Das Urchristenthum, seine Schriften und Lehren: Band 2 9783111605623, 9783111230481


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German Pages 719 [720] Year 1902

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Table of contents :
Inhalts-Verzeichnis
3.Abschnitt: Hellenismus und Gnostizismus
Jüdischer Hellenismus.
Synkretismus und Gnostizismus
Apokryphe Apostelgeschichten und Evangelien
4.Abschnitt: Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften.
Schriften der paulinischen Schule
Johanneische Schriften.
Genieinkirchliche („katholische“) Erbauungs- Schriften
Die Klemensschriften
5.Abschnitt: Urchristliche Apologetik
Die Schriften der Apologeten
Die Theologie der Apologeten
Verzeichnis der besprochenen Stellen
A. Neues Testament
B. Apokryphen
C. Apostolische Väter
D. Apologeten
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Das Urchristenthum, seine Schriften und Lehren: Band 2
 9783111605623, 9783111230481

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Das Urchristentum seine Schriften und Lehren in geschichtlichem Zusammenhang

beschrieben von

Otto P f l e i d e r e r , D. und Professor der Theologie zu Berlin.

Zweite, neu bearbeitete und erweiterte Auflage.

II. Band.

B e r l i n . Druck und Verlag v o n G e o r g

1902.

Reimer.

Inhalts-Verzeichnis. B a a d I. Seite

Vorwort Einleitung

V 1

Erster Abschnitt: Der Apostel Paulus

24

Seine Persönlichkeit Griechisch-jüdische Bildung Bekehrung und Apostelberuf Die Briefe des Paulus Die Briefe an die Thessalonicher Korinther Galater Römer Philipper Philemon und Kolosser

24 29 60 88 88 101 135 149 176 183

Die Theologie des Paulus . Der natürliche Mensch Heidentum und Judentum Erlösung durch Christus Jesus Rechtfertigung durch den Glauben • Das Leben im Geiste Gemeinde und Welt Wege und Ziele des Heilsratschlusses

191 191 208 224 245 263 293 309

Geschichtsbücher

336

Zweiter Abschnitt:

Das Evangelium nach Markus Inhalt Eigenart und Entstehung

336 336 396

Inhalts - Verzeichnis.

IV

Seite

Die Lukas-Schriften

404

Inhalt des Evangeliums nach Lukas Inhalt der Apostelgeschichte Eigenart und Entstehung der Lukas-Schriften

404 469 584

Das Evangelium nach Matthäus Inhalt Eigenart und Entstehung

549 549 602

Die Predigt Jesu und der Glaube der Urgemeinde Verkündigung der Nähe der Gottesherrschaft Aufruf zur Sinnesänderung Der Messias im Glauben Jesu und seiner Jüngergemeinde . . . .

615 615 637 660

B a n d II. Dritter Abschnitt:

Hellenismus und Gnostizismus

Jüdischer Hellenismus Therapeuten und Essener Die Weisheit Salomos Philo Jüdische Apokalyptik

l 1 1 16 25 54

Synkretismus und Gnostizismus Die persisch-babylonische Mithrareligion Die Anfänge des Gnostizismus . . . Die gnostischen Hauptschulen

73 74 81 101

Apokryphe Apostelgeschichten und Evangelien Die Johannes-Akten Die Thomas-Akten Die Petrus-Akten Das Petrus-Evangelium . Das Ägypter-Evangelium Das Hebräer-Evangelium und Verwandtes Die Paulus-Akten

120 122 135 146 151 158 160 171

Vierter Abschnitt:

Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften

Schriften der paulinischen Schule Der Hebräerbrief Die Briefe an die Epheser und Kolosser Die ignazianischen Briefe

180 190 190 210 226

Inhalts-Verzeichnis.

y Seite

Der Brief des Polykarp an die Philipper Die Pastoralbriefe Johanneische Schriften Die Apokalypse Johannis Das Evangelium nach Johannes Die Briefe Johannis Entstehung der johanneischen Schriften Die johanneische Theologie

256 262 . 281 281 335 390 399 450

Gemeinkirchliche („katholische") Erbauungs-Schriften Der erste Petmsbrief Die Briefe Judä und II. Petri Die Apokalypse Petri Der „Hirte" des Hermas Der Brief des Jakobus Der Brief des Barnabas Die Apostellehre

503 503 509 516 5L8 539 553 563

Die Klemens-Schriften Der erste Brief des Klemens an die Korinther Der zweite Klemensbrief Klementinische Homilien und Rekognitionen

573 573 586 596

Fünfter Abschnitt:

Urchristliche Apologetik

Die Schriften der Apologeten Die Predigt des Petrus Die Apologie des Aristides Die Apologien Justins, des Philosophen und Märtyrers Tatians Rede an die Griechen . . . . Athenagoras' Bittschrift für die Christen Theophilus' Bücher an Autolykus Minucius Felix' „Oktavius" Tertullians Apologetikus Der Brief an Diognet Die Theologie der Apologeten

615 616 616 . 620 624 645 650 654 657 667 675 681

V e r z e i c h n i s der b e s p r o c h e n e n S t e l l e n des der der der

Neuen Testaments Apokryphen apostolischen Väter Apologeten

705 711 712 713

8. A b s c h n i t t :

Hellenismus und Gnostizismus. Jüdischer Hellenismus. T h e r a p e u t e n und Essener. In der Schrift „über das beschauliche Leben" gibt Philo eine Beschreibung der Therapeuten, deren Namen entweder davon herzuleiten sei, dass sie Seelenärzte seien; oder davon, dass sie Gott dienen. Letzteres wird das Richtige sein; wie die zahlreichen religiösen Genossenschaften des damaligen Heidentums sich cultores deorum nannten, so hatte dieser jüdische Orden den gleichbedeutenden Namen Therapeuten: Ähnlich den Bacchen und Korybanten, sagt Philo von ihnen, schwärmen sie, von himmlischer Liebe ergriffen; aus Sehnsucht nach dem unsterblichen seligen Leben glauben sie ihr sterbliches Leben schon vollendet zu haben, daher überlassen sie ihre Habe ihren Verwandten oder Freunden, verlassen ihre Brüder, Kinder, Weiber, Eltern, Verwandte, Freunde und Vaterstadt und ziehen sich aus Furcht vor dem gefährlichen Umgang mit den Weltmenschen in Gärten oder einsame Landwohnungen ausserhalb der Stadtmauern zurück. Solche Leute gibt es an zahlreichen Orten bei Griechen und Barbaren, am zahlreichsten aber in Ägypten, und hier haben sie ihre Hauptkolonie auf einer Anhöhe am Mareotischen See bei Alexandrien. Hier bewohnen P f l e i d e r e r , Urchristentum.

2. Aull.

Bd. U.

J

2

III.

Hellenismus und Gnostizismus.

sie sehr einfache Wohnungen, in kleinem Abstand voneinander; in jeder ist ein heiliges Gemach, Semneion oder Monasterion genannt, in dem jeder für sich allein die Mysterien seines geweihten Lebens feiert. Dahinein bringen sie weder Trank noch Speise, noch was sonst fürs Leibesleben nötig ist, sondern nur das Gesetz und die prophetischen Offenbarungen und die Psalmen und sonstige zur Förderung der frommen Einsicht nützliche Schriften. Unablässig sind ihre Gedanken bei Gott, selbst ihre Traumbilder haben nichts anderes zum Gegenstand als die Schönheiten der göttlichen Tugenden und Kräfte (d. h. engelartigen Mittelwesen), ja viele reden sogar in Schlafzuständen (Hypnose, Ekstase) von den im Traum geoffenbarten erhabenen Lehren der heiligen Philosophie. Zweimal täglich aber pflegen sie zu beten, morgens und abends; bei Sonnenaufgang bitten sie um einen wahrhaft glücklichen Tag, dass nämlich ihr Sinn erfüllt werde von himmlischem Licht; bei Sonnenuntergang, dass ihre Seele, von der Last der Sinnlichkeit ganz befreit, in ihr Innerstes eingekehrt und mit sich zu Rate gehend, der Wahrheit nachspüre. Die Zwischenzeit zwischen Morgen und Abend ist ganz der frommen Betrachtung gewidmet; sie studieren die heiligen Schriften und erforschen die väterliche Gesetzgebung nach allegorischer Methode; denn den wörtlichen Sinn halten sie für ein blosses Symbol des verborgenen, in Allegorie sich offenbarenden Wesens. Sie besitzen auch Schriften von Männern der Vorzeit, den Stiftern ihrer Sekte, die viele Denkmale der allegorischen Weisheit hinterlassen haben, die sie als Muster gebrauchen. Sie spekulieren nicht bloss, sondern verfassen auch Gesänge in allerlei Metren zum Lobe Gottes. Sechs Tage lang philosophieren sie jeder für sich in seiner Zelle, am siebenten Tag aber kommen sie zu einer gemeinsamen Besprechung zusammen und setzen sich dem Alter nach in geziemender Haltung; dann tritt der Älteste und in den Lehren Erfahrenste auf und hält einen Vortrag voll Verstand und Einsicht, aber ohne rhetorische Künste, die anderen aber hören ruhig zu und geben ihren Beifall nur durch Blicke und Kopfnicken zu erkennen. Dieses gemeinsame Heiligtum, wo sie am siebenten Tag zusammenkommen, hat zwei Hallen, eine für die Männer und eine für die Frauen; denn auch diese hören mit zu, von demselben Eifer beseelt; beide Teile sind getrennt durch eine drei bis vier Ellen hohe Mauer, sodass die Sittsamkeit der Frauen gewahrt

Jüdischer Hellenismus.

3

Therapeuten und Essener.

ist und sie doch den Redner hören können. Massigkeit machen sie zur Grundlage aller Tagenden; Speise oder Trank möchte keiner von ihnen vor Sonnenuntergang zu sich nehmen, denn nur das Philosophieren halten sie für würdig des Tageslichtes, die Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse aber für Sache der Finsternis; manche bleiben drei Tage lang ohne Nahrung, ja einzelne sind so von der Weisheit gesättigt, dass sie das Fasten doppelt so lange ausdehnen. Aber den siebenten Tag halten sie als einen ganz festlichen besonderer Ehre wert, da pflegen sie nach der Seele auch den Leib, ihm wie dem Vieh Ruhe gönnend. Ihre Nahrung ist sehr einfach: Brot, Salz und für die Weichlichen etwas Ysop, dazu ein Trunk von Quellwasser; sie wollen nur Hunger und Durst stillen, Uberfüllung meidend wie einen Feind von Seele und Leib. Ebenso einfach ist auch ihre, Wohnung und Kleidung, nur zum Schutz gegen Kälte und Hitze, wie sie denn in allem auf Bescheidenheit halten, deren Mutter die Wahrheit ist. — Weiterhin beschreibt Philo im Gegensatz zu der Üppigkeit der heidnischen Gelage das Festmahl der Therapeuten, zu dem sie sich nach (je) sieben Wochen versammeln, da sie nicht bloss die einfache Siebenzahl, sondern auch ihre Quadratzahl als heilig verehren; es ist dies eine Vorfeier*) ihres grössten Festes, das auf den fünfzigsten Tag fällt (Pfingsten). Da versammeln sie sich in weissen Kleidern, sprechen zunächst stehend ein Gebet, wobei sie Augen und Hände zum Himmel erheben; darauf setzen sie sich nach der Reihenfolge ihres Alters, nämlich nicht des Lebensalters, sondern nach der Zeit ihrer Aufnahme in die Genossenschaft. Am Mahle nehmen auch Frauen teil, von denen die meisten alte Jungfrauen sind, die ihre Keuschheit freiwillig bewahrt haben aus Liebe zur Weisheit, die sie den leiblichen Freuden vorzogen, da sie nicht nach sterblichen Kindern begehrten, sondern nach unsterblichen, wie sie die gottgeliebte Seele allein aus sich zu erzeugen vermag, befruchtet von den geistlichen Strahlen des Vaters, durch die sie der Weisheit Lehren zu schauen vermag. Die Männer setzen sich zur Rechten, die Frauen zur Linken. Bedient werden sie *) Über den Sinn dieser Stelle, ob es sich um eine alle 7 Wochen wiederkehrende Feier oder um die Feier des jährlichen Pfrngstfestes ausschliesslich handle, ist viel gestritten worden; vgl. darüber Conybeabe, De vita contemplativa, S. 336 ff. und Hemfeld, Gesch. Israels III, 409. 1*

4

III.

Hellenismus und Gnostizismus.

nicht von Sklaven, deren Besitz sie für widernatürlich halten, da die Natur alle als Freie geschaffen hat, sondern von Freien, die aus den Jüngeren hierzu sorgfältig ausgewählt werden, und die den Älteren freudig wie ihren Vätern und Müttern Dienste tun. Wein wird an diesen Tagen nicht aufgetragen, sondern lauterstes Wasser, kaltes für die meisten, warmes für die zartesten der Alten. Der Tisch bleibt rein von Fleischspeise, es gibt nur Brot mit Salz und einer Würze von Ysop für die Weichlichen, der Wein gilt als ein Trank der Torheit. Wenn sie sich niedergelassen haben, dann wird, während alle in tiefster Stille verharren, etwas aus den heiligen Schriften erklärt oder auch eine vorgelegte Frage beantwortet. Bei Erklärung der heiligen Schriften bedient man sich der allegorischen Methode, denn die ganze Gesetzgebung erscheint diesen Leuten wie ein Organismus, an dem die buchstäblichen Gebote der Leib, die Seele aber der in den Worten verborgene Sinn sei. Glaubt dann der Vorsteher, dass genug gesprochen •sei, so erhebt er sich und singt einen Hymnus, sei es einen neu gemachten oder einen von alten Dichtern, die deren vielerlei hinterlassen haben. Nach ihm kommen ebenso die anderen an die Reihe, wobei die Zuhörer schweigen und nur in die Schlussworte einstimmen. Haben alle ihren Hymnus gesungen, so bringen die Jünglinge den schon erwähnten Tisch herein, auf dem die hochheilige Speise ist: gesäuertes Brot mit Salz und Ysop — zum Unterschied von dem ungesäuerten Schaubrot im Tempel, dessen Genuss das Vorrecht der Priester ist. Nach dem Mahle begehen sie die heilige Nachtfeier in der Art: alle erheben sich und bilden zwei Chöre, einen der Männer und einen der Frauen; jeder Chor wählt zu seinem Führer das angesehenste und sangeskundigste Mitglied. Dann singen sie zum Preis Gottes Hymnen in vielen Metren und Tonarten, bald zusammen, bald im Wechselgesang, erst beide Chöre für sich getrennt, dann beide verbunden zu einem Ganzen, womit sie die Chorgesänge Mosis und Mirjams am Roten Meer nach dem Untergang der Ägypter nachbilden. Wenn da die tiefen Stimmen der Männer mit den hohen der Frauen verschmelzen, gibts eine harmonische und wahrhaft musikalische Symphonie. Sehr schön sind die Gedanken, schön die Worte, würdig die Reigen, alles auf Frömmigkeit abzielend. Haben sie so bis zum Morgen an solcher edlen Trunkenheit sich begeistert, so erheben sie beim Anblick der

Jüdischer Hellenismus.

Therapeuten und Essener.

5

aufgehenden Sonne Augen und Hände gen Himmel und erflehen einen glücklichen Tag und Wahrheit und Schärfe des Geistes. Darauf kehrt jeder wieder in seine geweihte Zelle zurück, um der gewohnten Pflege der Philosophie obzuliegen. — Soviel, schliesst Philo seinen Bericht, über die Therapeuten, die ganz nur der Betrachtung des Wesens der Dinge und der Seele leben, als Bürger des Himmels und der Welt, durch Tugend wahrhaft befreundet mit dem Vater und Schöpfer des Alls. Die Existenz dieser Therapeuten hat man mit Unrecht bezweifelt. Die Hypothese von GRATZ und Lucius, dass die Schrift De vita contemplativa eine dem Philo untergeschobene Fälschung eines Christen aus dem Ende des dritten oder Anfang des vierten Jahrhunderts zur Empfehlung der christlichen Asketen seiner Zeit sei, hat zwar bei den deutschen Gelehrten vielen Beifall gefunden, ist aber durch die gründlichen Untersuchungen vonMASSEBiEA.u und CONYBEARE SO schlagend widerlegt worden, dass sie als beseitigt gelten darf. Sie haben durch zahllose Parallelen nachgewiesen, dass die Sprache und die Gedanken dieser Schrift so genau denen der übrigen philonischen Schriften entsprechen, dass man sie, wenn sie uns nicht unter Philos Namen überliefert wäre, doch nur ihm zuschreiben könnte.*) Und warum sollte ein Fälscher sein Werk, das er für christliche Leser bestimmt hätte, dem Philo unterschieben, den kein Christ für eine massgebende Autorität hielt? Und wozu bedurfte es einer Apologie des christlichen Asketentums, das damals in allgemeiner Achtung stand? Übrigens waren die Therapeuten, wie sie hier beschrieben sind, etwas ganz anderes als die ägyptischen Einsiedler zu Ende des dritten Jahrhunderts; sie waren vielmehr Mönche und Nonnen, wie es solche in der christlichen Welt damals noch garnicht gab. Wie sonderbar wäre es vollends, dass in einer Empfehlung christlicher Asketen alles spezifisch Christliche fehlte? Was die Therapeuten von anderen zu Philos Zeit so häufigen Kultvereinen (öiaaoi) unterscheidet, ist alles nur j ü d i s c h e r Art. Welcher Leser hätte merken können, dass, wenn der Verfasser *) Daran dürfte auch die Meinung von FRIEDLÄNDER, („Zur Enstehungsgeschichte des Christentums") scheitern, der den Verf. für einen alexandrinischen Zeitgenossen Philos hält. Übrigens ist seine Kritik der Lucius'schen Hypothese und die Beleuchtung der Gründe ihres unverdienten Erfolges ganz treffend.

6

III.

Hellenismus und Gnostizismus.

von „De vita contemplativa" vom Gesetz sprach, er das Evangelium meinte, wenn von Juden, er Christen meinte, wenn vom Sabbath, er den Sonntag meinte, wenn vom Pfingstmahl, er die Eucharistie meinte? Wie durfte er bei der Eucharistie den Wein als einen „Trank der Torheit" ausschliessen, ohne grober Ketzerei zu verfallen ? Wie durfte er als christlicher Apologet das gesäuerte Brot der therapeutischen Festmahle damit motivieren, dass man sich vor Verletzung der Vorrechte der jüdischen Priester, die allein das ungesäuerte Schaubrot essen durften, gescheut habe? Und weist diese Motivierung nicht darauf hin, dass zur Zeit des Verfassers der jüdische Tempeldienst noch bestand? Kurz, die Therapeuten sind als christliche Asketen völlig unbegreiflich, wogegen alles ganz verständlich wird, wenn wir sie als das nehmen, als was Philo sie schildert: als einen aus ägyptischen Juden und Judengenossen gebildeten Kultverein, dessen Mitglieder dem Weltleben entflohen und sich zu gemeinsamer "Übung beschaulicher Frömmigkeit verbanden, dabei aber auch gewisse Eigentümlichkeiten von den damals überall und besonders in Ägypten verbreiteten orphischpythagoreischen Vereinen annahmen. Dahin gehört die Enthaltung von Fleisch und Wein und die Hochschätzung der Virginität und der freiwilligen Armut,*) die religiösen Mahle und Gesänge, die weissen Kleider und die Beschäftigung mit überlieferten mystisch-allegorischen Schriften, nach deren Muster man auch die allegorische Interpretation des alttestamentlichen Gesetzes betrieb. Mittels dieser Methode werden die Therapeuten auch mit dem Opferwesen des Ritualgesetzes sich abgefunden haben, während sie zu dem Opferdienst in Jerusalem Stellung zu nehmen durch ihre Lage in Ägypten nicht veranlasst sein mochten. Näheres wissen wir darüber nicht. Von dem beschaulichen Mönchsleben der ägyptischen Therapeuten unterscheidet Philo den dem praktischen Leben zugetanen jüdischen Orden der E s s ä e r , von dem er in der Schrift „Quod omnis probus liber" und in einem von Eusebius aufbewahrten Fragment handelt (Mang. II, 457—59. 632—34). Dort sagt er, dass sie die Städte vermeidend dorfweise wohnen, hier dagegen, dass sie viele Städte Judäas *) Diese ist doch nicht streng durchgeführt, da jeder Therapeut seine eigene Wohnung besass. Ob sie ihren Unterhalt durch Almosen oder wie sonst bestritten haben, wird aus Philos Beschreibung nicht klar.

Jüdischer Hellenismus.

Therapeuten und Essener.

7

und viele Dörfer bewohnen in grossen gemeinsamen Ansiedelungen; beides lässt sich vielleicht so vereinigen, dass die Essäer ihre Ordenshäuser zwar mit Vorliebe auf dem Land, aber doch auch in einzelnen Städten hatten (nach Josephus sogar in jeder Stadt). Sonst stimmen beide philonische Berichte überein; besonderen Nachdruck legen sie auf die Beschreibung der vollständigen Gütergemeinschaft, in der die Essäer als ein Orden zusammenleben; keiner von ihnen hat ein eigenes Haus noch sonstigen Besitz, sondern alle ihre Habe machen sie zum Gemeingut ihres Ordens und auch den Ertrag ihrer Arbeit liefern sie an die gemeinsame Kasse ab, von welcher die genossenschaftlichen Wohnungen, Mahlzeiten, die Kleider und alle Lebensbedürfnisse bestritten werden. Nächstdem hebt Philo als Eigentümlichkeit der Essäer hervor, dass sie die Ehe verwerfen, weil sie in ihr das Haupthindernis des genossenschaftlichen Lebens erblicken, da die Selbstsucht der Frau auch des Mannes Gesinnung verwirre; „wer durch den Zauber des Weibes gefesselt ist oder für der Kinder Bedürfnis zu sorgen hat, der ist für Andere nicht mehr derselbe, sondern ist aus einem Freien zum Sklaven geworden" (M. II, 634). Auch Sklaven gibt es bei den Essäern nicht; sie halten die Sklaverei für eine Ungerechtigkeit, ja Gottlosigkeit, da sie die Ordnung der Natur, die alle gleich und als Brüder geschaffen, verkehre. Hierin den Therapeuten verwandt, unterscheiden sich die Essäer von ihnen hauptsächlich dadurch, dass ihr Leben nicht ausschliesslich der geistlichen Betrachtung gewidmet ist, sondern die Woche über beschäftigen sie sich mit praktischer Arbeit, vorzüglich Ackerbau, Viehzucht und Bienenzucht, aber auch Handwerke treiben sie, die den einfachen Bedürfnissen des täglichen und friedlichen Lebens dienen, nur nicht solche, die sich auf den Krieg beziehen oder dem Luxus und der Habgier dienen, wozu sie auch Handel und Schiffahrt rechnen. Auf das theoretische Philosophieren halten sie nicht viel; die Logik überlassen sie den Wortjägern als etwas zum Erwerb der Tugend Überflüssiges, ebenso die Physik (Naturphilosophie), als den menschlichen Verstand übersteigend, den Wolkentretern; nur über das Wesen Gottes und die Entstehung des Alls wird bei ihnen philosophiert. Am meisten aber beschäftigen sie sich mit der Ethik, wobei sie als Lehrmeister die väterlichen Gesetze gebrauchen, die die menschliche Seele nicht ohne

a

III.

Helleaismus und Gnostizismus.

göttliche Eingebung erdacht haben kann. Diese lehren sie nun auch sonst, hauptsächlich aber am siebenten Tag, den sie heilig halten. Da ruhen sie von anderen Arbeiten und versammeln sich an heiligen Stätten, Synagogen genannt, wo sie sich nach der Ordnung des Alters setzen und in geziemender Ruhe zuhören. Dann liest einer aus den (heiligen) Schriften vor und ein anderer von den Sachkundigsten tritt auf und erklärt, was dunkel ist. Das meiste wird bei ihnen durch Symbole (Allegorien) nach altertümlicher Weise erforscht. Sie werden unterwiesen in Frömmigkeit, Reinheit, Gerechtigkeit, wahrer Erkenntnis des guten, schlechten und mittleren, wobei als dreifache Richtschnur gilt die Liebe zu Gott, zur Tugend und zum Menschen. Zur Gottesliebe gehört die Reinhaltung des ganzen Lebens, Enthaltung von Eid und Lüge und der Glaube, dass die Gottheit Ursache von allem Guten und von nichts Bösem (oder Übel) sei; die Tugendliebe erweist sich in Selbstbeherrschung, Massigkeit, Freiheit von Geiz und Ruhmsucht; die Menschenliebe in Wohlwollen, Billigkeit und Teilnahme, Hilfsbereitschaft auch gegen Kranke und Arbeitsunfähige, Ehrfurcht vor den Alten. Indem so die Essäer Gesinnung und Leben zu einem Gottesdienst praktischer Art zu gestalten suchen, verschmähen sie den Zeremonien dienst der blutigen Opfer. Diesen Punkt hat Philo (M. II, 457) bezeichnenderweise an die Spitze seiner Beschreibung der Essäer gestellt; offenbar fand er diese Abweichung vom mosaischen Gesetz besonders auffallend bei sonst so musterhaft frommen Juden, wie er die Essäer durchweg schildert. Warum schweigt er aber darüber bei den Therapeuten? Haben diese etwa über die blutigen Opfer anders gedacht als die Essäer? Das ist um so weniger wahrscheinlich, als sie nach der Angabe Philos den Fleischgenuss verwarfen; sie scheinen also das pythagoreische Verbot, Tiere, sei es zum Opfer oder zum Geniessen, zu töten, eher noch strenger als die Essäer (von denen die Verwerfung des Fleischgenusses nirgends bezeugt wird) befolgt zu haben; aber bei ihrer weiten Entfernung vom jerusalemischen Tempel und ihrem zurückgezogenen Mönchsleben blieb die Frage über die Berechtigung der Tempelopfer für sie ohne praktische Bedeutung und darum mochte ihre Häresie in diesem Punkt sich der Aufmerksamkeit eher entziehen als bei den Essäern. Dieses von Philo gezeichnete Bild der Essäer wird bestätigt und

Jüdischer Hellenismus.

Therapeuten, und Essener.

9

durch mehrfache bemerkenswerte Züge bereichert in den Berichten, die Josephus an zwei Stellen von ihnen gegeben hat: in der Archäologie XVIII, 1, 5 und im jüdischen Krieg II, 8. Dort stellt auch er die Bemerkung voran, dass die „Essener" (so nennt er sie, über das Verhältnis beider Namensformen s. u.) an den (jerusalemischen) Tempel zwar Weihgeschenke schicken, aber nicht Opfer bringen, weil sie ihre Reinigungsgebräuche für vorzüglicher halten; darum werden sie vom gemeinsamen Heiligtum ausgeschlossen und bringen ihre Opfer für sich allein; wahrscheinlich versteht er darunter die gemeinsamen Mahle, die, durch Gebete und Lustrationen zu heiligen Handlungen geweiht, den Essenern als Surrogat der blutigen Tempelopfer gelten mochten; diese" aber verschmähten sie als eine minderwertige Form •von Gottesdienst, die zu ihren reineren religiösen Ideen nicht passte; eine Motivierung, die mit der Andeutung Philos so genau übereinstimmt, dass es nicht angeht, ihre Richtigkeit zu bezweifeln und das eigentliche Motiv der Essener im pythagoreischen Verbot des Tieretötens zu suchen. Auch die Verwerfung der Sklaverei und der Verzicht auf Ehe werden bei Josephus ganz ähnlich wie bei Philo motiviert: "die Sklaverei erscheint den Essenern als eine Ungerechtigkeit, die Ehe aber und Erzeugung von Nachkommenschaft verwerfen sie zwar nicht an sich, aber sie verschmähen sie wegen ihrer pessimistischen Ansicht von den Frauen, als welche. sämtlich keinem einzigen Manne die Treue halten. Doch bemerkt Josephus, dass ein Teil der Essener, der sonst in allem ihre Lebensweise teile, hierin eine Ausnahme mache und der Nachkommenschaft wegen eine Ehe eingehe, aber erst, nachdem sie die Frau zuvor 3 Jahre lang, insbesondere auf ihre Tüchtigkeit zum Kindergebären, erprobt haben (B. J. H, 8, 13 vgl. mit 2). Da Josephus dieser Ausnahme nur an der einen Stelle erwähnt, sonst aber ebenso unbedingt wie Philo von der Ehelosigkeit der Essener spricht, und da diese auch zu ihrer Gütergemeinschaft und ihrem klösterlichen Zusammenwohnen allein zu passen scheint, so ist zu vermuten, dass die Ehelosigkeit bei den eigentlichen Ordensmitgliedern Regel war, die Verheirateten sich aber zu diesen nur wie Laienbrüder von laxer Observanz, ähnlich. den franziskanischen Tertiariern, verhielten. *) *) Vgl. hierzu ERIEDLANDER: Zur Entstehungsgeschichte des Christentums, S. 126: „Auch sonstige über die Essener uns überlieferte Andeutungen lassen es

10

III. Hellenismus und Gnostizismus.

— Nachdem Josephus die Ehelosigkeit und vollständige Gütergemeinschaft der Essener als ihre auffälligsten Eigenheiten vorangestellt, gibt er (B. J. II, 8, 5ff.) ein anschauliches Bild von ihrer Lebensführung und Gemeinschaftsordnung. Bei Aufgang der Sonne sprechen sie zu ihr gewandt einige altertümliche Gebete, wie flehend, dass sie aufgehen möge. Darauf weisen die aus der Gesamtheit gewählten Verwalter jedem seine Arbeit zu, entsprechend dem, was jeder zu betreiben versteht. Nach fünfstündiger Arbeit versammeln sie sich wieder, nehmen zuerst, mit leinenen Schürzen gegürtet, ein kaltes Bad und treten nach dieser Reinigung in das Speisegemach wie in einen heiligen Tempel, zu dem keinem Ungeweihten der Eintritt freisteht. Nachdem der dem Mahle vorstehende Priester ein Gebet gesprochen, verzehren sie in Stille die jedem vom Speisemeister vorgelegte Speise. Woraus diese bestand, wird nicht gesagt; dass sie sich des Fleisches enthalten haben, wird weder von Josephus noch von Philo berichtet, während letzterer dies von den Therapeuten ausdrücklich erwähnt; das ist doch wohl kein Grund, dasselbe ohne zweifellos erscheinen, dass es hier verschiedene, den strengen Ordensregeln mehr oder weniger unterworfene Klassen gegeben. "Wir hören von Essenern, die in den Städten wohnten, und wieder solchen, welche die Städte wegen der darin herrschenden Laster flohen, die Landeinsamkeit aufsuchten und in den Dörfern und der Wüste ihre Wohnsitze aufschlugen. Wir hören von einer Klasse von Essenern, welche die Ehe ganz und gar verwarf, und einer andern, die sie gestattete. Man erzählt uns von einer essenischen Gemeinschaft, deren Mitglieder sämtlich bereits alternde, von den Stürmen des Lebens und der Leidenschaft nicht mehr behelligte Männer waren, „bei denen kein Kind, kein Knabe zu finden war", und wieder von einer anderen, die fremde Kinder im zarten Alter aufnahm und in ihren Grundsätzen erzog. Auf der einen Seite wird versichert, dass der Essenerorden im ganzen gegen viertausend Mitglieder zählte, auf der anderen, dass es „Myriaden" von Essenern gegeben habe. Alle diese scheinbaren Widersprüche schwinden, sobald man die Annahme zulässt, dass es neben dem Orden selbst unzählige, an die strengen Ordensregeln weniger sich bindende Anhänger des Essenismus gegeben habe. Ohne Zweifel gab es eine Menge Essener, die in Städten wohnten, und wieder solche, die in der Wüste ein asketisches Einsiedlerleben führten, umgeben von einer lernbegierigen Jüngerschar, die, wie Josephus, ein dreijähriges Noviziat durchmachten. Diese wurden zwar keine Essener, aber sie brachten mit der hier erworbenen griechischen Bildung auch die essenische Weltanschauung ins praktische Leben mit und verschafften ihr die weiteste Verbreitung. Zu den essenischen Einsiedlern gehörten auch Johannes der Täufer und Banus, der Lehrer des Josephus."

Jüdischer Hellenismus.

Therapeuten und Essener.

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weiteres auch von den Essenern, deren Lebensweise eine so ganz andere war und die neben Ackerbau auch Viehzucht trieben, vorauszusetzen; auch aus ihrer Verwerfung der blutigen Opfer ist es nach der hierfür angegebenen Motivierung (s. oben) nicht zu erschliessen. — Nach dem Mittagsmahl legen sie, wie Josephus fortfährt, die dabei getragenen heiligen Gewänder wieder ab und begeben sich wieder zu ihrer Arbeit bis zum Abend, wo in derselben Weise das gemeinsame Mahl eingenommen wird, an dem auch die etwa anwesenden Gäste des Ordens (wahrscheinlich nur Ordensbrüder aus fremden Klöstern) teilnehmen. Bei der herrschenden „Massigkeit in Speise und Trank* (wobei Weingenuss eher vorausgesetzt als verneint zu sein scheint) gibts kein Lärmen im ganzen Haus, die darin herrschende Stille erscheint den Fremden wie ein feierliches Mysterium. Hier ist jeder Herr seiner Leidenschaften und Freund des Friedens. Auch gehorchen die Brüder in allem ihrem Tun den Weisungen der Oberen, nur die Werke dienender Liebe und Barmherzigkeit sind freiwillig. Wahrhaftigkeit in jedem Wort ist strenges Gesetz, den Eid aber verwerfen sie und halten ihn für schlimmer als Meineid. Sie beschäftigen sich aber auch vorzüglich mit den Schriften der Alten, besonders den auf den Nutzen von Seele und Leib bezüglichen; aus ihnen entnehmen sie die Kenntnis heilkräftiger Wurzeln und der Eigenschaften (medizinischen Wirkungen) von Mineralien (hiernach wird die von Philo den Essenern zugeschriebene Verwerfung der Physik nur von der spekulativen Naturphilosophie zu verstehen sein). — Dem Eintritt in den Ordensverband geht ein dreijähriges Noviziat voraus; im zweiten Jahr bekommt der Kandidat den Gürtel und das weisse Gewand, nimmt auch an den heiligen Bädern teil, aber noch nicht an den heiligen Mahlen. Erst nach zwei weiteren Probejahren erfolgt die Aufnahme in den Orden. Dabei schwört der Kandidat furchtbare Eide, gelobt, die Gottheit zu verehren, gegen Menschen Gerechtigkeit zu üben, jederzeit die Ungerechten zu hassen und den Gerechten beizustehen, immerdar allen Treue zu halten, insbesondere den Oberen, da keinem die Herrschaft ohne Gottes Willen zukomme; und wenn er selbst zur Herrschaft (im Orden) komme, nicht übermütig noch prunksüchtig zu werden; ferner die Wahrheit immer zu lieben und die Lügner zu überführen, die Hände von Diebstahl und die Seele von

12

III.

Hellenismus und Gnostizismus.

unsauberem Gewinn reinzuhalten, den Ordensbrüdern nichts zu verheimlichen und den Fremden nichts zu verraten. Ferner geloben sie, keine Lehrüberlieferung anders, als wie sie dieselbe überkommen haben, anderen mitzuteilen und sowohl die Schriften ihrer Sekte als auch die Namen der Engel zu bewahren (auvi^p^asiv entweder = unverändert festhalten oder = geheimhalten, beides passt im Zusammenhang). — Wer grober Vergehen sich schuldig macht, wird durch ein Gericht, an dem mindestens hundert Ordensmitglieder mitwirken, ausgestossen, was für manche den Hungertod zur Folge hat, da sie durch ihren Eid sich gebunden fühlen, keine ausserhalb des Ordens bereitete Speise zu gemessen. Als todeswürdiges Vergehen wird namentlich die Lästerung des Gesetzgebers Moses bezeichnet. Die Gesetzlichkeit der Essener ist hinsichtlich der Sabbathfeier strenger als bei allen Juden: sie wagen an diesem Tage nicht nur keine Speise zu bereiten, kein Feuer anzuzünden, kein Gefäss zu verrücken, sondern nicht einmal ihre Notdurft zu verrichten. Dieses Stück unserer animalischen Existenz macht diesen wunderlichen Heiligen überhaupt viel zu schaffen, sie treffen bei dem Geschäft Vorsichtsmassregeln, um nicht die Strahlen des Gottes (der Sonne) zu „verletzen", und das Geschäft selbst betrachten sie wie eine religiöse Befleckung, von der sie sich durch eine Waschung zu absolvieren hab.en. Auch hüten sie sich, nach der rechten Seite hin (als der heiligen Region) auszuspucken. Dass sie auch jede Speise, die nicht von ihren Priestern bereitet und geweiht ist, für religiös verunreinigend halten, haben wir schon gesehen. Diese Reinheitsmanie, die von der äusseren Welt streng abschliesst, zieht aber auch noch innerhalb des Ordens selbst trennende Schranken zwischen den hierarchischen Rangklassen, deren es nach Josephus vier gibt: die älteren fühlen sich so erhaben über die jüngeren, dass eine Berührung von diesen ebenso wie von einem Fremden ihnen eine Befleckung zuzieht, die durch eine religiöse Waschung zu tilgen ist. — Die strenge jüdische Gesetzlichkeit, die in diesem Reinigungsfanatismus ins kleinliche entartet erscheint, haben die Essener aber auch durch manche heldenmütige Martyrien im römischen Krieg bewährt. Was ihnen die Kraft gab, unter Qualen lächelnd ihr Leben zu lassen, war ihre Überzeugung, dass nur der Leib untergehe, die Seele aber unsterblich fortdaure. Sie glauben nämlich, wie Josephus

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Therapeuten und Essener.

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berichtet (B. J. II, 8, 11), dass die Seelen aus dem feinsten Ätlier stammen und wie durch einen natürlichen Zauber herabgezogen an die Leiber gefesselt worden seien, wenn sie aber von diesen Fleischesfesseln losgeworden, dann erheben sie sich freudig, wie von langer Knechtschaft befreit, nach oben. Und dann erwarte die Guten ein seliges Dasein in einem Land jenseits des Ozeans, wo sie nicht Kälte noch Hitze mehr erdulden, sondern ein sanfter Zephyr vom Ozean her sie erquicke, während die schlechten an finsterem und winterlichem Ort unaufhörliche Strafen erleiden; Vorstellungen, die Josephus mit Recht den griechischen Sagen von den Inseln der Seligen und von den Strafen im Hades zur Seite stellt, und in denen er den stärksten Zauber der essenischen Weisheit findet. Schliesslich bemerkt er noch, dass auch manche Essener die Zukunft vorherzusehen vermögen, und dass sie die Fähigkeit hierzu durch das Studium heiliger Schriften und prophetischer Orakelsprüche und durch besondere Weihehandlungen ausbilden. Die nahe Verwandtschaft der Essener mit den Therapeuten ist augenfällig. Schon der Name ist gleichbedeutend. Denn „Essener" oder „Essäer" stammt von dem syrischen Wort chase her, dessen Plural die doppelte Form: chasen und chasaja hat (daher die beiden Namensformen) und das gleichbedeutend ist mit dem hebräischen chasid = fromm, gottesfürchtig, wie Therapeut = Gottesverehrer. Aber über der Verwandtschaft beider darf doch auch der Unterschied nicht übersehen werden. Während die Therapeuten die Woche über einsam in ihrer Zelle lebten, mit religiösen Studien und Betrachtungen beschäftigt, und nur am Sabbath zu gemeinsamer Andacht und Mahlzeit zusammenkamen, lebten die Essener in Ordenshäusern zusammen und trieben die Woche über weltliche Arbeiten, Ackerbau, Viehzucht und Handwerke; während jene Virtuosen des Fastens waren, nie vor Abend assen, auch bei ihrem gemeinsamen Mahl am Sabbath nur Brot und Salz und Wasser genossen, kein Fleisch und keinen Wein, so findet .sich von alledem bei den arbeitsamen Essenern nichts, sie hatten zweimal täglich ihre gemeinsamen Mahlzeiten, wobei sie zwar mässig, aber doch bis zur Sättigung assen und tranken, wahrscheinlich auch Fleisch und Wein nicht ganz verschmähend. Ferner während die Therapeuten vor dem Eintritt in den Mönchsverein alle ihre Habe an

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Hellenismus und Gnostizismus.

ihre Angehörigen verschenkten, nachher also wohl von Almosen als richtige Bettelmönche lebten, so übergaben dagegen die praktischen Essener ihr Eigentum dem Orden, der daher über so ansehnliche Mittel verfügte, dass er nicht bloss seinen Mitgliedern eine gesicherte Existenz und Berufsarbeit gewähren, sondern auch nach aussen an Armen und Kranken Wohltätigkeit üben konnte. Während bei den Therapeuten nur schwache Ansätze zu einer Organisation des Ordens sich zeigen — Unterscheidung von Älteren und Jüngern, ein Vorsteher als erster Sprecher bei den heiligen Mahlen —, so hatten dagegen die Essäer eine hierarchische Organisation und stramme Disziplin: den Oberen (Priestern, Verwaltern, Schatzmeister) waren alle Ordensglieder zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet; vier Klassen unterschieden sich durch streng abgestufte Heiligkeitsgrade; der Aufnahme in den Orden ging ein dreijähriges Noviziat voran; über Vergehungen und Ausstossung urteilte ein Gericht von wenigstens hundert Mitgliedern; Offenheit im Verkehr der Ordensleute miteinander und Geheimhaltung ihrer Überlieferungen nach aussen war strenges Gesetz. Während die Therapeuten auch unverheirateten Frauen Zutritt und Teilnahme an ihren heiligen Mahlen gestatteten, waren die Essäer ausschliesslich ein Männerorden. Während die Therapeuten ausser der allegorischen Interpretation der heiligen Schriften auch mit eigener Produktion religiöser Poesie sich beschäftigten und ihre mannigfachen Hymnen bei den hohen Festen in Chören mit Reigentanz sangen, wird davon bei den Essäern nichts berichtet, dafür trieben diese auch medizinische Studien und suchten durch apokalyptische Schriften und Weihehandlungen die Gabe der Prophetie zu kultivieren, d. h. sie trieben Magie und Mantik in der Weise der orphischen Heil- und Orakelpriester. So wenig wie die Therapeuten lassen sich die Essener aus dem Judentum erklären; beide sind gleichsehr, wenn auch teilweise in verschiedener Art, von der orphisch-pythagoreischen Mystik und Askese beeinflusst. Von da stammt bei beiden die weltflüchtige Stimmung, die Betrachtung des irdischen Lebens als einer Gefangenschaft der von oben gekommenen Seele und des Todes als Erlösung und Eingang zu besserem Dasein, das Streben, die Seele schon jetzt möglichst loszumachen von den Fesseln der Sinnlichkeit und den Sorgen der Welt, sie zu heiligen durch Zurückziehung vom Weltleben, durch

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Therapeuten und Essener.

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asketische Enthaltung und mystische Weihung. Am weitesten gingen in dieser Richtung die Therapeuten mit ihrem strengen Fasten und einsamen fortwährenden Meditieren. Die Essener dagegen bildeten einen Kompromiss zwischen dieser extremen Askese und den Bedürfnissen des praktischen Lebens: sie wollten die Welt- und Selbstverleugnung verbinden mit der weltlichen Arbeit; daher vereinigten sich hier die Gleichgestimmten zu klösterlichem Zusammenleben unter gemeinsamer Ordensregel und gemeinsamem Besitz. Und hierfür fanden sie das passende Vorbild in dem Ideal eines religiös-sozialen Bruderbundes mit voller Gütergemeinschaft und mancherlei mystischen Bräuchen, wie dieses die Pythagoreer längst entworfen und in die mythischen Anfänge des pythagoreischen Bundes zurückverlegt hatten. Natürlich entnahmen sie von diesem Vorbild nur, was ihnen als Juden passte und liessen anderes dagegen fallen. An die Stelle der Autorität des Pythagoras trat für sie die des Moses, an die Stelle der pythagoreischen heiligen Schriften die mosaischen, an die Stelle der Naturphilosophie und Zahlenspekulation der biblische Gottes- und Schöpfungsglaube, an die Stelle der Dämonen die Engel und an die Stelle der Seelenwanderung die auch bei den Orphikern gewöhnlichere einfache Unsterblichkeit. Immerhin bleibt auch so des gemeinsamen zwischen den Essenern und Pythagoreern noch genug: nächst der Gütergemeinschaft die Hochschätzung der Ehelosigkeit und des einfachen nüchternen Lebens (wenn auch vielleicht nicht völliger Verzicht auf Fleisch- und Weingenuss, was bei den Essenern nicht bestimmt nachweisbar ist), häufige Waschungen zu religiöser Reinigung, Verbot des Eides und Einschärfung der Wahrhaftigkeit, Gliederung des Gemeinschaftslebens in verschiedene Klassen, strenge Subordination unter die Oberen, mehrjähriges Noviziat vor der Aufnahme in den Orden, strenge Bewahrung und (wahrscheinlich) Geheimhaltung der Ordensüberlieferungen, Betrieb einer (teilweise magischen) Heilkunst und Mantik, allegorische Interpretation alter heiliger Schriften, Verehrung der Sonne als einer Erscheinungsform des göttlichen Lichtes und somit Symbols der Gottheit, endlich Verwerfung der blutigen Opfer. Diese beiden letzten Punkte sind auf jüdischem Boden so unerhört, dass sie allein schon, neben der essenischen Seelen- und Unsterblichkeitslehre, genügen, um den fremden Einfluss ausser Zweifel zu stellen. Dass dieser aber

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nirgends anderswo als im damaligen Pythagoreismus zu suchen ist,' hat ZELLER schon längst einleuchtend nachgewiesen.*) Aber im U n t e r s c h i e d v o n ZELLER u n d i m E i n k l a n g m i t HEKZFELD**),

GFÖRER***)

und FRIEDLANDER****) glaube ich, dass die hellenistische Einwirkung auf das Judentum, aus der der Essenismus im zweiten vorchristlichen Jahrhundert entsprang, ihren Ursprung nicht in Judäa hatte, etwa in einer dortigen hellenistischen Entwicklung der jüdischen Theologie, von der sich sonst nichts findet, sondern in Ä g y p t e n , dem eigentlichen Heimatland der hellenistisch-jüdischen Religionsmischung. Die dortigen Therapeuten werden das erste Produkt dieser Mischung gewesen sein. Palästinensische Juden, die auf Reisen in Ägypten zwar die ernste Frömmigkeit und asketische Lebensweise der Therapeuten kennen und schätzen lernten, aber ihren beschaulichen Müssiggang nicht billigten, sondern sich mehr von dem tätigen sozialethischen Ideal des Pythagoreismus angezogen fühlten, mögen dann den Versuch gemacht haben, dieser Verbindung von Praxis und Askese nebst einigen besonderen Bräuchen derselben Kreise bei den weltmüden Frommen Judäas Eingang zu verschaffen und sie ordensmässig zu organisieren. Wir werden also die Wurzeln des Essenismus, wenn nicht geradezu im Therapeutentum, doch jedenfalls in denselben Kreisen des hellenisierten ägyptischen Judentums, aus denen auch jenes entsprang, zu suchen haben. Wie denn auch die Entstehungszeit beider nahe beisammen liegen dürfte, nämlich in der ersten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts.

Die Weisheit Salomos. Diese unter Salomos Namen uns überlieferte Schrift stammt von einem ägyptischen Juden des letzten vorchristlichen Jahrhunderts und enthält eine polemisch-apologetische Diatribe oder Predigt gegen das theoretische und praktische Heidentum und für die wahre (monotheistische) Religion und Moral. Im ersten Teil, Kpp. 1—5, wird die Denk- und Lebensweise der Gerechten und Gottlosen geschildert mit *) **) ***) ****)

ZELLER, Gesch. der griech. Phil. III, 2, 279 ff. HERZFELD, Gesch. des Volkes Israel, III, S. 402 ff. GFÖRER, Das Urchristentum, I, 2, 343 ff. FRIEDLÄNDER, Zur Entstehungsgeschichte des Christentums, S. 109 ff.

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dem Vergeltungslohn, der die einen in unsterblichem Leben und die anderen in ewigem Tod erwarte. Der zweite Teil, Kpp. 6—9, beginnt mit der Mahnung, nach Weisheit als der Lehrerin der Gerechtigkeit zu streben; darauf erzählt Salomo, wie er selbst des Geistes der Weisheit teilhaftig geworden, und beschreibt eingehend ihr Wesen und Wirken in der Welt und in der Menschenseele. Der dritte Teil, Kpp. 10—19, beschreibt dann das Walten der göttlichen Weisheit in der heiligen Geschichte vom Paradies an bis zu den Geschicken der Israeliten beim Auszug aus Ägypten und in der Wüste, wobei dem Glück der frommen Israeliten das Unglück der gottlosen Ägypter gegenübergestellt und in längerem Exkurs die Torheit des heidnischen Götzendienstes bekämpft wird. Den Mittelpunkt des ganzen bildet die Beschreibung des Wesens der Weisheit 7, 22ff.: „In ihr ist (oder: sie ist) ein Geist, verständig, heilig, einzigartig, vielfältig, fein, beweglich, durchsichtig, unbefleckt, hell, unverletzlich, das Gute liebend, durchdringend, ungehemmt, wohltätig, menschenfreundlich, fest, fehllos, sorglos, allgewaltig, allbeherrschend und alle vernünftigen reinen und feinen Geister durchdringend; beweglicher als alle Bewegung durchdringt sie alles wegen ihrer Reinheit. Denn sie ist ein Hauch der Kraft Gottes, ein lauterer Ausfluss der Herrlichkeit des Allbeherrschers. Darum geht nichts Beflecktes in sie ein, denn sie ist ein Abglanz des ewigen Lichtes, ein fleckenloser Spiegel der Kraft Gottes und ein Abbild seiner Güte. Einsam seiend vermag sie alles und in sich verharrend erneuert sie alles; von Geschlecht zu Geschlecht geht sie in heilige Seelen ein und macht sie zu Freunden Gottes und Propheten. Denn nichts liebt Gott als nur den mit der Weisheit verbundenen. Sie ist glänzender als die Sonne und als alle Gestirne und vorzüglicher als das Licht, denn auf dieses folgt Nacht, aber über die Weisheit vermag die Schlechtigkeit nichts. Gewaltig erstreckt sie sich von einem Ende (der Welt) zum andern und ordnet trefflich das All. Sie habe ich geliebt und gesucht von Jugend an und ich wünschte sie als meine Braut heimzuführen und war ein Liebhaber ihrer Schönheit. Ihren Adel verherrlicht sie dadurch, dass sie mit Gott zusammenlebt und der Allgebieter sie liebt. Sie ist eingeweiht in Gottes Wissen und Wählerin seiner Werke. Wer ist reicher als sie, die alles schafft? die aller P f l e i d e r e r , Urchristentum.

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Dinge Künstlerin ist? die auch die Tugenden bewirkt, denn sie lehrt Massigkeit, Klugheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit? Sie weiss das Vergangene und Zukünftige, versteht Kunstrede und Rätsellösung, erkennt voraus Zeichen und Wunder und der Zeiten Verlauf." Die Weisheit ist hier dargestellt als ein selbständiges Geistwesen neben Gott, Mittlerin seiner Offenbarung in Schöpfung, Erhaltung und Regierung der Welt. Ebenso war auch schon in Proverb. 8, 22 f. und Sirach 24 die Weisheit eingeführt als die Teilhaberin an der Schöpfung und Mittlerin der Offenbarung Gottes in Israel, gewissermassen das personifizierte Gesetz der Weltordnung und der Lebensordnung Israels. Es ist wohl möglich, dass dieser Gedanke, der dem vorexilischen Judentum noch fremd ist, aus der persischen Religion in die jüdische Weisheitslehre hinübergekommen ist, denn die Hypostasierung von abstrakten Begriffen zu Geistern, die als Engel Gott nahestehen, ist der zarathustrischen Religion eigentümlich und gerade die Geister der Weisheit und des guten Gesetzes gehören zu den vornehmsten unter den himmlischen Geistern des Parsismus*). Jedenfalls hat der Verfasser des Weisheitsbuches den in der jüdischen Spekulation bereits aufgekommenen Begriff der mittlerischen AVeisheit zum Mittelpunkt seines eklektischen Systems gemacht, indem er ihn mit Attributen des stoischen Logos ausstattete; wie dieser teils feinster, feuerartiger und alles durchdringender Stoff, teils denkendes, weltordnendes Prinzip, Vernunft, ist, ebenso verbindet unser Weisheitslehrer in seiner Beschreibung des Weisheitsgeistes dingliche Prädikate, die auf ein im Raum ausgedehntes und sich bewegendes luft- und lichtartiges Wesen hinweisen, mit solchen geistiger Art, die einen „persönlichen" Geist voraussetzen. Aber freilich sollte man bei derartigen Hypostasen u n s e r e n Begriff der Persönlichkeit nie als Massstab anlegen, da die animistische Vorstellungsweise der Alten diesen Begriff in unserem Sinn noch nicht kannte und daher ganz unbefangen von Geistwesen sprach, die zugleich stofflich, luftartig ausgedehnt, teilbar („vielteilig") und im Raum beweglich sind; ganz dasselbe werden wir beim philonischen Logos finden, mit dem die „Weisheit" die allernächste Ver-

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*) Vgl. CHETNE, das "religiöse Leben der Juden nach dem Exil, S. 157 und STAVE, Einfluss des Parsismus auf das Judentum S. 205 ff.

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wandschaft hat. Durch die dinglichen Prädikate soll der Weisheitsgeist als eine die Naturwelt durchdringende Kraft, als ein kosmischmetaphysisches Prinzip gekennzeichnet werden, durch die geistigen und sittlichen Prädikate aber als ein Prinzip göttlicher Offenbarung und Gnadenwirkung im religiösen und sittlichen Leben der Menschen überhaupt und der Juden speziell. Für den ägyptischen Hellenisten ist die Weisheit nicht mehr so ausschliesslich, wie beim Siraciden, auf die Juden beschränkt und im mosaischem Gesetz verkörpert, sondern sie ist allgemein „menschenliebend" und überall, in jedem Geschlecht, geht sie in heilige Seelen ein und macht sie zu Propheten und Gottesfreunden. Nur „in arge Seelen geht sie nicht ein und wohnt nicht in einem der Sünde verhafteten Leibe" (1, 4); aber „die sie lieben und suchen, von denen lässt sie sich leicht finden, ja sie kommt ihnen zuvor, denn sie geht selbst umher, suchend nach denen, die ihrer wert sind, und erscheint ihnen huldvoll auf ihren Wegen und in jedem Gedanken kommt sie ihnen entgegen. Denn ihr Anfang ist wahrstes Verlangen nach (sittlicher) Bildung, Sorge um Bildung ist Liebe, Liebe aber ist halten ihrer Gebote, festhalten an den Geboten ist Vergewisserung der Unvergänglichkeit, Unvergänglichkeit aber bringt Gott nahe; so führt also das Verlangen nach Weisheit zu königlicher Herrscherwürde" (6,12—20). Das Endziel also des Heilswegs, auf dem die Weisheit ihre Freunde führt, ist die Unvergänglichkeit, d. h. das unsterbliche Leben der Seele in Gottes Nähe. Dieser Glaube ist dem Weisheitslehrer ein hochwichtiger Trostgrund unter den Rätseln des irdischen Daseins, eine Überzeugung, die auf jüdischem Boden ausserhalb der Kreise der Therapeuten und Essener fremd war, und die aus der griechischen, näher der orphisch-platonischen Spekulation stammte; der Verfasser hat sie sich aber nur soweit angeeignet, als sie für seine religiöse Weltbetrachtung werthvoll war. Während die Gottlosen in ihrem Leichtsinn und Übermut über den leidenden Gerechten zu triumphieren meinen und dessen Tod für ein Unglück, eine Vernichtung halten, weiss der Weise hingegen, dass Gott „die Gerechten geprüft und seiner wert gefunden, dass er sie aus Gnade nach kurzem Leiden hinweggenommen und in Sicherheit gebracht hat; denn die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand und keine Qual rühret sie an; sie 2*

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sind den Kindern Gottes zugezählt und haben ihren Lohn im Herrn, der Höchste nimmt sich ihrer an, sie empfangen aus seiner Hand die herrliche Königswürde und schöne Krone, mit seiner Rechten wird er sie decken und mit seinem Arme beschützen. Sie werden am Vergeltungstag glänzen und die Völker richten" ( 3 , 1 — 9 . 5, 5. 16 ff.). Die Gottlosen dagegen werden bei der Abrechnung zitternd dastehen, wenn ihre Übertretungen als Ankläger wider sie sich erheben, wenn sie den verachteten Gerechten in Ehren sehen, selbst aber in Qual und Schande ihren Wahn zu bereuen haben (4, 19—5, 15). Nur auf dieses doppelte, selige und unselige, Los der Seelen im Jenseits legt unser Verfasser Gewicht, von einer Seelenwanderung dagegen redet er sowenig wie von einer Auferstehung der Leiber. Aber doch kennt auch er das platonische Gegenstück zur Unsterblichkeit, die Präexistenz der Seele. Denn 8, 19 und 20 sagt Salomo von sich: „Ich war ein gutgeartetes Kind und hatte auch eine gute Seele bekommen; oder vielmehr, weil ich gut war, kam ich auch in einen unbefleckten Leib". Hiernach ist, ganz wie bei Plato, die sittliche Beschaffenheit der präexistenten Seele massgebend für ihr irdisches Schicksal und schon für die ihr zu teil werdende Leibesbehausung. Unter dieser Voraussetzung einer Herkunft der Seele von höheren Regionen ist es ganz folgerichtig, wenn der Verfasser im genauen Anschluss an Plato (Phaedon, 81) sagt: „Dieser vergängliche Leib beschwert die Seele und das irdische Zelt lastet auf dem vielsorgenden Geist" (9, 15), und wenn er eben aus dieser henfmenden Fessel des Leibes die Unfähigkeit des Menschen ableitet, ohne die Hilfe des von oben gesandten heiligen Geistes die himmlischen Dinge zu ergründen (9, 16f:); wenn er ferner im entschiedenen Gegensatz zu der echtjüdischen Schätzung langes Leben und Kindersegen nicht für ein wünschenswertes Gut zu halten vermag (Kpp. 3 und 4). In alledem verrät sich die Anschauung und Stimmung des damaligen orphisch-pythagoreischplatonischen Hellenismus: sein spiritualistischer Dualismus, seine Geringschätzung des Erdenlebens und seiner natürlichen Zwecke und Güter, seine Sehnsucht nach Befreiung von den Fesseln der Sinnlichkeit, sein geringes Zutrauen zu den eigenen Geisteskräften des Menschen, sein Verlangen nach göttlicher Hilfe und Offenbarung. Übrigens scheint sich mit diesem hellenistischen Spiritualismus,

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der den Erdenleib für eine Fessel und den Tod für eine Erlösung, einen Übergang der unsterblichen Seele zu besserem Dasein hält, eine andere Anschauung zu kreuzen, nach welcher der Tod der ursprünglichen Schöpfung Gottes fremd und durch eine feindliche Macht in die Welt gekommen ist. Denn 1, 13ff. sagt der Weisheitslehrer: „Gott ist es nicht, der den Tod geschaffen hat, und er hat keine Freude am Untergang der Lebenden, denn zum Sein hat er alles geschaffen und heilsam sind (zum Leben dienen) alle Gebilde der Welt, kein totbringendes Gift ist in ihnen und keine Herrschaft übt der Hades auf Erden. Die Gerechtigkeit nämlich ist unsterblich, die Gottlosen aber haben den Tod durch Tat und Wort herbeigerufen, ihn für einen Freund haltend, sehnten sie sich nach ihm und machten einen Pakt mit ihm und verdienen es, ihm anheimzufallen". Ebenso 2, 23ff.: „Gott hat den Menschen für die Unvergänglichkeit geschaffen, zum Bilde seines eigenen Wesens, aber durch den Neid des Teufels ist der Tod in die Welt hereingekommen und es erfahren ihn die, welche jenem angehören". Hiernach scheint es, dass nach dem ursprünglichen Schöpfungsplan die Menschen gar nicht sterben, sondern auch dem Leibe nach unvergänglich sein sollten, und dass in der Einrichtung der Welt nur Mittel der Erhaltung des Lebens, nicht aber Ursachen des Todes vorgesehen waren, dieser aber erst durch die gottfeindliche Macht des Teufels in die Schöpfung Gottes hereingebracht worden ist. Wie sollen wir aber damit jene anderen Sätze reimen, dass der Leib eine Last für den Geist sei, und dass früher Tod der Gerechten nicht ein Übel, sondern ein Zeichen göttlicher Gnade sei, die ihre Seele aus der argen Welt erretten, in Sicherheit bringen und zu ewigem Leben in Gottes Nähe führen wolle? Schwerlich lässt sich verkennen, dass hier zwei ganz verschiedene Anschauungen sich durchkreuzen: die eine entstammt dem hellenistischen Spiritualismus, die andere teils dem altjüdischen Realismus und lebensfrohen Optimismus, teils dem persischen Dualismus. Auch nach diesem hatte die Schöpfung des guten Gottes Ahuramazda nur das Leben, die Erhaltung und Förderung des irdischen Leibeslebens zu ihrem Zweck, der Tod aber ist in diese gute Schöpfung durch den feindseligen Geist Angromainyu hineingebracht worden und wird von dessen Anhängern durch ihr Tun gefördert. Bekanntlich hat das nachexilische Judentum mit der

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Lehre von den guten Geistermächten (Engeln und Erzengeln und Mittelwesen wie die hypostasierte Weisheit) auch die von den bösen Geistern oder Dämonen und ihrem Oberhaupt, dem Satan, aus der persischen Mazdareligion übernommen und sich ihrer in immer umfassenderem Masse bedient, je schwerer das wachsende Elend des jüdischen Volkes mit der göttlichen Weltregierung zu vereinbaren schien.*) Ob unser Weisheitslehrer der erste war, der den Tod als eine durch den Teufel verursachte Störung der Schöpfung Gottes erklärt hat, wissen wir nicht; jedenfalls findet sich nicht bloss in der späteren jüdischen Theologie, sondern auch schon in der jüdischen Apokalyptik, deren Anfänge in die vorchristliche Zeit zurückreichen, die Lehre von einer (irgendwie gedachten) Verführung der Urmenschen durch dämonische Mächte, wodurch das Gift des Todes in die Schöpfung gebracht und alles verderbt, dem Fluch der Vergänglichkeit unterworfen worden sei; dass dies in der pharisäischen Schule zur Zeit des Paulus schon eine stehende Lehre war, darf aus seiner Benutzung derselben in Rom. 5, 12 und 8, 20f. erschlossen wenden. Dass nun diese, der damaligen volkstümlichen Religion der Juden entstammenden Vorstellungen vom Weisheitslehrer festgehalten und mit den freilich ganz andersartigen hellenistischen Ideen verknüpft wurden, werden wir bei dem systemlosen Eklektiker und praktischen Polemiker nicht verwunderlich finden, sowenig wie die Verbindung der ähnlichen Gedankenreihen in der Theologie des Paulus. Dasselbe gilt auch von den Ausführungen über die göttliche Gnade und Erwählung. Einerseits wird die Allgemeinheit der göttlichen Barmherzigkeit gegen alle stark betont, z . B . 11, 24 ff.: „Du erbarmest dich über alle, weil du alles vermagst; du bist nachsichtig gegen die Sünden der Menschen, um sie zur Busse zu leiten. Denn du liebst alles Seiende und verabscheust nichts von dem, was du gemacht hast, denn du würdest es j a garnicht geschaffen haben, wenn du es hasstest; wie könnte auch etwas fortdauern, wenn du nicht wolltest? oder wie etwas bestehen, wenn du es nicht ins Dasein gerufen? Du schonest alles, weil es dein ist, o Herr und Freund der *) Vgl, SIAVE, Einfluss des Parsismus auf das Judentum S. 235 ff.

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Seelen! Denn dein unvergänglicher Geist ist in allem. Darum züchtigst du nur wenig die Fallenden und weisest sie zurecht, ihre Verfehlungen ihnen zu Gemüt führend, damit sie, von ihrer Schlechtigkeit befreit, an dich glauben, o Herr!" Andererseits wird die Gnade und das Erbarmen Gottes auf seine „Auserwählten" beschränkt (3, 9. 4, 15) und diese sind in concreto doch nur die Juden, während die Heiden, Kananiter und Ägypter, Gegenstände der Verwerfung und Verstockung sind. Von jenen wird (Kp. 12) gesagt, dass Gott ihre Ausrottung den Israeliten befohlen habe, damit das ihm liebste Land (Kanaan) eine würdige Einwohnerschaft von Kindern Gottes bekomme. Zwar hätte Gott die Kananiter mit einemmale vernichten können, aber er habe sie nur nach und nach gerichtet und ihnen Zeit zur Busse gelassen, ob er gleich wusste, dass ihr Geschlecht verdorben, von eingewurzelter Bosheit sei und ihr Sinn sich ewig nicht ändere, weil es ein von Anfang verfluchter Same war. Das unerbittliche Strafgericht Gottes über die Kananiter wird dann gerechtfertigt durch den Hinweis auf die absolute Macht und Herrscherwürde Gottes: „AVer darf sagen, was hast du getan? oder wer darf deinem Richterspruch sich widersetzen? wer wird dir Vorwürfe wegen der verworfenen Heiden machen, die ja deine Geschöpfe sind? wer als Verteidiger für ungerechte Menschen wider dich rechten? Denn ausser dir ist kein Gott, der für alles sorgt, so dass du (vor ihm) beweisen miisstest, dass du nicht ungerecht gerichtet hast; kein König oder Tyrann wird dir unter die Augen treten (und dir Vorwürfe machen) können wegen derer, die du zu Grunde gerichtet hast. Als ein Gerechter ordnest du alles mit Gerechtigkeit; den, der Strafe nicht verdient hat, zu verurteilen, hältst du nicht für würdig deiner Macht. Denn gerade deine Stärke ist der Grund deiner Gerechtigkeit, und dass du über alle Herr bist, lässt dich aller schonen" u. s. w. 12, 12—IG. Wie wenig diese verschiedenen Sätze unter sich zusammenstimmen, erkennt jeder; wir vermögen in ihnen nur den mühsamen und unglücklichen Versuch zu sehen, den reineren sittlichen Gottesbegriff und die damit zusammenhängende Forderung allgemeiner menschlicher Heilsbestimmung mit dem schroffen jüdischen Partikularismus und Heidenhass auszugleichen. „Sie (die Juden in der Wüste) prüftest du wie ein erziehender Vater, jene aber (die Ägypter) hast

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du als ein unerbittlicher König verurteilt und gestraft" (11, 11). Die pharisäische Lehre, dass Gott die Heiden zum Verderben prädestiniert habe, durchkreuzt beim hellenistischen Weisheitslehrer die reinere Anschauung, dass Gott sich aller erbarme und und dass sein unvergänglicher Geist in allen sei (11, 24. 12, 1), dass er aber insbesondere der Vater sei jedes Gerechten, der durch die Liebe zur Weisheit ihm nahegebracht werde (2, 18. 3, 9. 6, 18ff.). Dasselbe Schwanken zeigt sich in 'seiner Beurteilung des Heidentums insofern, als er dasselbe bald als groben Abfall von Gott zum Götzendienst verurteilt, bald wieder zugibt, dass doch die heidnischen Weisen minderen Tadel verdienten, weil sie doch wenigstens Gott suchten und finden wollten, wobei sie freilich in die Irre gingen, indem sie bei ihrer Erforschung seiner Werke von deren Schönheit sich so fesseln Hessen, dass sie bei den Geschöpfen stehen blieben, statt sieh zum Schöpfer selbst zu erheben (13, 6f.). Wenn er dann aber hinzufügt, dass doch auch diese nicht zu entschuldigen seien, denn wenn sie soviel zu wissen vermochten, dass sie die Welt erforschten, so hätten sie um so leichter auch den Herrn derselben erkennen sollen: so vergisst er, dass er j a selbst kurz vorher dem von der Last des Leibes beschwerten Menschengeist die Fähigkeit der Erkenntnis der himmlischen Dinge ohne die Hilfe des von oben gesandten göttlichen Geistes abgesprochen hatte (9, 14—17). Auch hierin wieder kreuzt sich die mildere hellenistische Ansicht, die in der sinnlichen Schwäche unserer Natur einen Zustand der Erlösungsbedürftigkeit zwar, aber nicht der Strafwürdigkeit sieht, mit dem strengen pharisäischen Eifergeist, der überall — mindestens bei den Heiden — verdammliche Schuld erblickt. Wer der Verfasser des W 7 eisheitsbuches gewesen, wissen wir nicht. Jedenfalls war es kein Christ, sondern ein hellenistisch gebildeter Jude Ägyptens, bei dem die Bekanntschaft mit heidnischer Literatur und Philosophie nicht zur Mässigung, sondern eher zur Steigerung des jüdisch-nationalen Selbstbewusstseins gedient hatte. So manche auffallende Berührungen sich zwischen diesem Weisheitsbuch und den Briefen des Apostels Paulus finden, der es ohne Zweifel gekannt und benutzt hat, so ungeheuer ist doch der Unterschied zwischen dem christlichen Heidenapostel und dem engherzigen jüdischen Weisen.

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Philo.

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Beachtung verdient übrigens die Hypothese GFORERS,*) dass er ein Therapeut oder Essener gewesen sei; gemein hatte er mit diesen die Unsterblichkeitslehre, die Weltmüdigkeit und Himmelsehnsucht, die Hochschätzung der Virginität und Geringschätzung des Kindersegens, dazu die Empfehlung des Dankgebets vor Sonnenaufgang (16, 28). Endlich hat E. PFLEIDERER**) auf die Verwandtschaft des Weisheitsbuches mit dem 4. und 7. unter den pseudoheraklitischen Briefen aufmerksam gemacht, in denen eine ähnliche Kritik am Heidentum vom Standpunkt eines hellenistischen Juden aus geübt wird. Ob freilich diese Verwandtschaft zureiche, um die Vermutung der Identität des Verfassers zu begründen, ist mir zweifelhaft; aus einer Stelle des vierten dieser Briefe lässt sich mit Wahrscheinlichkeit seine Abfassung im ersten christlichen Jahrhundert erschliessen,***) wogegen das Weisheitsbuch v o r Philo und Paulus, also im letzten vorchristlichen Jahrhundert geschrieben sein muss; überdies findet sich in diesen Briefen nichts von dem für jenes so bedeutsamen Begriff der hypostasierten mittlerischen Weisheit.

Philo. In Philos Religionsphilosophie kam die schon längst in der ägyptischen Judenschaft angestrebte Verknüpfung der griechischen Philosophie mit der alttestamentlichen Offenbarungsreligion zur Vollendung. Das Mittel der Verbindung beider so heterogenen Elemente war die Allegorie, die Philo zwar nicht zuerst, aber kühner, als alle früheren, auf die Deutung der heiligen Texte angewandt hat, um aus ihnen alles das, was seiner philosophisch gebildeten Denkart nicht genehm war, zu entfernen und seine eigentümlichen Ideen in den Text einzutragen. Philo leugnet zwar für gewöhnlich (Ausnahmen vorbehalten) den historischen Wortsinn des A. Ts. nicht, aber er glaubt, dass neben ihm noch ein anderer, geistlicher Sinn zu finden sei, den auch der Verfasser selbst schon durch seine Worte habe aus•) Gesch. des Urchristentums I, 2, 266 f. yt

) Philosophie des ITeraklit, Anhang, S. 346. BERNAYS, die heiaklitischen Briefe, S. 26.

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III.

Hellenismus und Gnostizismus.

drücken wollen. So deutet er z. B. fast alle in der Genesis genannten Personen als Bezeichnungen für Seelenzustände (xpoTOi 'juy^c), Tugenden oder Laster: Adam ist der sinnliche Mensch,' Kain die Selbstsucht, Abel die Gottergebenheit, Henoch die Busse, Ivo ah die Gerechtigkeit, Abraham ist die durch Erziehung weise gewordene Seele, Isaak die von Natur weise und Jakob die durch Übung es gewordene; ferner ist Ägypten Sinnbild des Leibes, Kanaan der Frömmigkeit, Chaldäa der weltlichen Weisheit und dgl. Für gewöhnlich zwar lässt nun Philo den Wortsinn neben der allegorischen Erklärung gelten; wo aber jener etwa durch die allzu naiven anthropomorphen Aussagen über Gott der Überzeugung des jüdischen Philosophen widerspricht, da verwirft er ihn ganz und rechtfertigt dies durch die Annahme einer Accommodation des Moses an die Fassungskraft der Menge, die, weil selbst im Sinnlichen versunken, auch Gott nur immer sinnlich zu denken vermöge. „Denn es giebt zwei Klassen von Menschen; fleischliche und geistige. Letztere setzen das Seiende (Gott) mit keiner Kreatur gleich, sondern begnügen sich mit der Gewissheit, dass er sei, ohne sich ein Bild von ihm machen zu wollen. Die anderen aber sind nicht im Stand, sich einen Begriff von einem reinen, bedürfnislosen und einfachen Urwesen zu machen, sondern denken von der Ursache des Alls geradeso wie von sich selbst. Bei diesen Stumpfsinnigen und Unverständigen muss der Gesetzgeber als Arzt wirken und für ihre Krankheit die passende Heilung ersinnen. Mögen sie also immerhin falsches für wahr halten, wenn sie nur dadurch gebessert werden."*) Bei vielen Stellen ist die allegorische Deutung nach (Philo dadurch gefordert, dass die wörtliclic von Gott etwas seiner Unwürdiges aussagen würde; bei anderen dadurch, dass der Wortsinn wenigstens zu bedeutungslos wäre, als dass man ihn dem Verfasser der heiligen Schrift zutrauen könnte. Übrigens blieb Philo bei aller Freiheit seiner allegorischen Schriftdeutung doch ein streng gesetzlicher Jude und bekämpfte sehr entschieden solche freier gesinnten Volksgenossen, die durch die Erkenntnis des verborgenen geistlichen Sinnes der Gesetze sich von der Befolgung ihres BuchQuod Deus sit immutabilis, 77-79).

11—14.

(ed. Mangey I, 280—2,

Richter II,

Jüdischer Hellenismus.

Philo.

27

stabens entbunden erachteten; die Gesetze über Sabbath, Feste, Beschneidung haben allerdings eine höhere geistliche Wahrheit, aber darum gelten sie doch auch als äussere Bräuche. „Man muss den Wortsinn für den Leib, den geheimen für die Seele ansehen; wie man für den Leib als die Behausung der Seele sorgen muss, so muss man auch den Wortsinn der Gesetze achten, denn nur wenn dieser beobachtet wird, kann man auch die geheime Wahrheit klar erkennen und auch nur hierdurch dem Tadel der Menge entgehen."*) Man sieht hieraus, dass Philo, wie mancher Weise vor und nach ihm, die Licenz für seine vielen theoretischen Ketzereien und Neuerungen durch seinen praktischen Konservatismus sich erkauft hat. Dass der Ausgleich zwischen griechischer Philosophie (Piatonismus) und jüdischer Offenbarungsreligion trotz alles redlichen Bemühens dem Philo nicht völlig gelungen ist und der Natur der Sache nach nicht gelingen konnte, zeigt sich vor allem an seiner Gotteslehre, in dem unüberwundenen Widerspruch zwischen philosophischem Agnostizismus und religiösem Offenbarungsglauben. Einerseits ist nach Philo Gott so durchaus erhaben über die Welt, unvergleichlich mit irgend einem endlichen Objekt, dass von ihm nicht bloss keine Unvollkommcnheit des Endlichen, sondern überhaupt keine bestimmte Eigenschaft irgendwelcher Art auszusagen ist; er ist besser als das gute und schöne, ursprünglicher als die Monas, reiner als das Eins, daher kann er von keinem anderen, sondern nur von sich selbst erkannt werden.*' 8 ) „Des Menschen Denken reicht nur soweit, zu erkennen, dass Gott ist und die Ursache von allem ist; darüber hinaus aber noch nach Wesen oder Eigenschaften Gottes zu fragen, wäre der Gipfel der Torheit." Durfte doch auch Moses ihn nicht von vorne sehen, sondern nur von hinten, d. h. nicht nach seinem Wesen, sondern nur nach den ihm folgenden Kräften lind Wirkungen.***) Andererseits aber konnte der offenbarungsgläubige Jude Philo bei diesem leeren Agnostizismus nicht stehen bleiben, sondern musste seinen religiösen Gottesglauben in positiven Eigenschaftsbegriffen beschreiben. Das unendliche Wesen

") De migratione Abrah. 16 (II. I, 451.

R. II, 312 f.)

**) De prämiis et poenis 6 (M. II, 414, R. V, 226.) **•) De posteritate Caini 48 (M I. 258, R. II, 44;.

28'

III.

Hellenismus und Gnostizismus.

(tö ov, to -csvixa>TOTov) bekommt nähere Bestimmungen durch sein Verhältnis zur W e l t : es ist die wirksame Ursache von allem und die Vernunft (voü») des Weltalls, am meisten von allem Endlichen vergleichbar dem Licht und der menschlichen Seele, aber verschieden von allem Endlichen dadurch, dass er nur tätig und immer wirksam, nie ruhend und nie leidend ist wie die Kreatur. Gott ist über Raum und Zeit; er geht der Zeit voran, denn er hat sie zusammen mit der Welt geschaffen; er ist von keinem Ort begrenzt, sondern umfasst alles, ist überall und nirgends; „obgleich alles überragend und ausser dem Geschaffenen seiend', hat er nichtsdestoweniger die Welt mit sich erfüllt".*) Sofern Gott alles wirkt, umfasst und durchdringt, kann von ihm auch gesagt werden, dass er der eine und das all (ei; xat xo uav) sei,**) was doch nicht im Sinn pantheistischer Identifizierung von Gott und Welt zu verstehen ist, die Philo ausdrücklich als einen heidnischen Irrtum verwirft.***) Neben der allwirkenden Kraft ist die wichtigste Eigenschaft des philonischen Gottesbegriffs die wohltuende Güte und Gnade; sie ist schon der Grund der Weltschöpfung gewesen, sie erhält die Welt in Harmonie, sie erweist sich in der unendlichen Fülle von Wohltaten, die Gott der Kreatur, besonders den Menschen zukommen lässt. Alles gute, natürliches wie auch sittliches, ist eine Gabe Gottes, und nur gutes kommt von ihm unmittelbar, wogegen die Übel der Bestrafung durch untergeordnete Geister vermittelt werden, die freilich auf göttliches Geheiss dabei handeln. Dass die Gnade bei Gott der strafenden Gerechtigkeit vorangehe, dass er auch den Sündern die rettende Hand reiche und sie aufrichte, um sie nicht gänzlich zu Grunde gehen zu lassen, ist eine dem Philo sehr wichtige Überzeugung,****) zu der die platonische Lehre von der neidlosen Güte der Gottheit so viel beitragen mochte, wie der Gottesglaube der besten Propheten und Psalmdichter. Freilich steht nun aber dieser religiösen Überzeugung von der wohltuenden Güte Gottes immer wieder die dualistische Theorie entgegen, dass der vollkommene Gott von der unvollkommenen Welt des ') l)e pobt. Caim, 5 fM. I 228 f. R. II, G.) **) Leg. alleg. I, 14. (M. I, 52. R. I, 71.) >-*) De dekalogo. 12 (M. II, 189, 11. IV, 257.) Qnod Deus sit immutabilis, 15 f. (M. I, 283 f. K. II, 81 f.)

Jüdischer Hellenismus.

Philo.

29

materiellen Daseins in der Art geschieden sei, dass sie zu berühren, auf sie unmittelbar zu wirken, ihm nicht zukomme; seine Wirksamkeit, die für den religiösen Gottesglauben natürlich feststeht, kann daher nur eine m i t t e l b a r e sein, vermittelt durch die „körperlosen Kräfte, die eigentlich die Ideen heissen,"*) Dass aber Philo unter ihnen nicht etwa bloss platonische Ideen oder stoische Wirkungsarten (modi) der einen Urkraft gedacht hat, sondern selbständige Wesen und Gehilfen der Gottheit von der Art der Engel, das ergibt sich besonders deutlich aus der Stelle**) der Schrift de confusione linguarum 34, wo er die Pluralform in der Selbstbezeichnung von Elohim (Gen. 1, 26 3, 22. 11, 7) durch die Vielheit der Gott umgebenden Kräfte oder Engel erklärt: „Es ist nur ein Gott, aber dieser eine hat um sich unzählige Kräfte als Helfer und Retter alles Geschaffenen, darunter auch strafende (übrigens dient auch die Strafe nicht zum Schadenstiften, sondern dazu, den Sünden zu wehren und die Sünder zu bekehren). Durch diese „Kräfte" nun wurde die körperlose intelligible Welt gebaut, das Urbild dieser Erscheinungswelt, zusammengesetzt jene aus unsichtbaren Ideen, wie diese aus sichtbaren Körpern. Hingerissen nun von der herrlichen Natur dieser beiden Welten, haben viele das ganze oder seine schönsten Teile, Sonne und Mond und Himmel, vergöttert. Im Blick auf ihre Torheit sagt Moses: Herr Herr, König der Götter! und deutet damit auf den Unterschied zwischen dem Herrscher und den Untertanen (nämlich den „Kräften".) Es ist aber auch in der Luft ein hochheiliger Chor von leiblosen Seelen, im Gefolge der himmlischen: „Engel" pflegt das prophetische Wort diese Seelen zu nennen. Dieses ganze wohlgeordnete Heer bildet das Gefolge und die Dienerschaft des regierenden Herrn. Der König aber verkehrt mit seinen „Kräften" und braucht sie als Diener für solche Geschäfte, die für Gott allein nicht passen. Zwar bedarf der Vater des Alls niemandes, aber mit Rücksicht auf das, was ihm und der Kreatur geziemt, hat er einiges den untergeordneten „Kräften" überlassen, ohne ihnen jedoch vollkommene Selbständigkeit' zu gewähren, damit nicht Fehler gemacht werden bei dem, was ins Werk gesetzt wird." Nach dieser Stelle bestehen die mittlerischen Kräfte aus zwei Klassen: den himm*) D e victimas offerentibus, 13 (M. II, 261, E. IV, 355.) II. I, 431, R 11, "286.

30

III.

Hellenismus und Gnostizismus.

lischen, die auch „Ideen" heisseu und die intelligible Welt bilden, und den Luftgeistern, die auch „Engel" heissen; beide aber bjlden zusammen das dienende Gefolge, die Untertanen Gottes, der sie gewisse Funktionen mit beschränkter Selbständigkeit ausführen lässt. Unter diesen zahllosen Kräften hebt nun Philo zwei als die nächststehenden Trabanten (SopocpopoüvT?) Gottes hervor, die er bald als schöpferische und königliche Kraft, bald als Macht und Güte (*ißyrj und afado-Tj?), bald als begnadigende und bestrafende Kraft (-¿apiauy.7) und xoXacmxT}), bald als Gott und Herr (Oso; und xuptoc, nach dem Doppelnamen Elohim - Jahve) bezeichnet. Ein andermal*) hat er die sechs Freistädte der Leviten allegorisiert auf die sechs obersten Kräfte, unter denen der göttliche Logos die erste sei, der sich fünf weitere anreihen, nämlich die schöpferische, die königlich regierende, die Gnade, die Gesetzgebung; die letzte (sechste) ist hier nicht mehr angegeben und ist vielleicht aus sonstigen Stellen als die strafende Kraft oder die dem Herrscher zur Seite thronende Gerechtigkeit (ot/rj) zu bezeichnen. Woher kam wohl Philo zu diesen sechs hypostasierten Abstraktionen, die, als besondere Wesen neben Gott vorgestellt, doch nur die Entfaltung seines eigenen Wesens in der Weltregierung darstellen, die als metaphysische Kräfte die Welt durchdringen und zusammenhalten**), gelegentlich aber auch sich in öienschliche Gestalten verwandeln und als solche dem Abraham erscheinen?***) Unwillkürlich erinnert man sich an die sechs Amescha Spentas, die den Thron Ahuramazdas umgeben, unter denen die drei obersten sind: Vohu mano, der gute Gedanke oder der göttliche Logos, Asha vahista, die höchste Gerechtigkeit, und Kshathra vairya, das Reich des guten Willens, also ebenfalls die Repräsentanten der schöpferischen Vernunft, Macht und Güte, wie es die obersten „Kräfte" Philos sind. Auch die mittlerische Stellung der „Kräfte" zwischen Gott und der Welt ist dieselbe wie bei den persischen Amescha Spentas, die, den persischen Satrapen vergleichbar, an der Spitze des ganzen Regierungssystems stehen und die Weltregierung ausüben, ohne doch Ahuramazdas Recht zu beeinträchtigen, da sie doch nur seinen Willen verwirklichen, seine schöpfe*) De profugis, 18 (M. I, 560, R. III, 130.) **) De migratione Abrah. 32 (M. I, 464, R. II, 331 f.) -**) De Abrahamo, 24 (M. II, 19, R. IV, 28 f.)

Jüdischer Hellenismus.

31

Philo.

rische und regierende Tätigkeit vermitteln*). Auch diese persische Vorstellung von himmlischen Mittelwesen ist aber daraus entsprungen, dass die Geister der animistischen Volksreligion ethisiert und dem obersten Gott als seine Organe untergeordnet wurden. Hierin liegt also jedenfalls die gemeinsame Wurzel aller jener zahllosen Hypostasen und Personifikationen, unter denen die persischen Amescha Spentas und die philonischen „Kräfte" die hervorragendsten und für die Folgezeit fruchtbarsten geworden sind. Aus der griechischen Philosophie sind sie nicht zu erklären, denn diese hatte für sich allein (abgesehen von ihrer Verbindung mit der Volksreligion) keine Neigung, ihr Abstraktionen zu personifizieren; die platonischen Ideen sind ruhende Urbilder des wirklichen, nicht aber wirkende Kräfte und noch weniger handelnde Subjekte; die stoischen Kräfte oder Logoi aber sind nicht selbständige Subjekte und Mittelwesen, sondern einfache Erscheinungsformen (modi) der Urkraft. Also gerade das eigentümliche der philonischen „Kräfte" oder Mittelwesen fehlt in der platonischen wie stoischen Philosophie, wogegen es sich genau ebenso findet in den Amescha Spentas, Yazatas und Fravashis des persischen Religionssystems, als des ersten, das den ethischen Monotheismus mit dem uralten volkstümliche» Animismus organisch zu verbinden suchte und damit zuerst den "Weg beschritt, auf dem dann die mancherlei synkretistischen Reformversuche des ausgehenden Heidentums nachfolgten. Aber auch die jüdische Theologie hatte mit ihrer Engel- und Weisheitslehre schon längst denselben Weg eingeschlagen. Dass nun Philo diesen Vorgängern folgte, war um so begreiflicher, als er zur Überbrückung der Kluft zwischen Gott und Welt notwendig solcher Mittelwesen bedurfte, die vom göttlichen die körperlose Geistigkeit und vom weltlichen die geschöpfliche Endlichkeit hatten. Ebenso natürlich war aber auch, dass er für diese Gebilde der synkretistischen, heidnischjüdischen Gnosis sich nach Analogien in der griechischen Philosophie umsah und solche in gewissem Grad allerdings sowohl in den platonischen Ideen als auch in den stoischen Natur- und Vernunftkräften fand. Dass diese beiden auf die philonische Lehre von den Mittelwesen eingewirkt und ihre metaphysische Seite ausgestaltet haben, ist *)

Vgl.

CHANTEPIE DE LA SAUSSAYE, R e l i g i o n s g e s c h i c h t e ,

II A u f l . II, 1 7 6 f.

32

III.

Hellenismus und Gnostizismus.

also nicht zu bestreiten, sowenig wie schon lehre. Nur soviel wird zu sagen sein, dass Bedeutung der philonischen Lehre von den der griechischen Philosophie, sondern auch in der orientalisch-hellenistisch-jüdischen Wurzel hat.

bei der älteren Weisheitsdie eigentümliche religiöse Mittelwesen nicht bloss in und noch unmittelbarer Religionsmischung ihre

Dasselbe was von den „Kräften" als den Mittlern und Werkzeugen des göttlichen Wirkens überhaupt gilt, das gilt insbesondere von dem „Logos", den Philo an erster Stelle unter den sechs obersten Kräften aufzählt und den Lenker der Kräfte nennt. Für die zentrale Stellung dieses Begriffes im philonischen System ist vorzüglich lehrreich die Stelle,*) wo die zwischen die Israeliten und die Ägypter in die Mitte tretende Wolkensäule auf den Logos gedeutet wird: „Dem Erzengel und ältesten Logos hat der Vater des Alls den Vorzug verliehen, dass er in der Mitte zwischen beiden stehend das Geschaffene vom Schöpfer scheide. Er ist Fürsprecher des stets bedrängten Sterblichen beim Unvergänglichen und Gesandter des Herrschers bei den Untertanen. Weder ungezeugt, wie Gott, noch gezeugt wie ihr, steht er in der Mitte zwischen den Gegensätzen, beiden Bürgschaft leistend, dem Schöpfer zur Vergewisserung, dass nicht das ganze Geschlecht einmal abfalle und die Welt zum Chaos zurückkehre, dem Geschöpf aber zur Hoffnung, dass nicht der gnädige Gott einmal sein eigen Werk vernachlässigen werde. Denn (so spricht der Logos) „ich werde Frieden der Kreatur verkünden von dem Gott, der dem Streit ein Ende zu machen und für immer Frieden zu halten weiss". Der Logos ist also ebenso bestimmt von Gott wie von der Welt unterschieden; er ist der älteste oder erstgeborene Sohn Gottes (:rps»ßuTctTo?, Tiptu-o-^ovoi uios), der älteste Engel, der Anfang, das Wort und der Name Gottes, sein Ebenbild und das Urbild des Menschen; daher wir, „wenn wir noch nicht fähig sind, Gottes Kinder zu heissen, doch wenigstens Kinder seines ewigen Ebenbildes werden sollen, denn Gottes Ebenbild ist der älteste Logos".**) Als Offenbarungsmittler Gottes kommt der Logos schon bei der Weltschöpfung in Betracht, und zwar in mehrfacher Hinsicht: teils als der Inbegriff der Urbilder, die Idee der *) Quis rer. divin. haeres, 4 2 (M. I. 501, R. III, 45 f ) **) De confus. 1mg. 28 (M. I, 4-27, E. II, 279.)

Jüdischer Hellenismus.

Philo.

33

Ideen, die mit der intelligiblen Welt identisch ist, teils als die schöpferische Kraft, der Demiurg, der nach den göttlichen Ideen den Stoff zur Welt gestaltet. „Wollte man eigentlich reden, so könnte man sagen, nichts anderes sei die intelligible Welt als der Logos des Gottes, der im Begriff ist, die Welt zu schaffen, sowie ja auch die Gedankenstadt nichts ist als das Denkbild des Architekten, der den Plan der sichtbaren Stadt entwirft." Dieser Lehrsatz, meint Philo, sei nicht von ihm, sondern von Moses, denn wenn nach dessen Worten der Mensch das Bild des Bildes Gottes (d. h. des Logos) sei, so müsse dasselbe noch vielmehr von der ganzen AVeit gelten, deren Teil der Mensch sei.*) In Wahrheit hat natürlich Philo diese Lehre nicht aus Moses, sondern aus Plato entnommen, mit dessen Ideenwelt oder oberster Idee er seinen Logos öfter identifiziert. Man könnte nun freilich hieraus den Schluss ziehen, dass der Logos nicht ein besonderes Wesen neben Gott, sondern nur dessen eigene Vernunft oder der ihren Inhalt bildende Inbegriff von göttlichen Gedanken sei. Aber diese Deutung widerspräche allem, was Philo sonst von der selbständigen Mittlertätigkeit des Logos bei der Schöpfung wie Regierung der Welt gelehrt hat. Ausdrücklich sagt er anderswo, dass der Logos das Organ Gottes beim Bilden des Weltstoffes gewesen, er nennt ihn das Bild, den Schatten, die Wohnung Gottes, den ältesten Engel, ja geradezu das älteste Geschöpf.**) Man hat dieses Schwanken des Logosbegriffs zwischen selbständigem Mittelwesen und immanenter göttlicher Vernunft oder Idee dadurch auszugleichen gesucht, dass man dem Philo die Unterscheidung zwischen einem doppelten Logos zuschrieb, dem innergöttlichen und dem geäusserten (evSid&sto; und jrpcxpopixö;). Allein diese Unterscheidung findet sich bei Philo nur mit Bezug auf den denkenden und redenden Menschen, nirgends ist sie ausdrücklich auf den göttlichen Logos übertragen. Übrigens ist die Frage, ob Philo gelegentlich einmal an jene Unterscheidung gedacht habe, von wenig Belang, da jedenfalls soviel gewiss ist, dass für seinen Logosbegriff durchweg gerade die unbestimmte Doppelsinnigkeit als philosophische Idee und mythologisches Mittelwesen das wesentlich Charakteristische -) De mundi opificio 6 (M. I, 5, R. I, 9.) **) De ling. confus. 28 (M. I, 427, R. II, 279). De imgrat. Abr. 1. (M. I, 436. R. II, 293.) Leg. Alleg. III, Gl (M. I, 12], R. I, 174.) P f l e i d e r e r , Urchristentum. 2. Aufl. Bd. II. 3

34

III.

Hellenismus und

Gnostizismus

ist, das man nicht verwischen darf, sondern daraus zu verstehen hat, dass Philo das überkommene Mittelvvesen der persisch-jüdischen Spekulation ( „ W e i s h e i t " ) durch Verbindung mit platonischen und stoischen Theorien

zu

genossen

akzeptabler

einen

zur

rationalisieren

andern

und für seine griechisch gebildeten Zeit-

zu machen

suchte,

Gedankenreihe

wobei der Sprung von der

seinem

mehr

phantasievollen

wissenschaftlichen Denken sich verbergen konnte. keit

zieht

sich

ziehungen Von

konstant

durch

göttlichen Logos

des

alle Aussagen zur W e l t

als

J e n e DoppelsinnigPhilos über

die B e -

und Menschheit hindurch.

der Schöpfung war schon die Rede; bei der Erhaltung und R e -

gierung der Welt wirkt der Logos als der Teiler (tofieuc), der die einfachen Grundformen in immer weitere Gegensätze zerlegt, und als das Band und

und das

Gesetz

(oeajioc, vo'fios))

Mannigfaltige

stoischer

Gedanke.

das die Gegensätze zusammenhält

zur Harmonie

Ist

der

Logos

verbindet — ein

hiernach

das

heraklitisch-

Gesetz

der Natur

(opöo; TTji cpuastu; Xöfo;), die vernünftige Weltordnung, so erscheint er zugleich

dem

frommen Bewusstsein

als

der die göttliche Vorsehung

vermittelnde, Gaben und Segnungen den Menschen mitteilende Engel. Er

war

insbesondere

das

eigentliche Subjekt aller Theophanien und

Wundertaten in der Geschichte Israels: er erschien mit zwei anderen Engeln dem Abraham zu Hebron, dem J a k o b bei Bethel, dem Moses im

Feuerbusch,

Manna, geben

wurde,

(natürlichen) Gottes genährt Süsse

den Israeliten

das Brot vom Himmel, damit Brot

Mund

als

der feurigen W o l k e ;

lebe,

er war das

das den Israeliten in der Wüste ge-

sie lernen sollten,

allein

kommt,

wird

in

sondern

dass

der Mensch nicht vom

von jedem W o r t ,

das

aus

d. h. dass er sowohl durch den ganzen Logos

auch

durch jeden Teil von ihm;

das Weisse und

des Manna zeigt an, dass der göttliche Logos die Seele sowohl

erleuchtet als ihren Hunger und Durst mit der Süssigkeit der Tugend stillt;

der

Name

Manna (xQ

aber weist darauf hin, dass der Logos

das allgemeine Etwas (xi), das "fsvixaixax&v, die oberste Idee ist.

Diese

Allegorie, auf die Philo mehrfach (in den Alleg. leg. und de Profugis) zurückkommt,

ist

sehr

naivsten Animismus baren Stoff)

bezeichnend:

(Verkörperung

da haben

wir beisammen den

eines Geistwesens

in einem ess-

und die abgezogenste Spekulation (dieses Geistwesen ist

das allgemeinste Sein,

höchste Idee nach Plato) und die erbaulichste

Jüdischer Hellenismus. Philo.

35

Mystik (das die Seele erleuchtende und mit Tugend sättigende Gotteswort.) Hätte Philo den Logos als spekulativen Begriff aus Plato und der Stoa entlehnt, so wäre schwer zu begreifen, wie er dazu gekommen, ihn im Mannaregeu und in Feuerttammeri und in sichtbaren Engeln erscheinen zu lassen; dagegen wird es ganz begreiflich, wenn er diese mythologische Hypostase (unter irgendwelchem Namen) schon in der jüdischen Theosophie als gegeben vorfand, dass er sie mit philosophischen Ideen zu kombinieren suchte, wodurch sie zu einem geistlichen Prinzip und Subjekt für erbauliche Aussagen erhoben wurde. Dass dieses in der Tat die Entstehungsgeschichte des philonischen Logos sei, wird um so wahrscheinlicher, wenn wir beachten, dass ganz ähnlich in der Sap. Sal. die „Weisheit" als mythologische Hypostase unter allerlei Verwandlungen und Erscheinungsformen in der heiligen Geschichte auftritt, während sie andererseits als kosmisches Prinzip mit Prädikaten der platonischen Idee und der stoischen Weltvernunft ausgestattet ist. Dasselbe wurde oben von den philonischen „Kräften" bemerkt. In allen diesen Fällen liegen die mythologischen Hypostasen oder Geistwesen der animistischen Volksmetaphysik zu Grunde, die dann von den gebildeten Denkern zu Trägern geistiger Eigenschaften und Subjekten geistlicher Wirkungen (wir würden sagen, zu „idealen Prinzipien") erhoben wurden, ohne doch darum ihre animistische Herkunft je ganz zu verleugnen. Hieraus ergibt sich auch die sehr einfache Lösung der so viel behandelten Frage nach der „Persönlichkeit" des Logos: er ist genau so sehr und so wenig „persönlich", wie alle animistischen Geistwesen, die als handelnde, vorstellende und wollende Subjekte dem zwar gewiss vergleichbar sind, was w i r eine „Persönlichkeit" nennen, aber ebenso gewiss als luftartige, ausgedehnte, teilbare, in jedwede Formen sich verwandelnde Wesen mit Wind, Hauch, Feuer, Licht und dgl. physischen Erscheinungen in nächster Verwandtschaft stehen. Dass auch die religiösen und philosophischen Begriffshypostasen des Altertums diese Doppelseitigkeit teilen,*) dass den Alten unsere Scheidung zwischen geistigem und dinglichem Sein noch nicht geläufig, daher u n s e r Begriff von „Persönlichkeit" noch fremd *) Hinsichtlich der „Weisheit" vgl. oben S. 18. Dasselbe gilt auch vom Logos Philos so gut wie von dem Heraklits und der Stoa; vgl. de Cherub. 9 (M. I, 144, R. 1, 205): i5uxivr|t(iXa-cov xat i)epp.civ Xo^ot, ev9tp(j.ov xai r.up(i5r| Xoyov. 3*

36

I'I-

Hellenismus und Gnostizismus.

war, weiss jeder, der die Urkunden unbefangen gelesen hat. — Warum übrigens Philo an die Stelle, die in der älteren jüdischen Spekulation die Hypostase der „Weisheit" einnahm, seinen „Logos" gesetzt habe, dafür lassen sich mehrfache Gründe angeben. Zunächst mochte ihm die männliche Form des Namens für das göttliche Mittelwesen passender erscheinen als die weibliche; wurden doch auch die Engel männlich gedacht, dann durfte auch der oberste Erzengel nicht einen weiblichen Namen haben. Dazu kommt, dass dem Befehlswort Gottes in manchen alttestamentlichen Stellen eine schöpferische, belebende, heilende Wirkung zugeschrieben wird, womit seine Hypostasierung mindestens nahegelegt war, die vielleicht sogar in Sap. 18, 15 schon vollzogen ist, wo der Würgengel als „das allmächtige Gotteswort" (ir«vto8övatioi ösou Xo-(oc) bezeichnet ist. Dazu kamen mehrfache ausserjüdische Analogien, die als Motive hierbei mitwirken mochten. Der heraklitisch-stoische Logos war zwar als pantheistische Weltvernunft und zugleich hylozoistischer Weltstoff etwas anderes als das philonische Mittelwesen zwischen dem überweltlichen Gott und der sinnlichen Welt; dieser philosophische Begriff kann also nicht unmitteldie Quelle des philonischen Logos gelten. Nun war bar als aber schon in der stoischen Theologie, wie sie von dem Zeitgenossen Philos Cornutus systematiert worden ist, der Logos mit dem Götterboten Hermes identifiziert und in dieser Gestalt zum persönlichen Wort oder Offenbarungsmittler der Gottheit gemacht worden.*) In dieser theologischen Wendung, als das personifizierte Offenbarungswort, berührte sich der stoische Logos-Hermes mit verschiedenen Gestalten der Mythologie: mit dem ägyptischen Thot, dem Gott des schöpferischen und zauberwirkenden Wortes und der Wissenschaft, der mit Hermes zusammengestellt, später als Hermes Trismegistos zum mythischen Urheber verschiedener theosophischen Schriften gemacht wurde; ferner mit dem persischen A r o h u mano, dem „guten Gedanken", dem ersten *) Vgl. hierüber die Abhandlung von R E I T Z E S S T E I N über Schöpl'ungsmythen und Logosidee in „Zwei religionsgeschichtliche Fragen 1- (Strassburg, 1901), wo die Herkunft der Logoslehre Philos aus der hellenistisch-ägyptischen Religion, besonders aus der Kombination Logos = Hermes = Thot, einleuchtend nachgewiesen, nur aber die philosophische Seite des Begriffs allzusehr zurückgestellt ist. — Ebenso urteilt neustens W E N D L A N D in dem Vortrag über „Hellenismus und Christentum" (S. 7, Anm. 4), der auch sonst treffliche Gedanken enthält.

Jüdischer Hellenismus.

Philo.

37

der sechs Amschaspans oder Erzengel Ahuras, an die wir oben (S. 30) durch die sechs obersten Kräfte Philos erinnert wurden;, endlich mit dem babylonischen Nabu, Sohn und Offenbarungsmittler Marduks, der als Gott der Weissagung und Astrologie zum speziellen Priestergott der Chaldäer wurde. Man wird hiernach annehmen dürfen, dass die Vorstellung von einem persönlichen Offenbarungswort und Mittler zwischen der Gottheit und ihren Verehrern ein G e m e i n g u t der ganzen vorderasiatischen und hellenistischen Religion jener Zeit war. Von hier hat Philo seinen Logos zunächst entnommen, hat dann aber diesen religiösen Begriff, die Personifizierung des Offenbarungswortes, mit der platonischen Ideenlehre und der stoischen Weltvernunft zusammengestellt und so zu einem philosophischen Begriff, einem Prinzip der Welterldärung erweitert. Hieraus erklärt sich ganz natürlich die schillernde Zweideutigkeit des philonischen Logos: für den Philosophen Philo bedeutet er das göttliche Weltprinzip, die weltschaffende und regierende Vernunft; für den Theologen Philo bedeutet er zugleich den persönlichen Mittler aller göttlichen Offenbarung in Natur und Geschichte und das Prinzip aller menschlichen Weisheit, Frömmigkeit und Tugend. Die Lehre Philos vom Menschen ist darum ziemlich verworren, weil er die platonische mit der stoischen und beide mit der alttestamentlichen Lehre auf mehrfache, unter sich nicht übereinstimmende Weise kombiniert hat; durchschlagend ist aber doch der platonische Idealismus. Der Mensch ist seinem Körper nach mit der Welt verwandt, aus deren vier Elementen dieser besteht, seinem Denkvermögen nach aber mit dem göttlichen Logos, sofern er ein Abdruck, Ausfluss und Abglanz der seligen Natur (der Gottheit) ist.*) „Wie wäre es möglich, dass der so kleine menschliche Geist, eingeschlossen in Hirn oder Herz, die Grösse des Himmels und der Welt fassen könnte, wäre er nicht von jener göttlichen und seligen Seele ein Ausfluss ohne Scheidung (dnoairaöfxct ou Siaipstov), denn nichts wird durch Abtrennung vom Göttlichen geschieden, sondern es dehnt sich nur aus. Auch der menschliche Geist dehnt sich bei Betrachtung der Welt bis zu den Grenzen des Alls aus, ohne zu brechen, denn seine Kraft ist dehnbar". **) *) De mundi opit. 51 QI. I, 35, K. 1, 47.) **) Quod deterius pot. insid. 24 (M. I, 209, R. I, 292.)

III.

38

Hellenismus und Gnostizismus.

Das erinnert an die stoische Theorie von der Emanation der SeeleD aus

dem

göttlichen W e l t ä t h e r .

mehrfach*): die

sagt

dies auch

Philo

wie

das

sondern aus jenem reineren und besseren Stoff, aus

übrige gebildet, dem

Ausdrücklich

„Die Seele ist nicht aus denselben Elementen

himmlischen N a t u r e n

geschaffen sind

(die S t e r n e ) " ;

einem f ü n f t e n Stoff, der edler ist als die vier anderen,

„aus

sollen,

nach

dem W o r t der alten Weisen, die Sterne und der ganze H i m m e l gebildet sein, u n d m u s s folglich auch die menschliche Seele ein Ausfluss sein."

Doch scheint er bei dieser philosophischen Theorie sich nicht

ganz beruhigen zu können und verbessert sie daher im Anschluss an das

alte

Testament:

Ausfluss

der Seele

„Die

V e r n u n f t , das vollkommenste W e r k ,

des Alls,

oder

vielmehr,

wie es

ist

den Schülern

Mosis ziemlicher ist zu sagen, ein Abdruck des göttlichen Bildes".**) Mit

dem

mosaischen Satz,

(Lev. 17, 11), hat

dass

die Seele

alles Fleisches Blut

sich Philo mehrfach auseinandergesetzt,

ist

indem er

von der Seele als Lebenskraft die Vernunft entweder als eine zweite hinzukommende

Seele

oder

als

den

vornehmsten Teil

gleichsam „die Seele der Seele" unterscheidet. in „sinnliche und vernünftige Seele 1 ' kreuzen mehrere

andere:

die platonische Dreiteilung

Begierde,

eine andere Dreiteilung in Geist,

gar

(stoische)

eine

Achtteilung,

nämlich

des Ganzen,

Mit dieser Einteilung sich

dann

aber noch

in Vernunft, Mut Rede und S i n n ;

neben

dem

und

endlich

vernünftigen

herrschenden Teil die fünf Sinne und das Sprach- und das Zeugungsvermögen, Seele.

als

die

sieben

Teile

der

vernunftlosen

oder

ernsthaft gemeinte und konsequent durchgeführte Theorie. sache ist ihm doch i m m e r n u r dem

sinnlichen

Doch das sind bei Philo mehr gelehrte Spielereien, als eine

Menschen

eigentümlichen

die scharfe Scheidung vernünftigen

Seele

Die H a u p t zwischen

oder

dem

der Geist

(Xo-('ta[j.o?, voüs, imufj-ct) und der Sinnlichkeit, die im Leib ihren Grund hat.

Vom Geist (voöc) heisst es, er sei „von oben, vom Himmel her,

u n s eingehaucht" oder

„herabgestiegen", habe „den himmlischen Ort

verlassen" und sei in den Leib wie in fremdes Land gekommen, sei *) Quod Dens sit immutabilis 10 (M. I, 279, R. II, 75) Quis rer. div. haeres 57 (Jl. I. 514, 11. III, 62.) 1 -) De mutat. nom. 39 (M. I, 612, K. III, 202). Noch bestimmter plantat. 5 (M. I, 332, E. II, 148), was weiter unten zitiert wird.

in

de

Jüdischer Hellenismus.

Philo.

39

daher auf Erden nur ein Gast und Pilger. Über den Grund, warum die seligen Geister aus den ätherischen Regionen in das Gefängnis des irdischen Leibs herabgekommen seien, schwankt Philo: das eine Mal sinken sie aus Neigung zum Sinnlichen (wie bei Plato), das andere Mal aber aus Wissbegierde, um sich in dieser Welt umzusehen und dann, nachdem sie alles Sinnliche angeschaut, wieder zurückzukehren in ihr himmlisches Vaterland, von dem sie, wie zu einer Forschungsreise, ausgezogen waren.*) Nach dieser sinnigen Theorie würde freilich dieser Sinnenwelt doch etwas mehr WTert für die Ausbildung der himmlischen Geister zugeschrieben, als es sich mit dem sonstigen sinnenfeindlichen Spiritualismus unseres Theosophen vertragen will. Denn sonst wird er nicht müde, in allerlei Wendungen die Sinnenwelt und den Leib als ein Gefängnis des Geistes, als Grund und Sitz alles Übels zu beschreiben. Aus der Stelle Gen. 15, 13: „Dein Same soll Beisasse sein in fremdem Lande" entnimmt er die doppelte Lehre**): Erstens, dass Gott dem Frommen nicht gestattet, im Leibe als in seiner Heimat zu wohnen; zum andern, dass die irdische Behausung für die Seele Knechtschaft, Schädigung und arge Erniedrigung verursache, denn dem Geist sind die Leidenschaften etwas Fremdes, das aus dem Fleisch als seiner Wurzel stammt. Und zwar ists eine vierfache Knechtschaft, nach den vier Kräften der Leidenschaft: Lust und Begierde, Schmerz und Furcht. Die Herrschaft dieser Leidenschaften übt eine schwere Knechtschaft über ihre Sklaven, bis der richtende Gott den Unterdrückten vom Unterdrücker scheiden, jenen zur Freiheit erlösen und über diesen die Strafe verhängen wird. Aus dieser Herleitung alles Bösen aus dem Leib ergibt sich folgerichtig die Lehre von einer allgemeinen und angeborenen Sündhaftigkeit: „Keines Menschen Leben von der Geburt bis zum Ende bleibt ohne Fehl, freiwillig straucheln die einen, unfreiwillig die anderen; daher könnte das sterbliche Geschlecht nicht bestehen, wenn Gott es nach strengem Recht ohne Barmherzigkeit richten wollte, aber das Erbarmen geht bei ihm der Gerechtigkeit voran".***) Das Kind zwar befindet sich (bis zum siebenten Jahr) in einem Zustand der relativen Unschuld, *) De confus. ling. 17 (M. I, 416, R. II, 265.) ) Quis rer. divin. haer. 54 (11. 1, 511, R. III, 59). ***) Quod Deus sit immutab. 16 (M. I, 284, R. II, 81 f.)

40

III.

Hellenismus und Gnostizismus.

da ist der Charakter des Guten und Bösen noch nicht ausgebildet;*) dann aber beginnen die Übel, die die Seele sowohl aus sich selbst erzeugt als auch vom Beispiel ihrer Umgebung willig annimmt, und auch ohne die Lehrmeister kommt sie von selbst (autoji.aör,?) zu Verschuldungen, sodass sie stets von einer Fülle von Argem belastet ist, denn „das Trachten des Menschen geht aufs Böse von Jugend an" (I Mos. 8, 21). Wie hat nun Philo mit dieser aus der platonisch-neupythagoreischen Weltanschauung herstammenden Ansicht vom Menschen die alttestamentliche Lehre von Schöpfung und Paradies zu vermitteln gewusst? Dass beide weit auseinander liegen, konnte ihm nicht verborgen sein, daher behilft er sich hier wie sonst mit kühnen Allegorien, die wahrscheinlich schon vor ihm in der jüdischen Spekulation üblich waren. Er deutet den Schöpfungshericht I Mos. 1 auf die Entstehung des himmlischen oder urbildlichen Menschen, den von I Mos. 2 auf die des irdischen abbildlichen Menschen. Wenn es hier (2, 17) heisst: Gott bildete den Menschen, indem er Lehm von der Erde nahm, so ist klar, dass ein grosser Unterschied ist zwischen dem so gebildeten Menschen und dem vorher (1, 28) nach Gottes Bilde gewordenen: jener ist sinnlich, iius Leib und Seele bestehend, Mann oder Weib und von Natur sterblich; dieser nach dem Bilde aber ist eine Idee oder Gattung oder Siegel (Gepräge, Form), intelligibel, körperlos, weder Mann noch Weib, von Natur unvergänglich".**) Diesen intelligiblen Menschen halten manche für identisch mit dem Logos, der eben dieselben Prädikate (-fsvoc, loea, afpayi?) hat und sogar geradezu als „Mensch Gottes" bezeichnet wird.***) Allein Philo hat doch einen Unterschied gemacht (wenn auch vielleicht nicht immer streng festgehalten) zwischen dem idealen Menschen und dem Logos als dem Urbild von ihm; am deutlichsten spricht er sich darüber aus in Quis. rer. div. haer. 48 (M. I, 505, R. III, 50), wo er die Opfervögel I Mos. 15, 10 allegorisiert auf einen doppelten Logos: „der eine ist das Urbild über uns, der andere das Abbild in uns. Moses aber nennt den über uns Bild Gottes, den in uns Abbild des Bildes; denn *) Quis rer. divin. haer. 59 (M.I, 515, R. III, 64.) **) De opif. mundi 46 (M. I, 32, K. I, 4 3 f.) ***) De eonfus. ling. U (M.I, 411, R . I I , 257 )

Jüdischer Hellenismus.

Philo.

41

er sagt: Gott machte den Menschen nicht a l s Bild, sondern n a c h dem Bild. So ist also unser Geist (vou;), der j a der eigentliche, wahre Mensch ¡st, erst in dritter Linie eine Abgestaltung des Schöpfers, in der Mitte aber steht der (Logos), der sein Vorbild und jenes (Gottes) Abbild ist". Ein andermal stellt er der philosophischen Theorie von der Verwandtschaft der menschlichen Seele mit dem Äther die richtigere Lehre des Moses entgegen, der die vernünftige Seele mit keinem Geschaffenen verglichen, sondern sie das Abbild des Göttlichen und Unsichtbaren genannt habe, „geschaffen und gestaltet durch das Siegel Gottes, dessen Gepräge der ewige Logos ist".*) Wie sehr übrigens der zwischen dem Logos und dem wirklichen irdischen Menschen mitteninnen stehende Idealmensch eine verschwommene Gestalt ist, zeigt sich u. a. daran, dass Philo ihn gelegentlich sogar mit dem Lebensbaum im Paradies identifiziert, da beide unvergänglich seien und „in der Mitte stehen"*'*) — eine seiner beliebten allegorischen Spielereien. Über die Schöpfung des wirklichen Menschen finden sich mehrfache Angaben. Bald hält sich Philo einfach an die Erzählung von I Mos. 2 und lässt den Menschen unmittelbar von Gott gebildet werden, seinem Leib nach aus irdischem Stoff, seiner Seele nach aus göttlichem Geist, der jenem eingehaucht wurde, weshalb der Mensch zwischen sterblicher und unsterblicher Natur in der Mitte stehend an beiden teilhat, sterblich nach dem Leib, unsterblich nach dem Geist.***) Dagegen an mehreren anderen Stellen erklärt er die Mischung des Menschen aus Gutem und Bösem daraus, dass bei seiner Erschaffung die Engel mitgewirkt haben, wobei er sich beruft auf die Pluralform in der Stelle I Mos. 1, 26: „Lasset uns Menschen machen".****) Er hat dabei freilich übersehen, dass sich dieses Wort in I Mos. 1 findet, wo nach seinen sonstigen Ausführungen garnicht von der Erschaffung des wirklichen, sondern des himmlischen Idealmenschen die Rede sein soll, bei dem ja gerade keine Mischung von Gutem und Bösem stattfindet. Überhaupt ist nicht abzusehen, wie sich diese alttestamentliche Schöpfungsgeschichte mit der obigen Theorie von der Präexistenz und *) De plant. 5 (JI. I, 332, R. II, 148.) *? icfayiiivijv v. 3 an 5, G: tu? £0^aY|j.£vov wahrscheinlich.

818

IV.

Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften.

keit zum Lamm durch die Strenge ihrer asketischen Enthaltsamkeit und durch die Treue ihres Bekenntnisses auch auf Leidenswegen bewährt haben. Diese Elite von christlichen Asketen und Märtyrern ist natürlich nicht identisch mit den 144 000 Versiegelten aus den zwölf Stämmen Israels 7, 2—8, die nicht die Elite der Christen, sondern den erwählten Rest des theokratischen Volkes bilden und aus einer jüdisch-apokalyptischen Tradition stammen; zu diesen Erwählten aus Israel bilden die Erkauften aus der Menschheit (14, 4) das entsprechende Seitenstück, das von jenem die bestimmte Zahl überkommen hat, die nur dort ursprünglich, weil natürlich motiviert ist. Im übrigen ist das ganze Bild 14, 1—5 so völlig iu der Art des Apokalyptikers Johannes (vgl. Kp. 4. 5. 7, 9ff.), dass die Annahme gerechtfertigt ist, er habe es selbst entworfen und als kontrastierendes Lichtbild den folgenden dunklen Gerichtsszenen vorangestellt. Diese werden zunächst (V. 6—11) eingeleitet durch die Erscheinung dreier Engel am Himmel, deren erster*) ein „ewiges Evangelium" den Erdbewohnern zu verkündigen hat, nämlich die Mahnung, den alleinigen Gott und Weltschöpfer anzubeten und zu fürchten, weil die Stunde des Gerichts gekommen sei; eine Verkündigung, die mit der christlichen Heilsbotschaft nur das Allgemeine gemein hat, dass sie die Erfüllung des geheimnisvollen Ratschlusses Gottes (10, 7) in Aussicht stellt. Der zweite Engel verkündet den Fall der grossen Babel, die mit dem Zornwein ihrer Unzucht alle Völker getränkt, d. h. durch ihre ansteckende Lasterhaftigkeit alle verführt und dem göttlichen Zorngericht überliefert habe. Der dritte Engel droht allen Tieranbetern, dass sie trinken sollen vom Zornwein Gottes und durch Feuer und Schwefel gequält werden Tag und Nacht ohne Aufhören. Dieser aus seiner Quelle entnommenen Gerichtsdrohung fügt dann unser Verfasser aus seinem christlichen Bewusstsein hinzu zuerst die Mahnung (V. 12): „Hier gilt Geduld der Heiligen, die Gottes Gebote und den Jesusglauben bewahren!" wozu die ähnlichen Formeln in 13, 10 und 12, 17 zu *) Wenn V. 6 dfXXov zu lesen ist (wie wahrscheinlich wegen der zweimaligen Wiederholung in V. 8f.), so kann sich dies nur auf 1 0 , 2 zurückbeziehen: dem dortigen Engel mit dem Offenbarungsbüchlein entspricht hier der mit einem „ewigen Evangelium"; also wohl eine Andeutung, dass das folgende Gerichtsbild aus derselben oder doch einer gleichartigen Quelle stamme, wie Kpp. 11 —13.

Johanneische Schriften.

Die Apokalypse Johannis.

319

vergleichen sind, allemale von der Hand unseres Verfassers seinem überlieferten Stoff als ein stereotypes ceterum censeo eingefügt; sodann in Form einer Himmelsstimme die Verheissung: „Selig die Toten, die im Herrn sterben von nun an!" (in der Treue des Glaubens an ihn auch unter den bevorstehenden Prüfungen), worauf des Sehers Geist bestätigend antwortet: „ja, sie sollen zur Ruhe kommen von ihren Mühsalen, denn ihre Werke folgen ihnen" (sie erwartet der Lohn ihrer Taten und Leiden). Diese Verheissung der seligen Ruhe für die Getreuen bildet einen wirksamen Kontrast zur ruhelosen Qual der Tieranbeter V. 11 und zur folgenden Gerichtsszene V. 14—20. Im Anschluss an Dan. 7 , 1 3 erscheint auf weisser Wolke sitzend „Einer wie ein Menschensohn" (auch hier wie 1, 13 ohne Artikel) mit goldener Krone auf dem Haupt und einer Sichel in seiner Hand; gemeint ist damit der Messias, der als Vollzieher des Weltgerichts mit den anderen Gerichtsengeln auf gleicher Linie zu stehen scheint. Denn er wird nun von einem „anderen Engel", der aus dem (himmlischen) Tempel hervorgeht, aufgefordert, die Sichel zu gebrauchen, da die Stunde der Ernte gekommen sei. Die Vollziehung des Gerichts wird unter dem Doppelbild der Korn- und Weinernte nach Joel 3, 18 dargestellt; seine Furchtbarkeit wird durch das krasse Bild veranschaulicht, dass von der Zornkelter Gottes das Blut in Strömen ausfliesse, die 1600 Stadien weit reichen und den Pferden bis an die Zäume gehen; eine Vorstellung, die ähnlich Henoch 100, 3 vorkommt, also zur jüdisch-apokalyptischen Tradition gehört, wie dieses ganze Gerichtsbild Kp. 14, mit Ausnahme der vom Apokalyptiker Johannes eingefügten Verse 1—5 und 12f. Obgleich das 14, 14—20 geschilderte Gericht in der Quelle, aus der unser Verfasser es entnahm, wahrscheinlich den Abschluss bildete, sollte es nach seiner Meinung doch noch nicht das definitive Ende sein. Um dieses weiter hinauszuschieben, gebraucht er also jetzt wieder denselben Kunstgriff, wie schon mehrmals: er verlängert den dramatischen Verlauf durch Einschiebung von neuen Zwischenszenen und Vorspielen der Endkatastrophe, die er wieder aus dem Schatz der apokalyptischen Überlieferung zusammenstellt. Denselben Dienst, den ihm in dieser Hinsicht 8, 6 ff. das Gesicht von den sieben Posaunen geleistet hatte, soll jetzt (Kpp. 15. 16) das von den sieben Schalen tun, die, mit dem Zorn Gottes gefüllt, nacheinander je von einem

B2Ö

IV.

Kirchliche Lehr- u n d Mahn-Schriften.

Engel ausgegossen werden und allerlei Plagen in Natur- und Menschenwelt herbeiführen, die sich von denen der analogen früheren Gesichte nicht wesentlich unterscheiden. Bei der sechsten Schale wird das Wasser des Euphrat ausgetrocknet, um einen Weg zu bahnen für die Könige des Ostens, dann gehen aus dem Munde des Drachen und des Tieres und des Pseudopropheten (so wird hier das zweite Tier von 13, 11 gedeutet) unreine Geister aus in Gestalt von Fröschen, wundertätige Dämonengeister, die zu den Königen des ganzen Erdkreises ausgehen, um sie zu sammeln zum Kampf des grossen Entscheidungstages, der sich in Harmagedon vollziehen soll (V. 12—16). Dieses wunderliche Bild ist schwer zu deuten; ob es eine Anspielung auf die gefürchtete Invasion der Parther enthalten soll, ist mir hier ebenso zweifelhaft wie bei dem verwandten Gesicht der sechsten Posaune 9, 14ff.; wie dort die Reiter und ihre Rosse als mythische Gestalten gezeichnet sind, so weisen auch hier die froschartigen wundertätigen Geister auf eine altertümliche Volkssage hin, der wohl auch der Name „Harmagedon" angehören wird; denn dass darunter ein Berg bei Megiddo (der gar nicht existiert) gemeint sein soll, ist nicht sehr wahrscheinlich. Auf eine analoge Sage hat GUNKEL (a. a. 0. 388, Anm. 2) hingewiesen: nach Henoch 6, 5 findet die Verschwörung der abgefallenen Engel von I Mos. 6 auf dem Gipfel des Hermon statt. Auf einem hohen Berge wird auch der Messias vom Satan versucht; so wenig dieser Berg in der Geographie zu suchen ist, so wenig auch der Ort des mythischen Entscheidungskampfes „Harmagedon". Wir stehen hier ganz auf mythischem Boden, und da wir die Volkssagen, auf die der Seher hier anspielt, nicht kennen, so müssen wir auf bestimmtere Deutung einfach verzichten. Beachtenswert ist das dem mythischen Bild als Parenthese eingefügte Mahnwort Christi V. 15, das an 3, 18 erinnert. — Bei der Ausgiessung der siebenten Schale wiederholen sich die Prodigien der siebenten Posaune: Donner und Blitz und Hagel und Erdbeben, nur mit dem Zusatz, dass infolge des letzteren die Städte der Heiden eingefallen seien, insbesondere die grosse Stadt Babel (Rom), der Gott den Kelch seines Zornweins zu reichen gedachte; also ein Vorspiel des im folgenden zum Vollzug kommenden Gerichts über Rom.

Johanneische Schriften.

Die Apokalypse Johannis.

321

Dieses wird dann in Kp. 17 eingeleitet, indem einer der sieben Schalen-Engel den Seher im Geist in die Wüste entrückt, um ihm zu zeigen „das Gericht über die grosse Hure, die an vielen Wassern liegt, mit der die Könige der Erde gehurt haben, und von deren Unzuchtswein trunken worden sind die Erdbewohner". Gemeint ist die Stadt Rom, die zwar nicht, wie ihr Vorbild, das eigentliche Babylon, an vielen Wassern liegt, aber die für Babel übliche Bezeichnung (Jer. 51, 13) ist beibehalteu als Allegorie, die nachher (V. 15) gedeutet wird. Dieses Weib sieht nun der Seher sitzen auf einem scharlachroten Tier, das voll ist von Namen der Lästerung und sieben Köpfe und zehn Hörner h a t : die stehenden Attribute des Teufels-Drachen (12, 3) und des von ihm mit der Weltherrschaft betrauten Tieres (13, lff.), des römischen Reiches; auf dessen Weltmacht ruht die üppige Herrlichkeit der Welthauptstadt Rom, wie sie V. -4 geschildert w i r d : sie trägt Purpur und Scharlach, Gold, Edelstein und Perlen und hält in der Hand einen goldenen Becher voll Greuel und Unsauberkeit ihrer Unzucht; auf ihrer Stirne ist geschrieben ein geheimnisvoller Name: „die grosse Babel, die Mutter der Huren und der Greuel der Erde"; und sie ist trunken vom Blut der Heiligen und der Zeugen Jesu. Die Deutung dieses Gesichtes, die hierauf (V. 7 ff.) vom erklärenden Engel dem Seher gegeben wird, passt zu dem Y. 1—5 voraufgestellten Bilde auffallend schlecht: statt von dem üppigen Weib, das doch hier im Mittelpunkt steht, handelt sie von dem Tier, auf dem das Weib sitzt, und deutet dies nicht etwa auf das römische Weltreich, auf dem die Herrlichkeit der Stadt Rom beruht, sondern auf einen von den fünf gewesenen Kaisern, der wiederkommen und gegen das Weib feindlich vorgehen werde, worunter nur Nero gemeint sein kann. Es ist klar, dass das nicht der ursprüngliche Sinn des Bildes von Y. lff. ist; dort gehört das Weib und das Tier zusammen wie die Hauptstadt mit ihrem Reich, hier dagegen tritt das Tier als persönlicher Gegner dem Weib, d. h. der Stadt Rom gegenüber; das ist ein völlig anderer Gedanke, der dem ursprünglichen Sinn des Bildes 1—5 durchaus fremd ist. Aber die Deutung V. 7 ff. widerspricht nicht bloss dem ursprünglichen Sinn des Gesichtes V. 1—5, sondern auch untereinander stimmen ihre einzelnen Züge nicht recht überein. Die sieben Köpfe des Tieres werden V. 9 doppelt gedeutet: auf die sieben Hügel, auf denen die Pflcidercr, Uickii&tentum. 2. Aufl. Bd. II. 21

322

IV.

Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften.

Roma septicollis liegt, und auf sieben Könige, d. h. römische Kaiser; ersteres passt zu der richtigen Deutung des Weibes als Stadt Rom, wie sie ganz zuletzt V. 18 gegeben wird; dagegen die Beziehung der Köpfe auf Kaiser ist nur hinzugefügt, um einen Übergang zu gewinnen zu der dem Verfasser dieser Deutung vor allem wichtigen Identifizierung des Tieres mit Nero, die er V. 10f. in die Rätselworte kleidet: „Die fünf (Könige) sind gefallen, der eine ist, der andere ist noch nicht gekommen, und wann er gekommen sein wird, soll er nur kurze Zeit bleiben. Und das Tier, das war und nicht ist, ist selbst der achte und zugleich (einer) von den sieben und geht dahin ins Verderben." Von ebendemselben hiess es schon vorher gleich am Anfang der künstlichen Deutung V. 8: „Das Tier, das du sähest, war und ist nicht und wird heraufsteigen aus dem Abgrund und dahingehen ins Verderben. Und wundern werden sich die Erdbewohner, deren Name nicht im Lebensbuch geschrieben ist, wenn sie sehen das Tier, dass es war und nicht ist und erscheinen wird." Es unterliegt keinem Zweifel, dass damit wieder ebenso wie schon in 13, 3 und 14 auf die Volkssage von Neros Wiederkehr angespielt ist. Nun hat diese Sage in doppelter Gestalt existiert: ursprünglich glaubte man, dass Nero gar nicht gestorben, sondern zu den Parthern entflohen sei, um, von ihnen unterstützt, zur Rache an Rom wiederzukehren; in dieser Form findet sich die Sage in den sibyllinischen Orakeln an mehreren Stellen des 4. und 5. Buches, die aus den Jahren 70—80 stammen; auch berichten Sueton (Nero 47. 50) und Tacitus (Hist. 1, 2; 2, 8), dass schon im Jahr 69 ein Pseudonero in Griechenland auftauchte und rasch unterdrückt wurde, ein anderer unter Vespasian und Titus bei den Parthern sich einschmeichelte und sie beinahe zu einem Kriegszug gegen die Römer bewog, bis er dann unter Domitian an diese ausgeliefert wurde. Später dagegen nahm die Sage die Wendung, dass Nero zwar gestorben sei, aber aus dem Hades als dämonisches Wesen und mit dämonischen Mächten wiederkehren werde; in dieser Form findet sie sich erstmals in einem aus Hadrians Zeit stammenden sibyllinischen Orakel, reicht aber wahrscheinlich in noch frühere Zeit zurück. Diese Form der Sage scheint nun vorausgesetzt zu sein in Apok. 17, 8: „Das Tier war und ist nicht und wird aus dem Abgrund aufsteigen", sofern dies als Wiederkehr aus dem Hades zu verstehen ist, was wenigstens die nächstliegende Erklärung sein

Johanneische Schriften.

Die Apokalypse Johannis.

323

dürfte. Allein in den folgenden Versen ist von demselben Tier gesagt, dass es der achte (Kaiser) sein und dass es im Bunde mit den zehn „Königen" (des Ostens) die Hure Rom bekriegen und vernichten werde (V. 11—13. 16f.); das scheint die ältere Form der Sage, die Wiederkehr des nichtgestorbenen Nero von und mit den Parthern, vorauszusetzen. Es fragt sich, ob beides zu vereinigen sei, etwa in der Art, dass unter dem „Heraufsteigen des Tieres aus dem Abgrund" V. 8 nur der dämonische Charakter des wiederkehrenden Nero, nicht gerade seine Wiederkehr aus dem Totenreich, zu verstehen wäre? Oder ob wir hier ein unvermitteltes Nebeneinanderstehen beider Formen der Sage anzunehmen haben, das seine Erklärung fände in der Überarbeitung der (selbst schon in das ursprüngliche Bild eingetragenen) Deutung (V. 7—18) durch die Hand des letzten Verfassers des ganzen Werks? Für diese letztere Annahme kann eine weitere Beobachtung sprechen. Die zehn Hörner des Tieres werden V. 12 gedeutet auf zehn Könige, die noch nicht ein Königtum bekommen haben, aber doch eine Macht wie Könige für kurze Zeit bekommen und diese ihre Macht dem Tiere leihen, indem sie einmütig ihm beistehen bei der Bekriegung der Hure. Darunter werden wir die Vasallenfürsten des parthischen Reiches zu verstehen haben, durch deren verbündete Macht Nero nach der Sage seinen Rachefeldzug gegen Rom ausführen sollte. Wie aber stimmt dazu V. 14, wo es von denselben zehn Königen heisst, dass sie mit dem Lamm Krieg führen werden und dieses zusammen mit seinen Berufenen, Erwählten und Gläubigen sie besiegen werde? Es ist klar, dass dieser Kampf der Könige gegen Christus und seine Gemeinde mit dem Feldzug der Partherfürsten gegen Rom garniclits gemein hat, vielmehr beides sich widerspricht, denn in jenem Kampf sind die Könige eine gottwidrige Macht, die durch Christus als den Herrn der Herren besiegt wird, im Feldzug gegen Rom hingegen bleiben sie Sieger und vollziehen nach dem Willen Gottes das Strafgericht über die gottlose Stadt. Offenbar also ist V. 14 vom christlichen Apokalyptiker in einen Text hineingeschoben, der ursprünglich garnicht von Kämpfen und Siegen der Christenheit, sondern nur von dem erwarteten siegreichen Feldzug der mit Nero verbündeten Parther gegen Rom handelte, demselben Thema, das auch in den Weissagungen des 4. u. 5. Buches der jüdischen Sibylle aus der Zeit Vespasians mehrfach variiert wird. 21*

324

IV.

Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften.

Aber noch eine dritte Rolle spielen die „Könige der Erde" im Zusammenhang von Kp. 17 u. 18: als die Verbündeten und Mitschuldigen eben des Weibes Roma, als deren Feinde sie V. 16f. erscheinen. Nach 17, 2 haben mit der grossen Hure die Könige der Erde gehurt und darum beweinen und beklagen sie ihren Fall (18, 9). Dieses Gericht wird hier unmittelbar durch Gott vollzogen, der die üppige Stadt an einem Tage durch Feuer verzehrt werden lässt (18, 8), ohne Mitwirkung Neros und der Partherheere. Das war der ursprüngliche Sinn des Gesichtes von der grossen Hure, das 17, 1—5 angekündigt und Kp. 18 beschrieben wird. In diesen Grundtext, der wahrscheinlich dem Offenbarungsbüchlein von 10, 9 noch angehörte, also aus der Zeit des Gaius Caligula stammt,*) hat dann eine spätere Hand die Deutung des Tieres auf den wiederkehrenden Nero und seinen Rachefeldzug gegen Rom eingeschoben, und zwar geschah dies nach 17, 10 unter dem sechsten Kaiser, also (da die drei kurzlebigen Usurpatoren des Jahres 68 nicht in Betracht kommen können) unter Vespasian. Dieser Bearbeiter des älteren Gerichtsbildes sah in Rom nicht mehr bloss die üppige Stadt, „Mutter der Huren und aller Greuel" (17, 5), sondern auch die Tyrannin, die trunken ist vom Blute der Heiligen und Propheten und aller Geschlachteten der Erde, darum fügte er zu V. 5 noch V. 6 a und 18, 20 u. 24 hinzu. Er erwartete aber das Eintreten des Gerichts noch nicht unter Vespasian, sondern erst unter dessen Nachfolger Titus als dem kommenden siebenten Kaiser; denn dass Rom sieben Kaiser haben müsse, war für ihn ein dogmatisches Postulat, da ja schon das traditionelle Tier des Abgrundes, der Drache, sieben Köpfe hat; zudem mochte es ihm passend erscheinen, dass das Gericht über Rom gerade unter dem Kaiser hereinbreche, der als Zerstörer Jerusalems die Blutschuld Roms am jüdischen Volk vollgemacht hatte. Darum sollte auf den jetzigen sechsten noch der siebente Kaiser folgen, doch nur um kurze Zeit zu bleiben, denn schon glaubte man ja in seinen Tagen vom Osten her den Schritt der rächenden Partherheere zu vernehmen. *) Die Aufforderung an das Volk Gottes, aus Rom auszuziehen, um nicht, an seinen Sünden und Strafen teilzunehmen (18,4), setzt das Vorhandensein einer grösseren jüdischen Kolonie in Rom voraus, muss also aus einer der Austreibung der Juden aus Rom unter Claudius im Jahre 53 p. G. voiausliegenden Zeit datieren.

Johanneische Schriften.

Die Apokalypse Johannis.

325

Dass Titus in der Tat nur kurz regierte, weil er bald am Fieber starb, ist ein zufälliges Eintreffen seiner, übrigens ganz anders gemeinten, Weissagung. Auf ihn sollte, so meinte er, als achter Kaiser einer von den sieben, nämlich eben der siegreiche Rächer Nero folgen, der dann, wenn er seine Aufgabe erfüllt, ebenfalls ins Verderben dahingehe.*) Als dann aber alle diese Erwartungen der jüdischen Apokalypse unerfüllt geblieben, und vielmehr auf Titus der christenfeindliche Domitian und vielleicht auch schon Trajan gefolgt war, da konnte der Verfasser unserer Apokalypse das in dieser Form ihm überlieferte Gesicht vom Gericht über Rom nicht mehr unverändert gebrauchen. Zwar die Wiederkehr Neros liess er bestehen, aber nicht mehr von den Parthern sollte er kommen, sondern aus der Hölle (V. 8 und vielleicht ebenso schon in 13, 3. 14), und nicht mehr als Feind Roms, sondern als Feind Christi und der Kirche. Ebenso machte er aus den gegen Rom ziehenden Partherfürsten christusfeindliche Gewalten im allgemeinen (vielleicht mit besonderer Beziehung auf die römischen Provinzialbeamten als Organisatoren der Christenverfolgung), deren Ansturm Christus und seine Gemeinde siegreich bestehen werden (17, 14). Auch fügte er zu dem Blut der Heiligen in 17, 6 noch hinzu das der Blutzeugen Jesu und zu den Heiligen und Propheten in 18, 20 noch die Apostel. Auf diese Weise hat unser Verfasser, der Seher Johannes, das jüdischapokalyptische Fragment vom Strafgericht über Rom Kpp. 17 u. 18 in seinem Sinn verarbeitet zu einem Vorspiel des allgemeinen Weltgerichtes, zu dem er nun mit Kp. 19 überleitet. Dem Vollzug des Gerichts auf Erden ist vorausgestellt ein himmlisches Triumphlied über den Anbruch der Gottesherrschaft und über das Gekommensein der seligen Hochzeit des Lammes mit seiner reinen Braut, deren Ehrenkleid nicht, wie das der grossen Hure, Purpur und Scharlach ist, sondern glänzend weisses Linnen, das Sinnbild der Recht*) Vielleicht stammen diese Worte: v.cu elf dnoXetav inrayet nicht von derselben Hand, die diese Nero-Weissagung schrieb, sondern sind zugleich mit V. 8 von der Hand des letzten Verfassers beigefügt, der möglicherweise bei dem „achten" Kaiser an den inzwischen erschienenen (und vielleicht schon wieder hingegangenen) Domitian gedacht hat, der sich als ein „alter Nero" betrachten liess. Doch ist darauf um so weniger Gewicht zu legen, als der erste Verfasser von V. 10 f. unter dem „achten'', der zugleich einer von den sieben ist, doch wohl nur Nero gemeint haben kann.

326

IV.

Kirchliche Lehr- und

Malm-Schriften.

taten der Heiligen (V. 7 f.). Das alttestamentliche Bild von der Ehe Jahves mit Israel ist hier auf die christliche Gemeinde als die Braut des Lammes übertragen, wie ja auch schon in den Bilderreden Jesu (Mk. 2, 19; Mt. 22, 2ff.) und des Apostels Paulus (II Kor. 11, 2; Eph. 5,26f.). Die Ähnlichkeit dieser himmlischen Siegesfeier mit früheren derartigen Szenen und Hymnen wie 7, 9iT. 11, 15JT. 14, 1 ff. lässt überall dieselbe Hand des Apokalyptikers Johannes erkennen, der solche Lichtbilder aus der Himmelswelt als kontrastierende Zwischenspiele zwischen die Schrecken der irdischen Gerichtszenen einzufügen liebt; die letzteren hat er sich aus der apokalyptischen Tradition angeeignet, die ersteren aber sind seine eigene Schöpfung. An das himmlische Jubellied auf die nahende Hochzeit des Lammes schliesst sich ganz passend an die Seligpreisung der zum Hochzeitsmahl Berufenen, mit feierlicher Versicherung der Wahrheit dieser Verheissungsworte (V. 9), wobei es gleichgiltig ist, wer unter dem Sprechenden gemeint sei, ob der Engel von 17, 1 oder ein anderer. Bemerkenswert aber ist die hier und wieder in 22, 8 f. betonte Warnung vor kultischer Verehrung der Engel, die doch nur Mitknechte seien des Sehers und seiner Brüder, die das Zeugnis Jesu besitzen, „das Zeugnis Jesu nämlich ist der Geist der Weissagung" (V. 10); ein bedeutsames Wort, das nicht fremder Zusatz ist, sondern das eigenste Bewusstsein des Propheten ausdrückt, der in den Inspirationen seines Offenbarungsgeistes das wahre, von aller menschlichen Vermittlung und Geschichtstradition unabhängige Zeugnis Jesu, d. h. die echteste christliche Wahrheit zu besitzen überzeugt ist. In dieser Überzeugung, die der Verfasser mit seinen „Brüdern", den prophetisch begabten Christen seiner Zeit und Umgebung geteilt hat, liegt die Wurzel auch für die Entstehung des „pneumatischen Evangeliums", das sich nach Johannes (dem Propheten!) benennt. Die Beschreibung des Gerichts beginnt 19, 11 mit dem grandiosen Bild des vom offenen Himmel herab erscheinenden Messias: ein Reiter auf weissem Ross, er heisst „treu und wahrhaftig", denn in Gerechtigkeit richtet und kämpft er; seine Augen wie Feuerflammen, auf dem Haupte viele Diademe und ein Name geschrieben, den niemand als er selbst kennt (und sein Name heisst: das Wort Gottes), gekleidet in ein in Blut getauchtes Gewand, begleitet von den himmlischen Heer-

Johauneische Schriften.

Die Apokalypse Johannis.

327

Scharon auf weissen Rossen und in weissen reinen Linnengewändern; aus seinem Munde geht ein scharfes Schwert,

um

die Völker

zu

schlagen; er wird sie weiden mit eisernem Szepter und tritt die Kelter des Zornweins des allbeherrschenden Gottes; auf seinem Kleid, an dem Schwertgurt, steht der Name: „König der Könige und Herr der Herren". Dann ruft ein Engel von der Sonne aus die Vögel herbei zum „grossen Mahl Gottes",

nämlich

Könige und Fürsten, und Kleinen.

zum Frass

des Fleisches

der

erschlagenen

Rosse und Reiter, Freien und Knechte, Grossen

Es versammeln sich das Tier und die Könige der Erde

und ihre Heere zum Entscheidungskampf wider den Messias und seine (himmlischen)

Heerscharen.

Ob es zum eigentlichen Kampf wirklich

kommt, bleibt dunkel, denn der Seher schaut sogleich das Ende: Tier

und der Lügenprophet,

der die Menschen

das

zur Anbetung des

Tieres verführt hatte, werden überwältigt und lebendig in den Feuersee voll brennenden Schwefels geworfen, die übrigen aber werden getötet

durch das aus

dem Munde des Messias gehende Schwert, und

ihre Leichen werden zum Frass der Vögel. — So gewiss es ist, dass dieses Gerichtsbild wenig sind wir

im Stil

Apokalypse

abzusprechen,

Christenheit

seiner Zeit

Welt

der jüdischen Apokalyptik gemalt ist, so

doch darum

naturgemäss

in

für

berechtigt,

es dem Verfasser

den sich ebensogut wie für die ganze

der erhoffte Sieg Christi über die feindliche

die aus

der realistischen Messiashoffnung des

Judentums stammenden Vorstellungen gekleidet hat. Gnosis, welche gonnen hat, finden. wenn

diese realistische Eschatologie

Es war erst die

so zu vergeistigen be-

wie wir dies dann im Johannesevangelium

Aber noch

unserer

ausgeführt

diese Neuerung fand keineswegs allgemeinen Anklang;

gegen Ende

des zweiten Jahrhunderts

ein Irenaus mit

vollem Ernst an die sinnliche Herrlichkeit des tausendjährigen Reiches glaubte*

und ein Tertullian sich

Strafgerichts,

das

erbaute an dem Bild des blutigen

der wiederkehrende Christus über die Heiden ver-

hängen werde, so ist es gewiss nicht zu verwundern, dass ein judenchristlicher Prophet um die Wende des ersten und zweiten Jahrhunderts angesichts Glauben an bildern

drohender solchen

gestärkt

kommende

hat.

Verfolgungen aus

dem

Wo

seinen

Judentum

irgend

„König der Könige und

und

seiner

Gemeinden

überkommenen

Christus

als

der

zum

GerichtsGericht

Herr der Herren" gedacht wurde,

328

IV.

Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften.

da nahm er unvermeidlich auch im christlichen Bevusstsein die herkömmlichen Züge des jüdischen Messiaskönigs an, des gerechten Richters und furchtbaren Vergelters, der die Völker mit eisernem Szepter weidet, und aus dessen Munde ein scharfes Schwert gehet, und der die Zornkelter tritt, dass das Blut in Strömen iiiesst — drei Bilder, die für unseren Geschmack zwar wenig ansprechendes haben, aber in der jüdisch-christlichen Apokalyptik offenbar beliebt waren; sie finden sich in unserer Apokalypse mehrfach schon vor Kap. 19, nämlich in 2, 27. 12, 5. 1, 16. 14, 19f., und stammen aus Ps. 2, 9. Jes. 11, 4. 63, 3ff. Joel 4, 13. Ps. Salom. 17, 24. 35. Auch das hässliche Bild vom grossen Mahl Gottes, bei dem die Vögel sich sättigen an den Leichen der Erschlagenen (V. 17 f.), ist eine fast wörtliche Nachbildung des Gerichtsbildes bei Ezechiel 39, 17 ff., wo auch unmittelbar vorher von den mythischen Gottesfeinden Gog und Magog die Rede ist, die unser Verfasser im nächsten Kapitel verwertet. In allem dem haben wir also offenbar apokalyptisches Gemeingut zu erkennen, das die Christen mit den Juden teilten. Daher scheint mir hier kein triftiger Grund zu der Annahme vorhanden zu sein, dass der Verfasser die Beschreibung des Weltgerichts in Kpp. 19 und 20 aus einer bestimmten jüdischen Quelle entnommen habe, wie wir eine solche oben bei Kpp. 11—13; 17 und 18 wahrscheinlich vorauszusetzen hatten. Auch eine Beziehung zu heidnischen Mythen kann ich in unserem Kapitel nicht finden; das „Tier" und den „Lügenpropheten" hat der Verfasser aus den eben genannten Kapiteln herübergenommen, wo die entsprechenden Gestalten, die allerdings mythischen Ursprungs sind, bereits jüdisch umgebildet waren; nur den Ausdruck „Lügenprophet" für das zweite Tier von Kp. 13 hat er selbst gebildet und damit der dortigen rätselhaften Gestalt eine bestimmtere Deutung im Sinn von religiösen Verführern gegeben, ganz ähnlich, wie er auch in 17, 8 und 14 das Kaiser-Tier Nero und seine zehn Bundeskönige aus dem Jüdisch-Politischen ins Christlich-Religiöse umgedeutet hatte. Eine ähnliche christliche Deutung eines überkommenen apokalyptischen Geheimnisses liegt auch in V. 13 vgl. mit 12: hier heisst es, der Messias trage einen Namen, den niemand ausser ihm selbst kenne, worunter nach apokalyptischer Redeweise wahrscheinlich irgendwelches mysteriöse Zauberwort mit wunderbiren

Joh&uneiscbe Schriften.

Die Apokalypse Johannis.

329

Kräften zu verstehen ist;*) dieses Attribut der apokalyptischen Messiasgestalt hat dann entweder unser Verfasser selbst oder ein Späterer deuten wollen durch den Zusatz: „sein Name heisst der Logos Gottes", was wahrscheinlich im spezifischen Sinn der johanneischen LogosChristologie zu verstehen ist. Da die Anwendung dieses Begriffs auf Christus schon vor dem Evangelisten Johannes in gnostischen Kreisen vorkam, so ist es nicht gerade unmöglich, dass der Apokalyptiker ihn bereits gekannt und eben als einen damals noch erst in esoterischen Kreisen aufgekommenen Christus-Namen hier für das lösende Wort des Rätsels erklärt haben könnte. Indessen ist mir doch wahrscheinlicher, dass der dem Zusammenhang sich nicht recht einfügende Satz eine Randglosse von fremder Hand ist, die ein Abschreiber in den Text einschob. Auf jeden Fall steht diese Erklärung des mystischen Namens (V. 12) in auffallendem Missverhältnis zu dem jüdischen Messiasbild dieser ganzen Gerichtsszene. —• In Kp. 20 wird die Beschreibung des Gerichts fortgesetzt. Zunächst wird durch einen vom Himmel herabkommenden Engel der alte Teufelsdrache (vgl. 12, 9) in den Abgrund der Hölle geworfen und hier verschlossen für tausend Jahre. Während dieses Zeitraums nehmen die auferstandenen Märtyrer, die um des Zeugnisses Jesu willen ihr Leben hingegeben haben, sowie alle unter Verfolgung dem Bekenntnis treu gebliebenen Christen, die das Zeichen des Tieres nicht angenommen haben, an der Königsherrschaft und Richterwürde Christi teil, während die anderen Toten bis zum Ende dieser tausend Jahre noch nicht auferstehen. Die Teilhaber dieser „ersten Auferstehung" bilden also eine auserwählte Schar, die dem „zweiten Tod" nicht mehr unterliegt, sondern in priesterlicher und königlicher Würde mit Gott und Christus verbunden eine vorläufige Seligkeit geniesst. Nach Verfluss dieser tausend Jahre wird der Satan aus seinem Gefängnis wieder losgelassen und zieht wieder aus, um die Völker der Erde und insbesondere Gog und Magog zum Kampfe zu versammeln. Sie ziehen herauf wider die geliebte Stadt (Jerusalem) und belagern sie, werden aber durch Feuer vom Himmel verzehrt. Ihr Verführer, der Teufel, wird in den Feuersee geworfen, wo er zu*) Mit Recht verweist BOUSSET, Komm. S. 495, auf die Analogie des Ratseiwortes in 2, 17,

wozu auch der

dem

Erzengel

Michael anvertraute

Name" yon „starker Kraft" m Henoch 69, 14 verglichen werden kann.

„verborgene

330

IV.

Kirchliche Lehr- und Mahu-Schriften.

sammen mit dem Tier und dem Lügenprophet endlose Qual erleidet. Darauf schaut der Seher auf einem grossen weissen Thron den Weltrichter (Gott) sitzen, vor dessen Angesicht Himmel und Erde entschwunden sind, und vor dem Thron stehen die sämtlichen jetzt aus dem Hades erstandenen Toten, die Grossen und Kleinen. Sie werden gerichtet nach ihren Taten, wie sie verzeichnet stehen in den geöffneten Büchern des Gerichts und im Buch des Lebens. Wer nicht in diesem verzeichnet steht, der wird in den Feuersee geworfen zusammen mit dem (personifizierten) Tod und Höllenfürsten. Darin besteht der „zweite Tod", die endgiltige Verdammnis. Diese Beschreibung des Gerichtsdramas, wie es sich in zwei, durch ein tausendjähriges Zwischenreich des Messias auf Erden getrennte Akte zerlegt, folgt der jüdischen Tradition, deren erste Spur in Henochs Gesicht von den „Zehn Wochen" (91, 14f.) zu finden ist, die dann bestimmter in den Apokalypsen Baruch (40, 3) und IV Esra (7, 28 f.) auftritt und im Talmud weiter ausgebildet ist. Der Grund dieser Vorstellung von einem irdischen und zeitlich begrenzten 'Messiasreich liegt in dem Bedürfnis der jüdischen Theologie, die altprophetische Hoffnung auf eine irdische Herrlichkeit des Gottesvolkes zu kombinieren mit der seit Daniel aufgekommenen Erwartung eines überirdischen Vollendungszustandes. Über die Dauer der vorläufigen Messiasherrschaft schwanken die Ansichten der jüdischen Theologen*) zwischen 40 Jahren (Israels Aufenthalt in der Wüste), 400 (Israel in Ägypten), 600, 1000 (ein Tag der Weltwoche, Ps. 90, 4), 2000 (ein Drittel der Weltwoche, entsprechend den je 2000 Jahren vor und unter dem Gesetz), endlich sogar 7000 (entsprechend den 7 Tagen der Hochzeitsfeier). Auch die Vorstellung einer zeitweiligen Fesselung der bösen Geister in unterirdischen Gefängnissen und Feuerschlünden findet sich öfters in der Apokalypse Henoch, z. B. 10, 4ff. 12f. 18, 14ff. 22, 4—14: Straforte im Hades zur vorläufigen Bestrafung aller gottlosen Geister. Diese Vorstellungen der jüdischen Eschatologie hingen zusammen mit weitverbreiteten Mythen. Nach der persischen Eschatologie**) wird der

*) WEBER,

Altsynag. Theologie, S. 355 f.

SCHÜRER,

N. Tie Zeitgesch. II, 457 f.

"*) wie sie in den freilich erst jüngeren Schriften des Parsismus : Bundehesch und

Bahman Yast enthalten ist.

Vgl.

IIUBSCHMAHN,

Persische

Eschatologie, im

Johanneische Schriften.

Die Apokalypse Johannis.

331

Drache Azi Dahak, nachdem er von dem göttlichen Helden Thraotaona überwunden und in der Tiefe der Erde gefesselt worden war, am Ende von 9000 Jahren durch den Widergott Angromainyu wieder befreit und hilft diesem beim letzten Entscheidungskampf wider das Reich des Ahuramazda. Auch der orphische Mythus*) lässt die von Uranos überwundenen und in Tartarus geworfenen Titanen wieder loskommen und dem Zeussohn Dionysos hinterlistig nachstellen; nachdem sie ihn getötet und zerrissen, werden sie durch den Blitzstrahl des Zeus zu Asche verbrannt. Dass solche und ähnliche Mythen die jüdische Eschatologie beeinflussten, ist höchst wahrscheinlich; aber unser Apokalyptiker hat sich doch wohl nur an die jüdisch-christliche Tradition gehalten, ohne an deren weiter zurückliegende Wurzeln zu denken. Die Namen der zum Kampfe heranziehenden Gottesfeinde Gog und Magog stammen aus Ezech. 38 und 39, wo Gog als König von Magog die gottfeindliche Völkerwelt repräsentiert, die in Henoch 56 durch die Parther und Meder vertreten ist. In der jüdischen Eschatologie**) wurden Gog und Magog die stehenden Namen für die zuletzt noch zu überwindenden gottfeindlichen Mächte, wobei die Darstellung insofern schwankt, als der Kampf mit ihnen bald vor die Tage der Messiasherrschaft, bald aber auch an das Ende derselben gestellt wird, letzteres das gewöhnliche. Auch hierin also geht unser Verfasser in den Spuren der jüdischen Theologie, von der er auch die Bezeichnung Jerusalems als „der geliebten Stadt", wo der Messias im tausendjährigen Reich residiert, einfach übernommen hat, ohne dass man daraus schliessen dürfte, dass dies aus einer vor der Zerstörung Jerusalems geschriebenen Quelle herstammen müsse. Nach der Überwindung der letzten Feinde tritt der Vollendungszustand ein (Kp. 21—22,5), dessen Schauplatz ein neuer Himmel und eine neue Erde sein wird, nachdem die alten vergangen sind; ob dies durch einen Weltbrand geschehen wird oder sonstwie durch eine schöpferische Umgestaltung und Erneuerung der alten Welt, ist nicht gesagt. Die Erwartung der Welterneuerung geht auf Jes. 65, 17 zuJahrb. für prot. Theol. 1882 und STATE, Einfluss des Parsismus auf das Judentum, S. 175 f. *) ROHDE, Psyche, S. 410 ff. •"') WEBER, Altsynag. Theol. S. 369 f.

332

IV.

Kirchliche Lehr- und Jlahu-Schriften.

rück und ist ein stehender Glaubensartikel der jüdischen Apokalyptik, wobei nur darüber die Ansichten schwanken, ob die Welterneuerung der messianischen Zeit vorangehen oder nachfolgen werde, ersteres in Henoch 45, 4 f., letzteres in IV Esra 7, 30f. und in der talmudischen Theologie.*) — Hierauf sieht der Seher die Erscheinung des „neuen Jerusalems", das vom Himmel herabsteigt wie eine für ihren Mann geschmückte Braut, und hört eine Stimme vom Thron her sprechen: „Siehe, die Hütte Gottes bei den Menschen, und er wird bei ihnen wohnen und sie werden seine Völker sein, und er wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und es wird kein Tod mehr sein noch Leid noch Geschrei noch Pein, denn das Erste ist vergangen, siehe ich mache alles neu. Diese Worte sind zuverlässig und wahrhaftig. Ich bin das A und das 0, der Anfang und das Ende. Ich werde geben dem Dürstenden vom Quell des Lebenswassers umsonst. Der Sieger wird dieses ererben, und ich will ihm Gott sein und er soll mir Sohn sein. Den Feigen aber und Ungläubigen und Befleckten, Mördern, Hurern, Zauberern, Götzendienern und allen Lügnern wird ihr Teil werden im Feuersee, was der zweite Tod ist" (V. 3—8). Hiermit hat der Seher das erhabene Bild des von ihm im Geiste geschauten Vollendungszustandes, der ewigen überirdischen Seligkeit der Einen und der Verdammnis der Anderen, in der ihm eigenen Sprache gezeichnet. Er hätte eigentlich hiermit sein Werk schliessen können. Aber er fühlte sich an die Tradition gebunden, und zu dieser gehörte noch eine nähere Beschreibung des neuen Jerusalems, die er seinen Lesern nicht vorenthalten zu dürfen meinte. Darum fügt er noch ein neues Gesicht hinzu, worin er von einem der Schalen-Engel auf einen hohen Berg getragen wird, von dem aus er die heilige Stadt Jerusalem in allen ihren Details zu sehen vermag. Die hierauf folgende Beschreibung 21, 11—22, 5 verbindet irdische and übernatürliche Züge zu einem wunderlichen Bilde: einerseits ist's ein neues irdisches Jerusalem mit messbaren Mauern und Toren, ausgestattet mit orientalischer Pracht, Hauptstadt des weltbeherrschenden jüdischen Volkes, dem die Heidenvölker und deren Könige ihre Herrlichkeit als Tribut darbringen; andererseits wohnt in dieser irdischen Stadt Gott selbst und das Lamm, deren Gegenwart nicht bloss die Stelle des alten Tempels vertritt, *) SCHÖRER, a . A. 0 . S . 4 5 9 .

WEBER, a . a. 0 . S. 3 8 0 ff.

Johanneische Schriften.

Die Apokalypse Johannis.

333

sondern auch Sonne und Mond und jede Leuchte ersetzt, da Gottes Lichtglanz die Stadt immer erleuchtet, so dass es für sie keine Nacht mehr gibt; zudem sind die Wunderdinge des Paradieses in diese Stadt verpflanzt: der Strom des Lebenswassers geht vom Thron Gottes und des Lammes aus, und zu seinen Seiten steht der Lebensbaum, der jeden Monat seine Früchte bringt (für die 12 Stämme Israels), und dessen Blätter den Heiden zur Heilung dienen. Hierin ist Ezechiels Bild des künftigen Jerusalem (Ez. 47) mit den Paradiessagen verwoben zum Idealbild eines verherrlichten, doch wesentlich irdischen und jüdischen Jerusalem, das merklich absticht von dem himmlischen Jerusalem, wo Gott bei den Menschen überhaupt wohnen und diese alle ohne Unterschied seine Völker und Söhne sein werden, wo das Alte vergangen und a l l e s neu geworden ist (21, 3—8). Nimmt man hinzu, dass die Beschreibung des neuen Jerusalem in 21,10 in einer Weise eingeführt wird, die zum Erschienensein desselben in Y. 2 nicht recht passt, so ist die Vermutung gerechtfertigt, dass der Verfasser sein zweites Bild (21,10—22, 5) aus einer jüdischen Quelle entnommen und ihm nur eine christliche Färbung gegeben habe durch einzelne Zusätze. Dahin gehört die Einführung des Lammes neben Gott in 21, 22f. 22, 1. 3 (an den beiden letzten Stellen auffallend gezwungen), ferner die Namen der 12 Apostel des Lammes auf den Grundsteinen der Stadt, als Seitenstück zu denen der 12 Stämme Israel auf ihren Toren (21, 14 vgl. mit 12). Ob auch das Fehlen des Tempels im neuen Jerusalem (21, 22) auf Rechnung unseres Verfassers komme, oder ob er das schon in seiner jüdischen Quelle so vorgefunden habe, muss dahingestellt bleiben. In 22, 6—21 fügt der Verfasser seinen Weissagungen noch ein erbauliches S c h l u s s w o r t bei, das an die Einleitung in Kp. 1 anklingt. Wie dort (V. 4) Gott dargestellt war als umgeben von der Trab antenschar der sieben Geister vor seinem Thron, so heisst er nun hier „der Gott der Geister der Propheten"; die ursprünglich mythischen Sterngeister (oben, S. 285), die der Parsismus und das Judentum zum Hofstaat Gottes gemacht hatte, sind hier zu Mittlern der prophetischen Offenbarung umgedeutet, zu Teilkräften des einen Geistes der Prophetie (19, 10), der sich in eine Vielheit von Geistern besondert (I. Kor. 14, 32) entsprechend der individuellen Mannigfaltigkeit seiner Wirkungen. Johannes versichert

334

IV.

Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften.

dann, dass er dies alles (vermöge des Offenbarungsgeistes, der auch wieder als zeigender Engel vorgestellt wird) gehört und gesellen habe, und dass er die ausdrückliche Weisung erhalten habe, es nicht zu versiegeln, d. h. verborgen zu bewahren, sondern mitzuteilen, weil die Zeit der Erfüllung nahe sei. Dann wird Jesus persönlich redend eingeführt: „Siehe, ich komme bald und mein Lohn mit mir, zu vergelten einem jeden nach seinem Werk. Ich bin das A und das 0, der Erste und Letzte, der Anfang und das Ende (vgl. 1, 17. 2, 8 und ebenso von Gott 1, 8). Selig, die ihre Gewänder waschen („seine Gebote halten" ist wohl erklärende Glosse), damit sie ein Anrecht bekommen auf den Lebensbaum und zu den Toren eingehen in die Stadt (das himmlische Jerusalem). Draussen sind die Hunde (ungläubigen Heiden) und Zauberer und Hurer und Mörder und Götzendiener und jeder, der Lüge liebt und betreibt. Ich Jesus habe meinen Engel (nicht den Propheten, sondern den Offenbarungsgeist 1, 1) gesandt, euch solches zu bezeugen für die Gemeinden. Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids, der helle Morgenstern" (5, 5. 2, 28. Jes. 11, 1. 14, 12). Darauf antwortet der Geist des Propheten und die Braut (die christliche Gemeinde): „Komm!" und jeder Hörer (in der Gemeindeversammlung) soll sprechen: „komm!" „Und der Dürstende soll kommen und der Begehrende soll empfangen Lebenswasser umsonst" (21, 6). Dann folgt eine Warnung des Verfassers an die Hörer dieser Weissagungen, ihnen nichts zuzusetzen noch abzuziehen, bei Gefahr ihrer Seligkeit (V. 18f.). Zuletzt fasst sich noch einmal der Grundgedanke dieses Offenbarungsbuches zusammen in feierlicher liturgischer Wechselrede zwischen Jesus: „Ja, ich komme bald" und der antwortenden Gemeinde: „Amen, komm Herr Jesus!" Der briefmässigen Einleitung 1, 1—3 entspricht der übliche Briefschluss: Die Gnade des Herrn Jesus sei mit den Heiligen. Trotz aller in diese Apokalypse verarbeiteten Stoffe aus mündlicher und schriftlicher, christlicher und jüdischer Tradition bleibt sich Geist und Sprache derselben von Anfang bis zu Ende wesentlich gleich. Es ist das Werk eines Propheten, der in ernster Zeit, unter dem Beginn schwerer Prüfungen die christlichen Gemeinden in der Glaubenstreue zu befestigen sucht, indem er ihren Blick hinlenkt auf das selige

Johanneische Schriften.

Das Evangelium nach Johannes.

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Ziel der Vollendung, in dem alle Kämpfe und Trübsale der Gegenwart ihren siegreichen Abschluss finden werden. Als Kampfruf und Trostwort hat es nicht bloss für seine Zeit der beginnenden Christenverfolgung eine grosse Bedeutung gehabt, sondern behält auch für alle Zeiten seinen Wert, der dadurch nicht gemindert, sondern eher erhöht wird, dass wir gelernt haben, zwischen seiner religiösen Stimmung und Tendenz und den phantasievollen Ausdrucksmitteln zu unterscheiden.

Das E v a n g e l i u m n a c h J o h a n n e s . Diese Lehrschrift in Evangelienform hat das geschichtliche Material, cfessen sie sich als Rahmen für ihre paulinisch-hellenistischen Gedankenbilder bedient, aus den älteren Evangelien nach Markus und Lukas und einem dritten, welches nicht das Matthäus-, sondern vielleicht das Hebräerevangelium oder sonst eine verwandte apokryphe Schrift war, entnommen. Besonders enge schliesst sich das johanneische Evangelium an das Lukasevangelium an, nicht bloss in vielen Einzelheiten, sondern auch in der Gliederung des ganzen Stoffes; den drei Abschnitten des Lukasevangeliums, deren erster die Vorgeschichte und galiläische Wirksamkeit Jesu, der zweite den Reisebericht und die jerusalemischen Streitreden, und der dritte die Leidensgeschichte umfasst, entsprechen die drei Hauptabschnitte des Johannesevangeliums: Kpp. 1—6, 7—12, 13—21. Dabei ist freilich zum voraus zu bemerken, dass in der Ausfüllung dieses Schemas der vierte Evangelist von seiner Vorlage a u f s freieste abweicht, wie er denn überall das Geschichtliche mit der ganzen souveränen Freiheit des Hellenismus nur als sinnbildlichen Ausdruck seiner religiösen Ideen behandelt. Eben darum gehört dieses Evangelium nicht unter die Geschichtsbücher, sondern unter die hellenistischen Lehrschriften des Urchristentums, es ist die reifste und gehaltreichste Frucht der vom Hebräerbrief ausgegangenen Entwicklung der hellenistischen Lehrbildung. Lukas hatte in seinem Vorwort gesagt, dass er alles von vorneherein beschreiben wolle, und hatte deshalb seine Vorgeschichte mit den Erzählungen von der Empfängnis und Geburt Johannis und Jesu begonnen und mit der Genealogie Jesu geschlossen, die er bis Adam

336

IV.

Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften.

und Gott zurückführte. Dem vierten Evangelisten war das zu viel und zu wenig: zu viel, da ihm die irdische Abstammung Jesu und vollends Johannis bedeutungslos erschien; zu wenig, da ihm die himmlische Herkunft des Gottessohnes in der Lukas'schen Geburtsgeschichte noch nicht genügend dargestellt schien. Ihm stand es ja auf Grund der deuteropaulinischen und gnostischen Theologie längst fest, dass Christus der vom Himmel herabgekommene uranfängliche Gottessohn sei, welcher Mittler schon der Weltschöpfung und dann aller ferneren Gottesoffenbarung in Israel gewesen, und dass sein himmlisches Wesen eins sei mit jener göttlichen Mittlergestalt, welche die jüdisch-hellenistische Spekulation früher als die göttliche Weisheit, später als das persönliche Wort Gottes, als den Logos bezeichnet hatte. Dieser Begriff, in welchem Philo das jüdische Offenbarungswort mit der stoischen Weltvernunft kombiniert hatte, war wie gemacht zu einem Losungswort des christlichen Hellenismus, welcher jüdisches Glauben und griechisches Denken zur neuen Weltreligion verschmelzen sollte; zumal in Ephesus, der alten Heimat der heraklitischen Logos-Spekulation und jetzt wieder dem Sitz der christlichen Apokalyptik und Gnosis, drängte sich der Logosbegriff wie von selbst dem christlichen Theologen auf als der prägnanteste und allgemein verständliche Ausdruck für das höhere Wesen Christi als des Mittlers aller Gottesoffenbarung, in welchem alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen sind, und durch welchen das uralte Geheimnis aller Religionen endlich der Welt enthüllt worden ist (Kol. 2, 3. Eph. 3, 4f.). Daher stellt der Evangelist in seinem P r o l o g , den er an die Stelle der Lukas'schen Vorgeschichte setzt, einige allgemeine Sätze voran über das uranfängliche Sein des Logos im Verhältnis zu Gott, zur Welt und zur Menschheit: „Im Anfang war der Logos, und der Logos war in Gemeinschaft mit Gott, und ein Gott war der Logos; als solcher war er im Anfang in Gemeinschaft mit Gott. Alles ist durch ihn geworden, und ohne ihn ist nichts geworden, was geworden ist. In ihm war Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht begriffen" (V. 1—5). Der Verfasser will mit den ersten Sätzen seine Leser nicht etwa darüber belehren, dass es einen Logos gebe, und was darunter zu verstehen sei: beides setzt er als bekannt und zugestanden voraus. Er betont aber, dass

Johanneische Schriften.

Das Evangelium nach Johannes.

337

der Logos schon „im Anfang" war, in der vorzeitlichen Ewigkeit, ehe es noch irgend anderes ausser Gott gab, ähnlich wie in Prov. 8, 23 die göttliche Weisheit von sich sagt: „Vor der Weltzeit begründete mich der Herr, im Anfang, ehe er die Erde machte". Ferner sagt er von diesem uranfänglichen Logos aus, dass er in Gemeinschaft, inniger Beziehung mit Gott (irpo? töv 9eov) und selbst ein Gott von Art war (9sbj ohne Artikel, wie auch Philo den Logos als öeb; von o Oebi unterscheidet). Nachdem so das Verhältnis des Logos zu Gott als das der persönlichen Unterschiedenheit, der Wesensgleichheit und der Lebensgemeinschaft festgestellt und letzteres noch einmal (V. 2) hervorgehoben ist, wird weiter in V. 3 f. sein Verhältnis zur Welt als Mittler der Schöpfung beschrieben; die Verstärkung der positiven Aussage: „Alles ist durch ihn geworden" durch die negative: „ohne ihn ist nichts geworden, was geworden ist", ist gewiss nicht ohne Grund; der Verfasser will gleich von vorneherein die gnostische Lehre abweisen, dass die Welt durch eine Mehrheit von untergeordneten Geistermächten (Archonten und Aeonen) geschaffen sei, ihnen allen stellt er den göttlichen Logos als das alleinige mittlerische Organ Gottes bei der Schöpfung entgegen. Zweifelhafter ist dagegen, ob der Ausdruck: „nichts, was g e w o r d e n , ist ohne ihn geworden", bloss ein sprachlicher Pleonasmus zur Verstärkung des Gedankens sei, oder vielleicht einen Hinweis enthalte auf einen der Weltschöpfung vorauszusetzenden ungewordenen Stoff; man könnte sich dabei an I Mos. 1, 2 erinnern, wo das Chaos dem schöpferischen Wort Gottes vorausgesetzt ist, und an Philo, der mit Plato die Materie als das Nichtige, Wesenlose (hyj ov) für das passive Substrat der wirksamen Kräfte des Logos und zugleich für die Hemmung ihres Wirkens, sonach für die Ursache der Unvollkommenheit der Welt hielt. Die Frage liegt nicht ferne, ob vielleicht auch unser Evangelist diese Ansicht Philos von der ungewordenen Materie geteilt und daraus die Finsternis abgeleitet habe, die dem Licht des Logos Widerstand entgegensetzt?*) Aber nicht nur hat er davon nirgends eine Silbe gesagt, sondern es lässt sich auch nicht verkennen, dass er das gottwidrige Weltwesen, die Vorliebe der Menschen für die Vgl. I U v i l l e , Le quatrième Evangile, S. 86 und 99. Untersuchung über das 4. Evangelium I, 120, Anm. P f l e i d er e r , Urchristentum.

2. Aufl.

Bd. II.

Dagegen 99

Grill,

338

IV.

Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften.

Finsternis statt für das Licht (3, 19f.), nicht mit Philo auf die Materialität der Körperwelt zurückführt — das Fleisch ist wohl „unnütz" (6, 63), aber nicht eigentlich Ursache des Bösen — sondern vielmehr auf eine Beschaifenheit des geistigen Lebens, die ihren letzten Ursprung in einer gottwidrigen Macht der Geisterwelt, im Satan, hat (8, 44). Hierin entfernt sich unser Evangelist ebensoweit von Philo, in dessen hellenistischer Weltanschauung kein Raum für den Teufel war, wie er sich mit der orientalischen Gnosis berührt, zu deren Fundamentallehren von Anfang der transzendente Dualismus gehörte. Da nun von irgend welcher Entstehung des Satan nirgends etwas gesagt wird, so wäre das „Ungewordene", w e n n man ein solches in 1, 3 angedeutet finden wollte, jedenfalls eher auf den Satan als auf die Materie zu beziehen. — Inwiefern der Logos Schöpfungsmittler sei, wird V. 4 erklärt: „In ihm war Leben und das Leben war das Licht der Menschen." Leben und Licht sind als Aussagen vom schöpferischen Logos im allgemeinsten Sinn zu verstehen; der Logos, dem der Vater das Leben in ihm selbst zu haben verliehen hat (5, 26), ist der Mittler desselben für alle Kreatur, für die Menschen insbesondere ist er die Quelle des geistigen Lebens oder „Lichtes", der Erkenntnis der Wahrheit und Gottes; auch bei Philo heisst der Logos*) die Sonne, die den Menschen mit den urbildlichen und körperlosen Strahlen des Vernunftquells erleuchtet, weshalb der menschliche Geist (Nus) mit dem Logos verwandt ist. Die Verbindung von Leben und Licht als göttlichen Wirkungen geht übrigens durch das ganze A. T. hindurch von der Schöpfungsgeschichte an, vgl. besonders Ps. 36, 10: „Bei dir ist die Quelle des Lebens und in deinem Lichte sehen wir das Licht." — Nun findet aber das vom Logos ausgehende Licht in der Welt einen Widerstand durch die Finsternis, über deren Grund der Evangelist keine Erklärung gibt; er spricht es nur als eine allgemeine Erfahrungstatsache aus: „Das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht begriffen" (V. 5). Dieser Satz bezieht sich weder bloss auf die vorchristliche (oder gar vormosaische) Zeit, so dass damit gesagt sein sollte, dass die natürliche Gottesoffenbarung in der

*) De somn. I, 14—19 (M. I 6 3 3 — 6 3 8 ) . De opif. mundi 8 (M. I 6).

Quis rer. div. haeres, 48 (M. I 506).

Johanneische Schriften.

Das Evangelium nach Johannes.

339

menschlichen Vernunft nicht zureichte zur wahren Gotteserkenntnis, wodurch die positive Offenbarung im Gesetz und zuletzt im Evangelium erforderlich wurde; noch aber auch bezieht er sich bloss auf das Erscheinen des Lichtes in Christus und den Widerstand, den er bei den Juden fand; sondern er drückt eine a l l g e m e i n e Wahrheit aus, die in dem metaphysischen Dualismus des göttlichen Logos und der ungöttlichen Welt mit Notwendigkeit begründet ist und daher ü b e r a l l u n d i m m e r , im Heidentum, Judentum und zuletzt freilich am schärfsten im Christentum, zur tragischen Erscheinung kommt (beachte das zeitlose Präsens cpotivst!). Damit ist von vorneherein jener Ton einer tragischen Wehmut angeschlagen, der für unser Evangelium so bezeichnend ist, der Ausdruck eines viel tieferen religiösen Ernstes, als wie er in dem optimistischen Weltbild des Hellenismus, z. B. Philos, sich zeigt. Und doch lässt sich gerade für diese ersten Sätze unseres Evangeliums auch «ine merkwürdige Parallele finden bei dem alten griechischen Denker HERAKLIT, in dessen berühmter Naturphilosophie diese Sätze voranstanden: „Für diesen Logos, obgleich er ewig ist, haben die Menschen kein Verständnis, weder ehe sie von ihm gehört haben noch nachher. Denn obwohl alles diesem Logos gemäss geschieht, gleichen die Menschen doch Unkundigen. Obgleich der Logos gemeinsam ist, leben doch die meisten so, als hätten sie ihre eigene Einsicht."*) Auch hier derselbe tragische Gegensatz: einerseits der Logos, der ewig ist, das beherrschende Prinzip alles Geschehens; andererseits die beharrliche Unempfänglichkeit der Menschen, deren Unverstand unbelehrbar ist, weil zwar nicht alle, aber doch die meisten der gemeinsamen Wahrheit des Logos ihre eigene Scheinweisheit vorziehen. Die Ähnlichkeit zwischen dem Anfang des joh. Evang. und diesem Anfang des heraklitischen Werkes ist in der Tat so gross, dass die Vermutung einer direkten Bezugnahme des ephesinischen Evangelisten auf seinen berühmten Landsmann nahe genug liegt.**) *) Nach DIELS; Herakleitos von Ephesus, griechisch und deutsch. 1901. AALL, Geschichte der Logosidee, I, 29.

Vgl.

'"'") Vgl. NORDES, Antike Kunstprosa, II, 473 f. „Wenn man bedenkt, wie populär die Ideen der Stoa waren, und dass das heraklitische Werk von Christen gerne gelesen wurde (Justin rechnet Apol. I, 46 Heraklit zu den Christen, weil er (j.eti XtSyoy gelebt habe), dass gerade sein Anfang hochberühmt war, dass endlich diese Einleitung des Evangeliums sich an Leser wendet, die über eine Logos22*

340

IV.

Kirchliche Lehr- und Hahn-Schriften.

Von den zeitlosen Wahrheiten der ersten fünf Verse, die er als den transzendenten Hintergrund alles zeitlichen Geschehens seiner Geschichtserzählung vorausstellte, wendet sich nun V. 6 der Evangelist zur geschichtlichen Einleitung derselben: dem Auftritt des Täufers Johannes als des vorbereitenden Zeugen; nachdrücklich — vielleicht mit polemischer Spitze gegen Johannes-Schüler — betont er, dass Johannes nicht selbst das Licht, sondern nur Vorbote desselben gewesen. „Das wahrhaftige Licht, das jeden Menschen erleuchtet (nach V. 4 der Logos), war im Begriff in die Welt zu kommen (seine Offenbarung in Jesus stand zur Zeit Johannis nahe bevor). Er war in der Welt (zwar auch schon vorher immer gewesen), und die Welt ist durch ihn (den Logos) geworden, und doch kannte die Welt ihn nicht. In sein Eigentum ist er gekommen, und die Seinen nahmen, ihn nicht auf." Ob unter diesem „Eigentum" wieder die Welt, d.h. Menschheit, sofern sie vom Logos geschaffen ist, gemeint sei, oder das ihm in besonderem Sinn angehörige Volk Israel, das ist zweifelhaft. Unter letzterer Voraussetzung wollten manche V. 11 ff. auf die vorchristliche Offenbarung des Logos in Israel durch Moses und die Propheten beziehen, auf die dann erst mit V. 14 die Offenbarung des fleischgewordenen Logos-Christus folgen würde. Aber so einfach sich damit der Zusammenhang dieser Verse als ein geschichtlicher Fortschritt von der alt- zur neutestamentlichen Offenbarung gestalten würde, so erheben sich dagegen doch mehrere Bedenken: Bezieht man. V. 11 auch wieder auf die Offenbarung des präexistenten Logos, von der V. 10 („er war in der Welt") die Rede war, so verwischt man den durch das tempus finitum deutlich markierten Unterschied; das

lehre orientiert waren: so wird man die Vermutung aussprechen dürfen, dass in einer der grandiosesten Schöpfungen des menschlichen Geistes eine direkte und bewusste Reminiszenz an das gedankengewaltige Proömium des ephesinischen Philosophen -vorliegt. Aber interessant ist nun gerade zu sehen, wie die hellenistischen Vorstellungen durch hellenistisch-judische leise beeinflusst sind; für dasheraklitische ctei ovtos setzt Joh. i i dpyjj wegen Gen. 1 , 1 ; statt des Logos, den die Menschen in ihre tauben Ohren nicht aufnahmen, fuhrt er das aus jüdischer Theosophie stammende cpü>; ein; in die ganz heraklitisch klingenden Worte: „im Anfang war der Logos und der L. war Gott" fügte er ein: „und der L. war b e i G o t t , was nicht stoisch ist, sondern aus jüdisch(hellenistischen) Vorstellungen stammt."

Johanneisehe Schriften.

Das Evangelium nach Johannes.

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„Gekommensein" (f^Oev) des Logos scheint auf ein bestimmtes geschichtliches Faktum hinzuweisen, das nur in der Fleischwerdung bestehen kann. Und sollten in V. 12 f. Wirkungen der alttestamentlichen Offenbarung beschrieben sein, was bliebe dann eigentlich für die christliche Offenbarung noch Neues und Grösseres übrig? Nur auf diese passen doch wohl die bedeutungsvollen Worte: „Welche ihn aber aufnahmen, denen hat er das Recht verliehen, Gottes Kinder zu werden, als solchen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus Blut und nicht aus Fleisches- noch Manneswillen, sondern aus Gott gezeugt sind". Die Aufnahme des in Christus gekommenen Logos besteht also im Glauben an seinen Namen, d. h. an die in seinem Namen als Christus oder Gottessohn (20, 31) liegende Bedeutung seiner Person; diese Glaubenden sind berechtigt, sich als Kinder Gottes zu wissen, weil sie eben in ihrem Glauben das höhere Leben besitzen, das aus •Gott und nicht aus dem Fleisch herstammt (3, 3 ff. 17, 3. I Joh. 5, 1). Nachdem so die Wirkung des Kommens des Logos nach ihren beiden Seiten — Nichtannahme seitens der grossen Masse der Seinigen, gläubige Aufnahme und Gotteskindschaft seitens Einzelner — in den •Grundzügen beschrieben ist, wird die bisher nur angedeutete Tatsache seines Kommens selbst näher ins Auge gefasst und auf den bestimmtesten Ausdruck gebracht (Y. 14): „Und (oder: „ja", erklärend und steigernd) •der Logos ward Fleisch und schlug seine Hütte unter uns auf, und wir schauten seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des einziggeborenen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit". Der Logos „ward Fleisch", d. h. ein leibhaftiger Mensch mit Fleisch und Blut, wie wir es haben (Ilebr. 2, 14); dass dieser Mensch Jesus Christus •das Subjekt der folgenden Geschichte ist, versteht sich von selbst. Wie sich der Evangelist diese Fleischwerdung näher gedacht habe, ob «twa als Verwandlung des Logos in die Seele des werdenden Leibes Jesu, so dass dieser schon als inkamierter Logos geboren wurde, oder so, dass der Logos als Geist auf den erwachsenen Menschen Jesus herabgekommen und sich mit seiner Person zu dauernder Einheit verbunden habe (1, 32f.), darüber gibt er keine nähere Auskunft; denn nur darauf kam es ihm an, festzustellen, dass der Jesus der Geschichte die menschliche Erscheinung jenes Logos sei, der als ein Gottwesen in Gemeinschaft mit Gott seinem Vater von Anfang präexistiert habe

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IV.

Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften.

und die Quelle alles Lebens und Lichtes der Welt und Menschheit sei; das persönliche Wesen dieses Logos bleibt dasselbe nach wie vor seiner Fleischwerdung, nur die Form seiner Existenz ist dadurch eine andere geworden, dass er sein göttliches Wesen in die Hülle eines menschlichen Fleischesleibes kleidete, die ihm als das Organ seiner Offenbarung für die Menschen diente. Die Formel: „der Logos ward Fleisch" will also wesentlich dasselbe besagen wie die in den ignazianischen und johanneischen Briefen gewöhnliche: „der Gottessohn ist im Fleisch gekommen" ; der übermenschliche oder göttliche Hintergrund der geschichtlichen Christusperson steht allen diesen kirchlichen Lehrern ganz ebenso fest wie ihren gnostischen Gegnern; aber während diese die Menschheit dieser Person mehr oder weniger entschieden leugneten, dringen jene darauf, dass die Menschheit in Christus ebenso wahr wie seine Gottheit und beide Seiten zur vollen Einheit der Person verbunden seien, ein Gedanke, der in der Formel des Evangelisten bestimmter als in irgendeiner früheren markiert ist. Insofern kann man zwar allerdings sagen, dass der Evangelist zum Subjekt seiner Geschichtserzählung nicht den Gott Logos, sondern den Menschen Jesus mache (wie denn auch jene Bezeichnung von hier an nicht mehr wiederkehrt); nur darf man darüber nie vergessen, dass ihm dieser Mensch Jesus zugleich der inkarnierte Gott Logos ist. Dies festzustellen, dazu diente ihm der vorausgestellte Prolog, der also nicht bloss eine zufällige Einleitung, sondern der kardinale Schlüssel zum ganzen Evangelium ist. — Dass das irdische Leben Jesu nur eine kurze Episode seiner himmlischen Vor- und Nachexistenz gewesen, das lässt der Evangelist Jesum selbst wiederholt aussprechen (vgl. besonders 17, 24) und deutet es schon 1, 14 an durch den Ausdruck: „er schlug seine Hütte (sein Wanderzelt) unter uns auf". Ähnlich hatte schon die jüdische Legende die göttliche Herrlichkeit als Lichtglanz über der Bundeslade im Heiligtum wohnen lassen, und die Weisheitslehre hatte die göttliche Weisheit ihr Zelt im jüdischen Volk aufschlagen lassen (Sirach 24, 8 anders Henoch 42, 2). Der Fleischesleib Jesu war also die flüchtige Erdenwohnung des göttlichen Logos und zugleich das Mittel, um seine Herrlichkeit zu offenbaren für die, die durch die äussere Erscheinung hindurch mit dem Auge des Glaubens sein inneres Wesen zu schauen vermochten. — Was so zur Anschauung kam, war eine Herrlichkeit, wie sie eben nur bei dem

Johanneische Schriften.

Das Evangelium nach Johannes.

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möglich war, der als der Einziggeborene vom Vater herkam und diesem seinem göttlichen Ursprung entsprechend der Träger der ganzen Fülle göttlicher Gnade und Wahrheit war. Der Ausdruck „Einziggeborener" (fiovofevirj?) ist schon, Y. 14 ebenso zu verstehen wie V. 18, also nicht ein auf Christus angewandtes Bild menschlicher Sohnschaft, sondern ein christologischer terminus für die einzigartige Gottessohnschaft Christi als des inkarnierten Logos; dieser terminus findet sich nicht bei Philo, der den Logos wohl den „Erstgeborenen" (Trptüxoyovoi), aber nicht den Einziggeborenen nennt; er ist aber auch vom Evangelisten nicht neu geprägt worden, sondern er wird ebenso wie der Logosbegriff als ein seinen Lesern schon bekannter und geläufiger Ausdruck eingeführt. Das erklärt sich nur daraus, dass er in der Sprachweise der Gnostiker weit verbreitet war; insbesondere ist daran zu erinnern, dass in der Gnosis Kerinths, die Johannes nach Irenaus (adv. här. III, 11, 1) bekämpfte, der Monogenes eine eigentümliche Rolle als Vater des Logos gespielt zu haben scheint; um so mehr lag es im Interesse des Evangelisten, von vorneherein zu betonen, dass der in Christus inkarnierte Logos eben selbst der Monogenes sei und unmittelbar vom Vatergott herstamme und seine Herrlichkeit empfangen habe. — Diese Herrlichkeit wird näher beschrieben als Fülle der „Gnade und Wahrheit". Diese beiden Begriffe haben mit der „Güte und Treue" (II Mos. 34, 6) nichts als höchstens einen äusserlichen Anklang gemein; sie beziehen sich vielmehr zurück auf V. 4, wo Leben und Licht als die beiden kosmischen Wirkungen des präexistenten Logos bezeichnet waren; hier nun, beim fleischgewordenen Logos-Christus, bekommen diese Begriffe ihre bestimmtere religiöse Bedeutung: die Gnade ist das göttliche Leben, sofern es durch Christi Wort und Geist sich mitteilend (6, 63) neues und ewiges Leben in den Gläubigen wirkt; die Wrahrheit ist das göttliche Licht, sofern es aus Christus ausstrahlend die höchste vollkommene Gotteserkenntnis wirkt,. Hier wie sonst beim Evangelisten hat der Begriff „Wahrheit" nicht einen subjektiven, sei es moralischen oder logischen Sinn, sondern einen objektiven und ontologischen: er bezeichnet das wesenhaft Seiende (ovtcd; ov) Piatos, die Idealwelt (-/ou^o? vo7jtö?) Philos, die gemeinsame Vernunft (X070? xoivöc) Heraklits, das Himmlische (~a i-oupavta) des Hebräerbriefs, das Geistliche des Paulus, das von oben oder aus Gott Seiende des

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Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften.

Johannes; darum kann der, in dem das göttliche Leben und Licht in menschlichem Fleisch erschienen ist, von sich sagen: „ich b i n die Wahrheit", und darum ist durch ihn die Wahrheit nicht bloss gelehrt worden, sondern w i r k l i c h g e w o r d e n (l^sve-o V. 17), d. h. in die Erscheinung getreten und Gegenstand menschlicher Erfahrung geworden. — Worauf beruht nun dieser Glaube? Welches Zeugnis spricht für ihn? Zunächst das des Täufers Johannes (V. 15), der, wie schon vorher von dem kommenden Licht (V. 8f.), so jetzt von dem gekommenen zeugte, indem er in Jesus den anerkannte, der, obgleich nach ihm gekommen, doch ihm an Würde und Bedeutung vorgehe, weil er schon vor ihm gewesen sei, nämlich als der präexistente Logos (wovon freilich der historische Täufer kein Wissen haben konnte). An dieses erste Zeugnis reiht sich aber sofort das fortgehende der gesamten Christengemeinde (V. 16), die sich bewusst ist, ihr eigentümliches höheres Leben aus der Fülle Christi empfangen zu haben, und zwar „Gnade um Gnade", immer neue und gesteigerte Erfahrungen seiner belebenden Gnadenwirkungen. Der Ausdruck „Fülle" (it)oqp(ulu.a) erinnert zwar an die Aussage Philos, dass Gott den Logos ganz erfüllt habe mit göttlichen Kräften, aber wörtlich findet er sich dort nicht, wohl aber gehört er zur stehenden Terminologie der Gnosis, von wo aus er auch wahrscheinlich schon in die deutero-paulinischen Briefe (Kol. und Eph.) gekommen ist; insbesondere ist daran zu erinnern, dass nach der kerinthischen Gnosis, die Johannes bekämpfte, der höhere Christusgeist, der auf Jesum herabgekommen war, diesen vor dem Leiden wieder verliess und „in sein Pleroma (seinen göttlichen Ursprung) zurückflog"; hier wie überall in der Gnosis ist also das Pleroma die göttliche Welt, die nicht in Jesus wirklich und dauernd gegenwärtig war, sondern ihm immer jenseitig, transzendent blieb. Dem gegenüber spricht es der Evangelist als eine Tatsache der christlichen Erfahrung aus, dass die Fülle göttlichen Lebens in Jesus Christus als sein p e r s ö n l i c h e r B e s i t z vorhanden war, weil ja die Christen alle aus ihr „Gnade um Gnade" empfingen. Zu letzterem Ausdruck ist übrigens zu vergl. Philo, de poster. Caini 43 wo von Gott ähnlich gesagt ist, dass er immer neue Gnadengaben verleihe (dst vsotj avxl TraXaioxsptuv). — Diese Erfahrung der christlichen Gemeinde ist eben das Neue, was ihr ihren eigentümlichen Vorzug auch

Johanneische Schriften.

Das E \ a n g e l i u m nach Johannes.

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vor dem alten Bundesvolk gibt, denn „das Gesetz ward durch Moses gegeben, die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden" (V. 17). Während nach Philo eben das mosaische Gesetz der göttliche Gnadenschatz sein sollte, stellt der christliche Hellenist jenem als das spezifisch Neue und Höhere entgegen die durch Jesus Christus gekommene Offenbarung der belebenden Gnade und der erleuchtenden Wahrheit. Aber indem er so die Ursprünglichkeit und A b s o l u t h e i t der christlichen Religion im Gegensatz zum Judentum und jüdischen Hellenismus, im Einklang aber mit der Gnosis betont, weicht er hinwiederum von der letzteren insofern ab, als er im mosaischen Gesetz keineswegs etwas Ungöttliches, ein blosses Produkt widergöttlicher Geistermächte sieht, sondern vielmehr eine r e l a t i v wahre, weil vorbereitende Offenbarung desselben Logos, der als prä•existenter schon in der Welt war und wirkte (V. 8) und insbesondere das Volk Israel zu seinem Eigentum gemacht hatte ("V. 9), um hier sich die Stätte für sein persönliches Kommen und Bringen des Heils zu bereiten (vgl. 4, 22); so lässt er dem Gesetz und den Propheten ihre AVürde als göttlicher Offenbarung, aber er christianisiert sie zugleich, indem er sie als vorbereitende und weissagende Offenbarung desselben Logos deutet, der erst in Christus zur erfüllenden Erscheinung gekommen ist (vgl. 5, 46 und 12, 41). Durchgängig sehen wir also den Evangelisten in steter Fühlung sowohl mit Philo als mit dem Gnostizismus seiner Zeit, so aber, dass er immer den einen durch den anderen korrigiert, beide aber dem unterordnet, was er als das Wesen der Christusoffenbarung und als den Wahrheitsgehalt des christlichen Gemeindeglaubens erkennt. Dass dieser und n u r e r die Erfüllung und Aufhebung aller bisherigen Religionen, Spekulationen und Mysteriendienste sei, besagt der Schluss des Prologs (V. 18): „Niemand hat Gott je gesehen, der einziggeborene Sohn,*) der an des Vaters Brust lag, der hat ihn kundgemacht". Weil Gott zu hoch ist, als dass •ein] menschliches Auge ihn erfassen könnte, so ist der einzig mögliche Weg zur Wahrheit voller Gotteserkenntnis und Gottesgemeinschaft durch den erschlossen, der als der fleischgewordene Logos von Anfang ') Die Lesart: ob [aovoys"'']« ulo; oder 8sös ist noch immer strittig. Sachlich ist die Entscheidung ganz gleichgiltig, denn dieser ¡lovofEv^; ist jedenfalls identisch mit dem Xoyo;, der V. 1 als 9eö{ irpö; xov 9sov bezeichnet ist.

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Kirchliche Lehr- und Hahn-Schriften.

an zu Gott in dem einzigartigen Verhältnis des wesensgleichen und in innigster Gemeinschaft mit dem Vater verbundenen Sohnes stand. Damit kehrt der Schluss des Prologs wieder zu seinem Anfang zurück; der Ausgang von dem uranfänglichen göttlichen Logos hatte keinen anderen Zweck, als eben dies festzustellen, dass Jesus Christus, das Subjekt der folgenden Geschichtserzählung, die menschliche Erscheinung sei des göttlichen Logos, Lebens und Lichtes, die Erfüllung aller früheren relativen Offenbarung, die definitive Kundmachung der Wahrheit vollkommener Gotteserkenntnis, und dass man also im Glauben an diesen Sohn Gottes das ewige Leben habe (20, 31). So ist der Prolog nicht eine unwesentliche, mit dem übrigen Evangelium in keinem inneren Zusammenhang stehende Vorbemerkung, sondern der unentbehrliche Schlüssel zum Verständnis alles Folgenden; er enthält die Leitmotive, die im ganzen Evangelium in mancherlei Variationen weiter ausgeführt werden. Einer Andeutung von Luk. 3, 15f. folgend lässt der Evangelist V. 19 ff. den Täufer vor einer Priesterdeputatiorr aus Jerusalem die Erklärung abgeben, dass er nicht der Messias noch Elias noch sonst der (als Vorläufer erwartete) Prophet (Mk. 8, 28) sei, sondern nur die Stimme eines Predigers in der Wüste, der den Weg des Herrn ebnen, die messianische Heilszeit vorbereiten soll; er selbst taufe nur mit Wasser, aber schon stehe unerkannt mitten unter ihnen der nach ihm Kommende (Messias), dem er nicht wert sei, die Schuhriemen zu lösen. Der Evangelist hat hier die aus der synoptischen Überlieferung bekannte Charakteristik des Täufers aufgenommen, aber mit einigen Abweichungen. Auffallend und im Widerspruch mit Mt. 17, 13 und 11, 9 f. ist es, dass die Würde des zweiten Elia und Propheten dem Täufer hier abgesprochen wird, wahrscheinlich im Interesse der verschärften Polemik gegen die rivalisierende Johannesschule.*) Neu ist ferner der Satz, dass der nach dem Täufer Kommende schon mitten unter dem Volke stehe, ohne dass sie ihn kennen; dieses Wissen des Täufers erklärt sich zwar aus dem V. 33 f. erwähnten Taufzeichen, '-) Dieser, von BALDENSPERGER „Prolog des 4. Ev." betonte Gesichtspunkt ist wahrscheinlich für die drei ersten Kapitel des Ev. richtig, nur darf er nicht zum Hauptmotiv des ganzen Evangeliums gemacht werden.

Johanneische Schriften.

Das Evangelium nach Johannes.

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lässt sich aber mit der älteren Überlieferung von der zweifelnden Anfrage des Täufers an Jesum (Mt. 11, 2 f.) schwerlich zusammenreimen. Endlich ist beachtenswert, dass die Gerichtsdrohung in der Predigt des synoptischen Täufers beim 4. Evangelisten ausgelassen ist: aus dem jüdischen Bussprediger und rivalisierenden Schulhaupt ist hier der demütig gläubige Zeuge der intimsten Glaubensgeheimnisse des Christentums geworden. Denn in der V. 29 if. erzählten Szene lässt unser Evangelist den Täufer über den zu ihm kommenden Jesus das Bekenntnis aussprechen, dass er das die Sünde der Welt wegnehmende Lamm Gottes und der vor ihm schon gewesene, also präexistente Sohn Gottes sei, auf welchen er den Geist habe herabkommen sehen, und welchen eine Gottesstimme als den mit Geist taufenden Messias bezeugt habe. — Wie der Täufer in den Besitz dieses christologischen Wissens gekommen sein sollte, wäre selbst dann schwer zu begreifen, wenn das Gesicht bei Jesu Taufe wirklich von ihm wahrgenommen worden wäre. Nimmt man dazu, dass auch der Anlass dieses wunderbaren Himmelszeichens hier im Dunkel gelassen ist, indem von einem Getauftwerden Jesu durch Johannes keine Silbe gesagt wird, so wird man sich des Eindrucks kaum erwehren können, dass die unserem Verfasser bekannte Taufgeschichte der älteren Überlieferung von ihm absichtlich verdunkelt und in den Hintergrund gestellt worden sei, natürlich wegen derselben apologetischen Motive, die auch schon bei der Matthäus-Version der Taufgeschichte wirksam waren: den Gegnern sollte das aus der scheinbaren Unterordnung des Täuflings unter den Täufer entnommene Argument entwunden werden, daher dort die anfängliche Weigerung des Täufers, den Höheren zu taufen, und hier vollends wird die Taufe Jesu durch Johannes ganz übergangen und nur die Herabkunft des Geistes auf jenen als die göttliche Bezeugung oder Begründung seiner Gottessohnschaft vom Täufer feierlich bezeugt. Der dritte Akt des Johannes-Zeugnisses 1, 35 ff. gibt den Anlass zum Eintritt der ersten Jünger in die Nachfolge Jesu. Hier weicht unser Evangelist von seinen Vorgängern wieder gänzlich ab. Nach Mc. 1, 16ff. geschah die Berufung der ersten Jünger unmittelbar durch Jesus, hier dagegen wird sie durch den Täufer Johannes vermittelt, aus dessen Jüngerschaft die ersten Jesusjünger hervorgehen; dort ist der Schauplatz am See Genezareth in Galiläa, hier die judäische Um-

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Kiichliche Lehr- und Mahn-Schriften.

gegend des Jordan, wo Johannes taufte; dort sind die ersten Jünger die beiden gleichzeitig berufenen Brüderpaare Petrus und Andreas, Jakobus und Johannes, hier kommen zuerst Andréas und ein anderer (der namenlose Lieblingsjünger), durch Andreas erst wird Petras zu Jesu geführt, dann wird Philippus berufen und durch diesen Nathanael, der in den älteren Evangelien überhaupt nicht vorkommt.*) Da in beiden Darstellungen die Berufung als eine erstmalige und definitive erscheint, nach welcher die Berufenen in die bleibende Nachfolge Jesu «intraten, so ist es nicht möglich, beide Erzählungen auf verschiedene geschichtliche Vorgänge zu beziehen, sie widersprechen sich vielmehr gegenseitig in der Art, dass nur die eine von beiden geschichtlich sein kann. Dass aber dies nur die ältere synoptische sein kann, ist klar. Denn die johanneische Darstellung der ersten Jüngerberufung hängt auf's engste zusammen mit der Rolle, die in diesem Evangelium der Täufer Johannes als erster Zeuge von dem erschienenen Christus spielt; dass aber diese Rolle so ungeschichtlich wie möglich ist, haben wir teils schon bisher gesehen, teils werden wir es noch weiter bestätigt finden. So unwahrscheinlich es ist, dass die erstberufenen Jünger Jesu, diese Fischer vom galiläischen See, frühere Johannesschüler gewesen seien, so leicht begreiflich ist es, wie der ephesinische Verfasser zu seiner Darstellung kommen konnte. Wie wir aus ApG. 19, lff. entnehmen können, gab es in Ephesus eine Johannes-Schule, zu welcher ein Alexandriner wie Apollos vor seiner Bekehrung zum Christentum gehört hatte, in welcher also ohne Zweifel eine mit der christlichhellenistischen Theologie rivalisierende jüdisch-hellenistische Theosophie betrieben wurde. Wie nun früher Apollos aus der Johannesschule zur Christengemeinde übergetreten war, so werden ähnliche Ubertritte auch später nicht selten vorgekommen sein und die Vermutung liegt sogar nahe, dass der Verfasser unseres Evangeliums selbst einer dieser '•) Wegen der gleichen Bedeutung dieses Namens mit „ M a t t h ä u s " (Gottesgabe) mag anzunehmen sein, dass der Evangelist an diesen z u n ä c h s t dachte. Warum aber nannte er ihn nicht mit seinem herkömmlichen Namen, sondern taufte ihn um zu „Nathanael"? Wollte er vielleicht mit diesem neuen Jüngernamen auf den letztberufenen Apostel anspielen, der die wahre „Gottesgabe" für die ICirche und trotz aller judaistischen Verkennung doch „in Wahrheit ein Israelite, in dem kein Falsch ist', gewesen sei: P a u l u s ? — Eine solche mehrfacher Deutung fähige Allegorese wäre beim vierten Evangelisten nicht unmöglich.

Johanneische Schriften.

Das Evangelium nach Johannes.

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bekehrten Johannesschüler von Ephesus gewesen sein möchte. Solche Erfahrungen seiner Zeit und vielleicht seines eigenen Lebensganges dienten ihm zum Modell bei seiner Darstellung der ersten Jüngerberufungen. Daraus erklärt sich auch am einfachsten sein auffallendes Interesse für Johannes den Täufer und sein sichtliches Bestreben, diesen nicht bloss zum Vorläufer, sondern zum persönlichen Zeugen f ü r die göttliche Sendung und einzigartige Erhabenheit Christi zu machen. So zeigt sich schon hier, was uns noch öfter begegnen wird, dass den geschichtlichen Hintergrund dieses Evangeliums nicht sowohl E r innerungen aus dem Leben Jesu als vielmehr Erfahrungen aus dem Leben der Kirche des zweiten Jahrhunderts bilden. Dass das Christentum zum Judentum sich verhalte wie die Gnade und Wahrheit zum Gesetz, hatte der Evangelist bereits 1, 17 erklärt. Es drängt ihn nun, diese kardinale Uberzeugung sofort durch zwei sinnbildliche Handlungen zu veranschaulichen, in deren erster er Christum als den Spender der erquickenden Gnade, und in der zweiten als den das jüdische Scheinwesen richtenden Bringer der Wahrheit auftreten lässt. In der Erzählung ("2, 1—12) von der Verwandlung des Wassers in Wein bei der Hochzeit zu Kana wird jeder Unbefangene eine Allegorie erkennen, an deren sinniger Bedeutung man sich versündigen würde durch jeden Versuch, sie als wirklichen Vorfall durch die Künste rationalisierender Aus- und Einlegung zu erklären, womit man ja nur eine Schale von mehr als zweifelhaftem Wert retten und darüber eine wirklich kostbare Perle verlieren würde. Denn eine solche schliesst diese Allegorie in der Tat in sich, die Idee nämlich, dass Christus an die Stelle des geschmack- und kraftlosen Zeremonienwesens des Judentums (des Wassers der Reinigungskrüge) den Freudenund Kraftgeist des Evangeliums (Wein) gesetzt und durch diese himmlische Segensfülle alle irdische Not gestillt habe. Die Elemente aber zur Bildung dieser Allegorie sind nicht etwa in alttestamentlichen Wundergeschichten, sondern zunächst in evangelischen Bilderreden zu suchen: in der häufigen Vergleichung des Messiasreiches mit einem Hochzeitsmahl und besonders in den Worten, mit welchen Jesus die Zumutung des Fastens an seine Jünger zurückwies: Mk. 2, 19—22 = Luk. 5, 34—39. Dort ist die Freude der Jünger in Gegenwart Jesu mit der der Hochzeitsleute verglichen, und dann folgt jenes bedeutsame

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IV.

Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften.

Bild vom neuen Most in den alten Schläuchen, welches die Unverträglichkeit des neuen evangelischen Geistes und der alten jüdischen Formen veranschaulicht. Hier waren fast die sämtlichen Vorstellungen (Hochzeit, Freude, Mangel, alte Formen, neuer Wein) gegeben, aus welchen der hellenistische Evangelist seine Allegorie komponieren konnte.*) Auch das bei geschichtlicher Fassung bedenkliche Wort Jesu 2, 4: „Weib, was habe ich mit dir zu schaffen? Meine Stunde ist noch nicht gekommen!" verliert alles Anstössige bei der allegorischen Fassung, nach der nicht der Sohn zur Mutter, sondern der göttliche Logos-Christus zur theokratischen Gemeinde Israels spricht, sie hinweisend auf die künftige Stunde seines Todes als der Quelle alles wahren Heils, von dem die jetzige Weinspende nur das sinnliche Abbild sein soll, gemäss der alexandrinischen Grundanschauung, dass alles Vergängliche nur ein Gleichnis sei. Übrigens hat unsere Gleichnisgeschichte genaue Analogien in philonischen Gleichnisreden, worin der Logos teils mit dem himmlischen Trank der Seele, teils auch mit dem Mundschenk und Speisemeister verglichen wird, welcher der glücklichen Seele die heiligen Schalen voll wahrhafter Freude giesst, ja welcher „Wein statt Wasser spendet und die Seele mit göttlicher Trunkenheit berauscht".**) Aus der Kombination dieses Bildes mit jenem evangelischen erklärt sich die johanneische Allegorie vom KanaWunder so leicht und vollständig, dass man die Augen absichtlich verschliessen muss, um hier nicht klar zu sehen. An die Offenbarung der Gnadenfülle gegenüber dem jüdischen leeren Formwesen schliesst sich als weiteres Bild die Offenbarung der richtenden Wahrheit gegenüber dem weltlichen Pomp des Tempeldienstes (2, 12—22). Dieses Bild Hess sich aus der evangelischen Erzählung von der Tempelreinigung entnehmen, die der vierte Evangelist hierher an den Anfang des Wirkens Jesu stellte, unbekümmert darum, dass dieser Vorfall so gänzlich von seiner historisch einzig möglichen Stelle verrückt wird, da er ja, wie besonders aus *) Auch die kritische Bemerkung des Speisemeister 2, 10 über den guten u n d schlechteren "Wein ist offenbar durch die von Lukas angefügten Schlussworte vom alten und neuen W e i n (5, 39) veranlasst, freilich auch hiei in freiester Umbildung der Vorlage. **) Leg. alleg. III, 26.

De somn. II, 37.

Johanneische Schriften.

Das Evangelium nach Johannes.

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dem ältesten Evangelium klar erhellt, der entscheidende Akt war, der unmittelbar den Anlass zum Mordplan der Hierarchen gab. Wollte man aber eine zweimalige Tempelreinigung, am Anfang und wieder am Ende der Wirksamkeit Jesu annehmen, so würde man die johanneische und die synoptische Darstellung in einer Weise verknüpfen, bei welcher jeder von beiden Gewalt geschähe; denn weder ist in der johanneischen Darstellung der letzten jerusalemischen Tage irgendwo Raum für Unterbringung einer zweiten Tempelreinigung, noch auch ist in der synoptischen Darstellung eine Spur davon zu entdecken, dass diese Handlung nur die Wiederholung eines früheren gleichen Vorgangs gewesen sei. Es bleibt also nichts übrig als zuzugeben, dass die beiderseitigen Berichte sich ausschliessend zu einander verhalten. Dass aber das geschichtliche Recht auf seiten des synoptischen ist, das ist für jeden, der die Geschichte als einen Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen zu denken gewohnt ist, einleuchtend. Damit ist aber zugleich das Urteil gesprochen über den geschichtlichen Wert eines Evangeliums, dessen Verfasser den sichersten und wichtigsten Tatsachen der älteren Uberlieferung gegenüber sich solche kühne Freiheiten erlaubt. Was ihn dazu veranlasste, mag übrigens neben den oben angedeuteten Motiven auch die Lukaserzählung vom Tempelbesuch des zwölfjährigen Knaben Jesus (2, 41—52) gewesen sein, die er weder unberücksichtigt lassen noch auch sich ohne weiteres aneignen mochte, weil dort Jesus in lernender Abhängigkeit von den jüdischen Lehrern erscheint, die für den antijüdischen Logos-Christus nicht mehr passte; daher behielt er zwar von Lukas den frühen Tempelbesuch bei, gab demselben aber zum .Zweck und Inhalt die spätere Tempelreinigung*). — Das Wort vom Abbrechen und Aufrichten des Tempels (2, 19) findet sich in dieser Form in keinem unserer synoptischen Evangelien; wahrscheinlich hat •es der vierte Evangelist aus dem Hebräerevangelium, wo er auch die unrichtige Deutung auf den Tod und die Auferstehung Jesu gefunden haben mag. Der ursprüngliche Sinn des Wortes ist nur in der Version des Markus noch klar; aber weil die judenchristliche Urgemeinde von diesem Sinn desselben nichts wissen wollte, hat sie das

*) Vgl.

JAKOBSES,

Untersuchungen über das Johannesevangeliuin. S. 55.

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IV.

Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften.

antijüdische Wort teils für ein „falsches Zeugnis" erklärt, teils als Weissagung der Auferstehung Jesu gedeutet •— beides gleich willkürlich. Möglich ist übrigens, dass der vierte Evangelist, indem er diese in seiner judenchristlichen Quelle vorgefundene Deutung acceptierte, mit ihr einen zweiten und allegorischen Sinn verband, indem er unter dem „Tempel seines Leibes" zugleich den mystischen Leib' Christi nach paulinischem Sprachgebrauch, d. h. die christliche Gemeinde verstand, womit der ursprüngliche Sinn des Wortes richtig getroffen wäre. An die mit der Tempelreinigung angedeutete Verwerfung des jüdischen Tempeldienstes reiht sich nun 3, 1—21 eine Auseinandersetzung mit der jüdischen Theologie, die repräsentiert ist durch „den Lehrer Israels" Nikodemus, dessen synoptische Vorbilder der nach dem höchsten Gebot fragende Schriftgelehrte .Alk. 12, 28 und der nach dem Weg zum ewigen Leben fragende Gesetzeslehrer Luk. 10, 25 sind. Die Bede Jesu geht aus von dem der älteren Überlieferung angehörigen*) Wort von der Wiedergeburt als Bedingung der Teilnahme am Gottesreich. Der Evangelist gab aber diesem Wort von der Wiedergeburt (dvavcw^OrjVat) die eigentümliche Wendung: Geborenwerden von oben her (avtuösv), was er nachher erklärt als Geburt aus Wasser und Geist, im Gegensatz zu der natürlichen Geburt ausFleisch. Er bezeichnet also die christliche Taufe als eine neue Geburt, durch welche ein von oben stammendes Geistesleben erzeugt wird an der Stelle des von der Erde stammenden Fleischeslebens. Wegen dieses himmlischen Ursprungs hat das Geistesleben des Christen etwas Geheimnisvolles, Unergründliches, wie das Wehen des Windes, dessen Ursprung wir nicht wissen. Nur der Menschensohn, der vom Himmel herab und in den Himmel emporgestiegen und im Himmel heimisch ist, vermag das Himmlische kundzutun. Wer an ihn glaubt, hat ewiges Leben. Ebendazu hat Gottes Liebe ihn der Welt geschenkt,, dass er die Welt rette, nicht aber dass er sie richte. Der Glaubende wird nicht gerichtet, der Nichtglaubende ist schon gerichtet: in seinem A ) Es findet sich bei Justin (Apol. I, 61) und den Pseudoklementinen in der mit Matth. 18, 3 verwandten Form: ldv ¡J.T) DVAYEVV7)9RITE, 06 (A7J daitörpiz EIS TTJV ßaotXeiav x i v oipavüiv. Wahrscheinlich war die gemeinsame Quelle das auch sonst von Justin und Johannes benutzte Hebräerevangelium.

Johanneische Schriften.

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Hass gegen das rettende Licht beweist er, dass sein Wesen und Tun der Finsternis angehört. — Dass diese Rede, deren anfängliche Gesprächsform schliesslich ganz fallen gelassen wird, nicht von Jesus herstammt, versteht sich von selbst; der geschichtliche Jesus hat nie von seinem Herabgestiegensein vom Himmel und gar von seinem Aufgestiegen sein in den Himmel geredet; indem der Evangelist dieses nur auf die Himmelfahrtssage bezügliche Wort dem irdischen Jesus in Mund legte, beweist er seine grossartige Unbekümmertheit um historische Anachronismen. Es ist die hellenistische, um den Gegensatz der unteren und oberen Welt und deren Vermittlung durch Christum sich drehende Theologie, die der Evangelist hier durch Jesus wie nachher durch den Täufer Johannes lehren lässt. Die Grundlage zu diesen Gedanken findet sich teils in der paulinischen Theologie, besonders in der klassischen Stelle über den Geist aus Gott und die Geistlosigkeit des natürlichen Menschen: I Kor. 2, teils aber auch in der alexandrinischen Religionsphilosophie. „Wrer hat deinen Rat erkannt, wenn du ihm nicht deinen heiligen Geist aus der Höhe sandtest?" sagte der Verfasser des Weisheitsbuchs 9, 17. Und bei Philo*) heisst es: „Kann ein nach dem Sinnlichen Strebender die göttlichen Dinge ererben? Dessen wird nur gewürdigt der von oben her eingehauchte (xaTairvioaÖElc avu>öev), des göttlichen und himmlischen Anteils teilhaftig gewordene reinste Geist. Nach oben und unten (a'vto xai xct-uj) erstrecken sich durch die ganze Seele die Logoskräfte (Xöjoi) Gottes: wenn sie hinaufgehen, die Seele mit emporziehend und vom Sterblichen losmachend, wenn sie herabgehen, sie nicht niederwerfend — denn weder Gott noch der göttliche Logos ist Ursache der Strafe — sondern sich herablassend aus Liebe und Erbarmen mit unserem Geschlecht, der Hilfe und Bundesgenossenschaft wegen, um auch der noch im Strome der Leiblichkeit dahintreibenden Seele Rettung und Belebung zu bringen." Diese letztere Stelle besonders, in welcher Philo das Auf- und Absteigen der Engel auf der Himmelsleiter im Traumgesicht Jakobs auf den Logos deutet, (vgl. Joh. 1, 51) ist mit Joh. 3, 13ff. auffallend verwandt: beiderseits ein Hinauf- und Herabsteigen des Logos, beiderseits Verneinung der richtenden Absicht •*) Quis ler. div. her. 13. 38 (11.482. 498). P f l e i d e r e r , Urchristentum.

2. Aufl.

Bd. II.

De somn. I, 23 (M. 643). 23

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Gottes und des Logos (Christus) und Betonung der Liebe zum Menschengeschlecht als Motiv, der Rettung und Belebung der Seelen als Wirkung des Herabsteigens des göttlichen Helfers; zwar bleibt dabei der Unterschied zwischen dem Philosophen und dem Evangelisten, dass jener von der allgemeinen Wirksamkeit des göttlichen Logos in den auf's Göttliche gerichteten Menschenseelen, dieser von der besonderen Heilandswirkung des Gottessohnes Jesus zu Gunsten der christlichen Gläubigen redet, aber dieser selbstverständliche Unterschied kann doch die wesentliche Ähnlichkeit des Grundgedankens nicht aufheben. Im folgenden (3, 22—36) lässt der Evangelist den Täufer Johannes noch einmal auftreten, um feierlich Zeugnis abzulegen für die einzigartige Erhabenheit Christi, der, weil von oben kommend, über alle ist, denn während jeder irdische Mensch, also auch Johannes, nur vom irdischen beschränkten Gesichtskreis redet, so redet dagegen der von Gott gesandte, von oben stammende Christus die Worte Gottes, denn sein Zeugnis stammt aus seinem himmlischen Gesehenund Gehörthaben beim Vater und aus dem vollkommenen Geistesbesitz, wie er nur dem Sohne zukommt, den der Vater liebt, und dem er alles, die ganze Ausführung des göttlichen Heilsratschlusses, in die Hand gegeben hat. Darum hängt am Glauben oder Unglauben ihm gegenüber Leben oder Tod. — Auch dieses Johanneszeugnis erweist sich schon durch die Gleichartigkeit der christologischen Gedanken mit denen der eben vorhergegangenen Christusrede als freie Komposition des Evangelisten*), der durch den Mund des Täufers selbst (V. 28—30) die göttliche Bestimmung des Christentums zum Sieg über alle früheren Religionsformen, insbesondere auch über die noch immer mit der Christusgemeinde rivalisierende ephesinische Johannesschule verkünden lässt. Die Bemerkungen über das Taufen des Johannes *•) Vgl. REVILLE, Le quatrième EV. S. 144: „Dieser Abschnitt ist gewiss einer der seltsamsten des 4. Evangel., und einer von denen, wo der Verfasser am freiesten seiner erstaunlichen Gleicbgiltigkeit gegen die positive geschichtliche Wirklichkeit den Lauf gelassen hat. Mehr als je redet der Täufer Johannes die Sprache des Evangelisten, entgegen allem, was man von ihm weiss und aller Wahrscheinlichkeit. Er fahrt fort zu taufen, obgleich er bereits die Ankunft des inkarnierten Logos in der Person Jesu und die Ersetzung der Wassertaufe durch die Geistestaufe verkündigt hat; die Entrüstung seiner Schüler bei der Wahrnehmung, dass

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zu Anon nahe bei Salem*) wollen dem feierlichen Schlusswort des Täufers einen geschichtlichen Hintergrund geben, dessen Ungeschicklichkeit sich aber durch mehrfache Spuren erweist. Dass Jesus selbst gleichzeitig mit Johannes getauft habe (3, 22), ist gegen alle sonstige Überlieferung und wird deshalb auch vom Evangelisten selbst (4, 2) wieder zurückgenommen und auf die Jünger Jesu beschränkt, die •doch ebenfalls nicht schon zu Lebzeiten Jesu getauft haben können, d a der Taufbefehl erst vom Auferstandenen ihnen erteilt wird; es ist also offenbar die spätere Gleichzeitigkeit und Rivalität der beiden Taufgemeiuden auf ihre Anfänger und Stifter zurückgeführt, ganz in der Weise des Evangelisten, das k i r c h l i c h e Tun und Glauben s e i n e r Zeit in das Leben Jesu zurückzutragen oder vielmehr unter dieser durchsichtigen Symbolik zu beschreiben. Daraus erklärt sich auch der auffallende Widerspruch zwischen V. 2G: „Siehe dieser •(Christus) tauft und alle kommen zu ihm" und V. 32: „Sein Zeugnis n i m m t niemand a n " : in jenem Wort spricht der Evangelist sein Bewusstsein von der siegreichen Überlegenheit des Christentums über die Johannesschule aus; in diesem gibt er seiner pessimistischen Ansicht von der Unempfänglichkeit der Welt im grossen und ganzen für die Wahrheit des Christentums Ausdruck. Dass übrigens diese Unempfänglichkeit bei der heidnischen AVeit doch nicht ebenso gross sei wie bei der jüdischen, zeigt gleich das folgende Bild vom Gespräch Jesu mit der Samariterin und dessen Folgen: Kp. 4. Dass die samaritische Frau nichts anderes sein soll als ein Typus der aus Heidentum und Judentum gemischten samaritischen Religion, -ergibt sich deutlich aus 4, 18: „Fünf Männer hast du gehabt, und den du jetzt hast, der ist nicht dein Mann". Der Schlüssel nämlich Jesus auch taufe, setzt voraus, dass sie noch nichts wissen von der wahren Natur Jesu, wie sie doch der Taufer selbst verkündigt hat! Sodann tauft Jesus selbst seine Schüler mit Wasser, während er nach der göttlichen Offenbarung gesandt ist, um mit Geist zu taufen. Allerdings einige Zeilen später findet der Evangelist •dies bedenklich, erklärt daher, dass diese Taufe nicht von Jesus selbst, sondern -von seinen Jüngern vollzogen worden sei: Finde sich, wer kann, in diesen unentwirrbaren Widersprüchen zurecht!" *) Diese Ortsnamen lassen sich geographisch nicht nachweisen, sind also höchst wahrscheinlich allegorisch zu verstehen: Änon (Brunnen) verhält sich zu Salem (Heil) wie die Wassertaufe Johannis zur Geistestaufe Christi. 23*

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zur Deutung dieser Allegorie liegt, wie schon H E N G S T E N B E R G ganz richtig gesehen hat, in der Angabe von II Kön. 17, 24—42, dass die Bevölkerung von Samarien sich aus fünf Völkerschaften zusammensetzte, deren jede neben der gemeinsamen Verehrung Jahves auch eine besondere heidnische Gottheit in den Lokalkulten der Landesheiligtümer verehrt habe, womit auch die Notiz des Josephus (Ant. 9, 14, 3) übereinstimmt, dass fünf Völkerschaften je ihren eigenen Gott nach Samarien gebracht haben. Hierauf ist offenbar in 4, 18 angespielt: Die fünf früheren Männer sind eine Allegorie des früher in Samarien überwiegenden heidnischen Kultus, der jetzige unrechte Mann ist eine Allegorie des jetzt herrschenden unechten und illegitimen jüdischen Kultus, der in den Augen der Juden kaum besser war als das frühere Heidentum der Samariter. Nur bei dieser allegorischen Deutung auf die Religionsverhältnisse Samariens haben die Worte einen verständlichen Sinn und passen gut in den Zusammenhang, während bei der eigentlichen Deutung auf die Familienverhältnisse einer einzelnen Frau,, worauf die Verteidiger der Geschichtlichkeit dieser Unterredung bestehen zu müssen glauben, ein Sinn und Zusammenhang auch durch die verzweifeltsten exegetischen Verdrehungen sich nicht herstellen lässt*). Wie nun schon Lukas die Samariter zu Vertretern des Heidentums gemacht hatte, so lässt in seinen Fusstapfen der vierte Evangelist durch die samaritische Frau zunächst die halbheidnische samaritische Religion, weiterhin aber das Heidentum überhaupt repräsentiert werden. Die Frage der Samariterin, ob die Gottesverehrung der Samariter auf dem Berg Garizim oder die der Juden in Jerusalem die richtige sei, ") Vgl. REVILLE, a. a. 0 . S. 149: „Wörtlich genommen ist diese Szene so absurd wie die von der Hochzeit zu Kana. Jesus redete nicht in Rätseln oder in philosophischer Sprache zu den schlichten Frauen, denen er die Liebe des himmlischen Vaters -und das Gottesreich offenbarte. Dieser Dialog ist einfach zusammenhanglos, wenn man ihn für die Wiedergabe einer wirklichen Unterredung hält. Er erhält nur Sinn, wenn man seine symbolische Bedeutung erkannt hat. Niemand bestreitet, dass das Wasser, von dem Jesus redet, nur ein Symbol sei; warum sollte man es schwerer finden anzuerkennen, dass die Samariterin und ihre fünf Männer ebenfalls Allegorien sind? Anzunehmen, dass Jesus beim ersten Anblick dieser unbekannten Frau gewusst habe, dass sie fünfmal verheiratet gewesen sei, das heisst ihm reine Magie zuschreiben. Ist hingegen die Frau, die Wasser vom Brunnen Jakobs schöpft, die Personifikation des samaritischen Volks, so erklärt sich alles auf's einfachste."

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schliesst also eigentlich die zwischen Heiden und Juden schwebende Streitfrage über die Vorzüglichkeit ihrer beiderseitigen Religion in sich. Die Lösung dieser Frage lässt dann der Evangelist durch Christum dahin gegeben werden, dass zwar der Vorzug der jüdischen Religion anerkannt wird, weil ihr das den Heiden fehlende Wissen um Gott zukomme und daher auch aus ihr das Heil hervorgehe, dass übrigens doch beide, Judentum und Heidentum, für gleichsehr überwundene Standpunkte erklärt werden; an die Stelle ihres räumlich und sinnlich beschränkten Gottesdienstes werde treten und sei schon getreten die Anbetung des Vaters im Geist und in der Wahrheit. Wie vorher das Christentum als die Gnade und Wahrheit zum jüdischen Gesetz in Gegensatz gestellt worden war, so wird es nun hier als die über die ganze vorchristliche Religionsstufe erhabene Religion der Wahrheit schlechthin bezeichnet, weil es die in der Innerlichkeit des Geistes sich vollziehende und darum dem Wesen Gottes allein entsprechende geistige Religion ist. Diese Vergeistigung der Gottesidee, diese Entbindung derselben von Volksschranken und sinnlichen Kultusformen, diese Verallgemeinerung derselben zum menschheitlichen Gemeingut, diese Vertiefung der Religion zu einem rein sittlichen Verhältnis von Geist zu Geist — das war die durch's Christentum gezeitigte und geerntete Frucht des Hellenismus. Wie viel diesem das Christentum zu verdanken hat, vermag man zu ermessen, wenn man die Weite des Abstands erwägt, welcher die Joh. 4, 24 gegebene Auffassung der christlichen Religion trennt vom Glauben der Urgemeinde an eine Neuordnung der irdischen Dinge im jüdischen Volk durch den wiederkommenden Messias Jesus oder auch von dem paulinischen Gedanken einer Erlösung vom Gesetz durch das Sühnemittel des Christustodes! Wer aber dies erwägt, wird sich auch der Einsicht nicht verschliessen können, dass das Christentum nicht bloss ein einfaches Gewächs Palästinas war, sondern dass, wie der Evangelist treffend sagt (4, 35), die Länder allenthalben schon reif zur Ernte waren und nur der Schnitter warteten, welche die Saaten, an welchen die Jahrhunderte gearbeitet hatten, als reife Ernte einheimsen durften. Diesen mächtigen Erfolg der christlichen Mission unter der Heidenwelt*) hat der Evangelist in ' ) Vgl. REYILLE a. a. 0 . S. 153: „Der Verfasser kümmert sich so wenig um die wirkliche Geschichte,

dass er Jesus in der Zeitform der Vergangenheit sagen

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IV.

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dem auf die Predigt des Wortes allein begründeten Überzeugungsvollea Glauben der Samariter an den „Heiland der Welt" (nicht bloss Israels) angedeutet (V. 41 f.). Aber auch bei den Galiläern fand Jesus (V. 45) freundliche Aufnahme. Wenn nun der Evangelist Jesum darum von Judäa nach Galiläa reisen lässt, weil ein Prophet in seiner eigenen Heimat keine Ehre finde (4, 3. 44) so kann er unter der Heimat Jesu offenbar nicht Galiläa, sondern nur Judäa verstanden haben, wie denn auch wirklich in seiner Darstellung die galiläischen Taten und Reden Jesu nur wie Episoden zu der weit überwiegenden judäischen Wirksamkeit sich zu verhalten scheinen. Dass der geschichtliche Tatbestand damit völlig bei seite gesetzt und einem dogmatischen Postulat des Evangelisten geopfert ist, leuchtet von selbst ein. — Die folgende Erzählung von der Heilang des Sohnes eines königlichen Beamten in Kapernaum ist eine freie Variation der synoptischen Erzählung von der Heilung des Knechts des Hauptmanns von Kapernaum Luk. 7, 1 ff. = Mt. 8, 5 ff. Die Pointe ist auch bei der johanneischen Erzählung wesentlich dieselbe wie bei der synoptischen: den heidnischen Glauben auf's Wort hin gegenüber der jüdischen Wundersucht in's Licht zu stellen. Um diesen Gegensatz zu markieren, lässt Johannes Jesum zunächst einen Tadel gegen den jüdischen Wunderglauben aussprechen (V. 48), und um dieses Tadelswort zu motivieren, lässt er den Bittenden nicht schon von Anfang an den vollen Glauben an das fernwirkende Heilwort Jesu aussprechen, sondern dieser Glaube entspringt erst aus dem vernommenen Wort der Yerheissung (V. 50), wie Paulus sagte: der Glaube kommt aus der Verkündigung. Dem ganzen Glauben der Samariter und dem halben Glauben der Galiläer stellt nun der Evangelist in Kp. 5 den ganzen Unglauben der Juden zur Seite, für welche das Lebenswort Christi zum Gericht ausschlägt. Die Veranlassung bildet die Heilung des 38jährigen lásst: ich habe euch gesandt, ihr habt gearbeitet (V. 38). Man beachte, dass die Apostel noch keine Missionsarbeit getrieben haben und dass wir erst am Anfang der "Wirksamkeit Jesu stehen! Nirgends zeigt sich besser, wie der Verfasser in den Mund Jesu seine eigenen Reflexionen und die Sprache seiner eigenen Zeit legt. Was Jesus hier sagt, bezieht sich auf die Missionare des Evangeliums, die auf die Zwölfe und auf Paulus folgten".

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Kranken am Teich Bethesda, dessen Vorbilder der synoptische Gichtbrüchige Mk. 2, 1—11 und der von Petrus geheilte Lahme ApG. 3, 1—10 sind. Aber Johannes hat den einfachen Kranken jener Erzählungen durch einige allegorische Züge zu einem Sinnbild des kranken Judentums überhaupt verwandelt. Darauf weisen die 38 Jahre der Krankheit, die an die 38 Jahre der Wüstenwanderung Israels erinnern, in welchen schon die jüdische Theologie eine Allegorie der 38 Jahrhunderte, während welcher die Menschheit auf das Kommen des Messias warten sollte, gefunden hatte. Allegorisch ist auch der Ort der Handlung zu verstehen: Bethesda mit den fünf Säulenhallen ist die „Gnadenstätte", welche das kranke Judenvolk zwar in seiner gesetzlichen Religion (den fünf Büchern des Gesetzes und den fünf Räumen des Tempels) gesucht, aber bisher nie gefunden hatte, bis in dem Heilandswort die wahre Gnadenquelle sich auftat. Aber eben diese verwarf die Mehrheit des am Gesetz hängenden jüdischen Volkes so leidenschaftlich, dass sie sogar den Heiland, der allein ihre Krankheit heilen konnte, zu töten suchten, weil er solches am Sabbath tat (V. 16). Dieses Motiv ist aus den bekannten synoptischen Erzählungen von Sabbath-Heilungen entnommen, an welche sich auch dort gewöhnlich eine Streitrede anknüpfte. Aber wie ganz verschieden von jenen ist die nun folgende johanneische Rede! Dort bewegt sich die Apologie Jesu in den einfachen Wahrheiten des sittlichen Bewusstseins, hier in theologischen und christologischen Reflexionen. Gleich der Anfang der Rede setzt der jüdischen Ansicht, dass die Sabbathruhe geboten sei, weil Gott am siebenten Tag geruht habe, die philonische Überzeugung entgegen, dass Gott nie zu schaffen aufgehört habe, sondern noch immer fortfahre zu wirken, worin der Sohn Gottes seinem Vorbild folge*). Das Ärgernis der Juden daran, dass Christus sich selbst Gott gleichstelle, gibt dann Anlass zur näheren Auseinandersetzung seines Verhältnisses zum Vater, das in der vollen Gemeinschaft und Gleichheit des Wirkens beider bei völliger Abhängigkeit des Sohnes vom Vater besteht. Die letztere wird hier und öfters sehr entschieden betont; dadurch weiss der hellenistische Theolog die ihm unverrückt fest*) Vgl. zu 5, 17 P h i l o , leg. alleg. I, 3: Ü A T K T A T oùUr.oxs t.oHLV 6 8 E Ò ; , á)X iúaitEp i'òiov TÒ xaíeiv irupò; v.aì j^iovo; TÒ t M ^ E I V , outto -/.ai 9 E O O TÒ Ttoieìv, % A L 710X6 ft (jLÒiXXov, Ó'OIO -/.ai T O Ì ; á'XXois foaaiv áf¡-/r¡ TOÚ òpàv èaxiv

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stehende monotheistische Überzeugung mit der gehobenen Anschauung von Christi gottgleicher Würde zu vereinigen. Als Inhalt aber des göttlichen Wirkens, in welchem der Sohn den Vater nachahmt, wird teils das Beleben bezeichnet, und zwar in dem doppelten Sinn: als Weckung des höheren religiösen Lebens, das der Gläubige als solcher schon besitzt und damit über Gericht und Tod erhaben ist, und als Auferweckung der (eigentlich) Toten bei der künftigen allgemeinen Auferstehung; teils das Vollziehen des Gerichts, dessen Vollmacht dem Menschensohne übergeben ist, der gerecht richtet gemäss dem, was er von Gott hört, den Willen seines Senders befolgend. Dieser Satz steht scheinbar im Widerspruch mit dem früheren (3, 17), dass Gott seinen Sohn gesandt habe, nicht um die Welt zu richten, sondern um sie zu retten. Aber dieser Widerspruch findet seine Lösung in dem, was ebendort weiter folgt. Der positive Zweck der Sendung Christi ist nur das Retten, aber dieser Zweck verwirklicht sich nicht an allen, weil nicht alle an den Heiland glauben. Die Nichtglaubenden sind ebendamit schon gerichtet, dass sie das einzige Heilsmittel verschmähen. Und sie tun dies, weil sie von Haus aus die Finsternis lieber haben als das Licht (3, 19). Das „Gericht" besteht hiernach nicht eigentlich in einem Akt Christi, sondern in dem unvermeidlichen Erfolg seines Heilandswirkens, dass die Einen sich dadurch retten lassen, die Anderen sich selbst von der Rettung ausschliessen. Das Gericht ist also die durch Christus hervorgerufene „Krisis" oder Scheidung zwischen den Kindern des Lichts und der Finsternis — eine echt gnostische Anschauung, die besonders den Angelpunkt des basilidianischen Systems bildet. Diese in 3, 17—21 klar ausgesprochene Anschauung hat aber der Evangelist in 5, 27 ff. mit der traditionellen Erwartung eines künftigen auf die Auferstehung folgenden Gerichts verknüpft, entsprechend seiner stehenden Methode, zwischen den gnostischen Ideen und dem Gemeindeglauben zu vermitteln. Den Schluss der Rede bildet eine Berufung auf das doppelte Zeugnis des Vaters für den Sohn: durch die Werke, welche er dem Sohn zu vollbringen gegeben hat, und durch die heiligen Schriften, welche von Christo zeugen, weshalb der jüdische Unglaube an Moses selbst seinen Ankläger hat. Das Thema von Christus als dem Lebensmittler wird auch noch

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in Kp. 6 fortgesetzt und zwar hier anknüpfend an die Erzählung von der wunderbaren Speisung, die im engen Anschluss an den Markusbericht gegeben wird. Und wie dort an die Wunderspeisung das Wunder des Wandeins Jesu auf dem Meer sich anschliesst, so folgt ihm auch hierin der vierte Evangelist, wobei er das Wunder noch zu steigern scheint, indem er eine wunderbare Beschleunigung der Fahrt der Jünger andeutet (V. 21). Aber so wichtig ihm die Wundergeschichte als solche schon ist, wie er durch die hier und sonst ausdrücklich angestellte Konstatierung des Wunders andeutet, noch wichtiger ist ihm doch die darin symbolisierte Idee, welche er sofort in längerer Rede Christum entwickeln lässt: das wahre Wunderbrot vom Himmel ist Christus selbst*), der (im Abendmahl) sein Fleisch und Blut als das rechte Lebensmittel mitteilt, durch dessen Genuss der Gläubige in die engste Verbindung mit Christo tritt und seines ewigen Lebens teilhaftig wird. Dass vom Abendmahl hier die Rede sei, kann ebensowenig bezweifelt werden, wie die Anspielung auf die Taufe in 3, 6. Man kann dieser Beziehung nicht dadurch ausweichen, dass man die Worte vom Essen und Trinken des Fleisches und Blutes des Menschensohnes V. 53 ff. für eine blosse symbolische Umschreibung des Glaubens an die Person Jesu erklärt. Ausgegangen ist die Rede allerdings von dem Gedanken, dass der vom Himmel gekommene Christus sei „das Brot Gottes, Brot des Lebens, lebendige Brot, das der Welt Leben gibt", d. h. dass Christi P e r s o n die Verkörperung des göttlichen Lebens und das Mittel seiner Mitteilung an die sei, die an ihn glauben. Aber über diesen allgemeinen Gedanken geht nun die Rede mit V. 51 noch einen bedeutsamen Schritt hinaus zur Beschreibung des besonderen Mittels mystischer Lebensaneignung: „Und zwar ist das Brot, das ich geben werde für das Leben der Welt (als mystisches Lebensmittel oder Seelenspeise) mein F l e i s c h . . . . Wahrlich ich sage euch, es sei denn, dass ihr esset das Fleisch des Menschensohns und trinket sein Blut, so habt ihr nicht Leben in euch. Wer verzehrt mein Fleisch und trinkt mein Blut, der hat ewiges Leben, und ich werde ihn auferwecken am jüngsten Tage. Denn mein Fleich ist eine ") Auch von P h i l o (Quis rer. div. her. 15 und leg. alleg. III, 59) wird das Manna allegorisch gedeutet auf den göttlichen Logos, der die himmlische und unvergängliche Nahrung der Seele heisst.

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wahrhaftige Speise und mein Blut ein wahrhaftiger Trank (d. h. ein Mittel wesenhafter, dauernder, nicht bloss irdisch-vergänglicher Lebenserhaltung). Wie mich der lebendige Vater gesandt hat und ich lebfr um des Vaters willen, so auch wird, wer mich verzehrt, leben um meinetwillen" (V. 51—58). Es ist unmöglich, diese massiv realistische Redeweise als ein blosses Symbol für die geistliche Aneignung Christi durch den Glauben zu verstehen; sie wird nur verständlich als eine Beschreibung des mystischen Genusses beim Abendmahl, das hierbei wie bei Ignazius als ein „Arzneimittel zur Unsterblichkeit", als eine das jenseitige Leben bewirkende und verbürgende Wunderspeise vorgestellt ist. Dass diese Vorstellungsweise mit der sonstigen Geistigkeit der johanneischen Theologie in einem gewissen Kontrast stehe, ist freilich nicht zu leugnen; aber daraus zu folgern, dass dieser ganze Passus V. 51—59 eine spätere Interpolation sei, wäre doch ein übereilter Schluss. Wir dürfen nicht vergessen, dass unser Evangelist nicht bloss hellenistischer, sondern kirchlicher Theologe war, der durch seine Gnosis den Glauben und Kultus der Gemeinde nicht, wie dieHäretiker, entwerten, sondern gerade verteidigen und begründen wollte; die Voranstellung des allgemeinen Glaubenssatzes, dass Christi Person das durch den Glauben anzueignende Lebensbrot sei, diente ihm gerade dazu, um daraus die Notwendigkeit und Wirklichkeit des mystischen Genusses des Fleisches und Blutes des Menschensohnes, d. h. des zum Himmel erhöhten Christus, abzuleiten. Ob diese Ableitung für unsere Denkweise gelungen sei, darum kann es sich hier nicht handeln; gewiss ist, dass sie im Sinn und Geist seiner ganzen Zeit war, für diees nun einmal keine Religion gab ohne Mysterien, d. h. ohne sinnlichübersinnliche Medien der Heilsaneignung und Lebensverbürgung. Die absichtlich forcierte Betonung der Realität des Genusses von Fleisch und Blut Christi hat übrigens eine unverkennbare polemische Spitze gegen den gnostischen Doketismus, der die Realität des Leibes Christi überhaupt und darum auch beim Abendmahl verneinte; dieser extreme Spiritualismus rief naturgemäss bei den kirchlichen Lehrern die Reaktion eines ebenso extremen Realismus hervor, der sich mit der Geistigkeit einer hellenistischen Theologie nicht völlig ausgleichen liess. Die Inkonsequenz in diesem und ähnlichen Fällen (vgl. S. 360) ist also für den hellenistisch-antignostischen Standpunkt des Evangelisten

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höchst charakteristisch.*) Der weitere Einwand, dass Jesus doch nicht schon vor den Juden in Kapernaum über das Abendmahl habe reden können, das doch erst am letzten Abend vor seinem Tode eingesetzt worden, ist zwar an sich ganz richtig, kann aber für die Deutung der johanneischen Rede darum gar nichts beweisen, weil wir schon wiederholt gesehen haben und ferner sehen werden, wie wenig der Evangelist bei seinen Reden sich um die geschichtliche Möglichkeit der Situation, in welcher er sie gehalten werden lässt, zu kümmern pflegte. Sachlich ist übrigens die Anknüpfung der Rede über das Abendmahl an die Wunderspeisung insofern ganz passend, als j a diese Erzählung in den Liebesmahlen der Urgemeinde, mit welchen das Abendmahl ursprünglich eins war, ihren Entstehungsgrund gehabt hat. — Wie das Abendmahl das lebenspendende Mysterium nur ist für die Jüngergemeinde der Gläubigen, den draussen Stehenden aber unverständlich und sogar anstössig ist — haben sich doch gerade an die christliche Mysterienfeier die schlimmsten Anklagen der Gegner geheftet — so war nach Johannes der Anstoss der Juden an der Abendsmahlsrede Grund des Abfalls vieler halben Jünger, für die treuen Jünger aber Anlass zum Bekenntnis ihres Glaubens an den Heiligen Gottes (den Messias), der Worte des ewigen Lebens hat. W i r haben hier das johanneische Pendant des synoptischen Petrusbekenntnisses, welches den Höhepunkt und Abschluss der galiläischen Periode der evangelischen Geschichte bildet. Wie nun bei den Synoptikern Jesus nach dem Petrusbekenntnis seinen Blick nach Jerusalem zu richten und bald auch die Reise dahin anzutreten beginnt, so folgt ihnen hierin auch der vierte Evangelist, indem er von Kp. 7 an seine weitere Geschichte ausschliesslich nach Jerusalem und Umgegend verlegt. Die Reise dahin leitet er übrigens durch die auffallende Bemerkung ein, Jesus sei darauf in Galiläa gewandelt, denn er habe nicht in Judäa wandeln wollen, weil die Juden ihn zu töten suchten, darum sei er auch der Aufforderung seiner ungläubigen Brüder, nach Judäa zu reisen, nicht unmittelbar nachgekommen, sondern erst nach ihrer Abreise sei er im verborgenen zum Fest nach Jerusalem hinaufgezogen. Was den Evangelisten zu *) Vgl.

IIOLTZMANX,

Kommentar S. 110 f.

REVILLE,

a. a. 0 . S. 182f.

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dieser eigentümlichen Darstellung eines Versteckspielens mit dem zuerst nicht-reisen-wollen und dann doch-reisen, aber im verborgenen, veranlasst haben mag, lässt sich erraten, wenn wir auf seine synoptischen Vorlagen blicken. Mk. 9, 30 heisst es, Jesus sei durch Galiläa vorübergezogen und habe unerkannt bleiben wollen, weil er nämlich schon das jerusalemische Ziel ins Auge gefasst hatte, wie wir nach Luk. 9, 51 anzunehmen haben. Johannes hat nun so kombiniert: aus dem Markus'schen „Durch Galiläa vorüberziehen" macht er ein Wandeln in Galiläa, aus der Lukas'schen Zeitbestimmung (9, 51): „als die Tage seiner Erhebung erfüllt wurden, nahm er seine Richtung straks auf Jerusalem" entnimmt er einesteils den Grund der Weigerung der augenblicklichen Reise: „meine Zeit ist noch nicht da" (V. 6), andernteils aber dann doch die wirkliche Reise; und um beides auszugleichen, greift er auf die Angabe des Markus, Jesus habe unerkannt bleiben wollen, zurück und macht daraus das Reisen im verborgenen (V. 10). Die nun folgenden und diesen zweiten Teil des Evangeliums ausfüllenden (Kapp. 7—12) Streitreden gegen die Juden lassen sich als das johanneische Pendant der von den Synoptikern berichteten jerusalemischen Streitreden betrachten, von welchen sie freilich nach Inhalt und Form sich weit genug entfernen. Gleichwohl ist unverkennbar, dass unser Evangelist hier die von den Synoptikern geschilderte Situation in den ersten Tagen der jerusalemischen Osterwoche im Auge hat. Nach Luk. 20, 1 wurde Jesus von den Hierarchen wegen seines Lehrens interpelliert mit der Frage, aus welcher Vollmacht er das tue, oder wer ihm die Vollmacht gegeben habe? Ebenso fragen nach Joh. 7, 15 die Juden verwundert, wie Jesus, ohne gelehrter Rabbi zu sein, die Schriften kenne? und er antwortet ihnen: Meine Lehre ist nicht mein, sondern des, der mich gesandt hat. Bei Lukas heisst es ferner mehrmals (19, 47 f. 20, 19), dass die Hierarchen Jesum umzubringen, sich seiner Person zu bemächtigen suchten, aber es nicht auszuführen wagten aus Furcht vor dem ihm anhängenden Volk. Ebenso sagt Johannes mehrmals (7, 19. 25. 32. 44if.), dass die Juden Jesum töten wollten, und dass die Hierarchen ihre Diener zu seiner Verhaftung sandten, dass aber niemand sich an ihn gewagt habe, weil der Eindruck seiner Rede überwältigend gewesen sei. Dass diese Angabe des Johannes aus seiner synoptischen Vorlage entnommen ist, erhellt schon daraus

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mit Sicherheit, weil zwar bei jener die Mordpläne der Hierarchen natürlich motiviert sind, in der johanneischen Darstellung aber noch nichts erzählt ist, was als zureichender Grund hierfür gelten könnte; denn die Tempelreinigung ist ja hier durch ihre Vorrückung an den Anfang des Auftretens Jesu um ihre geschichtliche Bedeutung für den Gang der Dinge gekommen und die Sabbathheilung, auf welche 7, 23 die Todfeindschaft der Juden zurückgeführt wird, kann zur Motivierung derselben um so weniger genügen, als auch sie nach Joh. 5, lff. in einen früheren Besuch Jesu in Jerusalem fiel. — Unter den Luk. 20 = Mk. 12 berichteten Reden Jesu betrifft eine die Frage nach der Davidssohnschaft des Messias; auch diese ist von Johannes berücksichtigt in der Weise, dass er einige Juden gegen die Behauptung anderer, Jesus sei der Messias, den Einwand erheben lässt, der Messias müsse ja aus Davids Samen und aus der Davidsstadt Bethlehem kommen, also könne der Galiläer nicht der Messias sein (V. 41 f.). — Unmittelbar vor dieser Rede vom Davidssohn hatte Markus von „einem der Schriftgelehrten" berichtet, welcher Jesum nach dem höchsten Gebot fragte und seiner Antwort freudig beistimmte, wofür er von Jesu das Lob erhielt, dass er nicht ferne sei vom Reich Gottes (12, 28—34). Ebenso lässt Johannes 7, 50 „einen von ihnen" (den Hierarchen und Pharisäern) als Fürsprecher Jesu gegen seine Standesgenossen auftreten in der Person des Nikodemus, den er schon Kp. 3 als Typus der seltenen christusfreundlichen Lehrer Israels eingeführt hatte. — Endlich erzählen die Synoptiker in demselben Zusammenhang, dass die Hierarchen Jesu eine Falle zu stellen suchten durch die verfängliche Frage nach dem Recht des Zinsgroschens, dass sie aber durch seine Antwort beschämt verstummten. Auch hierzu findet sich eine Parallele im vierten Evangelium in Form einer anderen Erzählung, die der Evangelist, wie aus einer Notiz des Eusebius zu schliessen ist, dem Hebräerevangelium entnommen hat: die Perikope von der Ehebrecherin 8, 3—11. Dass die Pointe dieser Erzählung dieselbe ist, wie bei der Frage um den Zinsgroschen, die verfängliche Absicht nämlich, Jesum in Konflikt entweder mit dem gesetzlichen Volksbewusstsein, welches die Todesstrafe für Ehebruch forderte, oder mit der römischen Obrigkeit, welche das Recht der Kriminaljustiz der Hierarchie genommen hatte, zu versetzen, das ist 8, 6 (vgl. Luk. 20, 20) deutlich

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genug sagt. Ebenso ist der Erfolg beiderseits ganz derselbe: wie Luk. 20, 26 die Fragesteller bei der überraschenden Antwort Jesu verstummten, so ziehen sich die Ankläger auch Joh. 8, 9 bei der Antwort Jesu in stummer Verlegenheit zurück. Neben dieser eigentlichen Pointe der Erzählung ist die verzeihende Milde Jesu gegenüber der Sünderin «in untergeordnetes Moment, welches übrigens seine nächste Analogie in der bekannten Lukaserzählung von der reuigen Sünderin (7, 36—50) hat. Nehmen wir zu dieser inneren Verwandtschaft der Erzählung von der Ehebrecherin mit den entsprechenden synoptischen Perikopen noch hinzu, dass auch die einleitende Bemerkung 8, l f . eine fast wörtlich genaue Übereinstimmung mit der Luk. 21, 37 f. geschilderten Situation zeigt, so wird sich nicht verkennen lassen, dass die innere W a h r scheinlichkeit für die Echtheit dieser Perikope im Johannesevangelium spricht, während das Fehlen derselben in alten Handschriften sich leicht, wie schon Augustin ganz richtig vermutete, daraus erklären lässt, dass man die Milde des Urteils Jesu dem schweren Vergehen gegenüber in der Kirche bedenklich fand. Hat Johannes in diesen ersten Abschnitten seines zweiten Teiles unverkennbar mehrere synoptische Vorlagen benutzt, so geht er nun in den ferneren Reden seine eigenen Wege. Dieselben drehen sich um den schon im Prolog vorausgestellten Grundgedanken: Christus als der von oben stammende Gottessohn ist Quelle des Lichtes und Lebens, dessen Wirkung für die einen zum Heil, für die andern zum Gericht ausschlägt. Anknüpfend vielleicht an Bräuche des Laubhüttenfestes, in welches diese Reden verlegt sind, hat Jesus schon 7, 37f. sich dargeboten als die Quelle lebendigen Wassers zur Stillung alles Durstes, d. h. des unvergänglich belebenden Geistes. Und 8, 12 bezeichnet er sich als das Licht der Welt, in dessen Nachfolge man das Licht des Lebens haben wird. Von einem im Finstern aufgehenden grossen Licht, in welchem die Völker wandeln werden, hatte Jesaia (60, 1) geweissagt, und die Evangelisten Lukas und Matthäus hatten die Erscheinung dieses Lichtes in ihren poetischen Geburtsgeschichten gefeiert; dann hatte Jesus seine Jünger das Licht der Welt genannt und ihnen verheissen, dass man im Lichte hören werde, was sie im Dunkeln (der Verborgenheit) gesprochen haben (Luk. 12, 3). Diese Gedanken fasst der vierte Evangelist zu-

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•sammen in der Selbstbezeichnung Christi als des „Lichtes der Welt". Er ist dieses, weil er von oben gekommen ist und wieder dahin geht, wofür er sich nicht bloss auf sein eigenes Zeugnis, sondern auch auf das seines Vaters berufen kann, der ihn nie allein lässt, weil er allezeit das ihm Gefällige tut und das von ihm Gehörte für die Welt verkündigt. Darum ist sein Wort die Wahrheit, die den im Glauben sie Annehmenden frei macht. Aber die Juden sind nicht fähig sein Wort zu vernehmen, weil sie nicht aus Gott, sondern trotz ihrer geTÜhmten Abrahamskindschaft vielmehr Kinder des Teufels sind, dessen Wesen und Werk die Verkehrung der Wahrheit, die Lüge ist. Hierauf der Vorwurf der Juden, dass er ein Samariter (Ketzer) sei und einen Dämon habe — die jolianneische Parallele zur synoptischen Beschuldigung des Beelzebulbündnisses. Dagegen erklärt Jesus, dass er nicht seine, sondern seines Vaters Ehre suche, und hinwiederum sei es dieser, welcher Christi Ehre suche und ahnde. Wer sein Wort halte, werde den Tod nicht schauen ewiglich. Hierauf erneuter Vorwurf der Besessenheit mit Berufung auf Abraham und die Propheten, die ja doch gestorben seien. Darauf folgt die feierliche Erklärung Jesu: „ehe Abraham gewesen, bin ich". Während die synoptische -Streitrede über die Beelzebulbeschuldigung sich innerhalb des sittlichen Erfahrungsgebietes bewegt und mit einer Warnung vor frivoler Lästerung des Heiligen schliesst, erhebt sich ihr johanneisches Seitenstück in die Höhen der transzendenten Christusspekulation. Auf welcher Seite das Geschichtliche liege, beantwortet sich von selbst. In Kp. 9 wird das Thema von Christus als Licht der Welt fortgesetzt, aber in der Art, dass die weitere Rede eingeleitet wird durch die Erzählung von der Heilung eines Blindgeborenen. Die Grundlage derselben ist in der Erzählung des Markus von der Blindenheilung zu Bethsaida (8, 22 ff.) und in der der Apostelgeschichte von der Lahmenheilung des Petrus (3, 1—4, 22) zu suchen; wie diese Heilungstat vor den jüdischen Behörden offiziell konstatiert wird und der Eindruck der offenkundigen Tatsache auf das Volk das Einschreiten der Hierarchen gegen die Apostel verhindert, so lässt Johannes die Heilung des Blindgeborenen umständlich vor den Pharisäern konstatiert werden und benutzt diese Gelegenheit, um den naiven Glauben des geheilten Mannes aus dem Volk in wirksamen Kontrast zu stellen

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zu dem hartnäckigen Unglauben der Volksführer. Hieran erweist sich zugleich die allgemeine Wahrheit, in welcher die Pointe der Erzählung liegt, dass die Erscheinung des göttlichen Lichtes im fleischgewordenen Logos-Christus die doppelte Wirkung übt: die einen erleuchtend, dass sie von ihrer natürlichen Blindheit genesen und sehend werden, die andern aber, die in ihrer Scheinweisheit zu sehen behaupten, dem Gericht der verstockten Verblendung anheimgebend (9, 39 ff.). Der eben besprochene Gedanke an das hilflose Volk, das an seinen Oberen schlechte, in ihrem selbstischen Dünkel verhärtete Hirten hat, in Jesu aber den guten Hirten findet, wird vom Evangelisten noch weiter ausgeführt in einer mehrfachen Allegorie Kp. 10. Die Elemente dazu waren gegeben teils in alttestamentlichen Bildern, teils auch in den synoptischen Gleichnissen einerseits von den untreuen Weingärtnern und andererseits vom Hirten, der dem verlorenen Schaf nachgeht und es wiederbringt. Daraus machte der vierte Evangelist das Bild von Christus als dem guten Hirten, dessen Stimme die Schafe kennen und dem sie folgen und der zu ihrer Rettung sein eigen Leben einsetzt, während die Mietlinge nur an sich denken und um die Not der Schafe sich nicht kümmern, wie schon Ezechiel die Volksobersten charakterisiert hatte (34, 8): Meine Hirten fragen nicht nach meinen Schafen, sondern weiden sich selbst. Mit diesem Bild verbindet aber der Evangelist das weitere von der richtigen Türe zum Schafstall, durch welche nur der rechte Hirte Eingang hat, während Diebe und Räuber auf illegitimem Weg eindringen. Hierbei schwebte ihm wohl das Wort von Ps. 118, 19 vor: Tue mir auf die Pforte der Frömmigkeit, dass ich eingehe und dem Herrn danke, diesist die Pforte des Herrn, durch welche Fromme eingehen. Auch hatte Jesus in den Synoptikern von der engen Pforte, die zum Leben führe, gesprochen; und da er auf diesem Wege selbst seinen Jüngern voranging, so lag es nahe, ihn mit der rechten Pforte zu vergleichen, durch welche ein- und ausgehend die Schafe Weide und Rettung finden (V. 9). Übrigens ist die Herde des guten Hirten" nicht bloss auf Israel beschränkt, sondern er hat auch noch andere Schafe, die nicht diesem Stalle (dem Volk Israel) angehören; auch diese muss er herzuführen, dass aus Juden und Heiden die eine Herde unter

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Das Evangelium nach Johannes.

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dem einen Hirten werde (V. 16). Vom Herausführen der zerstreuten Schafe aus der Heidenwelt und dem einzigen Hirten, der sie weiden soll, hatte schon Ezechiel gesprochen (34, 12. 23), freilich nur mit Bezug auf die im Exil zerstreuten Juden; der christliche Hellenist aber bezog dies "Wort auf die zum neuen Gottesvolk unter Christi Führung gesammelten Heidenchristen. — Von allen diesen ihm bestimmten Schafen wird der gute Hirte Christus keines verlieren, denn sie sind ihm vom Vater gegeben, aus dessen Hand niemand sie reissen kann, und mit dem er sich selbst in seinem Wesen, Wollen und Tun eins weiss. Dieses Wort (V. 30) gibt den Juden abermals, wie schon in Kp. 7, Anlass zum Vorwurf der Gotteslästerung, gegen welchen er sich auf die Analogie des Schriftworts, wo die theokratischen Obrigkeiten als Götter und Söhne des Höchsten bezeichnet werden (Ps. 82, 6), und auf das Zeugnis seiner Werke, in welchen sie Gottes Werke erkennen sollten, beruft (V. 24—39). Wie die erste Hälfte des Themas: Christus das Licht und das Leben der Welt, in Kp. 9 durch eine Wundergeschichte illustriert worden war, so geschieht nun auch hinsichtlich der zweiten Hälfte dasselbe in der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus in Kp. 11. Diese Erzählung von der Auferweckung eines bereits vier Tage im Grabe gelegenen und schon in Verwesung übergehenden Leichnams natürlich erklären zu wollen, wäre eine arge Verirrung, mit welcher man sich ebensosehr am gesunden Verstand und Geschmack wie am Geist dieses Evangeliums versündigen würde. Denn mehr als bei irgend einer anderen Wundergeschichte des neuen Testaments liegen bei diesem sie alle übertrumpfenden Wunder sowohl die idealen Motive als auch die synoptischen Elemente der freien allegorischen Dichtung zu Tage. Was zunächst den häuslichen Kreis betrifft, in welchem die Geschichte spielt, so sind die drei Personen desselben aus dem Lukasevangelium entnommen und vom vierten Evangelisten zu einer Familie verbunden und nach Bethanien versetzt worden. Bekannt ist die schöne Erzählung des Lukas von dem Schwesternpaar Martha und Maria, in deren Hause Jesus Einkehr hielt; zwar wohnten nach Lukas dieselben nicht in Bethanien, sondern in einem namenlosen Flecken zwischen Galiläa und Judäa; dafür aber wohnte in Bethanien die andere Freundin Jesu, welche P f l e i d e r e r , Urchristentum.

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ihre gläubige Liebe durch die sinnige Handlung der Salbung mit kostbarer Narde bezeugt hatte (Mk. 14, 3). Diese namenlose Jüngerin in Bethanien hat nun Johannes mit der Maria des Lukas identifiziert und daher jenes Schwesternpaar aus dem namenlosen Flecken in das bekannte Bethanien bei Jerusalem versetzt. Auch in der Charakteristik der beiden Schwestern hat er sich genau an die in der Lukas'schen Erzählung gegebenen Züge gehalten. Dass nun diese Schwestern einen Bruder namens Lazarus (Gotthilf) gehabt haben, davon weiss zwar Lukas nichts, aber in der ihm eigentümlichen Gleichnisgeschichte (16, 20) erwähnt er doch einen Lazarus, der krank war, starb und begraben wurde, und dessen Wiederkommen zu seinen Brüdern (um als Bote vom Jenseits sie zu bekehren) wenigstens als Gegenstand eines frommen Wunsches und angelegentlicher Bitte in Betracht, wenngleich nicht zur Ausführung kommt (16, 27 ff.). Die Bitte des reichen Mannes wird dort von Abraham zurückgewiesen mit dem Hinweis darauf, dass die ungläubigen Brüder desselben (die Juden), wenn sie auf Moses und die Propheten nicht hören, auch nicht glauben würden, wenn Einer von den Toten auferstünde. Was hier als die eventuelle Folge oder Erfolglosigkeit der erbetenen Auferstehung des Lazarus behauptet wird, das wollte der vierte Evangelist durch eine eklatante Tatsache konstatiert werden lassen, darum liess er die dort nur vorgeschlagene Auferstehung des Lazarus zum wirklichen Vollzug kommen, und zwar als eine Wunderwirkung des Wortes Christi, der dadurch noch vor seiner eigenen Auferstehung und vorbildlich für diese sich als den darstellen sollte, der die Auferstehung und das Leben ist und seinen Gläubigen Quelle und Bürge eines Lebens wird, das vom Tode nicht mehr berührt wird (V. 25f.). Aber eben diesem grössten Machtbeweis Christi gegenüber erweist sich der Unglaube der jüdischen Hierarchen, ganz wie Vater Abraham in der Lukas'schen Geschichte es vorhergesagt hatte, in seiner ganzen unheilbaren Verstocktheit: „Von dem Tage an beschlossen sie, ihn zu töten" (V. 53). So dient das Wunder der Lazarus-Erweckung unserem Evangelisten zugleich als das entscheidende Moment für die Entwicklung des Geschicks Jesu; er hat sich damit ein dramatisches Motiv geschaffen, das die Lücke ergänzen sollte, die durch seine verfrühte Vorwegnahme der Tempelreinigung, dieses wirklichen Ent-

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scheidungsgrundes in der Geschichte Jesu, entstanden war. Sollte aber die Wundertat der Lazarus-Erweckung diesem Zwecke dienen, so durfte sie nicht in einem obskuren Flecken vorgehen, sondern auf einem dem Ort der weiteren Entwicklung des Dramas zunächst gelegenen Schauplatz: daher die Verlegung derselben in das Jerusalem benachbarte Bethanien, wo Jesus in einem befreundeten Hause Verkehr pflog und auch seine Todesweihe durch die Salbung von einer Jüngerin empfing. Und da nun unser Evangelist ohnedies diese Jüngerin mit der Lukas'schen Maria identifiziert hatte, so ergab es sich von selbst, dass er den Lazarus vollends zum Bruder des nach Bethanien versetzten Lukas'schen Schwesternpaares machte, womit zugleich in der freundschaftlichen Beziehung Jesu zu dieser Familie ein psychologisches Motiv für seine hervorragende Wundertat an Lazarus gegeben war. So lässt sich die ganze Erzählung Joh. 11 aus sinniger Kombination der in Lukas und Markus an mehreren Orten .zerstreut liegenden Mosaiksteine vollständig erklären. Überlegt man hingegen, wie unbegreiflich —• von allen inneren Schwierigkeiten abgesehen — schon das eine wäre, dass von einer so hervorragenden Wundertat Christi, welche in vollster Öffentlichkeit geschehen und von unmittelbar entscheidendem Einfluss auf sein Geschick gewesen wäre, nicht die geringste Spur in der ganzen synoptischen Überlieferung sich erhalten haben sollte, so wird man zugestehen müssen, dass die Frage nach der Geschichtlichkeit der johanneischen Erzählung von der Lazaruserweckung so liegt, dass für die Verneinung derselben unwiderstehlich zwingende Gründe sprechen. Und damit ist nun freilich auch über den geschichtlichen Wert des johanneischen Lebens Jesu überhaupt das Urteil unabweislich gesprochen. In dieser Hinsicht ist auch noch ein weiterer Punkt gegen Schluss des 11. Kap. von fataler Bedeutung. Johannes sagt von Kaiphas, dass er „Hohepriester jenes Jahres" gewesen sei, was offenbar ein alljährlich wechselndes Hohepriestertum voraussetzt. Ein solches war nun aber das jerusalemische Hohepriestertum durchaus nicht; wie kommt also •der Evangelist zu dieser seltsamen Voraussetzung? Das Rätsel erklärt sich einfach aus der kleinasiatischen Sitte, von Jahr zu Jahr «inen Hohepriester für den neuen Tempel des Kaiserkultus zu bestellen, nach welchem in der ganzen Provinz Asia das Jahr bezeichnet 24*

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wurde*). Diesen Brauch seiner Heimat hat unser Evangelist auf das jüdische Hohepriestertum irrtümlich übertragen und damit freilich einen starken Beweis seiner Unbekanntschaft mit palästinensischen Verhältnissen gegeben. Die 12, 1—8 erzählte Salbung Jesu in Bethanien gehört zwar der ältesten evangelischen Tradition an, aber die Form der johanneischen Darstellung ist deutlich als eine Kombination der beiden synoptischen Salbungsgeschichten Mk. 14 und Luk. 7 zu erkennen. Aus Markus stammt der Ort der Salbung: Bethanien; aus Luk. 7 die Art der Salbung: dass gegen alle sonstige Sitte die Füsse Jesu gesalbt und mit den Haaren getrocknet werden. Das Auffallende dieser Salbungsweise erklärt sich zwar in der Lukas'schen Erzählung, wo die Salbende eine reuige Sünderin war, die erst die Füsse Jesu mit ihren Tränen benetzte und mit ihrem Haare trocknete und zuletzt dieselben salbte; hier war dieses ein Zeichen demütiger Busse; aber im johanneischen Bericht ist die Abweichung von der stehenden Sitte, das Haupt zu salben, ganz unmotiviert; auch ist das Abtrocknen der gesalbten Füsse mit den Haaren (Joh.) ebenso sonderbar, wie das Abtrocknen der von Tränen genetzten Füsse mit den Haaren (Luk.) verständlich ist. So erweist sich der johanneische Bericht in seinen eigentümlichen Details als eine nicht eben glückliche Kombination der zwei synoptischen Parallelen. Hingegen mag es dahingestellt bleiben, ob die Angabe des Namens der salbenden Jüngerin „Maria" nur daraus zu erklären sei, dass unser Evangelist das Lukas'sche Schwesternpaar Maria und Martha schon in seiner Lazarusgeschichte nach Bethanien versetzt hatte, oder ob er vielleicht hierin einer älteren Tradition folgte? Letzteres wäre der Fall, wenn die Vermutung, zu der die Markus'sche Erzählung Anlass gibt (I. S. 385), richtig sein sollte, dass diese von Markus so hoch gefeierte und doch nicht benannte Jüngerin dessen Mutter Maria gewesen sein könnte. Auf den Einzug Jesu in Jerusalem, diesen Eintritt in den Leidensweg, lässt Johannes eine allegorische Szene folgen, welche den siegreichen Einzug Jesu in die Heidenwelt voraus abbildet: Etliche Hellenen wünschen die Bekanntschaft Jesu zu machen, was durch ") JIOMMSEN, ROM. Gesch. V, 318.

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Philippus, den Vorläufer der paulinischen Heidenmission, vermittelt wird (12, 20ff.). Tom Erfolg der Bitte der Hellenen wird nichts weiter berichtet, weil dem Evangelisten die Hauptsache eben das Fragen der Heiden nach Christus war, worin dieser das Zeichen seiner bevorstehenden Verherrlichung erkennt. Diese aber ist die Frucht seines Todes, der daher mit dem Sterben und Fruchtbringen des Weizenkorns verglichen wird (V. 23f.). Daran reihen sich einige Sprüche von der selbstverleugnenden und dienenden Nachfolge Christi, die von den Synoptikern im Anschluss an die erste Leidensverkündigung berichtet werden (V. 25f.). Hierauf folgt eine dem vierten Evangelisten •eigentümliche Szene, in welcher wir eine freie Umbildung und Zusammenfassung der beiden synoptischen Szenen auf dem Verklärungsberg und in Gethsemane erkennen (V. 27 ff.). Aus der letzteren ist •die Seelenbewegung Jesu und die — hier freilich als blosse Möglichkeit in Frageform gestellte — Bitte um Rettung aus dieser Stunde entnommen, aus jener aber stammt die Himmelsstimme, welche die Verklärung Jesu verkündigt. Dass dabei der Evangelist nicht weniger als seine synoptischen Vorgänger an eine wirkliche Himmelsstimme in artikulierten Worten gedacht hat, in welcher Gott das bevorstehende Todesleiden seines Sohnes als die Vollendung seiner Verklärung oder himmlischen Erhöhung bezeugt habe, ist aus seiner Darstellung nicht wegzudeuten; die Erklärung dieser Himmelsstimme als „Donner" gibt «r ja nur als Meinung einiger aus dem Volk, die er keineswegs sich aneignet; die Meinung anderer, es habe ein Engel mit Christus geredet, -erinnert an die Engelserscheinung in Gethsemane nach Luk. 22, 43. Endlich erklärt Jesus selbst, diese Stimme sei nicht um seinet- sondern um des Volks willen geschehen, und es vollziehe sich jetzt das Gericht der Welt, in welchem der Fürst dieser Welt (Teufel) werde hinausgeworfen werden. Hierbei scheint dem Evangelisten noch eine dritte Stelle aus Lukas vorgeschwebt zu haben: Luk. 10, 18 sagt Jesus, als die siebenzig Jünger von den schönen Erfolgen ihrer Missionsreise berichteten: „Ich sähe den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen". Der Gedanke ist hier wie dort derselbe: durch die Erfolge der Heidenmission, die Lukas durch die Sendung der siebzig Jünger, Johannes durch die Anfrage der Hellenen symbolisiert hat, ist die Überwindung der Herrschaft Satans über die Heidenwelt verbürgt, und eben darin

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besteht nach beiden Evangelisten die irdische Verherrlichung Christi, die seiner himmlischen Verklärung parallel geht (Luc. 10, 21 ff. = Joh. 12, 28—32). An den Schluss dieses zweiten Teils, welcher der Auseinandersetzung Christi mit den Juden gewidmet war, stellt der Evangelist ein abschliessendes Urteil über den verstockten Unglauben der Juden, gekleidet in zwei Jesaia-Zitate, deren eines auch von Paulus und das andere von den Synoptikern und der Apostelgeschichte für denselben Zweck verwendet worden war (V. 38—40). Dann folgt in Form einer Rede Jesu, für welche aber die Zuhörer fehlen, da ja Jesus sich schon nach V. 36 vor den Juden zurückgezogen hatte, eine summarische Rekapitulation der Hauptgedanken der bisherigen Reden, gewissermassen ein Epilog der öffentlichen Wirksamkeit Christi, die hiermit abgeschlossen ist. Die beiden ersten Teile des Evangeliums (1, 19—6, 71. 7, 1—12, 50) gaben die Ausführung der beiden Sätze des Prologs: „das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht begriffen" und „er kam in sein Eigentum und die Seinen nahmen ihn nicht auf" (1, 5 und 11); der folgende dritte Teil wird nun den weiteren Satz des Prologs (1,12) ausführen: „die ihn aber aufnahmen, denen gab er das Recht, Gottes Kinder zu werden, als solchen, die an seinen Namen glauben". Mit Kp. 13 beginnt der dritte Teil des Evangeliums: die Vollendung der Heilandsliebe Christi in seiner dienenden und leidenden Selbsterniedrigung und in seiner siegreichen Erhöhung. Eingeleitet ist die Leidensgeschichte, wie bei den Synoptikern, durch das Abschiedsmahl Jesu mit seinen Jüngern und die hierbei gesprochenen Reden: Kapp. 13—17. Als Vorlage diente unserem Evangelisten Luk. 22, wo ebenfalls eine etwas längere Rede als bei den anderen Synoptikern an das letzte Mahl geknüpft ist. Aber Johannes geht hierin noch viel weiter als Lukas und weicht überhaupt von der synoptischen Tradition mit der kühnen Freiheit, die wir nun schon wiederholt bemerkten, ab. Während nach jener das Mahl die Feier des jüdischen Passahmahls am Vorabend des Festes war, ist es nach Johannes nicht dieses, sondern ein einfaches Mahl vor dem Tag des Passahmahls, sodass der Todestag Jesu hiernach auf den Tag des Passahmahls fällt und er also selbst als das abbildliche Passahlamm erscheint, welches, wie

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Paulus I. Kor. 5, 7 sagte, für uns geschlachtet ist; dass diese dogmatische Idee den vierten Evangelisten zur Abweichung von dem synoptischen Bericht veranlasste, ist kaum zu bezweifeln. Und während die synoptische Überlieferung an dieses Passahmahl Jesu die Einsetzung des Abendmahls des neuen Bundes knüpft, hat der vierte Evangelist dieses hier mit völligem Stillschweigen übergangen und die Lücke ausgefüllt durch die Erzählung der Eusswaschung, die sich zu deutlich als eine in Handlung umgesetzte Allegorie auf Grund von Luk. 22, 27 verrät, als dass wir sie für geschichtlich zu halten vermöchten. Der Grund dieser Abweichung von der einstimmigen älteren Überlieferung kann nur darin liegen, dass unser Evangelist das christliche Abendmahl gänzlich ausser aller Beziehung zum jüdischen Passahmahl setzen wollte; darum sollte das Abschiedsmahl Jesu kein Passahmahl sein, und darum musste die Abendmahlseinsetzung bei dieser Gelegenheit unterdrückt werden. Dafür hatte er die frühere Gelegenheit der wunderbaren Speisung benutzt, um eine Rede Jesu über das Wunderbrot des Abendmahls anzuknüpfen (Kp. 6). — Die Vorhersagung des Verrats des Judas ist aus Mk. 14, 18—21 und Luk. 22, 3 in der Art kombiniert, dass den Worten des Markus: „Der mit mir in die Schüssel tauchet", die nur eine allgemeine Bezeichnung des Tischgenossen sein sollen, die bestimmtere Wendung gegeben wird, Jesus habe einen Bissen eingetaucht und dem Judas gegeben, und da, als er den Bissen genommen, sei der Satan in ihn gefahren; die satanische Besessenheit, aus welcher Lukas den Verrat des Judas erklärt hatte (22, 3), wird also von Johannes in dramatisch wirksamer Weise an den bestimmten Moment geheftet, wo Judas den Bissen aus des Heilands Hand empfing, der für ihn zum Mittel des Gerichts, zum satanischen Sakrament wurde. — In der Vorhersagung der Verleugnung des Petrus folgt der vierte Evangelist dem Lukas insofern, als er zur Ehrenrettung des Apostelhauptes Jesum die spätere Nachfolge des Petrus andeuten lässt, wie es bei Lukas heisst: Wenn du dereinst dich bekehrest, so stärke deine Brüder (Luk. 22, 32 — Joh. 13, 36). Wie schon Lukas die Abschiedsstunde ausgefüllt hatte mit Worten Jesu, in welchen er seine letzten Mahnungen, Verheissungen und Tröstungen den Jüngern ans Herz legte, so knüpft nun auch Johannes an dieses letzte Mahl eine Reihe von längeren Abschiedsreden Jesu,

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die zum Gegenstand haben die Tröstung der Jünger wegen seines Hingangs zum Vater, die Mahnung zur Bewährung ihrer Liebe gegen ihn im Halten seiner Gebote und die Verheissung seiner bleibenden Gegenwart und innigen Verbundenheit mit ihnen durch den Geist, den er ihnen senden werde vom Vater: Kapp. 14—17. Die Schärfe der früheren antijüdischen Streitreden ist in diesen Jüngerreden verschwunden und hat einer ruhigen Milde und gefühlvollen Innigkeit Platz gemacht, die verbunden mit einer hohen Vergeistigung des christlichen Glaubens und Hoffens diese Reden zu Perlen der biblischen Literatur macht. Aber auf geschichtliche Ursprünglichkeit können dieselben natürlich so wenig Anspruch machen als die bisherigen johanneischen Reden, oder sogar noch weniger insofern, als hier auch die sonst vorhandenen synoptischen Anknüpfungspunkte fast ganz fehlen. Der Evangelist schöpft hier aus dem Vollen seines eigenen christlichen Bewusstseins, in welchem sich der Geist des paulinischen Evangeliums auf's innigste mit der Denkweise des Hellenismus durchdrungen hat. Wie der Weisheitslehrer (Sap. 6, 20) als Wirkung der WTeisheit die Unvergänglichkeit im Nahesein bei Gott bezeichnet, wie Paulus das Sterben einen Gewinn genannt hat, weil es ihn zum Daheimsein bei dem Herrn führe, so tröstet der johanneische Christus seine Jüngergemeinde wegen seines Scheidens damit, dass er ihnen eine Stätte in den vielen Wohnungen, die in seines Vaters Hause sind, zu bereiten verspricht (14, 2f.). Nicht mehr, wie in der Urgemeinde (ApG. 1, 6), auf die zukünftige Errichtung des irdischen Christusreiches bei seiner sichtbaren Wiederkunft richtet sich der sehnende Blick des christlichen Hellenisten, sondern auf das Wohnen in jener oberen Welt unvergänglichen Lebens bei Gott, in welcher schon Plato die wahre Heimat unserer Seelen erkannt hatte, zu welcher aber den Weg und Zugang zu finden die Weisheit des vorchristlichen Hellenismus sich vergeblich bemüht hatte. Eben diesen Weg hat der Christ gefunden in Christus, in welchem ihm der fern entrückte Gott wieder in menschlicher Lebenswahrheit nahegetreten ist. Darum lässt der Evangelist ihn sprechen: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich; wer mich siehet, der siehet den Vater" (V. 6. 9). Dann verheisst er seinen Gläubigen, dass sie noch grössere Werke als er tun werden, eben weil er zum Vater gehe und

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dadurch ihre volle Gottesgemeinschaft vermittle, kraft welcher alles ihr Bitten in seinem Namen der Erhörung gewiss sei. Verwaist werden sie auch nach seinem Hingang nicht sein, denn der Vater werde auf seine Bitte ihnen einen anderen Anwalt*) senden, den Geist der Wahrheit, der bei ihnen bleiben werde, während die Welt für ihn keine Empfänglichkeit und kein Verständnis hat. Darum kann auch die Welt Christi Leben nicht wahrnehmen, aber die Gläubigen, die seinen Geist empfangen, werden auch sein Leben in Gott erkennen, weil sie selbst daran teil haben. Wer ihn liebt und das durch das Halten seiner Gebote bewährt, der wird auch vom Vater geliebt sein, und der Vater und der Sohn werden bleibend bei ihm wohnen. Diese innigste Gottes- und Christusgemeinschaft, welche die fromme Christusliebe zu erfahren bekommt, wird die Wirkung seines Hingangs sein, durch welchen das Kommen des Geistes oder Christi als des Geistes vermittelt wird, darum sollen die Jünger wegen seines Hingangs nicht zagen, sondern vielmehr sich freuen. —• In dieser johanneischen Mystik begegnen sich die • Gedanken Philos vom Wohnen Gottes und des göttlichen Logos in den reinen Seelen**) mit denen des Paulus vom Sein des Gläubigen in Christo und Christi Leben in uns; auch an die paulinische Ausführung I Kor. 2 vom Geist aus Gott und Geist der Welt und von der Verständnislosigkeit des natürlichen Menschen für die Geistesdinge erinnert Joh. 1 4 , 1 7 — 2 7 . Der Schluss von Kp. 14: „Stehet auf und lasset uns weitergehen" ist aus der Gethsemaneszene des Markus (14, 42) entnommen und sollte bei Johannes offenbar den Aufbruch vom Abschiedsmahl nach Gethsemane einleiten. Da nun aber dieser erst 18, 1 wirklich erfolgt, so ist zu vermuten, dass der Evangelist ursprünglich hier schon die Abschiedsrede beschliessen wollte und später erst die folgenden drei Kapitel hinzugefügt habe. In der Tat enthalten dieselben grösstenteils ausführende Variationen der Gedanken von Kp. 14. Die innige ) Ist der heilige Geist als Christi Stellvertreter der XXY|TO;),

andere A n w a l t

so ist Christus selbst als der eigentliche erste Paraklet gedacht,

a u c h I Joh. 2, 1 wirklich heisst.

Diese B e z e i c h n u n g ist aus P h i l o

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d e n L o g o s als den Fürbitter für die M e n s c h e n öfter den 7iapo-xXrjTOs nennt. "'"') De somn. I, 2 3 : T a l ; TÄV axpcu; ¿-/.z£za9«p[jiiviuv Siavoiau F¿ovo; xal dipator H TÜW o X i o v

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Kirchliche Lehr- und Mahn - Schriften.

Christusgemeinschaft der Gläubigen, die 14, 20 als ein Ineinanderleben beider dargestellt war, wird 15, 1—17 unter dem Bilde des Weinstocks und der Reben weiter ausgeführt. Dieses Bild vom Weinstock und seinen Reben war Ps. 80, 9—18 vom Yolk Gottes und seinen Gliedern gebraucht, welches dann auch als der von Gott erkorene Menschensohn und Mann seiner Rechten personifiziert wird, so dass die Anwendung auf den Menschensohn Christus nahe genug gelegt war. Auch hatte bei Sirach 24, 17 die göttliche Weisheit sich selbst mit einem Weinstock verglichen, der Liebliches sprossen lasse, Herrlichkeit und Reichtum zur Frucht habe. Aus solchen Vorgängen scheint zwar die Vergleichung Christi mit dem Weinstock genügend erklärt zu sein; doch ist nicht zu leugnen, dass der eigentümliche Zusatz: „ich bin der Weinstock, d e r w a h r h a f t i g e " den Eindruck macht, als sollte hiermit ein Gegensatz irgendwelcher Art angedeutet sein. Aber was der Evangelist dabei im Auge gehabt haben möge, darüber können wir nichts wissen; vielleicht liegt darin eine polemische Anspielung auf die chiliastischen Träume (wie sie z. B. von Papias und Irenaus berichtet werden) über die wunderbar fruchtbaren Weinstöcke und Reben des 1000jährigen Reiches, Träume, die etwa an den synoptischen Ausspruch Jesu über das neue Trinken vom Gewächs des Weinstocks im künftigen Gottesreich sich heften mochten (Mk. 14, 25 und par.). Beachtenswert ist auch die Vermutung, der Evangelist habe hier auf die symbolische Bedeutung des Weinstocks in den dionysischen Mysterien angespielt, so dass er der in diesem Symbol hier ausgedrückten Naturmystik die wahre ethische Mystik der christlichen Glaubensverbindung mit Christus als der wahren Kraft- und Lebensquelle entgegensetzen wollte*). Es sind dies eben, wie gesagt, nur Vermutungen, über die sich in Ermangelung bestimmter Anhaltspunkte nicht streiten lässt. — An die Schilderung der innigen Verbindung der Jünger mit Christo schliesst sich weiterhin als ihre Kehrseite an die Feindschaft der Welt wider Christum und die Seinigen, und dies gibt wieder Anlass zur erneuten Verheissung der Sendung des heiligen Geistes, der der Gemeinde in ihrem Kampf mit der feindlichen Welt beistehen werde. Wenn derselbe gekommen, werde er die Welt überführen von der *) Vgl.

E.

PFLEIDERER,

Die Philosophie des Heraklit, S. 379 f.

Johanneische Schriften.

Das Evangelium nach Johannes.

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Sünde ihres Unglaubens und von der Gerechtigkeit, d. h. dem durch die Erhöhung Christi bewährten göttlichen Recht seiner Sache, und von dem Gericht, das über den Fürsten dieser Welt (Teufel) ergangen sei (16, 8 ff.). Derselbige Geist werde aber auch die Gemeinde in der Erkenntnis aller Wahrheit weiterführen noch über das hinaus, was Jesus ihnen persönlich gesagt habe, und was mit Rücksicht auf ihre mangelnde Empfänglichkeit noch unvollständig gewesen sei. Aber auch der Geist werde nichts von sich selbst reden, sondern nur was er (von Gott) höre; eben darum, weil seine Verkündigung aus dem eigentümlichen Wesen Christi, welches zugleich das des Vaters sei, schöpfe, werde sie der Verherrlichung Christi dienen. Mit diesen Sätzen hat der Evangelist eine Rechtfertigung seiner neuen und eigenartigen Darstellung von Christi Person und Lehre bezweckt: sie geht zwar, dessen ist er sich wohl bewusst, hinaus über die ältere Tradition von dem, was Jesus persönlich zu seinen ersten Jüngern gesagt; aber dieser Fortschritt beruht doch nur auf einer Offenbarung desselben Wahrheitsgeistes, der auch schon aus Jesus gesprochen hatte, und darum kann und darf diese neue Geistesoffenbarung nicht, wie die Gnostiker wollten, im Gegensatz stehen zu der in der Gemeinde überlieferten Offenbarung des geschichtlichen Jesus und darf nicht zur Verdunkelung der Person des Heilands gereichen, wie es bei den Gnostikern der Fall war, sondern, wie sie nur Geist von seinem Geiste ist, kann sie auch nur zu seiner Verherrlichung, zur Verklärung seines geschichtlichen Bildes im Glauben der frommen Gemeinde dienen. Das ist dieselbe Vermittlung zwischen Tradition und Geist, wie sie schon Paulus durch sein Wort: „der Herr ist der Geist" angebahnt hatte. Und dort wie hier ist der entscheidende Moment, der aus dem Jesus der Geschichte den übergeschichtlichen Geist des Herrn wie die Frucht aus dem Keim (12, 24) hervorgehen liess, der Tod des Heilands, der sein Hingang zum Vater, sein Eingang in die Herrlichkeit war. Darum bedeutet die Trauer, die die Jünger jetzt über seinen Hingang empfinden, nur die Geburtswehen einer unvergänglichen Freude, die sie in der bleibenden geistlichen Wiedervereinigung mit ihm besitzen werden. An dem Tage werden sie ihn nichts mehr zu fragen haben (womit also auch die Frage ApG. 1, 6 nach der Zeit der Aufrichtung des Reiches Israels als eine den Christen nicht mehr zukommende

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IV.

Kirchliche Lehr- und Mahn - Schriften.

zurückgewiesen ist), denn ihre Freude ist schon erfüllt damit, dass sie der Erhörung aller ihrer Bitten in Christi Namen gewiss sein dürfen um deswillen, weil der Vater die Christum Liebenden lieb hat. Zwar werden sie in nächster Zeit kleinmütig sich zerstreuen und ihn allein lassen, doch er ist nicht allein, der Vater ist mit ihm. Dies hat er ihnen gesagt, damit sie in ihm Frieden haben: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden" (16, 32f.). Hiermit hat der Evangelist wieder, wie am Schluss von Kp. 14, auf die synoptische Vorlage zurückgegriffen, indem er die Vorhersagung der Zerstreuung der Jüngerherde Mk. 14, 27 mit der tröstlichen Verheissung des Besitzes des Reiches Gottes bei Lukas (22, 29 vgl. 12, 32) kombiniert hat. An eben dieser Stelle hatte Lukas aber auch Jesum zu Petrus sagen lassen: „Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre, und wenn du später dich bekehrest, so stärke deine Brüder". Dieses hier nur angedeutete Fürbittegebet Jesu für seine Jünger in voller Ausführung zu geben und es an die Stelle des Gethsemanegebetes treten zu lassen, hatte der vierte Evangelist um so mehr Grund, als das letztere Gebet für seine gehobene Christologie nicht mehr recht zu passen schien, weshalb er es auch an früherem Ort schon als eine fragwürdige Möglichkeit erwähnt hatte (12, 27). Er ersetzt es also nun durch das fürbittende Abschiedsgebet Jesu Kp. 17, in welchem an die Stelle der schmerzvollen Ergebung vielmehr die gehobene Siegesgewissheit jenes früheren Gebetes tritt, in welchem Jesus bei Lukas (10, 21 f.) den Sieg über die Heidenwelt zum voraus gefeiert hatte. Das Gebet geht aus von der an 12, 23 wieder anknüpfenden Bitte, dass der Vater jetzt, da die vorherbestimmte Stunde der Vollendung gekommen, den Sohn verherrlichen möge, wie er ihm ja schon bisher die Vollmacht über alles Fleisch (Menschen) gegeben habe mit dem Auftrag, diesen ewiges Leben zu geben, welches bestehe in der Erkenntnis des alleinigen wahrhaftigen Gottes*) und Jesu Christi als seines Gesandten. Diesen Auftrag habe er jetzt er*) Auch nach P h i l o (Quod det. pot. insid. 24) ist die Erkenntnis des Weltschöpfers, welchen er ebenfalls oft als den wahrhaftigen einigen Gott bezeichnet, „der Gipfel des Glücks und der Seligkeit". — Wenn gleich hier und bei Joh. die „Erkenntnis" als zugleich praktische Anerkennung und Verehrung gemeint ist, lasst sich doch die gnostisierende Neigung des Hellenismus beiderseits nicht verkennen.

Johanneische Schriften.

Das Evangelium nach Johannes.

381

füllt, indem er den Erwählten, die der Vater ihm gegeben, dessen Namen geoffenbart habe, wie denn auch sie seine Worte und göttliche Sendung in gläubiger Erkenntnis angenommen haben. Darum bitte er nun für die ihm und dem Vater angehörige Gemeinde, die er scheidend in der Welt zurücklasse, dass der Vater sie in der durch die Offenbarung seines Namens gestifteten Gemeinschaft mit ihm und mit einander bewahren, vor dem Argen der Welt behüten und mittelst der Wahrheit seines Wortes heiligen möge für ihre Sendung in die Welt, in welcher sie Christi Sendung in die Welt fortsetzen, der ja eben dazu sich zum Weiheopfer für sie gemacht habe, dass auch sie ein in Wahrheit geweihtes Gotteseigentum werden. Und in diese Bitte schliesse er auch die ganze künftige Gemeinde der Gläubigen ein. Wie sie schon jetzt an der Herrlichkeit des Sohnes, die er kraft seiner engen Gemeinschaft mit dem Vater besitze, Teil bekommen haben, indem sie in ebendieselbe Gemeinschaft vollkommener Liebes- und Lebensverbundenheit mit dem Vater und Sohn aufgenommen seieD, so wünsche er, dass sie für immer mit ihm sein und auch seine himmlische Herrlichkeit, die er als der Geliebte des Vaters vor der Welt Grundlegung schon besessen habe, schauen und teilen mögen. Die Welt zwar habe Gott nicht erkannt, er habe aber ihn erkannt und habe diese seine Erkenntnis des Vaters den Seinigen kundgemacht und werde sie noch ferner kundmachen, damit die Liebe des Vaters, in deren Besitz er sich wisse, und somit sein eigenes Wesen (als Sohn) in ihnen zum Dasein käme. In der Leidensgeschichte Kapp. 18 und 19 schliesst sich der vierte Evangelist zwar enger als sonst an den in der synoptischen Tradition gegebenen Rahmen an, doch nicht ohne auch hier mehrfache eigentümliche Züge von allegorischer Bedeutung anzubringen. Die Angabe 18, 1, dass Jesus über den Cedernbach in einen Garten (der Name Gethsemane ist unterdrückt) gegangen sei, ist so wenig eine genauere geschichtliche Erinnerung, dass sie vielmehr nur auf einer typologischen Anspielung auf die Flucht Davids über den „Bach Kidrou" beruht, für welchen unser Evangelist nach einer falschen Übersetzung der Septuaginta „Cedernbach" sagt. Der synoptische Seelenkampf in Gethsemane ist, nachdem er schon 12, 27 in veränderter Form antezipiert worden, hier ausgelassen, weil er für den johanneischen Christus

382

IV.

Kirchliche Lehr- und Mahn -Schriften.

nicht mehr zu passen schien. Dafür hat Johannes die Szene der Gefangennehmung durch den ihm eigentümlichen Zug bereichert, dass die Häscher, mit welchen er auch eine römische Kohorte an der Verhaftung sich beteiligen lässt, auf das Wort Jesu: „Ich bins" zweimal zu Boden gestürzt seien — ein Zug, dessen geschichtliche Unmöglichkeit ebenso einleuchtend ist wie seine allegorisehe Bedeutung: er soll die übernatürliche Überlegenheit Jesu über seine Feinde und also die Freiwilligkeit seiner Hingebung in das Leiden veranschaulichen, ein sinnbildlicher Ausdruck also des Gedankens, den Johannes schon früher (10, 18) Jesum aussprechen liess, und den auch Matthäus in etwas anderer Wendung bei der Gefangennehmung ihm in den Mund gelegt hat (26, 53). — An die Stelle des Verhörs vor dem derzeitigen Hohepriester Kaiphas hat Johannes ein solches vor dem gewesenen Hohepriester Hannas gesetzt, was jedenfalls ungeschichtlich ist; vielleicht wollte er dem ihm unsympathischen, weil allzu jüdisch klingenden Messiasbekenntnis, das die Synoptiker beim Verhör vor Kaiphas berichteten, durch Unterdrückung des letzteren ausweichen. Auch dass einer von den dabeistehenden Gerichtsdienern Jesu während des Verhörs einen Backenstreich gegeben habe, ist eine dem Johannes eigentümliche, höchst unwahrscheinliche Angabe, die sich ohne Zweifel aus einer Reminiszenz an das Verhör des Paulus vor dem Hohen Rat nach ApG. 23, 2 ff. erklärt. — Hinsichtlich der Verleugnung des Petrus ist bei Johannes nicht klar, ob sie im Haus des Hannas oder des Kaiphas oder beider stattgefunden habe; besonders auffallend aber ist die Art, wie hier des Petrus Zutritt in den hohepriesterlichen Palast vermittelt wird durch einen anderen ungenannten Jünger, der ein Bekannter des Hohepriesters gewesen und mit hineingegangen sei; wahrscheinlich soll unter diesem Ungenannten der auch sonst in dieser verschleierten Weise angedeutete Lieblingsjünger Johannes verstanden werden. Nun ist zwar vom wirklichen Apostel Johannes schwer zu glauben, dass er — ein galiläischer Fischer, der vor einer Woche erst nach Jerusalem gekommen war! — mit dem jerusalemischen Hohepriester bekannt gewesen sei; allein dem Johannes der kleinasiatischen Sage wurde eine gewisse hohepriesterliche Würde zugeschrieben; das konnte unseren Evangelisten wohl veranlassen, seinen Johannes zu einem Bekannten des hohepriesterlichen Hauses zu machen. Dabei konnte zugleich das

Johanneische Schriften.

Das Evangelium nach Johannes.

883

furchtlose Mithineingehen dieses im Hohepriesterhause bekannten Jüngers eine wirksame Folie abgeben für das furchtsame Verleugnen des Petrus, der auch sonst in diesem Evangelium hinter dem Lieblingsjünger in Schatten gestellt ist. Bei den Verhandlungen vor Pilatus lässt Johannes noch viel stärker, als dies schon sein Vorgänger Lukas getan hatte, das doppelte Motiv durchblicken: es soll einesteils die völlige politische Schuldlosigkeit Christi (und des Christentums) durch die römische Obrigkeit selbst förmlich und ausdrücklich bezeugt werden, und es soll andernteils alle Schuld am Tode Jesu auf die Gehässigkeit der Juden gewälzt werden. Jenem Zweck dient der Ausspruch, den Johannes Jesu in den Mund legt: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt; ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich der Wahrheit Zeugnis gebe; jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme". Wenn man auch zugeben kann, dass der Gedanke dieses Ausspruchs dem Sinne Jesu nicht fremd war (vgl. Mk. 12, 17. Luk. 12, 14), so ist •doch die Form so spezifisch johanneisch, dass schon darum an der Ungeschichtlichkeit desselben nicht gezweifelt werden kann, ganz abgesehen von dem Schweigen der älteren Uberlieferung und von dem Widerspruch mit der Angabe des ältesten Evangelisten, dass Jesus nach der kurzen Bejahung der Frage, ob er der Juden König sei, dem Pilatus weiter nichts geantwortet habe (Mk. 15, 5). Übrigens bildet jener Ausspruch, worin sich Jesus als den König im Reich der Wahrheit bekennt, das johanneische Seitenstück und die ohne Zweifel beabsichtigte Korrektur des von den Synoptikern beim Kaiphasverhör •berichteten Messiasbekenntnisses Jesu, das der Überlieferung der palästinensischen Urgemeinde entstammte und deren noch mehr weltlich-jüdische Messiasidee zum Ausdruck brachte; eine Vergleichung -dieser beiden Bekenntnisse lässt die ganze Weite des Abstandes ermessen, der zwischen dem Christusglauben der apostolischen Urgemeinde und dem des hellenistischen Evangelisten liegt. — Was die dem Lukasevangelium nachgebildete Darstellung betrifft, nach welcher Pilatus wiederholt die Unschuld Jesu und seinen Wunsch, ihn freizulassen, bezeugt und nur dem Drängen der Juden zuletzt nachgegeben habe, so ist darüber schon oben bemerkt worden, dass der geschichtliche Grund dieser Darstellung weniger im Prozess Jesu

384

IV.

Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften.

als in den Vorgängen bei späteren Christenprozessen zu suchen sein dürfte. Bei der Abführung Jesu zur Kreuzigung heisst es, dass er für sich selbst sein Kreuz tragend hinausgegangen sei (19, 17). Dieser Widerspruch mit der synoptischen Angabe, dass Simon von Kyrene das Kreuz Jesu getragen habe (Mk. 15, 21), ist so auffallend, dass er nicht für zufällig gehalten werden kann. Eine Korrektur der älteren Überlieferung auf Grund richtigerer Kenntnis der geschichtlichen Tatsache werden wir nach allen bisherigen Analogien auch bei dieser Abweichung dem vierten Evangelisten nicht zuschreiben dürfen, um soweniger, da sich kein Grund einsehen lässt, warum die Notiz von Simon als Kreuzträger, wenn sie nicht auf geschichtlicher Erinnerung beruhen würde, in die ältere Uberlieferung gekommen sein sollte. Sonach bleibt nur übrig, den Grund der Abweichung des vierten Evangelisten in einer bestimmten Absicht seinerseits zu suchen. Und eine solche lässt sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit erraten: es sollte der in den Kreisen der basilidianischen Gnostiker aufgekommenen Fabel, dass nicht Christus selbst, sondern an seiner Stelle Simon von Kyrene gekreuzigt worden sei, durch gänzliche Unterdrückung der Erwähnung dieses Doppelgängers Jesu der Boden entzogen werden. Es wird diese Vermutung um so wahrscheinlicher, als wir gleich nachher einer weiteren polemischen Anspielung auf eine ähnliche gnostische Legende begegnen werden. — Die johanneische Angabe, dass die Kreuzesaufschrift in drei Sprachen von Pilatus geschrieben worden sei, ist ein Sinnbild der universellen Bedeutung des Todes Jesu als des Weltheilandes. — In der Kleider-Verteilung durchs Los hatte schon die ältere Überlieferung eine Erfüllung des Psalmworts 22,19 gefunden; Johannes aber wollte diese Erfüllung noch genauer konstatieren und unterschied daher zwischen beiden im Grundtext gleichbedeutenden Sätzen: sie verteilten die Kleider und sie warfen das Los über den Leibrock, indem er daraus zwei besondere Handlungen machte. Das gab ihm zugleich Anlass zu einer bedeutsamen Symbolik in doppelter Hinsicht. Der Leibrock sollte nicht zerteilt sondern verlost werden, weil er ungenäht, aus einem Stück gewoben war. Ebendas war der Fall beim Amtskleid des Hohepriesters, das daher auch von Philo zu einem Symbol des Logos gemacht worden war, der, ohne selber geteilt

Johanneische Schriften.

Das Evangelium nach Johannes.

385

zu werden, die Teile des Weltalls zusammenhalte. Sonach liegt in dem unteilbaren Leibrock Christi zunächst eine Symbolik seiner hohepriesterlichen Würde. Nun kann aber ferner nach der häufigen Vergleichung des Leibes mit einem Kleid in diesem unteilbaren Leibrock auch die Unteilbarkeit des Leibes Christi, d. h., nach bekannter paulinischer Sprachweise, der christlichen Gemeinde verstanden werden, sodass die Worte: „Lasset uns ihn nicht zerteilen" eine allegorische Anspielung auf die nicht durch Häresen zu zerspaltende Einheit der Kirche enthalten. Eine solche doppelte Allegorie ist ganz in der Art unseres in Philo's Fussstapfen gehenden Evangelisten. — Während nach Mk. 15, 40 unmittelbar beim Kreuze Jesu niemand der Seinigen zugegen war, sondern nur einige Jüngerinnen von ferne zuschauten, lässt dagegen der vierte Evangelist die Mutter Jesu und den Lieblingsjünger (Johannes) zugegen sein und berichtet ein Wort des Gekreuzigten, worin er diesen Jünger als seinen Bruder und Stellvertreter mit der Fürsorge für die Mutter betraut habe. Was nach Mk. 3, 34 Jesus bei früherer Gelegenheit von seinen Jüngern überhaupt gesagt hatte: Siehe da meine Mutter und meine Brüder! das wird hier auf den Johannes speziell bezogen, um damit den idealen Jünger im Sinn des vierten Evangeliums als den wahren geistlichen Bruder des Herrn und das rechte leitende Haupt der Gemeinde zu bezeichnen, wahrscheinlich im unausgesprochenen Gegensatz zu dem leiblichen Bruder Jesu und Paupt der jerusalemischen Urgemeinde Jakobus, in welchem unser Evangelist nicht den wahren Geistesverwandten Christi anerkennen mochte. Während die synoptische Überlieferung den Tod Jesu von wunderbaren Naturerscheinungen begleitet sein liess, hat Johannes diese [als minder bedeutsam übergangen und dafür eine ihm eigentümliche Episode von allegorischer Bedeutung eingefügt: 19, 31—37 erzählt er, dass dem Leichnam Jesu die Beine nicht zerbrochen, sondern seine Seite durch einen Lanzenstich durchstochen worden sei, und aus der Öffnung sei Blut und Wasser geflossen. Wie hochbedeutsam unserem Evangelisten dieser nur von ihm berichtete Zug war, beweist er durch die starke Betonung der Bezeugung desselben durch den wahrhaftigen Augenzeugen, also den Lieblingsjünger Johannes, der allein (nach seiner Darstellung) beim Kreuze zugegen P f l e i d e r e r , Urchristentum.

2. Aull

Bd. II.

25

386

IV.

Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften.

gewesen. Damit deutet er zugleich Ursprung und Zweck dieser seiner Erzählung an. Das Zitat Y. 37: „Sie werden hinsehen auf den, welchen sie durchstochen haben" stammt aus Sachar. 12, 10, wo es sich auf die reumütige Hinwendung Israels zu dem verschmähten Gott bezieht; seine Anwendung auf Christum aber hatte zuerst der Apokalyptiker Johannes 1, 7 gemacht: „Sehen wird ihn (den auf Wolken wiederkommenden Christus) jedes Auge und die, welche ihn durchstochen haben", wobei zweifelhaft bleibt, ob er letzteres Wort (¿SsxEVTTjaav) im uneigentlichen Sinn wie der Grundtext, oder im eigentlichen verstehe; ebenso zweideutig bleibt der Sinn des ähnlichen Worts (xaxaxevT^aavTe?) in der verwandten Stelle bei Barnabas (7, 9). Wie nun auch sonst öfters ein derartiges Bildwort in der evangelischen Erzählung zum eigentlichen Vorgang wurde (vgl. z. B. Mt. 27, 34), so hat der vierte Evangelist das apokalyptische Wort des SacharjaZitats zur wirklichen Handlung der Durchstechung von Jesu Leichnam gemacht und für deren Wahrheit das Zeugnis des Johannes angerufen, nämlich eigentlich des Apokalyptikers, der ihm aber zugleich als der Apostel und Lieblingsjünger galt. Was ihm aber diesen Vorgang besonders bedeutsam machte, war vor allem das antignostische Interesse, die von den Doketen geleugnete Realität des Todes Christi durch einen augenfälligen Vorgang zu konstatieren und diesen durch den Lieblingsjünger Johannes bezeugen zu lassen, also durch eben den Jünger, der nach der gnostischen Erzählung der Leucius'schen Johannesakten während der Kreuzigung auf den Ölberg entwich und hier eine Erscheinung der Lichtgestalt Christi schaute, der ihn darüber belehrte, dass die Kreuzigung auf Golgatha nur ein Schein und Schauspiel für die Menge sei, von dem er, Christus selbst, in Wahrheit gar nicht betroffen werde (S. 124 if.). Diese gnostische Legende, das Seitenstück zu der von der Kreuzigung des Simon von Kyrene an Jesu Stelle, konnte der Evangelist nicht gründlicher widerlegen als eben dadurch, dass er denselben Lieblingsjünger Johannes zum Zeugen des durch den Lanzenstich konstatierten Todes Christi am Kreuze machte. Das Ausfliessen von Blut und Wasser diente dabei zunächst als Merkmal des wirklich erfolgten Todes Jesu, zugleich aber auch als Symbol des Gedankens, dass die im Wasser der Taufe und im Blut des Abendmahls enthaltenen mystischen Heilskräfte ein unmittel-

Johanneische Schriften.

Das Evangelium nach. Johannes.

387

barer und realer Ausfluss seien der Person des Heilands und insbesondere eine Wirkung seines wahrhaftigen, nicht bloss scheinbaren, Todes. Die johanneische Darstellung der Ostergeschichte ist durchaus •eigentümlich. Auch hier, wie bisher fast immer, hält sich der vierte Evangelist an die Vorlage des Lukas und verlegt also den Schauplatz •der Erscheinungen ausschliesslich nach Jerusalem (denn die galiläische Erscheinung gehört einem Nachtragskapitel von anderer Hand an). Aber bei den jerusalemischen Oster-Ereignissen will er die verschiedenen in Betracht kommenden Momente bestimmter unterscheiden und durch künstliche Sonderung der einzelnen Szenen, durch Retardierung, Steigerung und Spannung der Handlung eine dramatisch belebte Darstellung erreichen. Somit lässt er zuerst nur das Negative an den Ostererlebnissen, den Befund des Leerseins des Grabes, wahrgenommen werden, und zwar dreimal: zuerst durch Maria Magdalena, dann durch Johannes, zuletzt durch Petrus. Darauf folgt erst die Wahrnehmung des Positiven, und zwar zuerst der beiden Engel am •Grab, die aber hier nur fragen, keine Auskunft geben; darauf erscheint Jesus selbst, nicht den Jüngern, sondern der Maria Magdalena, noch in der Nähe des Grabes; dann erst am Abend des Tages tritt er in die Mitte der hinter verschlossenen Türen versammelten Jünger ohne Thomas, endlich acht Tage später wiederholt sich diese Erscheinung vor den Elfen, wobei der letzte Rest des in Thomas repräsentierten Zweifels überwunden wird. — Im einzelnen ist bemerkenswert das eigentümliche Zusammengehen der beiden Jünger •20, 3—8. Während bei Lukas nur Petrus auf die Botschaft der Frauen zum Grabe eilt (bei Markus und Matth, keiner der Jünger), lässt der vierte Evangelist den Lieblingsjünger mit Petrus gehen und zwar so, dass er diesem schon auf dem Weg zum Grabe und dann wieder im ahnenden Glauben den Vorrang abgewinnt — eine durchsichtige Allegorie des Gedankens, dass dem geistigen johanneischen Christentum Asiens der Vorrang vor dem petrinischen Christentum Roms gebühre. — Sehr sinnig ist die Begegnung des Auferstandenen mit Maria Magdalena V. 11—18 geschildert; ihr sehnsüchtiges Suchen und Fragen nach dem geliebten Herrn und dann ihr Anfassen des Gefundenen, um ihn nicht wieder sich entreissen zu lassen, ist -nach 25*

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IV.

Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften.

dem Vorbild der Braut im Hohenliede gezeichnet, die ihr Suchen und Finden also schildert (3, 1—4): „Ich suchte, den meine Seele liebt, suchte ihn und fand ihn nicht. Mich trafen die Wächter der Runde: „Sähet ihr ihn nicht, den meine Seele liebt" ? Um ein kleines, da ich an ihnen vorüber war, da fand ich, den meine Seele liebt: ich hielt ihn fest und lasse ihn nicht mehr." Das Festhaltenwollen des schon der höheren Welt Angehörigen, der ebendarum sich nicht mehr mit irdischen Banden halten lassen will, erinnert auch an das ähnliche Bestreben der Jünger des Elias bei dessen Himmelfahrt und an das Hüttenbauenwollen der Jünger Jesu auf dem Verklärungsberge. — Nach der Lukas'schen Tradition gab der scheidende Herr den Jüngern den Auftrag der Missionswirksamkeit und die Verheissung des heiligen Geistes, den sie dann am Pfingsttag empfingen. Nach Johannes dagegen teilte der Auferstandene unmittelbar seinen Geist den Jüngern mit durch die mystisch symbolische Handlung des Anhauchens — ein Nachbild der Beseelung des Menschen durch den schöpferischen Lebensodem Gottes (I Mos. 2, 7 u. I Kor. 15, 45); zugleich ist damit der dem Johannes wichtige Gedanke veranschaulicht, dass der heilige Geist der Jüngergemeinde 'ein Ausfluss der Person Christi selbst und also sein anderes Ich, seine bleibende Gegenwart in den Seinigen sei. — Die neue Erscheinung Jesu vor den sämtlichen Jüngern gilt der Überwindung der letzten Zweifel, die Thomas noch gehegt hatte. Die Probe des Betastens findet sich auch bei Lukas, dort zur Konstatierung der körperhaften Realität des Auferstandenen bis auf „Fleisch und Knochen"; das mochte unserem geistigeren Evangelisten doch zu materiell erscheinen; er dachte sich wohl den Leib des Auferstandenen als himmlisch verklärt, also ohne irdische Stofflichkeit, aber doch der Gestalt nach mit dem irdischen durchaus bis auf die Wundenmale hinaus ähnlich. Die Folge dieser Offenbarung war das Bekenntnis des Thomas: „Mein Herr und mein Gott!" Es ist die christologisch gesteigerte Wiederholung des Petrusbekenntnisses 6, 69. In der Antwort Jesu: „Selig, die ohne zu sehen geglaubt haben!" drückt sich noch einmal die schon früher öfters geäusserte Höherschätzung des Glaubens aus, der auf's blosse Wort, ohne die sinnlichen Stützen der Zeichen und Wunder, das Göttliche in Christo anerkenne, was freilich nicht ausschliesst, dass doch unserem Evangelisten auch diese sinnlichen Wunderbeweise

Johanneische Schriften.

Das Evangelium nach Johannes.

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als wichtige Hilfsmittel des werdenden Glaubens gelten; hat er doch in seinen Wundergeschichten die älteren Evangelien durchweg noch weit überboten. Das Schlusswort V. 30f. bildet das Seitenstück zum Vorwort des Lukasevangeliums. Aber während dort der Evangelist sein Absehen auf Genauigkeit und Vollständigkeit der Darstellung zu richten erklärt, um hierdurch sichere Überzeugung hinsichtlich der geschichtlichen Grundlagen des Christenglaubens überhaupt zu bewirken, hat es dagegen der vierte Evangelist nicht auf geschichtliche Vollständigkeit abgesehen, sondern er hat seinen Stoff so ausgewählt (und behandelt, dürfen wir hinzusetzen), wie es seinem dogmatischen Zweck entsprach: die Leser zum Glauben an Christum als den Gottessohn im höheren Sinn der wesenhaften Gottheit (V. 28) zu führen, damit sie in seinem Namen, d. h. im Glauben an das in dem Namen des „ Gottessohnes" liegende höhere Wesen Christi oder an die in ihm erschienene vollkommene Selbstoflfenbarung Gottes ewiges Leben haben mögen. Damit deutet der Evangelist selbst an, dass seine Schrift kein Geschichtswerk, sondern eine Lehrschrift sein soll, in welcher das Geschichtliche nur das untergeordnete und unwesentliche Mittel zur Darstellung dogmatischer Ideen bildet. Und ganz so haben wir es durchweg gefunden: die geschichtliche Form erkannten wir überall als durchsichtige Allegorie religiöser und dogmatischer Gedanken. Kp. 21 enthält einen N a c h t r a g von der Hand eines anderen Verfassers, der wahrscheinlich auch bei der Namengebung und Aufnahme des Buchs in die Kirche Pate gestanden hat. Zweck dieses Nachtrages war zunächst, die johanneische Ostergeschichte, die sich ausschliesslich an die Lukastradition hinsichtlich des jerusalemischen Schauplatzes anschloss, zu ergänzen durch eine galiläische Erscheinung, also zwischen der jüngeren und der älteren Form der Überlieferung eine ausgleichende Vermittlung zu geben, wie dieses in seiner Art auch das harmonistische Evangelienwerk nach Matthäus getan hat. Sodann sollte das Verhältnis der beiden apostolischen Rivalen Johannes und Petrus in einer dem katholisch-kirchlichen Bewusstsein annehmbareren Form geregelt, die im Evangelium auffallende Bevorzugung des Johannes gemildert und Petrus rehabilitiert werden zu seiner schon anerkannten kirchlichen

IV.

390

Würdestellung.

Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften.

Den Stoff zu seiner

durch

und durch

allegorischen

Erzählung entnahm der Verfasser der Lukas'schen Allegorie vom Fischzug des Petrus modifizierte. Wort hin

(5, 1 — 1 1 ) ,

die er für seine Zwecke

entsprechend

Beidemal wird nach anfangs fruchtloser Arbeit auf Jesu

ein reicher Fang

gemacht, wobei hier

fangenen Fische auf 153 bestimmt

wird,

die Zahl

der

ge-

was nach HENGSTENBERG'S

wahrscheinlich richtiger Deutung als typische Zahl der zum Christentum zu bekehrenden Heidenvölker aber bei Lukas vor

zu verstehen ist.

der Menge der Fische

Fische in zwei Boote verteilt werden einen

unteilbaren

Kirche.

Dass

müssen, in e i n

unzerrissen und kommen alle Fische

dann

Während

bleibt Boot:

hier das

des Petrus.

wird gutgemacht

das dreimalige

durch

Seine

dreimalige

Bekenntnis

Jesu, der ihm auch dreimal das Hirtenamt sein künftiges Martyrium vorhersagt. kommt.

der

mit

den

Hierauf

Verleugnung

seiner Liebe

über seine Lämmer

Schafe, d. h. über die Gemeinde insgesamt zuspricht, der Vorzug zugesprochen,

die Netz

ein Symbol

der Auferstandene

Jüngern zusammen isst, ist eine Nachbildung von Luk. 24, 41 f. folgt die Rehabilitation

dann

das Netz reisst und

zu und

zugleich jedoch

Dafür wird dem Lieblingsjünger

dass er solange bleiben

soll, bis

Christus

Da der Verfasser dazu die Erklärung hinzufügt, es sei nicht

so gemeint,

als ob derselbe nicht sterben werde,

so kann

er

dieses

Wort Christi nur in dem uneigentlichen Sinn verstanden haben, dass das durch den Lieblingsjünger repräsentierte

und in dem Johannes-

evangelium zum Ausdruck gekommene geistige Christentum der kleinasiatischen Gnosis für alle Zeit in Geltung bleiben

soll, wenn

auch

die äussere Leitung der Gemeinde dem praktischeren Petrus, d. h. der den Petrus-Namen zur Losung machenden soll.

Durch

dieses Zugeständnis

römischen Kirche

der leitenden

Führerrolle

zufallen an

das

petrinisch-römische Christentum hat die johanneische Gnosis ihr kirchliches Existenzrecht erkauft und sich den Eingang in die abendländische Kirche geöffnet.

Die Briefe

Johannis.

Die unter dem Titel: „erster Brief Johannis" überlieferte Schrift ist kein eigentlicher Brief — weder Verfasser noch Adressaten werden

Johanneische Schriften.

Die Briefe Johannis.

391

genannt, kein Gruss am Anfang oder Ende, keine Bezugnahme auf bestimmte Gemeindeverhältnisse — sondern eine E n c y k l i k a an die christlichen Gemeinden, die deren Befestigung im wahren kirchlichen Glauben durch Bekämpfung der gefährlichen gnostischen Irrlehrer bezweckt. Eine bestimmte Disposition des Inhalts ist nicht möglich, da der Verfasser unter verschiedenen Wendungen immer wieder auf dieselben ihm am Herzen liegenden Grundgedanken zurückkommt. Doch lässt sich eine Einleitung, ein Hauptteil, der wieder in etwa drei'Abschnitte sich zerlegt, und ein Schluss unterscheiden. Die Einleitung 1, 1—4 hat auffallende Ähnlichkeit mit dem Prolog des Evangeliums; wie dieser ausgeht vom Logos, der uranfänglich bei Gott und das Leben und Licht der Welt war, durch seine Fleischwerdung aber so offenbar wurde, dass seine Herrlichkeit Gegenstand des Schauens und Bezeugens seitens der gläubigen Gemeinde werden konnte, so beginnt auch das Sendschreiben mit einem Satz, der sich als zusammenfassende Umschreibung ebendesselben Gedankens bezeichnen lässt: „Was von Anfang war, was wir gehört, was wir gesehen haben mit unseren Augen, was wir geschaut und unsere Hände betastet haben, in betreff des Wortes des Lebens — und zwar ist das Leben offenbar geworden und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen auch euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbar geworden ist, — was wir (also) gesehen und gehört haben, verkündigen wir euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habet. Und unsere Gemeinschaft ist aber (auch) mit dem Vater und mit seinem Sohne Jesus Christus. Und dieses schreiben wir euch, damit unsere Freude vollkommen sei." Der Verfasser schreibt dies vom Bewusstsein der kirchlichen Gemeinde aus, die mit den ersten Zeugen der Offenbarung in Christus sich in solcher solidarischen Einheit weiss, dass sie deren Erfahrung auch sich aneignet, sofern deren leibhaftiges Schauen, Hören und Betasten des in Jesu erschienenen ewigen Lebens im geistlichen Wahrnehmen des Glaubens (vgl. 3, 6) fortdauernd nachwirkt, wobei übrigens dahingestellt bleibt und vielleicht bleiben soll, ob er selbst persönlich zu den ersten Zeugen gehört habe oder nicht. Er sagt nicht: ich habe gesehen, gehört, betastet, sondern: w i r , d. h. zunächst die ersten Zeugen, aber mit ihnen auch alle die, die auf dem Boden der apostolischen Überlieferung stehen und mit der Kirche an

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Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften.

das leibhaftige Erschienensein des göttlichen Lebens in der menschlichen Person Jesu glauben. In gleicher Weise hat noch Irenaus sich selbst eingerechnet in die Gesamtheit derer, die „unseren Herrn sehen und mit unseren Ohren seineStimme vernehmen" (a. haer. V, 1,1). Worauf es diesen kirchlichen Lehrern ankommt, ist eben die Verwerfung der doketischen Irrlehre, und darin wissen sie alle sich solidarisch eins mit der apostolischen Urgemeinde, deren Zeugnis im Glauben der Kirche ihr fortwährendes Echo findet. Wobei freilich nicht zu übersehen ist, dass die Urgemeinde in Jesus noch nicht, wie der vierte Evangelist, den fleischgewordenen Gott-Logos, sondern den von göttlichem Geist und Leben erfüllten Menschen gesehen hatte. Es geschah ohne Zweifel im Gefühl dieses Unterschiedes und in der Absicht, ihn zu verwischen, dass unser Verfasser es vermieden hat, von dem persönlichen Logos zu reden, der bei Gott (als unterschiedenes Wesen) und das Leben der Welt war, und dafür nur das „Wort des Lebens" und „das ewige Leben, das beim Vater war", zum Subjekt der Offenbarung machte: er hat für das konkrete Subjekt Logos dessen abstrakten Inhalt „Leben" gesetzt und damit die neue Christuslehre des Evangelisten dem Gemeindeglauben angepasst. Wie nun im evangelischen Prolog an das Leben das Licht als zweites Attribut des Logos sich reihte, so bildet auch hier der Begriff des Lichtes, aber nicht als Attribut des Logos, sondern Gottes, den Angelpunkt des ersten Abschnittes (1, 5—2, 17). Weil Gott Licht ist, kann mit ihm nur Gemeinschaft haben, wer im Lichte wandelt, d. h. wer seine Gebote hält und vor Sünde sich möglichst hütet, aber ebenso vor dem Selbstbetrug einer eingebildeten Sündlosigkeit sich hütet, vielmehr seine tatsächlichen Sünden demütig bekennt und ihre Vergebung von dem treuen und gerechten Gott (Rom. 3, 25) erhofft, wozu uns ein Recht gibt die Fürsprache Jesu Christi, der eine Sühne ist für unsere und der ganzen Welt Sünde. Insbesondere soll das „Sein im Licht" sich erweisen (statt in hochmütigem Separatismus nach der Häretiker Art) in der Bruderliebe, das ist das neue (Joh. 13, 34) Gebot, das seit dem Anfang des wahrhaftigen Lichtes gilt, das aber für die Leser auch das alte ist, sofern sie es schon von Anfang ihres Christseins kannten. Der den Bruder Liebende bleibt im Licht, weil seine Liebesgesinnung keinen „Anstoss", d . h . zur Sünde verführenden

Johanneische Schriften.

Die Briefe Johannis.

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Reiz enthält; hingegen der den Bruder Hassende wandelt in der Finsternis, ohne Richtung und Ziel des Weges zu kennen, also allen Gefahren preisgegeben, weil seine Augen geblendet sind durch die Finsternis, d. h. weil seine sittliche Urteilskraft durch den blinden Trieb seiner Selbstsucht unterdrückt ist. In diesem traurigen Zustand befinden sich die Leser nicht, darum kann der Verfasser sich an sie als seine geistlichen Kinder wenden, in der zuversichtlichen Voraussetzung, dass sie allesamt, die an Jahren Gereiften wie die Jüngeren, im Besitz des christlichen Heiles sich befinden, nämlich der Sündenvergebung, Erkenntnis Gottes und Überwindung des bösen Feindes (Teufels). Hierbei soll es ein für allemal bleiben, darum werden diese Sätze noch einmal wiederholt („ich habe euch geschrieben"), um sie als die feststehende Grundlage der folgenden Mahnungen zu bekräftigen.*) Hieran schliesst sich zunächst die allgemeine Mahnung, die Christen sollen nicht die der Liebe Gottes widersprechende Liebe zur Welt, ihrer vergänglichen Lust und ihrem blendenden Schein und Prunk hegen; darauf dann die spezielle Warnung vor den Widerchristen, •deren zahlreiches Auftreten das Zeichen der letzten Stunde, d. h. des nahen Weltgerichts sei (der eine Widerchrist der Apokalypse, die heidnische Weltmacht Roms, ist hier umgedeutet in die vielen Widerchristen, die gnostischen Irrlehrer). Das seien die Lügner, die leugnen, •dass Jesus der Christus sei, und die mit dieser Verleugnung des Sohnes auch zugleich den Vater verleugnen. Von diesen Irrlehrern, die von der Gemeinde ausgegangen seien, aber ihr nie wahrhaft angehört haben, sollen die Leser sich nicht verführen lassen, da sie ja alle kraft der in der Taufe empfangenen Geistessalbung das wahre Wissen schon besitzen und keiner neuen besonderen Belehrung bedürfen, sondern nur des Bleibens bei der alten und allen gemeinsamen Wahrheit. Aber das Bleiben im Vater und Sohn ist nicht bloss durch das Festhalten an dem wahren Bekenntnis bedingt, sondern auch durch die praktische Nachfolge Christi in der Übung der Gerechtigkeit. Damit ist der Übergang gemacht zu dem zweiten Abschnitt,

der

") Diese Deutung des eypctia 2, 14 scheint mir richtiger als die Beziehung auf eine frühere Schrift, etwa das Evangelium, was deutlicher ausgedrückt sein müsste, auch zu dem viel mehr lehrhaften als paränetischen Zweck des Evangeliums nicht wohl passen dürfte.

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Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften.

(3, 1—24) das Idealbild der Gotteskinder zeichnet. Die Christen sind zwar jetzt schon Gottes Kinder, nicht bloss weil Gottes Liebe sie so zu heissen gewürdigt hat, sondern auch dem Wesen nach, weil sie aus Gott gezeugt und darum der gottlosen Welt fremd und unverständlich sind; aber zur vollen Offenbarung ist dieses ihr Wesen jetzt noch nicht gekommen, sondern zur Vollendung wird es erst künftig kommen, wenn im unmittelbaren Anschauen Gottes (oder Christi?) sein Ebenbild in seinen Kindern zur vollen Ausgestaltung gelangt sein wird (vgl. II Kor. 3, 18. Rom. 8, 29. Kol. 3, 3f. Joh. 17, 24ff.). Eben diese Hoffnung auf künftige Yerähnlichung mit Gott wird zum Beweggrund für die Christen, sich jetzt schon von allem gottwidrigen Wesen zu reinigen. Weil Christus, der Sündlose, sich geoffenbart hat, um die Sünden wegzunehmen, so ist das Bleiben in ihm unvereinbar mit dem Bleiben in der Sünde, die ja eben der Widerspruch mit dem „Gesetz", d. h. dem Willen Gottes und Zweck Christi ist. Wer also „sündigt" (nicht aus Schwachheit, wie die Christen nach 1, 8f., sondern aus Grundsatz, wie die libertinischen Gnostiker), bei dem ist auch die gerühmte Gotteserkenntnis eine blosse Täuschung, durch die sich niemand irreführen lassen darf. Nur wer die Gerechtigkeit t u t , ist in Wahrheit gerecht und entspricht dem sittlichen Wesen Christi. AVer dagegen die Sünde tut, der beweist damit seine Herkunft und Wesensverwandtschaft mit dem Ursünder, dem Teufel, dem Widersacher Christi, der eben dazu erschienen ist, um dem Werke und Wesen des Teufels ein Ende zu machen. Jeder, der aus Gott gezeugt ist, tut nicht Sünde, weil dessen „Same" (göttlicher Lebenskeim und heilige Triebkraft) in ihm bleibt, und er kann nicht sündigen, weil er aus Gott gezeugt ist (sein gottverwandtes Wesen stösst die Sünde als etwas ihm Feindliches naturnotwendig zurück.) Darin eben (und nicht etwa in stolzen Worten und Spekulationen) besteht das Unterscheidungsmerkmal der Gottes- und der Teufelskinder: wer nicht Gerechtigkeit übt, wer insbesondere das christliche Grundgebot der Bruderliebe verletzt, der ist nicht von Gott, sondern gehört zur Sippe Kains, des Brudermörders, der seinen Bruder eben wegen dessen Gerechtigkeit hasste. — Derselbe Wesensgegensatz der beiden grundverschiedenen Menschenklassen, der sich so schon am Anfang der Geschichte äusserte,, kommt auch jetzt noch zu ähnlicher Erscheinung: die Welt, die durch

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ihre Lieblosigkeit ihr geistliches Todsein beweist, hasst die Christen, •weil sie durch ihre Bruderliebe zeigen, dass sie aus dem Tod ins Leben übergegangen sind (Joh. 5, 24). Durch das Vorbild der opferwilligen Liebe, die Christus in seinem Tode gezeigt hat, fühlen wir zu gleicher Liebesgesinnung uns verpflichtet, die nicht in Worten bloss, sondern in der Tat und Wahrheit sich äussern soll. In dieser werktätigen Bruderliebe besitzen wir auch die Bürgschaft dafür, dass wir aus der Wahrheit sind, und werden so imstande sein, unser Herz vor ihm zu überzeugen — was auch immer (o xi lav) unser Herz uns vorwerfen möge —, dass Gott grösser ist als unser Herz und alles erkennt (auch unsere trotz aller einzelnen Verfehlungen doch wahrhaftige Liebesgesinnung, vgl. Joh. 21, 17. Rom. 8, 27). Wenn aber unser Herz uns nicht anklagt, haben wir die freudige Zuversicht zu Gott, die auch der Erhörung unserer Bitten uns gewiss macht, sofern >vir seine Gebote halten. Diese aber fassen sich zusammen in dem Glauben an den Namen seines Sohnes und in der Bruderliebe. Das Halten seiner Gebote ist die Voraussetzung unseres Bleibens in ihm und zugleich der tatsächliche Beweis vom Besitz seines Geistes. Damit ist der Ubergang gemacht zum dritten Abschnitt (4,1—5,13), der in der Verbindung des wahren Christusglaubens mit der Bruderliebe das Kennzeichen des echten christlichen Geistes im Gegensatz zu den Irrgeistern aufzeigt. Da schon viele falsche Propheten in die Welt ausgegangen sind, so sollen die Leser die Geister prüfen, ob sie aus Gott sind. Das Unterscheidungszeichen des Geistes der Wahrheit gegenüber dem des Truges ist, dass jener bekennt Jesum Christum als im Fleische gekommen; ihn zu leugnen ist das Wesen des Antichristes, der, wie die Leser wissen, kommen soll und schon jetzt in der Welt ist (vgl. 2, 18). Diese Irrgeister sind aus der Welt und reden nach der Welt Sinn und finden daher Beifall in der Welt, aber die gläubige Gemeinde hat sie überwunden, weil der in ihr lebende Gottesgeist dem Weltgeist überlegen ist. Sie allein weiss sich im Besitz der Gotteserkenntnis; wer nicht aus Gott ist, hört nicht auf sie. Darum sollen die Christen aber auch ihre Erkenntnis Gottes und ihr Gezeugtsein aus Gott bewähren durch die Bruderliebe. Wer nicht Liebe hat, der hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist die Liebe. Nicht von uns geht die Liebe aus, sondern von Gott, der sich als die Liebe darin an uns

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Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften.

geoff'enbart hat, dass er seinen eingeborenen Sohn sandte als Sühne für unsere Sünden. Unseren Dank für solche Liebestat Gottes sollen wir erweisen in der Liebe zu den Brüdern. Gott hat niemand je gesehen (Joh. 1, 18), daher können wir ihm den Dank für seine Liebe nicht unmittelbar entrichten, sondern nur mittelbar, indem wir die Brüder lieben; dann bleibt er in uns und erweist sich seine Liebe in uns vollendet, d. h. in ihrer vollen Kraft und "Wirkung. Daran erkennen wir unsere Gemeinschaft mit ihm, dass er uns von seinem Geist gegeben hat (3, 24). Kraft dieses Geistes erkennen und bekennen wir in Jesus den Sohn Gottes, den der Vater als Heiland der Welt gesandt und damit seine Liebe zu uns bekundet hat. Weil Gott Liebe ist, kann nur der in der Liebe Bleibende auch in der Gemeinschaft mit ihm bleiben. Die herrlichste Frucht dieser Liebesgesinnung ist die Freudigkeit, die wir auch im Blick auf den künftigen Gerichtstag haben dürfen, da wir jetzt schon in demselben Zustand (der Verbundenheit mit dem Vater) sind, wie Christus. Die vollkommene Liebe treibt die Furcht (vor dem Gericht) aus. Das ist eben die Liebe, die ihren Grund hat im Glauben an die vorausgehende Liebe Gottes zu uns, und ihre Erscheinung hat in der werktätigen Bruderliebe. Beides also zusammen ist der Erweis des aus-Gott-Gezeugtseins: der Glaube, dass Jesus der Christus ist, und die Liebe zum Vater, die sich bewährt in der zu seinen Kindern. Die Liebe zu Gott besteht darin, dass wir seine Gebote halten; diese aber sind für uns nicht schwer, weil alles aus Gott Gezeugte die Welt überwindet; dieser Sieg, der die Welt überwunden hat, ist unser Glaube. Nur der kann die Welt besiegen, der glaubt, dass Jesus der Sohn Gottes ist, und zwar der Christus, der gekommen ist nicht bloss im Wasser (der Taufe), sondern auch im Blut (des Kreuzestodes). Zeuge dafür ist der Geist, der die Wahrheit ist, und der mit Wasser und Blut (in den Mysterien) zusammen wirkt und zeugt. Darin besteht das über bloss menschliches Zeugnis an Autorität weit erhabene Zeugnis, das Gott selbst über seinen Sohn abgelegt hat. Wer diesem Zeugnis nicht glaubt, der macht Gott zum Lügner; der Gläubige aber hat mit dem Sohne das ewige Leben, das Gott uns in ihm geschenkt hat. Eben dies erklärt der Verfasser für den Zweck dieses seines Schreibens (vgl. Joh. 20, 31), dass die Leser wissen sollen, dass sie eben als die an den Namen des Sohnes Gottes

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Die Briefe Johannis.

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Glaubenden (und nicht erst durch anderweitige gnostische Weisheit) im Besitz ewigen Lebens sich schon befinden. Der Schluss (V. 14—21) fügt noch einige teils nachträgliche teils rekapitulierende Bemerkungen hinzu. Die Christen dürfen der Erhörung ihrer Bitten, sofern sie dem Willen Gottes entsprechen, gewiss sein. Darum wird auch ihre Fürbitte für solche Brüder, die eine Sünde nicht zum Tode begangen haben, diesen (Vergebung und) Leben bewirken. Wo es sich aber um eine Sünde zum Tod handelt, da sollen sie nicht Fürbitte tun. Denn wenn auch jedes Unrecht Sünde ist, so ist doch nicht jede Sünde eine solche zum Tode. Eine solche Sünde begeht der aus Gott Gezeugte nicht, er bewahrt sich (in seinem gottverwandten Wesen), so dass der böse Feind ihn nicht antasten kann (3, 9). Wir wissen, dass wir aus Gott sind und die ganze Welt im Argen (in Satans Macht) liegt. Wir wissen aber auch, dass der Sohn Gottes gekommen ist und uns Einsicht verliehen hat, dass wir den AVahrhaftigen erkennen; und wir sind in dem Wahrhaftigen, in seinem Sohne Jesus Christus. Dieser ist der wahrhaftige Gott und ewiges Leben (Joh. 17, 3. 20, 28?) Das Schlusswort fasst die Polemik gegen die Irrlehrer in die Warnung zusammen: „Kindlein, hütet euch vor den Abgöttern!" Der unter Johannes' Namen überlieferte z w e i t e und d r i t t e Brief sind richtige Briefe mit Adresse und Schlussgruss. Der Verfasser nennt sich nur: „der Presbyter" ohne Namen, der sonach als den Adressaten bekannt vorausgesetzt wird. Gerichtet ist der II. Brief an „die auserwählte Herrin (cxXsxt^ xupia) und ihre Kinder", worunter schwerlich eine einzelne christliche Frau gemeint ist, da in diesem Fall nicht wohl gesagt werden könnte, dass alle, welche die Wahrheit erkannt haben, ihre Kinder lieben (V. 1); es wird also wohl eine christliche Gemeinde als Vertreterin der ganzen christlichen Kirche gemeint sein, die „Herrin" heisst, weil sie mit dem Herrn Christus durch ein gleichsam eheliches Band (vgl. Eph. 5, 32) verbunden ist. Der Verfasser drückt seine Freude darüber aus, dass er unter ihren Kindern solche gefunden habe, die in Wahrheit wandeln nach dem Gebot, das wir vom Vater erhalten haben. Dem neuen, aber ihnen von Anfang an bekannten Gebot der Bruderliebe sollen sie auch ferner-

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hin folgsam sein. Diese Mahnung ist veranlasst durch die Tatsache, dass viele Verführer in die Welt ausgegangen sind, die nicht bekennen Jesum Christ als im Fleische Kommenden, worin das Merkmal des Antichrists besteht. Jeder, der in dieser Weise fortschreitet (zu gnostischen Neuerungen), dass er nicht bleibt in der Lehre (der Kirche) von Christus, hat den Vater und den Sohn nicht, d. h. verleugnet den christlichen Glauben überhaupt. Vor solchen sollen die Leser sich vorsehen, sie nicht in ihr Haus aufnehmen, ihnen keinen Gruss gönnen, um jede Gemeinschaft mit ihren üblen Werken zu vermeiden. Also eine bündige Aufforderung an die Gemeinden, den für ihre (gnostischen) Neuerungen Propaganda machenden Ketzern die kirchliche Gemeinschaft aufzusagen. Näheres hierüber will der Briefschreiber mündlich bei seinem bevorstehenden Besuch sagen. Er schliesst mit einem Gruss von den Kindern der Schwester der Empfängerin, d. h. wohl der Schwestergemeinde, welcher der Presbyter selbst angehörte. Der III. Brief ist an einen Gaius gerichtet, der belobt wird wegen seines Wandels in der Wahrheit, und aufgefordert wird, auch fernerhin Gastfreundschaft zu üben gegen umherreisende Brüder, die als Glaubensboten ausgezogen seien und von den Heiden nichts annehmen, daher auf die hilfreiche Unterstützung seitens der Christen angewiesen seien, die sich hierdurch als Mitarbeiter für die (Verbreitung der) Wahrheit erweisen. Sodann beschwert sich der Verfasser über einen Diotrephes, der in seiner Herrschsucht sich feindlich zu ihm, dem Verfasser, stelle, seinen Brief an die Gemeinde nicht aufnehme (den II. Johannesbrief?), ihn mit schlechten Worten verlästere, auch die (von ihm empfohlenen) Brüder nicht gastlich aufnehme und sogar andere Gemeindeglieder, die dies tun wollten, daran hindere und aus der Gemeinde ausschliesse. Solchem üblen Beispiel möge Gaius nicht folgen, da solch ein Übeltäter (wie Diotrephes) nicht aus Gott sei und Gott nicht geschaut habe (vgl. I, 3, 6, wo dieser Ausdruck auf den gnostischen Anspruch besonderer Gotteserkenntnis Bezug hat; sollte dies auch hier der Fall sein, so läge dem herrischen Benehmen des Diotrephes gnostische Intoleranz gegen die Sendboten der traditionsgläubigen Gemeinde und ihres Presbyter zu Grunde). Im Gegensatz zu Diotrephes, dem der Presbyter bei

Johanneische Schriften.

Entstehung der johanneischen Schriften.

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seiner bevorstehenden Ankunft in der dortigen Gemeinde sein Treiben vorzuhalten gedenkt, wird dem Demetrius ein gutes Zeugnis von Seiten aller und der Wahrheit selbst ausgestellt, das auch der Verfasser seinerseits bekräftigt, wobei er an das Vertrauen des Lesers auf die Glaubwürdigkeit seines Zeugnisses appelliert. Die Frage, wie es sich mit diesem Zeugnis und überhaupt mit der in Anspruch genommenen Autorität dieses „Presbyters" verhalte, hängt mit der weiteren nach der Urheberschaft der johanneischen Schriften überhaupt zusammen.

E n t s t e h u n g der johanneischen Schriften. Die kirchliche Tradition, wie sie seit dem letzten Viertel des zweiten Jahrhunderts feststeht, hat bekanntlich diese Schriften — Apokalypse, viertes Evangelium und die drei Briefe — sämtlich dem Apostel Johannes zugeschrieben, obgleich keine derselben sich selbst •direkt für dessen Werk ausgibt. Unter diesen Umständen liegt der geschichtlichen Wissenschaft die Aufgabe ob, einerseits die äusseren Zeugnisse für die kirchliche Tradition zu prüfen, und andererseits aus den inneren Merkmalen einer jeden derselben den wirklichen Sachverhalt soweit wie möglich zu ermitteln. Der Märtyrer J u s t i n (dial. c. Tr. 81) ist der erste Zeuge für •die Abfassung der Apokalypse durch den Apostel Johannes, doch nur der Apokalypse gilt sein Zeugnis, nicht dem Evangelium oder den Briefen, die er nie erwähnt. Der erste und Hauptzeuge für die apostolisch-johanneische Abfassung auch des Evangeliums und des ersten Briefes ist I r e n ä u s in seiner Schrift „gegen die Häresen" (ca 180 p. C.). Da er hierin wie in anderem als der Vater der kirchlichen Tradition gelten kann, so müssen wir auf seine Aussagen etwas näher eingehen. In III, 10 berichtet er zuerst über die Abfassung •der Evangelien Matthäi und Marci im wesentlichen Anschluss an die bekannte Notiz des Papias (Euseb. K. G. III, 39) und fügt dann aus seinem eigenen hinzu, dass Lukas, der Begleiter des Paulus, das von diesem verkündete Evangelium aufgezeichnet habe (eine Behauptung, deren Ungeschichtlichkeit gegenüber Luk. 1, 1—4 einleuchtet), und

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Kirchliche L e h r - u n d Mahn - Schriften.

dass nachher auch Johannes, der Jünger des Herrn, der an seiner Brust lag, während seines Aufenthalts zu Ephesus ein Evangelium schrieb. Als Zweck desselben gibt er III, 11, 1 an, Johannes habe den Irrtum bekämpfen wollen, den Kerinth und noch weit früher die sogenannten Nikolaiten aufgebracht hatten: dass ein anderer der Schöpfer, ein anderer der Vater des Herrn, ferner ein anderer der Sohn des Schöpfers und ein anderer der von oben kommende Christus sei, der, ohne zu leiden, auf Jesus, den Sohn des Schöpfers, herabstieg und wieder in sein Pleroma zurückflog, und dass den Anfang der Monogenes mache, der Logos aber der wahre Sohn des Eingeborenen sei, dass endlich diese Welt nicht vom obersten Gott, sondern von einer sehr untergeordneten Macht geschaffen sei. Dieses alles habe Johannes berichtigen wollen durch die wahre Lehre der Kirche von dem einen allmächtigen Gott, der alles durch sein Wort gemacht etc. Die Bekämpfung ebenderselben Irrlehre von mehreren Vätern und mehreren Söhnen (Monogenes und Logos, Christus und Jesus) war nach III, 16, 5. 6. 8 auch der Zweck des ersten und zweiten Johannesbriefes, die aber von Irenaus identifiziert werden, indem II Joh. 7 f. auch auf I Joh. zurückgeführt wird. Diese Zweckbestimmung des Evangeliums und der Briefe kann recht wohl richtig sein, weon auch der Verfasser derselben nicht, wie Irenaus will, der Apostel Johannes gewesen ist und nicht derselbe mit dem Verfasser der Apokalypse, in welcher die Nikolaiten bekämpft werden; da die letztere Häresie nach Irenäus' eigener Bemerkung „weit früher" aufkam als die des Kerinth, so muss die Apokalypse, in der die Nikolaiten als eine neue Erscheinung bekämpft werden, weit früher und also auch von einem anderen verfasst sein als das Evangelium und die Briefe, die gegen Kerinth gerichtet sein sollen; wir werden später sehen, dass es sich in der Tat so verhält, indem etwa ein Menschenalter zwischen jener und diesen liegt. — Dass die apostolische Herkunft und Autorität des vierten Evangeliums zur Zeit des Irenäus noch keineswegs allgemein unangefochten anerkannt war, lässt sich erkennen aus der erzwungenen Art, wie er die Vierzahl der Evangelien HI, 11, 8 zu beweisen sucht aus der Vierzahl der Weltgegenden und Winde und aus den vier Tieren der Cherubsgestalt; wie der vielgestaltige Cherub, so beruht auch das viergestaltige Evangelium auf einer Anordnung

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Die Entstehung der johanneischen Schriften.

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des Herrn; gegen diese freveln die Ketzer in Unwissenheit und Verwegenheit, indem sie mehr oder weniger als die vier kirchlichen Evangelien haben wollen, wie Marcion oder auch wie jene anderen, die das Evangelium nach Johannes wegen des darin verheissenen prophetischen Geistes zusammen mit diesem selbst verwerfen (11, 9). Gemeint sind darunter ohne Zweifel nicht bloss die Gegner der montanistischen Schwärmerei, sondern hauptsächlich die der pneumatischen Theologie, die im Offenbarungsgeist die Quelle einer höheren, über die urchristliche Tradition hinausgehenden "Wahrheitserkenntnis zu besitzen meinte, wie eben die johanneische (vgl. Apok. 19, 10. Joh. 1 6 , 1 3 f . I Joh. 5, 6). Solche Gegner waren die von Epiphanius (haer. 51, 3f.) so benannten „Aloger", die, ohne im übrigen unkirchliche Meinungen zu hegen, doch gegen das Evangelium und die Apokalypse Johannis als gegen unapostolische, vom Ketzer Kerinth geschriebene Schriften protestierten; sie vertraten die altgläubige Durchschnittsmeinung der einfachen Gemeinden, die an der alten evangelischen Überlieferung festhalten wollten und im „geistlichen Evangelium" nach Johannes eine gefährliche, weil mit der häretischen Gnosis bedenklich verwandte Neuerung erblickten. Dass es innerhalb der Kirche eine solche aus evangelischem Konservatismus hervorgegangene Opposition gegen die apostolische Geltung des JohannesEvangeliums noch zur Zeit des Irenaus und des Kanon Muratori geben konnte, und zwar gerade in den Gegenden vorzugsweise gab, die auch die Heimat des Johannes-Evangeliums sind, das ist in der Tat eine höchst beachtenswerte Erscheinung, in der ein starker Zweifelsgrund gegen die Richtigkeit der von Irenäus vertretenen und seit ihm siegreich durchgedrungenen kirchlichen Tradition zu finden ist. Um so mehr erhebt sich die Frage, auf welche geschichtliche Gründe denn Irenäus seine Behauptung gestützt habe? Er beruft sich wiederholt (II, 22, 5. III, 3, 4. V, 5, 1. 30, 1. 33, 3. 4) auf die „Alten" (Trpeaßurspoi), die in Asien mit Johannes, dem Jünger des Herrn, verkehrten, der bis zu Trajans Zeiten bei ihnen blieb; die nicht nur den Johannes, sondern auch andere Apostel gesehen und dies und jenes von ihnen vernommen haben, was sie bezeugen (wahrscheinlich in einer schriftlichen Quelle, und zwar derselben, die P f l e i d e r e r , Urchristentum.

2. Aufl.

Bd. II.

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Y, 33, 4 zitiert wird, nämlich die fünf Bücher der „Diegesen" des Papias). Einen von diesen Alten, Polykarp, der nicht bloss Apostelschüler war, sondern auch „von den Aposteln als Bischof für Asien in der Kirche zu Smyrna eingesetzt worden", hat Irenaus nach III, 3, 4 in seiner frühen Jugend noch selbst gesehen, und er versichert im Brief an Florinus (Euseb. K. G. V, 20, 4—T), dass er sich noch genau seiner ganzen Erscheinung und seiner Reden erinnere, wie Polykarp erzählt habe von Johannes und den anderen Männern, die den Herrn gesehen, und wie er deren Reden anführte und was er von ihnen über den Herrn gehört Ijatte, alles im Einklang mit den heiligen Schriften. Diese Dinge habe er damals fleissig gehört und sie nicht auf Papier, sondern in seinem Herzen verzeichnet und erinnere sich ihrer durch Gottes Gnade fortwährend. Das scheint nun allerdings eine sichere Grundlage seiner Überlieferung über Johannes zu sein; nur schade, dass alle Einzelheiten, die er darauf stützt, bei näherer Prüfung sich durchweg als völlig unzuverlässig ergeben. Um gleich von dem zuletzt angeführten Zitat (III, 3,4) auszugehen, so soll Polykarp nicht bloss Apostelschüler gewesen, sondern auch von den Aposteln zum Bischof Asiens eingesetzt worden sein — eine ungeheuerliche Behauptung, für die in den Briefen des Polykarp und Ignazius keine Spur eines Anhaltes zu finden ist; soviel in den letzteren auch von . der Würde und Autorität der Bischöfe die Rede ist, so wird sie doch nirgends auf eine apostolische Einsetzung zurückgeführt, sondern auf den göttlichen Willen und das Urbild Christi; die Bischöfe sind noch nicht Nachfolger der Apostel, sondern Vertreter und Werkzeuge Gottes und Christi an den Einzelgemeinden; die Bischöfe der Einzelgemeinden stehen auch noch selbständig nebeneinander, ohne die spätere hierarchische Unterordnung; von einem „Bischof Asiens" konnte also damals noch gar keine Rede sein. Und woher könnten denn um die Zeit von 95 — 100 (früher kann der ca. 69 geborene Polykarp nicht Bischof geworden sein) „die Apostel" kommen, die ihn zum Bischof eingesetzt haben sollen? Dies hat also Irenaus jedenfalls nicht aus seiner Erinnerung gewusst, weil es nie geschehen sein kann, sondern er hat es sich aus den Voraussetzungen seiner Zeit heraus so gedacht und seine grundlose Meinung unwillkürlich für einen Bestandteil seiner Erinnerung gehalten. Wird es sich mit den anderen

Johanneische Schriften.

Die Entstehung der johanneischen Schriften.

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Stücken seiner „Erinnerung" anders verhalten? In II, 22, 5 beruft er sich nachdrücklich auf die Überlieferung, die die Alten von Johannes und den anderen Aposteln überkommen haben sollen, zu Gunsten seiner Meinung, dass Jesus nicht bloss ein Jahr lang als junger Mann von dreissig Jahren gelehrt habe, sondern dass er das eines Lehrers würdigere Alter von 40—50 Jahren erreicht habe, weil er ja dazu gekommen sei, um alle Lebensalter, auch das höhere Alter, durch sein Wort und Vorbild zu heiligen. Also eine auf dogmatischen Postulaten beruhende, der evangelischen Überlieferung ins Gesicht schlagende Theorie wird von Irenaus ohne weiteres auf die Überlieferung der von den Aposteln belehrten „Alten" Asiens gestützt! Dass hier grobe Täuschung vorliegt, ist klar, wenn es auch dahingestellt bleiben mag, ob sie auf Rechnung des Irenaus selbst oder seiner Gewährsmänner zu stehen komme.*) Ein anderes Beispiel der Zuverlässigkeit von Irenäus' Tradition! Nach Y, 33, 3 und 4 sollen die „Alten" aus dem Munde des Apostels Johannes gehört haben, was auch Papias, „ein Hörer des Johannes und Genosse des Polykarp, ein Mann des Altertums", im vierten Buch seines "Werkes bestätige: dass der Herr gelehrt habe, im Reich Gottes der Endzeit werde jeder Weinstock 10000 Äste, jeder Ast 10000 Reben, jede Rebe 10000 Schösslinge, jeder Schössling 10000 Trauben, jede Traube 10000 Beeren und jede Beere 25 Mass Wein haben, und wenn einer der Heiligen sich einer Traube nähere, werde die andere rufen: ich bin besser, nimm mich! Für solchen massiv-sinnlichen Chiliasmusglauben soll also nach Irenäus derselbe Apostel Johannes der Gewährsmann sein, der auch das geistige, antichiliastische Evangelium geschrieben haben soll! Was ist von dem geschichtlichen Wert einer derartig sich selbst widersprechenden Tradition zu halten? Übrigens hat die obige Berufung des Irenäus auf Papias als „den Hörer des (Apostels) Johannes" die Kritik des *) Ivreyenbühl (Das Ev. der Wahrheit, S. 58) spricht von Flunkereien des Irenaus, R e v i l l e (Le IV Evang. S. 12) von seiner erstaunlichen Leichtgläubigkeit. P. Corssen (Jlonarchian. Prologe, T. und U. XV, S. 109) urteilt, dass die asiat. Presbyter „im günstigsten Fall eine Gesellschaft von betrogenen Betrügern gewesen" seien — was ihm naturlich von apologetischer Seite verübelt wurde. Es ist wahr, der Historiker soll nur verstehen, nicht verurteilen; aber noch weniger soll er durch blinde Pietät gegen die Stutzen der Tradition sich die Augen verbinden lassen. 26*

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Kirchliche Lehr- und Mahn-Schriften.

Eusebius herausgefordert, der das Werk des Papias auch gelesen und sorgfältiger gelesen hat, als Irenaus; ihm verdanken wir die sehr bedeutsame Mitteilung ( K . G. I I I , 39, 3 f . ) : Papias behauptet keineswegs, ein Hörer und Augenzeuge der hl. Apostel gewesen zu sein, sondern er sagt nur, dass er die Dinge des Glaubens von denen überkommen habe, die mit jenen in Beziehung standen. aus:

„Ich

hatte

nicht, wie die Menge,

Er drückt sich nämlich so an denen Gefallen,

die das

Viele sagen, sondern an denen, die das Wahre lehren, nicht an denen, die

fremdartige Gebote

berichten,

sondern

die

die vom Herrn dem

Glauben gegebenen und aus der Wahrheit selbst stammenden bezeugen. Kam einer,

der den Alten gefolgt war,

den Worten der Alten,

so erkundigte ich mich nach

was Andreas oder Petrus gesagt habe

(ST-EV)

oder Philippus oder Thomas oder Jakobus oder Johannes oder Matthäus oder sonst einer von den Schülern des Herrn, ebenso (erkundigte ich mich nach dem) was Aristion und der Presbyter Johannes, die Schüler des Herrn, sagen (A TS — Xe-youaiv). Büchern Enthaltenen nicht was

aus der

Denn ich glaubte von dem in den

so vielen Nutzen zu haben wie von dem,

lebenden und bleibenden Stimme komme."

Dazu fügt

dann Eusebius noch die Bemerkung hinzu: „Es ist beachtenswert, dass er (Papias) zweimal den Namen Johannes erwähnt: das erste Mal stellt er ihn mit Petrus, Jakobus, Matthäus und den anderen Aposteln zusammen handle, neben

und zeigt damit deutlich, dass es sich um den Evangelisten den

die

anderen Johannes stellt er in einem besonderen Satzteil

Gruppe

der Apostel,

nennt ihn deutlich: Presbyter.

stellt

ihm

den Aristion voran und

Darauf können die sich stützen,

die

sagen, dass es in Asien zwei gleichnamige Männer (Johannes) gegeben habe, und dass in Ephesus zwei Gräber seien, deren jedes noch heute das des Johannes heisse".

A n dieser Bemerkung des Eusebius ist so-

viel zweifellos richtig, dass Papias deutlich u n t e r s c h e i d e t zwischen dem Presbyter

Johannes,

den er mit Aristion zusammen ausserhalb

der Apostelgruppe nennt, und dessen Rede für ihn noch in die Gegenwart gehört (xi Xs-puoiv), und dem Apostel Johannes, den er als vorletzten

unter den sieben Aposteln aufzählt, deren Reden in die Ver-

gangenheit fallen (TI elirev); Deutung

der Papiasstelle

namens Johannes

wenn aber Eusebius aus dieser richtigen

auf

die Existenz zweier berühmter Männer

in Asien (Ephesus)

schliesst,

so ist er zu dieser

Johanneische Schriften.

Die Entstehung der johanneischen Schriften.

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Schlussfolgerung nicht durch den Inhalt jenes Zitats, sondern durch anderweitige Voraussetzungen gekommen; ob seine Schlussfolgerung richtig sei, ist eine Frage, die wir zunächst offen lassen, deren Lösung sich nachher ergeben wird. Hier gilt es vorerst nur zu konstatieren, was aus der zitierten Stelle des Papias sich deutlich ergibt: dass dieser niemals ein Hörer des Apostels Johannes noch sonst eines Apostels gewesen ist, sondern dass er von den Aposteln, die v o r seiner Zeit lebten und lehrten, nur durch Andere Kunde erhalten hat, und zwar vermittelt durch zwei Mittelglieder: durch die Alten, die noch Ohrenzeugen der Apostel selbst gewesen, und durch deren Nachfolger, bei denen, wo sie ihm begegneten, Papias Erkundigung einzog darüber, was jene Alten über die Lehren der Apostel zu sagen wussten. So wenig also war Papias wirklich ein unmittelbarer Apostelschüler, wie Irenaus behauptet hat, dass er vielmehr nur durch zwei Mittelglieder, also erst im dritten Grad Zeuge ist von Aussprüchen und Erzählungen der Apostel. Wäre dies möglich, wenn der Apostel Johannes wirklich, wie die Tradition will, bis in die Zeit Trajans herab in Ephesus gelebt und gelehrt hätte? Dann hätte ihm ja Papias zeitlich wie örtlich so nahe gestanden, dass er gar nicht nötig gehabt hätte, aus dritter Hand über ihu Erkundigungen einzuziehen; dann würde er gewiss sich lieber unmittelbar an die apostolische Quelle selbst, als an die Vermittlung der Alten, der Apostelschüler, gehalten haben. Doch wollen wir diese weiterreichenden Folgerungen vorläufig bei seite lassen, um zunächst wieder auf den Irrtum des Irenäus hinsichtlich der Apostelschülerschaft des Papias zurückzukommen. Was diesen Irrtum veranlasste, lässt sich deutlich erkennen: Irenäus hat den Presbyter Johannes mit dem Apostel verwechselt, was um so leichter geschehen konnte, als Papias beide mit demselben Ausdruck: „Schüler des Herrn" bezeichnete, und als der Presbyter ohne Zweifel eine hoch angesehene Autorität in Kleinasien war, die für eine spätere Generation leicht einen apostolischen Nimbus annehmen mochte. Wie aber, wenn derselbe Irrtum, der in Hinsicht auf Papias zweifellos vorliegt, auch mit Polykarp dem Irenäus begegnet sein sollte? Bedenken wir, dass Irenäus den Polykarp einen „Genossen", d. h. Mitschüler des Johannesschülers Papias nennt, so ist der Schluss unvermeidlich, dass auch der Lehrer Polykarps derselbe Johannes gewesen ist, dessen Schüler Papias

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war, also nicht der Apostel, sondern der Presbyter Johannes. Hat Irenaus diese beiden verwechseln können bei Papias, aus dessen Werk er doch den richtigen Sachverhalt bei einiger Aufmerksamkeit leicht hätte erkennen können, so ist es noch viel leichter möglich, dass dieselbe Verwechslung ihm begegnete bei Polykarp, von dem er nur aus seiner frühesten Jugend sich erinnerte gehört zu haben, dass er ein Schüler des berühmten Johannes gewesen sei. Wer eigentlich dieser Johannes gewesen, darüber hatte Irenaus keine „Erinnerung", sondern auf Grund anderweitiger Voraussetzungen (deren Erklärung sich unten ergeben wird) bildete sich ihm unvermerkt die Meinung, der Johannes, auf den sein Lehrer Polykarp sich berief, sei eben der Apostel gewesen, der .auch das Evangelium geschrieben habe. Dabei bemerkte er den Widerspruch nicht, dass der Evangelist Johannes der entschiedenste Gegner des Chiliasmus ist, während Polykarp und Papias ihren massiven Chiliasmusglauben auf ihren Lehrer Johannes zurückführten, der also vielleicht der Verfasser der Apokalypse, aber unmöglich der des Evangeliums sein konnte. Wie leicht eine solche Verwechslung zwischen einem Mann von lokaler Berühmtheit und einem gleichnamigen Apostel damals vorkommen konnte, dafür gibt es noch ein anderes interessantes Beispiel. In einem von Eusebius (K. G. III, 31, 3) aufbewahrten Fragment eines Briefes des P o l y k r a t e s , Bischofs von Ephesus und Zeitgenossen des Irenaus, an den römischen Bischof Viktor werden unter den christlichen Heroen Kleinasiens aufgeführt: Philippus, „einer der zwölf Apostel, der in Hierapolis begraben ist", nebst seinen zwei in hohem Alter als Jungfrauen verstorbenen Töchtern, deren eine eine Prophetin gewesen, die in Ephesus bestattet ist; „dazu noch Johannes, der an des Herrn Brust lag, der Priester wurde und das Stirnband trug und Märtyrer und Lehrer. Dieser ist in Ephesus begraben". Jener Philippus ist natürlich kein anderer als der Evangelist (nicht Apostel), dessen vier jungfräuliche und prophetische Töchter in ApG. 21, 9 erwähnt werden und auch dem Papias (nach Euseb. KG. III, 39, 9) bekannt waren; eben diese prophetischen Töchter scheinen seinem Namen zu einer Berühmtheit in Kleinasien verholfen zu haben, derzufolge er allmählich in die Stelle des obskuren Apostels Philippus einrückte. Genau dasselbe geschah mit der anderen und noch glänzenderen Berühmtheit

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Die Entstehung der johanneischen Schriften.

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Kleinasiens, Johannes, dem Propheten und Asketen und Apokalyptiker: er wurde um so leichter mit dem gleichnamigen Apostel identifiziert, je weniger man von diesem (nach einer Notiz von Papias) längst als Märtyrer verstorbenen noch eine nähere Erinnerung hatte. In der Charakteristik des Mannes in Polykrates' Fragment scheint das Bild des johanneischen Lieblingsjüngers (Joh. 13, 23) mit dem des Zebedaiden, der als Märtyrer endete, und mit dem des Apokalyptikers, der Lehrer und Priester (in geistlichem Sinne nach Apok. 1, 6) war, zusammengeflossen zu sein, wie das bei solchen halb geschichtlichen halb legendarischen Gestalten gewöhnlich der Fall ist, dass auf sie Züge verschiedener Herkunft übertragen werden.*) Übrigens ist zu beachten, dass Polykrates nur von e i n e m berühmten Johannes, der in Ephesus begraben sei, berichtet; der Apokalyptiker oder Presbyter war in der Legende zum Apostel geworden, von einem Nebeneinander beider weiss sie nichts, so wenig wie die wirkliche Geschichte, die nur für einen von beiden in Kleinasien Raum hat. Während Irenäus über die näheren Umstände bei der Abfassung des Evangeliums durch Johannes (abgesehen von der Bekämpfung Kerinths, vgl. S. 400) noch nichts zu berichten weiss, hat sich schon gegen Ende des zweiten Jahrhunderts hierüber eine Legende gebildet, die uns in doppelter Version überliefert ist: im Kanon M u r a t o r i und bei K l e m e n s Alex. Dort wird erzählt, das vierte Evangelium sei geschrieben von Johannes, einem der Schüler (des Herrn); als nämlich seine Mitschüler und Bischöfe ihn dazu aufforderten, habe er zu ihnen gesagt: „Fastet mit mir drei Tage, und was dann jedem geoffenbart wird, das wollen wir einander mitteilen". In derselben Nacht sei dann dem Apostel Andreas geoffenbart worden, dass unter ihrer gemeinsamen Kontrolle Johannes alles in seinem Namen schreiben solle. Daher komme es, dass trotz der Verschiedenheit des in den einzelnen Evangelienschriften Gelehrten doch nichts vom gemeinsamen Glauben abweiche, da unter der Leitung des einen Geistes alles in allen *) Vgl. REVILLE, Le IV Evang. 19: Die Konfundierung des Presbyters mit dem Apostel und Verwandlung desselben in einen Priester „beweist, bis zu welchem Grad der Apostel Johannes bereits gegen Ende des 2. Jahrhunderts eine legendarische Persönlichkeit geworden war, und das sogar in eben der Stadt, wo er lange Jahre als Apostel Asiens gewirkt haben sollte".

408

IV.

Kirchliche Lehr- und Mahn - Schriften.

(Evangelien) kundgetan werde über die Geburt (des Herrn), über sein Leiden, seine Auferstehung, den Verkehr mit seinen Jüngern und über seine doppelte Ankunft: die erste, die in Niedrigkeit und unansehnlich geschehen sei, und die zweite, die in königlicher Macht und Herrlichkeit geschehen solle. „Was ist es also zu verwundern", so schliesst der Bericht, „wenn Johannes auch in seinen Briefen so nachdrücklich das Einzelne betont, indem er von sich selbst sagt: Was wir mit unseren Augen gesehen und mit unseren Ohren gehört haben und unsere Hände betastet haben, das schreiben wir euch. Damit erklärt er, nicht bloss der Augen- und Ohrenzeuge sondern auch der Geschichtsschreiber aller Wunder des Herrn in ihrem Zusammenhang gewesen zu sein". — Von K l e m e n s Alex, hat Eusebius (KG. VI, 14, 7) die Notiz aufbewahrt, dass der Apostel Johannes auf die Aufforderung seiner Freunde (•yvtopijj.oi) und unter der Eingebung des heiligen Geistes ein geistliches Evangelium verfasst habe, weil die anderen Evangelien nur die äusserlichen Ereignisse berichteten. Diese beiden Angaben stimmen also darin zusammen, dass Johannes das Evangelium auf den Wunsch seiner Umgebung und unter der Eingebung und Leitung des heiligen Geistes geschrieben habe; aber nach dem Kanon Muratori sollen die Auffordernden „seine Mitschüler und Bischöfe" (cohortantibus condiscipulis et episcopis suis), d. h. seine Kollegen im Apostolat und Episkopat (!) gewesen sein, was voraussetzt, dass das Evangelium noch vor der^ Trennung der Apostel in Jerusalem geschrieben worden sei; wie es denn auch nachher heisst, dass Paulus „nach dem Vorgang des Johannes" (Apok. 2. 3) gerade nur an sieben Gemeinden geschrieben habe! Das Evangelium soll ferner unter der Kontrolle sämtlicher Apostel geschrieben sein, so dass das Apostelkollegium gleichsam die gemeinsame Bürgschaft für die Richtigkeit des von Johannes Geschriebenen übernahm. Hierdurch sowohl als auch durch die Leitung des einheitlichen Geistes soll die Übereinstimmung des Inhaltes aller Evangelien trotz ihrer Differenzen im einzelnen verbürgt werden. Deutlich erkennt man aus dieser geflissentlichen Betonung der Harmonie der Evangelien, dass diese damals noch von manchen bestritten, d. h. dass die Nichtübereinstimmung des johanneischen mit den älteren Evangelien von manchen behauptet worden ist, wobei wir uns wieder an das oben (S. 401) von den „Alogern" Gesagte erinnern. Wie ernstlich müssen

Johanneische Schriften.

Die Entstehung der johanneischen Schriften.

409

demnach noch gegen Ende des zweiten Jahrhunderts die Bedenken gegen die apostolische Autorschaft des vierten Evangeliums gewesen sein, wenn es zu ihrer Beschwichtigung so plumper Fabeln bedurfte, wie die Legende des Kanon Muratori sie enthält! Etwas vorsichtiger lautet die Fassung der Legende bei Klemens Alex., sofern hier die Aufforderung an Johannes nicht vom Apostelkollegium, sondern unbestimmter von seinem Freundeskreis ausgeht, auch nicht sowohl die Übereinstimmung des Johannes mit den anderen Evangelisten hinsichtlich aller evangelischen Wundergeschichten behauptet, als vielmehr der Unterschied und Vorzug des „geistlichen" Evangeliums vor den das Sinnliche (au)jj.epyEaii>v!

rpcceSöxTjaev

Die Theologie der Apologeten.

681

bilder und Erziehungsmittel für das Christentum anzuerkennen, und ohne der alttestamentlichen Prophetie mit einer Silbe zu erwähnen. Dieses Ignorieren des geschichtlichen Zusammenhangs des Christentums mit der alttestamentlichen Religion unterscheidet den Autor ad Diognetum von den anderen Apologeten und kirchlichen Lehrern und lässt ihn als einen Geistesverwandten Marcions, des Ultrapauliners, erscheinen, ohne dass er darum dessen Schüler gewesen sein müsste. Die Verwandtschaft lässt sich auch wohl ohne äussere Abhängigkeit aus einer gleichartigen religiösen Stimmung erklären; das an Paulus' Theologie gebildete kräftige Bewusstsein von der Neuheit und dem unvergleichlichen Wert des Christentums mochte um so leichter zu einem schroffen Exklusivismus gegen alles Vor- und Ausserchristliche gesteigert werden, je mehr im durchschnittlichen kirchlichen Bewusstsein der Unterschied zwischen dem Neuen und dem Alten sich abzuschwächen und die Grenzen sich zu verwischen schienen.

Die Theologie der Apologeten. In der Theologie der Apologeten hat sich das Christentum erstmals systematisch mit den vorchristlichen Religionen auseinandergesetzt und dabei sein eigentümliches Selbstbewusstsein ebensowohl behauptet und gestärkt, wie auch zu reicherem Inhalt entwickelt und erweitert. Alles Lebendige betätigt sich ja in diesen zwei immer verbundenen Richtungen: in der Selbstbehauptung seiner Eigenart durch Scheidung von anderem und in der Selbstentwicklung und Erweiterung seines eigenen Seins durch Verbindung mit anderem, durch Aneignung des in seiner Umwelt ihm Zusagenden und Umbildung des Angeeigneten zu einem assimilierten Bestandteile seines Wesens, einem eingegliederten Moment seines organischen Ganzen. Die Aneignung neuer Stoffe ist so wenig eine Hemmung des eigenen Lebensprinzips, dass sie vielmehr zu dessen Erhaltung und Entfaltung unbedingt nötig ist; nur wenn das Fremde nicht umgebildet und assimiliert würde, würde es

682

V.

l T rchristliche Apologetik.

zur Lebenshemmung und Erkrankung gereichen; ist es aber wirklich angeeignet, so gehört es ebensogut zum Inhalt des lebendigen Ganzen und kann ebensowenig aus diesem weggedacht werden wie dessen ursprüngliche Elemente. Ganz nach diesem Gesetz aller Lebensentwicklung hat sich auch die Entwicklung des christlichen Prinzips von Anfang an vollzogen. Man verkennt also das Gesetz der „Entwicklung", von dem das geschichtliche Leben sogut wie das natürliche beherrscht wird, wenn man den urchristlichen Lehrern die Aneignung religiöser Ideen aus ihrer Umwelt zum Vorwurf macht, als ob sie damit eine Verkümmerung und Erkrankung des Wesens des Christentums bewirkt hätten, statt anzuerkennen, dass sie ebendamit das christliche Prinzip von den engen Schranken des urchristlichen Messiasglaubens befreit und zur weltüberwindenden kirchlichen Religion erhoben haben. Zuerst und am wirksamsten ist diese Entbindung und Entwicklung des christlichen Prinzips durch den Apostel Paulus bewirkt worden, in dessen Fussstapfen dann seine Schüler, die Verfasser der deuteropaulinischen Schriften, und der tiefsinnige kirchliche Gnostiker, der das vierte Evangelium geschrieben hat, weitergingen. Unmitelbar an diese schlössen sich die Apologeten an, die den Ertrag der urchristlichen Lehrbildung für das Verständnis der griechisch-römischen Welt verständlich darzustellen versuchten und ebendamit ihn zugleich in der Richtung auf das kirchliche Dogma hin weiterzubilden begannen. Wir können unter den Apologeten zwei Richtungen unterscheiden: die einen betonten mehr den Gegensatz des Christentums zu den vorchristlichen Religionen und philosophischen Denkweisen, die anderen sahen in ihm mehr die Vollendung und Erfüllung des schon vorhandenen Guten. Doch ist dieser Unterschied bloss ein relativer; bei Justin sind beide Richtungen so verbunden, dass sie sich das Gleichgewicht halten; unter seinen Nachfolgern stehen Tatian, Theophilus, der Autor ad Diognetum und Tertullian auf der ersten, Athenagoras, Minucius Felix, Klemens Alex, auf der zweiten Seite; aber auch diese, die in der ausserchristlichen Welt einiges Gute anerkennen, sind doch durchdrungen von der Unzulänglichkeit aller heidnischen Weisheit und von der dämonischen Verdorbenheit der Religion und Sitte der heidnischen Welt; hinwiederum erkennen auch jene trotz ihrer pessimistischen Verurteilung der vorchristlichen Menschheit das Vorhanden-

Die Theologie der Apologeten.

683

sein von gewissen Resten einer UrOffenbarung an, die durch das Christentum wieder zur ursprünglichen Reinheit hergestellt werden. Am meisten stimmen alle Apologeten überein in der Verurteilung der heidnischen Religion, die sie teils als grobsinnlichen Götzendienst, teils als Verehrung der Weltelemente, teils als Ahnenkultus auffassen, und deren Grund sie teils in den Einbildungen kindischen Wahnes, teils insbesondere in der Verführung der Menschen durch die Dämonen erblicken. Diese Beurteilung des heidnischen Götterglaubens war nicht bloss im Judentum seit lange üblich, sondern konnte sich auch auf die heidnische Religionsphilosophie berufen, die die Götter des volkstümlichen Polytheismus zu Dämonen im Sinn von halbgöttlichen Göttermächten, Teilkräften und Werkzeugen der einen Gottheit herabgesetzt hatte. Die Christen acceptierten dies, verstanden aber die „Dämonen" im Sinn von gottwidrigen bösen Geistern (deren Ursprung zum Teil auf den Fall der Engel I. Moses 6, 4 vgl. Henoch 6—8 zurückgeführt wurde), die die Menschen zum Abfall vom wahren Gott und zur Verehrung der nach Ehre und sinnlichem Genuss lüsternen Geister verführt haben. Die Realität solcher Dämonen zu verneinen, lag den Christen ferne, da sie deren Wirkungen sowohl in der heidnischen Magie und Mantik als auch besonders in dem fanatischen Christenhass der Heiden zu erkennen meinten. Nun waren aber über den volkstümlichen Götterglauben und Kultus schon längst auch von den griechischen Philosophen ähnliche verwerfende Urteile gefällt und reinere Ansichten über die Einheit und Geistigkeit des göttlichen Wesens ihm entgegengestellt worden. Diese tieferen Denker konnte man also jedenfalls mit den Götzendienern nicht ohne weiteres auf gleiche Linie stellen; wie sollte man sich nun christlicherseits zu ihnen stellen? Durfte man sie wegen ihrer reineren Ansichten über die Gottheit und den sittlichen Gottesdienst als Bundesgenossen anerkennen? oder sollte man in ihnen nur den gefährlicheren, weil klügeren Gegner erblicken? Hierüber gingen die Meinungen der Apologeten ziemlich weit auseinander. Ein Tatian scheute sich nicht, zur Herabsetzung der gefeiertsten Dichter und Philosophen den gemeinsten Klatsch des Pöbels zu verwerten; auch Theophilus und der Autor ad Diognetum reden kurzweg von der Torheit der Philosophen, in denen sie nur eitle Wortkrämer und streit-

684

V.

Urchristliche Apologetik.

süchtige Sophisten zu erblicken vermochten. Auch Tertullian glaubte den Philosophen nicht genug Schlechtigkeiten nachsagen zu können und verschonte sogar den Sokrates nicht mit Verunglimpfungen; am Schluss seiner Lästerchronik fragt er: „Welche Ähnlichkeit gibts zwischen einem Philosophen und einem Christen, dem Schüler Griechenlands und dem des Himmels, dem Ruhmsüchtigen und dem Heilsbegierigen, dem Weisen in Worten und dem in Taten, dem Zerstörer und Aufbauer, dem Dieb und Entsteller der Wahrheit und ihrem Hüter und Ergänzer?" (Apologetikus, 46.) Dagegen Justin, Athenagoras, Minucius Felix und Klemens urteilten unbefangener und gestanden den Philosophen Heraklit und Sokrates, Plato und den Stoikern eine wenigstens teilweise Erkenntnis der religiösen und sittlichen Wahrheit zu. Von Heraklit und Sokrates sagt Justin, dass sie in Gemeinschaft mit dem Logos lebten und daher Christen waren, ob sie auch für Atheisten gehalten wurden*) (Apol. I, 46); von Sokrates, dass er zum Teil Christus erkannt habe, weil Christus der Logos war und ist, der in jedem wohnt (II, 10); von Plato und den Stoikern, dass ihre Lehren dem Christentum nicht fremd, wenn auch nicht durchweg gleich seien. Daher, weil jeder, der vermöge seines Anteils am göttlichen Vernunftsamen das Verwandte erschaute, trefflich redete, gehört alles, was überall gut gesagt worden, uns Christen an. Freilich haben alle jene Schriftsteller vermöge des angeborenen Vernunftsamens das Wesenhafte doch nur dunkel gesehen, und etwas anderes ist's, nur den Samen und das Abbild nach dem Mass der Empfänglichkeit zu haben, ein anderes, die Sache selbst durch Gnadengabe zu besitzen und nachzuahmen (II, 13). Die Wahrheitserkenntnis der heidnischen Weisen war also nur eine beschränkte, dunkel und unsicher, in den wichtigsten Fragen widersprachen sie einander und auf keinem Punkte konnten sie zu der vollen Gewissheit gelangen, auf Grund deren man leben und sterben kann — dem Sokrates glaubte niemand so, dass er für seine Lehre zu sterben bereit wäre (II, 10). Der Vorzug der Christen ist also, dass sie auf Grund der übernatürlichen Offenbarung durch die Propheten und Christus die volle Wahrheit und die durch göttliche *) Dazu vgl. Minucius Felix, 20: „Entweder sind die Christen für die Philosophen der Gegenwart oder die Philosophen zu halten."

für die Christen

der Vergangenheit

Die Theologie der Apologeten.

685

Autorität völlig gesicherte Wahrheit besitzen. Ja, die Propheten der biblischen Offenbarung scheinen doch zuletzt für Justin so ausschliesslich die alleinigen Träger aller religiösen Wahrheit zu sein, dass er gelegentlich auch die relative Wahrheitserkenntnis der heidnischen Weisen von jenen entlehnt sein lässt (I, 60), womit er sich freilich in auffallen Jen Widerspruch verwickelt mit dem, was er sonst über die allgemeine und natürliche Offenbarung des Logos (II, 8. 10. 13) gesagt hat. Weitherziger als Justin hat Klemens Alex, die griechische Philosophie dem jüdischen Gesetz zur Seite gestellt als zwei parallele Formen der göttlichen Erziehung der Menschheit auf Christum hin, und hat ebendarum die griechische Philosophie als eine auch für den Christen noch wertvolle Propädeutik geschätzt, mittels welcher der überlieferte Glaube zur denkenden Erkenntnis der christlichen Wahrheit zu erheben sei (Strom. I, 5, 28. 7, 37). Hinsichtlich des Judentums sind die Apologeten einig sowohl in der Anerkennung des Vorzugs, den es durch seinen monotheistischen Gottesglauben vor den Heiden hat, als auch in der Uberzeugung, dass das jüdische Kultusgesetz seit der Erscheinung Christi seine Geltung verloren habe. Aber in der Beurteilung dieses Gesetzes und der jüdischen Religion überhaupt gehen ihre Ansichten auseinander. In der Petruspredigt und in der Apologie des Aristides wird der jüdische Kultus als ein von der Wahrheit des Gottesdienstes abgeirrter Engelund Gestirndienst bezeichnet. Minucius Felix sagt, dass den Juden ihre höchst abergläubische Gottesverehrung mit Tempel und Altären nichts genützt habe; der Autor ad Diognetum erklärt den jüdischen Opferdienst für eine dem heidnischen Götzendienst gleichstehende Torheit, die Verwerfung von Speisen, die doch Gott zu unserem Nutzen geschaffen habe, für unrecht, das Verbot, am Sabbath Gutes zu tun, für gottlos, den Stolz auf die Beschneidung für lächerlich, die Festfeier nach den Mondzeiten für einen willkürlichen Einfall. Dagegen nach Justin und Klemens AI. hatte das jüdische Ritualgesetz eine wenigstens zeitweise Bedeutung als Erziehungsmittel für die Juden, das aber jetzt aufgehoben ist durch das für alle Menschen giltige Gesetz Christi; mit Paulus beweist Justin aus dem Beispiel Abrahams, dass nicht die Beschneidung sondern der Glaube selig mache, und dass die Christen das wahre geistliche Israel seien. Den grössten

V.

686

Urchristliche Apologetik.

W e r t aber legen alle Apologeten mit Ausnahme des Autors ad Diognetum auf ¡die alttestamentliche Prophetie, in der sie ein von aller menschlichen Meinung sehen,

verschiedenes der

die

unmittelbares Zeugnis

Zungen

Bewegung setzte*).

der

Propheten

des göttlichen

wie

Geistes

Musikinstrumente

in

Dass die Propheten das ganze Leben Christi von

seiner übernatürlichen Geburt bis zu seinem Tode und weiterhin das Schicksal

des jüdischen

Volkes,

die Berufung

der Heiden

und

die

Verfolgung der Christen durch die feindliche Welt vorausgesagt haben, muss nach Justin

auch für die Heiden als der stärkste und wahrste

Beweis gelten (Apol. I, 3 0 , Tert. 2 0 ) .

Denn Zukünftiges so

vorher-

zusagen, dass es sich genau erfüllt, ist nur durch göttliche Eingebung möglich.

Freilich beruht der Nachweis dieses Einklangs von Weissagung

und Erfüllung

bei Justin

meistens

anf sehr

kühner

Exegese;

aber

darauf kam wenig an in einem Zeitalter, dem der Sinn für historische Kritik und exakte Exegese sehr ferne lag; daraus ist es wohl begreiflich,

dass

der

Apologetik war.

Weissagungsbeweis

eine

Hauptwaffe

der

damaligen

Verstärkt wurde die Autorität der alttestamentlichen

Schriftsteller (Moses und der Propheten) durch ihr hohes Alter; dass sie um viele Jahrhunderte älter seien als die griechischen Dichter und Weisen, suchten Justin, Tatian,

Theophilus,

Tertullian und Klemens

durch chronologische Argumentationen nachzuweisen; es war ihnen das um so wichtiger, als sie dadurch sich berechtigt meinten, eine literarische Abhängigkeit der heidnischen Weisen von Moses und den Propheten anzunehmen.

Aber der Hauptgrund der Offenbarungsautorität,

die man den alttestamentlichen Propheten (inkl. Moses) zuschrieb, lag doch

immer

in

dem religiösen Wert des von ihnen so einfältig wie

einstimmig bezeugten monotheistischen Gottes-, Schöpfungs-, Vorsehungsund Vergeltungsglaubens.

In den Schriften der Propheten fand man,

wie Justin und T a t i a n * * ) aus eigener Erfahrung bezeugen, die bei den widerspruchsvollen Philosophen vergeblich gesuchte einfache und einleuchtende Antwort auf die Frage nach Gott, der Entstehung der Welt,

") Athenag. Suppl. 9: oi •¿gct' sfxaraaiv xiv^oavtos o&toüs toü Oeto'j 7rvrj|j.7ro;

ä

¿vrjpyoOvTo ¿¡jEcpiovjjcsav, auy^pTjCafievou toü jtve6(jiaTo; dxjel aiXrjxr]; auXöv

¿¡xKvtüavi.

Theoph. ad Autol. 11,9: TtveopiaTocpiipoi ü.t' oütoO toü fkoO ¿(AirveoaSevtec xai aotfia**) Justin, Dial. c. Tryph. 2—7.

Tatian, Or. ad Graecos, 29.

Die Theologie der Apologeten.

687

der Bestimmung und Hoffnung des Menschen, und durch diese Offenbarung fühlte man sich befreit von der Knechtschaft der Welt und ihrer zahllosen Tyrannen. Diese religiöse Erfahrung von der befreienden Macht des biblischen Gottesglaubens war damals wie immer der eigentliche „Beweis des Geistes und der Kraft", der auch dem Weissagungs- und Wunderbeweis (letzterer erst von Origenes eingehender behandelt) als das entscheidende Motiv zu Grunde lag. Der monotheistische Gottesglaube, die Schöpfung und Regierung der Welt durch den sittliche Zwecke verfolgenden Willen Gottes, das reine und allgemeingiltige Sittengesetz und die Hoffnung auf ewiges Leben — dies alles gestützt auf alte prophetische Offenbarung und bestätigt durch die geschichtliche Erscheinung des Gottessohnes Christus, in dem die Prophetie der Juden wie die Wahrheitsahnungen der Heiden ihre Erfüllungo gefunden haben — das ist der wesentliche Inhalt der Glaubenso lehre der Apologeten und der Kirche ihrer Zeit. Das spezifisch Christliche kommt bei den Apologeten mehr als ethische Gesinnung — Selbstverleugnung, Weltüberwindung und Himmelshoffnung — denn als dogmatische Theorie zum Ausdruck; diese ist durchweg zwar noch wenig entwickelt, fehlt aber doch nirgends ganz, sondern sie ist noch eingewickelt in der zentralen Keimzelle der christlichen Dogmatik: in der Anschauung von Christus als dem fleischgewordenen Gottessohn oder Logos, durch den die göttliche Anlage der menschlichen Natur zur reellen Vollendung gekommen, die ihr widersprechende Dämonenherrschaft überwunden, der Anfang eines neuen Lebens schon jetzt gegeben und seine jenseitige Vollendung verbürgt ist. Wer die zentrale Bedeutung dieser Anschauung von Christus erwägt und sie zusammenhält mit der ethischen Gesinnung und Stimmung, wie sie uns aus allen Schriften der Apologeten entgegentritt, der dürfte kaum im stände sein, der heute üblichen harten Verurteilung des Christentums der Apologeten zuzustimmen. Besonders die Beurteilung der Gotteslehre der Apologeten, als ob sie mehr heidnisch als christlich wäre, beruht auf sehr oberflächlichem Verständnis und sehr willkürlichen dogmatischen Massstäben. Gerade in ihrer Gotteslehre zeigen vielmehr die Apologeten eine bewundernswürdige Einsicht in die Neuheit der christlichen Religion, die sich ebendann als die absolute erweist, dass sie die Mängel der heidnischen

688

V.

Urchristliche Apologetik.

und jüdischen Gottesidee in höherer Wahrheit aufhebt. Gegenüber dem heidnischen Polytheismus betonen die Apologeten die Einheit Gottes, die sich in der Einheit der Weltordnung erweist; gegenüber der endlichen Beschränktheit, Zeitlichkeit und Veränderlichkeit, Sinnlichkeit, Bedürftigkeit und sittlichen Unvollkommenheit der heidnischen Götter lehren sie die Unendlichkeit, Ewigkeit, Anfangslosigkeit und Unveränderlichkeit, reine Geistigkeit, Bedürfnislosigkeit und Selbstgenügsamkeit, sittliche Vollkommenheit, Güte und Liebe Gottes. Erkennbar ist Gott nur aus seinen Wirkungen in der Welt und (fügt Tertullian hinzu) in unserer Seele; aber sein Wesen an sich ist, eben wegen seiner Unendlichkeit, weder für unsere Sinne wahrnehmbar, noch für unseren Verstand fassbar; darum ist er auch nicht mit einem bestimmten Namen zu benennen, der sein Wesen erschöpfend beschreiben, damit aber zugleich begrenzen würde; wir können nur von ihm sagen, dass er das in sich selbst vollkommene geistige Wesen und die Ursache alles Seienden („Vater des Alls"), insbesondere auch die des sittlich Guten („Vater aller Tugenden") ist, unendlich erhaben über alles geschöpfliche Sein, alles zeitliche Werden, alle sinnliche Bedürftigkeit und alle sittlichen Mängel*). Es gereicht diesen alten Lehrern zur hohen Ehre, dass sie so redlich sich bemüht haben, mit der Absolutheil Gottes Ernst zu machen und alle Schranken von seinem Wesen wegzudenken; die Kritiker, die ihnen daraus einen Vorwurf machen wollen, als ob sie unchristlich über Gott dächten, beweisen damit nur, dass sie selbst überhaupt nicht ernsthaft über ihn denken**). Übrigens ist bemerkenswert, dass über diesen Punkt die griechischen und lateinischen Apologeten völlig übereinstimmen. Von Minucius Felix (Oktav. 18) stammt das von Tertullian (Apol. 17) variierte geist-

*) Vgl. Justin, Apol. I, G. II, 6. Dial. 127. Aristides Apol. 1, 2—6. Athenag. Suppl. 4. 10. IG. Theoph. ad Autol. 1 , 3 . 11,10. Minuc. Felix' Oktavius 18. 32. Tertullian, Apolog. 17. ad Diogn. 8. 9. Klemens AI. Stiom. V, 12, 82 f. **) ENGELHARDT, Das Christentum Justins, S. 4G7—473, stützt seine Anklage Justins wegen heidnischer Denkweise u. a. darauf, dass dieser Apologet (Dial. 127) das Umherwandeln und Gesprächeführen Gottes in den Sagen der Genesis nicht •von Gott selbst will gelten lassen, weil dieser nicht ortlich sich bewegen noch menschlich verkehren könne: dem „modernen' Kritiker scheint also dieser naive Anthropomorphismus der alten Sagen zum reinen chiistlichen Gottesglauben zu gehören! Mit solch' naivem Dogmatismus lasst sich nicht streiten.

689

Die Theologie der Apologeten.

reiche Wort: „Nur Gott selbst kennt die Grösse Gottes, uns ist zum Erkennen derselben die Brust zu eng, darum werden wir nur dann ihn würdig erfassen, wenn wir ihn für unfassbar erklären." Klemens aber sagt (Strom. V, 12, 82): „Wie Hesse sich das in Worte fassen, was weder Gattung ist noch Art, weder Gestalt noch Atom, noch Zahl, weder Ereignis noch Einer, für den es sich ereignet, was man auch nicht das Ganze nennen kann, weil dies eine Grösse bezeichnet und weil das Eine sich nicht teilen lässt, ebendaher auch keine Grenze hat? Darum ist es ein gestaltloses und namenloses Wesen; wenn wir ihm auch einmal uneigentlicherweise Namen beilegen, indem wir es das Eine nennen oder das Gute oder Verstand oder das Selbstseiende oder Vater oder Gott oder Demiurg oder Herr, so reden wir so, nicht als ob wir seinen (zutreffenden) Namen vorbrächten, sondern nur aus Not gebrauchen wir schöne Namen, damit unser Rewusstsein sich daran halten könne und nicht ins Falsche verirre. Auch durch deduktive Erkenntnis lässt es sich nicht erfassen, weil diese aus Früherem und Bekannterem sich zusammensetzt, dem Unerzeugten aber nichts vorausgeht. So bleibt nur übrig, durch göttliche Gnade und durch den allein von ihm stammenden Logos das unbekannte (göttliche) Wesen zu erkennen." Das weist uns auf die andere Seite der Gotteslehre der Apologeten; der seinem unendlichen Wesen nach über Welt und Zeit erhabene und unbegreifliche Gott ist zugleich seiner Tätigkeit nach der in Welt und Zeit sich offenbarende Gott und heisst als solcher der Logos oder Sohn Gottes. Die Apologeten pflegen zu unterscheiden zwischen dem in Gott innewohnenden Logos und dem aus ihm hervorgegangenen, weltbildenden und in der Welt sich offenbarenden Logos. Ursprünglich vor der Weltschöpfung war der Logos in Gott als eine „Vernunftkraft" (Xofixi) ouvatixic), wie Justin und Tatian sagen, als „Idee und Energie" nach Athenagoras, d. h. als ideales und reales Prinzip, Urbild der Welt und Kraft ihrer Verwirklichung, als Gottes eigener Verstand und Einsicht nach Theophilus*). Dann liess ihn Gott durch einen Willensakt aus sich hervorgehen, erzeugte ihn, so dass er zu einem selbst*) Justin, Dial. c. Tr. 61. Tatian, Or. ad Gr. 5. ad Autol. II, 10. 22. Tertull. Apol. 21. P f l e i d e r e r , Urchristentum.

2. Aufl. Bd. II.

Athenag. Suppl. lO.Theoph. 44

690

V.

Urchristliche Apologetik.

ständigen, vom Vater unterschiedenen Wesen wurde, das als „erstes Erzeugnis des Vaters" Sohn Gottes (Athenagoras) und selbst ein Gott heisst vermöge der Einheit des Wesens mit dem Vater (Tertullian), aber auch „das erstgeborene Werk des Vaters", weil Erzeugnis seines Willens (Tatian), der „Erstgeborene aller Schöpfung, die Kraft und Weisheit Gottes, der aus Gott gezeugte Gott", den der Vater sendet wohin er will, um in seiner Rolle in der Welt zu handeln (Theophilus). Der Hervorgang des Logos aus Gott soll weder als sinnliche Zeugung gedacht werden, noch als eine Emanation, wodurch Gott selbst von seiner Vernunft entleert oder seine Substanz geteilt worden wäre, sondern nach der Analogie des Hervorgehens des gesprochenen Wortes aus dem Geist des Sprechenden oder der Entzündung von Feuer aus Feuer, wobei das erste nichts von seinem Wesen verliert. Auch soll die durch diesen Hervorgang bewirkte Verselbständigung des Logos nicht als eine Scheidung vom Vater gedacht werden, sondern dieser bleibt auch mit dem entäusserten Logos doch immer in Gemeinschaft und Verkehr*). Wie der Sonnenstrahl sich nicht von der Substanz der Sonne scheidet, sondern die Sonne im Strahle bleibt und sich nur ausdehnt, so ist der Geist vom Geist, der Gott vom Gott nicht der Zahl nach, sondern nur der Seinsweise nach verschieden, er hat sich vom Urgrund nicht getrennt, sondern aus ihm erhoben, der Vater und der aus ihm hervorgegangene Sohn sind beide eins**). — Neben Vater und Sohn wird an dritter Stelle der heilige oder prophetische Geist als christliches Verehrungsobjekt genannt, aber sein Verhältnis zu jenen ist noch ganz unbestimmt. Bei Athenagoras (Suppl. 10) heisst er ein „Ausfluss" (drco^pota) Gottes, der wie ein Sonnenstrahl ausfliesse und zurückkehre, ein Ausdruck, der die Selbständigkeit der Hypostase *) Theoph. II, 22: 06 -/tEvu>9el{ autoc TOO XiSyou, dXXa Xdyov yevv^aat xal TUJ Xijyia auxou ota jtavro« ¿¡AtXuiv. Tatian, Or. ad Gr. 5: 6 \iyo; i:poeX9u>v iv. t?]{ 7ictrpos SuvdjjicOJt o u x

a X o y o v itejtohrjxs t o v

yeyevviqxciTa.

**) Tertullian, Apol. 21: Cum radius ex sole porrigitur, portio ex summa, sed sol erit in radio, nec separatur substantia, sed extenditur: ita de spiritu spiritus et de deo deus, ut lumen de lumine accensum. Manet integra et indefecta materiae matrix, etsi plures indetra duces qualitatum mutueris: ita et quod de deo profectum est, deus est et dei filius, et unus ambo. Ita et de spiritu spiritus et de deo deus modulo alterum, non numero, gradu, non statu fecit, et a matrice non recessit, sed excessit.

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Die Theologie der Apologeten.

des Geistes mindestens zweifelhaft erscheinen lässt. Ihm wird dann ebendort die Schar der Engel angereiht, die bei Justin einmal (Apol. I, 6) ihm sogar vorangestellt sind, so dass der Geist erst an vierter Stelle steht. Theophilus (a. Aut. II, 15) spricht von der „Trias Gottes und seines Logos und seiner Weisheit", wonach die göttliche Weisheit (Prov. 8, 27) mit dem Geist identifiziert wird, wie auch II, 10 beide, Geist und Weisheit, mit dem Logos selbst identifiziert zu sein scheinen*). Diese Unbestimmtheit des trinitarischen Verhältnisses ist sehr lehrreich; sie erklärt sich einfach daher, dass ursprünglich Geist und Weisheit und Logos nur verschiedene Ausdrücke waren für denselben wesentlichen Gedanken: für die Offenbarungsseite Gottes oder sein Innewirken in der Welt als die weltbildende Vernunftkraft und die erziehende Weisheit und Liebe. Dieses innerweltliche und innermenschliche Sein und Wirken Gottes als die ebenso wesentliche Kehrseite neben seiner überweltlichen Erhabenheit erkannt und beides im christlichen Gottesglauben zur unlöslichen Einheit verbunden zu haben, war das grosse Verdienst der ältesten kirchlichen Lehrer; es waren damit beide Einseitigkeiten prinzipiell überwunden und zur höheren Einheit erhoben: die deistische Scheidung Gottes von der Welt in der jüdischen und die pantheistische Vermischung Gottes mit der Welt in der heidnischen Religion. Auch in der griechischen Philosophie waren beide Richtungen vertreten: die Transzendenz Gottes im platonischen Dualismus und die Immanenz im stoischen Monismus; in der jüngeren Stoa der Kaiserzeit aber lässt sich schon die Tendenz auf eine Verbindung der beiden Seiten nicht verkennen. Was also die Philosophie in der Theorie suchte, das hat das Christentum als Religion gefunden, weil es einerseits ausging vom jüdischen Theismus, dem die erhabene Überweltlichkeit Gottes feststand, und andererseits zugleich in der Person Jesu und im Enthusiasmus der Gläubigen den göttlichen Geist als das im Menschen innewohnende Prinzip höheren Lebens gegenwärtig, also „Gott menschlich geoffenbart" sah. Dieser epochemachende Fortschritt der religiösen Gotteserkenntnis war auch nicht zu teuer erkauft *) 05to{ (6 Xoyo;) u>v jive5|j.a 9eo5 xol dp'/r; vcai ao