien des Hochadels. Jean-Baptiste Colbert genoss die Protektion des Kardinals Mazarin, dessen gigantisches Privatvermögen er verwaltete. Nach dem Sturz des mächtigen Finanzministers Fouquet, auf den er geschickt hingearbeitet hatte, wurde Colbert zu Fouquets Nachfolger bestellt. Im Lauf von mehr als 20 Jahren bis zu seinem Tod 1683 häufte er Kompetenz auf Kompetenz an – darunter die Oberaufsicht über die öffentlichen Bauten Frankreichs, über Manufakturen und nicht zuletzt über den königlichen Haushalt. Darüber hinaus war er für die Propaganda nach innen wie außen zuständig, die bald serielle und schließlich geradezu industrielle Züge annahm: Maler und Medailleure, Gipser und Gießer, Architekten und Bildhauer produzierten unablässig zum höheren Ruhm des „Sonnenkönigs“; keine Stadt von Bedeutung, in der nicht mindestens des Monarchen
Mit diesem Schreiben (Originalhandschrift, um 1670) legte Colbert dem Monarchen nahe, die zu hohen Ausgaben des Staates zu reduzieren.
Jean-Baptiste Colbert (1619 – 1683), Finanzminister des „Sonnenkönigs“, gelang es zwar, das Verhältnis von Ausgaben und Einnahmen durch Reformen zu verbessern – von Grund auf ändern konnte er das ineffektive System der öffentlichen Finanzen aber nicht (zeitgenössisches Gemälde).
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Büste prangte. Nachwuchs für diese Gewerbe wurde von eigens dafür eingerichteten Schulen und Akademien geliefert. In allen diesen Sektoren platzierte Colbert seine Vertrauten auf Schlüsselpositionen, so dass sein Einfluss noch lange nach seinem Tod fortdauerte. Dass auch ein Mann von seinem Einfluss und seinen Fähigkeiten das marode System der Finanzierung durch die financiers nicht umwandeln konnte, zeigt nochmals, wie stark die dagegenstehenden Interessen und Widerstände ausfielen. Immerhin gelang es Colbert in seinem „guten“ Jahrzehnt vor den großen Kriegen, die Differenz zwischen Sollsummen und tatsächlich eingezogenen Beträgen auf etwa 30 Prozent zu reduzieren und zugleich die Gewinnspannen der großen Pächter auf ein vernünftiges Maß zu begrenzen. Beides wurde dadurch möglich, dass gebündelte Verträge an kapitalstarke Unternehmer und Konsortien vergeben wurden, von denen auch weniger Bankrotte zu befürchten waren. Ebenfalls zu einem günstigeren Verhältnis von Einnahmen und Ausga-
ben trug bei, dass Schulden mit horrenden Verzinsungen, wie sie während der Machtkrise der Fronde (einer Anhäufung von innerfranzösischen Aufständen in der Zeit von 1648 bis 1653) gemacht worden waren, jetzt getilgt wurden; auch Scheinämter ohne wirkliche Aufgabenbereiche, die allein zur Kreditbeschaffung verkauft worden waren, wurden unter Colbert zurückerworben. Je produktiver die eigene Ökonomie, desto höher die Steuererträge – von diesem fiskalistischen Standpunkt aus betrieb Colbert eine Wirtschaftspolitik, die nach ihm „Colbertismus“ genannt wurde und sich mit ihren Grundsätzen in den meisten fürstlichen Staaten durchsetzte. Diese Prinzipien waren nicht neu, wurden unter Colbert jedoch konsequenter, theoretisch reflektierter und auf breiterer Basis durchgesetzt als zuvor.
Manufakturen für Luxuswaren sollen das Edelmetall im Land halten Das Hauptziel der staatlichen Wirtschaftslenkung bestand darin, möglichst viel Edelmetall ins Land zu ziehen und so wenig wie möglich davon wieder abfließen zu lassen. Zu diesem Zweck wurden Manufakturen vor allem für Luxusgüter wie teure Textilien und Seidenstoffe gegründet, die die einheimische Oberschicht mit einheimischen Produkten bedienen und zudem Käufer aus dem Ausland anziehen sollten. Zum selben Zweck wurde die Einfuhr solcher Güter aus dem Ausland mit hohen Zöllen erschwert – Colberts Wirtschaftspolitik war letztlich Machtpolitik mit anderen Mitteln. Für die bessere Vermarktung der Manufakturwaren mussten überdies die Verkehrswege verbessert werden. Da Transporte zu Wasser bedeutend billiger waren als zu Lande, begann der contrôleur des finances damit, Frankreich mit einem Netz von Kanälen zu überziehen. Wie nie zuvor intervenierte der Staat in die Wirtschaft; im Zusammenspiel mit privilegierten Firmen gründete er Außenhandelsposten in den Kolonien und drängte die Stützpunkte der Konkurrenz zurück. Diese konzertierten Aktionen zur Förderung einer aktiven Handelsbilanz und höherer Steuererträge zeitigten anfangs große Erfolge, die sich in – zumindest auf dem Papier – ausgeglichenen Staatshaushalten niederschlugen. Ein nicht unwesentlicher Grund war darüber hinaus die Agrarkonjunktur, die sich nach dramatischen Engpässen während der FrondeJahre mittelfristig verbesserte, um im letzten Viertel
Unter der Herrschaft Ludwigs XIV. wurde die sogenannte Kopfsteuer eingeführt – jeder Steuerpflichtige musste danach einen festgelegten Betrag zahlen (Stich von 1709).
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des Jahrhunderts dann wieder zu schwächeln und schließlich in manchen Jahren regelrecht einzubrechen. Überhaupt lag hier, auf dem Land, die große Schwachstelle des Colbert’schen Systems, für das Wohlstand ganz überwiegend intensivierter Konsum gewerblich gefertigter Güter bedeutete. Aus der Sicht der finanzkräftigen Eliten betrachtet, war diese Wirtschaftsförderung auch durchaus folgerichtig. Doch für mehr als neun Zehntel der Bevölkerung, die auf dem Land lebten, war diese Wirtschaftspolitik eine einzige Katastrophe und nicht zuletzt ein ständiger Verrat an einer gottgewollten Ökonomie, die ihre Strategien auf das ungefährdete Überleben der Armen richten sollte, anstatt einen parasitären Hof in Luxus schwelgen zu lassen.
Nur in den großen Städten reicht das Brot auch für die Armen Im Frankreich Ludwigs XIV. gab es privilegierte und schutzlose Arme; die Ersteren wohnten in den großen Städten, die Letzteren überall sonst. So war für die Metropole Paris ein Brotversorgungssystem ersonnen worden, das auf dem bevorrechtigten Aufkauf von Weizen in der gesamten Île de France und darüber hinaus basierte und in schlechten Jahren zu einem regelrechten Kahlschlag in den Anbaugebieten führte. So hielten es auch die meisten anderen Großstädte Europas, vor deren Toren sich in schlechten Erntejahren die ausgemergelte Landbevölkerung versammelte, um Einlass zu erlangen und so dem sicheren Hungertod zu entgehen. Verschärft wurden die seit 1670 im Durchschnitt alle zehn Jahre hereinbrechenden Versorgungskrisen durch die starren Reglementierungen, die Getreidehandel nicht nur mit dem Ausland, sondern auch von Provinz zu Provinz, ja von Gemeinde zu Gemeinde genehmigungspflichtig machten und in Notzeiten de facto unterbanden. Colbert erkannte die Fehler dieses Systems wohl, doch blieben die Widerstände, die sich einem flexibleren Binnenmarkt für Getreide entgegenstellten, bis 1789 unüberwindlich. Insgesamt wurden so die Interessen und Ressourcen der Landwirtschaft zugunsten der gewerblichen Produktion unter Colbert stiefmütterlich behandelt – mit desaströsen wirtschaftlichen und demographischen Folgen, als seit den 1690er Jahren zur systematischen Vernachlässigung dieses Sektors die Auswirkungen der Kriegsökonomie und extreme Klimaverschlechterungen hinzukamen.
Die staatlichen Manufakturen, die unter der Federführung von Finanzminister Colbert entstanden, sollten helfen, die öffentlichen Einnahmen zu verbessern. Dieser Gobelin zeigt Ludwig XIV. beim Besuch der königlichen Gobelin-Manufaktur in Paris am 15. Oktober 1667.
Die schmale ländliche Oberschicht wohlhabender Bauern, die Überschüsse für den Markt erwirtschaftete, überstand diese Krisen nicht nur schadlos, sondern profitierte davon sogar durch die stark gestiegenen Preise. Die dörfliche Mittelschicht, die im Wesentlichen für den Eigenbedarf produzierte und nur bei guten Ernteerträgen Überschüsse zu Geld machen konnte, verarmte hingegen rapide. Noch düsterer sah es für die zwei Drittel der ländlichen Bevölkerung aus, die auch in normalen Jahren auf Zusatzverdienste durch bezahlte Nebentätigkeiten angewiesen waren; sie konnten sich nur noch durch Bettelei und Vagabundieren über Wasser halten.
57 Nur in den großen Städten reicht das Brot auch für die Armen
Kirche, Adel, reiche Städter – von der Steuer weitgehend verschont
Provinz zu Provinz unterschiedlich und im Norden generell größer als im Süden. Adliger Status war also bares Geld wert. Dementsprechend war es ein lohnendes Unterfangen, adligen Rang durch die Nachahmung adligen Lebensstils vorzutäuschen. Viele reiche Bürger folgten diesem Modell dadurch, dass sie repräsentativen Landbesitz inklusive Schloss erwarben und „adlig lebten“, das heißt: ihr ursprüngliches Gewerbe aufgaben und ihren aufwendigen Lebensstil von Abgaben und Grundrente bestritten. Auf diese Weise war die Familie des großen Philosophen Michel de Montaigne (1533 –1592), die im Salzfischhandel Reichtümer erworben hatte, zu Beginn des 16. Jahrhunderts adlig geworden. Unter der strengen Aufsicht Colberts aber hatte es mit dieser schleichenden Selbstnobilitierung ein Ende. Heerscharen von Agenten schwärmten in die Provinzen aus und verlangten Einsicht in Dokumente, die adligen Rang schlüssig bewiesen. Natürlich waren die wirklich großen Geschlechter wie die La Rochefoucauld oder Montmorency über solche Nachprüfungen erhaben. Diese bedeuteten jedoch nicht nur das Privilegien-Aus für die vielen
Zum finanziellen Gesamtaufkommen Frankreichs trug der königliche Eigenbesitz unter Ludwig XIV. nur noch zwischen fünf und sieben Prozent bei. Der Löwenanteil musste also aus Zöllen, Abgaben und Steuern stammen, deren Legitimität in den Augen der Bevölkerung mehr als zweifelhaft war. Zudem stand einer effizienten Besteuerung Frankreichs die Ständegesellschaft mit ihren vielfältig abgestuften Privilegien entgegen. Der katholische Klerus, der in manchen Provinzen bis zu 20 Prozent des Grund und Bodens besaß, zahlte ohnehin keine regulären Abgaben, sondern handelte mit Die Landwirtschaft wurde im auf geder Krone ein sogenanntes don werbliche Produktion ausgerichteten gratuit, wörtlich: ein freiwilliges Wirtschaftssystem Frankreichs in den Geschenk, aus, dessen Betrag 1690er Jahren stark vernachlässigt – weit unter dem regulären Steuerein großer Teil der dörflichen Mittelwert seiner Güter lag. schicht verarmte, die Zahl der BettAuch die Steuerprivilegien ler nahm zu (Gemälde von Sébastien des französischen Adels waren Bourdon). sprichwörtlich, wenn auch von
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falschen oder dubiosen Adelssippen, sondern auch für nicht wenige alteingesessene aristokratische Familien auf dem Land. Ihr Rang war jahrhundertelang selbstverständlich und spiegelte sich in der Anerkennung durch die Standesgenossen wider, viel seltener jedoch in förmlichen Urkunden, auf die jetzt ein regelrechter Run einsetzte, nicht immer mit dem gewünschten Erfolg. Steuervorteile genossen auch die großbürgerlichen Oberschichten der Städte, so dass die Last der Abgaben stetig nach unten in der Gesellschaft durchgereicht wurde. Dort traf sie mit voller Wucht auf die ländliche Bevölkerung, die kollektiv für den Einzug der dem Dorf auferlegten Pauschalsumme haftete. Da es keine Kataster gab, die den Landbesitz korrekt verzeichneten, und auch keine sicheren Aufstellungen über Einkommen und Vermögenswerte, geschah die Umlage äußerst willkürlich, oft nach Mutmaßung und Gerücht. Wohlhabendere Bauern waren daher gezwungen, ihre tatsächlichen Besitzverhältnisse zu verschleiern, wollten sie nicht das Risiko eingehen, völlig zu verarmen. Zudem war die allgemeine Grundsteuer, die taille, nicht die einzige Abgabe, die die Landbevölkerung zu entrichten hatte. Hinzu kamen die an den adligen Grundherren zu entrichtenden Feudalabgaben sowie der Zehnte, den die Kirche erhob – um nur die wichtigsten Belastungen aufzuführen. Alle zusammen genommen, zehrten diese einen Großteil des bäuerlichen Einkommens auf und erzeugten dort umso größeren Hass, je weniger an adligen und staatlichen Gegenleistungen aufs Land zurückfloss. Als kaum weniger beschwerlich wurden die indirekten Steuern, die gabelles und aides, empfunden, die auf so unverzichtbare Verbrauchsgüter wie Salz, Wein und Fleisch erhoben wurden. Diese wurden zwar für einige Teile des Königreichs, doch nicht insgesamt vereinheitlicht, so dass sich zwischen manchen Provinzen enorme Preisunterschiede auftaten, die Unzufriedenheit auf der stärker besteuerten Seite schürten und intensiven Schmuggel begünstigten. Das Spektrum der Belastung reichte bei der Salzsteuer von vollständiger Befreiung in einigen normannischen Regionen bis zu einem Höchstsatz in den Provinzen der „großen Steuer“, der um das Zehnfache über der Abgabe in günstiger gestellten Gebieten lag. Zu diesen älteren Abgaben kam seit 1695 die sogenannte Kopfsteuer, capitation, die außer dem König alle, selbst sein Bruder, entrichten sollten, doch
Die meisten Bauern (Gemälde von Louis Le Nain, 1641) produzierten für den Eigenbedarf. Nur dann, wenn sie Überschüsse produzierten, konnten sie diese zu Geld machen.
Adlige wie François VI. de La Rochefoucauld (1613 – 1680) genossen traditionell Steuerprivilegien. Dennoch lebte der Offizier und spätere Literat, der auch an der „Fronde“ gegen den König teilnahm, in eher prekären Verhältnissen (Gemälde von Théodore Chasseriau, 1836).
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konnte sich auch hier der Klerus mit einer Pauschalzahlung Abbildung zeigt die Erhebung der bedeutend günstiger stellen. Sie „Gabelle“ (Salzsteuer) im Jahr 1773 wurde ebenfalls nicht auf der in Nantes. Grundlage harter ökonomischer Fakten wie Besitz und Einkommen, sondern nach „Augenschein“ kalkuliert und daher von breiten Schichten als unrechtmäßig abgelehnt. Während der akuten militärischen Überlebenskämpfe des Spanischen Erbfolgekriegs wurde zusätzlich eine Steuer von zehn Prozent auf alle Erträge, sei es aus Grundbesitz, gewerblicher Tätigkeit, Renten oder Amtssporteln (amtliche Gebühren) erhoben, die nicht weniger Unwillen erregte und ebenfalls im Ruch der Illegitimität stand. Im Vergleich zu den astronomischen Kriegskosten waren das alles jedoch nur Tropfen auf heiße Steine. Um sich militärisch über Wasser zu halten, griff die königliche Finanzverwaltung seit 1710 auf die verpöntesten Methoden der Geldbeschaffung überhaupt zurück – es blieb ihr auch gar nichts anderes übrig. Die letzten französischen Armeen wurden überwiegend durch Kurzzeitkredite finanziert, für die Wucherzinsen zu zahlen waren. Dazu verkaufte die Krone Adelstitel, die sie sich manchmal sogar mehrfach bezahlen ließ, und weitere Privilegien, die langfristig die regulären Steuereinnahmen weiter vermindern mussten. Selbst vor Münzverschlechterungen, der Ultima Ratio jedes Staates am Rand des Bankrotts, schreckte
man am Ende nicht mehr zurück. Als der alte König am 1. September 1715 für immer die Augen schloss, glaubte er seine Ehre gewahrt zu haben, doch war sein Ruf bei der Mehrheit seiner Untertanen ruiniert. Kritik hatte er sich sogar von seinen eigenen Klerikern anhören müssen. So hielt ihm François de Fénelon, der hochgebildete Erzbischof von Cambrai, in einem berühmten Brief von 1693/94 vor, seine wichtigsten Pflichten als „Vater seines Volkes“ vernachlässigt und dessen Schutz seinem militärischen Ruhm geopfert zu haben. Für den Philosophen Voltaire, der im Krisenjahr 1694 geboren wurde und 84 Jahre später, elf Jahre vor der Revolution, starb, fiel die Bilanz des „Jahrhunderts Ludwigs XIV.“ ebenfalls stark durchmischt, doch unter dem Strich positiv aus: Kein anderer Herrscher, so Voltaire, habe so viel Geld in Kunst und Kultur investiert, und zwar zu seinem eigenen Ruhm. Doch damit brachte er nach Voltaires Ansicht, durchaus unbeabsichtigt, nach dem Athen des Perikles, dem Rom des Augustus und dem Florenz der Medici einen neuen Höchststand der Zivilisation hervor, der das Zeitalter der Aufklärung und damit neue geistige und politische Welten überhaupt erst möglich machte.
Indirekte Steuern wurden auf wichtige Verbrauchsgüter erhoben. Die
Prof. Dr. Volker Reinhardt
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Ludwigs Kriege
Auf Angriff eingestellt Martin Wrede
Die Steigerung seiner Reputation, das Durchsetzen französischer Ansprüche, das Zurückdrängen seiner Kontrahenten: Ludwig XIV. fand zahlreiche Anlässe, um Krieg zu führen. Die Jahrzehnte der Waffengänge führten zwar zur Stärkung der französischen Stellung in Europa, erschöpften aber die Ressourcen des Landes. Denn friedlich waren etwa die „Ludwig XIV. als Kriegsherr“: So lautet der Titel des Gemäldes, das Jahre zwischen dem Ende des HolFrançois Verdier und Frans van der ländischen und dem Ausbruch des Meulen gemeinsam schufen. Ein Pfälzer Krieges auch in ihrer GeKriegsherr war Ludwig in der Tat – samtheit keineswegs gewesen, we34 seiner 54 Jahre auf dem Thron der im Innern Frankreichs noch standen im Zeichen bewaffneter gegenüber den Nachbarn: Es waAuseinandersetzungen. ren die Jahre einerseits der immer drakonischer werdenden Protestantenverfolgung, die vor dem Einsatz militärischer Gewalt nicht zurückschreckte, andererseits der juristisch getarnten gewaltsamen Annexionen etlicher kleinerer Reichsterritorien am Oberrhein, ebender sogenannten Reunionen. Der kurze, von Spanien erklärte Krieg von 1683/84 stellte nur einen Ausschnitt dieses Geschehens dar. Im Übrigen waren die Friedensperioden nach 1668 in der allgemeinen Wahrnehmung nichts anderes als Vorbereitungs-
Die Regierung Ludwigs XIV. war kriegerisch. Fünf miteinander verknüpfte Waffengänge drückten ihr einen eisernen Stempel auf: der sogenannte Devolutionskrieg in den Jahren 1667 und 1668, der Holländische Krieg von 1672 bis 1679, der oft übersehene Reunionskrieg der Jahre 1683 und 1684, dann der Pfälzer Krieg, der, je nach Perspektive, auch andere Namen trägt, von 1688 bis 1697. Schließlich die wichtigste und längste Auseinandersetzung: der Spanische Erbfolgekrieg von 1701 bis 1714. Die Gegner waren, in unterschiedlichen Kombinationen, Spanien, die Niederlande, England, der Kaiser und das römisch-deutsche Reich als Ganzes. Auch skandinavische oder italienische Staaten konnten jeweils dazugehören. Zählt man von der Regierungsübernahme 1661 an, waren also nur 20 von 54 Jahren ohne Krieg – oder zumindest ohne „offiziellen“, offenen und erklärten Krieg.
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phasen auf den nächsten, größeren, möglicherweise dann entscheidenden Waffengang.
mit Spanien die Oberhand gewonnen. Zunächst der Westfälische Friede 1648, sodann der Pyrenäenfrieden von 1659 hatten die französischen Grenzen signifikant erweitert. Vor allem aber hatten sie gezeigt, dass nicht mehr Spanien die militärische und politische Vormacht Europas war, sondern dass nunmehr Frankreich diese Stelle einnahm. Die königliche Armee war in jenen Jahren zeitweise auf die zuvor nie gekannte Stärke von 150 000 Mann angewachsen. Und anders als in früheren Zeiten war sie nun tatsächlich eine Armee allein des Königs: direkt und nur ihm verpflichtet, befreit vom Einfluss hochadliger Größen, die ihre Gefolgsleute (nach ihrem Belieben) dem König zur Verfügung stellten – oder auch nicht. Auch der Blick auf den König, auf Ludwig XIV. selbst war zutreffend: Im Alter von fünf Jahren zur Regierung gelangt, zunächst unter der Vormundschaft seiner Mutter und dem Einfluss des Kardinals Mazarin stehend, hatte er ein hohes Selbstgefühl entwickelt, durchdrungen von seinem Rang und dem seines Hauses bzw. der französischen Krone. Krisenerfahrung spielte auch mit hinein: Die siegreiche Bewältigung des Bürgerkriegs, der sogenannten Fronde (1648 – 1653), vor allem aber der Sieg über Spanien hatten dem Monarchen die Notwendigkeit einer festen Regierungsführung vermittelt, ihm zugleich aber auch deren Möglichkeiten aufgezeigt. In dieser Hinsicht sollte er sich als gelehriger Schüler des Kardinals und Premierministers Jules Mazarin erweisen, in anderer Hinsicht nicht. Mazarin hatte sowohl 1648 als auch 1659 bei den jeweiligen Friedensschlüssen eine Strategie relativer Mäßigung verfolgt, der es darum ging, zwar Zuwachs an Land und Macht zu erzielen, darüber aber nicht den Einfluss auf jene zu verlieren, die sich über allzu deutliche französische Triumphe vielleicht hätten beunruhigen können – etwa die Niederlande oder die mit Frankreich verbundenen Fürsten des römisch-deutschen Reiches. 1661 starb der Kardinal, und Ludwig ernannte keinen neuen Ersten Minister, sondern erklärte seinen Willen, fortan selbst zu regieren, das heißt die obersten Ratsgremien selbst zu leiten, die Fachminister selbst anzuhören und anzuweisen. Als ein solcher selbstregierender Fürst sollte er dann, wie de Witt richtig vorhergesagt hatte, sehr viel stärker als jeder Erste Minister oder aber als die Vertreter eines republikanischen Staatswesens die Verpflichtung verspüren, sich in der Welt einen Namen zu machen, seiner Krone Respekt und seinen (mehr oder weniger) gerechten Forderungen Nach-
Wege zum Ruhm: Der „Devolutionskrieg“ steht am Anfang einer Kette von Konflikten Der niederländische Staatsmann Johan de Witt (1625 − 1672) sah 1664 schwere Zeiten voraus, für sein Land ebenso wie für Europa. Und die Ursache der Schwierigkeiten schien ihm in Frankreich zu liegen oder, genauer gesagt, beim König von Frankreich. Das Land habe nun, so erklärte de Witt, einen jungen, 26-jährigen Herrscher, an Körper wie Geist gesund und kraftvoll: der Autorität habe und den Willen, sie geltend zu machen; der ein Land regiere, das von einer kriegerischen Nation bewohnt sei und das große Reichtümer besitze. Dieser König, so de Witt, müsste schon eine ganz ungewöhnliche, geradezu ans Wunderbare grenzende Mäßigung zeigen, wenn er jenen Ehrgeiz von sich weisen würde, der doch jedem König eigen sei, Im Pyrenäenfrieden beendeten die nämlich den, die Grenzen seiner Rivalen Frankreich und Spanien 1659 Länder zu erweitern. den Krieg, den sie seit 1635 gegenDie Analyse traf zu: Frankeinander geführt hatten. Die Allegoreich war in der Mitte der 1660er rie auf diesen Friedensschluss von Jahre in guter Verfassung. Es Claude Deruet zeigt Ludwig XIV. auf hatte den Dreißigjährigen Krieg einem Schimmel; neben ihm seine siegreich bestritten, vor allem Mutter Anna von Österreich und sein aber in der gleichfalls jahrzehnBruder Philipp von Orléans. telangen Auseinandersetzung
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druck zu verschaffen – dies alles, wie sich verstand, im Zweifel durch die Gewalt der Waffen. Zugrunde lag dieser besonderen monarchischen „Bellizität“, das heißt der Bereitschaft eines Fürsten, in den Krieg zu ziehen (oder vielmehr der bereitwilligen Annahme, dass der Griff zu den Waffen nötig sei), natürlich das zeitgenössische Herrscherbild. Der König hatte von alters her zwei grundlegende Funktionen: Recht zu sprechen (und damit die Ordnung im Innern aufrechtzuerhalten) sowie Schutz zu gewähren (und also äußere Feinde abzuwehren). Wehrhaftigkeit war dem Herrscheramt eingeschrieben. Hinzu traten nun die Gebote der Ehre bzw. der Kampf um Reputation. Wollte er seinem Amt und dem gern angeführten Vorbild der Vorfahren gerecht werden, hatte der Monarch seine Stellung in der Welt – das heißt seinen Platz im andauernden Konkurrenzkampf der europäischen Fürstengesellschaft – zu wahren und nach Möglichkeit zu mehren. Schwäche gestattete dies eigentlich nicht, Nachlassen wurde mit Missachtung gestraft. Verzichtete ein Fürst darauf, „gerechte“ Ansprüche auf Land, Rang oder Titel zu vertreten und dies eben im Zweifel auch mit den Waffen, so ließ er damit Schwäche erkennen und fügte seiner Reputation Schaden zu. Er verriet dadurch Vorfahren wie Nachkommen. Die von de Witt angesprochene „Mäßigung“ konnte sich also als eine sehr gefährliche Eigenschaft erweisen. Entsprechend selten kam sie vor. Außerdem galt für den Fürsten das Gleiche wie für die europäische Adelsgesellschaft in ihrer Gesamtheit: Man bewies sich in der Welt als Individuum vor allem in den Waffen. Turniere mochten aus der Mode gekommen sein, Duelle waren es nicht, und Kriegsteilnahme war es schon gar nicht. Es galt für den Einzelnen, kriegerische Fähigkeiten zu zeigen, vor allem aber Mut und Todesverachtung. Tapferkeit, gar Verwegenheit und Entschlusskraft brachten Ruhm ein – gloire –, vorsichtige Manövrierkunst nicht unbedingt. Verhandlungsgeschick rangierte ohnehin in einer anderen Kategorie. Ruhm aber war die Währung, nach der sich der Wert eines Mannes bemaß, wenn er denn „von Stand“ war, und also erst recht der eines Fürsten. In einer solchen Perspektive also war der Krieg tatsächlich nicht so sehr das Recht, sondern er war die Pflicht der Könige, wie Ludwig XIV. selbst dies in seinen an seinen Sohn und Nachfolger gerichteten „Memoiren“ erklärte. Für Ludwig, für Frankreich und für Europa kam die erste Probe aufs kriegerische Exempel in der Mitte der 1660er Jahre. 1665 starb Philipp IV. von Spanien,
Ludwig XIV. strebte nach Ruhm. der langjährige Kriegsgegner LudDafür war er bereit, die Stärke wigs und seit dem Pyrenäenfrieden und Wehrhaftigkeit Frankreichs von 1659 sein Schwiegervater. Er immer wieder mit Waffengewalt hinterließ ein geschwächtes Reich unter Beweis zu stellen (Porträt und einen minderjährigen männvon Hyacinthe Rigaud; der Hinterlichen Thronfolger von schlechgrund mit Schlachtgetümmel ter Gesundheit. Direkte Erbansprüstammt von Charles Parrocel). che aber resultierten hieraus für die französische Krone noch nicht, auch wenn Ludwig nicht nur Schwiegersohn, sondern auch Neffe des verstorbenen Königs gewesen, auch wenn seine Ehefrau, Maria Teresa, das älteste von dessen überlebenden Kindern war. Männliche
63 Wege zum Ruhm: Der „Devolutionskrieg“ steht am Anfang einer Kette von Konflikten
Edinburgh
Europa im Zeitalter Ludwigs XIV.
KGR. SCHOTTLAND Nordsee
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REPUBLIK DER VEREINIGTEN NIEDERLANDE Texel
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Kgr. Frankreich 1648 Erwerbungen in den 1. bis 3. Eroberungskriegen und der Reunionspolitik (1667–1697) Friede von Aachen; Friede von Nimwegen; Friede von Rijswijk Lothringen und Bar 1670 –1697 französisch besetzt Grenze des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1648
Florenz To s k a n a
KIRCHENSTAAT Adria
Schloss Orte von Friedensschlüssen
Rom
Schlachten
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kam vor weiblicher Thronfolge. In manchen Monarchien, so der franSpanien um Teile der Spanischen zösischen, war die Letztere überNiederlande, die der französische haupt unbekannt. König für sich beanspruchte. LudFreilich war eine komplexe, aus wigs Truppen belagerten und ervöllig verschiedenen Teilen zusammengesetzte Monarchie wie oberten im Juni 1667 die Festung die spanische weder politisch noch Tournai in Flandern (zeitgenössirechtlich ein einziger Block. Für sches Gemälde). die spanische Krone galten eigene Regeln, für die italienischen Besitzungen ebenso und für die südlichen Niederlande – immer noch ein wichtiger Bestandteil der Monarchie – natürlich nicht minder, zumal auch diese wiederum aus mehreren Einzelherrschaften zusammengesetzt waren. Im wichtigsten dieser Territorien, dem Herzogtum Brabant, entdeckten französische Kronjuristen eine private Erbrechtsklausel, die sogenannte Devolution, wonach die ältere Tochter eines Erblassers gegenüber ihren jüngeren Brüdern begünstigt wurde. Hierauf gründete Ludwig im Namen seiner Frau territoriale Ansprüche und Forderungen. Der 1659 ausgesprochene Erbverzicht sei im Übrigen ungültig, da die als Gegenleistung hierfür aufzufassende Mitgift nie gezahlt worden war.
Das Letztere war zweifellos zutreffend. Das Erstere allerdings, die erbrechtliche Argumentation, war zweifelhaft. Ludwig, so ließ sich entgegnen, erhob seine Forderungen nämlich nicht als Privatmann, sondern als Souverän. Er wollte Brabanter Land nicht als Herr von Beersel, Dilbeek oder Kampenhout besitzen – als Beispiele für beliebige Adelsgüter –, sondern als König von Frankreich. Und also wollte er das beanspruchte Territorium mit Frankreich verbinden. Ein Brabanter Privatrecht konnte dafür kaum die Grundlage sein. Rein juristisch war die Frage unlösbar, doch da lag auch gar nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend war, dass Ludwig XIV. meinte, es seiner Ehre zu schulden, diese Ansprüche zu vertreten, und dass er eine Gelegenheit sah, mit einem siegreichen Waffengang persönlich Ruhm zu erwerben. Denn dass das militärisch wie politisch geschwächte, finanziell ausgeblutete Spanien zu effektiver Gegenwehr nicht in der Lage sein würde, war allen Beteiligten klar. Eine Auffassung, die sich natürlich auf den französischen Entschluss zum Krieg auswirkte. Nur scheinbar im Gegensatz dazu stand die in ihrer Selbsteinschätzung defensive Motivation der jetzt einsetzenden französischen Expansions-
Im sogenannten Devolutionskrieg 1667/68 rangen Frankreich und
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politik. Frankreich hatte sich seit den Tagen Karls V. von Spanien und dem Haus Habsburg eingekreist gesehen: Nord- und Ostfrankreich hatten mehr als einmal spanischen Invasionen offengestanden. Wiederholungen wollte man ausschließen, ein für allemal. Und man wusste, dass man es jetzt konnte. Es ist entbehrlich, den militärischen Fortgang des Konflikts im Detail zu verfolgen. Im Sommer 1667 rückten französische Truppen, der König mit ihnen, in die Spanischen Niederlande und die zu Spanien gehörende Freigrafschaft Burgund (Franche-Comté) ein. Zu Feldschlachten kam es nicht. Frankreich verfügte über eine Armee von 130 000 Mann, Spanien hatte dem nichts entgegenzusetzen. Die spanischen Kräfte reichten lediglich dazu aus, Festungen und Städte im Land notdürftig zu verteidigen. Doch auch in der Belagerungskunst war die französische Armee überlegen. Zahlreiche kleinere Plätze wurden rasch zur Übergabe gezwungen, ebenso die große Festung Lille. Es schien eine Frage der Zeit zu sein, wann Brüssel und der Rest des Landes folgen würden. Dass dies nicht geschah, hatte politische Gründe, die weit in die Zukunft wiesen. Denn das französische Vorgehen, die Leichtigkeit der französischen Erfolge bzw. der absehbare Zusammenbruch der spanischen Position riefen die nördlichen Nachbarn auf den Plan. Die Republik der Niederlande war
zwar ein bis dahin traditioneller Partner der französischen Krone gewesen, doch rührte diese Partnerschaft aus dem gemeinsamen Gegensatz zu Spanien. Schon 1648 hatte die Republik mit Spanien Frieden geschlossen, das Bündnis mit Frankreich verlassen, weil eine geschwächte spanische Krone als Nachbar mehr Sicherheit verbürgte als die direkte Nachbarschaft mit der aufsteigenden, ehrgeizigen Krone Frankreich. Man wollte, wie ein zeitgenössisches Sprichwort sagte, Frankreich zwar als Freund, nicht aber als Nachbarn („Gallus amicus, sed non vicinus“). 1667 trat das Problem mit neuer Aktualität hervor, und die Führung der Republik reagierte umgehend. Ein Seekrieg mit England wurde beendet, das Bündnis mit dem ehemaligen Gegner gesucht und ebenso das mit Schweden. Die so formierte Dreierallianz (TripleAlliance) wollte den Konflikt durch Vermittlung beenden: Die Spanier sollten den Franzosen territoriale Zugeständnisse machen, FrankDie regulären Truppen der Spanier reich von weiteren Forderungen beschränkten sich während des Deabsehen. Andernfalls würden die volutionskriegs darauf, die FestunVerbündeten zugunsten Spaniens gen zu verteidigen. Größere Feldaktiv in den Konflikt eingreifen. schlachten blieben aus. Das Gemälde Auf einen längeren Krieg gezeigt Ludwig XIV. während der Begen weitere Gegner war Ludlagerung von Lille. wig XIV. zu diesem Zeitpunkt
67 Wege zum Ruhm: Der „Devolutionskrieg“ steht am Anfang einer Kette von Konflikten
hundert nur die französische Unterstützung in ihrem Aufstand gegen Spanien das Überleben gesichert hatte. Schon 1648 war ihr Verhalten undankbar gewesen: der Abschluss des Sonderfriedens mit dem spanischen König, der Frankreich allein im Kampf zurückließ. Nun war es beleidigend geworden. Die Kaufmannsrepublik, die in der Weltordnung weit unterhalb des französischen Thrones angesiedelt war, hatte sich erdreistet, ihm, Ludwig, dem ersten Monarchen der Christenheit, in den Arm zu fallen, seine gerechten Forderungen zu hintertreiben und sich dessen auch noch öffentlich zu rühmen. Hier die Ordnung wiederherzustellen, den Rang des Königs zu sichern und Wiederholungen vorzubeugen schien dringend geboten; auch wirtschaftliche, selbst religiöse Gründe ließen sich für einen weiteren Waffengang im Norden geltend machen. Dass er kommen würde, stand früh fest. Die vier Jahre zwischen dem Frieden von Aachen und dem Ausbruch des Holländischen Krieges dienten daher der Vorbereitung. Die Armee musste vergrößert, finanzielle Ressourcen mussten mobilisiert und bereitgestellt werden. Auch Verbündete galt es zu gewinnen. Das alles gelang recht gut. Der vom Finanzminister Jean-Baptiste Colbert verwaltete Staatsschatz füllte sich zumindest so weit, dass ein neuerlicher Krieg möglich erschien. Allerdings war die finanzielle Lage der Krone schon in diesen Jahren alles andere als stabil. Die – verglichen mit ihren Konkurrenten – hochgradig professionelle französische Diplomatie stellte Bündnisbeziehungen zu mehreren deutschen Reichsfürsten her: Köln, Münster, Hannover und Bayern, wobei die beiden Letzteren keine aktive Waffenhilfe versprachen, sondern nur politische Unterstützung. Finanzen und Diplomatie standen im Übrigen in enger Wechselbeziehung, da die französischen Diplomaten die deutschen Fürsten nicht zuletzt mit der Aussicht auf Hilfsgelder (Subsidien) für die Sache ihres Königs gewannen. Das Gleiche galt auch für zwei nicht-deutsche Fürsten, nämlich für die Könige von England und Schweden. Beide waren zwar noch 1668 an der Seite der Niederländer gegen Frankreich aufgetreten, doch Perspektivenwechsel und die Aussicht auf Vorteile zu Lasten der Republik ließen das Bündnis mit Frankreich attraktiver erscheinen. Französische Finanzhilfen taten ein Übriges. Solch geringe Verlässlichkeit von Bündnisbeziehungen wurde zum Strukturmerkmal der europäischen Politik zwischen Westfälischem Frieden und Französischer Revolution.
nicht vorbereitet. Er beugte sich daher der Vermittlung bzw. zösischen Truppen im Juni 1672 den der – wie er es sah – Erpressung. Rhein (Gemälde von Joseph ParroDer Friede von Aachen im Frühjahr 1668 sprach Frankreich einicel). Zusammen mit mehreren Verge nicht unwichtige Grenzstädbündeten (vor allem England und te zu – etwa das schon genannte Schweden) versuchte Ludwig XIV., Lille –, bewahrte die Spanischen die Republik der Niederlande in die Niederlande aber in ihrer SubsKnie zu zwingen. tanz. Bei dem Ergebnis sollte es dann freilich nicht ohne weiteres bleiben. Denn für den Rest des 17. Jahrhunderts und für den Anfang des 18. mutierte fortan die Republik der Niederlande zum neuen „Erbfeind“ der Krone Frankreichs – bis dahin war es Spanien gewesen. Fortschritte, weitere Erwerbungen über den Aachener Frieden hinaus wurden ein selbstverständliches Ziel. Während des Holländischen Kriegs (1672–1679) überquerten die fran-
Republik der Niederlande wird zum neuen „Erbfeind“ Frankreichs Ludwig XIV. sah sich 1668 von den Niederländern herausgefordert und beleidigt. Er betrachtete sie als frühere Klienten, ehemals abhängige Verbündete seiner Krone, denen im späten 16. und frühen 17. Jahr-
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Die Armee, nach dem Friedensschluss von 1668 vorübergehend verkleinert, fand sich bald wieder auf den Kriegsstand von 120 000 Mann gebracht; 1672, im Jahr des neuerlichen Kriegsausbruchs, sollten es an die 150 000 sein, 1674 über 200 000. Vor allem aber gab es zur See eine gewaltige Aufrüstung. Die französische Kriegsmarine wurde zur größten in Europa. Seit 1670 verfügte sie über mehr als 100 große, mit mehreren Geschützdecks versehene Linienschiffe. England wie auch die Niederlande fielen deutlich dahinter zurück. Für eine See- und Handelsmacht, wie die niederländische Republik eine war, musste das höchst bedrohlich sein. Der entscheidende Schlag sollte allerdings über Land geführt werden, um den Gegner sozusagen unmittelbar und ins Mark zu treffen: Im Mai 1672 durchquerten drei französische Armeen die Spanischen Niederlande, verschiedene Reichsterritorien und rückten in das Gebiet der Republik ein. Die Erfolge waren zunächst umfassend. Das Szenario des Devolutionskrieges schien sich zu wiederholen, denn das niederländische Militär war schwach, unzulänglich gerüstet und schlecht geführt. Etliche Städte und Festungen wurden in kurzer Zeit zur Übergabe gezwungen. Die Franzosen überquer-
In der Schlacht bei Seneffe am ten den Rhein, unter symboli11. August 1674 stießen französische scher Führung des Königs – ein Truppen auf ein Heer aus kaiserliEreignis („Le passage du Rhin“), chen und spanischen Kontingenten. das zu seinem vielleicht bekannDas Treffen ging unentschieden aus. testen Ruhmestitel werden sollDas Heilige Römische Reich und te. Die Armee rückte ins Herz des Spanien hatten auf Seiten der ReLandes vor und nahm Utrecht. publik der Niederlande in den KonAmsterdam, das wirtschaftliche flikt eingegriffen (Holzstich, 19. Jahrund politische Zentrum, schien hundert). in unmittelbarer Reichweite zu liegen, die Republik stand vor dem Kollaps. So weit kam es dann allerdings nicht. Dass die Niederlande sich in diesem Katastrophenjahr schließlich doch halten konnten, verdankten sie im Wesentlichen vier Faktoren: Zum einen gelang es dem bis dahin von der Regierung ausgeschlossenen Prinzen von Oranien, in einem Staatsstreich die Führung von Regierung und Armee zu übernehmen und diese Position dann auch mit großer Entschlusskraft auszufüllen. Daraus folgte der zweite, unmittelbar militärische Faktor. Die Niederländer öffneten im Sommer die Schleusen der Deiche, überfluteten Teile der Provinzen Holland, Brabant und Utrecht und brachten so den französischen Vormarsch zum Stehen. Zeitgleich erkämpfte die
69 Republik der Niederlande wird zum neuen „Erbfeind“ Frankreichs
niederländische Marine einen Abwehrerfolg zur See. Und hinter dieser „Wasserfront“ konnte dann ein weiterer Faktor wirken: die Amsterdamer Börse. Die Finanzwirtschaft der Republik funktionierte nämlich auch angesichts der unmittelbaren militärischen Bedrohung. Das für die Kriegführung nötige Kapital wurde dem niederländischen Staat weiterhin zur Verfügung gestellt, denn der Kredit, das heißt das Vertrauen in die Rückzahlungsfähigkeit der Republik und also in ihren Bestand, war durchaus nicht erschöpft oder gar gebrochen. Dies wiederum bot nicht nur die Grundlage für Rüstungen zu Lande und zur See, sondern bot auch Möglichkeiten
Im Frieden von Nimwegen, der den Holländischen Krieg beendete, konnte Frankreich Gebietsgewinne verzeichnen. Das Heilige Römische Reich trat unter anderem das Elsass ab (Gemälde von Charles Le Brun: Ludwig XIV. empfängt Gesandte).
Die Härte der französischen Kriegführung (der Kupferstich von Romain de Hooghe zeigt Greueltaten der Franzosen in den Niederlanden) schürte beim Verbündeten England den Verdacht, Frankreich strebe nach absoluter Macht – daher schied England bald aus der Allianz aus.
70 Auf Angriff eingestellt
für eine diplomatische Offensive: das Knüpfen neuer Bündnisse, das Motivieren neuer Partner durch Hilfsgelder. Es flossen in dieser Hinsicht also nicht nur französische Louis d’or (wörtlich: „Goldene Ludwige“, nach dem darauf geprägten Bild des Königs), sondern auch niederländische Gulden (die Goldmünzen der Republik). Und sie fanden Abnehmer nicht zuletzt in Deutschland. Zu den – wenn auch niemals ganz verlässlichen – deutschen Partnern der Republik und Gegnern Ludwigs XIV. gehörten etwa der Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg sowie die Welfenherzöge von Braunschweig-Lüneburg. Wichtiger noch wurde der Schwenk der beiden Zweige des Hauses Habsburg auf die Seite der Republik: Sowohl der Kaiser als auch der König von Spanien schlossen 1673 Bündnisse mit dem – bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges – traditionellen Gegner, den ehemaligen Rebellen, die ja auch konfessioneller Widerpart gewesen waren. Kaiser Leopold I. oder König Karl II. von Spanien hatten für die calvinistische Republik im Grunde kaum andere Empfindungen als Ludwig XIV. Nun aber ging es darum, Frankreich einzudämmen; man hatte ein gemeinsames Interesse. Im Jahr 1674 erfolgte dann die Kriegserklärung an Ludwig XIV. von Seiten des Reichstages. Noch zehn Jahre zuvor war der König nicht nur offizieller Garant der Reichsverfassungsordnung gewesen,
Zur Gegenwehr der kleinen Niedersondern auch erklärter und anlande gegen den überlegenen Nacherkannter Protektor zahlreicher barn Frankreich gehörte auch die deutscher Fürsten, die, als ErWaffe der Publizistik: Die dunkle gebnis des Dreißigjährigen KrieSeite des französischen Vorgehens ges, dem Kaiser misstrauten. Nun wurde angeprangert (Radierung von war er zum wiederum offiziellen Romain de Hooghe). „Feind des Deutschen Reiches“ geworden, das zu neuer Einigkeit fand und sich hinter dem Kaiser versammelte. Kaiser und Reich (bzw. Reichstag) erklärten Ludwig den Krieg. Deutsche Bündnispartner hatte er nicht mehr. Und auch England verließ 1674 die französische Allianz: Dem Parlament, den Eliten und der protestantisch gestimmten Öffentlichkeit war sie von jeher suspekt gewesen. Man verdächtigte den König Karl II. von England, nicht ganz ohne Grund, sie dazu nutzen zu wollen, mittels geheimer französischer Zahlungen und eventueller Truppenwerbungen seine innenpolitische Machtposition in unerlaubter Weise verstärken zu wollen, nach der „absoluten Macht“ zu streben, wie sie Ludwig XIV. in Frankreich (angeblich) besaß. Als Widerwille und Widerstand gegen diese profranzösische Orientierung der englischen Politik dann allzu deutlich zunahmen, ließ der König es auf eine Kraftprobe letztlich nicht ankommen. Er gab die kompromittierende Verbindung auf. Grundlegend für diese Wendung war natürlich die militärische Selbstbehauptung der Republik ge-
71 Republik der Niederlande wird zum neuen „Erbfeind“ Frankreichs
auch bereits zu ersten systematischen Verwüstungen, die verhindern sollten, dass dem Feind Vorräte und Quartiere in die Hände fielen. Eine militärische Entscheidung in den Kategorien Sieg oder Niederlage fand der Holländische Krieg so nicht. Frankreich konnte den einen oder anderen Schlachten- bzw. Belagerungserfolg in den Spanischen Niederlanden erzielen – Letztere gerne in Anwesenheit des Königs –, es konnte das Elsass gegen Kaiserliche und Truppen des Reiches sichern und damit klarmachen, dass die endgültige französische Besitzergreifung hier kaum mehr abwendbar sein würde. Es gab freilich auch verschiedene Niederlagen. Ins Reich und gegen die Niederlande vordringen konnten die französischen Armeen so nicht mehr. Und die französische Hilfsmacht Schweden, mobilisiert, um gegen das Reich und besonders gegen Brandenburg eine zweite Front zu eröffnen, scheiterte sogar in Gänze. Dennoch: Frankreich als einzelne Macht war in der Lage, einer vielköpfigen, allerdings auch vielgestaltigen Allianz standzuhalten. Und als beide Seiten schließlich aus finanzieller Erschöpfung heraus zu Friedensverhandlungen zusammenkamen, konnte es einen weiteren Trumpf ausspielen: seine überlegene, einen konsistenten Plan verfolgende und stets bestens informierte Diplomatie, die die gegnerische Koalition spaltete und ihre Mitglieder gegeneinander ausspielte. Der Frieden von Nimwegen (1679) wurde zum Triumph der französischen Außenpolitik und gilt mit Recht als Höhepunkt der Herrschaft und Machtposition Ludwigs XIV. Für die Gegner zahlte vor allem Spanien die Zeche. Frankreich erhielt weitere Gebiete auf Kosten der Spanischen Niederlande zugesprochen sowie eine ganze bis dahin spanische Provinz, die Freigrafschaft Burgund. Weitere nennenswerte territoriale Veränderungen gab es nicht, sogar Schweden wurde auf französischen Druck hin in seine militärisch verlorenen deutschen Besitzungen wiedereingesetzt. Nennenswert war damit vor allem, dass Frankreich und sein König „vielen nicht ungleich“ („nec pluribus impar“) gewesen waren, eine Wendung, die zum Motto Ludwigs XIV. werden sollte. Sie meinte, dass seine Waffen allein zahlreichen Gegnern standgehalten, dass sie sich ihnen ebenbürtig und im Grunde überlegen gezeigt hatten. Weiteren Ruhm schöpfte Ludwig daraus, dass er es gewesen war, der als großmütiger Sieger Europa den Frieden gegeben hatte – so war zumindest das Bild, das seine Hofhistoriker niederschrieben und das seine Hofmaler malten.
Der lateinische Spruch „nec pluribus impar“ wurde zum kriegerischen Motto Ludwigs XIV. – „vielen nicht ungleich“ – sollte bedeuten, dass sich Frankreich auch einer größeren Anzahl Gegner auf einmal erwehren konnte (bronzene Medaille mit dem Konterfei Ludwigs als personifizierte Sonne, 1663).
wesen. Eine nicht unerhebliche Rolle spielte, darauf aufbauend, jedoch der Krieg der Federn und der Druckerpressen, also die Propaganda. Die französische Besatzung in den Niederlanden besaß tatsächlich sehr dunkle Seiten, Plünderungen und Greueltaten aller Art eingeschlossen. Im Prozess der geistigen Mobilmachung wurden diese von niederländischen, aber auch von deutschen wie englischen Publizisten aufgegriffen und weithin bekannt gemacht. Andere Anklagen kamen hinzu. Man verdächtigte den König des Strebens nach der Weltherrschaft, sah ihn als wortbrüchigen Kriegsherrn an, erkannte – gegen Protestanten gerichtete – Momente religiöser Verfolgung und Bedrückung. Auch Mätressenwirtschaft und Weiberhörigkeit, beides (besonders Letzteres) in den Augen der Zeit keine geringen Verfehlungen gegen göttliche Lehre und Weltordnung, erhöhten Ludwigs moralisches Schuldkonto weiter. Das hatte konkrete Folgen: Im römisch-deutschen Reich etwa waren die Formulierung und die öffentliche Rechtfertigung profranzösischer Politik spätestens seit 1674, der Reichskriegserklärung, nicht mehr möglich. Und damit ließen sich solche Absichten auch kaum mehr ins Werk setzen, von episodischen Ausnahmen vielleicht abgesehen. Unmittelbare Folge dieser zahlreichen neuen Gegnerschaften war die Räumung der immer noch besetzten Teile der niederländischen Republik durch die französischen Truppen. Die Kriegshandlungen verlagerten sich stattdessen in die südlichen Niederlande und an den Oberrhein, besonders in die schon bald leidgeprüfte Pfalz und ins Elsass. Der Krieg ernährte hier den Krieg – die Armeen lebten aus dem Land, in dem sie sich gerade bewegten, und es kam
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Scheinbarer Widerspruch: ein kriegerischer König, aber kein Krieger
Königs sah er und sah man nicht darin, direkt und konkret die Armee zu befehligen, sondern darin, sie zu „inspirieren“, Soldaten und Offiziere also durch seine Präsenz zu besonderen Leistungen anzuspornen. Denn es galt natürlich, sich unter den Augen des Königs auszuzeichnen. Dabei spielte es durchaus eine Rolle, dass man den König keiner unnötigen Gefahr aussetzen wollte. Ein unzeitiger Tod des Monarchen hätte das Land politisch schwächen können. Zwar gab Ludwig dennoch Proben persönlichen Mutes – Kugeln schlugen mehrfach neben ihm ein, ohne dass ihn dies bekümmerte. Aber er suchte die Gefahr nicht um ihrer selbst willen. Und auch die Gefahr von Niederlagen wollte man vermeiden. Ludwig wohnte daher keiner
Die Bedeutung Ludwigs XIV. für die französische Heeresorganisation wie für die Kriegführung selbst ist nicht leicht zu bestimmen. Aus Sicht der höfischen Propaganda, die sein Minister Colbert überaus effizient ins Werk setzte, war der König der Urheber von allem: der Autor jeder Maßnahme, die zum Sieg führte, und ganz besonders natürlich auch der jedes einzelnen Sieges selbst. Münzen und Medaillen, die zu seinem Ruhm geschlagen wurden, feierten Ludwig etwa als Militärreformer: Sie zeigen einen König, der seine Truppen drillt und der damit die Disziplin des Heeres wiederhergestellt habe. Gemälde von Schlachten und Belagerungen weisen ihn aus als denjenigen, der stets die Truppen führt und über die Feinde triumphiert. Den lebhaftesten Eindruck dieses um Ludwig konstruierten Heldenkultes bietet natürlich einerseits Versailles mit dem grandiosen Spiegelsaal, der die Siege des Königs geradezu vervielfacht, andererseits, und vielleicht noch konsequenter, das Pariser Hôtel des Invalides. In dieser Anstalt zur Veteranenversorgung, gegründet und erbaut in den Jahren des Holländischen Krieges, zeigt eine Folge von Deckengemälden jeden militärischen Erfolg der französischen Waffen bzw. Ludwigs persönlich. Und die Lobpreisungen der schreibenden Zunft blieben, wie oben bereits bemerkt, hinter denen von Malern und Bildhauern nicht zurück. Der Realität entsprach diese „Inszenierung Ludwigs XIV.“ (Peter Burke) als des allgewaltigen Heldenkönigs nur sehr bedingt. Ludwig hatte Geschmack am Militärischen, wie sein Vater und sein Großvater. Er verstand durchaus etwas von der Sache. Aber anders als Heinrich IV. und selbst Ludwig XIII. war er kein Feldherr, und er versuchte tatsächlich auch gar nicht, einer zu sein. Von 1667 an begleitete er seine Truppen auf jedem Feldzug in den Niederlanden oder (seltener) am Rhein, bis er 1693 diese Praxis beendete, um fortan von Versailles aus die Grundsatzentscheidungen zu treffen und die nötigen Anweisungen zu geben. Doch auch während des Vierteljahrhunderts, in dem Ludwig bei der Armee präsent war, führte er die Truppen nicht. Er gab keine Befehle, sondern beschränkte sich darauf, den Beratungen seiner Generäle und Marschälle beizuwohnen, der Mehrheit oder dem Höchstkommandierenden beizupflichten und dessen Autorität zu stärken. Platz und Aufgabe des
Bis zum Jahr 1693 begleitete Ludwig XIV. seine Truppen auf ihren Kriegszügen. Ein Feldherr, der von der Siegesgöttin Victoria bekränzt wird (wie auf diesem Gemälde von Pierre Mignard dargestellt), war der König allerdings nicht. Er übernahm niemals persönlich die Führung einer Schlacht.
73 Scheinbarer Widerspruch: ein kriegerischer König, aber kein Krieger
offenen Feldschlacht bei (auch wenn manches Gemälde andekehrten, ließ Ludwig in Paris eine res behauptete …), sondern beeigene Versorgungsstadt bauen, schränkte sich auf die vorgeblidas „Hôtel des Invalides“. 1706 che „Leitung“ von Belagerungen. wurde die zu diesem aufwendigen Denn anders als im Fall von Komplex gehörende Kuppelkirche, Feldschlachten war der Ausgang der Invalidendom, eingeweiht (Gevon Belagerungen vorgezeichnet: mälde von Pierre-Denis Martin). Nach einigen Wochen Blockade und Beschießung waren die Vorräte aufgebraucht und die Mauern mürbe. Kam kein Entsatz, wurde in der Regel zunächst verhandelt und dann die Stadt (oder Festung) übergeben. Der siegreiche König konnte dann seinen Einzug halten, und die Hofmaler konnten ihr Werk tun. Dass man Ludwig jeden Erfolg persönlich zuschrieb, war die Konsequenz seines Regierungssystems, in dem der Monarch als Souverän die unbestrittene höchste Autorität nicht nur verkörperte, sondern sie tatsächlich besaß. Alles Regierungshandeln galt so als Ausfluss seines Willens und also auch jeder Schlachtensieg als von ihm errungen, sei es durch „Inspiration“ oder durch vorhergehende Grundsatzentscheidungen. Neben dieser regierungsamtlichen Theorie war es aber natürlich auch die Konsequenz des regierungspraktischen Handelns: der propagandistischen Verbreitung des Bildes des
allzeit siegreichen, allzeit selbst regierenden, alles entscheidenden und also „absoluten“ Königs. Ludwigs „Absolutismus“ war nicht zuletzt eine überaus wirkungsvolle Inszenierung.
Für die zahlreichen Soldaten, die
versehrt aus den Kriegen zurück-
Krieg im Frieden: die französischen „Reunionen“ Mit dem Ende des Holländischen Krieges begann die Phase der sogenannten Reunionen, wörtlich übersetzt der „Wiedervereinigungen“. Die klassische Formel bei Gebietsveränderungen lautete, dass dieses oder jenes Territorium „mit allem, was ihm zugehöre“, abgetreten werde. Hieraus leiteten die Juristen der französischen Krone ab, dass alle bestehenden oder aus der Vergangenheit rührenden Lehnsbeziehungen zwischen neuerworbenen französischen Territorien und denen anderer Reichsstände auch diese anderen Gebiete nunmehr der Souveränität des Königs zugeordnet hätten oder dass man dies zumindest behaupten könne. Französische Gerichte, die Reunionskammern, fällten entsprechende Urteile, und französische Truppen sorgten für deren Durchsetzung. Betroffen waren das Elsass, die Pfalz, der Moselraum. Die Okkupation Straßburgs im Oktober 1681 gehört sachlich dazu, jedoch nicht rechtlich. Hier ging die Krone ohne jeden Rechtstitel vor, er-
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klärte lediglich, auf feindliche Akte der Stadt im vorangegangenen Holländischen Krieg zu reagieren, und schickte Truppen. Immerhin blieb die innere Ordnung Straßburgs – auch die lutherische Konfession – im Wesentlichen unberührt. Die Reunionen gehorchten einer militärischen und politischen Logik, die das französische Staatsgebiet nach Osten ab- und mögliche Invasionen ausschließen sollte. Sie entsprangen damit weiterhin einem defensiven strategischen Denken. Gleichwohl waren sie ihrer Natur nach unzweifelhaft offensiv, gewaltsam, entbehrten jeder Rechtfertigung. Sie brachten territoriale Vorteile, vor allem aber schürten sie öffentliche Empörung und politisches Misstrauen. Ihr unmittelbarer Erfolg wie ihre mittelbaren Nachteile entsprangen dabei dem Kontext, in dem sie stattfanden: Das war vor allem die sich wieder zuspitzende osmanische Bedrohung der kaiserlichen Erblande und des Reichs. Militärisch auf die Reunionen reagieren konnten daher weder der Kaiser noch die deutschen Fürsten; Spanien, das in seinem Herzogtum Luxemburg gleichfalls betroffen war, hatte zwar 1683 den Krieg erklärt, musste aber einlenken. Freilich kam es zu keiner offiziellen Bestätigung der Erwerbungen, lediglich zu einer befristeten Anerkennung gegen die Zusicherung, diese Politik nicht weiter fortführen zu wollen. Dies war der „Regensburger Stillstand“ von 1684. Für Kaiser und Reich genügte das: Sie konnten zunächst die türkische Niederlage vor Wien ausnutzen, die Rückeroberung Ungarns weit vorantreiben. Im Westen wurden dann schon vier Jahre später die Karten ohnehin neu gemischt.
Im „Pfälzischen Erbfolgekrieg“ des Paars verlangte Ludwig nun die (1688 – 1697) erhob Frankreich Herausgabe des Hausbesitzes des Anspruch auf Teile des Erbes des verstorbenen Kurfürsten, von Land, 1685 verstorbenen Kurfürsten Gütern, Gegenständen, die diesem Karl II. General Ezéchiel des Mas, „persönlich“ gehört hätten, nicht Comte de Mélac (Kupferstich), qua Amt – oder aber von deren Gestieß mit einer Armee in die Pfalz genwert. Und um sicherzugehen, vor und richtete dort 1688/89 dass dies auch geschehen würde, große Verwüstungen an. Eine rückten französische Truppen in „Große Allianz“ aus England, die Pfalz ein. den Niederlanden, dem Heiligen Das Kalkül Ludwigs war es wohl, Römischen Reich und Spanien das militärisch im Osten gebundene Reich durch Drohgebärden zum trat den Franzosen entgegen. Eingehen auf seine Forderungen zu zwingen. Dass dies zum Fehlkalkül wurde, lag zum einen daran, dass Kaiser und Reich – angespornt von den jüngsten Erfolgen an der Donau – sich zur Annahme des Konfliktes auch am Rhein entschlossen. Zum anderen lag es daran, dass die englische Politik zum gleichen Zeitpunkt eine abrupte Wende nahm bzw. eine „Revolution“ einleitete, nämlich die „Glorious Revolution“: Der zum Katholizismus übergetretene Stuart-Herrscher Jakob II. wurde mit Hilfe des Parlaments gestürzt und durch seinen protestantischen Schwiegersohn Wilhelm III. von Oranien ersetzt, den Statthalter der Niederlande. Dieser, nun mit der Macht seiner britischen Königreiche, sollte
Neue Runde unter neuen Bedingungen: der Pfälzer Krieg und die erste „Große Allianz“ Die nächste Kette von Konflikten zwischen Frankreich und seinen Nachbarn begann 1688. Beunruhigt von den großen Erfolgen des Kaisers in Ungarn, wollte Ludwig XIV. seine bisherigen, noch immer provisorischen Erwerbungen an Rhein und Mosel absichern, freilich auch die Gelegenheit nutzen, sie weiter auszudehnen. Gelegenheit dazu schien das Aussterben der bisher in der Pfalz regierenden Linie des Hauses Wittelsbach zu bieten. Dass nach dem Gesetz männlicher Erbfolge die nächstjüngere Linie nachfolgen würde, stand außer Zweifel. Allerdings war die Schwester des letzten Kurfürsten, Liselotte von der Pfalz, mit Ludwigs jüngerem Bruder verheiratet, dem Herzog Philipp von Orléans. Im Namen
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Zerstörungen und Verwüstungen in einigem Ausmaß waren in der frühneuzeitlichen Kriegführung alles andere als unbekannt. In solchem Maßstab, mit solcher Konsequenz allerdings waren sie bis dahin noch nie ins Werk gesetzt worden. Der militärische Zweck wurde offenbar in begrenztem Umfang erreicht. Die öffentliche Empörung allerdings, die diese Art der Kriegführung erregte, trug viel dazu bei, das gegnerische Lager zu mobilisieren und geschlossen zu halten. Die deutsche Frankophobie erreichte ihren Höhepunkt. Das Ungeheuerliche der Maßnahmen provozierte dann offenbar zumindest vereinzelt französische Offiziere dazu, diese zu unterlaufen. Der weitere Kriegsverlauf war gekennzeichnet von mehreren punktuellen französischen Vorstößen nach Süddeutschland, nach Norditalien sowie von der andauernden Konfrontation in den Spanischen Niederlanden. Dort kam es zu mehreren großen Schlachten: Fleurus, Neerwinden oder Steenkerke, bei denen Feldarmeen von jeweils bis zu 80 000 Mann aufeinandertrafen, was eine quantitativ und logistisch neue Dimension besaß. Auch die Verluste wuchsen bei diesen Konfrontationen: Bei Neerwinden, einem wichtigen französischen Erfolg, verloren die alliierten Gegner 12 000 bis 14 000 Männer (durch Tod oder Verwundung), die Franzosen selbst auch zwischen 7000 und 8000. Insgesamt überwogen während der ersten Hälfte des Krieges die Vorteile für die französische Seite, erwiesen sich allerdings als wenig nachhaltig. Die hohen Verlustquoten zeigen den Fortschritt der Waffentechnik, dem entgegengesetzt wurde ein verstärkter Aufwand bei Schanzarbeiten. Das Aufwerfen von langgezogenen Befestigungslinien gab den Kämpfen örtlich und phasenweise den Charakter eines Stellungskrieges. Wichtiger und von langfristiger Folgewirkung war letztlich der Seekrieg, bei dem es, anders als zu Lande, zu tatsächlichen, nachhaltigen Entscheidungen kam. Eine erste, vor dem eigentlichen Kriegsausbruch, hatte ja bereits darin gelegen, dass Wilhelm III. von Oranien seine Armee erfolgreich nach England hatte übersetzen können, um Jakob II. zu vertreiben. Um dies rückgängig zu machen, seinen vertriebenen Cousin, dem er Exil gewährt hatte, wieder in sein Amt einzusetzen, befahl LudwigXIV. seiner Flotte, die Kontrolle über den Ärmelkanal zu gewinnen. Ein erster Rückeroberungsversuch scheiterte 1690 in Irland. Doch im selben Jahr gelang es dem französischen Admiral Anne Hilarion de Costentin, Comte de Tourville, tatsächlich, die englisch-holländische Flotte bei Cap Béveziers/Beachy Head zu schlagen
zur entscheidenden Gestalt aller weiteren gegen Frankreich sich schen Erbfolgekriegs das Heidelformierenden Bündnisse werden, berger Schloss: 1689 zündeten sie zum entscheidenden Gegenspieler es an, 1693 sprengten sie den Bau. Ludwigs XIV. Diese Vorgehensweise gehörte zur Die Länge des Konflikts entsprach also nicht den französischen Strategie der Verwüstung, mit der Erwartungen bei seinem Beginn. Frankreich einen Aufmarsch seiner Sie war die Folge der starken GegenGegner in der Grenzregion verhinwehr, auf welche die französische dern wollte (Foto: Ruine des RuOffensive stieß, und die war das Erprechtsbaus mit Brückenhaus des gebnis der ersten, sich unter diesem Schlosses). Namen bildenden „Großen Allianz“: Sie vereinte England und die Niederlande, Kaiser und Reich (bzw. die wichtigeren Reichsfürsten) sowie Spanien und das norditalienische SavoyenPiemont. Hauptkriegsschauplatz wurden einmal mehr die Spanischen Niederlande. Der Oberrhein war demgegenüber ein Schauplatz von geringerer Bedeutung, doch kam dies der Region keineswegs zugute: Da die französischen Truppen dort zurückgenommen werden und defensiv agieren sollten, erging an sie von König und Kriegsminister die Weisung, das zu räumende deutsche Grenzgebiet gezielt und umfassend zu verwüsten, um dem Gegner so die Möglichkeit zum Aufmarsch zu nehmen. Alles Vieh, alle Vorräte sollten fortgeschafft, alle Gebäude zerstört werden. Die Bürger von Mannheim und Heidelberg bekamen sechs Tage Zeit, ihre Habseligkeiten fortzuschaffen und die Städte zu verlassen, denn besonders diese sollten allen Wert für die Gegner verlieren, sei es als Stützpunkte oder als Winterquartiere. In zwei Etappen zerstörten franzö-
sische Truppen während des Pfälzi-
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Frankreichs Flotte war der Großen Allianz zur See zahlenmäßig unterlegen. Daher verlegte man sich zunehmend auf den Kaperkrieg. In der Seeschlacht von Texel, am 29. Juni 1694, errang der niederländische Freibeuter Jean Bart (eigentlich Jan Baert) einen Sieg für die Franzosen.
und für einen kurzen Moment die Seeherrschaft zu erringen. Denn dies blieb angesichts der geringen Verluste der Gegner, vor allem aber wegen ihrer überlegenen Schiffbaukapazitäten Episode. Schon bald musste die französische Flotte wieder aus einer Position der zahlenmäßigen Unterlegenheit agieren. Und 1692 wurde sie durch den englisch-niederländischen Seesieg von La Hougue dann geradezu dezimiert. Zu einer direkten Invasion Englands sollte es nicht kommen. Frankreich verringerte fortan sein Engagement zur See drastisch, setzte weniger auf extrem teure Flotten von Linienschiffen, sondern auf Kaperkrieg, das heißt auf Piraterie. Nach neun Jahren Krieg waren beide Seiten hinreichend erschöpft, um die für einen Kompromiss nötige Flexibilität zu zeigen. Im Herbst 1697 schloss man im niederländischen Rijswijk Frieden: Frankreich gab die allermeisten seiner militärisch gewonnenen Faustpfänder zurück und behielt einige wenige, allerdings wesentliche – so Straßburg. Die Grenzziehung insgesamt wurde klarer, das französische Territorium geschlossener. Vor allem aber erkannte Ludwig XIV. nun Wilhelm III. als König von England an. Diese Bestätigung der „Glorreichen Revolution“ dürfte als wichtigstes Ergebnis des Konflikts anzu-
Nach neun Jahren Krieg waren die Parteien erschöpft: Mit dem Friedensvertrag von Rijswijk wurde 1697 der Pfälzische Erbfolgekrieg beendet.
sehen sein. Neben dem Tatbestand vielleicht, dass die vergleichsweise geringen französischen Erwerbungen in keiner Weise das aufwogen, was exakt zur gleichen Zeit Kaiser Leopold in Ungarn von den
77 Neue Runde unter neuen Bedingungen: der Pfälzer Krieg und die erste „Große Allianz“
Türken gewann – ein Sachverhalt, der weder in Versailles noch in Wien unbemerkt blieb. An beiden Orten und auch anderswo in Europa war im Übrigen ebenso klar, dass es sich bei Rijswijk eher um einen Waffenstillstand als um einen dauerhaften Frieden handelte. Denn die entscheidende „Runde“ der Auseinandersetzung, der Kampf um das spanische Erbe, stand unmittelbar bevor.
und Den Haag hatte man versucht, diese Lösung voranzutreiben. Potentielle Erben, nächste Verwandte durch vielfache Eheverbindungen der Vergangenheit, waren einerseits Ludwig XIV. und seine Nachkommen, andererseits Kaiser Leopold I. und seine Söhne, also die österreichische Linie des Hauses Habsburg. Aus Sicht des Madrider Hofes galt es nun vor allem, jede Teilung zu vermeiden und stattdessen die Monarchie zusammenzuhalten. Karl II. verfasste daher ein Testament, in dem er zwei Alleinerben benannte: an erster Stelle den Herzog Philipp von Anjou, Enkel Ludwigs XIV., an zweiter Stelle, für den Fall, dass Anjou das Erbe ausschlüge, Erzherzog Karl von Österreich, den jüngeren Sohn des Kaisers. Die Reihenfolge war das Ergebnis höfischer Kämpfe, in denen die profranzösische Fraktion gerade die Oberhand gewonnen hatte, sowie der Überlegung, dass der Bestand des geschwächten Weltreiches besser mit als gegen Frankreich zu bewahren sei. Ludwig XIV. hatte also die Wahl, ob er für seinen Enkel das Testament annehmen oder es ablehnen würde – entweder zugunsten des Sohnes seines Rivalen oder für die Aussicht auf einen wahrscheinlich obsoleten Teilungsplan. Genauer genommen, hatte er in dieser Frage keine wirkliche Wahl. Ein Zurückweisen des Testaments wäre angesichts der – natürlich von Ludwig selbst geschaffenen – Gegnerschaft der europäischen Nachbarn fahrlässig gewesen. Der Spanische Erbfolgekrieg war insofern der politisch wie juristisch am besten begründete Waffengang Ludwigs. Natürlich ging es auch um die „Größe“ des bourbonischen Königshauses, aber um den persönlichen Ruhm des Königs selbst ging es nicht. Eröffnet wurde der Konflikt in Italien durch Kaiser Leopold, der seine Rechte als Lehnsherr des bis dahin spanischen Herzogtums Mailand geltend machte und versuchte, zunächst vergeblich, das Land als erledigtes, also erbenloses Lehen einzuziehen. Die zweite Front eröffnete Ludwig XIV., der seine Truppen in die Spanischen Niederlande einrücken ließ, diesmal mit Billigung des spanischen Königs, nunmehr Philipp V. Franzosen und Spanier zwangen die Besatzungen einiger 1697 den Niederländern überlassener Grenzfestungen, der sogenannten Barriere, zum Abzug und sandten damit natürlich in die Niederlande, aber auch nach England ein höchst bedrohliches Signal. Eine weitere Provokation war die Anerkennung des Sohnes und Erben des vertriebenen, 1701 verstorbenen Jakob II. Stuart als rechtmäßiger englischer König. Kurz vor seinem Tod mach-
Die Entscheidung: der Spanische Erbfolgekrieg Das persönliche Drama des letzten spanischen Habsburgers, König Karls II., ist gut bekannt. 1661 geboren, folgte er seinem Vater im Alter von vier Jahren auf den Thron. Da er von sehr schwacher Gesundheit war, rechnete man eigentlich stets mit seinem Ableben und nie damit, dass er in der Lage sein würde, Kinder zu zeugen. Auch seine geistige Begabung galt als gering, er zeigte sich als durch Hofparteien leicht zu beeinflussen. Seine wichtigste politische Tat wurde sein Testament. Karl starb im November 1700, im Alter von 38 Jahren. Vor seinem Tod hatte es bereits Verhandlungen zwischen den Erbanwärtern und deren Verbündeten gegeben und sogar Teilungspläne, um alle Seiten zufriedenzustellen. Besonders in London
Der spanische König Karl II. – an seinem ausgeprägten Unterkiefer eindeutig als Habsburger zu erkennen – starb im Jahr 1700 ohne männlichen Erben.
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te sich Wilhelm III. daher an die Neuaufstellung der „Großen Allianz“. Der Spanische Erbfolgekrieg bekam, auch wenn es wichtige Parallelen gab, ein anderes Gesicht als die vorherigen Konflikte: etwa durch die weiter wachsenden Heeresstärken oder auch die schiere Dauer. Vor allem aber dadurch, dass der Krieg recht bald nach Frankreich hineingetragen wurde und das Land erstmals seit langem wirklich bedroht war, eine Niederlage möglich schien. Zunächst sah dies allerdings gar nicht so aus: In der ganzen spanischen Monarchie war Philipp von Anjou als neuer König anerkannt worden, auch und gerade in den südlichen Niederlanden. Frankreich besaß zudem einen wichtigen Verbündeten im Reich: den bayerischen Kurfürsten Max Emanuel, der hoffte, in diesem Bündnis eine europäische Krone zu erringen. Die ersten Kriegsjahre brachten ein unentschiedenes Hin und Her, das die französische Position weder erschütterte noch wirklich verstärkte. Der Aufstand der Camisarden, eines Teils der verfolgten französischen Protestanten, schuf zwar Probleme, gewann aber keine wirkliche Bedeutung. Den Kriegsverlauf änderte jedoch das Jahr 1704. In der Schlacht von Höchstädt besiegten die alliierten Feldherren, der Herzog von Marlborough und Prinz Eugen von Savoyen, das von einem starken französischen Kontingent verstärkte Heer des bayerischen Kurfürsten vollständig. Die Armee von etwa 60 000 Mann löste sich faktisch auf, Bayern wurde besetzt, und der Kurfürst verließ das Land. Damit waren fortan das Reich wie auch Österreich von jeder französischen Bedrohung frei. Englische, niederländische und deutsche Truppen rückten in der Folge mit Macht in die südlichen Niederlande vor, die kaiserliche Armee in Italien. Und die folgenden Jahre brachten dann noch weitere, größere Katastrophen für die französische Kriegführung. 1705 setzte sich der habsburgische Kandidat für das spanische Erbe, Erzherzog Karl (bzw. als spanischer König Karl III.), in Barcelona und Katalonien fest und baute, mit englischer Unterstützung, seine Position in den Folgejahren aus. Zeitweise konnte er sogar Madrid gewinnen. Die südlichen Niederlande und Italien gingen nach einer Reihe blutiger Schlachten – Turin, Ramillies, Oudenaarde – bis 1708 für Frankreich und Philipp V. verloren. Mit dem Fall von Lille am Ende des Jahres rückten alliierte Truppen auf französisches Territorium vor. Missernten und ein extremer Winter trafen das Land möglicherweise noch härter. Ludwig XIV. machte den Alliierten Friedensangebote und fand sich zu weitgehen-
Sébastien Le Prestre de Vauban (1633 – den Konzessionen bereit: Die 1707) war General und Festungsbauer französischen Gewinne seit in Diensten Ludwigs XIV. Während des 1668 sollten zum Großteil Spanischen Erbfolgekriegs wurde er zurückgegeben werden und 1703 zum „Marschall von Frankreich“ Philipp V. das spanische Erbe befördert (zeitgenössisches Gemälde). aufgeben. An diesem Punkt allerdings überspannten die Alliierten den Bogen, denn sie waren nicht bereit, dem Bourbonen zur Gesichtswahrung auch nur einen Teil dieses Erbes zu überlassen, und verlangten zudem, dass, sollte er nicht freiwillig verzichten, alle anderen Mächte, Frankreich eingeschlossen, ihn daraus vertreiben müssten. Das waren nicht nur überzogene, sondern tatsächlich demütigende Forderungen, die die französische Seite dann, der militärischen und wirtschaftlichen Krise zum Trotz, ablehnte. In einem beispiellosen Schritt wandte der König sich sogar in einem öffentlichen Schreiben an seine Untertanen, um die Fortführung des Krieges zu begründen und an den Patriotismus der Nation zu appellieren. Die weiteren Entwicklungen gaben Ludwig recht. Nicht nur in Spanien gab es einen militärischen Umschwung, sondern, freilich in sehr begrenztem Umfang, auch in Nordfrankreich. Alliierte Invasionsversuche im Süden scheiterten, der Vormarsch im Norden blieb stecken. Bezeichnend war das Ergebnis der Schlacht von Malplaquet im Herbst 1709,
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der blutigsten des ganzen Krieges: 75 000 Franzosen trafen auf die Truppen unter der Führung des 86 000 Alliierte, kommandiert kaiserlichen Feldmarschalls Prinz von Prinz Eugen und Marlborough. Am Ende dieses 11. SepEugen eine Niederlage (Gemälde von Ignace Jacques Parrocel). tember zogen sich die Franzosen geordnet zurück, hatten den Kampf also nach den Begriffen der Zeit verloren. Ihre Verluste waren mit 11 000 Toten und Verwundeten hoch, allerdings nur halb so hoch wie die der Alliierten. Deren Offensive war damit am Ende. Der Ausweg aus dem Krieg war dann schließlich nicht militärisch, sondern politisch motiviert. Die Jahre 1711 und 1712 waren auf französischer Seite markiert von einer Reihe von Todesfällen innerhalb der königlichen Familie, die die dynastische Kontinuität ernsthaft bedrohten: Ein Sohn und zwei Enkel Ludwigs XIV. starben in kurzer Folge. In Wien stellte sich die Frage fürstlicher Sterblichkeit allerdings nicht minder dramatisch: Hier starb 1711 Kaiser Joseph I. Einziger möglicher Nachfolger an der Spitze des Heiligen Römischen Reiches wie der habsburgischen Erbländer, überhaupt letzter männ-
licher Habsburger, war sein jüngerer Bruder, der als Karl III. den spanischen Thron beanspruchte, nunmehr als Karl VI. zum Kaiser gewählt und gekrönt wurde. Würde es ihm gelingen, sich auch in Spanien durchzusetzen, das gesamte spanische Erbe zu behaupten, wäre damit nicht nur das „Reich Karls V.“ („in dem die Sonne nicht unterging“) wiederhergestellt, sondern, angesichts der gewaltigen Expansion der Habsburger in Südosteuropa, sogar übertroffen. Die Aussicht darauf ließ die englische und niederländische Unterstützung recht rasch erlahmen: Sowohl in London als auch in Den Haag dachte man inzwischen in der Dimension eines europäischen Gleichgewichts. Dafür, gegen eine franko-spanische Übermacht, war man in den Krieg eingetreten. Eine österreichisch-spanische Übermacht war kaum besser. Sie sollte allerdings leichter zu verhindern sein. Beiderseitige Friedensfühler führten zu Friedensverhandlungen und diese, im niederländischen Utrecht, schließlich 1713 zu einem ersten Friedensvertrag. Philipp V. wurde darin als König von Spanien bestätigt, das spanische Kolonialreich bewahrt. Alle europäischen Nebenlande allerdings sollten abge-
In der Schlacht bei Turin erlitten die
Franzosen im September 1706 gegen
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treten werden und an Karl VI. gehen, Sardinien an den Herzog von Savoyen. Der Kaiser trat dem Vertrag aber zunächst noch nicht bei, da er seine und des Reiches Interessen darin nicht hinreichend berücksichtigt fand. Im Reich hatte man bis zuletzt eine „Barriere“ am Oberrhein verlangt, die Abtretung mehrerer Festungsstädte, die französische Invasionen künftig ausschließen sollte. Dies war nach Lage der Dinge nicht mehr durchzusetzen. 1714 schlossen auch Kaiser und Reich mit Ludwig XIV. Frieden, weitgehend auf der Basis der Utrechter Abmachungen. Der Kaiser erhielt Mailand, Neapel und Sizilien sowie die südlichen Niederlande. Die Grenzen des Reiches mit Frankreich lagen fortan im Wesentlichen fest.
Lehren und Folgen einer ruhmreichen Herrschaft Auf dem Sterbebett erklärte der „große König“ – wie ihn die nachfolgende Generation nennen sollte – seinem fünfjährigen Urenkel, dem künftigen Ludwig XV., er habe den Krieg und die Bauwerke zu sehr
Mit den wachsenden Truppenstärken stieg während des Spanischen Erbfolgekriegs auch die Zahl der Opfer auf beiden Seiten. Unter schwierigsten Bedingungen und mit primitiven Mitteln kümmerten sich die Chirurgen auf dem Schlachtfeld um die Verwundeten (Stich um 1740).
Die Schlacht von Malplaquet im Herbst 1709 wurde zur blutigsten Auseinandersetzung des Spanischen Erbfolgekriegs. Die Alliierten unter der Führung von Prinz Eugen und des Herzogs von Marlborough (Gemälde: Marlborough erteilt Befehle) blieben Sieger, hatten aber höhere Verluste zu verzeichnen als die Franzosen.
81 Lehren und Folgen einer ruhmreichen Herrschaft
und Angeboten kaum noch zu steigern. Dies erklärt etwa die Radikalität der alliierten Forderungen bei den Friedensverhandlungen von 1709. Dabei muss man Ludwigs Kriegsgründe sowie seine Rolle in der Kriegführung durchaus differenziert betrachten: Devolutionskrieg, Holländischer und Pfälzer Krieg waren bewusste Aggressionen. Sie gehorchten einer Logik von Ranganspruch und Machtdemonstration. Das Streben nach Ruhm war dem Rollenbild eines Monarchen eingeschrieben, und bei Ludwig verband es sich mit dem Bewusstsein für die Ressourcen des von ihm – nach Gottes Ratschluss – regierten Landes und im Übrigen auch mit der Fähigkeit, diese Ressourcen im Verein mit seinen Ministern weiter zu stärken. Dass seine kriegerischen Rechnungen etwa im Hinblick auf die Dauer und damit auch Kosten der Konflikte gravierende Fehler aufwiesen, war ihm wohl seit den 1690er Jahren bewusst. Ludwig ist daher auch nicht ohne Zögern in den Spanischen Erbfolgekrieg eingetreten. Tatsächlich war es ein Konflikt geworden, der Land und Dynastie bis an den Rand der Katastrophe geführt hatte, aber eben nur bis an den Rand. Die französische Bevölkerung stützte wohl zunächst Ludwigs Kriegspolitik und erbaute sich an den frühen Erfolgen. Die Krisen besonders um 1708/09 brachten auch Zweifel und Widerspruch, doch die Loyalität blieb bis ans Kriegsende ungebrochen – abgesehen von den französischen Protestanten, die mit gezielter Verfolgung ins Exil, ins Stillschweigen oder in die Rebellion getrieben worden waren. Der Tod des „großen Königs“ allerdings wurde als Erleichterung empfunden, sein Nachfolger mit Hoffnungen begrüßt. Die Geschichtswissenschaft hat sich bekanntlich von einer an (vorgeblich) „großen Männern“ oder auch großen Ereignissen, gar an „Schlachten“ orientierten Perspektive seit langem gelöst. Doch politisch und auch abgesehen von der Frage einer formalen Rechtmäßigkeit waren die Kriege Europas zwischen 1667 und 1714 „seine“. Sie waren auf Ludwig, sein Handeln (oder Unterlassen) zurückzuführen und lassen sich ohne ihn nicht denken. Insofern tragen die „Kriege Ludwigs XIV.“ oder „les guerres de Louis XIV“ ihren Namen weiterhin zu Recht.
geliebt („J’ai trop aimé la guerre und oben thront „Ludwig der Große“ et les bâtiments“). Er wollte damit (Kupferstich, 18. Jahrhundert). Das wohl selbstkritisch auf die finanziellen Lasten hinweisen, die für war die offizielle Sicht der Dinge. seinen Nachfolger blieben. Das war nicht unberechtigt. Und auch die politischen Folgen der Kriege seiner Regierungszeit waren ambivalent. Ludwig hatte Frankreichs Grenzen ausgedehnt, die politischen Strukturen der Monarchie gestärkt, eine unvergleichliche persönliche Reputation erworben. Dagegen standen der finanzielle Ruin und wirtschaftliche Lasten, vor allem aber der Verlust des französischen Einflusses jenseits der Landesgrenzen. Besonders das römisch-deutsche Reich hatte eine patriotisch motivierte politische Modernisierung erfahren, die zwangsläufig gegen Frankreich gerichtet war. Im Reich, aber auch in England und den Niederlanden war Frankreich-Feindschaft (Frankophobie) zu einem bestimmenden Faktor der öffentlichen Meinung geworden, worauf die Politik durchaus Rücksicht zu nehmen hatte. Ohnehin aber war das Misstrauen der europäischen Fürsten (und Republiken) gegenüber Ludwig XIV., seinen Ansprüchen Der Sieger: Die Feinde in Ketten,
Prof. Dr. Martin Wrede, geb. 1969, lehrt Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Pierre MendèsFrance in Grenoble.
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Rivale und Antipode Ludwigs
Kaiser Leopold I. – Stratege der Macht Christoph Kampmann
Er pflegte einen gänzlich anderen Herrschaftsstil als Ludwig XIV.– der Habsburger Leopold I., seit 1658 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs. Aber der scheinbar unmilitärische Monarch wurde Ludwigs härtester Gegenspieler. los handeln konnte. Am Ende seiKampf gegen Frankreich: Kaiser Leopold I. (1658 – 1705), Habsburger ner Regierungszeit war Österreich auf dem Thron des Heiligen Römizur Großmacht aufgestiegen und schen Reichs, sowie sein Sohn und die habsburgische Hegemonie im Nachfolger Joseph I. (1705 – 1711) Reich gesichert. An der Entstehung des so irreführenden Gestellten sich den Expansionsbestrebungen Ludwigs XIV. entgegen schichtsbildes eines scheuen, eher (Goldmedaillon aus dem Jahr 1692). weltabgewandten Regenten war übrigens Leopold selbst nicht unbeteiligt: Legte er doch Wert darauf, als bescheidener, gottesfürchtiger, ganz der Dynastie ergebener Fürst zu erscheinen, und ließ sich – sogar zu Zeiten größter militärischer Triumphe – nur höchst widerstrebend in Waffen oder als Kriegsheld abbilden. Eine solche Zurückhaltung war unter den Fürsten seiner Zeit höchst ungewöhnlich und trug dazu bei, dass er als von Freund und Feind unterschätzter Herrscher umso überraschender zuschlagen konnte. Am Schluss seiner langen Regierung war aus dem anfangs belächelten deutschen Monarchen eine autoritätsgebietende Größe geworden, den viele im Reich und am Hof von Versailles fürchteten.
Sie waren beinahe gleichaltrig, gelangten ungefähr zur selben Zeit an die Regierung und standen sich über vier Jahrzehnte lang als Konkurrenten, schließlich als erbitterte Rivalen gegenüber: Ludwig XIV. und der Habsburger Leopold I. (1640 − 1705), seit 1655 ungarischer, seit 1656 böhmischer König und seit 1658 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Auch als Persönlichkeiten schienen sie Gegensätze zu markieren: Während Ludwig XIV. den Inbegriff von herrscherlicher Majestät, höfischem Glanz und kriegerischer gloire zu verkörpern schien, galt Leopold als zögerlicher, unscheinbarer, frömmelnder, ganz und gar unmilitärischer Monarch, dem die eigentliche Befähigung zu staatsmännischem Handeln abgesprochen wurde. Entsprechend konnten die Historiker diesem Kaiser wenig abgewinnen. Inzwischen urteilt die Geschichtswissenschaft anders: Leopold gilt als erfolgreicher Kaiser, dem es nicht nur gelang, das römisch-deutsche Kaisertum in ungeahnte Höhen der Macht zu führen, sondern der auch äußerst entschlossen, ja geradezu rücksichts-
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Der Habsburger besteigt unter schwierigen Umständen den Kaiserthron
Schließlich lastete auf dem Herrscher lange Zeit die unbeantwortete Frage nach der dynastischen Zukunft des Hauses Österreich sowohl im Reich als auch in Spanien. Während der ersten 20 Regierungsjahre fehlte Leopold, wie gleichfalls seinem Vetter König Karl II. von Spanien (1665 −1700), ein männlicher Erbe; erst 1678 wurde mit Erzherzog Joseph der ersehnte Thronfolger geboren. Von all diesen Rückschlägen und düsteren Prognosen ließ sich Leopold zu keinem Zeitpunkt entmutigen. In dieser Haltung werden zentrale Wesenszüge des Kaisers erkennbar. Im persönlichen Umgang wurde er als höchst liebenswürdig, fromm und pflichtbewusst beschrieben, überdies auch ausgestattet mit der für die Habsburger typischen hohen Musikalität. Den Politiker Leopold kennzeichneten indes eine ausgeprägte Beharrlichkeit und Entschlossenheit, die neben hoher politischer Begabung vor allem auf einem geradezu unerschütterlichen Glauben an die Stellung, die Berufung und die Zukunft seines Hauses beruhten. Wenn es um die Sicherung der ererbten Territorien und damit ihres katholischen Konfessionsstands sowie um die künftigen dynastischen Interessen ging, konnte Leopold sehr schnell und nötigenfalls auch extrem hart durchgreifen. Leopolds Beharrlichkeit zahlte sich seit den 1670er Jahren aus, kam es doch zu einem spürbaren Stimmungswandel und zur Aufwertung des Kaisertums im Reich. Die Hauptverantwortung dafür trug sein Dauerkonkurrent Ludwig XIV., weil Frankreich gegenüber seinem deutschen Nachbarn eine immer stärker militärisch geprägte Politik verfolgte. Dem „Sonnenkönig“ ging es dabei in erster Linie um die Sicherheit Frankreichs, aber im Reich wurde dies als aggressiver Expansionismus gedeutet. Das Ansehen Frankreichs erreichte seinen Tiefpunkt, als Ludwig dazu überging, kleinere Territorien im Westen des Reichs als „Reunionen“ („Wiedervereinigungen“) einzuziehen – also Gebiete annektierte, die aus seiner Sicht mit bestimmten französischen Territorien verbunden waren. Die Hugenottenverfolgung, die eine gewaltige Flüchtlingsbewegung in die Nachbarländer, darunter in die protestantischen Reichsterritorien, auslöste, tat ein Übriges. Frankreich, lange Zeit als Garant ständischer Freiheit angesehen, wuchs sich aus Sicht vieler Reichsstände zur existentiellen Bedrohung aus. Leopold erkannte klar die darin liegenden Chancen. Entschlossen setzte er sich an die Spitze der neuen reichspatriotisch-antifranzösischen Stimmung, die seine Propagandisten kräftig anheizten. Er selbst stand im Zentrum eines dichten Netzes anti-
Zu Regierungsbeginn Leopolds war das nicht abzusehen, denn das habsburgische Kaisertum befand sich in bedrängter Lage. Erst unter Schwierigkeiten und nach einem außerordentlich langen Interregnum war es der habsburgischen Partei gelungen, die Kaiserwahl Leopolds durchzusetzen. Zu groß war das Misstrauen gegenüber den Habsburgern, die verdächtigt wurden, das Reich in den französisch-spanischen Krieg (1635 −1659) hineinzuziehen und die Freiheit der Reichsstände wieder beschneiden zu wollen. Deshalb beschränkten eine strenge Wahlkapitulation (also die beeidigten Wahlversprechen des Gewählten an seine kurfürstlichen Wähler) und nach 1658 ein mächtiger Fürstenbund unter Frankreichs Protektorat, der Rheinbund, den außenpolitischen Handlungsspielraum des Neugewählten. Zudem griff 1662 das Osmanische Reich, der mächtige und zunehmend aggressiver agierende Nachbar im Südosten, den schmalen, im habsburgischen Besitz verbliebenen Teil Ungarns an und bedrohte somit die Reichsgrenzen. Nur dank starker Unterstützung aus dem Reich gelang es, diesen Angriff abzuwehren und einen – im Ergebnis wenig glanzvollen – 20-jährigen Waffenstillstand mit dem Sultan zu schließen. Im protestantischen ungarischen Adel regte sich daraufhin Kritik an der habsburgischen Herrschaft. Versuche Wiens, diese Opposition zu unterdrücken, provozierten den Ausbruch eines Bürgerkriegs zwischen Habsburg-feindlichen „Kurruzzen“ und königstreuen „Labanzen“.
Leopold I. ließ sich nur ungern in militärischer Pose darstellen (wie hier im Harnisch; Gemälde von Benjamin von Block, um 1672). Seine lange Regierungszeit war dennoch von ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt: dem Ringen mit Frankreich und dem Überlebenskampf gegen die osmanischen Türken.
84 Kaiser Leopold I. – Stratege der Macht
französischer Allianzen, die Anfang der 1680er Jahre dem französischen Expansionsstreben bewaffnet entgegentreten wollten.
Prinz Eugen von Savoyen (1663 – 1736) wurde mit seinen Siegen
Osmanen vor Wien: Leopold muss seine Prioritäten neu ordnen
über die Türken, so 1697 in
Doch stattdessen sah sich Leopold unvermittelt der größten Krise seiner Herrschaft gegenüber. Auslöser war ein Angriff des Osmanischen Reichs, das unter dem Großwesir Kara Mustafa neuen Expansionsdrang zeigte. Fixiert auf die bedrohliche Lage im Westen des Reichs, hatten die politisch Verantwortlichen in Wien die neuerliche Bedrohung durch die Osmanen unterschätzt. Im Frühsommer 1683 zog eine 200 000 Mann starke türkische Armee überraschend gegen Wien. Leopold, die kaiserliche Familie und der Hofstaat verließen eilends die Residenzstadt, zu deren Verteidigung eine 11 000 Mann starke Besatzung verblieb, und zogen sich donauaufwärts nach Passau zurück. Dies war eine sicher nicht sehr heroische, aber doch kluge Entscheidung, denn so war es Leopold möglich, den Aufbau einer breiten Allianz gegen die Osmanen voranzutreiben. Nach zwei Monaten einer aufreibenden und verlustreichen Belagerung gelang es einer internationalen Streitmacht unter dem polnischen König Johann III. Sobieski und dem kaiserlichen Oberbefehlshaber Karl IV. von Lothringen, Wien in der Schlacht am Kahlenberg zu entsetzen. Unter dem Eindruck der Beinahe-Katastrophe von 1683 bestimmte der Kaiser seine politischen Priori-
der Schlacht bei Zenta, zur entscheidenden Stütze des Hauses Habsburg. Aber auch auf dem Kriegsschauplatz im Westen war der Feldherr unverzichtbar (Gemälde der flämischen Schule, 18. Jahrhundert).
täten neu. Vorrang erhielt nun die Fortsetzung des Kriegs gegen die Türken. Mit Frankreich wurde ein Waffenstillstand geschlossen, der Ludwig XIV. für 20 Jahre im Besitz aller „Reunionen“ bestätigte. Diese Entscheidung fiel Leopold gewiss nicht leicht, erwies sich aber als politisch weitsichtig: Zwischen 1684 und 1688 gelang es, in schweren Kämpfen geradezu sensationelle Erfolge gegen die Osmanen zu erzielen. Im Zeichen dieser Wende und der gesicherten dynastischen Nachfolge aufgrund männlicher Er-
Mit der Schlacht am Kahlenberg am 12. September 1683 wurde die zweite Belagerung Wiens durch die Türken beendet. Unter der Führung des polnischen Königs Johann III. Sobieski gelang es einem deutsch-polnischen Entsatzheer, den osmanischen Truppen eine entscheidende Niederlage beizubringen (Gemälde von Frans Geffels, um 1688).
85 Osmanen vor Wien: Leopold muss seine Prioritäten neu ordnen
ben (nach dem Thronfolger Joseph war 1685 Leopolds zweiter Sohn Karl geboren worden) formulierte Leopold neue, weitreichende politische Ziele im Hinblick auf das deutsche und spanische Erbe der Habsburger-Dynastie. 1688 setzte er in seinem geheimen Testament seinen älteren Sohn zum Alleinerben sämtlicher Besitzungen der österreichischen Linie des Hauses einschließlich Ungarns ein, das bereits 1687 in eine Erbmonarchie umgewandelt worden war, und traf auch schon Vorsorge für dessen Kaiserwahl. Als künftigen Nachfolger auf dem spanischen Thron bestimmte er seinen zweitältesten Sohn, Erzherzog Karl. Mit leichter Hand wurden alle konkurrierenden Erbansprüche auf Spanien, insbesondere jene der französischen Bourbonen, beiseite gewischt. Dies musste den Kaiser fast notgedrungen in den bewaffneten Konflikt mit Ludwig XIV. führen: Tatsächlich befand sich Leopold von seinen verbleibenden 17 Regierungsjahren zwischen 1688 und 1705 16 Jahre lang im Krieg, und davon allein 14 Jahre mit Ludwig XIV.
seramt gewählt – ein in der Geschichte der deutschen Wahlmonarchie beispielloser Erfolg. Schließlich sah Leopold im Kriegsausbruch die Chance, den Weg für seine Erbfolge in Spanien zu bahnen, die nur mit Hilfe von Seemächten zu verwirklichen war. Als die Niederlande unter Wilhelm von Oranien um Rückendeckung für den Krieg gegen Frankreich baten, ging Leopold darauf ein, forderte aber seinerseits die Unterstützung der Niederlande bei der Durchsetzung seines Erbanspruchs auf das gesamte spanische Imperium in Europa und Übersee. Im Bündnisvertrag entsprach Wilhelm von Oranien, seit Frühjahr 1689 zugleich König von England, dieser Forderung. Der folgende Zweifrontenkrieg brachte nur hinsichtlich der Osmanen eine Entscheidung. Im Frieden von Karlowitz 1699 trat das Osmanische Reich fast ganz Ungarn und Siebenbürgen an Leopold I. ab – Österreich stieg zur Großmacht auf. Die spanische Frage blieb hingegen offen, so dass nach dem Tod des letzten spanischen Habsburgers 1700 die militärische Auseinandersetzung unausweichlich war. Diesen letzten Krieg begann Leopold unter ungünstigem Vorzeichen: Das Testament Karls II. begünstigte die Bourbonen; das römisch-deutsche Reich blieb – ebenso wie die Seemächte – zunächst neutral, Bayern schloss sich sogar Frankreich an; und in Ungarn brach ein neuer Aufstand los. Aber auch jetzt, am Ende seiner Regierungszeit, blieb Kaiser Leopold seinem Stil treu. Ein Abrücken von seinen dynastischen Zielen kam nicht in Frage. Leopold erlebte noch, dass sich der Krieg seit 1704 zugunsten Habsburgs wendete und Ludwig XIV. erstmals vor einer verheerenden militärischen Niederlage zu stehen schien. Leopolds Herrschaft ist von einer für die Epoche charakteristischen Ambivalenz gekennzeichnet. Einerseits war er in Hinsicht auf seine dynastischen Ziele und auf seine Konfessionspolitik ein zutiefst traditioneller Herrscher. Die Mittel, derer er sich für diese Ziele bediente, waren freilich unkonventionell, offenbarten neuartige Formen rücksichtsloser Machtanwendung, die Ludwig XIV. am Ende zu Recht fürchtete – und die im 18. Jahrhundert Schule machen sollten. Insofern war Leopold I. nicht nur der wahrscheinlich erfolgreichste Kaiser der Neuzeit, sondern auch ein Herrscher „zwischen den Zeiten“.
Unbedingt die Dynastie sichern: Mit aller Härte gegen den Feind im Westen Zum Ausbruch kam der Krieg zwischen Leopold und Ludwig 1688: In Versailles hatte man die Fortschritte Leopolds im Südosten mit wachsendem Argwohn verfolgt. Als der Kaiser ein die endgültige Anerkennung aller „Reunionen“ verlangendes französisches Ultimatum zurückwies, setzte Ludwig sein Heer in Marsch. Die hochgesteckten politisch-dynastischen Ziele bestimmten Leopolds Kriegführung von Anfang an. Dies wird sichtbar an der kühnen, im Reich umstrittenen Entscheidung, trotz des neu ausbrechenden Krieges im Westen des Reichs den Türkenkrieg fortzusetzen. Die Alternative, durch Rückgabe einiger Neuerwerbungen an die Osmanen den Türkenkrieg zu beenden, lehnte der Kaiser strikt ab. Auch im Reich wehte ein neuer Wind. So kompromisslos wie nie zuvor wurden die Reichsstände vom Kaiser auf einen unerbittlichen Kriegskurs eingeschworen. Die feierliche Reichskriegserklärung von 1689 stellte Frankreich auf eine Stufe mit dem türkischen „Erbfeind“, und ohne Rücksicht auf die Mitspracherechte der Reichsgremien wurden die notwendigen Mittel eingetrieben. Die Einschüchterung der Reichsstände verfehlte ihre Wirkung nicht. 1690 wurde der Kaisersohn Joseph elfjährig zum Nachfolger im Kai-
Prof. Dr. Christoph Kampmann, geb. 1961, lehrt Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Marburg.
86 Kaiser Leopold I. – Stratege der Macht
Das Kolonialreich Nordamerika
Frankreich jenseits des Atlantiks Benjamin Steiner
In Konkurrenz zu Briten und Niederländern engagierte sich auch Frankreich auf dem amerikanischen Kontinent. Die französische Kolonialherrschaft war durch den Versuch gekennzeichnet, mit den indigenen Völkern auszukommen. Die wenig nachhaltige Unterstützung durch das Mutterland schwächte die Kolonie aber von Anfang an. wie es von nun an auch genannt Neufrankreich: Der Jurist und Autor Marc Lescarbot (um 1570 – werden sollte: Neufrankreich. 1642) bereiste 1606/07 die franDoch warum sollte der König von zösische Kolonie in Nordamerika. Frankreich ein Kolonialreich in dieAuf seiner Karte aus dem Jahr ser Weltgegend gründen? Spani1609 ist unter anderem die franer und Portugiesen konzentrierten zösische Ortsgründung Tadoussich auf die lukrativen Märkte Insac (Handelsposten seit 1600) zu diens und Chinas, beuteten die ersehen. oberten Reiche Amerikas aus, ließen Kanada jedoch bei ihren imperialen Plänen außen vor. War Frankreich, das sich im beginnenden 17. Jahrhundert gerade von einem zermürbenden Bürgerkrieg erholte, eine spät berufene Kolonialmacht, die nur noch das letzte Stück vom Kuchen abbekommen sollte? Kanada war ein Land, in dem es kaum Städte gab, kein Gold, keine Rohstoffe, lediglich Biber, deren Felle auch nur begrenzt Verwendung fanden. Was rechtfertigte also den Aufwand, die Beschwernisse einer kolonialen Landnahme auf sich zu nehmen? Was lockte die Franzosen nach Amerika, wo sie immerhin fast 200 Jahre
1612 schrieb der französische Jurist und Autor Marc Lescarbot an den König von Frankreich, den Vater des „Sonnenkönigs“, Ludwig XIII.: „Es gibt zwei Gründe für Könige, Eroberungen zu machen. Einmal zu Ehren Gottes, zum anderen, um seinen Ruhm zu mehren.“ Doch seien die Landnahmeversuche Frankreichs, so fährt er fort, bislang nicht von Erfolg gekrönt. Eine französische Kolonie in Brasilien, das sogenannte Antarktische Frankreich, sei 1558 von den Portugiesen vernichtet worden. Und eine zweite Kolonie in Florida hätten zehn Jahre später die Spanier vollständig ausgelöscht. Ein Neuanfang für ein französisches Überseereich sei daher unbedingt notwendig, meinte Lescarbot: „Wie, Sire, soll sich der Spanier rühmen dürfen, dass er herrscht, wo immer auch die Sonne scheint vom Aufgang bis zum Untergang; und Ihr, der Ihr der erste König auf Erden, ältester Sohn der Kirche seid, solltet Ihr nicht dasselbe sagen können?“ Als geeigneter Ort erschien dem Ratgeber die Region um den schon im 16. Jahrhundert erkundeten Sankt-Lorenz-Strom – Kanada, oder
87
zu schöpfen war. Unter Ludwig XIV. wurden die beiden Hauptsiedlungen Neufrankreichs, Montréal und Québec, ausgebaut, so dass erstmals Metropolen in der kolonialen Provinz entstanden. Aber das Reich in Kanada existierte nur bis 1763, als Frankreich es nach dem Siebenjährigen Krieg im Vertrag von Paris an Großbritannien abtreten musste.
Das entstehende atlantische Wirtschaftssystem sorgt für neue Produkte und mehr Konsum Um zu verstehen, warum Frankreich, genauso wie Großbritannien (und im geringeren Maße die Niederlande), im 17. und 18. Jahrhundert große Besitzungen in Nordamerika beanspruchte, lohnt ein Blick auf den gesamten Atlantikraum. Denn dieser Ozean entwickelte sich damals zu einem transkontinentalen Wirtschaftsraum, der die Grundlage für eine enorme Vermögensbildung in Europa war. Kanada lieferte vor allem Felle, unter anderem von Bibern. „Denn Sie müssen wissen, dass Kanada nur des großen Pelzhandels wegen überlebt, von dem drei Viertel von jenen Stämmen kommt, die in der näheren Umgebung der Großen Seen leben“, notierte der Militär und Schriftsteller Louis Armand de Lom d’Arce, Baron de Lahontan, in seiner 1703 erschienenen Reisebeschreibung. Produkte wie Zucker aus Brasilien, Kaffee aus der Karibik, Tabak aus Virginia, Indigo aus Westafrika und eben auch die Biberfelle aus Kanada ermöglichten eine Konsumkultur, die für Händler einen neuen Markt darstellte, und dieser bescherte kontinuierliche Profite, wie man es vorher noch nicht gekannt hatte. Immer mehr Menschen, zuerst an fürstlichen Höfen, dann auch in einer immer wohlhabender werdenden Bürgerschicht, konsumierten Zucker im Tee und in Form von Gebäck oder ließen sich Hüte aus Biberfell machen. Konsum war nicht mehr nur die Ausnahme, er gehörte immer mehr zum Alltag. Kehrseite dieses Wohlstandes war freilich der Bedarf an Arbeit. Und der Großteil der Arbeitskraft wurde durch die Versklavung, Deportierung und die lebenslängliche Zwangsarbeit von Afrikanern und Afrikanerinnen gewonnen. Ihre unfreiwillige Arbeits-
Siedlungen aufbauten, expandierten, Handel mit der indigenen BeEuropa Verbreitung fanden und das völkerung trieben und das Land nachhaltig prägten? wirtschaftliche Interesse der Handelsnationen weckten. Der Stich Als Marc Lescarbot sein Buch, von 1775 zeigt englische Kolonisdie „Histoire de Nouvelle France“, ten vor einem Tabak-Lager an der schrieb, war das den meisten verantwortlichen Zeitgenossen völlig Bucht von Chesapeake. unklar. Erst im Lauf des 17. Jahrhunderts kam es überhaupt zu nennenswerten Anstrengungen, die Kolonie Neufrankreich als Besitz der Krone zu verstehen, aus dem tatsächlich Gewinn Tabak war eines der Anbauprodukte aus der Neuen Welt, die bald in
Hochelaga war ein Dorf der Irokesen in der Nähe der heutigen kanadischen Stadt Montréal. Bei seiner Reise Anfang des 17. Jahrhunderts durch die von Frankreich beanspruchten Gebiete zeichnete Marc Lescarbot diesen Ort auf einer Karte ein (Reproduktion aus dem 19. Jahrhundert).
88 Frankreich jenseits des Atlantiks
leistung trieb den Motor des transatlantischen Sklavenhandels an und steht am Anfang des fatalen Kreislaufs der Erzeugung eines Angebots, das eine immer stärker werdende Nachfrage stimulierte. Auch Frankreich hatte maßgeblichen Anteil an diesem „Weltsystem“, wie es der Historiker Immanuel Wallerstein genannt hat. Zwar beteiligte sich Frankreich erst seit der zweiten Hälfte der Regierungszeit Ludwigs XIV., also etwa seit 1685, immer mehr am Geschäft mit der Sklavenarbeit. Doch unterhielt das Königreich am Ende des 18. Jahrhunderts eine der profitabelsten Sklavenökonomien des Atlantiks überhaupt. Welche Rolle spielte Neufrankreich in diesem Wirtschaftssystem? Kanada war doch ungeeignet, um Zucker oder Kaffee anzubauen. Selbst Tabak oder Baumwolle, zwei andere bedeutende Cash Crops (also vermarktbare Landwirtschaftserzeugnisse), die der Sklavenarbeit bedurften, wuchsen dort schlecht. Wichtiger waren dafür die karibischen Inseln, besonders Saint-Domingue, das heutige Haiti, wo die Franzosen afrikanische Sklaven auf den Zuckerplantagen arbeiten ließen. Die Sklaven wurden meistens in Westafrika gekauft, in erster Linie an der Küste von „Senegambia“ (das ist das Gebiet der heutigen Staaten Senegal und Gambia), wo Frankreich seine frühesten Handelskontakte zu Afrikanern hatte. Schon unter dem Ersten Minister Ludwigs XIII., Kardinal Richelieu, gründeten Händler aus SaintMalo dort 1659 die befestigte Niederlassung SaintLouis an der Mündung des Senegal-Flusses. Warum also sollte man eine Kolonie gründen, wenn es dafür keine ökonomischen Motive gab? Marc Lescarbots Werbeschrift für das neue Frankreich in Kanada schiebt andere Gründe vor: Kanada könnte die religiösen Konflikte lösen, unter denen Frankreich schon seit so langer Zeit litt. Hugenotten und Katholiken könnten in der Neuen Welt gemeinsam die Gelegenheit ergreifen, eine wahre christliche Gemeinschaft in Frieden und Eintracht zu etablieren. Darüber hinaus verstand Lescarbot es auch als Aufgabe der Franzosen, die indigene Bevölkerung zum Christentum zu bekehren. Doch um die Kirche in Kanada aufzubauen, so argumentierte er, brauchte es zuerst eine staatliche Ordnung.
viele Franzosen ausgesprochen schwer. Was gab es schon für Anreize, sich in die nordamerikanische Wildnis zu begeben? Und auch die Berichte über die indigenen Bewohner waren zumindest widersprüchlich. War ein friedliches Zusammenleben mit ihnen überhaupt möglich? Die Zeichnungen John Whites, die durch die Kupferstiche der Werkstatt Theodor de Bry weite Verbreitung in Europa erfuhren, vermittelten den Eindruck von friedlichen Menschen – die Algonkin, die White in North Carolina zeichnete, schienen einfach, aber harmonisch zu leben. Krieger der Secotean wirkten dagegen womöglich einschüchternd: stark tätowiert und bewaffnet. Dennoch repräsentierten aber auch sie letztlich den Typus des im 16. Jahrhundert noch Die von Samuel de Champlain gepositiv wahrgenommenen wilden gründete Siedlung Québec („AbitaKämpfers. tion de Quebecq“) in einer DarstelWelches aber waren die wirklung aus dem Jahr 1627 (Kupferlichen Antriebe eines Siedlers, stich nach einer Skizze Champlains). sich in Kanada niederzulassen?
Biberfelle – zentrales Handelsgut im Austausch mit den Indigenen Tatsächlich gab es nur wenige Siedler, die es nach Neufrankreich zog. Schließlich war der Schritt, nach Übersee zu gehen und dort dauerhaft zu bleiben, für
89 Biberfelle – zentrales Handelsgut im Austausch mit den Indigenen
wenigen Holzhäusern bestand und erst im Lauf der Zeit zu einer befestigten Niederlassung ausgebaut wurde, eine französische Kolonie in Kanada aufzubauen. Freilich erfüllten sich die Träume eines Lescarbot nicht mit diesem Neufrankreich. Vielmehr standen die wirtschaftlichen Interessen im Vordergrund: der Handel mit den befreundeten indigenen Stämmen, insbesondere den Algonkin und Huronen (die korrekte Bezeichnung lautet: Wyandot). Biberfelle stellten dabei die wichtigste Handelsware dar. Als die Niederländer noch über ihr Territorium im heutigen Bundesstaat New York verfügten, Nieuw Nederland, 1624 in Besitz genommen und 1667 an England abgetreten, besaßen die Irokesen einen mit den Franzosen konkurrierenden Handelspartner. Das verschaffte den Irokesen einen direkten Zugang zum europäischen Markt. Zudem konnten sie ihre Waren bei den Niederländern auch gegen moderne Waffen tauschen, die im Kampf gegen die traditionellen indigenen Feinde eingesetzt wurden. Die „Biberkriege“, ein seit den 1630er Jahren bis 1700 andauernder Konflikt, waren demnach eine vielschichtige Auseinandersetzung. Alte Feindschaften unter Stämmen spielten dabei ebenso eine Rolle wie die Konkurrenz europäischer Nationen untereinander, die Nordamerika als Schauplatz für ihre Stellvertreterkriege nutzten.
Folgen wir dazu einmal dem Gründer von Québec, Samuel de bis 1633 mehrere Erkundungsreisen Champlain (1574 −1635). Dieser unternahm schon früh (um in das Gebiet des heutigen Kanada. 1600) Reisen nach Amerika, vor Als erster Gouverneur leitete er die allem, um dort die wirtschaftliKolonisierung Neufrankreichs (Darchen Möglichkeiten zum Handel stellung aus dem 19. Jahrhundert). und zur Kolonialisierung zu erkunden. Es galt dabei nicht zuletzt, neue Fischgründe vor der Nordostküste Amerikas zu erschließen, aber auch, den schon von einzelnen Händlern betriebenen Fellhandel für sich zu gewinnen. Wie der Bretone Jacques Cartier etwa 60 Jahre zuvor fuhr Champlain 1603 entlang der Mündung des SanktLorenz-Stroms und an der Halbinsel Akadien vorbei. Bei seiner Rückkehr berichtete er dem König Heinrich IV. von den indigenen Einwohnern der Region; insbesondere von seinen Begegnungen mit den Montagnais (heute: Innu) und den Algonkin erzählte Champlain. Mit diesen indigenen Völkern unterhielten die Franzosen später friedliche Beziehungen, ließen sich aber in deren kriegerische Auseinandersetzungen mit den Irokesen, einer Stammesföderation der Cayuga, Mohawk, Oneida, Seneca und Tuscaroga, verwickeln. Das sollte insbesondere für die weitere Entwicklung der Kolonie Konsequenzen haben. Doch zunächst gelang es Samuel de Champlain mit der Gründung von Québec, das anfangs nur aus Samuel de Champlain (1574 – 1635)
unternahm in den Jahren von 1603
Bei der Besiedlung Neufrankreichs stießen die Franzosen auf die Algonkin, ein Volk von Indigenen, das sich aus unterschiedlichen Stämmen zusammensetzte (AlgonkinMann, Stich von 1645).
90 Frankreich jenseits des Atlantiks
Der Osten Nordamerikas im 17. und 18. Jahrhundert Hudson Bay hewan katc S as
James Bay Winnipegsee
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Jolliet und Marquette 1673
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Ft. Albany Portsmouth Ft. Oswego Fort Niagara 6 Boston N e w Yo r k Dollier u. Fort Pontchartrain 4 5 Galinée
Chicago Michigansee Fort Saint-Joseph Fort Saint-Louis Illinois Fort Miami Fort Crèvecœur
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Delaware Maryland New Jersey Connecticut Rhode Island Massachusetts New Hampshire
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1687
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1685/86 1684
Atlantischer Ozean
La Salle
Golf von Mexiko
0
200
400
Französisches Territorium Britisches Territorium Spanisches Territorium Erkundungen 1670 –1755
600 km
Gouverneure und Intendanten: Doppelspitze in der Kolonialverwaltung sorgt für Konflikte
seien, lange Seereisen zu unternehmen und Kolonien zu gründen. Diesen antworte ich, dass das alte Schimären sind …, vielmehr sind die Franzosen dazu befähigter als jede andere Nation der Erde.“ Richelieu erkannte durchaus den Nutzen der Kolonien als zusätzliche Einkommensquelle für die Staatsfinanzen. Die Krone stellte zu dieser Zeit schon lange Patente für bestimmte Handelskonzes-
Im November 1626 versuchte Isaac de Razilly, Marineoffizier und Berater Richelieus, in einem Memorandum, für ein stärkeres französisches Engagement in Nordamerika zu werben: „Viele Personen von Rang … sagten mir, … dass die Franzosen unfähig
91 Gouverneure und Intendanten: Doppelspitze in der Kolonialverwaltung sorgt für Konflikte
sionen aus, doch ein direktes Abschöpfen der Gewinne durch den Staat war dabei noch schwierig. Deshalb folgte Richelieu dem niederländischen Vorbild der Vereinigten Ostindischen Kompanie (VOC), Handelsgesellschaften zu gründen, die ein Monopol für bestimmte Gebiete in Übersee besaßen. Die „Compagnie des Cent-Associés“ war eine solche Gesellschaft, bestehend aus Aktionären, die bereits im Kolonialhandel tätig waren. Samuel de Champlain gehörte wie auch Razilly zu den Investoren, die für den Biberfellhandel in Kanada privilegiert waren. Auch in anderen Weltregionen, etwa im afrikanischen Senegal, erhielten bestimmte Gesellschaften solche definierten Monopole. Man muss daher diese Reformierung des staatlich kontrollierten Kolonialhandels im Kontext des gesamten atlantischen Wirtschaftssystems sehen: Der Staat brauchte Zugang zu den immer größer werdenden Gewinnen, die durch die Schaffung eines Marktes mit Gütern und hohen Profitmargen entstanden. Das sollte langfristig zu einer besseren Finanzlage der Haushalte führen und die Handelsbilanz gegenüber anderen Nationen, insbesondere den Portugiesen und Spaniern, später gegenüber den Niederländern und Engländern, verbessern. Diese Wirtschaftspolitik wurde nach der Unterbrechung durch Adelsaufstände der „Fronde“ in Frankreich unter Ludwig XIV. weiter fortgeführt. Der neue Generalkontrolleur der Finanzen, Marineminister und oberste Aufseher der Wirtschaft und des Handels im Königreich, Jean-Baptiste Colbert, nahm sich die Politik Richelieus als Vorbild und unternahm weitere Reformen. 1663 wurde Neufrankreich zur königlichen Provinz erhoben und erhielt als solche einen Gouverneur und einen Intendanten. Es wurden Anreize für Siedler geschaffen, indem diesen beispielsweise die Überfahrt bezahlt wurde. Nach einer Zählung unter dem ersten Intendanten, den Colbert nach Kanada schickte, Jean Talon, lebten im Winter 1665/66 3215 Franzosen, davon allerdings nur 1181 Frauen, in der Kolonie. Gerade der Mangel an Siedlerinnen bereitete der Kolonialverwaltung Sorgen. Man versuchte, diesem Problem durch die Verschickung von Waisenkindern
So sahen die Dörfer der Algonkin aus, denen Franzosen und Briten in Nordamerika begegneten. Der Stich von Theodor de Bry von 1590 basierte auf einer Zeichnung des englischen Kolonisten und Künstlers John White (um 1540 – um 1593), der 1585 die Neue Welt bereist hatte.
Im Nordosten des amerikanischen Kontinents war das Kanu im 16. Jahrhundert das am besten geeignete Fortbewegungsmittel. Die Indigenen fertigten diese Boote an, indem sie Baumstämme mit Hilfe von Feuer aushöhlten (Zeichnung: John White, Stich: Theodor de Bry).
92 Frankreich jenseits des Atlantiks
in die Neue Welt abzuhelfen, wie 1670 ein Schreiben Colberts an den Erzbischof von Rouen belegt: „In den letzten Briefen, die ich aus Kanada erhalten habe, teilte man mir mit, dass die Mädchen, die man im vergangenen Jahr dort hingeschickt hat und die aus dem Generalhospiz [von Paris] stammten, für das Klima oder die Landarbeit nicht robust genug seien. Es wird als vorteilhafter angesehen, dorthin junge Mädchen vom Land zu schicken, die die Mühsal ertragen können, die es in dem Land auszuhalten gilt.“ Colbert bat den Kleriker, in seinem Bistum nach Mädchen Ausschau zu halten, die man zur Überfahrt nach Kanada ermuntern könnte, „um dort zu heiraten und für immer zu bleiben“. Weitere Investitionen sollten dazu beitragen, die Kolonie zu einer Provinz nach dem Vorbild der Hei-
Louis de Buade, Comte de Frontenac et de Palluau (1622 – 1698), war mit einer Unterbrechung über 20 Jahre lang Gouverneur von Neufrankreich. Er baute unter anderem befestigte Plätze wie das Fort Cataraqui, später nach ihm Fort Frontenac benannt, am Ontario-See.
mat umzuformen. Montréal und Québec wurden ausgebaut, erhielten Stadtmauern sowie eine bessere Infrastruktur, und eine königliche Straße, der „Chemin du Roy“, verband die beiden Städte. Auch die Administration wurde nach dem Vorbild des Mutterlandes organisiert. Das Gouverneursamt war Adligen vorbehalten. Ebenso wurde das Land in Form von „Seigneurien“ (Herrschaften) schon seit Richelieu an Angehörige des Adels und verdiente Offiziere verliehen. Ergänzt wurde diese Struktur durch eine Verwaltung, deren Personal sich, ebenso wie in Frankreich, aus dem aufstrebenden Bürgertum rekrutierte. Der Intendant, der Leiter der Verwaltung, und seine Untergebenen waren eng mit den Netzwerken der Händler und Financiers verbunden. Das Nebeneinander dieser zwei Hierarchiestrukturen machte sich immer wieder in Konflikten zwischen Gouverneur und Intendant bemerkbar. Während diese Doppelspitze einerseits die Kontrolle der Überseeprovinz durch die Krone gewährleistete, hemmte sie andererseits auch das Wachstum der Kolonie. Ein Brief Colberts aus dem Jahr 1670 an den Intendanten Jacques Duchesneau (1675 −1682) illustriert diese Konflikte zwischen Gouverneur und Intendant anschaulich. Colbert ermahnt diesen, die Autorität des Gouverneurs Louis de Buade de Frontenac (1672 −1682 und 1689 −1698) zu respektieren. Trotz dieser Klarstellung muss man folgern, dass die Hierarchieverhältnisse in der Kolonie nicht immer eindeutig waren. „Sie reden, als ob M. de Frontenac immer falsch liege, und als ob er … nichts ohne Absprache mit Ihnen machen dürfe; es scheint letztendlich so, dass Sie sich ständig auf einer Ebene mit
Jesuiten stießen ins Landesinnere vor, um die indigenen Völker zu missionieren. So lebten die beiden französischen Pater Jean de Brébeuf und Gabriel Lalemant bei den Huronen. Bei einem Überfall auf die Mission wurden sie von Irokesen gefangen und starben am Marterpfahl (kolorierter Stich).
93 Gouverneure und Intendanten: Doppelspitze in der Kolonialverwaltung sorgt für Konflikte
ihm sehen. Die einzige Antwort, die ich Ihnen auf all Ihre Depeschen gebe, ist, … dass Sie den Unterschied anerkennen müssen, der zwischen einem Gouverneur und Generalstatthalter des Landes, der die Person des Königs repräsentiert, und einem Intendanten besteht.“
gebaut sei. Das Landesinnere von Nordamerika war im 17. Jahrhundert noch größtenteils unbekannt. 1682 brach jedoch René Robert Cavelier de La Salle (1643 − 1687) zu einer Expedition in das Ohio- und das Mississippi-Tal auf und erhob im Verlauf dieser Reise Besitzanspruch auf das gesamte Territorium von den Großen Seen bis zum Golf von Mexiko. Er nannte das Gebiet seinem König zu Ehren La Louisiane und gründete am Golf eine kleine Kolonie, die aber wenig später zugrunde ging. Erst mit der Gründung von Nouvelle Orléans 1718 wurde der wirkliche Grundstein für den Herrschaftsanspruch über das riesige Gebiet des Mississippi-Tals gelegt, der erst 1804 mit dem Verkauf an die Vereinigten Staaten von Amerika aufgegeben wurde. Wichtigstes Fortbewegungsmittel für La Salle und andere Reisende war das Kanu. Der Franziskanerpater de Galinée beschreibt im Jahr 1669 diese nützliche Gerätschaft: „Das sind kleine Boote aus Birkenrinde, ungefähr 20 Fuß lang und zwei Fuß breit, innen verstärkt durch ganz schwache Spanten und Planken, so dass ein Mann ein Boot ganz bequem tragen kann, während das Boot vier Männer oder achthundert bis neunhundert Pfund Gepäck zu tragen vermag.“ Der Versuch, den Westen für Frankreich zu erschließen, hatte auch damit zu tun, einen möglichen Weg nach Asien, die sogenannte Nordwestpassage, zu finden. Denn die Verbindung des atlantischen Wirtschaftsraums mit dem Asiens war das Ziel, seit die Europäer überhaupt gewagt hatten, Segel zu anderen Ufern zu setzen. Vor diesem Hintergrund begann Frankreich, sein nordamerikanisches Territorium zu markieren. Insbesondere die wichtigsten Verkehrsadern durch das Land, die Flüsse, wurden in regelmäßigen Abständen mit Forts gesichert. Bis in die 1750er Jahre bauten die Franzosen solche befestigten Plätze, die in der Praxis nicht der Sicherung der Westroute, sondern vielmehr des Pelzhandels dienten. So errichtete der Fellhändler Louis-Joseph Gaultier de La Vérendrye im Jahr 1741 das Fort Bourbon am Saskatchewan-Fluss an der Stelle des heutigen Orts Grand Rapids. Dieses Fort stellte die weiteste Expansion der Franzosen nach Nordwesten dar. Auch Gouverneur Frontenac baute Festungen, etwa 1673 das Fort Cataraqui (später Fort Frontenac).
Vorstöße ins Landesinnere: Kanu als wichtigstes Verkehrsmittel Der Aufbau der Kolonie unter Ludwig XIV. war begleitet von einem entschiedenen, aber individuellen, nicht zentral koordinierten Expansionsstreben. Colbert warnte den Gouverneur Frontenac sogar vor allzu waghalsigen Entdeckungsvorstößen, bevor nicht die Infrastruktur der Kolonie genügend aus-
Alltag der Huronen: Eine Gruppe der Indigenen jagt und bereitet auf offenen Feuerstellen das Essen zu (Stich von Alain Manesson Mallet, 1686).
94 Frankreich jenseits des Atlantiks
Die Festung sicherte die strategisch bedeutende Stelle, an der der Sankt-Lorenz-Strom den Ontario-See verlässt. Die Irokesen belagerten Fort Frontenac 1688, woraufhin es zunächst von den Franzosen verlassen, später aber wieder genutzt wurde. Diese Bautätigkeit war typisch für den Geist der Zeit: Die geometrisch angelegten Verteidigungsanlagen sollten nicht nur Schutz vor Kanonaden gewährleisten. Sie waren vielmehr Ausdruck eines imperialen Expansionsprogramms, das die Ansprüche auf territorialen Besitz in aller Deutlichkeit materiell unterstreichen sollte. Für die ursprünglich friedfertigen Absichten der Franzosen in Kanada war das aber hinderlich. Der Einsatz von französischen Schuldarbeitern, den engagés (diese erhielten eine freie Überfahrt und verpflichteten sich im Gegenzug für 36 Monate zur Arbeit), aber auch indigener Sklaven hatte Spannungen sowohl zwischen den adligen Grundherren und Siedlern als auch zwischen den Franzosen und der indigenen Bevölkerung zur Folge. Diese Tatsache unterminierte eine stabile Verwaltung in der Kolonie von innen und von außen und stellt letztlich eine der Ursachen für den langfristigen Niedergang des französischen Imperiums in Nordamerika dar. Die Verhältnisse, in denen die französischen Schuldarbeiter leben mussten, waren miserabel. Das geht unter anderem aus einer Verordnung des Staatsrats vom 28. Februar 1680 hervor, die den Arbeitsdienst in den Kolonien als Gegenleistung für die Überfahrtskosten auf 18 Monate beschränkte: „Der König ist darüber unterrichtet worden, dass mehrere Seiner Untertanen einmal gehegte Pläne, nach den [Antillen-]Inseln und dem amerikanischen Festland auszuwandern, um die dortigen französischen Kolonien zu vergrößern, wieder aufgegeben haben, weil sie von der berechtigten Furcht geplagt wurden, nach ihrer Ankunft drei Jahre bei Personen in Dienst zu stehen, die sie nicht kennen und von denen sie eine schlechte Behandlung zu erwarten hätten.“
Ein Mohawk-Häuptling, 1710 gelauf des Mississippi. Zunächst malt vom holländischen Künstler paddelten die beiden, begleitet Jan Verelst. Die Mohawk gehörten von fünf Métis (das sind Nachzur sogenannten Irokesen-Liga, fahren von Europäern und Ineinem Zusammenschluss von zudigenen), in Kanus flussabwärts nächst fünf, später sechs Stämmen. zum Golf von Mexiko. Dann aber kehrten sie um und fuhren flussaufwärts bis zur Mündung des Illinois-Flusses, auf dem sie wieder bis zu den Großen Seen zurück paddelten. Pater Marquette kehrte 1674 zurück zu den Illinois (ein von den Franzosen so genanntes Indigenenvolk), überwinterte an der Stelle des heutigen Chicago, starb aber bei seiner Reise zurück nach Michigan. Der Jesuitenpater Jean de Brébeuf beschrieb eine solche beschwerliche Fahrt, zu der auch regelmäßige „Portagen“ (das Tragen der Kanus über unschiffbare Passagen) gehörten: „Ich habe die Zahl der Überlandtransporte überschlagen und glaube, dass wir sie [die Kanus] 25-mal auf den Schultern getragen und mindestens 50-mal geschleppt haben. Manchmal habe ich dabei auch geholfen, um meine Wilden [die indigenen Hilfskräfte] zu unterstützen, aber der Flussgrund ist so voller spitzer Steine, dass ich, barfuss wie ich war, dort keine längere Strecke laufen konnte.“ Pater Jacques Marquette gründete bereits 1668 zusammen mit Claude Dablon die Mission von
Das Wirken der Jesuiten: Neugierde und der Wunsch, die Indigenen zu missionieren Einer anderen, durchaus aber mit der imperialen Strategie zu vereinbarenden Zielsetzung folgten die Missionsreisen der Jesuiten. Zusammen mit dem Fellhändler Louis Jolliet unternahm der Jesuitenpater Jacques Marquette 1673 von Saint-Ignace aus, einer Mission im Norden des heutigen US-Bundesstaats Michigan, eine Expedition zum oberen Fluss-
95 Das Wirken der Jesuiten: Neugierde und der Wunsch, die Indigenen zu missionieren
Sault Sainte-Marie (Michigan). Dem Stellvertreter des Intenindirekt auch in Nordamerika, wo danten Jean Talon, Simon-FranFranzosen und Engländer gegeneinçois de Saint-Lusson, diente dieander kämpften. Allerdings beteiligse Gründung dazu, im Jahr 1671 ten sich auf beiden Seiten die jedas Gebiet um den Oberen See weiligen indigenen Verbündeten für Ludwig XIV. zu beanspruchen. daran, was dem Konflikt einen Missionstätigkeit ging so häueigenen Charakter gab. Auch um fig der territorialen VereinnahPort Royal, die älteste Siedlung mung voraus. In erster Linie war Neufrankreichs, wurde militärisch es natürlich der Missionsdrang gerungen. der Jesuiten, der als Hauptantrieb dieser Unternehmungen gelten muss. Und so dienten jesuitische Gründungen wie „Sainte Marie among the Iroqouis“ im heutigen Bundesstaat New York oder „Sainte Marie among the Hurons“ im heutigen kanadischen Bundesstaat Ontario zur Bekehrung der indigenen Stämme der Irokesen und Wyandot. Diese waren Siedlungen, in denen Jesuitenpater zusammen mit Indigenen, aber auch Mischlingen und französischen engagés lebten. Antrieb der Jesuiten war aber auch ihre Neugierde auf die Lebensumstände der indigenen Bewohner Nordamerikas. Sie gründeten Missionen an Siedlungen und Plätzen, die als Modellstätten einer idealen christlichen Gemeinschaft dienen sollten. Die Jesuiten sammelten zu diesem Zweck Wissen über die Sprache, Sitten und Gebräuche der unterschiedlichen Stämme. Dieses Wissen schickten sie in sogenannten Relationen zurück nach Rom, wo sie heute einen rei-
chen Fundus an frühem ethnographischem, linguistischem und historiographischem Wissen darstellen. Der Umgang der französischen Jesuiten mit den Indigenen trägt heute noch zum Mythos bei, die Franzosen seien besonders milde Kolonialherren gewesen, was sie von den Spaniern und Engländern unterscheide. Doch standen die religiösen Absichten der Jesuiten, abgesehen von der Tatsache, dass sie anderen ihren Glauben weitergeben wollten, häufig dennoch nicht im Gegensatz zu den politischen und ökonomischen Zielen der Laien.
Der Pfälzische Erbfolgekrieg (1688 – 1697) fand seinen Niederschlag
Kriege in Nordamerika: Europäische Konflikte finden Nachhall in Übersee Das wurde deutlich in den kriegerischen Auseinandersetzungen der Franzosen und Briten, bei denen auf das Schicksal der indigenen Bevölkerung keine Rücksicht genommen wurde. Der Siebenjährige Krieg sollte daher ein Einschnitt werden in dem Versuch, die Kolonisierung Nordamerikas mit einer Strategie der Annäherung und Anpassung voranzutreiben. Doch gingen diesem „ersten Weltkrieg“ andere kriegerische Auseinandersetzungen zwischen europäischen Nationen voraus. Bevor sich die beiden Großmächte des 18. Jahrhunderts, Frankreich und Großbritannien, gegenüberstanden, waren die Konflikte in Übersee im Zeitalter Ludwigs XIV. ein Phänomen des gesamten europäischen Staatensystems. Am Anfang der Regierung Ludwigs XIV. stand
96 Frankreich jenseits des Atlantiks
nicht der Konflikt mit England, sondern der mit den Niederlanden. Erst nachdem der Nachbar im Holländischen Krieg von 1672 bis 1678 als kolonialer Konkurrent marginalisiert wurde, begann sich eine Frontstellung zwischen den beiden Königreichen herauszubilden. Anlass war sicherlich der Pfälzische Erbfolgekrieg (1688 − 1697), der bereits die nordamerikanischen Kolonien zum Schauplatz hatte. Worum ging es Ludwig XIV. in diesem Krieg? Und warum war das noch gegen die Niederlande verbündete England zum Hauptgegner geworden? In der amerikanischen Geschichtsschreibung heißt der Pfälzische Erbfolgekrieg gar nicht so. Auch die für die europäische Historiographie gebräuchliche Bezeichnung „Neunjähriger Krieg“ (in Großbritannien) oder „Krieg der Augsburger Liga“ (in Frankreich) ist in den USA heute ungebräuchlich. Vielmehr spricht man vom „First French and Indian War“ (Erster Französisch-indianischer Krieg) oder vom „King William’s War“ (gemeint war Wilhelm III. von Oranien, seit 1689 in Personalunion König von England, Irland und Schottland und ein scharfer Gegner des expandierenden Frankreich). Alle Bezeichnungen sind freilich dem nationalistischen Interesse angepasst und verfehlen den globalen Charakter dieses Krieges. Zusammen genommen ergeben die Namen jedoch die jeweiligen Ursachen und Anlässe, von denen beispielsweise die Erbfolge der Pfalz und der Wechsel auf dem englischen Thron, wo nach der sogenannten Glorious Revolution Wilhelm von Oranien auf Jakob II. folgte, nur zwei Beispiele darstellen. Im Großen und Ganzen ging es wohl um eine Neuordnung der politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse in Europa, die durch die Expansion des atlantischen Wirtschaftssystems aus dem Gleichgewicht geraten waren.
Neufrankreich mit Strafexpeditionen gegen das Irokesen-Volk der Seneca, das wiederum mit Angriffen gegen Orte in Neufrankreich zurückschlug. Nicht zuletzt stellten auch die katholischen Missionen, die immer mehr Richtung Süden unternommen wurden, eine Bedrohung für das protestantische Neuengland dar. Englische Siedler aus Massachusetts dehnten ihr Siedlungsgebiet im Gegenzug immer weiter nach Norden aus, insbesondere nach Akadien (das nordöstliche, von Frankreich beanspruchte Gebiet). Auch dabei wurden indigene Interessen verletzt, was die Gründung einer Anne Stuart, von 1702 bis 1714 weiteren Föderation, der Wabana- Herrscherin über England und ki-Konföderation (einer Föderation Schottland sowie Königin von Iraus Algonkin-Stämmen, gegen die land, wollte im Spanischen ErbfolgeIrokesen-Liga gerichtet), zur Folge krieg verhindern, dass Spanien an Frankreich fiel. In Nordamerika hatte. Der Konflikt in Nordamerika in- kämpften England und Frankreich volvierte demnach mehrere, sehr vor diesem Hintergrund um die kounterschiedliche Gegner. Von einer loniale Dominanz (Ölgemälde von Übermacht der Europäer gegenüber Willem Wissing, 1687).
Auf dem nordamerikanischen Schauplatz mischen die Indigenen mit Aus amerikanischer Perspektive aber war der Krieg zunächst von den Spannungen zwischen Franzosen in Neufrankreich, Engländern in Neuengland und der Irokesen-Föderation bestimmt. Was war hier, abgesehen von der europäischen Konfliktlage, das Problem? Seit die Engländer die Territorien der ehemaligen Neu-Niederlande übernommen hatten, waren sie damit auch zu den Haupthandelspartnern der Irokesen geworden. Auf Drängen der Engländer unterbrachen diese den Fellhandel zwischen Franzosen und den westlichen Stämmen. Darauf reagierte
97 Auf dem nordamerikanischen Schauplatz mischen die Indigenen mit
den Indigenen kann man nicht sprechen. Vielmehr waren Frantion, einem Zusammenschluss verzosen und Engländer auf die einschiedener Algonkin-Stämme, unterheimischen Verbündeten angestützt. Gemeinsamer Gegner beider wiesen. Das ging immer so lange war die Irokesen-Liga. Der Kupfergut, bis die Interessen der Alliierstich von 1613 zeigt französische ten zu divergieren begannen. Es Soldaten mit ihren Verbündeten im gehört zur tragischen GeschichGefecht mit Kriegern eines gegnerite des Kontinents, dass der Krieg schen Stammes. letztlich die Entfremdung der europäischen Siedler und der amerikanischen Stämme voneinander bewirkte. Die Gefechte, die dort geführt wurden, bei Port Royal in Akadien 1690, bei Québec im selben Jahr und bei Pemaquid 1696, hatten letztlich keine klaren Sieger. Gravierender waren die Erfahrungen eines brutalen Abnutzungskriegs, der großes Leid über die Zivilbevölkerung brachte. Insbesondere Angriffe der Abenaki (Wabanaki-Konföderation), etwa 1694 am Oyster-Fluss, oder der Mohawk (Irokesen-Liga) auf Lachine 1689, hinterließen die Erinnerung an „Massaker“ in der Geschichte der Franzosen und Engländer. Nicht zuletzt trug der Krieg dazu bei, dass sich das Bild vom „wilden“ und dazu brutalen „Indianer“ in den Köpfen der Europäer festsetzte. Dass die indigene Bevölkerung großes Leid ertragen musste, darf
dabei nicht vergessen werden. Nicht nur der Krieg schadete ihnen, sondern auch die von Europäern übertragenen Krankheiten, die verheerende Epidemien auslösten. So wurden etwa im Siebenjährigen Krieg die Pocken zum Teil sogar absichtlich gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt – ein frühes Beispiel biologischer Kriegführung. Der Krieg zwischen Neufrankreich und der Irokesen-Liga ging zunächst auch nach dem Frieden von Rijswijk 1697 weiter, der die Feindseligkeiten zwischen Frankreich und England beendete. So kann der Neunjährige Krieg nicht, wie oft behauptet, als erster Akt des imperialen Konflikts zwischen England und Frankreich um Dominanz in den amerikanischen Besitzungen gedeutet werden. Eine solche Sicht mindert die Bedeutung, die indigene Nationen in diesem Konflikt spielten. Außerdem muss der Kampf Kanadas gegen Neuengland im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen in der Karibik gesehen werden, wo Frankreich gleichzeitig drei europäischen Mächten gegenüberstand. Dort konzentrierten sich die Franzosen eher auf das spanische Festland als auf die Eroberung der englischen Inseln. Auch in Nordamerika war der Hauptgegner Frankreichs nicht England, sondern es waren die Irokesen, während die Wabanaki-Konföderation den Haupt-
Die Franzosen wurden in Nordamerika von der Wabanaki-Konfödera-
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gegner Englands in Massachusetts darstellte. Die Indigenen war nicht die Spielfiguren eines vermeintlich rein europäischen Konflikts, sondern fochten für eigene Interessen in der Region. Die nicht-imperiale Natur des Neunjährigen bzw. Pfälzischen Erbfolgekriegs bestätigt sich auch bei einem Blick in die französische Metropole. Der König und seine engsten Berater waren sich einig darin, dass sich die Kolonien selbst verteidigen und auch die Kosten für den Krieg in Amerika aufbringen sollten. Als Strategie empfahlen die Minister, Allianzen mit den indigenen Nationen zu schließen; insbesondere rechnete man mit der Unterstützung der Abenaki. Die Zentralregierung mischte sich daher weder im Konflikt um Neufrankreich noch in der Karibik ein. Trotz der Erfolge, die beispielsweise der Gründer Louisianas, Pierre Le Moyne d’Iberville, mit einer Kombination aus indigenen Truppen und Schiffen der Kriegsmarine gegen Neuengland erzielte, verkannte das Marineministerium diese Chance, sich die Vorherrschaft in Amerika zu sichern. Ein Plan d’Ibervilles, 1696 Boston einzunehmen, konnte daher aufgrund fehlender Seeunterstützung nicht umgesetzt werden. Die einzige nennenswerte Flotte, die unter dem Kommando des Marquis André de Nes-
mond zur Rückeroberung einiger verlorener Posten in der Hudson Bay geschickt wurde, reiste zu spät aus Brest und Rochefort ab – die Mission hatte keine Chance auf Erfolg.
Spanischer Erbfolgekrieg: ein weiterer Konflikt um die koloniale Dominanz Kaum Unterstützung erhielten die Kolonien auch im größten Krieg, den Ludwig XIV. als letzten Versuch führte, um die europäische Hegemonie zu erlangen: im Spanischen Erbfolgekrieg (1701 − 1714). Die Kolonien spielten nur eine marginale Rolle in den Planungen der Minister und des Königs. Colberts Traum von Frankreich als einer globalen Der Anfang vom Ende NeufrankHandels- und Kriegsmacht, die ein reichs: Nach einer längeren BelaKolonialreich von Neufrankreich gerung Québecs (kolorierter Stich) und der Karibik über Westafrika besiegten am 13. September 1759 bis nach Indien unterhielt, wurde britische Truppen in der Nähe der im Spanischen Erbfolgekrieg zu Grabe getragen. Der kostspieligsStadt französische Kräfte, die te Krieg Ludwigs war gleichzeitig einen Ausfall versucht hatten. Danach wurde die Stadt aufgegeben – auch der an menschlichen Verlus1763 wurde Neufrankreich endgülten reichste. Er führte die Montig britisch. archie beinahe an den Rand des
99 Spanischer Erbfolgekrieg: ein weiterer Konflikt um die koloniale Dominanz
Friedensgespräche zwischen Franzosen und Irokesen, die einen Gefangenen übergeben (Stich von 1807). Beide Seiten verpflichteten sich im „Großen Frieden von Montréal“ 1701 gegenseitig auf ein friedliches Zusammenleben.
völligen Ruins, verursachte Hungerkrisen von katastrophalen Ausmaßen und konnte nur unter Aufgabe der kolonialen Interessen mit einem einigermaßen akzeptablen Friedensschluss beendet werden. Der Name dieses Krieges ist wiederum aus Sicht des amerikanischen Schauplatzes unpassend. In den USA kennt man ihn als „Queen Anne’s War“ (gemeint ist Anne Stuart, Herrscherin über England und Schottland von 1702 bis 1714, seit 1707 Königin von Großbritannien), was wiederum irreführend ist. Aus kanadischer Sicht wird er als „zweiter interkolonialer Krieg“ bezeichnet. In einer weiteren Bezeichnung gilt er als „Second French and Indian War“. Eine wirkliche Unterbrechung zum vorhergehenden Konflikt stellt auch die Friedensperiode von 1697 bis 1701 demnach in Nordamerika nicht dar. Neufrankreich und Neuengland setzten ihre Kämpfe um die Gebiete zwischen ihren Siedlungsplätzen weiter fort. Insofern handelt es sich um einen weiteren Krieg um die koloniale Dominanz auf dem nordamerikanischen Kontinent, der im Übrigen auch in Florida zwischen England und Spanien sowie in der Karibik geführt wurde. Die Wabanaki-Konföderation war insbesondere in Akadien an der Auseinandersetzung beteiligt, zumeist als Alliierte der Franzosen. Zusammen un-
ternahmen sie mehrere Angriffe auf englische Siedlungen in Maine und Massachusetts, wobei mehrere hundert Siedler getötet wurden. Die Irokesen-Liga blieb unterdessen in diesem Konflikt neutral, nachdem sie 1701 in Montréal einen separaten Frieden mit Neufrankreich geschlossen hatte. Dieser „Große Friede von Montréal“ wurde vom Generalgouverneur Louis-Hector de Callière und 1300 Abgeordneten der 40 indigenen Völker unterzeichnet. Er war das Ergebnis langer Verhandlungen auf Augenhöhe. Im Vertrag wurde die Bereitschaft der Irokesen-Delegation zum friedlichen Zusammenleben festgehalten: „Wir haben uns hier versammelt, so wie Sie es wünschten, unser Vater [der Gouverneur Chevalier de Callière]. Sie pflanzten letztes Jahr einen Baum des Friedens ... Wir hoffen auch jetzt, dass die Türen zum Frieden offenstehen.“ Im Ergebnis wurden die Unternehmungen Englands gegen Neufrankreich, insbesondere ein Versuch, Québec 1711 mit einer Flotte zu belagern und zu erobern, zu Fehlschlägen. Nur die erneute Einnahme von Port Royal 1710, der Hauptstadt Akadiens, führte teilweise zur Eroberung der Halbinsel durch die Briten. Der Vertrag von Utrecht 1713, der Akadien, Neufundland und die Hudson Bay Großbritannien zusprach, zeigt vor diesem Hintergrund,
100 Frankreich jenseits des Atlantiks
Tod 1683, setzten sich die kontinentalen Interessen der übrigen Minister Ludwigs durch. Die Nachfolger Colberts, sein Sohn Jean-Baptiste, der Marquis de Seignelay in seiner Funktion als Marineminister und Minister des königlichen Hauses sowie die beiden Grafen Louis und Jérôme de Pontchartrain, zuständig für Finanzen, konnten und wollten sich nicht mehr für die Interessen der Kolonien einsetzen. So waren die einmal gegründeten Niederlassungen in Indien, den Maskarenen (Inselkette bei Madagaskar: Île Bourbon und Île de France), Westafrika, der Karibik und Nordamerika bald sich selbst überlassen. Ihr Schicksal war jedoch damit keineswegs besiegelt. Es gelang insbesondere in Kanada, auf Basis der Kooperation mit den indigenen Nationen, eine Wirtschaft zur Selbstversorgung (Subsistenzwirtschaft) aufzubauen. Diese lohnte sich bald für eine langsam steigende Anzahl von französischen Siedlern. Anders als in der Karibik ruhte der Wohlstand dort nicht auf einer immer massiver betriebenen Plantagen- und Sklavenökonomie. Zwar gab es auch in Neufrankreich Sklavenarbeit. Doch setzte man eher auf den Handel und ein friedliches Auskommen mit den amerikanischen Ureinwohnern. Waren die Franzosen nun milde Kolonialherren, wie immer wieder behauptet wird? Lediglich eine sanfte Zivilisierungsmission zeichnete das Engagement der französischen Siedler aus. Der Jesuitenorden, gerade in Frankreichs amerikanischen Kolonien stark vertreten, steht für diese Praxis der Anpassung und Annäherung an die indigenen Gesellschaften. Doch sei davor gewarnt, diese französisch geprägte Sicht blind zu übernehmen. Zwar wäre es ebenso falsch, eine anglozentrische Sichtweise zu übernehmen, die das Kolonialreich Frankreichs gerne als in der Anlage zum Scheitern verurteilt darstellt. Tatsächlich lassen sich die kolonialen „Erfolge“ der Franzosen durchaus mit denen der Engländer vergleichen. Später gehörte der Rückblick auf eine vermeintlich erfolgreiche Geschichte der Kolonien des ersten französischen Kolonialreichs zur Rechtfertigung des zweiten Kolonialreichs. Die Dritte Republik (1871 −1941) sah in der angeblich großen kolonialen Vergangenheit Frankreichs eine Kontinuität des besonderen französischen Kolonialethos wirken. Dazu passt die Einschätzung des US-Historikers Francis Parkman (1823 −1893), der in seiner Jugend zeitweise unter Indigenen gelebt hatte: Die Franzosen hätten diese verehrt, und gerade Frankreich habe durch die Kolonisierung kulturelle, zivilisatorische und letztlich republikanische Werte in die Welt
dass Frankreich seine nordamerikanischen Kolonien leichtfertig eintauschte, um Gebietsverluste in Europa zu vermeiden. Die indigenen Interessen, insbesondere die der Abenaki, blieben von diesem Vertrag unberücksichtigt. Diese schlossen zwar Separatverträge mit den Engländern, nämlich den Vertrag von Portsmouth. Die Mi’kmaq, ein weiterer Stamm der Wabanaki-Föderation in Akadien, das nun Teil der Provinz Neuschottland geworden war, wehrten sich indes gegen die Gebietsansprüche der Engländer. Der jesuitische Missionar Sébastien Rale (1657 − 1724), der seit den 1690er Jahren bei den Abenaki lebte, ermutigte diese zum Widerstand gegen die Engländer, nicht zuletzt auch im Interesse der französischen Kolonialverwaltung. Ein Ergebnis dieser Intervention war der sogenannte Dummer‘s War (nach dem englischen Gouverneur von Massachusetts, William Dummer), auch „Anglo-Wabanaki-Krieg“ oder „Father Rale’s War“ (nach dem jesuitischen Missionar; 1722 − 1727), an dem sich die Franzosen aber nicht beteiligten. Er führte kurzzeitig einerseits zur Stärkung der Abenaki in Neuschottland wie andererseits zur Festigung der englischen Herrschaft in Maine. Es war das erste Mal, dass die Engländer die indigenen Nationen als selbständige Akteure anerkannten und die Besitzrechte (dominium) über Territorien in Nordamerika mit diesen aushandelten. Insgesamt gingen die Kolonien in Amerika jedoch stärker als erwartet aus den Kriegen hervor. Paradoxerweise waren es gerade die Interventionen der Zentralregierung in Frankreich, die die meisten Probleme hervorriefen. In Neufrankreich erwies sich die koloniale Siedlergesellschaft als sehr robust. Durch den Frieden mit der Irokesen-Liga, dem Hauptgegner der Franzosen, entspannte sich die Lage ebenso wie durch das Stillhalten der englischen Kolonisten in New York.
Das koloniale Erbe des „Sonnenkönigs“ Die Geschichte des französischen Kolonialreichs im Zeitalter Ludwigs XIV. kündigte den weiteren Verlauf im 18. Jahrhundert bereits an. Zwar kann man vorsichtig von einem „imperialen Plan“ sprechen, den insbesondere Jean-Baptiste Colbert, Ludwigs oberster Wirtschaftslenker, hegte. Das geschah jedoch in erster Linie als Reaktion auf die Erfolge, die die Republik der Niederlande im 17. Jahrhundert mit ihrem Handelsreich feierte. Die Krone förderte das Kolonialprojekt jedoch nur zaghaft; später, nach Colberts
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gebracht. Das ließ die imperiale Herrschaft Frankreichs nicht zuletzt in den Augen aufgeklärter Europäer gegenüber den Briten, Spaniern oder Deutschen als die legitimere erscheinen. Aus Sicht der heutigen Forschung erscheinen die europäischen Kolonialreiche mit ihrer Migration über die Ozeane hinweg, mit ihren Verwaltungssystemen, ihren Kulturbegegnungen und -vermischungen kaum als jeweils rein nationale Geschichtsphänomene. Es war dies ein transkontinentales Geschehen, in dem die Völker der an den Atlantik grenzenden Kontinente zusammenwirkten. Daher spricht man neuerdings von einer „Atlantic History“, einer Geschichte des Atlantiks. Zwar herrschen auch unter dieser Perspektive oft noch die alten nationalen Voreingenommenheiten der kolonialen und imperialen Geschichtsschreibung vor. So gibt es in der Forschung heute einen „British Atlantic“, neuerdings auch einen „Dutch Atlantic“ und natürlich auch einen „French Atlantic“. Dass sich diese Konzepte durchsetzen, ist eher unwahrscheinlich. Zu sehr steht heute der global übergreifende Ansatz im Fokus des Interesses der Historiker. Man folgt eher den Pfaden der Akteure, der nationenübergreifenden Institutionen, der Migranten, der Seefahrer und Waldläufer. All diese Geschichten zeigen, wie wenig nationale Grenzen eine Rolle auf den Meeren und anderen Kontinenten jenseits Europas spielten. Die Geschichte Neufrankreichs, ja des gesamten Kolonialreichs unter Ludwig XIV., macht vor allem eines deutlich: dass die Welt und ihre Bewohner immer enger zusammenrückten, miteinander auskommen mussten, sich gemeinsam an den mühsam der
Natur abgerungenen Gewinnen beteiligten. Die Gegensätze, die unterschiedliche „Rassen“ als natürliche Feinde in einem evolutionären Kampf ums Überleben erscheinen ließen, waren erst im Begriff, sich herauszubilden. Diese Entwicklung griff im 18. Jahrhundert um sich: Es war der Siebenjährige Krieg, ebenfalls eine Urkatastrophe für die Geschichte des Atlantiks, da er die Vertreibung und Ausrottung der indigenen Bevölkerung Nordamerikas bereits ankündigte. In ihm brachen die Konflikte, die das Zusammenleben zwischen Europäern und indigenen Amerikanern im 17. Jahrhundert immer wieder erschwerten, in gesteigerter Intensität aus. Das Ende der französischen Präsenz in Kanada machte es den Ureinwohnern immer schwerer, sich gegen die wachsende Zahl von Siedlern in den englischen Kolonien zur Wehr zu setzen. Die Briten und schließlich die unabhängigen US-Amerikaner diskriminierten die angestammte Bevölkerung des Kontinents in gesteigerter Brutalität. Irokesen, Huronen, Wabanaki wurden bald aus dem Osten verdrängt. Die weitere Geschichte des 19. Jahrhunderts zeitigte ihre weitgehende Vernichtung sowohl in den Vereinigten Staaten von Amerika als auch in Kanada. Neufrankreich spielte in der ersten Episode dieser Geschichte nur eine kleine, aber doch gewichtige Rolle. Unter Ludwig XIV. war Kanada zwar so stark, dass es mit den Kolonien Neuenglands noch mithalten konnte. Strukturelle Defizite, insbesondere in der Administration, der feudalen Praxis der Landverteilung, die fehlenden Anreize für qualifizierte Siedler und schließlich das schlicht sehr geringe Interesse der Krone an den Kolonien waren ein Bündel von Gründen, die zum Niedergang beigetragen haben. Dennoch war das Wirken der Franzosen in Kanada von einer erstaunlichen Nachhaltigkeit, was insbesondere den pragmatischen Arrangements zwischen Siedlern und Ureinwohnern zu danken war. Der Große Frieden von Montréal zum Beispiel ist ein Dokument, das bei den indigenen Völkern, den „First Nations“ Kanadas, bis heute Anerkennung genießt. Und Neufrankreich lebt in der frankophonen Kultur der Provinz Québec mit ihren Metropolen immer noch fort.
Erinnerung an das französische Kolonialreich in Nordamerika: Ludwig-Büste im historischen Viertel von Québec.
Dr. Benjamin Steiner, geb. 1977, lehrt als Privatdozent am Historischen Seminar der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
102 Frankreich jenseits des Atlantiks
Was bleibt von Ludwig XIV.?
Sehnsucht nach Größe Martin Wrede
Gebietszuwächse, Versailles und zahllose andere Prachtbauten, Kunst und Kultur en masse – und ein fast bankrotter Staat: Die Bilanz Ludwigs XIV. ist durchwachsen. Was der größte Monarch der Franzosen seinem Land aber auf jeden Fall hinterlassen hat, ist die Überzeugung, eine besondere Rolle in der Welt zu spielen.
Am 1. September 1715 starb Ludwig XIV. Er starb, jenseits des Kreises seiner nächsten Höflinge, unbetrauert. Der Herzog von Saint-Simon, der dem König allerdings hauptsächlich durch Abneigung verbunden war, erklärte in seinen Memoiren, angesichts des Sterbens und dann des Todes des Monarchen habe sich kaum jemand bemüht, Bedauern auch nur zu heucheln. Selbst die, die ihm viel verdankten, hätten das nicht getan. Frankreich und Europa, so SaintSimon, hätten sich stattdessen von einer großen Last befreit gefühlt. „Paris ebenso wie die ruinierten Provinzen atmeten auf und bebten vor Freude. Die Ausländer waren froh, einen Monarchen los zu sein, der ihnen so lange seinen Willen aufgezwungen hatte. Und doch benahmen sie sich maßvoller als die Franzosen.“ Das Unglück des letzten Viertels dieser langen Herrschaft – Kriegslasten und Niederlagen – habe das Glück der ersten drei Viertel zunichtegemacht. Ludwig selbst hatte am Ende seines Lebens vor den dunklen Seiten seiner Regierung nicht die Au-
gen verschlossen. Auf dem SterDer „Sonnenkönig“ und seine Erben: sein Sohn Ludwig (stehend, links, bebett räumte er gegenüber dem 1661 – 1711), genannt „Le Grand DauThronfolger, seinem Urenkel, phin“; dessen Sohn Ludwig von Burzwei Fehler ein: die übermäßige gund (rechts; 1682 – 1712) sowie desLust am Krieg und die an großen sen Sohn, der spätere König Ludwig Bauwerken. In beidem ermahnte XV. (geb. 1710; König: 1715 – 1774). er den fünfjährigen Jungen, ihm nicht nachzueifern. Tatsächlich sollten die ersten Regierungsjahrzehnte Ludwigs XV. dann unter bewusst anderen, friedlicheren Vorzeichen stehen. Der Grund für die Reue oder zumindest das Bedauern Ludwigs XIV. in seinen letzten Tagen liegt auf der Hand. Bauwerke und Kriege – natürlich vor allem die Letzteren – hatten dem Land und der Krone Gewinne und Ansehen gebracht. Die Grenzen Frankreichs waren erweitert worden, seine Kriegsmacht hatte auch einer umfassenden europäischen Koalition standgehalten. Doch die Kosten hierfür waren enorm gewesen, gerade im Spanischen Erbfolgekrieg.
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An Gut und an Blut hatte die Nation einen hohen Preis gezahlt für die Ambitionen ihres Herrschers.
dass ein Herrscher, der nur oder zu sehr Krieger sei, sein Amt höchstens zur Hälfte ausfülle. Die Aussagen kursierten am Versailler Hof, fanden den Weg auch zum König selbst, und sie wurden als das erkannt, was sie waren: eine Frontalattacke auf die Politik Ludwigs XIV. und auf diesen selbst. Fénelon fand sich 1699 in sein Provinzbistum verbannt. Dabei muss man sagen, dass die Zuspitzung natürlich die pädagogische Botschaft eindringlich transportierte, sie aber dem Gegenstand der Kritik nicht ganz gerecht wurde. Ludwig XIV. war ja keineswegs ein „Nur-Krieger“ bzw. ein „halber König“ gewesen. Das hätte man allenfalls von seinem Zeitgenossen Karl XII. von Schweden behaupten können, der von 1697 bis 1718 regierte, seit 1700 unentwegt Krieg führte, der selbst an der Spitze seines Heeres stand, als Soldat lebte und sich dabei fast 15 Jahre außer Landes aufhielt. Ähnliches lässt sich so vom „Sonnenkönig“ natürlich keineswegs sagen – ein Beiname, übrigens, der ja auch nicht
Ludwig XIV. – ein König des Inneren? Systematische, fundamentale Kritik daran hatte ein anderer hoher Höfling formuliert: François de Fénelon, Erzbischof von Cambrai und Erzieher des ältesten Enkels Ludwigs XIV., des Herzogs von Burgund. Unter dem Eindruck von Lasten, Verheerungen und auch Misserfolgen besonders des Pfälzischen Erbfolgekrieges hatte er versucht, Am 1. September 1715 starb Ludseinem jugendlichen Zögling wig XIV. in Versailles. Der zeitgenösein anderes, friedlicheres Herrsische Kupferstich zeigt ihn aufgescherbild zu vermitteln, als es bahrt im Sterbezimmer. Nur ein Jahr der regierende Monarch verkörzuvor hatte der König seinen letzten perte. Zentrale Aussagen waren und zugleich aufwendigsten Krieg, etwa die Klage, dass der Ruhm den Spanischen Erbfolgekrieg, mit eines Königs sein Volk stets dem Frieden von Rastatt beendet. leiden lasse, und die Warnung,
104 Sehnsucht nach Größe
zwangsläufig einen kriegerischen Klang hatte, sondern der der höfischen Sphäre bzw. der Tradition der spanischen Habsburger entstammte. Allerdings ist die konkrete Wirksamkeit jenes Königs, dem die Zeitgenossen und die folgenden Generationen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bereitwillig den Beinamen „der Große“ zuerkannten, nicht ganz einfach zu bestimmen. Ludwigs Arbeitskraft war hoch. Er arbeitete in seinem Kabinett Akten und Schriftverkehr sorgsam und gewissenhaft ab. Und er traf die Grundsatzentscheidungen nach Beratung mit seinen Ministern. Dies alles war durchaus dem vergleichbar, was ein Jahrhundert zuvor Philipp II. in Madrid geleistet hatte, der mit einigem Recht als erster Bürokrat der Geschichte bezeichnet wurde. Ein Beispiel für die Beteiligung des Königs an der „Innenpolitik“ ist die Erarbeitung des erneuerten Straf- und Zivilgesetzbuches, die seit 1665 unternommen wurde. Rechtsprechung und -setzung gehörten zu den grundlegenden Funktionen des mittelalterlichen wie auch noch des frühneuzeitlichen Königs. Ludwig schuldete es seinen Untertanen, Mängel abzustellen, die sich in der französischen Justiz der 1660er Jahre gezeigt hatten. Angeregt von seinem Minister Colbert, ließ der König von hohen Justizbeamten Verbesserungsvorschläge erstellen, arbeitete diese durch, diskutierte sie mit den Autoren und gab schließlich den Auftrag, ein vereinheitlichtes Gesetzbuch zu schaffen, das standardisierte Rechtsfindungsprozesse einschloss. Willkür sollte Einhalt geboten werden. Dies betraf Verfahrensregeln, die Auswertung von Beweisen, auch die Anwendung der Folter. Die Ergebnisse finden sich im „Code Louis“, der in zwei Teilen 1667 bzw. 1670 beschlossen wurde und bis zum Ende der Monarchie in Kraft blieb. Vergleichsweise intensiv, gemessen an seinen Vorgängern ebenso wie an manchen Rivalen, war die Aufsicht Ludwigs über das Finanz- und Verwaltungswesen. Dass letztlich alles am Geld hing, war dem König, der den Krieg und die Bauwerke liebte, nur zu bewusst. Mit dem Sturz des „Oberintendanten“ Fouquet wurden die Staatsfinanzen 1661 direkt der königlichen Aufsicht unterstellt, auch wenn man zweifeln kann, ob diese allzu nachhaltig war. Hier sollte es allerdings keine echten Reformansätze geben, für die nach Ausbruch des Holländischen Krieges wohl kein Raum mehr war. Steuern und Staatsfinanzen, Einnahmen und Ausgaben, blieben ein intransparenter, wenig geregelter, zum Teil widersprüchlicher Wirrwarr.
Er traute sich, den „Sonnenkönig“ Die Strukturen blieben uneinzu kritisieren – und wurde zur Straheitlich: Es gab Provinzen, die dife vom Hof verbannt: der Bischof rekt der königlichen Besteuerung und Erzieher Ludwigs von Burgund, unterlagen, und daneben andere, François de Fénelon (1651 – 1715). die weiter über eigene StändeverFür den Ruhm eines Königs müsse sammlungen verfügten und mit das Volk leiden, diese Lehre vermitdenen die finanziellen Beiträge jetelte Fénelon dem Enkel des Monweils ausgehandelt werden mussarchen. ten. Politische Maßnahmen im Bereich der Staatsfinanzen zeichneten sich dadurch aus, dass sie in Zeiten von Kriegen und Krisen – also während der ganzen zweiten Hälfte der Regierungszeit – stets Notmaßnahmen durch Aushilfen ersetzten. Man „verpachtete“ so etwa die Steuereinnahmen des nächsten Jahres für einen (geringeren, aber sofort zahlbaren) Festbetrag an Privatmänner oder schuf zunächst bedeutungslos scheinende Ämter und verkaufte sie meistbietend. Die Käufer galten dem König und seinen Ministern als eitle Narren, die auf der Suche nach leeren Titeln waren. Indem diese Ämter dann allerdings ihren Inhabern ein gewisses Maß an Steuerfreiheit einbrachten, war das Urteil möglicherweise etwas kurzsichtig. Um die Finanzen Frankreichs stand es jedenfalls seit spätestens 1690 denkbar schlecht, und dies sollte dauerhaft so bleiben. Die Verwaltung des Königreiches stützte sich im Wesentlichen weiter auf die überkommenen Struk-
105 Ludwig XIV. – ein König des Inneren?
turen der schon genannten Kaufämter – das Amt war das Eigen(Gemälde von 1672: der Monarch tum seines Inhabers, der es dann, bei einer Sitzung eines seiner Ratsgegen eine weitere Zahlung, zugremien). meist sogar vererben konnte. Diese Amtsträger waren zwar an Weisungen gebunden, sie konnten allerdings insofern recht unabhängig handeln, als sie nicht absetzbar waren. Der König hätte dann das Amt zurückkaufen müssen, was nach Lage der Dinge höchstens im Einzelfall möglich war. Mit anderen Worten: Amtsträger konnten Anweisungen durchaus auch ignorieren. Wollte die Krone eine Maßnahme durchgesetzt sehen, war es ratsam, dass diese nicht allzu kontrovers ausfiel. Wie alle frühneuzeitlichen Monarchen hatte auch Ludwig XIV. zumeist im Konsens zu regieren, und er war sich dessen auch bewusst. Neben den Kaufämtern gab es freilich seit den Tagen des Kardinals Richelieu die parallele Struktur der in die Provinzen entsandten Kommissare. Diese waren unmittelbar ernannt, hatten ihre Positionen nicht gekauft und konnten darum auch wieder abberufen werden. Sie stellten einen neuen, weit in die Zukunft weisenden Beamtentypus dar. Unter der Bezeichnung der „Intendanten“ wurden sie unter Lud-
wig XIV. die entscheidenden Figuren der Provinzverwaltung. Allerdings blieb ihre Zahl gering: 1714 gab es genau 31, begleitet von wenigen Mitarbeitern und Schreibern. Sie blieben auf die Zusammenarbeit mit lokalen Amtsträgern also weiterhin angewiesen. Die Bedeutung der Intendanten spiegelt den Bedeutungsverlust der bis dahin in den Provinzen waltenden Gouverneure wider. Im 16. und frühen 17. Jahrhundert hatten sie sich einer sehr weitgehenden Unabhängigkeit erfreut und sich durchaus nicht immer damit begnügt, die königliche Autorität zu vertreten und durchzusetzen. Sie entstammten in der Regel dem hohen Adel oder waren gar königlichen Geblüts. Sie agierten als Bindeglieder zwischen der Krone und dem Provinzadel und verfügten oft über dessen weitgehende Loyalität, denn wiewohl sie natürlich einerseits die Interessen der Krone in den Provinzen vertreten sollten, wahrten sie doch andererseits zugleich die Interessen „ihrer“ Provinz (und „ihres“ Adels) gegenüber der Krone. Diese Schlüsselposition wurde von Ludwig XIV. deutlich relativiert: einerseits durch die Einführung von Amtszeitbegrenzungen, die zwar wieder aufgehoben werden konnten (und auch wurden), die aber dennoch die Unabhängigkeit der Gouverneure be-
Ludwig XIV. versuchte, möglichst
viel Macht in Versailles zu bündeln
106 Sehnsucht nach Größe
schnitten. Und andererseits durch das Verbot, in der Provinz zu residieren. Das beließ den Gouverneuren zwar die Möglichkeit, in Versailles für „ihre“ Provinz einzutreten, verringerte aber ihre direkte Autorität vor Ort. Dass sie sich an die Spitze von Unzufriedenheiten stellen und dem König die Stirn bieten konnten, war fortan ausgeschlossen. Ähnliches galt, vielleicht noch stärker, für die Obersten Gerichtshöfe des Landes, die sogenannten parlements, und besonders den von Paris, dessen Amtsgewalt sich über das halbe Königreich erstreckte. Sie führten den Titel cours souveraines, was die Tatsache widerspiegelt, dass sie ursprünglich ein Teil des königliches Hofes gewesen waren und – per Delegation – die richterliche Funktion des Monarchen wahrnahmen. Ludwig entzog ihnen diesen Titel – souverän konnte seiner Ansicht nach nur der König selbst sein – und ersetzte ihn 1665 durch den weit weniger ambitiösen der cours supérieures („obere Gerichtshöfe“). Dies war mehr als eine Äußerlichkeit. Die parlements mussten zum geordneten Fortgang der Rechtsprechung neue Rechtsakte registrieren, das heißt sie den geltenden Gesetzen hinzufügen. Und sie konnten – de facto betraf dies vor allem das parlement de Paris – gegen solche königlichen Rechtsakte Einspruch erheben und die Registrierung verweigern. Der König war dann zwar in der Lage, diesen Einspruch durch sein Erscheinen im parlement zu „überstimmen“, wo er dann durch seine physische Präsenz die bis dahin an die Oberrichter delegierte Amtsgewalt wieder an sich nahm. Doch ein solches Verfahren war aufwendig und verlangsamte den politischen Prozess. Ludwig fuhr daher fort, das Einspruchsrecht einzuschränken, was schon sein Vater und Kardinal Richelieu getan hatten, und er schaffte es 1673 schließlich ganz ab. Beschlossen wurden diese und andere Maßnahmen im königlichen Rat oder, richtiger gesagt, in den zwei bedeutendsten königlichen Ratsgremien: dem Oberen und dem Depeschenrat (Conseil d’en haut, Conseil des dépêches). Der Erste hatte seinen Namen vom oberen Stockwerk, in dem er tagte, der Zweite den seinen von den Nachrichten (Depeschen), die dort geöffnet, gelesen und diskutiert wurden. Der Obere Rat war im Wesentlichen für die Außenpolitik zuständig, der Depeschenrat für Inneres. Seit dem Tod des Kardinals Mazarin leitete der König diese Gremien selbst. Die Teilnehmerzahl war von ihm drastisch beschnitten worden – der Conseil d’en haut hatte zeitweise nur vier Teilnehmer. Allein die zu-
ständigen Minister waren geblieben, große Magnaten oder Angehörige der Königsfamilie hingegen verdrängt worden (ausgenommen war später der Thronfolger). Die königliche Leitung ebenso wie die geringe Teilnehmerzahl gewährleisteten, dass gezielt Beschlüsse gefasst wurden und dass diese den Auffassungen des Königs entsprachen. Neben die Räte, die im Prinzip kollegial entschieden, schob sich allerdings der direkte Kontakt zwischen König und Minister, der Ratsentscheidungen vorbereitete oder vorwegnahm. Die zentrale Machtposition des Monarchen verstärkte gerade dies noch einmal deutlich. Ohnehin aber gehörte die Auswahl seiner Minister zu den selbstverständlichen Rechten des Königs. Ludwig wurde dabei von der älteren Forschungsliteratur oder auch in sehr allgemeinen Darstellungen gerne unterstellt, auf diesem Feld „Bürgerliche“ in Stellung gebracht zu haben, um mit ihnen gegen „den Adel“ zu regieren – was François-Michel Le Tellier, Marquis so unhaltbar ist. Der König rede Louvois (1641 – 1691, Gemälde gierte seit 1661 ohne Ersten Mivon Pierre Mignard), diente Ludwig nister, seine verschiedenen FachXIV. über 20 Jahre als Kriegsminisminister wählte er aus drei großen ter. Er zeichnete dafür verantwortFamilienklans – Colbert, Le Tellier lich, das französische Militär für die und Pontchartrain –, die zwar alzahlreichen Kriegszüge schlagkräftig le nicht dem hohen bzw. dem Uraufzustellen. adel entstammten, sehr wohl aber
107 Ludwig XIV. – ein König des Inneren?
Wilhelm I. von Preußen gesagt hat, machte ihn dies alles aber wohl noch nicht. Ob das Schlagwort des „Absolutismus“ geeignet ist, um diese Regierungsform zu kennzeichnen, ist mit einigem Recht hinterfragt worden.
Ludwig XIV. – ein König des Krieges? Dass Ludwig ein kriegerischer König war, ist hingegen nicht in Abrede zu stellen. Allerdings war er weder ein gekrönter Feldherr noch ein Soldat bzw. „Soldatenkönig“. Über 25 Jahre lang begleitete er seine Heere, aber er führte sie nicht. Dennoch ist seine Rolle auf militärischem Gebiet nicht zu unterschätzen. Dies geht zunächst daraus hervor, dass er auch hier wieder, im Verein mit dem jeweiligen Kriegsminister, in die Fragen der Organisation bzw. Reorganisation von Heer und Marine engstens einbezogen war. Rangtabellen, Uniformierung, Bewaffnung usw. wurden nicht im Einzelnen vom König erdacht, aber nichts davon wurde ohne ihn, ohne seine Kenntnis und Zustimmung ins Werk gesetzt. Dies geht aber natürlich gleichfalls und unmittelbar daraus hervor, dass die Armee Ludwigs wichtigstes politisches Instrument war, dessen er sich bekanntlich auch ausgiebig bediente. Ludwigs Ambitionen machten es notwendig, das Heer zu erhalten, es zu verbessern und auch zu vergrößern. Im Spanischen Erbfolgekrieg sollte Frankreich über 400 000 Mann unter Waffen halten. Und ganz zwangsläufig wirkten sich diese Ambitionen auch auf die Kriegsgegner aus, die ihre Kriegsmacht, zum Teil auch ihre politische Verfassung, ebenfalls auf einen Stand bringen mussten, aus dem heraus sie der Herausforderung begegnen konnten. Denn dass es Herausforderungen waren, ist unbestreitbar. Die französische Geschichtswissenschaft verwendet einige Sorgfalt darauf, die defensive Motivation von Ludwigs Eroberungskriegen aufzuzeigen. Tatsächlich gab es natürlich zum einen gewiss den Erfahrungshintergrund des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, in dem Frankreich und auch die Hauptstadt Paris mehrfach von spanischen Invasionen bedroht gewesen waren. Gegen etwaige Wiederholungen sollten verteidigungsfähige Grenzen geschaffen werden. Und es gab zum anderen dann die Erfahrung, allein europäischen Koalitionen gegenüberzustehen, die man nicht überwältigen, sondern nur ermatten konnte. Dafür aber musste das französische Territorium von Kriegseinwirkungen frei gehalten werden, die
Louis Phélypeaux, Comte de Pontchartrain (1643 – 1727), stammte aus einer der Adelsfamilien, auf die sich der Monarch stützte. Er diente dem König in verschiedenen Regierungsfunktionen.
dem Amtsadel. Das bedeutet: Ihre Vorfahren waren in mehr oder weniger fernen Zeiten einmal „bürgerlich“ gewesen, dann aber über Amtstätigkeit und/ oder königliche Gnade in den Adel aufgestiegen. Richtig bleibt, dass Ludwig sich bewusst dafür entschied, die „Großen“ des Landes, besonders seine männlichen Verwandten, aus den wichtigen Regierungsgeschäften herauszuhalten, und ebenso, dass die Ministerdynastien natürlich ihren Aufstieg in Regierungsämter dem König schuldeten, von dessen Vertrauen sie daher direkter abhingen, als dies bei einem Prinzen oder Herzog der Fall gewesen wäre. All dies macht deutlich, dass Ludwig XIV. als französischer König seinen innenpolitischen Handlungsspielraum erheblich über den seiner Vorgänger auszuweiten wusste, dass er damit aber die grundsätzlichen Koordinaten der Politik und Machtverteilung nur verschob, sie nicht völlig neu setzte. Deutlich wird auch, dass und wie er in die Regierungsgeschäfte unmittelbar involviert war, dass sie von ihm ausgingen und abhingen. Zu einem „großen inneren König“, wie man dies von Friedrich
108 Sehnsucht nach Größe
Abwehr musste an oder vor der Grenze erfolgen, die auch insofern möglichst günstig zu wählen war. Allerdings lag den frühen Kriegen Ludwigs und erst recht der Politik der gewaltsamen Annexionen mitten im Frieden, den sogenannten Reunionen, nicht nur ein umfassender Machtanspruch zugrunde, sondern auch einiger Zynismus und Wille zur Erpressung. Fähigkeit zu Ausgleich und Selbstbeschränkung werden demgegenüber erst spät erkennbar. Im Übrigen war natürlich das Szenario der Frankreich „bedrohenden“ Koalitionen von Ludwigs kriegerischer Politik selbst geschaffen. Das Ergebnis dieser Politik war ansehnlich, aber, wie eingangs schon angedeutet, nicht ohne Schatten. Frankreich gewann beachtliche Gebiete: das ganze Elsass, die Franche-Comté, ein gutes Stück der Spanischen Niederlande. Alle zwischenzeitlichen Gewinne, die darüber hinausgingen, hatten keinen Bestand. Zugleich aber wurde dieser absolute Zuwachs dadurch relativiert, dass die Nachbarn lernten, Frankreich zu misstrauen, sich gegen seine Ambitionen zu verbünden und ihre eigenen Kräfte zu steigern. Die Entwicklung der englischen Seemacht
oder auch die Eroberung Ungarns durch den Kaiser wogen Frankreichs Erwerbungen bei weitem auf. Die politisch-militärische Hegemonie, das heißt die beherrschende Stellung Ludwigs in Europa, währte letztlich vielleicht zwei oder zweieinhalb Jahrzehnte, etwa von 1665 bis 1690. Von den sozialen Kosten dieser Politik – Ressourcenverbrauch, Verwüstung, Tod – war bereits die Rede. Seine Begründung fand all dies jenseits der offiziellen Verlautbarungen im Rollenbild des frühneuzeitlichen Königs, der zum Krieger berufen war, sowie in Ludwigs Selbstbild. Er sah sich von Gott an die Spitze der spätestens seit 1659, seit dem Frieden mit Spanien, mächtigsten Krone der Christenheit gestellt. Es war an ihm, diese Position zu Der Spanische Erbfolgekrieg (1701rechtfertigen und sichtbar zu ma1714) war der längste Krieg, den chen, sich dabei der Machtmittel, der „Sonnenkönig“ führte (Ölgedie Frankreich ihm anbot, auch mälde von 1706: die Belagerung zu bedienen. Ob die Politik andeBarcelonas durch eine englischrer Herrscher dieser Zeit von moniederländische Flotte im Herbst ralischeren Imperativen geleitet 1705). Frankreich hielt in dieser Zeit wurde, kann man zwar behauprund 400 000 Mann unter Waffen. ten, aber auch bezweifeln.
109 Ludwig XIV. – ein König des Krieges?
Durch seine Feldzüge gewann Ludwig XIV. Gebiete hinzu (Kupferstich:
dungen legen davon Zeugnis ab. Und natürlich seine Baulust – also vor allem Versailles. Dass es sich hierbei nicht um uneigennütziges Interesse handelte, lag in der Natur der Sache und in der des Sachwalters: Ludwig förderte die Künste wie im Übrigen auch die Wissenschaften nicht als privater, uneigennütziger Mäzen, sondern als König. Sie hatten seinem Ruhm zu dienen, ihn zu mehren – so wie alles und alle anderen auch. Dabei war es selbstverständlich, dass der König sich für Kunst und Kultur interessierte, sie ermutigte und förderte. Einer von Ludwigs Vorgängern, Franz I., hatte im frühen 16. Jahrhundert formuliert, ein unkultivierter König sei nichts anderes als ein gekrönter Esel. Diese Sicht der Dinge hatte sich seitdem eher noch verstärkt. Interessant ist dabei, dass der eigentliche kulturelle Höhepunkt des „Großen Jahrhunderts“, des Grand Siècle, „Versailles“ voranging, das heißt nicht dem Bau, aber doch dem Bezug des Schlosses. Der Hof des jungen Ludwig XIV., in Saint-Germain und Fontainebleau, erfand oder ermöglichte die Komödien Molières, die Tragödien Corneilles und Racines oder auch die Musik Lullys. Für Ludwig war auch dies neben ästhetischem Genuss nicht zuletzt Manifestation seiner Größe. Die Künste verdankten ihm ihre Blüte und feierten ihn entsprechend. Sein künstlerisches Urteil und damit sein Geschmack wurde zu dem Frankreichs und Europas. Und die Werke „seiner“ Maler und Musiker, Literaten und Architekten machten ihn zum nicht nur politisch, sondern auch intellektuell führenden Monarchen Europas. Anders als etwa Friedrich der Große von Preußen schrieb er nicht selber Verse oder historische Betrachtungen, aber anders als dieser gab er geistige Impulse, die frisch waren und sich fortpflanzten. Er setzte die Maßstäbe seiner Zeit und schuf die Grundlage für eine kulturelle Hegemonie Frankreichs, die wesentlich länger dauern sollte als bis zum Pfälzer Krieg (1688 – 1697).
Ludwig XIV. – ein König der Kunst und der Kultur?
der König während des Holländi-
Außer Zweifel steht der Erfolg Ludwigs auf dem Gebiet von Nachbarn Frankreich zunehmend Kunst und Kultur sowie in deren misstrauten. Förderung. Wohl war in seiner Erziehung manches vernachlässigt worden. Einer seiner französischen Biographen macht darauf aufmerksam, dass Ludwigs Handschrift bis in die 1670er Jahre unsicher gewesen sei und es in Versailles – anders als im Escorial zu Madrid – keine Bibliothek gab, da der König an Büchern (und ihren Inhalten) nur in Maßen interessiert war. Doch Ludwigs Gefallen an den schönen Künsten ist so offensichtlich wie unbestreitbar. Galerien und Sammlungen, Mäzenatentum und Akademie-Grünschen Krieges, 1672 – 1678). Der Preis des Expansionsdrangs war, dass die
Ludwig XIV. – ein König des höfischen Schauspiels? Mit Kunst und Kultur eng verschränkt war der Hof des Königs. Bauten, Gemälde und Statuen, Konzerte, Opern und Theater machten ihn zu dem, was er war, und erfüllten ihn mit Leben. Doch war der Hof natürlich sehr viel mehr als die Summe seiner Kunstwerke, und für den Ludwigs XIV. gilt dies doppelt. Denn der Hof, die höfische Inszenierung stellte sicher den größten Erfolg seiner Herrschaft dar. In
110 Sehnsucht nach Größe
Versailles (wie zuvor in Saint-Germain und Fontainebleau) wurde der „Sonnenkönig“ entworfen und in Szene gesetzt als idealer und absoluter Monarch, Gebieter der Menschheit wie auch der Natur, die im Park gebändigt war. Und diese Inszenierung strahlte bekanntlich nicht nur weit ins ganze frühneuzeitliche Europa hinaus, sondern auch lang – vielleicht sogar bis heute. Ein frühneuzeitlicher Königshof hatte drei elementare Funktionen: Er war der regelmäßige Aufenthalt des Herrschers und bot ihm den entsprechenden Rahmen. Er war das Zentrum seiner Regierung und umfasste die entsprechenden Einrichtungen. Und er war ein Forum für die Kommunikation zum einen zwischen Herrscher und Eliten, zum anderen unter den Angehörigen dieser Eliten selbst. Zum Aufenthalt des Herrschers wie auch zur Kommunika-
Unter Ludwig XIV. blühten Kunst und Theater. Die Abbildung zeigt die Aufführung eines Possenspiels. Links am Rand der Dramatiker Molière, der als Schauspieler mitwirkte (Ölgemälde von 1670).
Mit seiner aufwendigen Hofhaltung band der absolutistische Herrscher den Adel an sich – Versailles war Zentrum der Macht und der Unterhaltung zugleich. Mit seiner Entourage hielt sich der König oft in den Gartenanlagen auf (Ausschnitt eines Ölgemäldes von Pierre-Denis Martin, 1713).
111 Ludwig XIV. – ein König des höfischen Schauspiels?
nen Zweifel daran, dass Ludwigs Hof seine Funktion erfüllte. Insofern waren die für Bauten, Schmuck und Feste aufgewendeten Gelder also durchaus nicht vergebens ausgegeben worden. Das Besondere, besonders Erfolgreiche hieran rührte aus dem alles bis dahin Dagewesene übertreffenden Rahmen des Versailler Schlosses, aus Größe und Pracht des Bauwerks. Unterstrichen wurde dies durch die räumliche Trennung von Stadt Paris und Königshof: Beide Orte waren füreinander erreichbar, doch Schmutz, Lärm und Unruhe der Hauptstadt lagen hinter der Residenz, sie bot einen abgeschlossenen Kosmos von Schönheit und Regelmaß. Der König versammelte dort seine Untertanen von Stand – den Adel – soweit sie zum Erscheinen bei Hof geeignet oder in der Lage waren. Von „goldenem Käfig“ und leeren Amüsements, die die ältere Forschung in diesem Zusammenhang hat erkennen wollen, kann nicht ernsthaft die Rede sein. Aber auch Zerstreuung gehörte eben ganz selbstverständlich dazu: neben Spiel und Fest nicht zuletzt auf der Jagd, dem aristokratischen Sport par excellence. Zentrale Figur war natürlich der König selbst. Dies spiegelt bereits die künstlerische Ausgestaltung des Schlosses wider. Versailles war Ludwigs Schöpfung und wurde zu seinem Denkmal. Andere königliche Schlösser, sei es in Frankreich, sei es in den Nachbarländern, machen schon über die Baugeschichte weithin sichtbar die Tradition der Dynastie deutlich und ebenso deren herausragende Gestalten: Verschiedene Herrscher hatten verschiedene Bauelemente hinzugefügt – Türme, Flügel, Portale oder Treppenhäuser –, und die Vorgänger bzw. Vorfahren fanden sich auch in Bildern und Ornamenten abgebildet oder angesprochen. In Versailles war dies nicht der Fall. Hier gab es nur „den König“, also Ludwig XIV., hinter dem die Dynastie und das vorangegangene französische Königtum verschwanden. Dies rührte einerseits daher, dass die Bourbonen eine junge Dynastie waren. Bis zur Thronbesteigung durch Ludwigs Großvater Heinrich IV., 1589, waren sie nur eine sehr weitläufig mit dem regierenden Herrscher verwandte Nebenlinie gewesen. Und auf diese kurze Ahnenreihe im Königsamt zu verweisen war ebenso wenig sinnvoll wie auf die nicht-königlichen Ahnen oder die Vorgänger aus anderen Linien. Andererseits spiegelte dieser Monopolismus den Willen Ludwigs wider, sich in den Mittelpunkt des höfischen wie auch staatlichen Lebens zu stellen, alles auf sich als den Träger der Krone und als Souverän zu beziehen und Ablenkungen nicht zu dulden.
tion mit oder unter den Eliten gePerson: Ludwig XIV. in der Pose des hörte dabei ganz selbstverständabsoluten Herrschers im Königsorlich, dass der Hof Unterhaltung nat, gemalt von Hyacinthe Rigaud. zu bieten hatte. Höfischer Glanz und also auch höfische Feste mussten die Bedeutung des Herrschers widerspiegeln und seine vornehmsten Untertanen an ihn binden. Dies alles erreichte die französische Hofhaltung vor dem Bezug von Versailles (1682) vorzüglich und danach in Vollendung. Die Kosten hierfür waren natürlich erheblich. Die eingangs genannten selbstkritischen letzten Worte Ludwigs machen dies deutlich. Doch wenn der Hof seine Funktion erfüllen sollte, war Glanz, war auch Verschwendung unverzichtbar. Langeweile hätte niemanden angezogen, und Geiz war ein schlimmes Laster. Nun gibt es gar keiMonarch, Staat und Macht in einer
112 Sehnsucht nach Größe
die „gemalten“ Hinterlassenschaften, also Hunderte von Gemälden, die den siegreichen, heroischen Herrscher „ins rechte Bild“ setzten. Insgesamt blieb und bleibt wohl vor allem das Bild eines Monarchen, der zeit seiner langen Regierung Amt und Person in einer Weise miteinander verschmolz, die die Zeitgenossen blendete, ihr Verständnis vom Königtum und
Gestützt wurde diese Zentralität der Figur des Königs durch das elaborierte Zeremoniell. Formen der Ehrerbietung schufen und inszenierten Distanz zwischen dem Monarchen und dem Rest der Menschheit, auch gerade der höfischen. Oft zitiert worden sind die vom Herzog von Saint-Simon beschriebenen „Levers“, die Morgenaudienzen mit dem Ankleiden des Monarchen, oder auch seine einsamen, gelegentlich von seinem Bruder geteilten Mahlzeiten: Allein am Tisch sitzend, das Mahl verzehrend, inmitten der umstehenden, zusehenden Höflinge und Hofdamen. Freilich konnte – und sollte – das Zeremoniell auch unterlaufen werden. Dies war entweder hinter verschlossenen Türen der Fall, im Kreis der Vertrauten, auf der Jagd oder in den vom Zeremoniell entlasteten Zonen etwa der Nebenresidenz Marly. Es war auch der Fall im Feld, wo König und hohe Offiziere ein gewisses Maß an informeller Gemeinschaft teilten. Damit wird aber auch deutlich, dass im Zentrum dieses höfischen Universums eine Persönlichkeit stehen musste, die willens und in der Lage war, öffentlich zu leben und die königliche Autorität zu verkörpern, die in Sprache wie Auftreten diese Autorität glaubhaft machen konnte. Und auch Historiker, die Ludwig nicht zugeneigt sind, kommen nicht umhin, festzustellen, dass dies bei ihm in höchstem Maß der Fall war. Ludwig trat auf als das Idealbild sowohl eines Monarchen als auch eines Edelmanns. Er konnte die Größe seiner Krone darstellen und zugleich für seine Untertanen von Stand zugänglich bleiben. Er machte deutlich, dass er ihre Vorstellungen und Werte teilte, etwa bezogen auf die persönliche Ehre, aber auch auf den täglichen Zeitvertreib. Und er gab ein Beispiel für das, was nach seiner Meinung und nach der seiner Zeitgenossen einen honnête homme (wörtlich: Ehrenmann, Gentleman) des „Großen Jahrhunderts“ auszeichnete: Geschmack und Gewandtheit, Mut und Gleichmut – Letzterer etwa in Unglück oder Niederlage. Hinzu trat im Alter religiöse Ernsthaftigkeit. Ludwig mochte weder Feldherr noch Gesetzgeber gewesen sein. Er war König, er verkörperte das Königtum und gab ihm Gestalt – seine Gestalt.
Das, was blieb und was bleibt Was blieb nun und was bleibt weiter vom „großen König“? Natürlich die steinerne Hinterlassenschaft: Schlösser und Denkmäler – Letztere, soweit sie überlebten oder wiederaufgerichtet wurden. Oder auch
Ludwig XV. in seiner Krönungsrobe (Gemälde von Hyacinthe Rigaud): Das Portrait ähnelte dem seines Vorgängers. Über seinen Tod hinaus blieb Ludwig XIV. damit stilbildend für die Bourbonen-Dynastie.
113 Das, was blieb und was bleibt
diese zum einen nicht übergroß waren, zum anderen innerhalb des Ancien Régime hinreichend lokale oder regionale Autonomie besaßen. Im Elsass und in Straßburg tolerierte der König sogar den Protestantismus. Zwar gab es unter Ludwig XIV. ein im zeitgenössischen Vergleich beachtliches Maß an Zentralität und auch weitere Zentralisierungsmaßen, doch blieben diese letztlich recht bescheiden und wenig planvoll. Der heutige französische Zentralstaat ist eine Schöpfung der Revolution, Napoleons und des 19. Jahrhunderts, nicht Ludwigs XIV. Es bleibt aber natürlich gerade ein kulturelles Erbe, das nach wie vor lebendig ist: Die Autoren des „Großen Jahrhunderts“ gehören weiterhin zum Kanon der französischen Literatur und der Lektüre. Sie sind daraus nicht wegzudenken. Und wer Molière, Corneille, Racine sagt, denkt dann nach wie vor auch an den königlichen Auftraggeber. Allgemein gesprochen blieb und bleibt von Ludwig daneben vielleicht auch eine spezifisch französische Sehnsucht nach „Größe“ und die Überzeugung, dass Frankreich eine besondere Rolle in der Welt einzunehmen habe. Zumindest für die politischen und intellektuellen Eliten mag dies nach wie vor gelten. Mit der Erinnerung an den „großen König“ und sein (großes) Jahrhundert verbindet sich freilich auch die an Revolution und Zeit Napoleons. Noch heute liebt es die politische Karikatur in Frankreich, den Staatspräsidenten die Züge, Gewänder und natürlich die Perücke Ludwigs XIV. zu verleihen, um so entweder ihre übertriebenen Ambitionen und Attitüden zu verdeutlichen (Charles de Gaulle) oder aber die darstellerische Diskrepanz sichtbar zu machen (Nicolas Sarkozy). Geht es darum, Schwäche und Unentschlossenheit zu attackieren, greift man gerne zum Motiv Ludwigs XV. (Giscard d’Estaing, Chirac, Hollande). Das aber bezieht sich natürlich gerade auch auf den Vorgänger, dessen Maß für seine Erben oder Nachfolger unerreichbar blieb und eben auch bleibt. Denkt man an Fénelon, muss man das Letztere vielleicht nicht allzusehr bedauern.
Allgegenwärtiger „Sonnenkönig“: Die Königskrone und das Sonnenemblem zieren das 2007/08 wiederhergestellte sogenannte Königsgitter (die „grille royale“) in Versailles. Das rund 80 Meter lange schmiedeeiserne Gitter trennt den Ehrenhof vom Königshof. Es war während der Französischen Revolution zerstört worden.
das der Nachlebenden dauerhaft prägte. So dauerhaft, dass dies für die Nachfolger zum Problem wurde. Weder Ludwig XV. noch Ludwig XVI. passten in die Schuhe ihres Vorgängers, und besonders Letzterer entsprach auch nicht dessen darstellerischen Vorgaben. Verbunden damit, dass beide Herrscher meinten, Einrichtungen und Abläufe der Versailler Monarchie bewahren und fortführen zu müssen, wie sie ihnen hinterlassen worden waren, wurde dies zum politischen Strukturproblem, das keine Lösung fand. Es blieben natürlich die territorialen Erwerbungen, die bereits auf die heutige Gestalt des Landes verwiesen, das vielzitierte „Hexagon“ (Sechseck). Die Integration der neuerworbenen Provinzen gelang, da
Prof. Dr. Martin Wrede
114 Sehnsucht nach Größe
Versailles und kein Ende
Mahnmal zur Bescheidenheit Günter Müchler
Errichtet, um die vermeintliche Allmacht des absoluten Herrschers zu demonstrieren, wurde Versailles zum Schicksalsort Zentraleuropas: Es steht für fehlende Demut und die Instrumentalisierung nationaler Symbole im früheren Dauerkonflikt der Rivalen Frankreich und Deutschland.
Versailles macht es einem nicht leicht. Als ich, damals noch Schüler, zum ersten Mal an der Reiterstatue Ludwigs XIV. stand, vor mir die kolossale Schlossanlage, war ich auf Anhieb so erschlagen, dass ich es vorzog umzudrehen, das Eintrittsgeld zu sparen und Versailles auf der To-do-Liste berichtspflichtiger Ferienerlebnisse als gesehen abzuhaken. Bei späteren Annäherungsversuchen kam mir oft das aus dem politischen Protokoll stammende Wort „Arbeitsbesuch“ in den Sinn. Versailles muss man sich erarbeiten. Inwieweit das den vielen Touristen gelingt, ist schwer zu sagen. Zehn Millionen sind es pro Jahr. Sie quellen vor den vergoldeten Gittern aus klimatisierten Bussen, das Smartphone zum Schuss bereit, um sich sodann hinter zu Leuchttürmen umfunktionierten Schirmen durch die Bildergalerien zu boxen und in die Gärten Le Nôtres zu ergießen. Was immer sie erwarten: Romantisch gesehen kommen sie bestimmt nicht auf ihre Kosten. Zu groß ist die Domäne mit ihrem planetarischen Flächenverbrauch von
Der stolze Bauherr von Versailles: 830 Hektar, von denen elf allein Ludwig XIV. als Reiterstatue. das Schloss beansprucht, was bei dem Angebot von 2300 Zimmern nicht übertrieben scheint. Der Versailles-Liebhaber Frank Ferrand hat im Schloss 2134 Fenster gezählt und berechnet, dass, legte man sie nebeneinander, man auf ein Flächenäquivalent von 90 Tennisplätzen käme! Nein, Versailles ist, ungeachtet seiner immensen Schätze, entschieden antiromantisch. Überhaupt greift unser am Märchen geschulter schlossbezogener Begriffsapparat bei der Schöpfung des großen Bourbonen zu kurz. Im Märchen wird ein Schloss dadurch zum Schloss, dass der König darin wohnt (am besten auch eine Prinzessin). Dieser Anforderung ist Versailles in seiner Geschichte nur streckenweise gerecht geworden. 1682 wurde das Schloss von Ludwig XIV. bezogen, 1789 von Ludwig XVI. unfreiwillig verlassen. Keiner der Nachfolger wollte sein Bett dort aufschlagen, wo einst der „Sonnenkönig“ unter den Augen des Hochadels sein „Lever“ und „Coucher“ abhielt. Stellt man in Rech-
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nigs zum Ausdruck bringen. In Versailles zelebrierte der königliche Absolutismus seine Liturgie. Sie war so überaus verstandesstreng, dass Ludwig selbst sich immer wieder im beschaulichen Marly-le-Roi davon erholen musste. Bereits die Zeitgenossen fanden Versailles irritierend und fremd. Die Marquise de Sévigné sprach vom Hof als „diesem Land da“, so als läge die Residenz nicht in unmittelbarer Nachbarschaft von Paris, sondern in weiter Ferne. Auch in diesem Punkt konnte Ludwig zufrieden sein. Er hatte herausgewollt aus Paris. Die Herrschaftsform, die ihm vorschwebte, vertrug sich nicht mit den einschränkenden Zwängen der Hauptstadt. Dort wäre die Fesselung des Adels niemals gelungen. Gelingen konnte sie nur in einem eigenen Kosmos. Das Volk? Um zu leuchten, brauchte das Sonnenkönigtum gerade die Scheidung vom Volk, dessen er nicht zu bedürfen glaubte (außer für Kriege, von denen Ludwig XIV. viele und kostspielige führte). Das war nun allerdings ein kapitaler Irrtum. Er bescherte der „Idee Versailles“ 1789 ein frühes Ende.
Nicht in der Hauptstadt, in Versailles beginnt die Revolution Entgegen der Pariser Zwangsvorstellung, dass jede nennenswerte Neuerung in Frankreich von der Hauptstadt auszugehen hat, begann die Revolution in Versailles. Dorthin hatte Ludwig XVI. die Generalstände einberufen, um einen Ausweg aus der desaströsen Finanzkrise zu finden, die den Staat handlungsunfähig zu machen drohte. Viele andere Möglichkeiten besaß er nicht. Sein Fehler und der seiner Ratgeber war, nicht zu erkennen, dass nach Erkenntnis des Publizisten und Historikers Alexis de Tocqueville „für eine schlechte Regierung der Moment der gefährlichste ist, wo sie mit Reformen beginnt“. Die Generalstände, am 5. Mai 1789 feierlich eröffnet, wurden im Handumdrehen zur Gegenmacht der Monarchie. Am 17. Juni erklärte sich der dritte Stand zur Nationalversammlung. Anfang August wurden, erstaunlicherweise auf Antrag von Hocharistokraten, die Feudalrechte abgeschafft; am 26. August folgte die Erklärung der Menschenrechte; am 11. September wurden die verfassungsmäßigen Exekutivrechte, die dem König bleiben sollten, auf das Minimum eines aufschiebenden Vetos reduziert. Von der Erstürmung der Bastille in Paris erfuhren die Mitglieder der Nationalversammlung in Versailles. Sie unterschätzten das Ereignis genauso wie
nung, dass der Herzog von Orléans, der sieben Jahre lang für wig XVI. (1776 – 1792; Gemälde von den minderjährigen Ludwig XV. Antoine-François Callet) unfreiwillig die Regentschaft führte, die Tuilerien bevorzugte, erfüllte Verdie riesige Immobilie. sailles den Zweck einer königlichen Wohnimmobilie genau 100 Jahre, nicht länger. In diesen 100 Jahren war Versailles mehr als ein Schloss. Es war eine Idee. Als Ludwig XIV. sein Werk in Angriff nahm, ging es ihm zwar auch darum, etwas im Sinne der Zeit Schönes zu schaffen. Aber vor allem wollte er ein staatsphilosophisches Programm umsetzen. Dass dazu die Natur vergewaltigt werden musste, hätte er nicht als Vorwurf gelten lassen. Im Gegenteil: Über die Natur zu triumphieren war wesentlicher Bestandteil des demonstrativen Gesamtvorhabens. Die Feste, die Ludwig in seiner Residenz feiern ließ, das Hofzeremoniell, das er auferlegte, die geometrische Gartenarchitektur, bei der nichts dem Spiel des Zufalls freigegeben war – sie sollten die alles zeugende, alles beugende Macht des KöRund 100 Jahre nachdem Ludwig XIV.
Versailles bezogen hatte, verließ Lud-
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der König, der den 14. Juli bekanntlich mit einem „nichts“ in seinem Tagebuch bilanzierte (womit er ausdrücken wollte, dass er bei der Jagd, seiner größten Leidenschaft, leer ausgegangen war). Mit der Einnahme des Pariser Staatsgefängnisses trat im Fluss des Umbruchs zum ersten Mal die Masse in Erscheinung, jene dunkle, urwüchsige Kraft, die später sogar Napoleon einschüchtern sollte. Schon bald bedrohte sie nicht mehr bloß den König, sie bedrohte auch die Autorität der gewählten Abgeordneten. Die Revolution verzweigte sich, zunächst kaum wahrnehmbar, in einen radikalen und einen konstitutionellen Weg. Paris gegen Versailles. Anarchie gegen Formwillen: 80 Jahre später, im Aufstand der Kommune, sollte sich das Muster wiederholen. Dass mit dem Pariser Volk zu rechnen war, stellte der „Zug der Marktweiber“ am 5. Oktober eindrücklich unter Beweis. Wütend über gestiegene Brotpreise, aufgeheizt durch Berichte über angebliche Fressorgien in Versailles und euphorisiert durch die Wahrnehmung der eigenen Kraft, fiel die Menge zunächst über das Hôtel de Ville her, kassierte 700 Gewehre und setzte sich dann gen Versailles in Marsch.
Als der Zug (in dem es durchaus auch Männer gab) gegen Abend am Sitz des Königs anlangte, war er auf mehrere tausend Menschen angeschwollen. Später vervollständigten 20 000 Pariser Nationalgardisten das Durcheinander. Sie hatten ihren Kommandanten Marie-Joseph Motier, Marquis de La Fayette, praktisch gezwungen, sie nach Versailles zu führen, und machten aus ihrer Sympathie für die Marktweiber kein Hehl. Da die Tore zum Schloss verriegelt waren, steuerten die mit Knüppeln und Messern bewaffneten Aufrührer zunächst den Saal der Menus-Plaisirs an, wo die Nationalversammlung tagte. Die Abgeordneten reagierten auf die Forderung nach Brot verlegen und verwiesen auf den König, der gewiss sein Bestes tun werde. Was machte der Zug der Pariser Marktweiber nach König? Er war von der Jagd im Versailles am 5. Oktober 1789 (kolobenachbarten Wald von Meudon rierte zeitgenössische Radierung). zurückgekehrt. Ratschläge, VerDieser Protestmarsch, unterstützt sailles zu verlassen (was möglich von revoltierenden Soldaten der gewesen wäre), und zum Beispiel Nationalgarde, nötigte den König, nach Rambouillet zu gehen, wies sich nach Paris zu begeben. der entschlusslose Monarch zu-
117 Nicht in der Hauptstadt, in Versailles beginnt die Revolution
Im Mai 1789 traten in Versailles die Generalstände zusammen: Adel, Klerus und dritter Stand sollten nach Einberufung durch den König neue Steuern bewilligen, denn der absolutistische Staat war bankrott (feierlicher Einzug der Stände in die Ludwigskirche; Radierung).
Europas Schlagbäume können neue Gedanken nicht aufhalten Mit Versailles begann die Blütezeit des höfischen Absolutismus. In Versailles ging sie zu Ende. Wie Grenzsteine umklammert der emblematische Ort dieses europäische Epochenphänomen. Denn europäisch war der Absolutismus. Es gehört ja zu den Eigentümlichkeiten des vielfach gebrochenen Kontinents, dass niemals ein großer neuer Gedanke – ob in der Literatur, in der Kunst und eben auch im Ansehen des Staates – an Schlagbäumen aufgehalten werden konnte. Immer strahlte er über seinen Ausgangspunkt hinaus. So wurde Versailles zum Vorbild. Gewiss fand das Bauprogramm des Absolutismus durch die Kühnheit, mit welcher Ludwig XIV. es ausführen ließ, in Versailles seinen vollkommenen Ausdruck. Aber bald war ganz Europa vom Geist der königlichen Allgewalt angesteckt. Große und kleine Potentaten versuchten, den Regierungsstil Ludwigs nachzuahmen. Die Bauwut kannte keine Grenzen und zerrüttete die Finanzen so manchen Zwergstaats. Versailles war ein Modell, aber ein ruinöses. Als dann die Königsherrschaft in Frankreich unter den Schlägen der Revolution zusammenbrach, waren es die neuen emanzipatorischen Ideen, die Europa elektrisierten. Überall wurden jetzt Freiheitsbäume aufgerichtet, keimte die Phantasie. War die jämmerlich-kraftlose Art, in welcher sich Ludwig XVI. von einer Horde Frauen von der Schaubühne des Absolutismus hatte vertreiben lassen, nicht Beweis genug für die Schwäche des monarchischen Systems, ja für seine Abgelebtheit? Ein funktionslos gewordenes Versailles schuf der Vorstellung Räume. Vieles schien denkbar, selbst eine Zukunft ohne Könige. So weit war es freilich noch nicht. Die Revolution bestimmte zunächst den Zeitgeist. Die meisten Intellektuellen Europas sympathisierten mit ihr. Das Dreifachversprechen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit war von kaum zu überbietender Attraktivität für ein selbstbewusst gewordenes Bürgertum. Aber die Revolution war sich selbst der größte Feind. Sie konnte nicht verbergen, dass zwischen
rück. Noch war der Schlossbezirk abgesperrt, aber das änderte sich am frühen Morgen des 6. Oktober, als die Wachen ein prächtiges Beispiel beamtenmäßiger Dienstplanerfüllung ablieferten und pünktlich wie immer um 5.30 Uhr die Gittertore öffneten. Jetzt drang das Pariser Volk in die Cour de Marbre ein, zunächst zögernd, dann herausfordernd. Schüsse fielen, und die ersten Köpfe wurden auf Piken gespießt. Diese besondere Art der Trophäen-Ausstellung war mit dem Bastillesturm Mode geworden. Die königliche Familie kam noch einmal mit dem Schrecken davon. La Fayette überredete erst Ludwig, dann Marie Antoinette, sich auf dem Balkon dem Volk zu zeigen. Das dämpfte die Raserei. Ein paar Stunden später rollte die Königskutsche, eskortiert vom siegreichen Pöbel, Richtung Paris – ein Bild, das schonungslos das klägliche Hinscheiden des Absolutismus darstellte. Dem Nach-Nachfolger Ludwigs XIV. wurden die Tuilerien als neue Residenz zugewiesen. Versailles sah er niemals wieder. Das Prunkschloss des „Sonnenkönigs“ war von nun an leerstehender Wohnraum. Auch Napoleon bezog die Tuilerien; dem Sohn der Revolution hätte die Wiedereröffnung von Versailles auch schlecht angestanden. Selbst die restaurierten Bourbonen, Ludwig XVIII. und Karl X., machten um das Schloss des großen Vorfahren einen Bogen. In die Geschichte trat Versailles erst wieder 1871 ein.
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Tugendherrschaft und Terror ein geheimes Band existierte. Und es stellte sich heraus, dass ihr Kreuzzug für die Freiheit von missionarischer Unduldsamkeit vergiftet war. Die Armeen der Revolution, die man anfangs als Heilsbringer begrüßt hatte, wurden schon bald als Eroberer entlarvt. All das stärkte der Gegenrevolution den Rücken. Das Ancien Régime, dessen Todesanzeige schon geschrieben war, raffte sich auf. Es konnte für sich geltend machen, nicht bloß ums eigene Überleben, sondern auch für die Wiederherstellung des europäischen Kräftegleichgewichts zu kämpfen. Denn Frankreich war wieder zur Hegemonialmacht geworden. Das unter Napoleon in einer schier endlosen Kette von Kriegen gegen immer neue Koalitionen erbaute Grand Empire übertraf die Machtstellung Ludwigs XIV. bei weitem. Die Deutschen stellten Vergleiche an. Die Verwüstungen der Pfalz durch die Truppen des „Sonnenkönigs“ hatte man nicht vergessen. Und Napoleon? Er ließ in Deutschland (das es noch nicht gab) keinen Stein auf dem anderen: das Reich zertrümmert, Preußen halbiert, Hamburg französisch, die mittleren Staaten Vasallen des Kaisers der Franzosen. „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“ hieß ein Pamphlet, das in einer Nürnberger Buchhandlung gedruckt wurde. Der Buchhändler Johann Philipp Palm bezahlte diese Kritik an Napoleon 1806 teuer – er beendete seine Tage vor dem Erschießungspeloton. Was folgte, war zwangsläufig und problematisch. Die Erniedrigung weckte den nationalen Furor, der keine Parteien kannte. Liberales Bürgertum reichte den Verteidigern der alten Ordnung die Hand zur großen Mesalliance, zur Verbindung von ungleichen Partnern. Im Kampf gegen Frankreichs Übermut war jedes Mittel recht. 1815 überwand die von Metternichs Geschick und Englands Geld zusammengeschweißte Koalition Napoleon. Es folgte eine lange Friedensperiode, die das erschöpfte Europa nach den jahrzehntelangen Revolutionskriegen dringend benötigte und willkommen hieß. Allerdings wurde die Ruhe um einen hohen Preis erkauft. Die Monarchen kassierten die Verfassungsversprechen, sobald das Volk seine Schuldig-
keit getan hatte. Das System Metternich unterdrückte freiheitliche Regungen, wo immer sie sich zeigten. Genauso würgte es die neu auf die Tagesordnung drängende nationale Frage ab, deren Sprengkraft der Österreicher Metternich, der zum Aufseher des Status quo geworden war, für eine Weile zu entschärfen versuchte. Aus der Welt schaffen konnte er sie nicht.
Gemälde der Reichsgründung: Die Protagonisten tragen ausnahmslos Uniform Der (klein)deutsche Nationalstaat wurde 1870/71 gebildet. Schon einmal war der Versuch unternommen worden. Die Paulskirchen-Revolutionäre von 1848/49 hatten gehofft, die Reichseinigung auf dem Weg der freien Selbstbestimmung des Volkes herbeizuführen. Aber der damalige preußische König Friedrich Wilhelm IV. wies die Kaiserkrone brüsk zurück. So blieb es Bismarck überlassen, Deutschland,
Blutige Vorhut: Als sich Ludwig XVI. am 6. Oktober 1789 unter dem Druck der Marktfrauen nach Paris aufmachte, trug die Menge die Köpfe von zweien seiner Leibwächter, die zuvor getötet worden waren, auf Lanzen aufgespießt vorneweg.
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ße. Geschickt hatte es Bismarck verstanden, Napoleon III. in die Angreiferrolle zu manövrieren. Die Kriegserklärung ging von Frankreich aus. Bismarck hatte damit zweierlei erreicht: Weil die Deutschen sich herausgefordert und beleidigt fühlten, wurde der Krieg zum Nationalkrieg. Zugleich konnte der Konflikt lokalisiert werden, denn keine der übrigen europäischen Mächte wollte dem zum Aggressor gestempelten Kaiser der Franzosen beispringen. Den Rest besorgte Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke d. Ä. Nach der Umfassungsschlacht von Sedan und der Einschließung von Metz war Frankreich geschlagen. Napoleon III. saß als Gefangener im Kasseler Schloss Wilhelmshöhe. In Paris hatte sich eine Revolutionsregierung an die Macht geputscht. Den Krieg konnte sie nicht mehr gewinnen, aber sie konnte wenigstens die französische Waffenehre wiederherstellen, indem sie den Krieg in die Länge zog. Schon am 5. Oktober war das deutsche Hauptquartier vom Rothschild-Schlösschen Ferrières nach Versailles verlegt worden. Dafür sprachen praktische Gründe. Paris war eingeschlossen. Versailles lag in Sichtweite. Außerdem ließ sich die ehemalige Residenz des „Sonnenkönigs“ dank ihrer Geräumigkeit für vielerlei Zwecke nutzbar machen. So wurde der Spiegelsaal zum Lazarett umgewidmet. König Wilhelm sah davon ab, im Schloss Logis zu nehmen. Für ihn wurde ein Flügel der Departementspräfektur in der Avenue de Paris freigeräumt. Otto von Bismarck, zu dieser Zeit noch Kanzler des 1867 gegründeten Norddeutschen Bundes, quartierte sich in Hausnummer 12 der ruhigen Rue de Provence ein. Die Villa gehörte Madame Jessé, der Witwe eines Textilindustriellen. Von der Rue de Provence war es nicht weit zu den Gärten Le Nôtres. Hier konnte sich Bismarck vom Alltagsärger erholen, der beträchtlich war. Am 8. Oktober schrieb er seiner Frau: „Ich entfloh heute der Plage, um in der weichen, stillen Herbstluft durch Louis XIV. lange, gerade Parkgänge, durch rauschendes Laub und geschnittene Hecken, an stillen Teichflächen und Marmorgöttern vorbei Röschen [sein Pferd] eine Stunde zu galoppieren und nichts Menschliches als Josephs [des Burschen] klappernden Trainsäbel hinter mir zu hören und dem Heimweh nachzuhängen“. Tatsächlich erlebte Bismarck die Hinführung zur Kaiserproklamation als Leidensweg. Nicht selten verfiel er in Depression. Die Militärs ließen nichts unversucht, ihn von wichtigen Entscheidungen fernzuhalten. Die Rivalität zwischen politischer
wie er sagte, „in den Sattel“ zu setzen. Geburtshelfer des zweiPhilipp Palm wurde 1806 standrechtten Deutschen Reiches waren die lich erschossen, weil er in einer Fürsten und der Krieg. Anton von Druckschrift zum Widerstand gegen Werners berühmtes Historiengedie Franzosen aufgerufen hatte mälde der Kaiserproklamation (kolorierte Kreidelithographie, 1854). in Versailles, das ansonsten mit der Realität locker umgeht, gibt die Verhältnisse in diesem Punkt zutreffend wieder: Auf seinem Bild fehlt die Reichstagsdelegation, die in Versailles durchaus anwesend war; dagegen ist der krankheitsbedingt abwesende preußische Kriegsminister Albrecht von Roon in das Bild hineinretuschiert. Vom Divisionsprediger Bernhard Rogge einmal abgesehen, sind alle Figuren, die in Anton von Werners idealisierter Szene den neuen Kaiser-Monarchen umgeben, Wilhelms fürstliche Vettern, dazu Bismarck, ausnahmslos in Uniform. Der Krieg war zum Zeitpunkt der Proklamation am 18. Januar 1871 noch nicht zu Ende, aber Preußen mit seinen Verbündeten auf der SiegerstraNapoleon als Gewaltherrscher: Der Nürnberger Buchhändler Johann
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und militärischer Führung, die man schon im Österreich-Krieg kennengelernt hatte, wiederholte sich in verschärfter Form. Alles ging Bismarck zu langsam. Der Belagerungsring gegen das 1840 befestigte Paris wurde nach seinem Geschmack zu spät geschlossen, der Artilleriebeschuss zu spät begonnen. Moltke wollte die Hauptstadt aushungern. Bismarcks Nerven wurden auf eine harte Probe gestellt. Er fürchtete, bis dahin neutrale Staaten wie Österreich oder Italien könnten sich in den Konflikt einmischen, wenn noch mehr Zeit verstreiche. Einer der wenigen guten Tage war für den Kanzler der 23. November. An diesem Tag wurde im Haus an der Rue de Provence der „Vertrag, betreffend den Beitritt Bayerns zur Verfassung des Deutschen Bundes“, unterzeichnet. „Die deutsche Einheit ist gemacht, und der Kaiser auch“, jubilierte Bismarck. Um gebührend zu feiern, beorderte der Champagner-Freund ohne Verzug einen Bediensteten in den Weinkeller der Witwe Jessé und bediente sich kräftig. Der 18. Januar war der Geburtstag der preußischen Monarchie. Am 18. Januar 1701 hatte sich
Kurfürst Friedrich eigenmächtig zum „König in Preußen“ ernannt. Das einstige Nürnberger Burggrafengeschlecht der Hohenzollern führte seither den Königstitel. Wilhelm hatte wenig Lust, ihn aufzugeben. In Preußen war er Herr im Haus gewesen. Als Kaiser würde er zum „Charaktermajor“ degradiert, maulte er. Wenn das Unheil schon nicht abgewendet werden konnte, wollte er wenigstens „Kaiser von Deutschland“ heißen, nicht „Deutscher Kaiser“, wie Bismarck mit Rücksicht auf die Fürsten, die übrigen Teilhaber am geplanten Reich, wollte. Wieder hatte der Kanzler quälende Stunden mit seinem Herrn. Am 17. Januar kam es sogar zu einem Tränenausbruch des greisen Königs. An seine Frau schrieb Bismarck drei Tage nach dem Krönungsakt: „Diese Kaisergeburt war eine schwere. Könige haben in solchen Zeiten ihre wunderlichen GelüsDer Spiegelsaal des Versailler te, wie Frauen, bevor sie der Welt Schlosses wurde im Deutsch-Franhergeben, was sie doch nicht bezösischen Krieg als Lazarett gehalten können. Ich hatte als Acnutzt (Gemälde von Victor Bachecoucheur mehrmals das dringenreau-Reverchon, 19. Jahrhundert). de Bedürfnis eine Bombe zu sein
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und zu platzen, daß der ganze Bau in Trümmer gegangen wäre.“ am 18. Januar 1871 zum Deutschen Schließlich setzte sich der Geburtshelfer Bismarck durch. Mit Kaiser ausgerufen – symbolträchtig klingendem Spiel wurde König im Spiegelsaal des Schlosses von Wilhelm am 18. Januar von der Versailles (Gemälde von Anton von Präfektur abgeholt. Im KrönungsWerner, 1885). saal Napoleons I. erwarteten ihn die Fürsten. Der Spiegelsaal, vom deutschen Protokoll irrtümlich als „salle de verres“ (Gläsersaal) bezeichnet, war festlich hergerichtet worden. Man hatte die Verwundeten samt ihren Eisenbetten in andere Räume verlegt. Die Kanonenöfen waren entfernt, vor dem großen Mittelfenster war ein in rotes Tuch mit dem Eisernen Kreuz gehüllter Feldaltar installiert worden, neben dem Feldaltar ein Podest. „Helm ab zum Gebet!“ Auf dieser Estrade, umgeben von den Fürsten, hörte Wilhelm, wie Bismarck ohne erkennbare Emotion, wie geschäftsmäßig die Proklamation herunterlas. Da trat der Großherzog von Baden als ranghöchster unter den anwesenden Fürsten vor. Würde er den „Kaiser von Deutschland“ ausru-
fen oder den „Deutschen Kaiser“? Noch am Morgen hatte ihn Bismarck bearbeitet. „Es lebe Seine Majestät, der Kaiser Wilhelm!“ Elegant entledigte sich der Badener der delikaten Aufgabe.
Ein Meer aus deutschen Uniformen: König Wilhelm I. von Preußen wird
Nach 1871 eint die Franzosen der Gedanke an eine Revanche Damit war das deutsche Kaiserreich geboren – nicht durch einen Akt des Volkes, sondern durch fürstliche Akklamation, nicht in Berlin, sondern in Versailles, in der Residenz Ludwigs XIV. Die Franzosen empfanden es mit Bitterkeit. Selbst wenn die Wahl des Ortes nicht unbedingt als Provokation gedacht gewesen war, so war sie doch, wie der Historiker Golo Mann gesagt hat, in hohem Maße geschmacklos. Am 26. Februar wurde mit dem Präliminarfrieden von Versailles der Krieg beendet. Frankreich musste vier Milliarden Mark Kriegsentschädigung zahlen, Geld, das den Boom der sogenannten Gründerjahre anheizte. Schwerer wog für Frankreich der Territorialverlust. Die erzwungene Abtretung des Elsass und wei-
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ter Teile Lothringens wurde nie verwunden. Der Wunsch nach Revanche fand in dem berühmten Satz Léon Gambettas Ausdruck: „Denken wir immer an das, was wir zu tun haben, sprechen wir aber nie davon“, sagte der Staatsmann. Mit der Kaiserproklamation war der Beitrag Versailles’ zum Jahr 1871 noch nicht abgeschlossen. Kaum hatten die deutschen Sieger die Stadt geräumt, rückten, am 10. März, die französische provisorische Regierung und die Nationalversammlung in Versailles ein. Sie waren bis dahin in Bordeaux gewesen. In die Hauptstadt konnte man nicht. Denn man führte Krieg gegen Paris. Die Verhältnisse hatten eine beispiellose Wendung genommen. Im Nationenkrieg war der Bastard des Bürgerkriegs gezeugt worden. Noch am 19. Januar hatten Einheiten der Hauptstadt einen letzten Ausfall gegen die Deutschen unternommen (bei Buzenval). Zwei Monate später kämpften Franzosen gegen Franzosen. In Paris hatte sich die Kommune konstituiert und eine radikaldemokratische, föderalistische Regierung gebildet, die später von der marxistischen Geschichtsschreibung für den kommunistischen Stammbaum requiriert wurde. Eine Wiederholung der Ereignisse von 1789? Richtig ist, dass die in Versailles tagende Nationalversammlung starke monarchistische Elemente aufwies. Dagegen regierte in Paris die Anar-
An den in Montmartre stationierten Kanonen (zeitgenössisches Foto) entzündete sich im März 1871 der Aufstand der Pariser Kommune gegen die französische Regierung, die nach dem Waffenstillstand mit dem Deutschen Reich das schwere Kriegsgerät abziehen wollte.
chie. Ein Vierteljahr dauerte der franko-französische Krieg, der wie jeder Bürgerkrieg von beiden Seiten mit besonderer Grausamkeit geführt wurde. Ende Mai war der Aufstand niedergeschlagen. Die Kommune ging in einem Meer von Blut unter. 1871 tauschten Frankreich und Deutschland in der Rangliste der Mächte die Plätze. Frankreich verlor die angestammte Vormachtstellung auf dem Kontinent an das neue, auf seinem Boden gegründete Reich, das seinen Vorteil jedoch nach nicht einmal 50 Jahren wieder einbüßen sollte. Man kann darüber streiten, ob 1914 der Frieden verlorenging, weil die europäischen Regenten „schlafwandelten“, wie es Christopher Clark jüngst in seinem Buch über den Ersten Weltkrieg formuliert hat. Rechnungen waren offen, Hochrüstungen warteten auf ihre Rechtfertigung. Fest steht, dass allen Verantwortlichen die Phantasie fehlte, sich eine Katastrophe des Ausmaßes, das der Erste Weltkrieg erreichen sollte, vorzustellen. Die Munitionsbevorratung Deutschlands war auf ganze drei Monate angelegt. So eng waren die Spitzenmilitärs den Denkkategorien des 19. Jahrhunderts verhaftet.
Der französische Politiker Léon Gambetta (1838 – 1882) forderte eine Revanche für die Niederlage im DeutschFranzösischen Krieg.
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1919: Natürlich macht Versailles das Rennen im Wettstreit der Symbole
Symbolpolitik!: 1940 bestand Hitler darauf, dass der Waffenstillstand mit dem im „Blitzkrieg“ bezwungenen Frankreich nirgendwo anders als im Wald von Compiègne besiegelt wurde, im Salonwagen des Marschalls Ferdinand Foch. In dem Eisenbahnwaggon und an selbiger Stelle hatte Matthias Erzberger im November 1918 für das geschlagene Reich den Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet. Die Friedenskonferenz wurde – natürlich – am 18. Januar 1919 im Versailler Hotel „Trianon-Palais“ eröffnet, auf den Tag genau 48 Jahre nach der Ausrufung des Deutschen Reiches. An dieses Ereignis erinnerte Präsident Raimond Poincaré mit den Worten: „In Ungerechtigkeit geboren, hat es in Schmach geendet“. Ministerpräsident Georges Clemenceau sprach bedeutungsvoll vom „zweiten Versailler Frieden“, dessen Bedingungen die Deutschen nun rasch akzeptieren müssten. Die deutsche Delegation, angeführt von Außenminister Graf Ulrich von Brockdorff-Rantzau, stand von Anfang an auf verlorenem
Als der Krieg zu Ende war, nahm Frankreich im Lager der Alliierten die Führungsrolle ein. Es konnte den Ort der Siegesfeier bestimmen. Die Hauptstadt Paris hätte sich angeboten. Schließlich war es die Republik, die den Triumph beanspruchen konnte. Weshalb sollte man nach Versailles gehen, das als Tempelbezirk des Monarchismus für den historischen Widerpart stand? Trotzdem entschied Versailles den Wettstreit der Symbole für sich. Die Revanche forderte ein sichtbares Zeichen. Schon bei Kriegsausbruch hatten Männer wie der elsässische Abbé Émile Wetterlé verlangt, in Versailles müsse getilgt werden, was in Versailles angerichtet worden war. Genauso dachte Ministerpräsident Georges Clemenceau. Für den „Tiger“, den „Vater des Sieges“, konnte die Schmach von 1870/71 nur in Versailles ausgelöscht werden. Wie aberwitzig ist die Vernunft der
Die Sieger des Ersten Weltkriegs – die sogenannten Großen Vier – verhandelten 1919 in Versailles über die künftige Friedensordnung (von links): der britische Premierminister David Lloyd George, Italiens Ministerpräsident Vittorio Orlando, Frankreichs Ministerpräsident Georges Clemenceau sowie US-Präsident Woodrow Wilson.
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Erneut Versailles: Am 28. Juni 1919 unterzeichnete die deutsche Delegation im Spiegelsaal den Friedensvertrag.
Posten. Sie war untergebracht im „Hôtel des Réservoirs“, in einem Viertel, das von hohen Zäunen umgeben war, so dass sich die Delegation wie im Gefängnis vorkommen musste. Ständig war man in Angst, abgehört zu werden. Bei wichtigen Unterredungen wurde deshalb lärmend auf einem Klavier geklimpert, was unnötig war. Denn die Deutschen mochten besprechen, was sie wollten; ihr Spielraum war gleich null. Entgegnungen wurden vorgebracht. Ein Notenkrieg setzte ein. Aber die Alliierten verstanden ihre Hauptforderungen ultimativ: Abtretung von Elsass-Lothringen, von Posen und Westpreußen, das Saarland dem
Völkerbund unterstellt, Volksabstimmung in Oberschlesien, Besetzung des linken Rheinufers, Vereinigungsverbot mit Österreich, Verlust der Kolonien, Herabsetzung der Heeresstärke auf 100 000 Mann, Reparationen in noch nicht festgelegter Höhe. Am schockierendsten war Artikel 231 der Bestimmungen, der Deutschland die Alleinschuld am Krieg zusprach. In Weimar trat die Regierung des Reichskanzlers Philipp Scheidemann zurück. „Welche Hand müßte nicht verdorren, die sich und uns in diese Fessel legt?“, rief der Sozialdemokrat verzweifelt aus. Aber gegen den „Hexenhammer“, wie er die Bedingungen der Alliierten nannte, gab es kein Aus-
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weichen. Die Mehrheit der Nationalversammlung beugte sich. Am 28. Juni wurde der Friedensvertrag unterzeichnet. Über Schloss und Park von Versailles breitete sich an diesem Sommertag ein makellos blauer Himmel. Die Kleidung der fünf Männer, die um 15.15 Uhr in den Spiegelsaal geführt wurden, wollte dagegen eher zu einer Beerdigung passen: Schwarzer Anzug, steifer Stehkragen. An der Spitze des kleinen Zuges ein großer, knochiger Mann, der neue Reichsaußenminister Hermann Müller, dahinter Justizminister Johannes Bell sowie drei Beamte. Die Sieger hatten darauf verzichtet, den Saal auszuschmücken. Angesichts der Millionen Opfer des Krieges wäre das unpassend gewesen. An einem enormen Tisch in Hufeisenform saßen die Vertreter der Siegermächte; in der Mitte Clemenceau, eingerahmt vom Amerikaner Woodrow Wilson und dem Briten David Lloyd George. An der Öffnung des Hufeisens war ein Louisquinze-Tisch aufgestellt. An diesem Tisch setzte Hermann Müller um 15.45 Uhr seine Unterschrift unter das Vertragsdokument (mit eigenem Füllfederhalter; den bereitliegenden mit der Der Spiegelsaal ist für Millionen goldenen Feder hatte er zurückgevon Touristen der Anziehungswiesen). Die Zeremonie dauerte keipunkt in Versailles. ne Stunde. In dem Moment, als die
fünf schwarzgekleideten Männer wieder nach draußen traten, überflog eine Staffel Militärmaschinen das Schloss Ludwigs XIV. Im „Neptun“-Bassin des Parks begannen die Wasserspiele. Wie anders war das Bild gewesen 48 Jahre zuvor! Wo waren sie, die Fürsten, die Generäle, die Staat und Gesellschaft des Reiches geprägt hatten? Die Müllers und Erzbergers mussten 1918/19 die Niederlage in einem Krieg quittieren, den sie am wenigsten zu verantworten hatten, und Verträge signieren, welche die erste deutsche Republik von Beginn an mit einer schweren Hypothek belasteten. Erzberger wurde bald von Rechtsterroristen ermordet, Müller später Reichskanzler, der letzte der Republik, der sich auf eine parlamentarische Mehrheit stützen konnte. Die Hoffnung Frankreichs und der übrigen Siegermächte, Deutschland dauerhaft zu schwächen und den Unruhestifter in der Mitte Europas nachhaltig zur Räson zu bringen, erfüllte sich nicht. Im Weltkrieg war Frankreich ausgeblutet. Die mit den Jahren sich einnistende Erkenntnis, 1919 in Versailles weder klug noch gerecht gehandelt zu haben, führte zu der fatalen Paradoxie, dass die französische Politik Hitler mit einer Nachgiebigkeit begegnete, die sie der Republik nie zugebilligt hatte. Der Versailler Vertrag von 1919 war schlecht und schlechter
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noch als der von 1871. Beide waren bestenfalls geeignet, den Krieg für eine Weile zu suspendieren. Die Symbolpolitik erwies sich als plump und schädlich. Den Staatsmännern fehlte die Weisheit, die beispielsweise die Sieger von 1814/15 davon abgehalten hatte, Frankreich, das Land der Revolution, zu isolieren und zu demütigen. Es ist leichter, den Krieg zu gewinnen als den Frieden. Versailles liefert das Anschauungsmaterial. Ein Lernort ist Versailles auch in einer weiteren Hinsicht. Ludwig XIV. schuf sein Prunkschloss als Monument der Überwältigung. Den hohen Anspruch, der schon zu Lebzeiten des Gründers ins Wanken geriet, vermochten die Nachfolger erst recht nicht aufrechtzuerhalten. Für den Kehraus des glanzvollen Sonnenkönigtums reichte 1789 das Pariser Lumpenproletariat. Das Mahlwerk der Zeit arbeitet langsam; am Ende zermalmt es die Hybris. Europa erträgt Übermacht nicht. Ludwig XIV. hinterließ ein ruiniertes Land. Napoleons Großreich, weit mächtiger noch als das des Bourbonenkönigs, stürzte schließlich wie ein Kartenhaus zusammen. Die 1871 in Versailles begründete deutsche Hegemo-
Gigantisch, überwältigend, aufgenie wurde in den Trümmern des laden mit historischer Bedeutung: Weltkriegs begraben und mit dem das Schloss von Versailles. Versailler Frieden liquidiert. So entwickelte sich Versailles im Lauf der Geschichte zu einem Mahnmal der Bescheidenheit, zu einem europäischen Lernort, an dem man viel über Vergänglichkeit erfahren kann.
Dr. Günter Müchler, geb. 1946, Journalist und Buchautor, war bis 2011 Programmdirektor des Deutschlandradios.
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