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German Pages 270 Year 2007
Schriften zum Strafrecht Heft 186
Das qualifizierte Nötigungsmittel der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des Gefahrbegriffs des Strafgesetzbuches
Von
Nikolas Blanke
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
NIKOLAS BLANKE
Das qualifizierte Nötigungsmittel der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben
Schriften zum Strafrecht Heft 186
Das qualifizierte Nötigungsmittel der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des Gefahrbegriffs des Strafgesetzbuches
Von
Nikolas Blanke
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg hat diese Arbeit im Sommersemester 2006 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-12311-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
In Erinnerung an meine Mutter
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Januar 2006 abgeschlossen und im Sommersemester 2006 von der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Später erschienene Rechtsprechung und Literatur konnten für die Drucklegung weitgehend bis einschließlich August 2006 berücksichtigt werden. Mein besonderer Dank gilt Herrn Privatdozent Dr. Ralph Ingelfinger für die Betreuung des Promotionsvorhabens, für seine stetige Gesprächsbereitschaft und seine kritischen Anmerkungen sowie die rasche Erstellung des Erstgutachtens. Er hat auch das Thema dieser Arbeit angeregt. Zu Dank verpflichtet bin ich ferner Herrn Professor Dr. Wilfried Küper, nicht nur für die überaus zügige Erstellung des Zweitgutachtens, sondern vor allem auch für seine vortrefflichen Strafrechtsvorlesungen, die ich während meiner Studienzeit in Heidelberg besuchen durfte und die mein Interesse für das Strafrecht schon früh geweckt und gefördert haben. Danken möchte ich ferner meinen Freunden Corinna Gloss, Franziska Göhner und Michael Reinmuth, die mich während der gesamten Zeit der Erstellung dieser Arbeit unterstützt und mir über so manche Klippe hinweggeholfen haben. Einen mindestens ebenso großen Dank schulde ich meiner Lebensgefährtin, Sandra Böge, dafür, dass sie mir stets mit Rat und Tat zur Seite stand und die Leiden eines Promovenden so geduldig ertragen hat. Gewidmet ist diese Arbeit in Liebe und Dankbarkeit meinen Eltern für ihre unermüdliche und liebevolle Unterstützung in jeglicher Hinsicht. Ohne sie wäre die Realisierung meines Promotionsvorhabens nicht möglich gewesen. Heidelberg, im September 2006
Nikolas Blanke
Inhaltsverzeichnis Erster Abschnitt Einleitung – Ziel und Gang der Untersuchung
20
Zweiter Abschnitt Analyse des Meinungsstandes zum qualifizierten Nötigungsmittel der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben
23
A. Raub und räuberische Erpressung, §§ 249, 255 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
I. Der Gefahrbegriff der §§ 249, 255 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
1. Herrschende Ansicht in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24
2. Kindhäuser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24
3. Mitsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
II. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr in den §§ 249, 255 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
1. Vorüberlegung: Fallgruppenbildung nach temporären Merkmalen von Gefahrenlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
2. Sichtweise der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
3. Herrschende Meinung in der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
4. Eine Divergenz zu den Notstandsvorschriften befürwortende Autoren . . . . . . . .
37
B. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
C. Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung, § 177 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
I. Der Gefahrbegriff des § 177 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
II. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr in § 177 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
1. Sicht der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
2. Herrschende Ansicht in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
3. Lenckner / Perron und Renzikowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
4. Laufhütte und Wolters / Horn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
10
Inhaltsverzeichnis Dritter Abschnitt Historische Entwicklung der qualifizierten Nötigungsmittel im Rahmen der maßgeblichen Deliktsformen als Grundlage einer historischen Auslegung
47
A. Die Bedeutung der historischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel im Rahmen der einzelnen Delikte . .
50
I. Die Entwicklung der Nötigungsmittel im Rahmen des Raubes . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
1. Römisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
2. Germanisches und frühes deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
3. Constitutio Criminalis Carolina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
4. Gemeines Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
5. Partikulargesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
6. Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
7. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
II. Die Entwicklung der Nötigungsmittel im Rahmen der räuberischen Erpressung . .
70
1. Römisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
2. Germanisches und frühes deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
3. Die Sichtweise von Carpzov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
4. Spätere gemeinrechtliche Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
5. Partikulargesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
6. Zusammenfassung: Gründe für die spezifische Entwicklung der Erpressung in den Partikularstaaten des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
7. Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
8. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
III. Die Entwicklung der Nötigungsmittel im Rahmen von sexueller Nötigung und Vergewaltigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
1. Römisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
2. Germanisches und frühes deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
3. Constitutio Criminalis Carolina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
4. Gemeines Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
5. Partikulargesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
6. Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
Inhaltsverzeichnis
11
7. Neuere Gesetzesänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
8. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
IV. Zusammenfassung und Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
Vierter Abschnitt Behandlung der Begriffe „Gefahr“ und „gegenwärtig“ in anderen Vorschriften des StGB A. Der Gefahrbegriff bei den konkreten Gefährdungsdelikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96 97
I. Die Bestimmung der konkreten Gefahr durch die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . .
97
1. Frühe Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs . . . . . . .
97
2. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit 1963 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
3. Aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 II. Ansätze zur Gefahrbestimmung in der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 1. Herrschende Ansicht in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Naturwissenschaftliche Gefahrerfolgstheorie Horns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3. Normative Gefahrerfolgstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 III. Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 1. Ablehnung der naturwissenschaftlichen Gefahrerfolgstheorie Horns . . . . . . . . . . 107 2. Untersuchung der übrigen Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 B. Die Gefahr bei den abstrakten Gefährdungsdelikten und weiteren Gefährdungsdeliktsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 C. Der Begriff der gegenwärtigen Gefahr im Notstandsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 I. Identität des Gefahrbegriffs von Gefährdungsdelikten und Notstandsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 1. Befürwortende Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2. Ablehnende Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 3. Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 II. Die historische Entwicklung des Merkmals der gegenwärtigen Gefahr im Rahmen der Notstandsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. Römisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 2. Germanisches und frühes deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
12
Inhaltsverzeichnis 3. Constitutio Criminalis Carolina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4. Frühe gemeinrechtliche Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 5. Spätere Weiterentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 6. Partikulargesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 7. Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 8. Spätere Änderungen des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 9. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 III. Meinungsstand zum Gefahrbegriff von rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand, §§ 34, 35 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 1. Erforderlicher Gefahrengrad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2. Maßgebliche Tatsachenbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3. Anzulegender Beurteilungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 IV. Eigene Stellungnahme zum Gefahrbegriff von rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand, §§ 34, 35 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Erforderlicher Gefahrengrad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 2. Tatsachengrundlage des Gefahrurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 3. Beurteilungsmaßstab für das Gefahrurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 V. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr bei rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand, §§ 34, 35 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 1. Beispiele aus der Rechtsprechung für die verschiedenen nach temporären Charakteristika gebildeten Fallgruppen aus dem Bereich der Notstandsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2. Zusammenfassung der Sicht der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 3. Meinungen in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4. Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 VI. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
D. Die Gegenwärtigkeit des Angriffs bei der Notwehr, § 32 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 E. Zusammenfassung und Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Fünfter Abschnitt Folgerungen für die Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben bei Raub, § 249 StGB, und räuberischer Erpressung, § 255 StGB 187 A. Der Begriff der Drohung in den §§ 249, 255 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
Inhaltsverzeichnis
13
I. Die Drohung als Ankündigung eines künftigen Übels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 II. Potentielle Abhängigkeit des Übelseintritts vom Willen des Drohenden . . . . . . . . . 189 III. Die Drohung als Mittel zur Willensbeeinflussung und Willenssteuerung . . . . . . . . 190 1. Überwiegende Ansicht: Notwendigkeit eines Erfolgselements . . . . . . . . . . . . . . . . 191 2. Gegenansicht: keine Erforderlichkeit eines Erfolgselements . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 3. Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 B. Der Begriff der Gefahr in den §§ 249, 255 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 C. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr in den §§ 249, 255 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 I. Eigene Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 II. Mögliche Einwände gegen diese Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 1. Schwebezustand als Folge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 2. Kriminalpolitische Bedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Sechster Abschnitt Folgerungen für die Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben bei sexueller Nötigung und Vergewaltigung, § 177 StGB 221 A. Der Begriff der Drohung in § 177 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 B. Der Begriff der Gefahr in § 177 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 C. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr in § 177 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
Siebter Abschnitt Die Abgrenzung der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben von der Gewaltalternative in §§ 177, 249, 255 StGB 231 A. Der Meinungsstand zur Notwendigkeit einer Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 B. Der Begriff der Gewalt gegen eine Person in den §§ 177, 249, 255 StGB . . . . . . . . . . . . 233
14
Inhaltsverzeichnis
C. Eigener Standpunkt zur Notwendigkeit einer Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 D. Die Abgrenzungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
Achter Abschnitt Schlussbetrachtung und Gesamtergebnis
244
Literatur- und Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
Abkürzungsverzeichnis a.A. Abs. a. F. ALR Anm. Anmerkungen Bayern Anmerkungen Baden 1839 Annalen ArchCrimR NF Aphor. Art. Artic. AT BayObLG Bay. StGB Beratungs-Protokolle 1839
Beratungs-Protokolle 1842
BGB BGBl. BGH BGHR StGB BGHSt brPolG BT
andere(r) Ansicht Absatz alte(r) Fassung Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 (zitiert nach Teil, Titel und Paragraph) Anmerkung Anmerkungen zum Strafgesetzbuche für das Königreich Baiern (zitiert nach Band) Anmerkungen der Gesetzgebungscommission zum Entwurf eines Strafgesetzbuchs für das Großherzogthum Baden, 1839 Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege (zitiert nach Band und Seite) Archiv des Criminalrechts, Neue Folge (zitiert nach Jahr und Seite) Aphorismus Artikel Articulus Allgemeiner Teil Bayerisches Oberstes Landesgericht Bayerisches Strafgesetzbuch von 1813 Berathungs-Protokolle der zur Revision des Strafrechts ernannten Kommission des Staatsraths, den Ersten Teil des Entwurfs des Strafgesetzbuchs betreffend, 1839 Berathungs-Protokolle der zur Revision des Strafrechts ernannten Kommission des Staatsraths über den Zweiten Theil des Entwurfs des Strafgesetzbuchs, Zweite Abtheilung, Betreffend die Titel 17. bis 29. des speziellen Theils, sowie die Umarbeitung des ganzen Entwurfs, 1842 Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt (zitiert nach Teil und Jahr) Bundesgerichtshof BGH-Rechtsprechung Strafsachen (zitiert nach Paragraph, Stichwort und Nummer) Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite) Brandenburgisches Polizeigesetz Besonderer Teil
16 BT-Drs. BVerfG BVerfGE bzw. Cap. CCC D d. h. ders. Diss. DRiZ E 1962 EMRK Entwurf 1827 Entwurf 1828 Entwurf 1830 Entwurf 1833
Entwurf 1836 Entwurf 1843 Entwurf 1845
Entwurf 1846
Entwurf 1847
Entwurf Baden 1840
Abkürzungsverzeichnis Drucksache des Deutschen Bundestags (zitiert nach Wahlperiode und Nummer) Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (zitiert nach Band und Seite) beziehungsweise Caput Constitutio Criminalis Carolina Digesten das heißt derselbe Dissertation Deutsche Richterzeitung (zitiert nach Jahr und Seite) Regierungsentwurf eines Strafgesetzbuches mit Begründung von 1962 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten Entwurf des Criminal-Gesetz-Buches für die Preußischen Staaten von 1827 Entwurf des Straf-Gesetz-Buches für die Preußischen Staaten von 1828 Entwurf des Straf-Gesetz-Buches für die Preußischen Staaten, Erster Theil, Criminal-Straf-Gesetze von 1830 Revidirter Entwurf des Strafgesetzbuches für die Königlich Preußischen Staaten, Erster Theil, Kriminal-Strafgesetze von 1833 Revidirter Entwurf des Strafgesetzbuchs für die KöniglichPreußischen Staaten von 1836 Entwurf des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten nach den Beschlüssen des Königlichen Staatsraths von 1843 Revidirter Entwurf des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten, vorgelegt von dem Ministerium der Gesetz-Revision von 1845 Entwurf des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten, von der Königlichen Immediat-Kommission dem Plenum des Staatsraths vorgelegt von 1846 Entwurf des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten, nebst dem Entwurf des Gesetzes über die Einführung des Strafgesetzbuchs und dem Entwurf des Gesetzes über die Kompetenz und das Verfahren in dem Bezirke des Appellationsgerichtshofes zu Köln, Zur Vorlegung an die vereinigten Ständischen Ausschüsse bestimmt von 1847 Entwurf eines Strafgesetzbuchs für das Großherzogtum Baden nach den Beschlüssen der Kommission der zweiten Kammer der Landstände, 1840
Abkürzungsverzeichnis
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Entwurf Baden 1841
Entwurf eines Strafgesetzbuchs für das Großherzogtum Baden nach den Anträgen der Kommission der ersten Kammer, 1841
Entwurf Bayern 1854
Entwurf des Gesetzbuches über Verbrechen und Vergehen nebst Motiven für das Königreich Bayern, 1854 folgende (Seite) folgende (Seiten) Fußnote Festschrift Goltdammers Archiv für Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite)
f. ff. Fn. FS GA GDS GG ggf. GS
Gutachten
Habil.-Schr. Hitzigs Zeitschrift
h. M. HRR Hrsg. insb. JA JK
JR Jura JuS JW JZ Lib. LMBG
Kap. 2 Blanke
Gedächtnisschrift Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gegebenenfalls Der Gerichtssaal, Zeitschrift für Strafrecht, Strafprozeß, Gerichtliche Medizin, Gefängniskunde und ausländische Literatur (zitiert nach Jahr und Seite) Gutachten der zur Vorbereitung ernannten Abtheilung des Vereinigten ständischen Ausschusses, betreffend: den Entwurf eines Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten Habilitationsschrift Zeitschrift für die Criminal-Rechtspflege in den Preußischen Staaten mit Ausnahme der Rheinprovinzen (zitiert nach Jahr und Seite) herrschende Meinung Höchstrichterliche Rechtsprechung (zitiert nach Jahr und Nummer) Herausgeber insbesondere Juristische Arbeitsblätter (zitiert nach Jahr und Seite) Jura-Kartei, Beilage der Juristischen Ausbildung (zitiert nach Jahr, Paragraph und den innerhalb der Paragraphen fortlaufenden Nummern) Juristische Rundschau (zitiert nach Jahr und Seite) Juristische Ausbildung (zitiert nach Jahr und Seite) Juristische Schulung (zitiert nach Jahr und Seite) Juristische Wochenschrift (zitiert nach Jahr und Seite) Juristenzeitung (zitiert nach Jahr und Seite) Liber Gesetz über den Verkehr mit Lebensmitteln, Tabakerzeugnissen, kosmetischen Mitteln und sonstigen Bedarfsgegenständen Kapitel
18 Materielle Abweichungen
MDR ME-PolG Motive 1827
Motive 1828
Motive 1829
Motive 1833
Motive 1847
Motive 1869 m. w. N. n. N. NArchCrimR n. Chr. n. F. NGefAG Niederschriften NJW Nr. NStZ NStZ-RR NZV OGHSt OLG PrStGB 1851 Qu.
Abkürzungsverzeichnis Materielle Abweichungen des revidirten Entwurfs des Criminal-Strafgesetzbuches von dem Allgemeinen Landrecht und den übrigen gegenwärtigen Criminal-Strafgesetzen Monatsschrift für Deutsches Recht (zitiert nach Jahr und Seite) Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder Motive zu dem, von dem Revisor vorgelegten, Ersten Entwurfe des Criminal-Gesetzbuches für die Preußischen Staaten, Erster Band 1827 Motive zu dem, von dem Revisor vorgelegten, Ersten Entwurfe des Criminal-Gesetzbuches für die Preußischen Staaten, Vierter Band, enthaltend die Strafgesetze wider Verbrechen gegen das Vermögen, 1828 Motive zu dem, von dem Revisor vorgelegten, Ersten Entwurfe des Criminal-Gesetzbuches für die Preußischen Staaten, Dritter Band, Zweite Abtheilung, 1829 Motive zum revidirten Entwurf des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten, Erster Theil, Kriminal-Strafgesetze, 1833 Motive zum Entwurf des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten und der damit verbundenen Gesetze vom Jahre 1847 Motive zu dem Entwurfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund mit weiteren Nachweisen nota Note Neues Archiv des Criminalrechts (zitiert nach Jahr und Seite) nach Christus neue(r) Fassung Niedersächsisches Gefahrenabwehrgesetz Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission (zitiert nach Band) Neue Juristische Wochenschrift (zitiert nach Jahr und Seite) Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite) Neue Zeitschrift für Strafrecht, Rechtsprechungs-Report Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite) Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht (zitiert nach Jahr und Seite) Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite) Oberlandesgericht Strafgesetzbuch für die preußischen Staaten von 1851 Quaestio
Abkürzungsverzeichnis Revision 1845 RG RGBl. RGSt RGZ Rn. ROW Rspr. RGSt S. SOG LSA Sp. StGB StGB 1871 StrRG StV thürOBG Verhandlungen 1846 vgl. VRS Wistra z. B. zugl. ZRP ZStW ZStW-Beiheft
2*
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Revision des Entwurfs des Strafgesetzbuchs von 1843, Erster, Zweiter und Dritter Band 1845 Reichsgericht Reichsgesetzblatt (zitiert nach Teil und Jahr) Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite) Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen (zitiert nach Band und Seite) Randnummer Recht in Ost und West (zitiert nach Jahr und Seite) Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite) Seite(n) Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt Spalte Strafgesetzbuch Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1871 Gesetz zur Reform des Strafrechts Strafverteidiger (zitiert nach Jahr und Seite) Thüringisches Polizeiorganisationsgesetz Verhandlungen der Kommission des Staatsraths über den revidirten Entwurf des Strafgesetzbuchs 1846 vergleiche Verkehrsrechtssammlung (zitiert nach Band und Seite) Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht (zitiert nach Jahr und Seite) zum Beispiel zugleich Zeitschrift für Rechtspolitik (zitiert nach Jahr und Seite) Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (zitiert nach Band und Seite) Beiheft zur Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (zitiert nach Jahr und Seite)
Erster Abschnitt
Einleitung – Ziel und Gang der Untersuchung Sowohl im Rahmen von Raub, räuberischem Diebstahl und räuberischer Erpressung gemäß §§ 249, 252, 255 StGB als auch bei sexueller Nötigung und Vergewaltigung nach § 177 StGB steht das qualifizierte Nötigungsmittel der „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ gleichberechtigt neben demjenigen der Gewalt gegen eine Person. Dennoch hat dieses Tatbestandsmerkmal nicht einmal ansatzweise dieselbe Beachtung gefunden, die der Gewaltalternative zuteil wurde, obwohl beiden Zwangsmitteln gemein ist, dass sie seit Inkrafttreten des StGB praktisch unverändert beibehalten worden sind. Dies verwundert im ersten Zugang zumindest mit Blick auf die Begriffe der „Gefahr“ und ihrer „Gegenwärtigkeit“, da diese Termini im Bereich anderer Vorschriften des StGB, in denen sie verwendet werden, zum Teil sehr umstritten sind und inhaltlich durchaus kontrovers beurteilt werden. Eine nähere Betrachtung relativiert dieses Befremden jedoch. Denn bildlich gesprochen lässt sich feststellen, dass die Gefährdungsdelikte und die Notstandsvorschriften der §§ 34, 35 StGB die „Hauptschauplätze“ für die Diskussion über die zutreffende inhaltliche Bestimmung der genannten Merkmale bilden, die dabei ermittelten Ergebnisse aber vielfach weitgehend unkritisch auch auf die §§ 249, 252, 255 StGB und – wenn auch in leicht abgeschwächter Form – auf § 177 StGB übertragen werden. So spielt die Deutung des Gefahrbegriffs der konkreten Gefährdungsdelikte eine entscheidende Rolle bei der Auslegung des Merkmals der „gegenwärtigen Gefahr“ im Rahmen der Notstandsvorschriften, welche ihrerseits nach überwiegender Ansicht gleichermaßen für die Delikte der §§ 249, 252, 255 StGB und weitgehend auch des § 177 StGB Geltung beanspruchen kann. Dies nimmt freilich kaum Wunder, wenn man sich vor Augen hält, dass bis zum heutigen Tage einige Autoren ausdrücklich von einem einheitlichen, für alle Vorschriften des StGB Geltung beanspruchenden Gefahrbegriff ausgehen.1 Diese Arbeit verfolgt nunmehr primär das Ziel, den zutreffenden Bedeutungsgehalt des Tatbestandsmerkmals der „gegenwärtigen Gefahr“ – insbesondere auch unter Einbeziehung rechtshistorischer und teleologischer Gesichtspunkte – spezifisch für den Bereich der qualifizierten Nötigungsmittel von Raub, räuberischem Diebstahl2 und räuberischer Erpressung sowie sexueller Nötigung und Vergewalti1 So vor allem Lackner / Kühl § 34 Rn. 2, § 177 Rn. 5, § 249 Rn. 3, § 255 Rn. 1, § 315c Rn. 21 f.
1. Abschn.: Einleitung
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gung zu bestimmen. Dabei gilt es nach dem eben Gesagten insbesondere auch kritisch zu hinterfragen, ob es tatsächlich einen einheitlichen, für das gesamte StGB gültigen Gefahrbegriff gibt oder ob, sofern dies nicht der Fall sein sollte, doch zumindest der in den Notstandsvorschriften der §§ 34, 35 StGB verwendete Terminus der „gegenwärtigen Gefahr“ mit dem entsprechenden Merkmal des qualifizierten Nötigungsmittels der Drohung der §§ 249, 255, 177 StGB übereinstimmt. Aus diesem Grund kann im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht darauf verzichtet werden, zunächst die für die Gefährdungsdelikte und die Notstandsvorschriften maßgebliche Gefahrdefinition und deren Hintergründe herauszuarbeiten und auf ihre Identität hin zu überprüfen, bevor in einem zweiten Schritt die Frage zu klären sein wird, ob der dabei ermittelte Gefahrbegriff bzw. im Falle der Nichtidentität einer der dabei gefundenen Gefahrbegriffe uneingeschränkt auch für den Bereich von Raub und räuberischer Erpressung sowie von sexueller Nötigung und Vergewaltigung Geltung beanspruchen kann. Sofern eine Übertragbarkeit aufgrund der unterschiedlichen Regelungszusammenhänge ausscheiden sollte, wäre eine eigenständige Gefahrdefinition für die §§ 249, 255 StGB und ggf. – sofern sich auch insoweit eine Nichtidentität ergeben sollte – auch für den § 177 StGB zu erarbeiten. In vergleichbarer Art und Weise soll auch der Begriff der „Gegenwärtigkeit“ der Gefahr von rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand ermittelt und mit dem Merkmal der „Gegenwärtigkeit“ des Angriffs bei der Notwehr gemäß § 32 StGB abgeglichen werden. Auch diesbezüglich wird sodann in einem zweiten Schritt die Frage zu klären sein, ob sich das dabei herausgearbeitete Gegenwärtigkeitsverständnis oder, sofern sich bereits diesbezüglich eine Diskrepanz nachweisen lassen sollte, zumindest die Interpretation der „Gegenwärtigkeit“ der Gefahr der §§ 34, 35 StGB auch auf Raub und räuberische Erpressung und sexuelle Nötigung und Vergewaltigung übertragen lässt. Sollte auch diese Frage zu verneinen sein, müsste das Gegenwärtigkeitsmerkmal im Rahmen der letztgenannten Vorschriften ebenfalls selbständig inhaltlich bestimmt werden. Besonderes Augenmerk soll dabei auf die sowohl im Rahmen der Notstandsvorschriften als auch bei den Drohungsvarianten der §§ 249, 255, 177 StGB – vor allem im Bereich der Produkt-3 und der Schutzgelderpressung – umstrittene und für die Praxis äußerst bedeutsame Frage gelegt werden, ob das Tatbestandsmerk2 Zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen soll indes im weiteren Fortgang der Arbeit nicht mehr gesondert auf den räuberischen Diebstahl gemäß § 252 StGB eingegangen werden. Dies deshalb, weil in Rechtsprechung und Lehre zutreffender Weise Einigkeit darüber besteht, dass die qualifizierten Nötigungsmittel von Raub und räuberischem Diebstahl identisch aufzufassen sind, so dass sich die im Hinblick auf § 249 StGB herausgearbeiteten Ergebnisse unproblematisch auch auf § 252 StGB übertragen lassen; vgl. dazu etwa LK-Herdegen § 252 Rn. 15; MüKo-Sander § 252 Rn. 13; NK-Kindhäuser § 252 Rn. 2, 17; SK-Günther § 252 Rn. 14. 3 Zum Begriff der Produkterpressung mit zahlreichen instruktiven Beispielen aus der Praxis Moseschus S. 5 ff., 28 ff.
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1. Abschn.: Einleitung
mal der Gegenwärtigkeit der Gefahr rein zeitlich zu interpretieren ist oder ob von einer gegenwärtigen Gefahr, wie etwa im Falle von Fristsetzungen durch den Täter, auch dort gesprochen werden kann, wo zwar ein unmittelbares zeitliches Bevorstehen der – angedrohten – Gefahr bzw. ihrer Verwirklichung nicht gegeben ist, aber das Opfer zu unverzüglichem Handeln gezwungen ist, um ihr wirksam begegnen zu können.4 Nach der so vorgenommenen Ermittlung der für den Bereich der §§ 249, 255 StGB sowie des § 177 StGB einschlägigen Definition wird abschließend darauf einzugehen sein, ob eine Gefahr im Sinne der Drohungsalternative – bildlich gesprochen – derart gegenwärtig sein kann, dass sie damit nicht mehr als Drohung, sondern bereits als Gewalt erscheint, ob und bejahendenfalls wie also mit anderen Worten die qualifizierten Nötigungsmittel der Gewalt gegen eine Person bzw. allgemein der Gewalt und der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben voneinander abzugrenzen sind.
4 Vgl. zu dieser Problematik etwa BGHR StGB § 255 Drohung 6; BGH NStZ 1996, 494; BGH NStZ-RR 1998, 135; BGH JR 1999, 341, 343; Küper BT S. 111, 115; Moseschus S. 121 ff.; Zaczyk JR 1999, 343, 344 f.; Joerden JR 1999, 120 ff.
Zweiter Abschnitt
Analyse des Meinungsstandes zum qualifizierten Nötigungsmittel der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben Um zunächst das Spektrum der bislang vorliegenden Sichtweisen aus Rechtsprechung und Literatur näher zu durchleuchten, soll und muss die vorliegende Untersuchung Ihren Ausgangspunkt in der Analyse des Meinungsstandes zur inhaltlichen Interpretation des qualifizierten Nötigungsmittels der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nehmen. Das Hauptaugenmerk soll dabei – entsprechend der Konzeption dieser Arbeit – schwerpunktmäßig auf die Bestimmung des Gefahrmerkmals und ihrer Gegenwärtigkeit gerichtet werden.
A. Raub und räuberische Erpressung, §§ 249, 255 StGB Es bietet sich insoweit an, die Analyse – im Sinne einer Schwerpunktbildung – mit einer Auswertung der zum Merkmal der gegenwärtigen Gefahr bei Raub, § 249 StGB, und räuberischer Erpressung, § 255 StGB, vertretenen Ansichten zu beginnen, bevor in einem zweiten Schritt zu klären sein wird, inwieweit sich die zu sexueller Nötigung und Vergewaltigung, § 177 StGB, angeführten Sichtweisen hiervon unterscheiden.
I. Der Gefahrbegriff der §§ 249, 255 StGB Wie bereits eingangs angedeutet, steht der Gefahrbegriff im Kontext der Delikte von Raub und räuberischer Erpressung weit weniger in Streit, als dies etwa bei den Gefährdungsdelikten oder den Notstandsbestimmungen der Fall ist. Bei Betrachtung der diesbezüglich in Rechtsprechung und Literatur vorzufindenden Stellungnahmen lässt sich im Gegenteil feststellen, dass der Gefahrbegriff in diesem Zusammenhang bislang nur wenig problematisiert wurde.
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2. Abschn.: Analyse des Meinungsstandes zum Nötigungsmittel der Drohung
1. Herrschende Ansicht in Rechtsprechung und Literatur Dies ist allem Anschein nach primär darauf zurückzuführen, dass die ganz herrschende Ansicht in Rechtsprechung und Literatur die im Rahmen von rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand für zutreffend erachteten Grundsätze zur Bestimmung des Gefahrbegriffs1 ohne weiteres, entweder ausdrücklich2 oder stillschweigend3 auch auf die Vorschriften über Raub und räuberische Erpressung überträgt. Nach dieser Sichtweise ist eine eigenständige Bestimmung des Gefahrbegriffes entbehrlich. So ist etwa Küper der Ansicht, der Täter drohe mit einer „Gefahr“, wenn er eine Situation ankündige, bei der – mindestens – die nahe liegende Möglichkeit einer spezifischen Rechtsgutsverletzung bestehe.4 In ähnlicher Weise äußert sich auch Herdegen, nach dessen Auffassung der Täter dann mit einer „Gefahr“ droht, wenn er in Aussicht stellt, er werde, falls seinem Vorhaben Widerstand entgegen gesetzt werden sollte, etwas tun, was die Möglichkeit der Rechtsgutverletzung als nahe liegend erscheinen lässt.5 Auch Gössel versteht unter einer „Gefahr“ die Herbeiführung solcher Umstände, welche für das Opfer den Eintritt einer spezifischen Rechtsgutsverletzung als nahe liegend erscheinen lassen.6 Noch einen Schritt weiter als die übrigen Autoren geht Kühl, der zwar eine mit der ganz überwiegenden Ansicht weitgehend übereinstimmende Gefahrdefinition aufstellt, dabei allerdings betont, der Begriff der Gefahr sei für alle Bestimmungen des StGB einheitlich auszulegen.7
2. Kindhäuser Einen im Ergebnis mit der vorgenannten herrschenden Auffassung übereinstimmenden, aber hinsichtlich der dogmatischen Herleitung völlig anderen Lösungsansatz vertritt demgegenüber Kindhäuser, der ebenfalls – aus seiner Sicht konVgl. unten 4. Abschnitt, C. III., V. 2., 3. So etwa BGH MDR 1957, 691; BGH NJW 1997, 265, 266; Tröndle / Fischer § 249 Rn. 3, 5; Schönke / Schröder-Eser § 249 Rn. 5, § 255 Rn. 2; Rengier BT I, § 7 Rn. 12, § 11 Rn. 9; in der Sache ebenso Hagel S. 393 f. 3 So BGH StV 1982, 447 f.; BGH NStZ 1988, 554; BGH NStZ 1994, 187; BGH JR 1999, 341, 342 f.; BGHR StGB § 255 Drohung 11; LK-Herdegen § 249 Rn. 11; Küper BT S. 111; MüKo-Sander § 249 Rn. 21; SK-Günther § 249 Rn. 18; Gössel BT 2, § 13 Rn. 27; Lask S. 144 f.; Moseschus S. 120 f. 4 Küper BT S. 111. 5 LK-Herdegen § 249 Rn. 11. 6 Gössel BT 2, § 13 Rn. 27. 7 Lackner / Kühl § 249 Rn. 3; vgl. bereits oben 1. Abschnitt Fn. 1. 1 2
A. Raub und räuberische Erpressung
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sequent – von einer direkten Übertragbarkeit der zu §§ 34, 35 StGB entwickelten Grundsätze auf die qualifizierten Nötigungsmittel von Raub und räuberischer Erpressung ausgeht. Seinen Ausgangspunkt nimmt er dabei in der Prämisse, Nötigung bedeute, eine andere Person gegen deren Willen zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen. Hiervon sei immer dann auszugehen, wenn das Verhalten nicht dem Opfer, sondern dem Täter zuzurechnen sei. Entscheidend sei die „normative Zuständigkeit“ des Nötigenden für das abgenötigte Verhalten. Eine solche Zuständigkeit des Täters könne sich zum einen daraus ergeben, dass er den Handlungswillen des Opfers faktisch ausschalte, indem er dieses etwa betäube oder einsperre; zum anderen liege eine solche Zuständigkeit auch vor, wenn das abgenötigte Verhalten zwar auf einer Entscheidung des Opfers beruhe, diese aber aus einer Notstandslage resultiere, in die der Täter das Opfer durch Anwendung von Gewalt oder Übelsandrohungen gebracht habe. Demgemäß müsse zur Bejahung einer Nötigung nach allgemeinen Maßstäben, unabhängig von der individuellen physischen Befindlichkeit des Opfers, eine Notstandslage im Sinne einer – drohenden – Beeinträchtigung von Gütern vorliegen. Die Notstandslagen im Sinne der §§ 34, 35 StGB seien nur typisierte Zwangslagen, die im Einzelfall nicht den Nachweis voraussetzten, dass der Betroffene unter einem wie auch immer gearteten psychischen oder körperlich spürbaren Druck von bestimmter Intensität stehe. Vielmehr sei davon auszugehen, dass eine sich in einer Notstandslage befindende Person adäquate Abwehrmaßnahmen ergreife, so dass im Ergebnis der die Notlage Herbeiführende für die tatsächliche Anwendung solcher Maßnahmen verantwortlich sei. Sowohl das Merkmal der Gewalt als auch dasjenige der Drohung sei nach alledem als Form der Steuerung fremden Verhaltens durch Herbeiführung einer Notstandslage zu interpretieren, die sich nur dadurch unterschieden, dass Erstere physisch realisiert werde, während für Letztere ihr kommunikativer Charakter kennzeichnend sei.8 Unter Zugrundelegung dieses Konzepts lassen sich nun die zur Gefahr der §§ 34, 35 StGB vertretenen Ansätze zwanglos auf das Gefahrmerkmal von Raub und räuberischer Erpressung übertragen.9 3. Mitsch Ein eigenständiger, in dogmatischer Hinsicht von den im Rahmen der Notstandsvorschriften zum Merkmal der Gefahr vertretenen Grundsätzen abweichender Gefahrbegriff für den Bereich der §§ 249, 255 StGB findet sich schließlich – soweit ersichtlich – allein bei Mitsch. Dieser betont zunächst, dass die Gefährdung bei Raub und räuberischer Erpressung nicht das Nötigungsmittel selbst, sondern der Inhalt der Drohungserklärung sei. „Drohung mit“ bedeute nicht die tatsächliche Herbeiführung oder Ausnutzung einer wirklichen Gefahrenlage zur Einschüchterung des Opfers, sondern Benutzung sprachlicher oder anderer semiotischer Aus8 9
NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 5 ff., 16, 20, 23, 27. Vgl. NK-Kindhäuser § 249 Rn. 6 f.
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2. Abschn.: Analyse des Meinungsstandes zum Nötigungsmittel der Drohung
drucksmittel, mit denen eine solche Gefahrenlage üblicherweise beschrieben werde. Aufgrund dessen brauche der Bedrohte weder in Gefahr gebracht worden zu sein noch in Gefahr gebracht zu werden. Es genüge vielmehr die verbale oder nonverbale Ankündigung, dass eine derartige Gefahrenlage entstehen werde. Demnach drohe der Täter mit einer Gefahr, wenn er eine bevorstehende Gefährdung der im Gesetz genannten Rechtsgüter in Aussicht stelle.10
II. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr in den §§ 249, 255 StGB Eine bedeutsame Einschränkung erfährt das qualifizierte Nötigungsmittel der „Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben“ bei Raub und räuberischer Erpressung unter anderem dadurch, dass es nach dem Gesetzeswortlaut nur im Falle der Gegenwärtigkeit der Gefahr als tatbestandsmäßig zu betrachten ist.11 Wann von einer solchen „gegenwärtigen Gefahr“ auszugehen ist, wird uneinheitlich beurteilt. Die hierzu in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Lösungswege weisen teilweise erhebliche Unterschiede auf. Dabei entsprechen die vorgebrachten Argumente aber im Wesentlichen denen, die originär in Bezug auf die Gegenwärtigkeit der Gefahr bei den Notstandsvorschriften erörtert werden12, da auch insoweit eine weitgehende Parallelität befürwortet wird. 1. Vorüberlegung: Fallgruppenbildung nach temporären Merkmalen von Gefahrenlagen Um der Darstellung der Problematik der Bestimmung der Gegenwärtigkeit der – angedrohten – Gefahr im Bereich der §§ 249, 255 StGB eine klare Struktur zu geben, soll im Rahmen dieser Untersuchung, wie dies teilweise für den Bereich der gegenwärtigen Notstandsgefahr vorgeschlagen wird, eine Einordnung der denkbaren Fallkonstellationen in vier verschiedene Gruppen von Gefahrenlagen13 10 Mitsch BT 2, 1, § 3 Rn. 34; ähnlich, allerdings weit weniger ausführlich und deutlich, zuvor bereits Geilen Jura 1979, 109, 110. 11 Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sich eine weitere gewichtige Restriktion der Drohungsalternative daraus ergibt, dass der Täter mit einer Gefahr „für Leib oder Leben“ drohen muss, also eine Drohung mit Sachgefahren in keinem Fall hinreichend ist; vgl. zu diesem Merkmal etwa RGSt 72, 229, 230 f.; BGHSt 7, 252, 254; BGH NStZ 1994, 187; SK-Günther § 249 Rn. 18; MüKo-Sander § 249 Rn. 21; Wessels / Hillenkamp Rn. 325 f.; Küper BT S. 111; Hagel S. 397; Rengier BT I, § 7 Rn. 12; NK-Kindhäuser § 249 Rn. 6; ders. StGB § 249 Rn. 5; ders. BT II § 13 Rn. 5; Gössel BT 2, § 13 Rn. 27 f.; Tröndle / Fischer § 35 Rn. 3 f., § 249 Rn. 3, 5; LK-Herdegen § 249 Rn. 11, § 255 Rn. 2; Lask S. 146 f.; Geilen Jura 1979, 109, 110; Schünemann JA 1980, 349, 351; Schmidt JuS 1994, 891, 892. 12 Vgl. unten 4. Abschnitt C. V. 2., 3. 13 So für den Bereich der §§ 249, 255 StGB ausdrücklich auch Joerden JR 1999, 117, 120 f.; vgl. zudem Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 34 Rn. 17; Otto Jura 1999, 552 f.
A. Raub und räuberische Erpressung
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erfolgen, die sich an den – vor allem temporären – Charakteristika der jeweiligen Sachlage orientieren und auf diese Weise eine systematische Erfassung erleichtern. Bei dieser Fallgruppenbildung ist die zeitlich aktuellste Gefahr die so genannte „Augenblicksgefahr“ oder auch „akute Gefahr“, die als sich unmittelbar zuspitzender Gefahrenzustand dadurch gekennzeichnet ist, dass die Gefahr alsbald oder in allernächster Zeit und unmittelbar in einen Schaden umschlagen kann, dass der Eintritt des Rechtsgutsobjektsschadens unmittelbar bevorsteht oder unmittelbar droht.14 Unter der zweiten Erscheinungsform der zeitlich geordneten Gefahrzustände, der Dauergefahr15 im engeren Sinne16 oder auch „echten“ Dauergefahr ist demgegenüber ein ungewöhnlicher, gefahrdrohender Zustand von längerer Dauer zu verstehen, der nach menschlicher Erfahrung bei natürlicher Weiterentwicklung jederzeit, also auch alsbald, in eine Rechtsgutsbeeinträchtigung umschlagen kann, ohne aber die Möglichkeit auszuschließen, dass der Eintritt des Schadens noch eine Zeitlang auf sich warten lässt.17 Aufgrund der sie kennzeichnenden Ungewissheit über die zeitliche Realisierung der Gefahr wird die Dauergefahr im engeren Sinne zum Teil auch als „Gefahr mit alternativem Realisierungszeitpunkt“ bezeichnet.18 Demgegenüber lässt sich von einer Dauergefahr19 im weiteren Sinne20 als dritter Gruppe sprechen, wenn der Eintritt des drohenden Schadens zwar erst nach Ablauf einer gewissen Zeit zu erwarten, aber sofortiges Handeln angezeigt ist, um ihm wirksam begegnen zu können.21 Es steht also im Gegensatz zur 14 Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 34 Rn. 17; Kühl AT § 8 Rn. 63; Joerden JR 1999, 117, 120. 15 Nicht weiter nachgegangen werden soll im Rahmen dieser Arbeit der Frage, ob dem Begriff der Dauergefahr eine eigenständige, konstitutive dogmatische (Begründungs-)Funktion zukommt (vgl. dazu Küper, Rudolphi-FS S. 151, 154, 157 ff., 163). Im Rahmen dieser Arbeit wird die Dauergefahr wertungsunabhängig ausschließlich als Oberbegriff für die Kennzeichnung bestimmter Gefahrenlagen verwendet, die hinsichtlich ihrer temporären Beschaffenheit gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen. 16 So die Bezeichnung bei Küper, Rudolphi-FS S. 151, 155, 158; Kühl AT § 8 Rn. 65; Haft / Eisele Jura 2000, 313, 315. 17 So oder ähnlich die Formulierung in RG JW 1933, 700, 701; BGHSt 5, 371, 373; BGH NJW 1979, 2053, 2054; BGH JZ 2004, 44, 46; OLG Düsseldorf VRS 81, 468, 470; BayObLG StV 1996, 484, 485; Lackner / Kühl § 34 Rn. 2; SK-Günther § 34 Rn. 25; SK-Rudolphi § 35 Rn. 7; Roxin AT I, § 16 Rn. 21, § 22 Rn. 17; ders., Tjong-GDS S. 137, 141; Joerden JR 1999, 120; Haft / Eisele Jura 2000, 313, 315; Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 34 Rn. 17; Kühl AT § 8 Rn. 64 f.; MüKo-Erb § 34 Rn. 79; Rengier NStZ 1984, 21, 22; LKHirsch § 34 Rn. 36; Tröndle / Fischer § 34 Rn. 4; vgl. auch Ludwig S. 17, 31. 18 Küper, Rudolphi-FS S. 151, 158. 19 Zweifelnd hinsichtlich der Bezeichnung als Dauergefahr etwa Kühl AT § 8 Rn. 66. 20 Bezeichnung wiederum nach Küper, Rudolphi-FS S. 151, 155, 158. 21 So oder ähnlich etwa die Formulierung in RGSt 61, 242, 255; RG JW 1934, 422, 423; BGH NJW 1951, 769; BGHSt 5, 371, 373; BGH ROW 1958, 33, 34; BGH JZ 2004, 44, 46; BayObLG StV 1996, 484, 485; LK-Hirsch § 34 Rn. 37; Kühl AT § 8 Rn. 66; Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 34 Rn. 17, die diese Fallgruppe jedoch nicht ausdrücklich als Dauergefahr bezeichnen; ebenso MüKo-Erb § 34 Rn. 80; Ludwig S. 17 f., 20, 31 ff., 40; Roxin AT I, § 16 Rn. 20, § 22 Rn. 17.
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2. Abschn.: Analyse des Meinungsstandes zum Nötigungsmittel der Drohung
Dauergefahr im engeren Sinne fest, dass die Gefahr sich nicht alsbald, sondern erst in einiger Zukunft realisieren wird, zu ihrer Abwehr muss aber sofort etwas getan werden, weil sich die Gefahrrealisierung sonst voraussichtlich nicht mehr verhindern ließe22 oder sich das Ausmaß der angezeigten Abwehrhandlung zu diesem Zeitpunkt zumindest unverhältnismäßig gesteigert haben würde.23 Die Notwendigkeit sofortigen Handelns, der „gegenwärtige Handlungszwang“24, ist also das ausschlaggebende Kriterium.25 Schließlich sind als vierte temporäre Gefahrkonstellation Gefahrenzustände denkbar, in denen feststeht, dass sich die Gefahr erst in der Zukunft realisieren wird, etwa weil es zur Zeit noch an der Erfüllung maßgeblicher Realisierungsbedingungen fehlt, und bei denen eine Abwendung der Gefahr auch nicht unverzüglich vorgenommen werden muss, sondern noch später in gleichermaßen Erfolg versprechender Weise erfolgen kann. Mit diesen Fallgruppen lassen sich alle realiter möglichen – angedrohten – Gefahrkonstellationen abschließend erfassen. Zwar findet sich im Rahmen insbesondere der räuberischen Erpressung häufig und hier vor allem bei den Produkt-26 und den Schutzgelderspressungsfällen die spezielle Problematik, dass der Täter dem Opfer eine Frist zur Erfüllung seiner Forderungen setzt. Diese besondere Konstellation kann aber unproblematisch über die Fallgruppen der Dauergefahr im engeren Sinne und – wie wohl im Regelfall – der Dauergefahr im weiteren Sinne erfasst werden – je nachdem, ob die angekündigte Gefahr trotz der Fristsetzung permanent im Raume steht oder ob der Täter das Übel erst für den Zeitpunkt des Ablaufs der Frist in Aussicht gestellt hat. Unter Berücksichtigung dieser Einordnung lässt sich zunächst festhalten, dass in Rechtsprechung und Literatur weitgehend Einigkeit besteht, dass einerseits die akute Gefahr und die Dauergefahr im engeren Sinne gegenwärtige Gefahren im Sinne des Gesetzes darstellen und andererseits die Gefahrzustände, bei denen eine Realisierung erst in Zukunft zu erwarten und auch eine Notwendigkeit sofortigen Handelns zur erfolgreichen Abwehr des Schadenseintritts nicht gegeben ist, nicht als gegenwärtige Gefahren zu qualifizieren sind. Streit besteht hingegen über die Behandlung der Dauergefahr im weiteren Sinne. Mit Blick hierauf können die zur Gegenwärtigkeit der Gefahr vertretenen Auffassungen wie folgt charakterisiert werden.
Joerden JR 1999, 120. LK-Hirsch § 34 Rn. 36 f.; in diesem Sinne auch SK-Günther § 34 Rn. 25; SK-Rudolphi § 35 Rn. 7; ähnlich Roxin AT I, § 16 Rn. 20: „. . . wenn . . . eine Abwehr . . . später nicht mehr oder nur noch unter sehr viel größeren Risiken möglich wäre“. 24 Der Begriff des „gegenwärtigen Handlungszwangs“ ist Supperts Ausführungen zur Notwehr entlehnt (vgl. Suppert S. 383, 404). 25 Ähnlich Ludwig S. 17 f. 26 Vgl. dazu bereits oben 1. Abschnitt Fn. 3. 22 23
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2. Sichtweise der Rechtsprechung Die Rechtsprechung hat in ihren Entscheidungen immer wieder ausdrücklich betont, dass sich die zu §§ 34, 35 StGB entwickelten Grundsätze nicht ohne weiteres auf das Nötigungsmittel der Drohung von Raub und räuberischer Erpressung übertragen ließen. Trotz dieses Lippenbekenntnisses hat sie sich allerdings zu keinem Zeitpunkt gehindert gesehen, die Gegenwärtigkeit der Gefahr im Rahmen der Notstandsvorschriften einerseits und Raub und räuberischer Erpressung andererseits nach identischen Kriterien zu beurteilen. Dies hat dazu geführt, dass die Rechtsprechung – auch27 – im Bereich der qualifizierten Nötigungsmittel im Sinne der §§ 249, 255 StGB nicht zwischen der Dauergefahr im engeren Sinne und der Dauergefahr im weiteren Sinne unterscheidet, sondern beide Erscheinungsformen der Gefahr als Dauergefahr für tatbestandsmäßige Drohungsinhalte erachtet hat. Dementsprechend lautet eine in vielen Entscheidungen verwendete Formulierung, eine Gefahr sei dann gegenwärtig, wenn die in Aussicht gestellte Schädigung an Leib oder Leben bei ungestörter, natürlicher Weiterentwicklung der Dinge nach menschlicher Erfahrung als sicher oder höchstwahrscheinlich zu erwarten sei, falls nicht alsbald eine Abwehrmaßnahme ergriffen würde. Dabei sei nicht erforderlich, dass der Eintritt des schädigenden Ereignisses mit Sicherheit unmittelbar bevorstehe. Es genüge eine Gefahr, die als „Dauergefahr“ über einen längeren Zeitraum in dem Sinne gegenwärtig sei, dass sie jederzeit – zu einem ungewissen Zeitpunkt alsbald oder auch später – in einen Schaden umschlagen könne. Genaue zeitliche Grenzen dafür, wann eine für die Zukunft angedrohte Gefahr noch gegenwärtig ist und wann nicht mehr, ließen sich nicht allgemein festlegen. Maßgebend hierfür seien vielmehr die aussagekräftigen Umstände des Einzelfalles.28 Dabei hat der Bundesgerichtshof eine ohne nähere Fristsetzung erst für den nächsten Tag oder zwei bis drei Tage später in Aussicht gestellte Gefahrverwirklichung als Drohung mit gegenwärtiger Gefahr ausreichen lassen, andererseits aber eine Drohung mit Tötung oder körperlicher Misshandlung, falls das Opfer nicht binnen Monats- oder Jahresfrist zahle, nicht als gegenwärtige Gefahr angesehen. Eine Fristsetzung von etwa zwei Wochen wurde demgegenüber als noch ausreichend angesehen.29 In Ergänzung der soeben dargestellten Grundaussage wurde zudem ausgeführt, die Gefahr könne auch dann gegenwärtig und in ihren Auswirkungen auf das Opfer sogar besonders gefährlich sein, wenn die Drohung in dem Sinne ungewiss sei, Vgl. unten 4. Abschnitt, C. V. 1., 2. BGH MDR 1957, 691; BGH StV 1982, 517 f.; BGH NStZ 1988, 554; BGH NStZ 1994, 187; BGH NStZ 1996, 494; BGH NJW 1997, 265, 266; BGH NStZ-RR 1998, 135; BGH JR 1999, 341, 342 f.; BGHR StGB § 255 Drohung 11. 29 BGH MDR 1957, 691; BGH StV 1982, 517; BGHR StGB § 255 Drohung 6; BGH NStZ 1994, 187; BGH NStZ 1996, 494; BGH NJW 1997, 265, 266; BGH NStZ-RR 1998, 135; BGH JR 1999, 341, 343. 27 28
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dass die Gefahr jederzeit – alsbald, aber auch später – in einen Schaden umschlagen könne. Werde etwa dem Bedrohten eine Bedenkzeit von wenigen Tagen gewährt, so könne sich die angedrohte Gefahr jedenfalls nach Ablauf dieser kurzen Bedenkzeit jederzeit verwirklichen, so dass sie im Sinne einer Dauergefahr gegenwärtig sei. Die Rechtsprechung begründet ihre Ansicht primär mit der These, der wirksame Schutz von Erpressungsopfern erfordere es, den Begriff der Gegenwärtigkeit angedrohter Gefahren nicht zu eng zu verstehen. Vielmehr bedürfe es der begrifflichen Anpassung an den Sinn der §§ 249, 255 StGB, um bestimmte Fälle der Erpressung wegen der vom Täter gezielt eingesetzten wirklichen oder vermeintlichen Gefährlichkeit der Drohung unter erhöhte Strafe zu stellen.30 Dabei hat sich die Rechtsprechung immer wieder von der Überlegung leiten lassen, dass gerade der typische Fall der Schutzgelderpressung, bei der die Drohung zunächst nur konkludent unter Hinweis auf eine hinter dem Gesprächspartner stehende Gruppe für eine unbestimmte Zukunft erfolgt, zwar nicht dem Leitbild entspricht, das der Gesetzgeber bei der Schaffung der §§ 249, 255 StGB vor Augen hatte, dass sie jedoch eine besonders gefährliche Kriminalitätsform darstelle, der mit einer weiten Auslegung des Schutzzwecks des §§ 249, 255 StGB sowie der besonderen Berücksichtigung generalpräventiver Gesichtspunkte bei der Strafzumessung zu begegnen sei.31
3. Herrschende Meinung in der Lehre Was die Sichtweise der Lehre anbelangt, so haben sich zahlreiche Autoren der Rechtsprechung angeschlossen und befürworten – jedenfalls de facto – eine Übertragung der auch im Rahmen der Notstandsvorschriften für maßgeblich erachteten Prinzipien. a) Es nimmt daher kaum Wunder, dass sich auch in den Stellungnahmen vieler strafrechtlicher Autoren keine Unterscheidung zwischen der Dauergefahr im engeren und der Dauergefahr im weiteren Sinne findet, mit der Folge, dass beide Gefahrtypen als Ausprägung eines einheitlich verstandenen Phänomens der Dauergefahr angesehen werden.32 30 BGH MDR 1957, 691; BGH NJW 1997, 265, 266; BGH JR 1999, 341, 342 f.; vgl. Martin JuS 1997, 471; vgl. auch Zaczyk JR 1999, 343 f.; Küper BT S. 114; Hillenkamp, Rudolphi-FS S. 463, 465, 469. 31 Vgl. BGH NStZ 1992, 275; BGHR StGB § 255 Drohung 7; Martin JuS 1997, 471. 32 So Lackner / Kühl § 249 Rn. 3, § 255 Rn. 1; Krey / Hellmann Rn. 190, 308b; Joecks § 255 Rn. 7 f.; Hagel S. 394 ff., 520 ff.; Mitsch BT 2, 1, § 3 Rn. 34 f.; ders. NStZ 1999, 617; Schroth BT S. 170, 215; Gössel BT 2, § 13 Rn. 27 f.; Tröndle / Fischer § 249 Rn. 3, 5, § 255 Rn. 2; Rengier BT I, § 11 Rn. 9; NK-Kindhäuser § 249 Rn. 7; ders. BT II § 13 Rn. 6; ders. StGB § 249 Rn. 6; Kindhäuser / Wallau StV 1999, 379, 380 f.; NK-Toepel § 240 Rn. 106 f.; LK-Herdegen § 249 Rn. 11, § 255 Rn. 2; SK-Günther § 249 Rn. 19; Haft BT I S. 36; Mose-
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aa) Auf dieser Grundlage gelangen die meisten Autoren unter Betonung kriminalpolitischer und normativer Kriterien im Ergebnis zu einer Subsumtion auch von Dauergefahren im weiteren Sinne unter den Begriff der gegenwärtigen Gefahr. So befürwortet etwa Geilen eine weitgehende Parallelität in der Behandlung der Gegenwärtigkeit der Gefahr von Raub und räuberischer Erpressung einerseits und rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand andererseits. Er verficht dabei im Grundsatz die Ansicht, dass die Gegenwärtigkeit der angedrohten Gefahr jedenfalls im Rahmen der räuberischen Erpressung nicht zu eng gefasst werden dürfe. Insbesondere an die Aktualität der Drohung dürften generell keine übertrieben hohen Anforderungen gestellt werden, da die Tatbestandseinschränkung offenbar auf der zu optimistischen Vorstellung des Gesetzgebers beruhe, der Genötigte habe bei einer eingeräumten Frist genügend andere Chancen, um dem Nötigungsdilemma zu entgehen. Insoweit sei auch zu beachten, dass die zeitliche Unbestimmtheit der in Aussicht gestellten Gefahr deren Gegenwärtigkeit nicht ausschließe. Da insofern Berührungspunkte mit dem beim Notstand entwickelten Begriff der Dauergefahr bestünden, könne man sich mit den hierzu entwickelten Grundsätzen behelfen. Sei der Zeitpunkt des Übels nicht zu berechnen, weil das Übel während eines längeren Zeitraums irgendwann und irgendwo eintreten könne, so sei die angedrohte Gefahr permanent gegeben und insofern durchlaufend gegenwärtig.33 Auch Gössel legt seiner Bestimmung des Gegenwärtigkeitsmerkmals grundsätzlich die von der Rechtsprechung im Rahmen des Notstandes entwickelte Definition zugrunde, betont aber, dass zur genaueren Eingrenzung der tatbestandliche Zusammenhang berücksichtigt werden müsse. Danach sei eine Gefahr nur dann gegenwärtig, wenn der Täter deren Herbeiführung innerhalb der Zeit in Aussicht stelle, während der er seine Drohung gegenüber dem Opfer als Mittel zur Wegnahme einsetze. Es müsse dabei allerdings unerheblich sein, ob sich die in Aussicht gestellte Gefahr, etwa als Dauergefahr, nach den Umständen des konkreten Falles erst zu einem späteren Zeitpunkt realisiere.34 Nach Herdegen ist eine Gefahr gegenwärtig, wenn bei ungestörtem Fortgang und üblichem Verlauf der Dinge der Eintritt des Übels als sicher, wahrscheinlich oder auch nur möglich erscheine, falls nicht die vom Täter ins Auge gefasste Wegnahme hingenommen oder die Gefahr nicht sogleich auf andere Weise behoben würde. Gegenwärtigkeit im Sinne der §§ 249, 255 StGB soll demnach sowohl im Falle der Gefahr, die als Dauergefahr jederzeit oder auch später in den angedrohten Schaden umschlagen kann, als auch vorliegen, wenn die Verwirklichung des Drohungsinhalts erst für den nächsten Tag in Aussicht gestellt wird.35 schus S. 124 f.; Geilen Jura 1979, 109, 110; Geppert JK 97, StGB § 255 / 8; Baier JA 2000, 12, 14; Schneider NStZ 2003, 428, 431; vgl. auch Sieber JuS 1986, 547, 550 f. 33 Geilen Jura 1979, 109, 110. 34 Gössel BT 2, § 13 Rn. 27 f. 35 LK-Herdegen § 249 Rn. 11, § 255 Rn. 2.
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Fischer orientiert sich ebenfalls sowohl in seiner Formulierung als auch im Ergebnis eng an den Vorgaben der Rechtsprechung und führt aus, Gegenwärtigkeit sei jedenfalls dann stets gegeben, wenn das Opfer alsbald handeln müsse, um die Forderung des Täters innerhalb der von diesem gesetzten Frist zu erfüllen. Weil das schädigende Ereignis nicht mit Sicherheit unmittelbar bevorzustehen brauche, sei auch eine Dauergefahr als gegenwärtig zu betrachten. Es genüge insofern, dass eine Dauergefahr über einen längeren Zeitraum in dem Sinne gegenwärtig sei, dass sie jederzeit, alsbald oder auch später, in einen Schaden umschlagen könne. Genaue zeitliche Grenzen dafür, wann eine für die Zukunft angedrohte Gefahr noch gegenwärtig sei, gebe es nicht, vielmehr komme es auf die Umstände des Einzelfalles an. Eine Drohung ohne Fristsetzung reiche aber in der Regel aus; ebenso die Fristsetzung von einem oder wenigen Tagen. Bei Monaten oder Jahren sei die Gegenwärtigkeit der Gefahr hingegen zweifelhaft.36 In ähnlicher Weise schließt sich Rengier den Vorgaben der Rechtsprechung an und zieht bezüglich der Gegenwärtigkeit der Gefahr eine Parallele zu § 34 StGB. Seiner Meinung nach ist eine Gefahr immer dann „gegenwärtig“, wenn bei natürlicher Weiterentwicklung der Dinge der Eintritt eines Schadens sicher oder doch höchstwahrscheinlich ist, falls nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen werden, wenn also der ungewöhnliche Zustand nach menschlicher Erfahrung und natürlicher Weiterentwicklung der gegebenen Sachlage jederzeit – d. h. alsbald oder auch erst später zu einem ungewissen Zeitpunkt – in einen Schaden umschlagen kann. Hierin eingeschlossen sollen insbesondere die sog. Dauergefahren sein, auch wenn sie sich über einen längeren Zeitraum erstrecken. Dies vor allem deshalb, weil der wirksame Schutz von Erpressungsopfern es erfordere, den Begriff der Gegenwärtigkeit angedrohter Gefahren nicht zu eng zu verstehen.37 Geppert orientiert sich gleichfalls weitgehend an den Ausführungen der Rechtsprechung. Seiner Darstellung zufolge soll eine angedrohte Leibes- oder Lebensgefahr „gegenwärtig“ sein, wenn die in Aussicht gestellte Schädigung an Leib oder Leben bei ungestörter Weiterentwicklung der Dinge nach menschlicher Erfahrung als sicher oder höchstwahrscheinlich zu erwarten ist, falls nicht alsbald eine Abwehrmaßnahme getroffen wird. Dies bedeute, dass das schädigende Ereignis gerade nicht mit Sicherheit oder auch nur höchstwahrscheinlich unmittelbar bevorstehen müsse. Ähnlich wie beim rechtfertigenden Notstand des § 34 StGB genüge vielmehr das Vorliegen einer Dauergefahr, die darin bestehe, dass ein Zustand permanenter Gefahr jederzeit und damit auch alsbald in einen Schaden umschlagen könne, möge auch die Möglichkeit offen bleiben, dass der Eintritt des Schadens noch eine Weile auf sich warten lasse. Gerade in diesem Falle handele es sich um eine besonders gegenwärtige Gefahr, da diese wegen ihrer Unberechenbarkeit permanent im Raume stehe. Eine solche Dauergefahr könne auch dann eine gegenwärtige Gefahr sein, wenn der Eintritt des drohenden Schadens zwar erst nach Ab36 37
Tröndle / Fischer § 255 Rn. 2. Rengier BT I, § 11 Rn. 9.
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lauf einer gewissen Zeit zu erwarten, doch sofortiges Handeln geboten sei, um dem Eintritt des Schadens wirksam begegnen zu können. In allen Fällen bedürfe es keiner ausdrücklichen Frist- oder Bedingungssetzung, an Hand deren sich die Gegenwärtigkeit der in Aussicht gestellten Schädigung gewissermaßen ausrechnen ließe. Im Einzelfall könnten aber Fristsetzungen der Gegenwärtigkeit der Drohung entgegenstehen, da eine zukünftige Gefahr eben keine gegenwärtig drohende sei.38 Ohne ausdrücklich auf die Notstandsvorschriften hinzuweisen, geht schließlich auch Moseschus – für den Bereich der von ihm alleine betrachteten Produkterpressung – von einem weiten Gegenwärtigkeitsbegriff aus. Seiner Meinung nach ist die Gegenwärtigkeit einer Gefahr mit der Rechtsprechung immer dann zu bejahen, wenn bei einer natürlichen und ungestörten Weiterentwicklung der Dinge im konkreten Einzelfall nach menschlicher Erfahrung der Eintritt eines Schadens sicher oder höchstwahrscheinlich ist, sofern nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen werden. Hierfür sei entgegen einer vereinzelt vertretenen Ansicht nicht erforderlich, dass das schädigende Ereignis mit Sicherheit tatsächlich auch unmittelbar jederzeit bevorstehe. Da sowohl dem Begriff der Drohung als auch dem der Gefahr ein zukünftiges Moment immanent sei, komme es entscheidend auf die jeweilige Aktualität der aufgenötigten Entscheidungssituation auf der Opferseite an. Zur Konkretisierung des so verstandenen Gegenwärtigkeitsbegriffes könne indes auf die für den Rechtsbegriff der Dauergefahr, als Gefahrenlage, deren Realisierung tatsächlich noch ungewiss sei und alsbald, allerdings auch erst in nächster Zukunft, erfolgen könne, entwickelten Kriterien zurückgegriffen werden. Demgemäß sei regelmäßig auch die mit einer Fristsetzung verbundene Drohung eine solche mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben, da sie das Opfer von Beginn an unter einen gegenwärtigen Verhaltenszwang stelle und dieses trotz der eingeräumten Frist zur sofortigen Vornahme von Abwehr- und Reaktionsmaßnahmen zwinge.39 bb) Einen eigenständigen Lösungsansatz, der mit der herrschenden Ansicht zwar im Ergebnis, nicht aber in seiner Begründung übereinstimmt, zeigt Mitsch auf. Er betont, dass die Gegenwärtigkeit der angedrohten Gefahr einen engen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Drohung und dem angekündigten Eintritt der Gefahrenlage voraussetze. Da aber die Gefahr lediglich eine Vorstufe der Leibes- bzw. Lebensschädigung sei, welche mit dieser nicht zusammenfalle, brauche das schädigende Ereignis seinerseits nicht unmittelbar bevorzustehen. Bezugspunkt der Gegenwärtigkeit sei nur die Gefahr, nicht dagegen die Gefahrrealisierung. Da demgemäß nur die Gefahr gegenwärtig sein müsse, könne zwischen der Gefahr und der ihr nachfolgenden Schädigung von Leib oder Leben durchaus ein Zeitraum liegen, der die in Aussicht gestellte Schädigung als eine künftige – also nicht gegenwärtige – erscheinen lasse. In Anknüpfung an den von ihm entwickelten Gefahrbegriff40 38 39 40
Geppert JK 97, StGB § 255 / 8. Moseschus S. 121 ff. Vgl. oben I. 3.
3 Blanke
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führt er weiter aus, dass eine Drohung mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben folglich dann anzunehmen sei, wenn der Täter ankündige, dass eine Gefahrenlage für die körperliche Unversehrtheit oder das Leben alsbald entstehen werde. Demnach drohe dieser mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben, wenn er eine unmittelbar bevorstehende Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit oder des Lebens in Aussicht stelle.41 cc) Demgegenüber ist Günther der Ansicht, die gegenwärtige Gefahr umschreibe nicht den Drohungsinhalt näher, sondern kennzeichne die durch die Drohung herbeigeführte Situation für das Opfer. Dementsprechend müssten Leib und Leben gegenwärtig gefährdet sein, auch wenn die Drohung – im Gegensatz zur Gewalt – begrifflich erst ein zukünftiges Übel verheiße. Die Gefahr müsse bereits im Zeitpunkt der Drohungsäußerung gegenwärtig bestehen; ihre mögliche Realisierung brauche hingegen erst zu einem späteren Zeitpunkt einzutreten.42 Die für die Notstandsvoraussetzung der gegenwärtigen Gefahr, namentlich die zur Dauergefahr entwickelten Prinzipien könnten dabei entsprechend herangezogen werden. Die Rechtsprechung stelle mit Recht darauf ab, ob bei natürlicher Weiterentwicklung des Geschehens der Eintritt eines Schadens sicher oder sehr wahrscheinlich sei, falls nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen würden, was auch der Fall sei, wenn der gefährliche Zustand jederzeit in einen Schaden umschlagen könne. Auch Fristsetzungen über mehrere Tage hinweg änderten nichts am Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr.43 dd) Die ebenfalls in Richtung der herrschenden Auffassung tendierende Sichtweise Kindhäusers zur Gegenwärtigkeit der Gefahr ist wiederum deutlich durch seine Interpretation der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr als Schaffung einer Notstandssituation im Sinne von § 34 StGB durch den Täter gekennzeichnet. Nach seiner Auffassung ist auf dieser Grundlage zunächst strikt zwischen der entscheidungsrelevanten – d. h. gegenwärtigen – Gefahr und der bei Vorliegen einer solchen als zurechenbar zu bezeichnenden Reaktion des Opfers zu unterscheiden. Hinsichtlich der Nötigungswirkung sei festzustellen, dass durch eine Übelsankündigung regelmäßig bereits unmittelbar in die Freiheitssphäre des vermeintlich künftig Gefährdeten eingegriffen werde. Zwischen der „gegenwärtigen Gefahr“ und der aufgrund derselben angenommenen Nötigungswirkung bestehe indes eine eindeutige Abhängigkeit. Ohne die Annahme einer gegenwärtigen Gefahr könne das Vorliegen einer Nötigungswirkung gar nicht begründet werden. Daher ergebe sich hinsichtlich der temporalen Grenzen, dass als maßgebliches Abgrenzungskriterium die aktuell nötigende und damit erpressungsrelevante Wirkung der in Aussicht gestellten Gefahr angesehen werden müsse. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr Mitsch BT 2, 1, § 3 Rn. 34 f.; ders. NStZ 1999, 617. Insoweit zustimmend MüKo-Sander § 249 Rn. 22, § 255 Rn. 5 ff.: „Maßstab für die Gegenwärtigkeit ist allein die Gefahr, nicht deren gegebenenfalls zeitlich nachfolgende Realisierung“. 43 SK-Günther § 249 Rn. 19. 41 42
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bestimme sich normativ nach der Aktualität der Entscheidungssituation, in die der Drohungsadressat durch den Täter gestellt werde. Gegenwärtig sei eine Gefahr immer dann, wenn sie hinsichtlich der betroffenen Rechtspositionen eine entscheidungsrelevante Situation schaffe oder anders ausgedrückt, wenn der Drohungsadressat alsbald zu ihrer Abwehr reagieren müsse. Hierfür seien die Kriterien einer Notstandssituation im Sinne von §§ 34, 35 StGB entsprechend heranzuziehen. Da zu dem Organisationsbereich einer Person auch die Möglichkeit rationaler Planung im Umgang mit den ihr zustehenden Gütern in einem Zeitraum von jedenfalls etwas über einer Woche gehöre, stehe auch die Fristsetzung über einen solchen Zeitraum der Qualifizierung als gegenwärtig nicht entgegen. Ebenso könne bei einer Fristsetzung von zweieinhalb Wochen noch von einer gegenwärtigen Gefahr gesprochen werden.44 b) Demgegenüber unterscheiden andere Autoren klar zwischen der Dauergefahr im engeren Sinn und der Dauergefahr im weiteren Sinn. Einige von ihnen gelangen auf der Grundlage dieser Unterscheidung indes ebenfalls zu einem Ergebnis, das weitestgehend mit demjenigen der Rechtsprechung und der überwiegenden Literatur übereinstimmt, und qualifizieren demgemäß auch Dauergefahren im weiteren Sinne als tatbestandsmäßige gegenwärtige Gefahren.45 aa) So gelangen insbesondere Küper und Hillenkamp trotz Differenzierung zwischen Dauergefahren im engeren Sinne und Dauergefahren im weiteren Sinne unter Betonung normativer Kriterien zu einer Einbeziehung der Dauergefahren im weiteren Sinne in den Bereich der gegenwärtigen Gefahr. Küper führt hierzu aus, eine angedrohte Gefahr sei nach allgemeiner Ansicht stets gegenwärtig, wenn der Schaden nach dem Inhalt der Ankündigung unmittelbar bevorstehe. Anerkannt sei ferner, dass das Erfordernis der Gegenwärtigkeit auch auf sog. Dauergefahren zutreffe, d. h. auf – angedrohte – Gefahrenlagen, die sich dadurch kennzeichneten, dass die Gefahr jederzeit, früher oder später, in einen Schaden umschlagen könne. Die Ungewissheit des Schadenszeitpunktes, die zugleich die Möglichkeit einschließe, dass die Gefahrverwirklichung unmittelbar bevorstehe, begründe hier die Gegenwärtigkeit der Gefahr. Die Dauergefahr sei in derartigen Fallkonstellationen nur eine besondere Variante des unmittelbar bevorstehenden Schadenseintritts. In beiden Fällen könne die Gegenwärtigkeit unproblematisch rein zeitlich bestimmt werden. Anders sei dies allerdings in Fällen, in denen der Eintritt des Schadens erst für einen Zeitpunkt in Aussicht gestellt werde, 44 NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 23, § 249 Rn. 7; ders. BT II § 13 Rn. 6; ders. StGB § 249 Rn. 6; Kindhäuser / Wallau StV 1999, 379, 380 f.; ebenso NK-Toepel § 240 Rn. 106 zum empfindlichen Übel. 45 Küper BT S. 111, 115; Wessels / Hillenkamp Rn. 326, 727; Otto Jura 1999, 552 f.; unklar Kühl AT § 8 Rn. 64, der sich nur die mit der Dauergefahr im engeren Sinne korrespondierende Formulierung von BGH NJW 1997, 265, 266 zu eigen macht: „Gegenwärtig ist auch die für den Fall der Zahlungsverweigerung ohne Fristsetzung angedrohte Gefahr, z. B. für Leib oder Leben des Erpressungsopfers, wenn sie ,jederzeit – zu einem ungewissen Zeitpunkt, alsbald oder später – in einen Schaden umschlagen kann‘“.
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2. Abschn.: Analyse des Meinungsstandes zum Nötigungsmittel der Drohung
der so weit in der Zukunft liege, dass unter einem rein zeitlichen Aspekt das unmittelbare Bevorstehen ausscheide. Nach Küpers Auffassung soll die Gefahr aber auch in derartigen Fällen gegenwärtig sein, nämlich immer dann, wenn der Eintritt des Schadens zwar überhaupt erst in der Zukunft zu erwarten sei, jedoch zugleich feststehe, dass er nur durch sofortiges Handeln abgewendet werden könne. Entscheidend sei insoweit allein die Gegenwärtigkeit der Zwangslage, die den Gefährdeten vor die Alternative stelle, entweder jetzt ohne weiteren Aufschub gefahrabwendend zu handeln oder den drohenden Schaden hinzunehmen. Das Opfer müsse unter einem „gegenwärtigen Verhaltenszwang“ stehen. Zur gegenwärtigen Gefahr gehörten daher auch – angedrohte – Situationen, in denen der Schaden jederzeit eintreten oder nur durch sofortiges, d. h. gegenwärtiges Handeln abgewendet werden könne.46 In vergleichbarer Art und Weise äußert sich auch Hillenkamp, wenn er die Ansicht vertritt, dass auch dann, wenn der Umschlag der Gefahr in eine Leibesverletzung oder eine Tötung nach dem Inhalt der Ankündigung, z. B. im Falle einer Fristsetzung, nicht unmittelbar bevorstehe, von Gegenwärtigkeit gleichwohl schon zu reden sei, wenn entweder die Gefahr – wie dies bei einer Dauergefahr anzunehmen sei – jederzeit in eine Schädigung umschlagen oder der Schaden ohne sofortige Abwehrmaßnahmen voraussichtlich nicht mehr abgewendet werden könne. Bedenken, die im Rahmen der §§ 32, 34 StGB gegen eine solche Ausweitung des Begriffs der Gegenwärtigkeit bestünden, träten hier zurück, weil es um die Beurteilung der Freiheitsbeeinträchtigung des Betroffenen, nicht aber um seine Eingriffsbefugnis gegenüber Dritten gehe. Gegenwärtig sei eine Gefahr folglich immer dann, wenn das Umschlagen in eine Verletzung unmittelbar bevorstehe oder wenn bei natürlicher Weiterentwicklung der Dinge der Eintritt eines Schadens sicher oder doch höchstwahrscheinlich sei, falls nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen würden, wenn also der ungewöhnliche Zustand nach menschlicher Erfahrung und natürlicher Weiterentwicklung jederzeit in einen Schaden umschlagen könne. Eine Dauergefahr reiche danach aus. Aber auch wenn die Übelszufügung an den ereignislosen Ablauf einer nicht zu lang bemessenen Zahlungsfrist geknüpft werde, sei die Gefahr bereits gegenwärtig.47 bb) Otto unterscheidet ebenfalls deutlich zwischen der Dauergefahr im engeren Sinne und der Dauergefahr im weiteren Sinne und kritisiert dabei die zum Teil indifferente Verwendung des Begriffs der Dauergefahr in Rechtsprechung und Literatur, welche zudem seiner Ansicht nach ohnehin nur einen Teilbereich der gegenwärtigen Gefahr ausmache. Was die inhaltliche Bestimmung des Gegenwärtigkeitsbegriffs angehe, so müsse, weil jeder Zäsur eine gewisse Willkürlichkeit anhafte, die von der Rechtsprechung im Bereich der Notstandsvorschriften aufgestellte Definition auch im Rahmen von Raub und räuberischer Erpressung beim 46 47
469.
Küper BT S. 111, 115; vgl. auch ders., Rudolphi-FS S. 151, 154 Fn. 17. Wessels / Hillenkamp Rn. 326, 727; vgl. auch Hillenkamp, Rudolphi-FS S. 463, 465,
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Wort genommen und das Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr bereits dann bejaht werden, wenn der Täter vorbehaltlos zum Ausdruck bringe, er werde die Gefahr realisieren, falls seinen Wünschen nicht Genüge getan werde. In diesem Falle werde nämlich stets eine Situation geschaffen, die nach menschlicher Erfahrung und natürlicher Weiterentwicklung der gegebenen Umstände in einen Schaden umschlage, falls nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen würden. Demgegenüber kennzeichne die zukünftige Gefahr eine Situation, in der lediglich gedroht werde, es könne der Entschluss gefasst werden, einen bestimmten Schaden zu begründen, bzw. eine Situation, in der die Begründung einer Gefahrenlage bevorstehe.48 4. Eine Divergenz zu den Notstandsvorschriften befürwortende Autoren Es finden sich allerdings auch einige Autoren, die der Auffassung der Rechtsprechung und der herrschenden Ansicht im Schrifttum ablehnend gegenüberstehen und sich entschieden gegen eine Übertragung der zu den Notstandsvorschriften entwickelten Prinzipien aussprechen. Auch sie unterscheiden weit überwiegend zwischen der Dauergefahr im engeren Sinne und der Dauergefahr im weiteren Sinne.49 a) So setzt sich insbesondere Zaczyk kritisch mit der herrschenden Meinung auseinander. Er betont, der Bundesgerichtshof weise zwar zutreffend darauf hin, dass unter dem Begriff der „gegenwärtigen Gefahr“ auch die Dauergefahr verstanden werde, die jederzeit, also alsbald oder auch später in einen Schaden umschlagen könne. Auf der anderen Seite zeige die ganz überwiegend verwendete Gegenwärtigkeitsdefinition aber deutlich ihre Herkunft vor allem aus dem Notstandsbereich, sowohl was die Orientierung am naturhaft ablaufenden Geschehen anbelange, als auch durch die Formulierung „Abwehrmaßnahmen“. Doch gehe es in §§ 249, 255 StGB, anders als bei §§ 34, 35 StGB, nicht um bloße Gefahrbeseitigung. Da die gegenwärtige Gefahr im behandelten Kontext in das Nötigungsmittel der Drohung eingebettet sei, müsse sie eine zumindest andere begriffliche Färbung als im Rahmen der Notstandsvorschriften erhalten. Betrachte man nämlich die vom Gesetzgeber allem Anschein nach zugrunde gelegte Standardsituation, so werde deutlich, dass nicht die natürliche Weiterentwicklung der Sachlage, sondern ein vom Täter beherrschtes Geschehen in Rede stehe. Dies ergebe sich bereits daraus, dass bei §§ 249, 255 StGB kein realer Zustand zu beurteilen sei, weil die Gegenwärtigkeit der Gefahr allein als Inhalt der Drohung gefordert werde. Zudem könne es auch nicht um „Abwehrmaßnahmen“ in einem allgemeinen Sinn gehen, sondern vielmehr um einen Freikauf von der Drohung durch das geforderte Handeln, Dulden oder Unterlassen. Wenn nun aber das Gesetz in den §§ 249, 255 StGB einen gegenüber der Drohung mit einem empfindlichen Übel gesteigerten NötiOtto Jura 1999, 552 f.; ders. § 53 Rn. 23. Zaczyk JR 1999, 343, 344 f.; Schmidt JuS 1994, 891, 892; Joerden JR 1999, 120 ff.; Maurach / Schroeder / Maiwald § 42 Rn. 53; Schünemann JA 1980, 349, 351; Lask S. 145 f. 48 49
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2. Abschn.: Analyse des Meinungsstandes zum Nötigungsmittel der Drohung
gungsdruck fordere, obgleich sowohl dem Begriff der Drohung als auch dem der Gefahr das Moment der Zukunft immanent sei, so müsse mit der Gegenwärtigkeit der Gefahr jedenfalls im ersten Zugang die unmittelbar bevorstehende Möglichkeit einer Verletzung gemeint sein. Aber auch die sog. Dauergefahr, bei der sich die Gefahr jederzeit, also auch im nächsten Augenblick, verwirklichen könne, sei für das Opfer schon wegen der Ungewissheit der Gefahrrealisierung genauso bedrängend wie dies auf die offenkundig unmittelbare Gewalt zutreffe. Schwieriger gestalte sich indes die Beurteilung von Sachverhalten, bei denen feststehe, dass die Gefahr sich erst nach Ablauf einer gewissen Zeit konkretisieren könne, wie dies etwa bei Fristsetzungen regelmäßig der Fall sei. Da die Drohung in einen Nötigungszusammenhang eingebunden sei, könne die Einbeziehung derartiger Fälle in den Bereich der Gegenwärtigkeit zwar nicht über den Gedanken der möglichen Abwehrmaßnahmen des Opfers erfolgen; es sei aber zu bedenken, dass der Genötigte sich durch den Vollzug der erzwungenen Handlung gleichsam freikaufe, die Drohung auf diese Weise aufhebe. Die Gegenwärtigkeit müsse daher entscheidend von der Frage abhängen, ob das Opfer gehalten sei, sinnvoller Weise unverzüglich damit zu beginnen, den Freikauf zu sichern. Je komplexer sich die Situation darstelle, umso mehr Zeit müsse hierfür eingeplant werden. Maßstabsprinzipien seien etwa die Qualität der angedrohten Gefahr und die verständigerweise einzurechnenden Schwierigkeiten ihrer Beseitigung im Wege des Freikaufs. Da der Begriff der Gegenwärtigkeit aus dem Nötigungszusammenhang heraus zu verstehen sei, in den er eingebettet sei, sei entscheidend, dass das Opfer angesichts der laufenden Frist handle und handeln müsse. Fraglich sei allerdings, ob man, wie etwa Küper, so weit gehen könne, auf den gegenwärtigen Handlungszwang abzustellen. Vielmehr sei eine gewisse Objektivierung der Gefahr notwendig.50 In ähnlicher Weise betont Schmidt – trotz der Tatsache, dass er sich im Grundsatz der Auffassung der Rechtsprechung anschließt – ebenso wie Zaczyk, dass die Gegenwärtigkeit der angedrohten Gefahr im Falle der mit einer Fristsetzung verbundenen Drohung nicht davon abhänge, dass der Bedrohte unverzüglich irgend eine Tätigkeit entfalten müsse, um die Gefahr wirksam abzuwenden, sondern dass insoweit allein entscheidend sei, ob ausschließlich die sofortige Erfüllung der Täterforderung geeignet sei, die zukünftige Gefahr abzuwenden.51 b) Wie auch im Bereich des Notstands52 bestimmt Joerden das Gegenwärtigkeitsmerkmal der §§ 249, 255 StGB maßgeblich anhand zeitlicher Gesichtspunkte. Schon dem Wortsinn nach, der – wie sich aus Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB ergebe – nach der Wertentscheidung unserer Rechtsordnung die unüberwindbare Grenze einer jeden Auslegung darstelle, erfordere die „Gegenwärtigkeit“ einer Gefahr das unmittelbare Bevorstehen eines Schadenseintritts. Der Sinn des Wortes „gegenwärtig“ dürfe nicht so weit entleert werden, dass man aus ihm alles ableiten 50 51 52
Zaczyk JR 1999, 343, 344 f. Schmidt JuS 1994, 891, 892. Vgl. unten 4. Abschnitt, C. V. 3. d).
A. Raub und räuberische Erpressung
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könne, was einem angemessen erscheine. Demgemäß seien zwar die akute Gefahr und die Dauergefahr im engeren Sinne, nicht aber die Dauergefahr im weiteren Sinne gegenwärtig im Sinne des Gesetzes. Die Richtigkeit dieser Sichtweise werde zudem bestätigt, wenn man sich die Verhaltensalternativen des Opfers vergegenwärtige. Bei der Dauergefahr im weiteren Sinne sei dieses gerade nicht gezwungen, die Gefahr durch die Erfüllung der Täterforderung abzuwenden, sondern ihm verblieben auch andere Möglichkeiten, den Schadenseintritt zu verhindern, wie etwa ein Einschalten der Polizei. Eine Analogiebildung sei nun aber, anders als beim Notstand, wegen des Analogieverbots von Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB nicht möglich, da es sich insoweit bei der „Gegenwärtigkeit“ der Gefahr abweichend um ein strafbarkeitsbegründendes Tatbestandsmerkmal handle.53 In vergleichbarer Weise hatte sich zuvor bereits Schünemann geäußert. Auch er ist der Ansicht, dass eine Übernahme der zu §§ 34, 35 StGB entwickelten Grundsätze zur Gegenwärtigkeit der Gefahr im Rahmen der §§ 249, 255 StGB nicht möglich sei, da dies zu einer über den Wortlaut hinausreichenden Strafbarkeitsausdehnung führen und folglich das Analogieverbot verletzt würde. Etwas befremdlich mutet aber an, dass er in diesem Zusammenhang von einer „extensiven Auslegung“ spricht.54 c) Wenig durchsichtig sind die Ausführungen Lasks, der unter – in dieser Form unzutreffendem – Verweis auf die obergerichtliche Rechtsprechung angibt, die Gegenwärtigkeit einer Gefahr werde „bejaht, wenn bei ungestörter Fortentwicklung nach menschlicher Erfahrung bei natürlichem Verlauf der gegebenen Situation der Eintritt des Übels als sicher, höchstwahrscheinlich oder aber nur als möglich“ erscheine. Unterschiedlich werde in der Literatur hingegen die Frage nach dem Verhältnis von Gegenwärtigkeit und zeitlicher Unbestimmtheit beantwortet. Was die insoweit anzutreffende Auffassung anbelange, auch eine in zeitliche Ungewissheit hinein ausgesprochene Drohung schließe die Gegenwärtigkeit derselben nicht aus, wenn die Möglichkeit bestehe, dass der angekündigte Schaden jederzeit eintreten könne, so könne hierfür als Begründung jedenfalls nicht nur – wie insbesondere Geilen dies tue – die Prämisse herangezogen werden, der Gesetzgeber habe allzu optimistische Vorstellungen bei eingeräumten Fristen gehabt. Vielmehr seien die Vorstellungen des Gesetzgebers zu berücksichtigen, weshalb in diesem Zusammenhang die in der Literatur geäußerten Befürchtungen im Hinblick auf eine Ausdehnung der Strafbarkeit, die in Kollision mit dem Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG geraten könne, begründet seien. Die Fälle, in denen die fortwährende Gefahr des Umschlagens in einen definitiven Schaden existiere, müssten strikt von solchen Sachverhalten unterschieden werden, in denen die Übel angekündigt und für die Zukunft beschrieben würden, aber eben noch nicht gegenwärtig, sondern zukünftig seien.55 Nach dem Gesamtkontext scheint Lask also ebenfalls davon aus53 54 55
Joerden JR 1999, 120 ff.; zustimmend Maurach / Schroeder / Maiwald § 42 Rn. 53. Schünemann JA 1980, 349, 351; vgl. auch Sieber JuS 1986, 547, 550. Lask S. 145 f.
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2. Abschn.: Analyse des Meinungsstandes zum Nötigungsmittel der Drohung
zugehen, dass im Falle des Vorliegens einer Dauergefahr im weiteren Sinne eine Gegenwärtigkeit nur unter Verstoß gegen das Analogieverbot bejaht werden könnte.
B. Zwischenergebnis Als Ausgangsbefund lässt sich damit zusammenfassend festhalten, dass sowohl die Rechtsprechung als auch der weit überwiegende Teil der Lehre bei der Bestimmung der gegenwärtigen Gefahr im Rahmen der Normen der §§ 249, 255 StGB auf die zu den Notstandsvorschriften entwickelten Kriterien zurückgreift und demgemäß neben akuten Gefahren und Dauergefahren im engeren Sinne auch Dauergefahren im weiteren Sinne als tatbestandsmäßige gegenwärtige Gefahren ansieht. Zumeist wird dabei allerdings nicht oder jedenfalls nicht konsequent zwischen den Dauergefahren im engeren Sinne und den Dauergefahren im weiteren Sinne unterschieden. Soweit dies geschieht, wird der Unterscheidung im Ergebnis aus normativen und kriminalpolitischen Aspekten heraus zumeist keine entscheidende Bedeutung zugemessen. Lediglich vereinzelt wird die Übertragbarkeit des im Rahmen der Notstandsvorschriften ermittelten Bedeutungsgehalts der gegenwärtigen Gefahr auch auf die Normen der §§ 249, 255 StGB in Frage gestellt. Dabei wird in diesem Zusammenhang primär darauf verwiesen, dass die Gefahr im Bereich von Raub und räuberischer Erpressung, anders als bei §§ 34, 35 StGB, keinen real existierenden Zustand beschreibe, sondern lediglich den Drohungsinhalt näher kennzeichne und überdies festgestellt, dass die Dauergefahr im weiteren Sinne – insbesondere wegen des Analogieverbotes von Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB – angesichts des klaren Wortlauts nicht unter den Begriff der gegenwärtigen Gefahr gefasst werden könne.
C. Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung, § 177 StGB Weit weniger deutlich als beim Raub und bei der räuberischen Erpressung gestaltet sich die nähere Betrachtung des Meinungsstandes zur gegenwärtigen Gefahr im Rahmen von sexueller Nötigung und Vergewaltigung gemäß § 177 StGB; insoweit sind vielmehr gewisse Unklarheiten zu konstatieren.
I. Der Gefahrbegriff des § 177 StGB Wenn man die einschlägigen Stellungnahmen in Rechtsprechung und Literatur zum qualifizierten Nötigungsmittel der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für
C. Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung
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Leib oder Leben von sexueller Nötigung und Vergewaltigung näher betrachtet, stellt man fest, dass der Gefahrbegriff in Bezug auf diese Delikte bislang kaum thematisiert, geschweige denn problematisiert worden ist. Sofern sich überhaupt Begriffsbestimmungen finden, beschränken sich diese auf knappe, stichwortartige Bemerkungen. So umschreibt etwa Renzikowski die Gefahr als drohenden Schadenseintritt in Form einer spezifischen Rechtsgutsverletzung56, während sich Teufert mit der Aussage begnügt, unter einer Gefahr sei die Wahrscheinlichkeit einer Rechtsgutbeeinträchtigung zu verstehen.57 Ganz überwiegend aber wird – augenscheinlich zumeist stillschweigend – davon ausgegangen, dass das Merkmal der Gefahr inhaltlich entsprechend der herrschenden Ansicht zu Raub und räuberischer Erpressung zu bestimmen und damit im Ergebnis wie bei den Notstandsvorschriften zu verstehen ist.58
II. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr in § 177 StGB Was das in § 177 StGB neben der Erforderlichkeit einer Gefahr für Leib oder Leben59 ebenfalls enthaltene Merkmal der Gegenwärtigkeit der Gefahr anbelangt, so trifft man bei näherer Betrachtung der einschlägigen Standpunkte, vor allem der Literatur, erhebliche Defizite an, die teilweise auf ein mangelndes Problemverständnis schließen lassen.
1. Sicht der Rechtsprechung Dies erstaunt insbesondere angesichts der Tatsache, dass die Vorgaben der Rechtsprechung in diesem Bereich sehr klar und deutlich sind. Abweichend von den zu §§ 249, 255 StGB aufgestellten Prinzipien vertritt der BGH bei § 177 StGB nämlich einen eher restriktiven Gegenwärtigkeitsbegriff. Nachdem er lange Zeit sogar nur die akute Gefahr als gegenwärtig im Sinne des Tatbestandes von sexueller Nötigung und Vergewaltigung qualifiziert hatte,60 hat er inzwischen in einem MüKo-Renzikowski § 177 Rn. 36. Teufert S. 41. 58 So ausdrücklich etwa Tröndle / Fischer § 177Rn. 18; Lackner / Kühl § 177 Rn. 5; etwas weniger deutlich auch MüKo-Renzikowski § 177 Rn. 4; Arzt / Weber § 10 Rn. 12. 59 Der Terminus „Leib oder Leben“ wird von der ganz überwiegenden Ansicht weitgehend entsprechend der zu §§ 249, 255 StGB vertretenen Grundsätze verstanden, allerdings mit einer deutlichen Tendenz zu einer restriktiveren Handhabung als in deren Bereich; vgl. dazu etwa BGH StV 1994, 127; BGH NStZ-RR 1998, 270; BGH NStZ 1999, 505; BGH NStZ 2001, 246; BGH StV 2001, 679, 680; Tröndle / Fischer § 177 Rn. 18; Lackner / Kühl § 177 Rn. 5; NK-Frommel § 177 Rn. 45; Schönke / Schröder-Lenckner / Perron / Eisele § 177 Rn. 7; SK-Wolters / Horn § 177 Rn. 9; LK-Laufhütte § 177 Rn. 10; Laubenthal Rn. 140 f.; Teufert S. 41; Kieler S. 144 f.; extensivere Ansätze finden sich vor allem bei MüKo-Renzikowski § 177 Rn. 36 und Sick S. 200 ff. 56 57
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2. Abschn.: Analyse des Meinungsstandes zum Nötigungsmittel der Drohung
grundlegenden Beschluss aus dem Jahre 1989, ohne allerdings diese Terminologie zu verwenden, die Dauergefahr im engeren Sinne als gemäß § 177 StGB gegenwärtige Gefahr angesehen, eine Entscheidung über die Gegenwärtigkeit einer Dauergefahr im weiteren Sinne aber ausdrücklich nicht getroffen und dazu ausgeführt: „Eine Gefahr ist auch dann gegenwärtig im Sinne von § 177 StGB, wenn sie als Dauergefahr über einen längeren Zeitraum in der Weise besteht, dass sie jederzeit – zu einem ungewissen Zeitpunkt, alsbald oder später – in einen Schaden umschlagen kann. Offen bleiben kann, ob eine Gefahr dann nicht gegenwärtig ist, wenn das drohende Übel durch Einschaltung anderer Personen, insbesondere von Behörden, die bis zum angekündigten Schadenseintritt eingreifen könnten, abzuwenden“ ist.61 Gerade letztere Passage zeigt dabei deutlich, dass der BGH erhebliche Bedenken hatte, auch die Dauergefahr im weiteren Sinne als gegenwärtige Gefahr im Sinne des § 177 StGB zu betrachten. Auch in neuerer Zeit ist – soweit ersichtlich – keine Entscheidung zu § 177 StGB ergangen, die eine Einbeziehung der Dauergefahr im weiteren Sinne in dessen Tatbestand ausspräche. Vielmehr hat sich der BGH auch in seiner neuesten Entscheidung zu dieser Thematik nur mit der Dauergefahr im engeren Sinne beschäftigt: „Diese (die Gefahr für Leib oder Leben) war auch gegenwärtig im Sinne einer Dauergefahr, denn die Möglichkeit, dass der ungewöhnliche Zustand jederzeit in einen Schaden umschlagen konnte, bestand fortdauernd. Denn der Angeklagte war . . . ohne weiteres in der Lage, innerhalb kurzer Zeit seine Drohung umzusetzen“.62 2. Herrschende Ansicht in der Literatur Gleichwohl haben viele Autoren in Verkennung des erheblichen Unterschiedes zwischen einer Dauergefahr im engeren Sinne und einer Dauergefahr im weiteren Sinne die Entscheidung des BGH aus dem Jahre 1989 dahingehend aufgefasst, dass dieser nunmehr eine uneingeschränkte Übertragung der zu §§ 34, 35 StGB und §§ 249, 255 StGB entwickelten Grundsätze auch auf § 177 StGB befürworte.63 Erschwerend kommt hinzu, dass einige Autoren einerseits von einer zeitlichen Bestimmung des Gegenwärtigkeitsmerkmals sprechen, andererseits aber im selben Atemzuge die Definition der Dauergefahr im weiteren Sinne wiedergeben oder aber die Phänomene „unmittelbares Bevorstehen des Schadenseintritts“ und Dauergefahr im weiteren Sinne als Ausprägung ein- und derselben Sachlage begreifen, so dass sich eine klare Zuordnung zu der einen oder anderen Sichtweise sehr schwierig gestaltet. 60 Vgl. etwa BGH NStZ 1981, 218: „Während bei jenem (dem Merkmal der Gewalt) die Übelszufügung bereits im Zeitpunkt der Tat tatsächlich erfolgt, wird sie bei der anderen Alternative erst im Aussicht gestellt, wenn auch im Sinne einer bereits jetzt drohenden Gefahr.“; BGHR StGB § 177 Abs. 1 Drohung 3. 61 BGHR StGB § 177 Abs. 1 Drohung 5. 62 BGH NStZ 2004, 682 f. 63 So etwa Laubenthal Rn. 143 f.; Sick S. 205; NK-Frommel § 177 Rn. 46.
C. Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung
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So führt etwa Sick aus, dass die Drohung mit einer Leibes- oder Lebensgefahr auch in zeitlicher Hinsicht spezifiziert sei; sie müsse gegenwärtig sein. Das sei dann der Fall, wenn ein Gefahrenzustand vorliege, der sich so sehr verdichtet habe, dass er nach menschlicher Erfahrung bei natürlicher Entwicklung der gegebenen Sachlage den Eintritt einer Schädigung als sicher oder höchstwahrscheinlich erwarten lasse, wenn nicht alsbald eine Abwehrmaßnahme ergriffen werde. Der Zeitpunkt des angekündigten Schadenseintritts dürfe also nicht in der Ferne liegen, er müsse unmittelbar bevorstehen. Der BGH habe aber inzwischen zu Recht anerkannt, dass es ausreiche, wenn der Schaden nur durch sofortiges Handeln abgewendet werden könne, indem er ausgesprochen habe, dass eine Gefahr auch dann gegenwärtig im Sinne des § 177 StGB sei, wenn sie als Dauergefahr über einen längeren Zeitraum in der Weise bestehe, dass sie jederzeit – zu einem ungewissen Zeitpunkt, alsbald oder später – in einen Schaden umschlagen könne. Insofern genüge also auch ein für die Zukunft angedrohtes Übel.64 Trotz der inhaltlichen Widersprüchlichkeit ihrer Aussagen scheint Sick also insgesamt von einer extensiveren Deutung der Gegenwärtigkeit unter Einschluss der Dauergefahr im weiteren Sinne auszugehen. Einen derartigen Standpunkt vertritt erkennbar auch Frommel, wenn sie ausführt, die angekündigte Gefahr sei gegenwärtig, wenn bei sozial üblicher Weiterentwicklung der Eintritt eines Schadens sicher oder doch höchstwahrscheinlich sei, falls nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen würden. Ausreichend sei jedoch, dass die Gefahr als Dauerzustand über einen längeren Zeitraum gegenwärtig sei, der Schaden also jederzeit eintreten oder aber nur durch sofortiges, gegenwärtiges Handeln abgewendet werden könne.65 Laubenthal schließlich ist der Auffassung, dass § 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB in zeitlicher Hinsicht die Drohung mit einer gegenwärtigen Gefahr voraussetze. Nach der insoweit zutreffenden Rechtsprechung bedürfe es dazu eines Gefahrzustandes, der sich so verdichtet habe, dass er nach menschlicher Erfahrung bei natürlicher Weiterentwicklung der gegebenen Sachlage sicher oder höchstwahrscheinlich den Eintritt einer Schädigung erwarten lasse, es sei denn, es würden unverzüglich Abwehrmaßnahmen ergriffen. Hiermit spricht er die Dauergefahr im weiteren Sinne an. Präzisierend fügt er allerdings hinzu, dass der Zeitpunkt des angekündigten Schadenseintritts demnach unmittelbar bevorstehen müsse und nicht weit in der Ferne, nicht mehr als einen Tag entfernt, liegen dürfe. Gegenwärtig sei aber auch eine Dauergefahr, wenn diese über einen längeren Zeitraum derart fortbestehe, dass sie jederzeit in den angedrohten Schaden umschlagen könne.66 Auch wenn sich die Zuordnung der Ansicht Laubenthals damit außerordentlich schwierig gestaltet, so scheint er sich insgesamt doch der Rechtsprechung zur gegenwärtigen Gefahr im Rahmen der §§ 249, 255 StGB anschließen zu wollen. 64 65 66
Sick S. 203, 205 f. NK-Frommel § 177 Rn. 46. Laubenthal Rn. 143 f.
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2. Abschn.: Analyse des Meinungsstandes zum Nötigungsmittel der Drohung
3. Lenckner / Perron und Renzikowski Im Ergebnis mit der herrschenden Ansicht in der Literatur übereinstimmend, allerdings sowohl in der Formulierung als auch in der Entwicklung konsequent, sind die ebenfalls eher extensiv ausgerichteten Stellungnahmen Lenckners, Perrons und Eiseles sowie Renzikowskis. Lenckner, Perron und Eisele wollen als gegenwärtig auch eine nicht näher beschriebene Dauergefahr ansehen. Dass die Gefahr auf andere Weise, wie etwa durch Einschaltung der Polizei, abgewendet werden könnte, könne zwar als Indiz dafür angesehen werden, dass diese noch nicht gegenwärtig sei; sei sie dies jedoch, so komme es jedenfalls auf die Nicht-anders-Abwendbarkeit des angedrohten Übels nicht an.67 Gleiches gilt faktisch für Renzikowski, nach dem die angedrohte Gefahr dann gegenwärtig sein soll, wenn der Eintritt des in Aussicht gestellten Schadens jederzeit nach menschlicher Erfahrung und „natürlicher“ Weiterentwicklung der Dinge zumindest wahrscheinlich ist, wenn nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen werden. Dabei komme es nicht auf den Zeitpunkt des Schadenseintritts an, der auch noch in einer gewissen zeitlichen Ferne liegen könne. Gegenwärtig sei vielmehr auch eine Dauergefahr.68
4. Laufhütte und Wolters / Horn Ein insgesamt restriktiverer Ansatz findet sich bei Laufhütte sowie Horn und Wolters. Zwar versteht Laufhütte unter einer gegenwärtigen Gefahr mit der Rechtsprechung zu §§ 249, 255 StGB grundsätzlich einen Gefahrenzustand, der sich so sehr verdichtet hat, dass er nach menschlicher Erfahrung bei natürlicher Weiterentwicklung der gegebenen Sachlage eine Schädigung als sicher oder doch höchstwahrscheinlich erwarten lässt, wenn nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen werden. Erläuternd fügt er jedoch hinzu, dass der Zeitpunkt des angekündigten Schadenseintritts dabei nicht weit in der Ferne liegen dürfe, sondern vielmehr unmittelbar bevorstehen müsse. Dabei reiche es aus, dass die Gefahr als Dauerzustand über einen längeren Zeitraum gegenwärtig sei, der Schaden also jederzeit eintreten könne. Ein für die Zukunft angekündigtes Übel stelle demgegenüber grundsätzlich keine gegenwärtige Gefahr da, es sei denn, dass nur eine sofort eingeleitete Abwehrmaßnahme das für die Zukunft angekündigte Übel noch abwenden könne. Dies sei nicht der Fall, wenn das Übel durch Einschaltung von Behörden, die bis zum angekündigten Schadenseintritt eingreifen könnten, abzuwenden sei.69 Auch wenn er 67 68 69
Schönke / Schröder-Lenckner / Perron / Eisele § 177 Rn. 7. MüKo-Renzikowski § 177 Rn. 37. LK-Laufhütte § 177 Rn. 11.
D. Zusammenfassung
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dies nicht explizit so formuliert, geht Laufhütte folglich davon aus, dass eine bei längeren Zeitabständen grundsätzlich bestehende anderweitige Abwendungsmöglichkeit als die Erfüllung der Täterforderung der Dauergefahr im weiteren Sinne ihre Gegenwärtigkeit im Sinne des Gesetzes nimmt. In diese Richtung geht auch die Auffassung Horns und Wolters’, welche die Gegenwärtigkeit der Gefahr auf diejenigen Fälle begrenzen wollen, in denen der Angriff auf das geschützte Rechtsgut nach der Ankündigung des Täters unmittelbar bevorsteht.70
D. Zusammenfassung Mit Blick auf das Merkmal der gegenwärtigen Gefahr ergibt die Analyse der zum qualifizierten Nötigungsmittel der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben vertretenen Meinungen damit insgesamt – trotz einiger Ungereimtheiten vor allem im Bereich des § 177 StGB – ein recht aussagekräftiges Bild. Hinsichtlich des Gefahrbegriffes der §§ 249, 255, 177 StGB wird sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur ganz überwiegend davon ausgegangen, dass dieser ebenso wie im Rahmen der Notstandsvorschriften der §§ 34, 35 StGB als Situation zu verstehen sei, bei der zumindest die nahe liegende Möglichkeit einer spezifischen Rechtsgutsverletzung besteht. Was den Terminus der Gegenwärtigkeit der Gefahr anbelangt, so wird dieser im Rahmen der §§ 249, 255 StGB von den Obergerichten und der weit überwiegenden Ansicht in der Literatur aus kriminalpolitischen und normativen Gründen ebenfalls entsprechend den zu §§ 34, 35 StGB entwickelten Grundsätzen in einem extensiven Sinne interpretiert, so dass neben den akuten Gefahren und den Dauergefahren im engeren Sinne, bei denen der Schaden jederzeit, alsbald oder auch später, eintreten kann, auch die durch das Bestehen eines gegenwärtigen Handlungszwangs gekennzeichneten Dauergefahren im weiteren Sinne unter den Begriff der gegenwärtigen Gefahr gerechnet werden. Allerdings unterscheiden die Rechtsprechung und ein erheblicher Teil der Lehre dabei entweder gar nicht oder aber zumindest nicht konsequent zwischen der Dauergefahr im engeren und der Dauergefahr im weiteren Sinne, sondern begreifen Dauergefahren generell als einheitliches Phänomen, das unter den Begriff der gegenwärtigen Gefahr zu subsumieren sein soll. Letzteres gilt – häufig in verstärktem Maße – auch für zahlreiche einschlägige Stellungnahmen zur Vorschrift des § 177 StGB. Auch in diesem Bereich bezieht die herrschende Literatur Dauergefahren jedweder Art ohne genauere Differenzierung mit in den Anwendungsbereich der gegenwärtigen Gefahr ein. Dabei setzt sie sich de facto, ohne dies jedoch zu erkennen, in Widerspruch zur Rechtsprechung, 70
SK- Wolters / Horn § 177 Rn. 9.
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2. Abschn.: Analyse des Meinungsstandes zum Nötigungsmittel der Drohung
welche bei § 177 StGB – ohne allerdings diese Terminologie zu verwenden – bislang, anders als im Rahmen der §§ 249, 255 StGB, zwar Dauergefahren im engeren Sinne, nicht aber Dauergefahren im weiteren Sinne als gegenwärtige Gefahren betrachtet. Nur vereinzelt wurde bisher die Übertragbarkeit der zu §§ 34, 35 StGB entwickelten Grundsätze auch auf die Vorschriften der §§ 249, 255, 177 StGB kritisch hinterfragt. Soweit dies indes geschehen ist, wurde eine Parallelität zumeist wegen des Wortlauts in Verbindung mit dem Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB und der den §§ 249, 255, 177 StGB im Vergleich zu den §§ 34, 35 StGB innewohnenden Besonderheiten abgelehnt. Im weiteren Fortgang der Untersuchung sollen nun diese bisher vorzufindenden Sichtweisen auf ihre inhaltliche Richtigkeit hin überprüft und gegebenenfalls ein eigenständiger Lösungsansatz entwickelt werden. Dazu wird im folgenden Abschnitt zunächst der Blick auf die historische Entwicklung der qualifizierten Nötigungsmittel gerichtet, da sich schon aus dieser weiterführende Auslegungskriterien ergeben können und überdies durch ihre Betrachtung das Verständnis für die ausschlaggebenden Problemkreise gefördert wird.
Dritter Abschnitt
Historische Entwicklung der qualifizierten Nötigungsmittel im Rahmen der maßgeblichen Deliktsformen als Grundlage einer historischen Auslegung Einen ersten Ansatzpunkt für die zutreffende Ermittlung des Bedeutungsgehalts der gegenwärtigen Gefahr im Rahmen der §§ 249, 255, 177 StGB liefern möglicherweise bereits rechtshistorische Argumente, die bislang – jedenfalls in jüngerer Zeit – zur Beurteilung der hier in Frage stehenden Tatbestandsmerkmale kaum herangezogen wurden.1 Daher soll an dieser Stelle, auch wenn der Hauptgehalt dieser Arbeit nicht in rechtshistorischen Untersuchungen liegen wird, ein Überblick über den historischen Werdegang der behandelten Vorschriften vorangestellt werden, der sich – entsprechend der Zielsetzung dieser Untersuchung – weitestgehend auf die Tatbestandsmerkmale der „Gewalt gegen eine Person“ bzw. allgemein der „Gewalt“ und der „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ beschränken wird.2 Ersteres bildet zwar nicht den eigentlichen Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit, angesichts der nach dem Gesetz bestehenden Koexistenz beider Nötigungsmittel lassen sich jedoch aller Voraussicht nach auch aus dessen historischer Entwicklung Rückschlüsse über die zutreffende Interpretation der Drohungsalternative ziehen.
A. Die Bedeutung der historischen Auslegung Die Bedeutung der historischen Auslegung im Kanon der juristischen Auslegungsmethoden wird von verschiedenen Autoren immer wieder in Frage gestellt.3 Dem kann aber nur insoweit zugestimmt werden, als damit die Ablehnung 1 Um Missverständnissen vorzubeugen, sei bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass der Begriff der „historischen Auslegung“ im Rahmen dieser Arbeit als Oberbegriff für Normgenese, d. h. entstehungsgeschichtliche Komponente, und historische Interpretation, also rechtliche Tradition, in die sich ein Gesetz einreiht, verwendet wird; vgl. dazu etwa Zippelius S. 50; Schmalz Rn. 261; Simon S. 208 f. 2 Die bisher vorliegenden, meist älteren, rechtshistorischen Abhandlungen zu den entsprechenden Bestimmungen haben ihre Schwerpunkte ganz überwiegend in anderen Problembereichen; vgl. etwa VD VI–Frank 1. (S. 1 ff.), 2. (S. 117 ff.); Busse S. 7 ff.; Landmesser S. 16 ff.; Müller-Engelmann S. 33 ff.; Schaffstein, Michaelis-FS S. 281 ff.; VD IV-W. Mittermaier II. § 4 I. (S. 12 ff.); Sick S. 26 ff.; Kieler S. 7 ff.
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
einer rein „subjektiv-historischen Methode“4 zum Ausdruck gebracht werden soll. Denn richtig ist, dass – insbesondere bei älteren Gesetzen – der subjektive Wille des historischen Gesetzgebers nicht der alleinige Maßstab der Auslegung sein kann. Andernfalls bliebe ein Gesetz bis zu einer ausdrücklichen Änderung durch den Gesetzgeber stets dem Wissens- und Kenntnisstand verhaftet, der im Zeitpunkt seines Erlasses bzw. seines Inkrafttretens vorherrschte. Gesetze greifen indes in vielschichtige und sich ständig wandelnde Lebensumstände ein, von denen der Gesetzgeber viele noch gar nicht zu berücksichtigen in der Lage war. Es können Fragen aufgeworfen werden, denen sich der Gesetzgeber noch gar nicht bewusst war und auf die er folglich im Rahmen seiner Überlegungen auch keine Antworten geben konnte. Aus diesen Erwägungen ergibt sich bereits von selbst, dass Normen im Zeitpunkt ihres Erlasses im Hinblick auf die zu regelnden Lebenssachverhalte stets eine gewisse Unvollständigkeit aufweisen, da eine alle in Zukunft entstehenden Problemkreise berücksichtigende Prognose schlechterdings nicht möglich ist. Schon aus diesem Grunde müssen Gesetze im Wege eines dynamischen Prozesses durch Auslegung den Bedürfnissen und Anschauungen der Gegenwart angepasst werden. Insoweit vermag aber ein alleiniges und einseitiges Abstellen auf den historisch-psychologischen Willen des Gesetzgebers keine grundlegend weiterführenden Erkenntnisse zu erbringen.5 Auch der zum Teil vorgebrachte Einwand, es stehe dem Gesetzgeber jederzeit frei, auf eine Änderung der Lebensumstände mit entsprechenden Gesetzesmodifikationen zu reagieren und die jeweiligen Gesetze der neuen Lage anzupassen,6 kann im Ergebnis nicht überzeugen. Konsequent durchgeführt hätte eine solche Sicht auf der einen Seite eine Überforderung des Gesetzgebers, auf der anderen Seite aber auch die Gefahr einer Übernormierung zur Folge. Gerade in Zeiten zügig voranschreitender gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen kann es diesbezüglich – vor allem im Interesse eines gewissen Maßes an Rechtssicherheit und Rechtsstabilität – nicht im Interesse der Rechtsordnung liegen, den Gesetzgeber fortwährend zu einer Korrektur seiner Kodifikationen zu verpflichten.7 Zur Vermeidung einer solchen Konsequenz wird man demnach im Rahmen einer Gesetzesauslegung stets auch teleologische Gesichtspunkte heranzuziehen und den hinter dem Gesetz stehenden objektiven Zweck sowie seine Grundgedanken zu ermitteln haben. 3 So vor allem die Vertreter der „objektiven Theorie“ oder auch „Theorie der immanenten Gesetzesdeutung“ wie etwa Tröndle / Fischer § 1 Rn. 12; Maurach / Zipf § 9 Rn. 15 f., 21 f.; SK-Rudolphi § 1 Rn. 31 ff.; Maunz / Dürig-Schmidt-Aßmann Art. 103 II Rn. 228; vgl. dazu auch Larenz / Canaris S. 137; Zippelius S. 21 f.; Engisch Einführung S. 113 ff.; Bydlinski S. 428 ff.; Larenz S. 32 ff.; Fikentscher S. 662, 664 f.; Simon S. 209 ff. 4 Vgl. zu dieser etwa Schönke / Schröder-Eser § 1 Rn. 41; Larenz / Canaris S. 137; Tausch S. 42 ff.; ders. Jahrbuch 2001, 329, 332; Engisch Einführung S. 112 f.; Zippelius S. 21 ff.; Bydlinski S. 428 ff.; Fikentscher S. 662, 665; Simon S. 209 ff.; Naucke, Engisch-FS S. 274 ff. 5 Vgl. Larenz / Canaris S. 138; Schönke / Schröder-Eser § 1 Rn. 41 f.; Maurach / Zipf § 9 Rn. 16, 22; Engisch Einführung S. 115 f.; Zippelius S. 25 ff.; Seesko S. 19. 6 In diesem Sinne Tausch S. 43. 7 So auch Schönke / Schröder-Eser § 1 Rn. 41.
A. Die Bedeutung der historischen Auslegung
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Auf der anderen Seite kann indes auch eine rein objektiv-teleologisch ausgerichtete Auslegung keine absolute Geltung beanspruchen. Eine solche ausschließlich auf den objektiven Gesetzeswillen abhebende Sicht liefe stets Gefahr, sich unter dem Einfluss eines gewissen Vorverständnisses des jeweils Auslegenden über die Regelungsabsicht des Gesetzgebers und die von ihm bewusst getroffenen Wertentscheidungen hinwegzusetzen. Denn es darf nicht verkannt werden, dass hinter jeder gesetzlichen Regelung ein bestimmter Wille, eine bestimmte Regelungsabsicht des Gesetzgebers steht, die wiederum auf konkreten sachlichen Überlegungen, Bestrebungen, Absichten und gesetzgeberischen Wertentscheidungen beruht. Über solche erkennbaren Regelungsabsichten und bewusst getroffenen Entscheidungen des Gesetzgebers darf sich auch eine teleologisch ausgerichtete Auslegung nicht hinwegsetzen, denn andernfalls ließe sich – vor allem auch angesichts der grundgesetzlichen Vorgaben in Form von Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip im Sinne von Art. 20, 97 Abs. 1 GG sowie des Bestimmtheitsgebots des Art. 103 Abs. 2 GG – kaum mehr von einer Auslegung sprechen. Ein gewisses Maß an Nähe zum geschriebenen Gesetz einschließlich der ihm vom erlassenden Gesetzgeber zugemessenen Bedeutung muss insoweit stets erhalten bleiben.8 Zudem darf nicht übersehen werden, dass sich der jeweils aktuelle Gesetzgeber, sofern er von seiner Kompetenz, Gesetzesmodifikationen vorzunehmen, bewusst keinen Gebrauch macht, de facto die grundlegenden Normvorstellungen und Wertentscheidungen des erlassenden Gesetzgebers zu eigen macht. Diese bewusste Entscheidung auch des modernen Gesetzgebers, sich den vom erlassenden Gesetzgeber aufgestellten Grundsätzen anzuschließen, darf im Rahmen einer Auslegung nicht schlechterdings negiert werden, wobei nach dem eben Gesagten diesbezüglich auch kein entscheidender Unterschied zwischen Gesetzen älteren und neueren Datums anzuerkennen ist.9 Nach alledem wird man stets zunächst den Willen des Gesetzgebers und die von ihm getroffenen Wertentscheidungen und Regelungsabsichten zu ermitteln haben, bevor im Anschluss eine Betrachtung der Problematik auch unter Einbeziehung allgemeiner teleologischer Erwägungen erfolgen kann.10 Nur auf diese Weise lässt sich gewährleisten, dass im Rahmen einer Auslegung ein konkreter Gesetzesbezug erhalten bleibt.
8 Vgl. BVerfGE 73, 206, 234 ff.; BVerfGE 92, 1, 16 ff.; Larenz / Canaris S. 137 ff.; Esser JZ 1975, 555, 557; Tausch S. 42 f.; ders. Jahrbuch 2001, 329, 332; Bydlinski S. 430 f., 437, 449 ff.; Zippelius S. 25 f.; Naucke, Engisch-FS S. 274, 278 f.; Jahr, Art. Kaufmann-FS S. 141, 155 ff. 9 Ähnlich Tausch S. 43; Jahr, Art. Kaufmann-FS S. 141, 159. 10 Vgl. BVerfGE 79, 106, 120 f.; BVerfGE 92, 1, 16 ff.; Zippelius S. 26, 51 f.; Schönke / Schröder-Eser § 1 Rn. 43 f.; Schmalz Rn. 263; Esser JZ 1975, 555, 557; Tausch S. 42 f.; ders. Jahrbuch 2001, 329, 332; Jahr, Art. Kaufmann-FS S. 141, 156, 159; Lask S. 10; Engisch Einführung S. 121 ff.; Larenz / Canaris S. 139, 149, 164 f.; Bydlinski S. 451 ff.; Pawlowski Rn. 368, 397, 399 f.; Naucke, Engisch-FS S. 274, 276, 280; KGG-G. Nolte Art. 103 Abs. 2 Rn. 160.
4 Blanke
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
Daher kann auch die historische Auslegung als feste Größe im Kanon der juristischen Auslegungsmethoden betrachtet werden.
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel im Rahmen der einzelnen Delikte Da nach dem eben Gesagten feststeht, dass auch die historische Auslegung wertvolle Interpretationshilfen für die hier maßgeblichen Tatbestandsmerkmale zu liefern vermag, sollen nunmehr zusammenfassend die geschichtliche Entwicklung von Raub und räuberischer Erpressung sowie sexueller Nötigung und Vergewaltigung im Hinblick auf die hier maßgeblichen Kriterien dargestellt werden.
I. Die Entwicklung der Nötigungsmittel im Rahmen des Raubes Der Wortlaut der derzeit gültigen Strafvorschrift über den Raub, § 249 StGB11, entspricht weitgehend demjenigen der ersten Fassung von 187112, welcher sich seinerseits – wie das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 allgemein13 – wiederum eng an die entsprechende Vorschrift des Strafgesetzbuches für die Preußischen Staaten von 1851 anlehnte.14 Indes kann der Tatbestand des Raubes auf eine wesentlich längere Tradition zurückblicken, die seine Entwicklung – auch hinsichtlich der qualifizierten Nötigungsmittel – vor allem in der Zeit des deutschen gemeinen Rechts, aber auch noch bis zum heutigen Tage beeinflusst hat.15 11 § 249 Abs. 1 StGB in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I 1998, S. 3322, 3386): „Wer mit Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft“. 12 Lediglich die zunächst vorgesehene Zuchthaus- bzw. Gefängnisstrafe wurde im Rahmen des 1. StrRG durch die Freiheitsstrafe ersetzt (BGBl. I 1969, S. 645 ff., 657; vgl. Roxin AT I, § 4 Rn. 25; Jescheck / Weigend § 11 IV [S. 101 f.]) und der Tatbestand durch das 6. StrRG um das Merkmal der Drittzueignungsabsicht erweitert (BGBl. I 1998, S. 164, 178; vgl. SKGünther vor § 249 Rn. 4, § 249 Rn. 1; MüKo-Sander § 249 Rn. 6). 13 Roxin AT I, § 4 Rn. 1; Schmidt § 298 (S. 344); Hippel I S. 314, 326 f., 342; Schubert GA 1982, 191, 195, 202; Müller-Engelmann S. 67 f.; VD VI–Frank 2. § 1 I. (S. 118); Rüdorff Einleitung, S. 1 ff.; Jescheck / Weigend § 10 VIII (S. 97 f.). 14 § 230 Abs. 1 PrStGB 1851 lautete: „Einen Raub begeht, wer mit Gewalt gegen eine Person, oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben, eine fremde bewegliche Sache einem Anderen in der Absicht wegnimmt, sich dieselbe rechtswidrig zuzueignen.“; vgl. zum Wortlaut von § 249 StGB 1871 RGBl. 1871, S. 127, 174. 15 Treffend bemerkt Günther in SK § 249 Rn. 1: „Beim Raub handelt es sich um einen historisch gewachsenen Verbrechenstatbestand.“; ebenso NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 38.
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel
51
1. Römisches Recht Als Delikt findet sich der Raub bereits im römischen Recht, welches zunächst jedoch keinen eigenen Tatbestand des Raubes kannte und den Raub ungeachtet seiner Besonderheiten nicht als selbstständiges Verbrechen ansah. Primär wurde der Raub als Fall des „furtum“, der widerrechtlichen Aneignung des Eigentums an einer beweglichen, in privatem Eigentum stehenden Sache behandelt. Die Tatsache, dass dabei zusätzlich Gewalt angewendet wurde, spielte insoweit keine Rolle.16 Zudem wurde das „furtum“ als Privatverbrechen nur mit der Privatstrafe auf Klage des Verletzten geahndet.17 Eine öffentliche Bestrafung des Raubes war unter dem Gesichtspunkt der angewandten Gewalt als „crimen vis“ in Form von „vis publica“ oder „vis privata“ möglich, da die speziellen Kriminalklagen der „lex Iulia de vi publica“ und der „lex Iulia de vi privata“ neben einer Vielzahl verschiedener anderer Gewalttätigkeiten auch den Raub erfassten, wobei der bewaffnete Raub der härteren Bestrafung der „vis publica“, der unbewaffnete aber der milder bestraften18 „vis privata“ zugerechnet wurde19. Weil nun aber der Hauptzweck der beiden julischen Gewaltgesetze in der Sicherung des öffentlichen Friedens, der Gewährleistung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung bestand20, lag „vis“ – Gewalttätigkeit oder auch „Vergewaltigung“ – nur dann vor, wenn die angewandte, gegen eine Person gerichtete21 Gewalt offen zutage trat, also den öffentlichen Frieden zumindest potentiell 16 Vgl. Mommsen S. 733 ff.; Busse S. 9; Roßhirt § 132 (S. 271); Abegg § 374 (S. 491); Mittermaier in Feuerbach § 353 Note I (S. 566); Liszt § 124 (S. 412), § 128 (S. 433); MüllerEngelmann S. 47 f.; Köstlin S. 393 f.; Henke S. 146, 158; Holtzendorffs Handbuch III-Merkel S. 715; Berner Lehrbuch § 167 (S. 332); Maurach / Schroeder / Maiwald § 32 Rn. 7; Janßen S. 1; Gnad S. 10; Landmesser S. 20, 33; Lask S. 12 f. 17 Vgl. Martin S. 312, 314, 735 f.; Heffter 515. (S. 420); Meckbach Artic. 126 (S. 235 f.); Grolman § 236 (S. 248); Roßhirt § 132 (S. 271); Feuerbach § 358 (S. 573); Klien S. 10; Henke S. 158; Berner Lehrbuch § 167 (S. 333); Klein § 456 (S. 359); Liszt § 124 (S. 412); Landmesser S. 20; Gnad S. 11. 18 Vgl. zu den Strafen der vis publica und vis privata Henke S. 142 f. m. w. N.; Rein S. 750 f., 755; Mommsen S. 659. 19 Vgl. Grolman § 231 (S. 244), § 236 (S. 248); Mommsen S. 654 ff., 733, 737 f.; Gnad S. 11; Roßhirt § 132 (S. 271), §§ 134 ff. (S. 275 ff.); Liszt § 128 (S. 433); Feuerbach § 354 (S. 570), § 358 (S. 573), § 399 (S. 636 ff.), §§ 401 f. (S. 639 ff.); Rein S. 744, 748, 752, 754 f.; Heffter 515. (S. 420); Landmesser S. 20 f.; Abegg §§ 190 f. (S. 279 ff.), § 374 (S. 491); Müller-Engelmann S. 50; Köstlin S. 395, 417, 421 f.; Henke S. 132, 138 f., 158 f.; Berner Lehrbuch § 167 (S. 333); Maurach / Schroeder / Maiwald § 32 Rn. 7; Schaffstein S. 43 f.; ders., Lange-FS S. 983, 985. 20 Mommsen S. 657 f., 773 f.; Tausch Jahrbuch 2001, 329, 350 f.; Roßhirt § 135 (S. 277 f.), § 136 (S. 280 f.); Liszt § 98 (S. 341); Abegg § 188 (S. 276 f.); Feuerbach § 399 (S. 636 ff.); Jakobs, H. Kaufmann-FS S. 791, 792 f., 795; Müller–Engelmann S. 49, 51; Köstlin S. 418 f., 421, 423; Schaffstein S. 44; Hoffmeister S. 25; John ArchCrimR NF 1854, 60, 73 ff.; NKToepel § 240 Rn. 2. 21 Insoweit a.A. Martin § 185 (S. 439 ff.); Henke S. 130; Abegg § 188 (S. 276); Feuerbach § 400 (S. 638 f.): unter bestimmten Voraussetzungen auch Gewalt gegen Sachen.
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
gefährden konnte.22 Allerdings blieb das „crimen vis“ nicht auf die tatsächliche Anwendung von Gewalt beschränkt. Auch die gegen eine Person gerichtete Drohung konnte „vis“ darstellen, wenn sie einerseits geeignet war, einen anderen durch die Erzeugung von „metus“, Furcht, zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu bestimmen, und andererseits offen zutage trat.23 Erst später, als das Römische Reich durch umherziehende Räuberbanden in seinem Bestand schwer bedroht wurde, führte man als Reaktion ein eigenständiges Delikt für „grassatores“, Straßenräuber, und „latrones“ – bewaffnete Mordgesellen – ein, das eine besonders drakonische Bestrafung vorsah.24 Nachdem später im Laufe der Zeit die Beschränkung auf bestimmte Räubertypen mehr und mehr aufgehoben wurde, führte schließlich jede „rapina“, also jeder Raub, zu einer öffentlichen Bestrafung, indem aus der an sich als Privatklage entstandenen, auf ein Edikt des Prätors Lucullus zurückgehenden „actio vi bonorum raptorum“ auch die öffentliche Bestrafung resultierte.25 22 Sog. „vis atrox“; vgl. Wächter NArchCrimR 1830, 635, 637 ff.; ders. Strafrecht § 116 (S. 359 f.); Mommsen S. 652, 654, 657 f.; Abegg § 185 (S. 271), § 188 f. (S. 276 ff.); Feuerbach § 353 (S. 566), § 358 (S. 573), § 399 f. (S. 635 ff.), hier vor allem in Mittermaiers Noten; Rein S. 735, 741 ff.; Jakobs, H. Kaufmann-GDS S. 791, 794 ff.; Heffter 329. (S. 268 f.), 515. (S. 419 f.); Temme S. 84; VD VI-Frank 1. § 2 II. (S. 9), Pauly-Mayer-Maly Sp. 332 ff. 23 Vgl. Mommsen S. 652; Sick S. 29; Feuerbach § 399 f. (S. 635 ff.); Wächter NArchCrimR 1830, 635, 639 f., 647; Berner Lehrbuch § 168 (S. 340); Mittermaier Annalen 8, 205, 221, 225, 231, ist sogar der Ansicht, dass schon das crimen vis des Römischen Rechts neben der körperlichen Gewalt nur diejenigen gegen Leib oder Leben gerichteten Drohungen erfasst habe, die (S. 225) „mit der Gefahr unverzüglicher und unabwendbarer Realisierung verbunden“ waren; in diesem Sinne äußert sich auch Wächter, Strafrecht § 116 (S. 359 f.): „(Das crimen vis) bezog sich vielmehr . . . nur auf Drohungen mit physischer Überwältigung oder mit sofortiger körperlicher Mißhandlung.“; ähnlich auch Temme S. 84, 86: nur die Anwendung oder Androhung der Anwendung von körperlicher Kraft, mechanischer Gewalt, im Sinne einer Ausübung unmittelbar wirkenden Zwangs; ebenso Heffter 330., 332. (S. 269 ff.); a.A. John ArchCrimR NF 1854, 60, 65 ff.: nur die Anwendung einer unmittelbar gegen den Körper gerichteten physischen Gewalt, „vis corporalis“, unter die er aber auch den Fall subsumiert, (S. 69 f.) dass der Betroffene tatsächlich unzweifelhaft bevorstehender Gewalt durch Flucht zuvorkommt; ähnlich Glaser S. 28 ff., 41: nur vis absoluta als „überlegene physische Gewalt“ im Sinne einer vis corporalis, worunter er allerdings auch die eindringliche, zeitnahe Androhung einer solchen versteht, in den übrigen Fällen offener Gewaltanwendung oder einer entsprechenden Drohung könne allenfalls die privatrechtliche actio quod metus causa einschlägig gewesen sein; vgl. außerdem VD VI–Frank 1. § 2 II (S. 9); Kreittmayr I, 2 § 19 Anm. c (S. 53); Tausch Jahrbuch 2001, 329, 353 f. 24 Busse S. 10 f.; vgl. Martin S. 735 f.; Roßhirt § 132 (S. 271), § 134 (S. 275); Abegg § 374 (S. 491 f.); Radbruch, Pappenheim-FS S. 37 ff., 44; Mittermaier in Feuerbach § 353 Note I (S. 566), § 358 (S. 573); Heffter 515. (S. 420); Liszt § 128 (S. 433); Meister §§ 221 f. (S. 285 f.); Köstlin S. 395; Henke S. 159; Berner Lehrbuch § 167 (S. 333); Klein § 456 (S. 359); Quistorp § 400 (S. 644); Gnad S. 11; Müller-Engelmann S. 49 f., 52; Landmesser S. 38. 25 Mommsen S. 660 f.; Busse S. 10 f.; Grolman § 236 (S. 248); Roßhirt § 132 (S. 272); Abegg § 374 (S. 491 f.); Mittermaier in Feuerbach § 353 Note I (S. 566); Meister § 222
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel
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Die dabei angewendete Gewalt musste sich gegen eine Person richten und offen zutage treten; in Anlehnung an die „vis“ waren aber auch entsprechende Drohungen ausreichend.26
2. Germanisches und frühes deutsches Recht Im germanischen Recht lässt sich das Verbrechen des Raubes bereits seit dem 6. Jahrhundert n. Chr. zweifelsfrei nachweisen, wo es sowohl in den „leges barbarorum“, den lateinisch aufgezeichneten Volksrechten, als auch in den Kapitularien, dem Verordnungsrecht des Königs27, in Erscheinung trat.28 Ein verbindlicher Tatbestand hatte sich dort indes noch nicht herausgebildet, denn der Begriff des Raubes wurde als bekannt vorausgesetzt, so dass vom Gesetzgeber jeweils nur die Strafe festgelegt wurde.29 Nach dem zugrunde liegenden deutschrechtlichen Verständnis war der Raub im engeren Sinne dabei durch die Offenheit der Wegnahme im Gegensatz zur heimlichen Begehung des Diebstahls gekennzeichnet; die Anwendung von Gewalt gehörte, obgleich sie häufig Begleiterscheinung des Raubes war, nicht zu dessen Voraussetzungen.30 Bereits zu dieser Zeit war der Raub im deutschen Sprachraum aber durch zwei Besonderheiten gekennzeichnet, die ihm noch lange Zeit anhaften sollten. Zum einen gab es im Rahmen der „Fehde“ einen erlaubten Raub31 und zum anderen (S. 286); Klien S. 10; Köstlin S. 394 ff.; Berner Lehrbuch § 167 (S. 332 f.); Müller–Engelmann S. 48 ff.; Landmesser S. 19; Gnad S. 10 f.; Lask S. 17; John ArchCrimR NF 1854, 60, 83 f.; Henke, S. 147 f., 159, ist grundsätzlich gleicher Ansicht, meint aber, dass die öffentliche Bestrafung eines jeden Raubes auf spätere Konstitutionen zurückzuführen sei. 26 Köstlin S. 394 ff.; Wilda S. 913 f.; Feuerbach § 399 (S. 635 ff.); VD VI–Frank 2. § 1 I. (S. 117); Busse S. 11, 16; Heffter 515. (S. 419 f.); Temme S. 84, 86, 88; enger Glaser S. 28 ff., 41 (vgl. insb. Fn. 16); vgl. auch Kreittmayr I, 2 § 19 Anm. a, b, c (S. 52 f.). 27 Jescheck / Weigend § 10 II (S. 92); Wilda S. 917; His S. 157; Hippel I S. 110; Köstlin S. 398; Müller-Engelmann S. 37 f.; Rüdorff Einleitung, S. 8. 28 Vgl. Hippel I S. 101, 109 f.; Liszt § 124 (S. 412 f.); Gnad S. 13; Müller-Engelmann S. 34; Jescheck / Weigend § 10 II (S. 92); Köstlin S. 398 f. 29 Busse S. 17; Müller-Engelmann S. 34; Schaffstein, Michaelis-FS S. 281 f.; Landmesser S. 16; Lask S. 18. 30 Die Anwendung von Gewalt führte ggf. aber zum Vorliegen eines qualifizierten Raubes; vgl. His S. 157 ff.; Busse S. 7, 17 ff.; Martin S. 330 f.; Radbruch, Pappenheim-FS S. 37, 39; Wilda S. 907 f., 910 f.; Hippel I S. 115, 184, 191; Mittermaier in Feuerbach § 353 Note I (S. 566 f.); Müller-Engelmann S. 34 ff., 40; Gnad S. 12 f.; Liszt § 124 (S. 412), § 128 (S. 433); Hälschner II S. 364; Henke S. 159; VD VI-Frank 1. § 2 I. Fn. 1 (S. 5), 2. § 1 I. (S. 117, 119); Schaffstein, Michaelis-FS S. 281, 285; Maurach / Schroeder / Maiwald § 32 Rn. 8; differenzierend Köstlin S. 397 f. 31 Vgl. His S. 58 ff.; Hippel I S. 101 ff., 110 ff.; Busse S. 17, 26 f.; Martin S. 736; Abegg § 375 (S. 492 f.); Radbruch, Pappenheim-FS S. 37, 42 ff.; Wilda S. 915; Feuerbach § 358 (S. 573); Müller-Engelmann S. 35; Köstlin S. 399; Henke S. 159 f.; Quistorp § 400 (S. 644).
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
wurde der Raub jedenfalls im frühen deutschen Recht wegen seiner Offenheit als die weniger ehrkränkende Tat milder bestraft als der Diebstahl.32 Das Fehderecht wurde erst im Jahre 1495 durch den „ewigen Landfrieden“ gänzlich beseitigt.33 Eine Sonderstellung nahmen außerdem das „latronicum“, der Bandenraub, sowie der Raub auf öffentlichen Verkehrsstraßen ein, deren Ahndung – teilweise in Anlehnung an das römische Recht – der Sicherung des öffentlichen Friedens bzw. der öffentlichen Sicherheit und Ordnung diente und die aus diesem Grunde die Anwendung offener Gewalt gegen eine Person voraussetzten.34 Noch im Schwaben- wie auch im Sachsenspiegel war der Raub durch die Offenheit der Wegnahme gekennzeichnet; indes findet sich hier insgesamt noch keine klare Trennung von Raub und Diebstahl, und die einschlägigen Vorschriften35 beschränkten sich auf die Festlegung der Strafen.36
3. Constitutio Criminalis Carolina Die Constitutio Criminalis Carolina von 153237, die sich auch diesbezüglich eng an Schwarzenbergs Constitutio Criminalis Bambergensis anlehnte, behandelte den Raub in Art. 12638. Auch sie setzte den Begriff des Raubes voraus und beschränkte 32 Es sei denn, es lag ein gewaltsamer und damit qualifizierter Raub vor; Busse S. 19 ff., 26; Wilda S. 914; His S. 158; Hippel I S. 115; Hälschner II S. 364; Köstlin S. 397; Holtzendorffs Handbuch III Merkel S. 715; Berner Lehrbuch § 167 (S. 333); Müller-Engelmann S. 35, 37, 41; VD VI-Frank 2. § 1 I. (S. 119); Lask S. 19. 33 Busse S. 27; Martin S. 736; Radbruch, Pappenheim-FS S. 37, 43, 46 ff.; Hippel I S. 185; Feuerbach § 358 (S. 573); Gnad S. 14; Henke S. 160. 34 Vgl. Roßhirt § 132 (S. 272 f.); Tittmann § 479 (S. 464); Wilda S. 917; His S. 158 f.; Busse S. 21, 26; Köstlin S. 398 ff.; Schaffstein, Michaelis-FS S. 281, 286 ff.; Müller-Engelmann S. 37 f., 40 f.; Maurach / Schroeder / Maiwald § 32 Rn. 9; Holtzendoffs Handbuch IIIMerkel S. 715; Landmesser S. 38 f. 35 Sachsenspiegel, Buch II Art. 13 lautete: „1. Nu vernemet umme ungerichte, welch gerichte dar ubir ge. Den diep sal man hengen. Geschit abir in deme dorf des tages eine dube, die minre den dri schillinge wert iz, daz muz der burmeister wol richten des selben Tages zu hut unde zu hare, abir mit dren schillingen zu losene. So blibit iener erlos unde rechtelos. . . . 4. Alle morder unde alle, den de phlug rouben, . . . die sal man alle radebrechen. 5. Wer einen man slet adir vehet, roubit adir burnet . . . den sal man die houbete abeslan. 6. Wer dube adir roub verburget, adir imande mit hulfe dar zu sterkit, werden se des ubirwunden, man sal ubir se richten als ubir ienen. . . .“. 36 Busse S. 23 ff.; Radbruch, Pappenheim-FS S. 37, 41; Klien S. 14 ff.; Berner Lehrbuch § 167 (S. 334). 37 „Keyser Karls des fünfften und des heyligen Römischen Reichs peinlich Gerichtsordnung“; vgl. Jescheck / Weigend § 10 IV (S. 93 f.); Martin S. 4 f.; Radbruch, Pappenheim-FS S. 37, 39 f. 38 „Item eyn jeder boßhafftiger überwundner Rauber, soll nach vermög unser vorfarn, und unserer gemeyner Keyserlichen Rechten, mit dem Schwert, oder wie an jedem ortt inn disen fällen mit gutter gewonheyt herkommen ist, doch am leben, gestrafft werden“.
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel
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sich darauf, dessen Strafe zu bestimmen.39 Allerdings war die „Carolina“, wie inzwischen trotz früher bestehender Uneinigkeit überzeugend dargelegt wurde, das erste überregionale Gesetzbuch des deutschen Rechts, welches dem Raub nicht die deutschrechtliche Auffassung der offenen Wegnahme, sondern die römischrechtliche Ansicht der mit offener Gewalt gegen eine Person ausgeführten Wegnahme zugrunde legte.40 Denn auch beim Raubbegriff der „Carolina“ kam der Wahrung der öffentlichen Sicherheit und des öffentlichen Friedens insgesamt eine sehr wichtige Bedeutung zu.41
4. Gemeines Recht Obwohl die „Carolina“ den Grundgedanken des Raubes im Sinne einer gewaltsamen Wegnahme beweglicher Sachen im Bereich der Gesetzgebung bereits früh eingeführt hatte, nahm die Entwicklung des Raubes im deutschen Sprachraum nach Jahrhunderten der Stagnation erst im 18. Jahrhundert ihre entscheidende Wendung.42 Ausgelöst wurde diese neue Entwicklung vor allem durch zwei herausragende Persönlichkeiten der Rechtswissenschaft dieser Zeit. a) Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts beschäftigte sich Kress mit der Frage, ob unter der Geltung des Art. 126 CCC auch die Wegnahme mittels Drohungen ein Fall des Raubes sei und welche Anforderungen in diesem Fall an sie zu stellen wären.43 Er war dabei in Anlehnung an das römische Recht der Auffassung, dass grundsätzlich auch Drohungen hinreichende Nötigungsmittel im Rahmen des Raubes sein könnten, allerdings müsse nach dem zeitlichen Eintritt des angedrohten Übels differenziert werden. Werde mit einem gegenwärtigen Übel, mit „vis facti proprieque dicta“, gedroht und entstehe daher – wie Kreittmayr44 es wenig später genauer formulierte – „metus gravis & praesens“, handle es sich um einen Raub. Werde dagegen mit einem künftigen Übel, mit „minae juris“ gedroht, liege „concussio“, Erpressung, vor.45 39 Busse S. 31; Radbruch, Pappenheim-FS S. 37, 39, 41; Hippel I S. 184; Müller-Engelmann S. 54; VD VI-Frank 2. § 1 I. (S. 118); Klien S. 446. 40 Vgl. Radbruch, Pappenheim-FS S. 37, 39 ff. m. w. N.; Busse S. 31 ff.; Martin S. 741; Köstlin S. 401; Mittermaier in Feuerbach § 353 Note I (S. 567); Müller-Engelmann S. 54 ff.; Hälschner II S. 390; Heffter 516. (S. 421 f.); Gnad S. 14 f.; VD VI-Frank 2. § 1 I. (S. 118); Schaffstein, Michaelis-FS S. 281, 282; Temme S. 88; a.A. Hippel I S. 184, 191. 41 Böhmer Elementa § 144 (S. 323 f.); Radbruch, Pappenheim-FS S. 37, 41 f.; Müller-Engelmann S. 55, 61; Boldt S. 133, 499; Maurach / Schroeder / Maiwald § 32 Rn. 9; Landmesser S. 20. 42 Vgl. Klien S. 22; Martin S. 7 ff.; Rüdorff Einleitung, S. 9 f.; vgl. zur Entwicklung des Strafrechts allgemein in dieser Zeit Schaffstein S. 11 ff. 43 Diese Frage war zwar bereits durch Carpzov Pars II Qu. XC n. 66 ff. (S. 293), aufgeworfen, von diesem aber noch nicht im Sinne eines allgemeingültigen Ansatzes gelöst worden (vgl. unten II. 3. sowie Schaffstein, Michaelis-FS S. 281, 282 f.). 44 I, 2 § 19 Anm. c (S. 53).
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
Dieser Ansatz von Kress sollte die Entwicklung des Raubes bis zum heutigen Tage entscheidend prägen. Auf der einen Seite bezog Kress neben der ausschließlich körperlich wirkenden Gewalt, d. h. der bis dahin im deutschen Sprachraum allein als Nötigungsmittel des Raubes geltenden Brachialgewalt, auf der Grundlage des Raubbegriffs der „Carolina“ zum ersten Mal ausdrücklich auch bestimmte psychisch wirkende Nötigungsmittel mit in den Begriff des Raubes ein – im konkreten Fall die Drohungen. Auf der anderen Seite sollte die Unterscheidung zwischen Drohungen mit gegenwärtigen und denjenigen mit künftigen Übeln als Grundlage der Unterscheidung zwischen Raub und Erpressung die Entwicklung der gemeinrechtlichen Doktrin entscheidend beeinflussen. Besondere Bedeutung erlangte der Ansatz von Kress vor allem auch dadurch, dass sich ihm J. S. F. von Böhmer später unter weiterer Präzisierung ausdrücklich anschloss.46 b) Böhmer selbst war es dann auch, der im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts durch seinen richtungweisenden „Carolina“-Kommentar „Meditationes“47 einen weiteren grundlegenden Anstoß für die Weiterentwicklung des Raubes im gemeinen Recht gab.48 Als erster gemeinrechtlicher Autor präzisierte Böhmer den Gewaltbegriff des Raubes anhand von zwei Merkmalen deutlich und entwickelte dabei grundlegende Aussagen über die Beschaffenheit der Gewalt im Rahmen des Raubes, von denen einige im Kern bis zum heutigen Tage uneingeschränkt Gültigkeit besitzen.
45 Kress Artic. 126 § 4 (S. 391 f.): „Unde, si vis facti proprieque abfuerit, vel viator non expaverit adeo, vel nulla lucri intentio subfuerit, ad extraordinariam descenditur“; in der zugehörigen Note 1 (S. 391) heißt es weiter: „Sic si aliquid extorquetur per minas juris, v. c. quod alias quis falsum testimonium dicturus esset contra dare nolentem, casus huc non pertinet, sed ad tit. de concuss. Ex defectu violentiae extraordinariam quoque dictitavimus opilioni in hac specie.“; vgl. Böhmer Meditationes Art. 126 § 4 (S. 519); VD VI-Frank 1. § 2 V. (S. 12 f.); Schaffstein, Michaelis-FS S. 281, 292; Feuerbach § 355 (S. 571); Glaser S. 57; Burchardi ArchCrimR NF 1846, 271, 278; dass Kress sich dabei auf den Bereich der „minae juris“ beschränkte und später auch Böhmer (vgl. Fn. 46) seine Beispiele diesem Bereich entlehnte, liegt daran, dass die „concussio“ nach römischem Recht einen äußerst beschränkten Anwendungsbereich hatte (vgl. unten II. 1.). 46 Böhmer Observationes, Observatio III ad Quaestionem XC. N. 70 (S. 78): „Spinae de malo futuro concussionem, non rapinam constituunt. Nec malum praesens, nisi principaliter ad spolium directum.“; ders. Elementa § 147 (S. 325 f.): „. . . adeoque 1) vis ablativa, & periculum praesens adesse simul debeant, imo 2) compulsiva sufficiat, si vel maxime alter sponte rem extortam raptori tradiderit . . . Contra 3) non sufficiant minae de malo futuro, quae magis concussionis crimen inferunt . . .“; vgl. VD VI-Frank 1. § 2 V. (S. 12 f.); Glaser S. 57; Burchardi ArchCrimR NF 1846, 271, 278. 47 Vgl. grundlegend zu Böhmer und seinen wichtigsten Werken Boldt S. 3 ff. 48 Indes lassen sich entsprechende Ausführungen Böhmers bereits in seinen früher verfassten Elementa, § 144 ff. (S. 323 ff.), nachweisen (vgl. Fn. 46); diesen kam rechtshistorisch betrachtet aber nicht dieselbe richtungweisende Bedeutung zu wie den Meditationes (vgl. Fn. 47; Bar S. 152).
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel
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Zunächst stellte Böhmer den Grundsatz auf, dass Gewalt im Rahmen des Raubes nur „vis personae illata“ sein könne, also gegen die Person gerichtete Gewalt im Gegensatz zur Gewalt gegen Sachen49, und definierte daher den Raub als „. . . rei alienae mobilis animo lucri faciendi per vim personae illatam facta ablatio“.50 Auf diese Weise übernahm Böhmer zumindest teilweise die Sicht des römischen Rechts zur „rapina“ und gewährleistete dadurch die Möglichkeit einer klaren Abgrenzung zwischen Raub und gewaltsam verübtem Diebstahl.51 Weiterhin unterschied Böhmer zwischen „vis ablativa“, heute besser bekannt als „vis absoluta“, also der zwingenden, willensausschließenden oder auch physisch bzw. unmittelbar körperlich wirkenden Gewalt52, und „vis compulsiva“, der nötigenden, willensbeugenden oder auch psychologisch bzw. psychisch wirkenden Gewalt, und erkannte beide Gewaltformen als Raubmittel an.53 Zudem schloss sich Böhmer unter Zugrundelegung dieser Differenzierung erneut54 der von Kress ins Feld geführten Einbeziehung der Drohung in die Nötigungsmittel des Raubes und der damit einhergehenden Abgrenzung zwischen Raub und Erpressung nach der Aktualität des angedrohten Übels an.55
49 Böhmer Meditationes Art. 126 § 4 (S. 519 f.); ebenso ders. Elementa § 145 (S. 325), § 150 (S. 328); vgl. Schaffstein, Michaelis-FS S. 281, 283. 50 Böhmer Meditationes Art. 126 § 1 (S. 517); ähnlich ders. Elementa § 144 (S. 324); vgl. Boldt S. 475; Schaffstein, Michaelis-FS S. 281, 283; eine ganz ähnliche Auffassung findet sich drei Jahre nach der ersten Veröffentlichung von Böhmers Werk auch bei dem in Österreich lehrenden Banniza, § 781 (S. 355): „Inter crimina furti qualificati nominata porro refertur rapina . . . , quae est ablatio rei alienae lucri faciendi animo per vim personae illatam patrata.“; § 782 (S. 355): „Ex definitione rapinae patet, ad illud crimen requiri I) . . . ; II) vim personae illatam. Haec igitur ex furto rapinam efficit“. 51 Böhmer Elementa § 150 (S. 328); vgl. Klien S. 441 ff.; Martin S. 330 f., 738; Köstlin S. 390; Schaffstein, Michaelis-FS S. 281, 283; VD VI-Frank § 1 I. (S. 118). 52 Wenngleich die „vis ablativa“ nach damaliger Sicht insoweit enger als die „vis absoluta“ nach heutigem Verständnis war, als sie nur die mit körperlich wirkender Gewalt durchgeführte Wegnahme, nicht aber die mit körperlich wirkender Gewalt erzwungene Herausgabe erfasste (vgl. Böhmer Elementa § 147 [S. 325 f.]; Kreittmayr I, 2, § 19 Anm. b [S. 52 f.]). 53 Böhmer Meditationes Art. 126 § 4 (S. 518 f.); ders. Elementa § 147 (S. 325 f.); Henke S. 156 Fn. 13; Schaffstein, Michaelis-FS S. 281, 284. 54 Vgl. bereits oben Fn. 46. 55 Böhmer Meditationes Art. 126 § 4 (S. 519): „Nam utrobique medium in promtu est, quo quis securitati prospicere potest, quo neglecto, qui minitanti rem extortam tradidit, de concussione quidem, on item de rapina queri potest. Aliud de vi compulsiva dicendum, quae cum ablativa, tum effectu spectato, tum ratione praesentis articuli in consilium vocata, pari passu ambulat, et mali praesentis, a quo unice rapina pendet, propositione absolitur, et antea docui. Nam axioma: voluntatem, etsi coactam, talem manere, forum criminale, quod tricas philosophorum parum curat, et securitatits publicae rationem habet, haud agnovit.“; vgl. Schaffstein, Michaelis-FS S. 281, 292; auch bei dem bereits erwähnten Banniza findet sich die angesprochene Differenzierung zwischen „vis ablativa“ und „vis compulsiva“, § 785 (S. 356 f.): „Eodem ex principio ulterius sequitur, nihil interesse 1), qualis fit vis, an ablativa aut compulsiva, an gravis aut levis; 2) . . .“.
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
c) An die Werke dieser beiden Autoren anknüpfend, entstand im Zeitraum vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein eine Fülle an wissenschaftlichen Abhandlungen, in denen sich die Strafrechtslehre mit den Formen der Gewalt allgemein und den Anforderungen an die Nötigungsmittel im Rahmen des Raubes beschäftigte.56 Bemerkenswert erscheint dabei, dass es insoweit innerhalb der Lehre nur wenige Meinungsverschiedenheiten gab, die folgenden Grundsätze also der Sache nach als allgemeine Meinung der damaligen Zeit gelten können. Von besonderer Bedeutung war insoweit, dass die von Böhmer herausgearbeitete Beschränkung der Gewalt auf diejenige gegen die Person sowie seine Unterscheidung zwischen „vis absoluta“ als „mechanisch“57 bzw. physisch, körperlich, wirkender Gewalt und „vis compulsiva“ als psychisch, psychologisch oder „moralisch“58 wirkender Gewalt aufgegriffen und letztere im Sinne einer „Überwindung . . . (des) Willens mittelst erweckter Furcht vor Uebel“59 als hinreichende Gewalt im Sinne des Raubes angesehen wurde.60 Auf dieser Grundlage wurden zunehmend auch bestimmte Drohungen als taugliche Raubmittel anerkannt, wobei viele Autoren dieser Zeit entweder überhaupt nicht oder nicht konsequent zwischen „vis compulsiva“ und Drohung unterschieden und diese daher als Unterfall der Gewalt ansahen61, während andere die Gleichwertigkeit – qualifizierter – Drohungen mit dem Merkmal der Gewalt betonten.62 Zur Begründung fand sich vor allem der Ansatz, dass die Drohung durch deren besonders drastische Darlegung als gegenwärtig – unmittelbar bevorstehend – der Anwendung physischer Gewalt im Sinne einer Vorstufe vorangehen und aus die-
56 Vgl. Quistorp § 396 (S. 639), § 399 (S. 642 f.); Feuerbach § 355 (S. 571); Tittmann §§ 479 ff. (S. 464 ff.); Klein § 193 (S. 155), § 455 f. (S. 357 f.); Meister § 221 (S. 284 f.); Henke S. 150 ff.; Grolman § 233 (S. 246 f.); Roßhirt § 133 (S. 274); Abegg § 189 (S. 279), § 377 (S. 495); Kleinschrod S. 534 ff.; Klien S. 446 ff.; Heffter 517. (S. 421 f.); Hälschner II S. 366 ff.; Martin S. 330 f., 737 ff.; Köstlin S. 390 ff. 57 Feuerbach § 355 (S. 571); Henke S. 150; Abegg § 189 (S. 279); Schreiner, Hitzigs Zeitschrift 1827, 103, 110, 120 f.; später ebenso Buri Beilage GS 29, 3, 4. 58 Henke S. 150. 59 Feuerbach § 355 (S. 571); vgl. aber Fn. 61. 60 Vgl. Grolman § 233 (S. 246 f.); Feuerbach § 355 (S. 571); Henke S. 150, 152; Klien S. 448 f.; Roßhirt § 133 (S. 274); Heffter 332. (S. 270 f.), 517. (S. 421 f.); Tittman § 481 (S. 468 f.); Abegg § 189 (S. 279), § 377 (S. 495); Köstlin S. 391; Busse S. 34 m. w. N., 44, 48. 61 Für viele gemeinrechtliche Autoren waren die Begriffe „vis compulsiva“ und „Drohungen“ synonym; vgl. Feuerbach § 355 (S. 571); Meister § 221 (S. 285); Tittmann § 481 f. (S. 468 ff.); Henke S. 150, 152; Heffter 332. (S. 270 f.), 517. (S. 421 f.); Roßhirt § 133 (S. 274); Berner Lehrbuch § 167 (S. 335); Wächter Lehrbuch § 199 (S. 346); Kleinschrod S. 534, 537; Abegg § 189 (S. 279), § 377 (S. 495); Klien S. 448 f.; Lüderssen GA 68, 257, 263; VD VI-Frank § 2 II. (S. 9). 62 Quistorp § 399 (S. 643); Klein § 190 (S. 152 f.), § 193 (S. 155), § 455 f. (S. 357 f.); Martin S. 330, 738 f.; Köstlin S. 391.
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel
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sem Grund eine gleichermaßen intensive Nötigungswirkung wie diese aufweisen könne.63 Zeitgleich mit der grundsätzlichen Anerkennung der Drohung als hinreichendes Raubmittel wurde aber auch eine Einschränkung dahingehend vorgenommen, dass nur solche Drohungen dem Raub unterfallen könnten, die als besonders gefährlich einzustufen und daher der Anwendung physischer Gewalt gleichzusetzen seien. Insoweit bestand Einigkeit, dass als in diesem Sinne gefährlich nur diejenigen Drohungen anzusehen seien, die einerseits eine Gefahr für bestimmte Rechtsgüter und andererseits eine gegenwärtige Gefahr beinhalteten, wobei unter „Gegenwärtigkeit“ übereinstimmend die „Gefahr unverzüglicher Verwirklichung“ oder die „Gefahr augenblicklicher Vollziehung“64 verstanden wurde. Die Drohungen mussten „nach allen Umständen . . . sehr nahe und höchst wahrscheinlich“65, das angedrohte Übel „unmittelbar bevorstehend“66 sein, es musste die „Androhung einer . . . sofortigen Behandlung“67 vorliegen. Soweit mit einem entfernteren Übel als der in diesem Sinne „gegenwärtigen Gefahr“ gedroht wurde, sollte kein Fall des vollendeten Raubes, sondern allenfalls „concussio“, Erpressung, oder versuchter Raub vorliegen68. Was die gefährdeten Rechtsgüter anbelangte, so war man sich einig, dass drohende Einbußen an Leib oder Leben in jedem Falle genügten69; umstritten war 63 Heffter 332. (S. 270 f.), 517. (S. 421 f.); Abegg § 189 (S. 279), § 377 (S. 495); Hälschner II S. 370; Klien S. 448 f.; Schreiner, Hitzigs Zeitschrift 1827, 103, 116, 119 f.; vgl. Müller-Engelmann, S. 62, 210 m. w. N., der sehr treffend formuliert (S. 210): „. . . der Bedrohte musste stets damit rechnen, dass die Drohung nur die erste Stufe des Zwanges bedeutete und der nächste Schritt Gewaltanwendung war“. 64 Feuerbach § 355 (S. 571); Roßhirt § 133 (S. 274); Schreiner, Hitzigs Zeitschrift 1827, 103, 119 f., 122 f.; Burchardi ArchCrimR NF 1846, 271, 293 f., 296 f.; Cucumus ArchCrimR NF 1834, 55, 60 f.; Mittermaier Annalen 8, 205, 222; ähnlich Köstlin S. 391, 410; sehr deutlich auch Glaser S. 263 f.: “ . . . , daß zum Verbrechen des Raubes nur solche Drohungen genügen, welche 1. . . . ; 2. . . . einen schweren und unwiederbringlichen Nachtheil an Leib oder Leben in Aussicht stellen, und 3. sogleich vollziehbar sind.“; gegen Ende des 19. Jahrhunderts ebenso Hälschner II S. 370; noch später VD VI-Frank § 2 II. 1. (S. 126); Binding BT 1 S. 313: „. . .Gefahr . . . , den Inhalt der Drohung sofort zu verwirklichen, . . .“; vgl. Busse S. 44, 48. 65 Quistorp § 399 (S. 571). 66 Oppenhoff § 230 N. 7, § 89 N. 51; ähnlich Heffter 332. (S. 270 f.), 517. (S. 421 f.). 67 Temme S. 97. 68 Feuerbach § 355 (S. 571); Schreiner, Hitzigs Zeitschrift 1827, 103, 119, 224; Meister § 221 (S. 285); Klein § 456 (S. 358); Berner Lehrbuch § 167 (S. 335); Glaser S. 263 f.; Mittermaier Annalen 8, 205, 222; Tittmann § 482 (S. 469 f.); Klien S. 449; später auch Schwarze § 249 (S. 559); Köstlin S. 391; vgl. Busse S. 44, 48; VD VI-Frank 1. § 2 II. (S. 9), der davon ausgeht, dass die Lehre diese Unterscheidung in Anlehnung an die Anforderungen des „crimen vis“ entwarf. 69 Feuerbach § 355 (S. 571); Tittmann § 481 (S. 467 ff.); Berner Lehrbuch § 167 (S. 335); Quistorp § 399 (S. 643); Klien S. 448 f.; Meister § 221 (S. 285); Heffter 332. (S. 270 f.), 517. (S. 421 f.); Henke S. 150; Mittermaier Annalen 8, 205, 222.
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
allein, ob weitergehend auch die Gefährdung von anderen Rechtsgütern ausreichend sei.70 Ganz herrschend wurde aber rasch die Ansicht, dass nur eine solche Drohung Nötigungsmittel des Raubes sein könne, die sich einerseits gegen Leib oder Leben richte und andererseits die Androhung einer gegenwärtigen Gefahr in dem Sinne beinhalte, dass die Besorgnis sofortiger Verwirklichung bestehe.71 Die Rechtfertigung für diesen Ansatz sah die Lehre darin, dass die Raubmittel auf die Überwindung eines gegenwärtig bestehenden oder zumindest für die Zukunft möglichen Widerstandes gerichtet sein und außerdem ein „schlechthin zureichender Grund der möglichen Besitzergreifung sein“ müssten.72 Davon sei aber nicht auszugehen, wenn nicht mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben gedroht worden sei, da Drohungen, welche diese Voraussetzungen nicht erfüllten, eine vergleichbar intensive Nötigungswirkung nicht zukomme73; insbesondere habe der Bedrohte bei Drohungen mit nicht in diesem Sinne gegenwärtigen Gefahren stets – theoretisch – noch die Möglichkeit, obrigkeitliche Hilfe zu erlangen.74 Zum Teil wurden diese Anforderungen zusätzlich auch direkt aus den römischrechtlichen Grundsätzen zum „crimen vis“ abgeleitet.75 70 So etwa Quistorp § 399 (S. 643); Grolman § 233 (S. 247); ablehnend Klien S. 448 f.; Feuerbach § 355 (S. 571); Henke S. 150; Heffter 332. (S. 270 f.), 517. (S. 421 f.); Tittmann §§ 481 f. (S. 467 ff.); Berner Lehrbuch § 167 (S. 335); vgl. Schaffstein, Michaelis-FS S. 281, 284 f. 71 Vgl. Heffter 332. (S. 270 f.), 517. (S. 421 f.); Feuerbach § 355 (S. 571); Meister § 221 (S. 285); Tittmann § 481 f. (S. 467 ff.); Mittermaier Annalen 8, 205, 222; Berner Lehrbuch § 167 (S. 335); Henke S. 150 ff.; Abegg § 189 (S. 279), § 377 (S. 495); Schreiner, Hitzigs Zeitschrift 1827, 103, 119 f., 122 f.; Glaser S. 263 f.; Hälschner II S. 370 f.; Köstlin S. 391; Busse S. 34, 44, 48; Klien S. 448 f.; andeutungsweise weiter hinsichtlich der Gegenwärtigkeit Martin S. 739. 72 Feuerbach § 355 (S. 571); ähnlich Henke S. 150 ff.; Heffter 332. (S. 270 f.), 517. (S. 421 f.); Klien S. 448; Köstlin S. 391. 73 Tittmann § 481 f. (S. 467 ff.); Feuerbach § 355 (S. 571); Henke S. 150 ff.; Klien S. 448 f.; Hälschner II S. 370; Köstlin S. 391; sehr deutlich auch die bei Glaser, S. 263 f. Fn. 315, zitierte Entscheidung des österreichischen Obersten Gerichtshofes in Strafsachen, Z. 1285 vom 17. 02. 1857: „Der Räuber drohe mit der Zufügung eines Übels, welches der Weigerung, die geforderte Sache heraus zu geben, auf dem Fuße zu folgen habe; der Bedrohte, außer Stand, seine Freiheit der Willensbestimmung anders, als durch augenblickliche Gewalt zu behaupten, werde hier in der Tat vergewaltiget. Anders verhalte es sich bei der Erpressung, wo das angedrohte Übel zeitlich ferner liege, und deshalb die Drohung nicht gleichsam die Sinne des Bedrohten gefangen nehme, sondern zunächst der Erwägung Raum lasse, und ihn auf dem Wege des Nachdenkens bestimmen solle, zwischen beiden Übeln – dem Angedrohten und der begehrten Leistung – das Letztere als das kleinere zu wählen.“ 74 Feuerbach § 355 (S. 571); ähnlich Hälschner II S. 370; Schreiner, Hitzigs Zeitschrift 1827, 103, 119. 75 Vgl. Heffter 330., 332. (S. 269 ff.), Temme S. 84 ff., 97, 99 f.; dies scheint auch Mittermaier, Annalen 8, 205, 221 f., 225, 231, anzudeuten (vgl. oben Fn. 23).
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel
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Beispielhaft für die Sicht der damaligen gemeinrechtlichen Lehre sei abschließend die Auffassung Henkes76 geschildert, dessen Ausführungen einen guten Einblick in die in dieser Zeit ganz herrschende Definition der Raubmittel geben. Bei der Frage, welche Gewalt zur Vollendung des Raubes erforderlich sei, vertrat Henke die Ansicht, dass „die Gewalt, welche . . . beim Raube als Mittel zum Zwecke der Besitznahme fremder Sachen angewendet wird, . . . übrigens von mehr als einer Art seyn (könne). Wesentlich ist nur, daß durch dieselbe entweder der Widerstand des zu Beraubenden überwunden, oder es demselben physisch oder moralisch unmöglich gemacht wird, einigen Widerstand entgegenzusetzen. Gleichgültig ist es daher für den Begriff des Verbrechens, ob der Räuber durch körperliche Uebermacht den wirklichen Widerstand vereitelt und nutzlos machte, oder dem bloß befürchteten zuvorkam, sey es nun durch körperliche Mißhandlungen, (Schläge, Verwundungen u.s.w.) und rein physische Unmöglichmachung der Gegenwehr, z. B. durch Knebeln und Binden, oder durch Drohungen auf Leib und Leben, da diese psychologisch denselben passiven Zustand des zu Beraubenden bewirken können, der physisch durch einen mechanischen Zwang hervorgebracht wird; . . .“.77 „Die Drohungen, welche als Gewaltthat und somit als zureichender Grund der Aufgebung von Sachen erscheinen, können zuvörderst keine anderen seyn, als Drohungen entweder körperlicher Mißhandlungen, oder des Todes (Drohungen auf Leib oder Leben . . . ), denn nur unter Voraussetzung eines solchen Inhaltes können sie als Bestimmungsgrund für den Bedrohten betrachtet werden, auf allen Widerstand zu verzichten.“78 „Dagegen ist es wesentlich, daß die Drohungen persönlich geschehen sind, denn schriftliche Drohungen fallen unter den Begriff der Erpressungen, und können überhaupt keine gegenwärtige Gefahr begründen, wie sie hier vorausgesetzt wird. Eben deshalb dürfen auch die mündlich ausgestoßenen Drohungen nicht etwa eine Diffamation, Calumnie, ein falsches Zeugnis usw. zum Gegenstand haben (s.g. minae juris)79, indem alsdann noch andere Mittel zur Abwendung der angedrohten Gefahr vorhanden seyn, und auf jeden Fall nur das Verbrechen der Erpressung begründet seyn würde.“80 5. Partikulargesetzgebung Diese Grundsätze der gemeinrechtlichen Lehre spiegelten sich auch in der strafrechtlichen Partikulargesetzgebung81 des 18. und 19. Jahrhunderts wider.82 § 164 (S. 150 ff.). Henke S. 150. 78 Henke S. 151. 79 Vgl. zu den „minae juris“ Fn. 45 und unten II. 1. 80 Henke S. 152. 81 Da im Zeitraum nach der „Carolina“ erst das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1871 wieder für ein einheitliches Strafrecht für den gesamten deutschrechtlichen Bereich sorgte, kam in dieser Zeit der Territorialgesetzgebung eine entscheidende Bedeutung zu (vgl. 76 77
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
a) Schon der Codex Juris Bavarici Criminalis von 1751 erfasste als Fall des Raubes, den er als „Raubereyen“ bezeichnete, seinem Wortlaut nach neben der durch Gewalt herbeigeführten auch die durch Drohung bewirkte Wegnahme.83 Als besonders bemerkenswert aber ist es anzusehen, dass der Verfasser des Codex, Kreittmayr84, sich insoweit – wie häufig – eng an Kress und Böhmer orientierend85, in seinen offiziellen Anmerkungen präzise Anforderungen an die für einen Raub erforderlichen Nötigungsmittel aufstellte. Wenngleich er die Gewalt noch nicht ausdrücklich auf diejenige gegen Menschen beschränkte, unterschied Kreittmayr auf der einen Seite doch bereits klar zwischen „vis compulsiva“ und „vis ablativa“ und sah beide Gewaltformen als taugliche Raubmittel an.86 Auf der anderen Seite hielt er auch Drohungen für hinreichend, wenn sie den Bedrohten in „gegenwärtigen großen Schröcken“ versetzten, wenn aus ihnen „metus gravis & praesens“ entstehe.87 Unter Berücksichtigung dieser Anmerkungen muss man daher den Codex wohl als erstes Strafgesetzbuch des deutschen Sprachraumes ansehen, welches qualifizierte Drohungen als Raubmittel erfasste. b) Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 179488, das im zwanzigsten Titel seines zweiten Teils dem Strafrecht zuzurechnende Vorschriften enthielt, kannte als Raubmittel sowohl die gegen Menschen gerichtete Gewalt als auch die Drohung in Form der „Androhung gefährlicher Behandlung“ für einen anderen Menschen, wobei der Gesetzeswortlaut das Erfordernis einer Gegenwärtigkeit dieser Drohung aber nicht explizit aufstellte.89 Schaffstein S. 28 ff.; Jescheck / Weigend § 10 V. ff (S. 94 ff.); Klien S. 22 ff.; Rüdorff Einleitung, S. 11 ff.). 82 Nicht weiter erörtert werden soll dabei die in dieser Zeit heftig umstrittene Frage, ob die Wegnahme oder die qualifizierte Nötigung Hauptmerkmal des Raubes sei (vgl. dazu die Zusammenfassung in der Revision des Entwurfs von 1843, 3. Band, Schubert / Regge I / 5 S. 701 ff.; Beseler § 230, S. 440 f.), da diese angesichts der heutigen Gesetzesfassung keine Relevanz mehr besitzt und außerdem bei der inhaltlichen Bestimmung der Raubmittel nicht weiterführt. 83 Erster Teil, Zweytes Capitul § 19: „Gewaltsame Abnehm- und Abnöthigung, oder auch bedrohliche Abschröckung fremden beweglichen Guts, . . .“. 84 Vgl. Schlosser, Kreittmayr-FS S. 3 ff., 10 ff.; Jescheck / Weigend § 10 VI (S. 96); Heydenreuter, Kreittmayr-FS S. 37 ff., 43 ff.; Berner Strafgesetzgebung § 1, § 2 (S. 1 f.); Schaffstein S. 12; vgl. allgemein zur Person Kreittmayrs und seinem Lebenswerk Schlosser, Kreittmayr-FS S. 3 ff. und Heydenreuter, Kreittmayr-FS S. 37 ff. 85 Vgl. Berner Strafgesetzgebung § 8 (S. 7). 86 Kreittmayr I,2, § 19 Anm. b (S. 52 f.); vgl. Busse S. 34. 87 Kreittmayr I,2, § 19 Anm. c (S. 53). 88 Vgl. zur Entstehungsgeschichte Berner Strafgesetzgebung § 41 (S. 35 f.) und die Übersicht bei Schubert / Regge I / I S. XXVI ff sowie allgemein zu dessen Bedeutung Rieß GA 1978, 138 ff. 89 § 1187: „Wer durch Gewalt an Menschen, bewegliche Sachen, wozu er kein Recht hat, seines Gewinns, Vortheils oder Genusses wegen in Besitz nimmt, macht sich des Raubes schuldig.“; § 1188: „Auch schon derjenige, welcher einen Diebstahl ohne wirkliche Gewalt, jedoch unter Androhung gefährlicher Behandlung ausübt, hat als Räuber . . .“; vgl. Mitter-
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel
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Allerdings wurden in der preußischen Rechtspraxis, vor allem auch durch die Rechtsprechung, die Anforderungen an die im Gesetz sehr allgemein bezeichneten Raubmittel in Anknüpfung an die Grundsätze der Lehre in zwei Bereichen deutlich präzisiert. So war anerkannt, dass einzig Gewalt im Sinne von „vis ablativa“ als „thätliche, wenn auch nicht gefährliche, Mißhandlung der Person“ den Tatbestand des ALR II, 20 § 1187 erfüllen könne.90 Der Begriff der „Androhung gefährlicher Behandlung“ in ALR II, 20 § 1188 wurde zudem einschränkend dahin ausgelegt, dass hierunter nur die Androhung einer „gegenwärtigen Gefahr“ im Sinne einer „Gefahr unverzüglicher Vollziehung“ falle.91 Allerdings verloren die Bestimmungen des ALR über den Raub rasch an Bedeutung, da sie bereits im Jahre 1799 durch die „Circularverordnung vom 26sten Februar“ modifiziert wurden, welche in ihrem § 22 als Raubmittel einzig die „vis absoluta“ als „physische Gewalt“ anerkannte – jedoch nur dann, wenn sie mit der Zufügung von Schmerzen verbunden war.92 Dabei ist besonders hervorzuheben, dass unter diesen Begriff auch solche Vorgehensweisen subsumiert wurden, die auf Seiten des Täters keine besondere Kraftentfaltung erforderten. Die Drohung, die auch hier als Synonym der psychologischen Gewalt, „vis compulsiva“, angesehen wurde, und die körperlich wirksame Gewalt ohne Schmerzzufügung konnten nur über den gewaltsamen Diebstahl nach § 15 der Verordnung erfasst werden.93 c) Auch der den Grundtatbestand des Raubes enthaltende Art. 233 des von Feuerbach verfassten94 Bayerischen Strafgesetzbuchs von 1813 verlangte seinem Wortlaut nach keine Gegenwärtigkeit der als Unterfall der Gewalt neben der Alternative der „thätlichen Mißhandlung“ anerkannten „Drohung auf Leib oder Leben“.95 Die Beschränkung auf „Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr“ für Leib maier in Feuerbach § 353 Note II (S. 567); angesichts dieses eindeutigen Wortlauts der Bestimmungen ist unklar, wie sowohl Busse, S. 38, als auch Müller-Engelmann, S. 63, zu der Ansicht gelangen, das allgemeine Landrecht erfasse als Zwangsmittel nur die Gewalt, nicht aber die Drohung. 90 Goltdammer II, § 230, S. 513; Burchardi ArchCrimR NF 1846, 271, 293; die „vis compulsiva“ konnte allein dem Drohungstatbestand des ALR II, 20 § 1188 unterfallen. 91 Goltdammer II, § 230, S. 515; Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 140; Burchardi ArchCrimR NF 1846, 271, 293. 92 § 22: „Als Räuber wird derjenige bestraft, der, um einen Diebstahl zu begehen, einen oder mehrere Menschen durch Schläge, oder durch Binden, Knebeln, Verstopfen des Mundes oder sonstige Mißhandlungen abhält, die beabsichtigte Entwendung zu verhindern, oder sich des Thäters zu bemächtigen“. 93 Vgl. Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 132 f.; Henke S. 155 Fn. 9; Goltdammer II, § 230, S. 513; vgl. allgemein zur Entwicklung des Strafrechts in Preußen nach Erlass des ALR Berner Strafgesetzgebung §§ 183 f. (S. 213 ff.). 94 Vgl. Berner Strafgesetzgebung § 86 ff. (S. 80 ff.); Jescheck / Weigend § 10 VI (S. 96). 95 Art. 233 Bay. StGB: „Wer, um eine Entwendung zu vollziehen, einer Person Gewalt anthut, entweder durch thätliche Mißhandlungen oder durch Drohung auf Leib oder Leben, der ist des Raubes schuldig, er habe seine habsüchtige Absicht erreicht oder nicht.“; vgl. Mittermaier in Feuerbach § 353 Note II (S. 567 f.).
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
oder Leben ergab sich allerdings sowohl aus dem Zusammenspiel des Raubes mit dem Erpressungstatbestand des Art. 24296 als auch aus den offiziellen Anmerkungen des Gesetzgebers, welche nur diesem Drohungstypus eine der Gewalt gegen eine Person vergleichbare Nötigungswirkung zuerkannten.97 Hinsichtlich des Wortlauts der Gesetzesfassung fällt weiterhin besonders auf, dass sie Feuerbachs Ansatz zur Gewalt98 jedenfalls insofern deutlich widerspiegelte, als nicht klar zwischen „vis compulsiva“ und Drohungen unterschieden wurde und letztere daher als Unterfall der Gewalt angesehen wurden.99 d) Auch in vielen weiteren Landesstrafgesetzgebungen des 19. Jahrhunderts fand sich neben der Gewalt bereits die Drohung als Raubmittel, wobei das Merkmal des Bezugs der Drohung auf Leib oder Leben ebenso wie die Beschränkung der Gewalt auf diejenige gegen Personen häufig schon vorhanden war, wie z. B. im Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg von 1839.100 Im Österreichischen Gesetzbuch über Verbrechen, das in § 169 der Fassung von 1803 eine dem § 190 des späteren Strafgesetzes für das Kaisertum Österreich von 1852 weitgehend identische Bestimmung enthielt101, wurden Drohungen wiederum als Unterfall der Gewalt angesehen und dem Wortlaut nach ohne jede Beschränkung als taugliche Nötigungsmittel erfasst. Das erste territoriale Strafgesetzbuch, welches ausdrücklich sowohl die Gewalt gegen eine Person als auch die Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leben oder Gesundheit forderte, war das Criminalgesetzbuch für das Königreich Hannover von 1840.102 Auch das kurz darauf erschienene Strafgesetzbuch für das Großherzogtum Baden von 1845 stellte dieselben Anforderungen auf, umschrieb das Merkmal der Gegenwärtigkeit aber – wie es dem Stand der damaligen Lehre entsprach – mit „Gefahr unverzüglicher Verwirklichung“.103 Vgl. unten II. 5. b). Anmerkungen Bayern II, Anm. 4, 5 zu Art. 233, 234 (S. 154 f.); vgl. Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 140; Cucumus ArchCrimR NF 1834, 55, 60 f. 98 Und den vieler weiterer Autoren dieser Zeit; vgl. Fn. 61. 99 Anmerkungen Bayern II, Anm. 3, 4 zu Art. 233, 234 (S. 154 f.). 100 Art. 311: „Wer sich fremdes bewegliches Gut durch thätliche Gewalt gegen eine Person oder durch Drohung auf Leib oder Leben gegen dieselbe zueignet, ist des Raubes schuldig.“; vgl. Mittermaier in Feuerbach § 353 Note II (S. 568). 101 § 190 der Fassung von 1852 lautete: „Eines Raubes macht sich schuldig, wer einer Person Gewalt anthut, um . . . ; die Gewalt mag mit thätlicher Beleidigung oder nur mit Drohung geschehen“; vgl. Henke S. 155 Fn. 9; Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 139; Mittermaier in Feuerbach § 353 Note II (S. 567). 102 Art. 321: „Wer, um eine Entwendung zu vollbringen, einer Person Gewalt anthut, entweder durch thätliche Mißhandlungen, oder durch Drohungen, welche mit einer für das Leben oder die Gesundheit des Angefallenen gegenwärtigen Gefahr verbunden sind, der ist, wenn er auch seine Absicht nicht erreicht haben sollte, des Raubes schuldig.“; vgl. Mittermaier in Feuerbach § 353 Note II (S. 569); Busse S. 47 f.; zum Entwurf: Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 140. 103 § 410: „Wer den Diebstahl einer Sache dadurch bewerkstelligt hat, daß er den Inhaber derselben, oder andere am Orte der That anwesende Personen durch angewendete thätliche Gewalt oder durch angewendete, mit der Gefahr unverzüglicher Verwirklichung verbundene, 96 97
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Diesem im Wortlaut sehr ähnlich waren Art. 344 des Strafgesetzbuches für das Großherzogtum Hessen von 1841 sowie Art. 337 des Strafgesetzbuches für das Herzogthum Nassau104 und auch das Strafgesetzbuch für das Königreich Sachsen von 1855 übernahm später diese Voraussetzungen.105 e) Bei den Gesetzgebungsarbeiten zum unmittelbaren Vorgänger unseres heutigen Strafgesetzbuches, dem Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten von 1851106, wurde das Tatbestandsmerkmal der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr bereits in der Ersten Revision107, nämlich in den ersten vollständigen Entwurf des Revisors von 1828, ausdrücklich aufgenommen.108 Aufgrund der ausführlichen Erläuterung in den Motiven durch den Revisor selbst109 lassen sich die Gründe hierfür auch heute noch gut erschließen. In demselben Zusammenhang werden auch die Definition des „Gewaltbegriffes“ und die Anforderungen an die qualifizierten Nötigungsmittel im Rahmen des Raubes aus der Sicht des Gesetzgebers erörtert, die im Folgenden ebenfalls dargestellt werden sollen. Auch die mit dieser Thematik in engem Zusammenhang stehenden Ausführungen des Revisors zu den Tatbeständen von Erpressung und räuberischer Erpressung werden wegen ihrer engen Verzahnung im Vorgriff auf das nächste Kapitel bereits an dieser Stelle wiedergegeben. Drohungen mit Tödtung oder schweren körperlichen Mißhandlungen, oder durch andere, zur Erregung begründeter Besorgniß für Leib oder Leben geeignete, Handlungen, zur Überlassung der Sache nöthigte, wird als Räuber bestraft.“; vgl. auch Anmerkungen Baden 1839, S. 110 ff., aus denen sich zweifelsfrei ergibt, dass es sich einerseits bei der angewendeten Gewalt um Gewalt gegen eine Person handeln musste und andererseits die Gefahr unverzüglicher Verwirklichung als Synonym für die gegenwärtige Gefahr angesehen wurde; die Erweiterung der Mittel um die „andere(n), zur Erregung begründeter Besorgniß für Leib oder Leben geeigneten, Handlungen“ wurde nur aufgenommen, um ein zu enges Verständnis des Wortes „Drohung“ zu verhindern und außerdem Entwurf Baden 1840, Kommissionsbericht Nr. 8, S. 20; Thilo § 410, 3. (S. 351); Mittermaier in Feuerbach § 353 Note II (S. 568 f.). 104 Beide sprachen übereinstimmend von „körperliche(r) Gewalt oder gefährliche(n), mit der Aussicht unverzüglicher Verwirklichung verbundene(n) Drohungen“. 105 Art. 177: „Wer durch Anwendung von Gewalt gegen Personen, oder durch wörtliche oder thatsächliche Drohungen, welche mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben des Bedrohten oder der Angehörigen desselben verbunden sind, in gewinnsüchtiger Absicht sich fremden beweglichen Gutes bemächtigt oder dessen Herausgabe erzwingt, wird als Räuber bestraft: . . .“. 106 Vgl. Fn. 13. 107 Vgl. zur Einteilung der Entstehung des Strafgesetzbuches in vier Revisionsphasen sowie allgemein zum Verlauf der Gesetzgebungsarbeiten Kleinbreuer S. 134 ff.; Beseler Einleitung, S. 3 ff.; Berner Strafgesetzgebung § 183 ff. (S. 213 ff.); Schubert / Regge I / I S. XXVI ff, LX ff; Hippel I S. 314 ff.; Goltdammer I, Einleitung, S. VII ff. 108 Entwurf 1828, Zweiter Titel, Eilfter Abschnitt, § 55, Schubert / Regge I / 1 S. 346: „Des Raubes ist schuldig, wer einen Diebstahl mit Verletzung der Freiheit, Gesundheit oder des Lebens eines Anderen verübt, so wie derjenige, der fremde bewegliche Sachen mittelbar, durch Bedrohung mit gegenwärtiger Gefahr, oder durch Mißhandlung eines Menschen, widerrechtlich, seines Vortheiles wegen, in Besitz nimmt“. 109 Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 132 ff. 5 Blanke
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
Der Revisor, insgesamt deutlich durch die einschlägigen Regelungen des Bayerischen Strafgesetzbuchs von 1813 beeinflusst, war bei Schaffung der Vorschriften über Raub und Erpressung der Auffassung, dass eine grundlegende Differenzierung anhand zweier Hauptmerkmale vorzunehmen sei. Auf der einen Seite maß er dem betroffenen Vermögensobjekt und auf der anderen Seite der Verletzungshandlung entscheidende Bedeutung zu. Hinsichtlich des Objekts unterschied er die Vermögensverletzung in Form einer Beeinträchtigung von Rechten, unbeweglichen oder beweglichen Sachen. Der Raub sollte von vornherein nur die Verletzung von beweglichen Sachen erfassen, im Übrigen kam lediglich eine Erpressung in Betracht. Bezüglich der Verletzungshandlung differenzierte er zwischen mittelbaren und unmittelbaren Handlungen, bei ersteren wiederum zwischen Einwirkungen auf den Willen oder auf das Erkenntnisvermögen des Verletzten.110 Der unmittelbaren Rechtsverletzung, die – sofern es sich bei dem Objekt um eine bewegliche Sache handelte – unproblematisch dem Raub unterfallen sollte111, lag der Gedanke der Gewalt im Sinne von „vis ablativa“ zugrunde. Allerdings hielt der Revisor den Begriff der „Gewalt gegen eine Person“ für unpassend, da er ihn – im Sinne einer „Äußerung überwiegender Kraft“ verstanden – als zu relativ ansah. Er verwendete daher stattdessen, in Anlehnung an den Feuerbachs Lehrbuch entstammenden Ausdruck „Verletzung persönlicher Rechte“, die seiner Meinung nach abschließende und alle potentiell betroffenen persönlichen Rechte erfassende Aufzählung „mit Verletzung der Gesundheit, der Freiheit oder des Lebens begangen“.112 Was die mittelbare Verletzung durch Einwirkung auf den Willen des Verletzten anbelangt, ließ sich eine klare Unterscheidung zwischen „vis compulsiva“ und Drohungen erkennen, wobei die Drohung mit psychologischer Gewalt gleichgesetzt und die „vis compulsiva“ neben der „vis ablativa“ als physische Gewalt angesehen wurde.113 Sofern als Objekt bewegliche Sachen betroffen waren, sollten beide Nötigungsformen taugliche Raubmittel darstellen können, die Drohung allerdings nur, wenn sie eine gegenwärtige Gefahr beinhaltete.114 Dabei wurde die Gegenwärtigkeit der Gefahr dahingehend definiert, dass der Bedrohte „eben jetzt“ und nicht erst „bei irgend einer Gelegenheit“ gefährlich behandelt werden sollte.115 Der Gesetzgeber folgte somit der Konzeption der damaligen Lehre, welche unter der Gegenwärtigkeit der angedrohten Gefahr die Besorgnis sofortiger Verwirklichung verstand.116 Die Beschränkung der Drohung auf eine solche mit gegenwärtiger GeMotive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 134 f., 168 ff. Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 134 f. 112 Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 135 ff.; Goltdammer II, § 230, S. 512 f. 113 Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 135: „. . . ; indem er den Willen des Anderen durch Bedrohung mit einer gegenwärtigen Gefahr oder durch wirkliche Zufügung von Übeln, dahin bestimmt, daß er . . .“, S. 139 f. 114 Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 135, 139 f. 115 Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 140. 116 Vgl. Fn. 71. 110 111
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fahr wurde damit begründet, dass nur in solchen Fällen deren Zwangswirkung derjenigen der physischen Gewalt entspreche, dieser dann aber auch sowohl unter dem Aspekt der Wahrung des öffentlichen Friedens als auch vom subjektiven Unwertgehalt her völlig gleichstehe117; die Gefährlichkeit der gegenwärtigen Drohung wurde sogar als häufig höher eingestuft als die der tatsächlich ausgeübten „vis ablativa“.118 Als entscheidend sah der Revisor in diesem Zusammenhang allein die Ernstlichkeit der Drohung, die Wahrscheinlichkeit ihrer Erfüllung, an. Insoweit sollte nur die Drohung mit gegenwärtiger Gefahr der körperlichen Gewalt entsprechen.119 Als besonders wichtig wurde zudem der ebenfalls der Lehre entstammende Aspekt angesehen, dass nur im Falle der Gegenwärtigkeit im Sinne einer Androhung sofortiger Vollziehung die Möglichkeit der anderweitigen Abwendung der Gefahr – insbesondere durch obrigkeitliche Hilfe – gänzlich ausscheide.120 Eine Beschränkung der Drohung auf Leib oder Leben wurde aber ausdrücklich als zu eng abgelehnt.121 Als besonders bedeutsam ist überdies hervorzuheben, dass dem Opferverhalten nach dem Willen des Gesetzgebers keine Bedeutung zukommen sollte; es war demnach für das Vorliegen eines Raubes gleichgültig, ob es sich um eine Wegnahme beweglicher Sachen oder um eine abgenötigte Herausgabe handelte.122 Nach alledem wurde sowohl die Wegnahme als auch die abgenötigte Herausgabe fremder beweglicher Sachen im Falle der Anwendung von „vis absoluta“, von „vis compulsiva“ oder auch von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr, verstanden im Sinne einer Besorgnis sofortiger Verwirklichung, dem Raub unterstellt.123 Die als solche bezeichnete „Gefährliche Erpressung“124 hatte nach der Konzeption des Gesetzgebers folglich nur den Zweck, die Anwendung der eben beschriebenen Raubmittel zur Erlangung von Rechten zu erfassen.125
Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 140 f., 171. Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 133, 141, 172. 119 Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 172, 175 f. 120 Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 172, 176 f. 121 Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 139 f., 172; vgl. Goltdammer II, § 230, S. 515. 122 Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 135: “ . . . indem er den Willen des Anderen . . . , dahin bestimmt, daß er selbst dem Verletzenden die Sache herausgebe, oder die Besitznahme ihm möglich mache.“, S. 138 f.; vgl. Goltdammer II, § 230, S. 515 f. 123 Vgl. Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 168. 124 Entwurf 1828, Zweiter Titel, Eilfter Abschnitt, § 63, Schubert / Regge I / 1 S. 347: „Wer durch thätliche Mißhandlung, oder durch Drohungen gegenwärtiger Gefahr, von dem Anderen die Einräumung oder Entsagung von Rechten, oder den Erlaß von Verbindlichkeiten erpreßt, ist mit Zuchthaus zu belegen“. 125 Vgl. Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 168, 171 ff.; Goltdammer II, § 236, S. 525 f. 117 118
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Unter die einfache Erpressung126 als nach dieser Konzeption subsidiären Tatbestand sollten schließlich all diejenigen Fälle zu subsumieren sein, die sich kumulativ sowohl gegen das Vermögen als auch gegen die Willensfreiheit richteten, aber weder unter den Raub noch unter die „Gefährliche Erpressung“ fielen.127 Dies war nach dem eben Gesagten dann der Fall, wenn – gleichgültig welches Vermögensobjekt betroffen war – mit einem künftigen Übel gedroht wurde, wobei das künftige Übel als Synonym für „künftiger Nachtheil“ oder „künftige Gefahr“ angesehen wurde und als direktes Gegenstück zur „gegenwärtigen Gefahr“ als Besorgnis sofortiger Verwirklichung konzipiert war.128 Diese Sicht des Revisors blieb in der Folge nicht auf den ersten Entwurf beschränkt, sondern bildete auch, jedenfalls hinsichtlich der qualifizierten Nötigungsmittel des Raubes, Grundlage der weiteren Entwürfe, wenngleich in einzelnen Teilbereichen bedeutsame Änderungen erfolgten.129 Bereits im Entwurf von 1830130 und in der Folge auch in allen weiteren Entwürfen wurde, unter Streichung der vom Revisor vorgeschlagenen Umschreibung, der Begriff der Gewalt gegen eine Person wieder ausdrücklich in den Raubtatbestand aufgenommen, weil die Gesetzes-Revisions-Kommission diesen Begriff – insbesondere unter Rückgriff auf die Ansätze in der Lehre – hinsichtlich seiner Bestimmtheit für vorzugswürdig erachtete.131 Durch die Fassung des Entwurfes von 1833132 wurde außerdem die Drohung mit gegenwärtiger Gefahr im Anschluss an die ganz herrschende Lehre und in Einklang mit der Sicht des Allgemeinen Landrechts und weiterer Territorialgeset126 Entwurf 1828, Zweiter Titel, Eilfter Abschnitt, § 61, Schubert / Regge I / 1 S. 347: „Wer durch Bedrohung mit einem künftigen Übel Jemanden nöthigt, ihm bewegliche Sachen zu überlassen, Rechte einzuräumen, Rechten zu entsagen, oder Verbindlichkeiten zu erlassen, um dadurch rechtswidrigen Vortheil zu erlangen, soll mit Arbeitshausstrafe belegt werden“. 127 Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 166: „Da jedoch gewiß jede Art von rechtswidrigem Eingriffe in fremdes Vermögen, wenn er mit Beschränkung der Freiheit, mit Verletzung von Gesundheit oder Leben verbunden ist, dem Strafgesetze unterliegen muß, . . . so scheint es mir nötig, die Erpressung als Verbrechen so weit auszudehnen, als nicht die Strafe des Raubes solche verbrecherischen Handlungen trifft“. 128 Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 168 f., 173 f. 129 So werden etwa die Motive zum Entwurf von 1833 – jedenfalls was den Raub anbelangt – ausdrücklich als „Ergänzung“ zu denjenigen des Revisors von 1828 bezeichnet, vgl. Motive 1833, Schubert / Regge I / 3 S. 562. 130 § 367, Schubert / Regge I / 2, S. 528: „Wer durch Gewalt an der Person oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr einen Diebstahl begeht, wird als Räuber mit Zwangsarbeit bis zu 20 Jahren belegt“. 131 Vgl. Goltdammer II, § 230, S. 513. 132 § 444, Schubert / Regge I / 3, S. 87: „Wer, um einen Diebstahl zu vollbringen, an dem Inhaber der Sache oder an demjenigen, welcher nach § 416 dem Inhaber gleich zu achten, oder an Angehörigen desselben, oder an Personen, welche, wegen ihrer Anwesenheit am Orte der That, den Diebstahl hindern konnten, Gewalt verübt oder unter gegenwärtiger Gefahr androhet, ist des Raubes schuldig, er habe seine Absicht erreicht oder nicht“.
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ze auf diejenige „gegen die Person“ beschränkt, da diese dem Unwertgehalt nach als schwerwiegender eingestuft wurde.133 Diese Betrachtungsweise herrschte auch in den Beratungen über den Entwurf von 1836 vor.134 Der Begriff „Drohung gegen die Person“ wurde aber insoweit eingeengt, als, auch diesbezüglich der Lehre und vielen Territorialgesetzgebungen folgend, nur die „gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben“, nicht aber diejenige für die Freiheit als solche erfasst sein sollte.135 Die hieraus resultierende Fassung des Entwurfs von 1843136 wurde hinsichtlich der Raubmittel in der weiteren Revision inhaltlich kaum noch verändert137, so dass die ihr zugrunde liegenden Erwägungen auch für die endgültige Gesetzesfassung von 1851138 gelten müssen.139
6. Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich 1871 Da nun schließlich aber auch die Motive zu dem Entwurf des Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund keine abweichenden Überlegungen in Bezug auf die Raubmittel enthielten, sondern sich insoweit vielmehr ausdrücklich auf das Preußische Strafgesetzbuch beriefen140, und das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund von 1870 unter geringfügigen redaktionellen Anpassungen zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1871 wurde141, müssen diese Erwägungen auch als Wille des Gesetzgebers von 1871 angesehen werden.142 Vgl. Motive 1833, Schubert / Regge I / 3 S. 565; Goltdammer II, § 230, S. 515. Dessen § 568, Schubert / Regge I / 3 S. 973, fast wortgleich mit § 444 des Entwurfs 1833 war. 135 Vgl. Beratungs-Protokolle 1842, Schubert / Regge I / 4,2 S. 678 f. 136 § 436, Schubert / Regge I / 5 S. 73: „Einen Raub begeht derjenige, welcher gegen eine Person Gewalt verübt, oder Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben anwendet, um . . . einen Diebstahl auszuführen . . .“. 137 Vgl. § 265 Entwurf 1845, Schubert / Regge I / 6,1 S. 55 und § 280 Entwurf 1847, Schubert / Regge I / 6,2 S. 788. 138 Vgl. Fn. 14. 139 Vgl. insbesondere zum Erfordernis der „gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben“ Goltdammer II, § 230, S. 515: „. . . Gefahr unverzüglicher Vollziehung . . .“ und „. . . Erforderniß augenblicklicher Gefahr . . .“ sowie § 234, S. 523: „. . . Gefahr augenblicklicher Vollziehung . . .“; vgl. außerdem zur weitgehend gleich lautenden Bestimmung des Bayerischen Strafgesetzbuchs von 1861 Schweisthal, S. 134 f. und Motive zum Entwurf Bayern 1854, zu Artikel § 295, S. 107. 140 Motive 1869, § 227 (S. 168); vgl. Schwarze § 249, S. 557 f.; Rubo § 249 N. 1, S. 851 f. 141 Vgl. das Gesetz betreffend die Redaktion des Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund als Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (RGBl. 1871, S. 127); Rubo S. 169 ff., 175 ff.; Schubert GA 1982, 191; Rüdorff Vorbemerkung, S. IX ff, Einleitung, S. 3 ff.; Jescheck / Weigend § 10 VIII (S. 97); Hippel I S. 345. 142 Ähnlich sieht dies wohl auch Rüdorff Vorbemerkung, S. IX ff. 133 134
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7. Zusammenfassung Zusammenfassend ist nach alledem hinsichtlich des historischen Ursprungs der Raubmittel festzuhalten, dass zum Zeitpunkt der Schaffung des noch heute gültigen Gesetzeswortlautes des § 249 StGB sowohl der Gesetzgeber selbst als auch die ganz herrschende Ansicht in der Lehre davon ausging, dass einerseits der Begriff der Gewalt gegen eine Person sowohl „vis absoluta“ als auch „vis compulsiva“ umfasste und andererseits – was die Aktualität des angedrohten Übels anbelangte – die hiervon streng zu unterscheidenden Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nur in solchen Fällen angekündigter Körperverletzung oder Tötung vorliegen könnten, in denen die Besorgnis sofortiger Vollziehung bestand.
II. Die Entwicklung der Nötigungsmittel im Rahmen der räuberischen Erpressung Anders als der Raub ist die räuberische Erpressung nach §§ 253, 255 StGB – wie ihr Grundtatbestand, die Erpressung, allgemein – keine gewachsene Bestimmung, sondern wurde in ihrer heutigen Form erst im 19. Jahrhundert entwickelt.143 In Übereinstimmung mit dem Raub beruht allerdings auch die Norm des § 255 StGB in ihrer derzeit gültigen Gesetzesfassung144 auf der entsprechenden Vorschrift des Preußischen Strafgesetzbuches von 1851145, wohingegen der Wortlaut der einfachen Erpressung gemäß § 253 Abs. 1 StGB146 selbst in der Zeit seit 1871 erhebliche Veränderungen erfahren hat.147
143 Maurach / Schroeder / Maiwald § 42 I. A. (S. 545); SK-Günther § 253 Rn. 1; Schaffstein, Michaelis-FS S. 281, 290, 293; Tausch Jahrbuch 2001, 329, 333; Lüderssen GA 68, 257, 262. 144 § 255 StGB in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I 1998, S. 3322, 3386): „Wird die Erpressung durch Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben begangen, so ist der Täter gleich einem Räuber zu bestrafen“. 145 Maurach / Schroeder / Maiwald § 42 I. A. (S. 545); Tausch Jahrbuch 2001, 329, 355 f.; NK-Kindhäuser § 253 Rn. 1; SK-Günther vor § 249 Rn. 17, § 253 Rn. 1; Wächter GS 27, 161, 170 f.; Lüderssen GA 68, 257, 267; der Tatbestand des § 255 StGB selbst blieb von 1871 bis zum heutigen Tage unverändert (MüKo-Sander § 255 Rn. 3; vgl. RGBl. 1871, S. 127, 175). 146 § 253 Abs. 1 StGB in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I 1998, S. 3322, 3386): „Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt und dadurch dem Vermögen des Genötigten oder eines anderen Nachteil zufügt, um sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“. 147 Auf die qualifizierten Nötigungsmittel des § 255 StGB hatten diese Änderungen allerdings keinerlei Einfluss; vgl. zur Entwicklung der Erpressung seit 1871 NK-Kindhäuser § 253
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel
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1. Römisches Recht Die späte Aufnahme der Vorschriften über die Erpressung in das deutsche Strafrecht ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass auch im römischen Recht keine Vorschrift existierte, welche die uns heute als Erpressung bekannten Fälle in strafrechtlicher Hinsicht generell erfasst hätte. Nur einige Sonderfälle waren fragmentarisch durch das auf D 47, 13, 1 und 2 beruhende Institut der „concussio“148 erfasst.149 Kennzeichen der „concussio“ war indes, dass die Nötigungswirkung durch den in Vermögensvorteilserlangungsabsicht ausgeübten Missbrauch von Amtsgewalt erzielt wurde. Dies konnte sowohl dadurch, dass ein Amtswalter seine Stellung zu Drohungen missbrauchte, als auch dadurch geschehen, dass eine Privatperson sich ein öffentliches Amt anmaßte oder einen in Wahrheit nicht bestehenden öffentlichen Befehl vorspiegelte.150 Außerdem beinhaltete die „concussio“ nach richtiger Ansicht auch den Fall, dass eine Privatperson die Amtsgewalt quasi in mittelbarer Täterschaft missbrauchte, indem sie mit der Erhebung einer unbegründeten Anklage oder der Verweigerung oder Vornahme einer falschen Zeugenaussage in einer Kriminalsache drohte.151 In allen Erscheinungsformen war demRn. 1; LK-Herdegen § 253 Entstehungsgeschichte; SK-Günther vor § 249 Rn. 4, § 253 Rn. 1; MüKo-Sander § 253 Rn. 5; Hagel S. 580 ff.; Tausch Jahrbuch 2001, 329, 376 ff. 148 Abgesehen von diesen Sonderfällen konnten jedenfalls Drohungen von Privatpersonen selbst dann, wenn sie einen Vermögensverlust auf Seiten des Bedrohten und einen entsprechenden Vermögensvorteil des Drohenden zur Folge hatten – sofern sie nicht ausnahmsweise unter dem Gesichtspunkt der „actio de vi bonorum raptorum“, dem crimen falsum oder jedenfalls nach den julischen Gewaltgesetzen öffentlicher Strafe zugänglich waren (vgl. oben I. 1.) – nur über die privatrechtliche „actio quod metus causa“ mit einer Privatstrafe geahndet werden (vgl. Busse S. 12; Glaser S. 34 f., 41; Rein S. 344); vgl. außerdem ausführlich zur Entwicklung des Römischen Rechts vor Einführung der „concussio“ in der Kaiserzeit des 2. Jahrhunderts n. Chr. Insbesondere im Hinblick auf das Amtsdelikt des „crimen repetundarum“ Busse S. 12 ff.; Mommsen S. 705 ff.; Rein S. 611 ff.; Tausch S. 47 ff. m. w. N. 149 Tausch S. 49; ders. Jahrbuch 2001, 329, 335; Gnad S. 4 f.; Seesko S. 51; Glaser S. 35 ff.; Schaffstein, Michaelis-FS S. 281, 290; Cucumus ArchCrimR NF 1834, 55, 58 f.; Busse S. 14 f.; Burchardi ArchCrimR NF 1846, 271, 274 f.; Berner Lehrbuch § 166 (S. 330); Mittermaier Annalen 8, 205, 207, 214 ff.; Köstlin S. 408; Binding BT 1 S. 372; Mommsen S. 716 f.; weiter Temme S. 84 ff., der bereits die „concussio“ des Römischen Rechts als allgemeines und subsidiäres Auffangdelikt für alle Fälle der Anwendung psychischer Gewalt bzw. von Drohungen in Vermögensvorteilserlangungsabsicht ansah. 150 Tausch S. 49; ders. Jahrbuch 2001, 329, 335; Seesko S. 51; Glaser S. 36 f., 39 ff.; Maurach / Schroeder / Maiwald § 42 I. A. (S. 545); Binding BT 1 S. 372; Gnad S. 4; Berner Lehrbuch § 166 (S. 330); Schaffstein, Michaelis-FS S. 281, 290, 293; Busse S. 14 f., 39; Rein S. 344; Liszt § 140 (S. 471); Henke S. 178; Temme S. 79, 81, 85; VD VI-Frank 1. § 2 I. (S. 6); Mommsen S. 717. 151 Tausch S. 49; ders. Jahrbuch 2001, 329, 335; Glaser S. 36 f., 39 ff.; Wächter Strafrecht § 116 (S. 361); Liszt § 140 (S. 471); Böhmer Observationes, Observatio III ad Quaestionem XC. N. 70 (S. 78); Gnad S. 4; Rein S. 344; Landmesser S. 32; Berner Lehrbuch § 166 (S. 330); weiter Maurach / Schroeder / Maiwald § 42 I. A. (S. 545); Köstlin S. 413; Temme S. 80, nach denen auch die berechtigte Androhung einer Kriminalklage Fall der „concussio“ gewesen sein soll; noch weiter geht Mittermaier, Annalen 8, 205, 207, 209, 214 f., 217 (vgl.
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
nach nur die Drohung, nicht aber die Anwendung körperlicher Gewalt taugliches Nötigungsmittel.152 Außerhalb des Anwendungsbereiches der „concussio“ wurden einige Fälle der heutigen Erpressung, soweit sie unter Anwendung von offener Gewalt gegen eine Person erfolgten, als Erscheinungsform des „crimen vis“ durch die „leges Iuliae de vi“ oder die „actio vi bonorum raptorum“153 erfasst.154
2. Germanisches und frühes deutsches Recht Auch das frühe Recht im deutschen Sprachraum kannte die Erpressung überhaupt nicht, was sich vor allem daran zeigt, dass diese in der CCC nicht geregelt war, ja dort nicht einmal erwähnt wurde.155 Eine Bestrafung der Erpressung als „concussio“ war vielmehr ausschließlich über die Generalklausel des Art. 105 CCC156 mit ihrem Verweis auf die kaiserlichen Rechte, also vor allem auch auf das römische Recht, möglich.157 Daher beschränkte sich die gemeinrechtliche Strafrechtswissenschaft in der Zeit nach Erlass der „Carolina“ – sofern sie sich überhaupt mit der Erpressung beschäfunten 4. c)). Dieser äußerst begrenzte Umfang der „concussio“ nach Römischem Recht ist auch der Grund dafür gewesen, warum Kress (vgl. oben Fn. 45) als Begriff für die – dem Bereich der concussio, nicht des Raubes zugehörigen – Drohung mit einem künftigen Übel denjenigen der „minae juris“ wählte und auch die von Böhmer gewählten Beispiele für Drohungen mit künftigen Übeln diesem Bereich entstammten (vgl. Fn. 46, 55), obwohl dieser neben den „minae juris“ auch die „minae facti“ dem Bereich der Concussion zuordnete; vgl. Schaffstein, Michaelis-FS S. 281, 293; Burchardi ArchCrimR NF 1846, 271, 276, 278; ferner unten Fn. 168, 170. 152 Rein S. 344 f.; Tausch Jahrbuch 2001, 329, 347; Glaser S. 41; Gnad S. 4; Busse S. 16; Temme S. 8; Lüderssen GA 68, 257, 263. 153 Vgl. oben I. 1. 154 Tausch Jahrbuch 2001, 329, 350, 353 m. w. N.; Cucumus ArchCrimR NF 1834, 55, 59; Glaser S. 25, 31 ff., 41; Busse S. 12, 16; Rein S. 344, 747 f., 752, 754 f.; Henke S. 132; John ArchCrimR NF 1854, 60, 82. 155 Vgl. Schaffstein, Michaelis-FS S. 281, 290 f.; Maurach / Schroeder / Maiwald § 42 I. A. (S. 545); Gnad S. 5; Tausch S. 50 f.; Busse S. 21 f., 28 ff., 38 f.; Liszt § 140 (S. 471); Burchardi ArchCrimR NF 1846, 271, 273 f.; VD VI-Frank 1. § 2 I. (S. 5), III. (S. 11); Henke S. 180 Fn. 5, 182; a.A. hinsichtlich Art. 40 Abs. 2 CCC Radbruch, Pappenheim-FS S. 37 ff. 156 „Item ferner ist zuuermercken, inn war peinlichen fellen oder verklagungen, die peinlichen straff inn disen nachuolgenden artickeln nit gesetzt oder gnugsam erklert oder verstendig wer, sollen Richter vnd vrtheyler (so es zu schulden kompt) radts pflegen, wie inn solchen zufelligen oder vnuerstendtlichen fellen, vnsern Keyserlichen rechtenn vnd diser vnser ordnung am gemessigsten gehandelt vnnd geurtheylt werden soll, vnd alßdann jre erkantnuß darnach thun, Wann nit alle zufellige erkantnuß vnd straff inn diser vnser ordnung gnugsam mögen bedacht und beschriben werden“. 157 Vgl. VD VI-Frank 1. § 2 I. (S. 5); Busse S. 38; Gnad S. 5 Fn. 30; Tausch S. 50.
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel
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tigte – lange Zeit auf eine bloße Rezeption der „concussio“ des Römischen Rechts.158
3. Die Sichtweise von Carpzov Eine Sonderstellung nahm hingegen Carpzov159 ein, der die „concussio“ in einem Zuge mit dem Raub behandelte und ihr einen deutlich weiteren Anwendungsbereich als den der eng gefassten Einzelfälle der römisch-rechtlichen Digesten zumaß. Wenngleich er sich bei seiner Definition der Concussion160 noch an den römischen Vorgaben orientierte, so eröffnete er dennoch eine für diese Zeit völlig neue Sicht, indem er die Frage aufwarf, ob nicht in denjenigen Fällen, in denen Straßenräuber ihrem Opfer die Beute nicht gewaltsam abnahmen, sondern sie sich von ihm unter Anwendung von Drohungen herausgeben ließen, statt eines Raubes Concussion anzunehmen sei.161 Carpzov bejahte Letzteres grundsätzlich, entschied sich aber für eine pragmatische Lösung des Problems. Da er diese Situation als dem Raub sehr ähnlich ansah, konnte seiner Ansicht nach in jedem Falle die Strafe des Raubes zur Anwendung kommen.162
4. Spätere gemeinrechtliche Doktrin Carpzovs Ansatz wurde jedoch in der späteren gemeinrechtlichen Doktrin, welche die Erpressung ohnehin nur mit sehr viel Zurückhaltung behandelte, nicht weiter aufgegriffen. Diese blieb lange Zeit den Grundsätzen des römischen Rechts zur „concussio“ verhaftet.163 Einige diesem entstammende Besonderheiten wurden auf diese Weise noch bis weit in das 19. Jahrhundert hineingetragen.
158 So definierte beispielsweise Theodoricus, Caput III Aphor. XIII (S. 390), die „concussio“ ganz in der römisch-rechtlichen Tradition: „Concussio, . . . est pecuniae per terrorem praetextu juris alicujus injectum, extorsio: . . .“; vgl. Mittermaier Annalen 8, 205, 211; Köstlin S. 409 m. w. N.; Schaffstein, Michaelis-FS S. 281, 291; Gnad S. 5. 159 Pars II Qu. XC n. 66 ff. (S. 293); vgl. Glaser S. 57; Mittermaier Annalen 8, 205, 211; VD VI-Frank 1. § 2 IV. (S. 12); Schaffstein, Michaelis-FS S. 281, 291 f.; Burchardi ArchCrimR NF 1846, 271, 277 f.; Busse S. 37, 43; Tausch S. 51. 160 A. a. O. n. 67 (S. 293): „. . . crimen concussionis appellatur, quum quis judicii, Magistratus, alicujusve potestatis, quam habet, metu, aut alio terrore, pecuniam extorquet, . . .“. 161 A. a. O. n. 66 (S. 293): „Accidit enim saepe, ut grassatores e manibus viatorum nil prorsus vi rapiant, eos tamen minis compellant, ut pecuniam aliasveres coacti ipsiment offerant, atque exhibeant, & sic grassatoribus spolium praebeant.“, n. 68 (S. 293): „Quis enim, quaeso, negabit, eum vi rapere, qui armis, minis, metu, atque terrore injecto aliquid extorquet? Quis etiam inficias ibit, eum spoliari argento suo, qui invitus, vi metuque coactus, id offert, quo vitam redimat?“ 162 A. a. O. n. 68 f. (S. 293). 163 Vgl. Schaffstein, Michaelis-FS S. 281, 292 f.; Seesko S. 51; Temme S. 78 ff., 88.
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
So wurde teilweise die Anmaßung von Amtsgewalt als wesentlicher Bestandteil einer Erpressung angesehen und aus diesem Grund bei Privatpersonen das Element der Täuschung für charakteristisch gehalten, weshalb einige Autoren die „concussio“ dem Bereich des „crimen falsi“ zuordneten.164 Auch wurde häufig nur die Drohung, nicht dagegen die Gewalt als taugliches Erpressungsmittel anerkannt165, während andere die Erpressung auf den Bereich der Sacherpressung beschränkten.166 Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die gemeinrechtliche Lehre in zwei Lager gespalten war, von denen das eine, Doneau’s Ansicht167 folgend, einen engen, der römisch-rechtlichen „concussio“ entsprechenden Begriff der Erpressung vertrat168, während das andere einem weiteren, auf Cujas169 zurückgehenden Erpressungstatbestand den Vorzug gab.170 Trotz dieser – wenn auch nur moderaten – Weiterentwicklung der Erpressung fand sich das Institut der räuberischen Erpressung in den Werken der damaligen Lehre nur äußerst selten. Dennoch gab es einige Autoren, welche die Entwicklung der Erpressung in diesem Bereich maßgebend vorantrieben, wenn auch die endgültige Etablierung der Partikulargesetzgebung vorbehalten blieb.171 164 Feuerbach § 430 (S. 698 f.), a.A. aber Mittermaier in Feuerbach Note I, II, III, V (S. 699 f.); Abegg § 208 f. (S. 300 f.); Martin § 198 (S. 474 f.); Grolman § 300 (S. 316); Meister § 238 (S. 305 f.); Tittmann § 494 (S. 491 f.); vgl. Henke S. 172; VD VI-Frank 1. § 2 II. (S. 7); Köstlin S. 409 Fn. 1; Burchardi ArchCrimR NF 1846, 271, 282; Gnad S. 5 f. 165 Abegg § 209 (S. 301 f.); Burchardi ArchCrimR NF 1846, 271, 280, 284 f., 295; Tittmann § 494 (S. 491 f.); vgl. Temme S. 84 ff., 94, 96 ff.; Lüderssen GA 68, 257, 263; Busse S. 41; Gnad S. 6; Tausch S. 52. 166 Vgl. Lüderssen GA 68, 257, 270 f.; VD VI-Frank 1. § 2 I. (S. 6) m. w. N.; Busse S. 39. 167 Lib. 15, Cap. 39 (S. 513): „Est autem concussio id maleficii genus, cum metu potestatis publicae nostrae vel alienae, aut judicii futuri illicite injecto, aliquid extorquetur ab alio, id agente, ut alicujus rei praestatione se eo metu liberet.“; vgl. Burchardi ArchCrimR NF 1846, 271, 276; Glaser S. 64; Busse S. 39. 168 Nach dieser Sicht sollten nur Drohungen im Sinne von „minae juris“ den Tatbestand der Erpressung erfüllen können; so etwa Kress Artic. 126 § 4 (S. 391 f.); Quistorp § 195 (S. 299 f.); Wächter § 144 (S. 47 f.); Meister § 238 (S. 305 f.); Martin § 198 (S. 474 f.); Feuerbach § 355 (S. 571), § 430 (S. 698 f.); Klein § 193 (S. 155), § 455 (S. 357); Tittmann § 494 (S. 491 f.); Roßhirt § 237 (S. 530 f.); Heffter 364. f. (S. 290 f.); Abegg § 208 f. (S. 300 f.); Grolman § 300 (S. 316); vgl. VD VI-Frank 1. § 2 II. (S. 7 f.); Köstlin S. 409 ff.; Burchardi ArchCrimR NF 1846, 271, 278 ff.; Glaser S. 64 f.; Busse S. 41. 169 S. 868 D: „De concussione autem, id est, de terrore injecto, pecuniae, vel rei alicujus extorquendae causa, . . .“; vgl. Burchardi ArchCrimR NF 1846, 271, 276; Glaser S. 65; Busse S. 39. 170 Über den Bereich der „minae juris“ hinaus wurden von den meisten späteren gemeinrechtlichen Autoren indes auch die „minae facti“ als taugliche Nötigungsmittel der Erpressung anerkannt. So etwa Böhmer Meditationes Art. 126 § 4 (S. 519 f.); Henke S. 173 ff., Temme S. 84 ff.; Mittermaier in Feuerbach § 430 Note II, III, V (S. 699 f.); ders. Annalen 8, 205, 217 ff.; Köstlin S. 409 ff.; Berner Lehrbuch § 166 (S. 330 f.); vgl. VD VI-Frank 1. § 1 I. (S. 3), § 2 II. (S. 7 f.); Burchardi ArchCrimR NF 1846, 271, 278 ff.; Glaser S. 65 f. 171 Vgl. unten 5.
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel
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a) Als ältester dieser Autoren ist Klein172 zu nennen. Obwohl er – wie eben gezeigt – insoweit an den Grundsätzen des Römischen Rechts festhielt, als er die Concussion auf den Fall des Missbrauchs oder des Vortäuschens von Amtsgewalt beschränkte173, ging er auf der anderen Seite dennoch deutlich über dessen Sichtweise hinaus. So rechnete er die Concussion zu den Gewalttätigkeiten und bezeichnete folglich auch Gewalt ausdrücklich als taugliches Nötigungsmittel.174 Außerdem war Klein – soweit ersichtlich – nach Carpzov der erste deutschrechtliche Autor, der Raub und Concussion nach dem abgenötigten Opferverhalten – hier bloße Duldung, dort Vornahme einer eigenen willensgesteuerten Handlung – unterschied und auf dieser Grundlage zu einer klaren Abgrenzung von Raub und der seiner Ansicht nach subsidiären Concussion gelangte.175 b) Auch Henke176 – augenscheinlich bereits durch Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch von 1813177 beeinflusst – entwarf einen Erpressungstatbestand, der deutlich modernere Züge trug als die Ansätze der übrigen Autoren seiner Zeit. Indem er auf der einen Seite die physische Gewalt als Erpressungsmittel178 und auf der anderen Seite sowohl eine Sach- als auch eine Forderungserpressung zuließ179, war er der erste gemeinrechtliche Autor, der de facto – wenn auch noch nicht unter diesem Namen – die räuberische Erpressung anerkannte. Eine Unterscheidung von Raub und Erpressung nach Maßgabe des Kriteriums Hingabe oder Wegnahme ausdrücklich ablehnend180 grenzte Henke beide Deliktsformen mittels eines Zusammenspieles von Tatobjekt und Tatmittel ab, wobei er von einer grundsätzlichen Subsidiarität der Erpressung ausging.181 Sofern eine bewegliche Sache betroffen war, sollte eine Erpressung nur im Fall der „minae juris“ vorliegen, da die Anwendung von physischer Gewalt oder von Drohungen mit unmittelbar bevorstehender Gefahr für Leib oder Leben zur Annahme eines Raubes führen. Handelte es sich aber beim Tatobjekt nicht um eine bewegliche Sache, sollten sowohl die Anwendung körperlicher Gewalt als auch Drohungen in Form von „minae juris“ und „minis facti“ den Tatbestand der Erpressung erfüllen können.182 Dieser § 193 f. (S. 154 ff.), § 455 (S. 357); vgl. Burchardi ArchCrimR NF 1846, 271, 282 f. Vgl. oben Fn. 168. 174 Klein § 193 (S. 154 f.); vgl. Glaser S. 61 f.; Schreiner, Hitzigs Zeitschrift 1827, 103, 104, 109. 175 Klein § 194 (S. 156): „Bey der Concussion ist zu unterscheiden, ob dadurch eine Willensäußerung des Andern, oder nur die bloße Duldung einer Handlung bewirkt worden. Im letzteren Fall kann die Concussion nach Beschaffenheit der angewandten Mittel in einen Diebstahl oder in einen Raub ausarten.“; vgl. auch Glaser S. 61 f. 176 §§ 166 f. (S. 172 ff.). 177 Vgl. dazu unten 5. b). 178 Henke S. 173 f., 176 f., 182; vgl. Burchardi ArchCrimR NF 1846, 271, 281; Gnad S. 6. 179 Henke S. 175 f. 180 Henke S. 177. 181 Henke S. 179. 182 Henke S. 176 f. 172 173
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
Gedanke, durch das Instrument der Erpressung Strafbarkeitslücken zu schließen, zeigte sich auch deutlich daran, dass die Erpressung wie ein Raub bestraft werden sollte, wenn der Täter Raubmittel anwandte, aufgrund der Beschaffenheit des Tatobjektes aber eine (räuberische) Erpressung vorlag.183 c) Einen sehr ähnlichen Ansatz entwickelte auch Mittermaier184. Er stütze sich dabei allerdings maßgeblich auf seine Annahme185, schon „nach den römischen Stellen“ habe die „concussio“ all jene Fälle erfasst, in denen eine Privatperson eine andere durch „thätliche Gewalt oder durch solche mit der Gefahr unverzüglicher Verwirklichung verbundene(n) Drohungen mit Tödtung oder schwerer körperlicher Mißhandlung“ in Vermögensvorteilserlangungsabsicht genötigt habe, sofern es sich nicht um einen Fall des Raubes gehandelt habe.186 Indem er auf dieser Grundlage187 die Anforderungen an die Nötigungsmittel des Raubes und der räuberischen Erpressung einerseits und der einfachen Erpressung andererseits präzisierte und darüber hinaus auch nach dem verfolgten Zweck bzw. dem betroffenen Gegenstand differenzierte, erreichte er eine klare Abgrenzung zwischen diesen Deliktsformen.188 d) Eine sehr modern wirkende Sicht vertrat auch Köstlin189, der Mittermaiers Ansatz grundsätzlich billigte, sich aber entschieden gegen dessen Ansicht wandte, ein entsprechendes Differenzierungskriterium ergebe sich bereits aus den Quellen des Römischen Rechts.190 Seiner Auffassung nach war es vorzugswürdig, „überhaupt den Buchstaben des römischen Rechts hier als Fessel nicht gelten“, sondern anstatt dessen „nur das systematische und praktische Bedürfnis entscheiden“ zu lassen. Daher hielt er es für „offenbar richtiger, die Erpressung als das den Raub ergänzende Verbrechen des mittelst Verletzung der Freiheit ausgeführten Angriffs auf das Vermögensrecht gerade soweit auszudehnen, als die Tragweite dieses Begriffs reicht“.191 Eine Erpressung war demnach jede „Erstrebung eines Vermögensvortheils . . . mittelst Zufügung oder Bedrohung mit sofort auszuübender körperlicher Gewalt gegen Leib oder Leben, sofern es sich nicht um die Erlangung des Besitzes einer Sache handelt (da hier Raub vorliegt), außerdem durch jede sonstige kompulsive Gewalt, namentlich auch durch schriftliche und überhaupt nicht sofort auszuführende DroHenke S. 182. Annalen 8, 205, 214 ff. 185 Welche im Ergebnis aber wohl unzutreffend war; vgl. sogleich 4. d). 186 Mittermaier Annalen 8, 205, 217. 187 Es zeigt sich auch deutlich, dass Mittermaier bereits stark durch die Arbeiten der territorialen Gesetzgeber, v. a. durch die Bayerischen Entwürfe, beeinflusst war; vgl. etwa nur Mittermaier Annalen 8, 205, 222 Fn. 11. 188 Vgl. Mittermaier Annalen 8, 205, 214 ff., 220, 222 f. 189 S. 409 ff. 190 Köstlin S. 410, insbesondere Fn. 7. 191 Köstlin S. 411. 183 184
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel
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hungen aller Art (also durch solche Gewaltmittel, durch welche der Raub nicht begangen werden kann)“.192 Was die Strafe anbelangte, so war Köstlin der Ansicht, dass die Territorialgesetzbücher zu Recht „die Erpressung, soweit sie durch dieselben Mittel wie der Raub verübt (werde), einfach diesem gleich(setzten)“. 193
5. Partikulargesetzgebung Die endgültige Etablierung der Erpressung, vor allem die der räuberischen Erpressung, blieb aber trotz dieser Weiterentwicklung in der Lehre der Partikulargesetzgebung des 19. Jahrhunderts vorbehalten.194 a) Noch in den frühen territorialen Strafgesetzbüchern Deutschlands fehlte indes eine Bestimmung über die Erpressung völlig195, und selbst im ALR 1794 war sie in II, 20 §§ 1254, 1255 als „Concussionen“ und II, 20 §§ 1417, 1509, 1536, 1537 nur sehr unvollständig geregelt.196 Dennoch und trotz der Tatsache, dass die genannten Bestimmungen des ALR keine Definition der Erpressung gaben, sondern deren Begriff als bekannt voraussetzten, enthielt bereits der sich auf bewegliche Gegenstände beziehende ALR II, 20 § 1255197 mit seiner Differenzierung im Strafmaß je nach Beschaffenheit der angewandten Mittel eine erste Andeutung der räuberischen Erpressung. So wurde diese Vorschrift dann auch von der herrschenden Strafrechtspraxis in Preußen dahingehend verstanden, dass die Anwendung von Raubmitteln in bestimmten Fällen eine Erpressung darstellen könne und in diesem Fall mit der Strafe des Raubes des § 1188 zu belegen sei.198 Köstlin S. 410. Köstlin S. 414. 194 Liszt § 140 (S. 472); Tausch Jahrbuch 2001, 329, 333; Lüderssen GA 68, 257, 262; Schaffstein, Michaelis-FS S. 281, 290, 293; Busse S. 43. 195 So fasste etwa der Codex Juris Bavarici criminalis von 1751 die Erpressung als Teil des Raubes auf, vgl. Kreittmayr I, 2 § 19 Anm. c (S. 53): „Das neue Bayrische Recht macht unter Concutienten und Roboranten keinen Unterschied mehr, sondern scheret beede über einen Kamm ohne Distinction inter personas publicas & privatas. Seynd auch eben keine Drohungen mit Worten hierzu vonnöthen, sondern wann der Barbier mit dem Messer an der Gurgel eines Anlehen, oder der Bettler mit gespannter Pistole ein Allmosen gegehrt, so gehen die Facto pro verbis: . . .“; vgl. außerdem Köstlin S. 412; Busse S. 42. 196 Vgl. Burchardi ArchCrimR NF 1846, 271, 282 ff.; Temme S. 88 ff.; Köstlin S. 412; Mittermaier in Feuerbach § 430 Note VI (S. 700 f.); Mittermaier Annalen 8, 205, 227 f.; VD VI-Frank 1. § 2 III. (S. 11); Goltdammer II, § 234, S. 521; Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 167 ff.; Materielle Abweichungen, 231., Schubert / Regge I / 3 S. 208 f.; Glaser S. 70 f.; Busse S. 42 f. 197 „Ist jemand durch Concussionen genöthiget worden, Gelder oder Sachen ohne Vergeltung zu geben: so ist dergleichen Erpressung, nach Maaßgabe der dazu gebrauchten Mittel, gleich einem Diebstahle oder Raube zu bestrafen“. 198 Vgl. Burchardi ArchCrimR NF 1846, 271, 308 ff.; Schreiner, Hitzigs Zeitschrift 1827, 103, 113, 123 f.; Temme S. 95, der aber selbst anderer Meinung war; VD VI-Frank 1. § 2 III. 192 193
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
b) Als Meilensteine für das Entstehen des Tatbestandes der räuberischen Erpressung in dem uns heute bekannten Umfang müssen aber Art. 241, 242 des Bayerischen Strafgesetzbuchs von 1813199 angesehen werden.200 Zunächst fällt bei Betrachtung dieser Vorschriften ins Auge, dass ein Tatbestand der räuberischen Erpressung existierte, ja sogar im Gesetz vor der einfachen Erpressung geregelt war und als Erpressung „ersten Grad(es)“ bezeichnet wurde.201 Sehr deutlich wurde dabei die Lückenschließungsfunktion von Art. 241, welcher augenscheinlich den Zweck hatte, die Anwendung der Raubmittel zu im einzelnen umschriebenen, nicht dem Raub unterfallenden Zwecken vermögensrelevanter Art – vor allem zur Beeinträchtigung von Vermögensrechten – mit der Strafe des Raubes zu belegen.202 Der räuberische Erpresser sollte „einem Räuber gleich“ bestraft werden. Richtungweisend war aber auch die Unterscheidung zwischen den Tatmitteln von räuberischer und einfacher Erpressung – physische Gewalt und Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr203 für Leib oder Leben auf der einen und Drohungen mit künftigen Misshandlungen oder anderen im Einzelnen aufgezählten Nachteilen, denen keine Gegenwärtigkeit zukam, auf der anderen Seite.204 Diese Differenzierung sollte in der Folge die spätere Partikulargesetzgebung entscheidend beeinflussen. Zur Begründung fand sich die Erwägung, dass zwar auch Drohungen, die keine
(S. 10 f.); die Gegenmeinung stützte sich insbesondere auf die „Circularverordnung von 26sten Februar 1799“ (vgl. oben I. 5. b)) und die „Cabinetsorder vom 6. Mai 1825“, welche besagte, dass „die Strafgesetze des ALR für den Fall keine Festsetzung enthalten, wenn zur Erpressung von Geld oder anderer Vortheile eine lebensgefährliche Behandlung angedroht wird . . .“ (zitiert nach Burchardi ArchCrimR NF 1846, 271, 272), so Temme S. 95 ff.; Glaser S. 71; ebenso Busse S. 43. 199 Art. 241: „Wer durch thätliche Mißhandlung oder durch Drohung auf Leib oder Leben Jemanden zur Unterschrift, Ausstellung oder Auslieferung einer Urkunde, welche die Erwerbung von Rechten oder Tilgung von Verbindlichkeiten zum Inhalte hat; oder zur Auslöschung eines Schuldpostens, Rückgabe eines Schuldscheines, Ausstellung einer Quittung genöthiget, um sich auf diese Art zum Nachtheile dieses Andern oder eines Dritten einen rechtswidrigen Vortheil zu verschaffen, der ist einem Räuber gleich zu bestrafen.“; Art. 242: „Wer durch die Furcht künftiger Mißhandlungen, oder durch Bedrohung mit Verläumdungen, Klagen oder Denuntiationen, mit Ablegung oder Nichtablegung eines Zeugnisses, und mit andern dergleichen beängstigenden Zudringlichkeiten sich einen rechtswidrigen Vortheil zu erpressen sucht, soll nicht nur des erlangten Vortheils verlustig sein, sondern auch nach Größe erwiesener Bosheit, Schwere der Drohung und Wichtigkeit des beabsichtigten Vortheils in einjährige bis vierjährige Strafe des Arbeitshauses verfallen. Hat aber derselbe mit Mord oder Brand mündlich oder schriftlich gedroht, und sich dadurch einen Vortheil erpreßt, so ist er einem Räuber gleich zu strafen“. 200 Vgl. dazu Cucumus ArchCrimR NF 1834, 55, 60 ff.; Glaser S. 72 f. 201 Anmerkungen Bayern II, Anm. zu Art. 242, 243 (S. 174); vgl. VD VI-Frank 1. § 3 III. 2. (S. 17); Busse S. 55. 202 Vgl. auch Anmerkungen Bayern II, Anm. 1, 2, 6 zu Art. 241 (S. 170 f.); Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 170. 203 Vgl. oben Fn. 97 und Anmerkungen Bayern II, Anm. 1, 6 zu Art. 241 (S. 170 f.). 204 Vgl. Cucumus ArchCrimR NF 1834, 55, 62 f.; Glaser S. 73; Tausch Jahrbuch 2001, 329, 334 f.; Busse S. 52.
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel
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gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben in Aussicht stellten, eine gewisse Nötigungswirkung auf einen Menschen ausüben könnten, diese aber keinesfalls mit derjenigen des Einsatzes der Raubmittel vergleichbar sei.205 c) Die meisten deutschen Territorialgesetzbücher übernahmen die im Bayerischen Gesetzbuch enthaltene Differenzierung der Erpressungsmittel von „räuberischer“ und „gemeiner“ Erpressung im Grundsatz, ersetzten aber häufig sowohl die ausführliche Umschreibung der Nötigungsmittel als auch diejenige des abgenötigten Verhaltens bzw. des betroffenen Tatobjektes durch einen allgemeinen Begriff.206 Dabei blieb das Nötigungsmittel der Gewalt durchgehend der räuberischen Erpressung vorbehalten, während die einfache Erpressung nur mittels Drohungen begangen werden konnte.207 Zudem folgten die Territorialgesetzgeber der Strafandrohung des bayerischen Gesetzes jedenfalls insoweit, als sie beinahe durchgängig die räuberische Erpressung gleich dem Raub bestraften.208 Als Beispiele solcher Normen seien hier etwa Art. 314 des Strafgesetzbuches für das Königreich Württemberg von 1839, Art. 334, 335 des Criminalgesetzbuches für das Königreich Hannover von 1840 oder Art. 166 des Criminalgesetzbuches für das Herzogthum Sachsen-Altenburg von 1841 genannt.209 Bei einigen dieser territorialen Vorschriften trat schon dem Wortlaut nach die Auffangfunktion der Erpressung für vom Raub nicht erfasste Fälle deutlich hervor.210 Besondere Erwähnung soll an dieser Stelle auch das badische Gesetzbuch von 1845 finden, das sich in seinem § 417211 hinsichtlich der Tatmittel und des TatVgl. Anmerkungen Bayern II, Anm. zu Art. 242, 243 (S. 174). Vgl. Köstlin S. 413; Busse S. 52 ff. 207 Mit Ausnahme von § 98 des Strafgesetzes für das Kaiserthum Oesterreich von 1852, das die Erpressung allerdings unter dem Gesichtspunkt „der öffentlichen Gewaltthätigkeit“ erfasste; vgl. dazu Glaser S. 153 ff.; a.A. zu Unrecht Tausch, Jahrbuch 2001, 329, 346, 355, der davon ausgeht, dass in den „meisten . . . Partikularrechten“ die Gewalt in den Tatbestand der einfachen Erpressung aufgenommen worden sei; die Unrichtigkeit seiner Annahme erschließt sich, wenn man nicht nur den Tatbestand, sondern auch die Bestimmungen über die Strafandrohung der jeweiligen Vorschriften betrachtet, die bei der einfachen Erpressung ausnahmslos nur die Drohung erwähnten. 208 Vgl. Busse S. 54; Tausch Jahrbuch 2001, 329, 333; Köstlin S. 414. 209 Vgl. zum Wortlaut dieser Vorschriften sowie zu weiteren Nachweisen aus der Territorialgesetzgebung Lüderssen GA 68, 257, 263 f. Fn. 36; Mittermaier in Feuerbach § 430 Note VI (S. 701 f.); Glaser S. 74 ff.; Busse S. 52 sowie zu den diesen vorausgehenden Entwürfen Mittermaier Annalen 8, 205, 228 f. 210 Vgl. statt vieler nur Art. 166 des Criminalgesetzbuches für das Herzogthum SachsenAltenburg von 1841: „Wer, außer dem Falle des Raubes, Jemanden zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nöthiget, um sich oder Anderen einen rechtswidrigen Vortheil zu verschaffen, . . .“. 211 § 417 (Erpressung: 1. von Urkunden): „Wer einen Anderen, zum Nachtheil desselben, oder eines Dritten, zur Unterschrift, oder Ausstellung, oder zur Auslieferung, Abänderung, oder Vernichtung einer Urkunde, welche die Anerkennung, oder die Begründung, von Ver205 206
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
objekts eng an Art. 241 des Bayerischen Strafgesetzbuchs 1813 anlehnte, allerdings in seinem § 418212 insoweit über dieses hinausging, als es alle durch Raubmittel abgenötigten „Verfügungen über Vermögensrechte“ erfasste.213 Auch die in §§ 419 ff. geregelte einfache Erpressung nahm diese Erweiterung auf, entsprach hinsichtlich ihrer Tatmittel aber wiederum weitgehend Art. 242 des Bayerischen Gesetzbuchs 1813. d) Die Behandlung der Erpressung im Gesetzgebungsverfahren zum preußischen Strafgesetzbuch von 1851 wurde hinsichtlich des ersten Entwurfs des Revisors von 1828 bereits oben ausführlich dargestellt.214 Dessen Konzeption blieb aber hinsichtlich der hier interessierenden Fragen auch für die folgenden Entwürfe maßgebend. In späteren Entwürfen vorzufindende sprachliche Änderungen, wie etwa die Ersetzung der genauen Beschreibung des abgenötigten Verhaltens durch den allgemeineren Begriff „Handlung oder Unterlassung“, waren inhaltlich ohne Bedeutung.215 Selbst die geänderte Fassung der Drohung bei der einfachen Erpressung216 sollte nach der Konzeption des Gesetzgebers hinsichtlich der Bestimmung der Aktualität des angedrohten Übels als Unterscheidungskriterium zwischen einfacher und räuberischer Erpressung keine Änderungen herbeiführen.217 Außerdem wurde die noch heute vorzufindende Bestimmung über die Bestrafung des räuberischen Erpressers „gleich einem Räuber“, die im ersten Entwurf
bindlichkeiten in Ansehung von Vermögensrechten, oder die Tilgung solcher Verbindlichkeiten ausdrückt, durch thätliche Gewalt oder Drohungen der im § 410 bezeichneten Art, oder durch andere, zur Erregung begründeter Besorgnis für Leib oder Leben geeignete, Handlungen in der Absicht genöthigt hat, sich dadurch einen unrechtmäßigen Gewinn (§ 376) zu verschaffen, ist des Verbrechens der Erpressung schuldig und einem Räuber gleich zu strafen. 212 § 418 (2. Von anderen Rechtshandlungen): „Gleiche Strafe trifft denjenigen, der durch gleiche Mittel in gleicher Absicht Jemanden zu einer anderen Handlung genöthigt hat, welche demselben oder dritten Personen nachtheilige Verfügungen über Vermögensrechte enthält“. 213 Vgl. Anmerkungen Baden 1839, S. 116; Entwurf Baden 1840, Kommissionsbericht Nr. 8, S. 24; Thilo § 418 (S. 357 f.); Tausch Jahrbuch 2001, 337, 344 f. 214 Vgl. oben I. 5. e). 215 Vgl. Motive 1833, Schubert / Regge I / 3 S. 570 f.; Beratungs-Protokolle 1842, Schubert / Regge I / 4,2 S. 683 f.; Revision 1845, Zweiter Band, Schubert / Regge I / 5 S. 705 f.; Goltdammer II, § 234, S. 521 f., § 236, S. 525 f. 216 Von „durch Bedrohung mit einem künftigen Übel Jemanden nöthigt“ (Entwurf 1828, Zweiter Titel, Eilfter Abschnitt, § 61, Schubert / Regge I / 1 S. 347) in „dadurch zwingt oder zu zwingen versucht, daß er denselben schriftlich oder mündlich mit der Verübung eines Verbrechens oder Vergehens bedroht“ (§ 234 PrStGB 1851). 217 Beratungs-Protokolle 1842, Schubert / Regge I / 4,2 S. 683 f.; Revision 1845, Zweiter Band, Schubert / Regge I / 5 S. 705 f.; Verhandlungen 1846, 29., Schubert / Regge I / 6,1 S. 265; Motive 1847, Schubert / Regge I / 6,2 S. 941; Goltdammer II, § 234, S. 521, 523 f.; Beseler §§ 234 – 236, S. 446, 448 f.; Tausch Jahrbuch 2001, 329, 343 f.
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel
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noch gefehlt hatte, bereits in den Entwurf von 1830 aufgenommen und seit diesem Zeitpunkt ständig beibehalten.218 Man wird folglich davon ausgehen müssen, dass den Bestimmungen über die Erpressung in der endgültigen Fassung von 1851219 bezüglich ihrer Anforderungen an die Drohung bei der räuberischen Erpressung sowie deren Abgrenzung von der einfachen Erpressung anhand der bedrohten Rechtsgüter und der Aktualität des angedrohten Übels dieselben Erwägungen zugrunde lagen wie schon dem ersten Entwurf des Revisors von 1828.220 6. Zusammenfassung: Gründe für die spezifische Entwicklung der Erpressung in den Partikularstaaten des 19. Jahrhunderts Insgesamt lassen sich somit aus dem bisher Gesagten mehrere Gründe für die Entwicklung der Erpressung in den deutschen Partikularstaaten des 19. Jahrhunderts ableiten. In erster Linie sind dabei die Grundsätze zum römischen „crimen vis“ zu nennen, dessen ausgedehnter Anwendungsbereich im deutschen Partikularrecht nicht im Sinne einer allumfassenden Bestimmung beibehalten, sondern auf verschiedene Delikte, unter anderem auch die Erpressung, verteilt wurde.221 Ein weiterer wichtiger Aspekt war die geänderte Sicht zum Normzweck strafrechtlicher Vorschriften, indem man diese nun nicht mehr allein unter dem Aspekt der Wahrung des öffentlichen Friedens betrachtete, sondern zunehmend auch der Gedanke des Individualschutzes betont wurde. Diese Entwicklung wiederum resultierte maßgeblich aus zwei Faktoren, nämlich auf der einen Seite der erstarkenden Staatsgewalt in den Einzelstaaten dieser Zeit, die damit nicht mehr so dringend eines wirksamen Schutzes in Form von Strafgesetzen bedurften, und auf der anderen Seite dem aus dem Naturrechtsgedanken entwickelten stärkeren Schutz von Individualrechten.222 218 Vgl. § 377 Entwurf 1830, Schubert / Regge I / 2 S. 529; Beratungs-Protokolle 1842, Schubert / Regge I / 4,2 S. 683; Revision 1845, Zweiter Band, Schubert / Regge I / 5 S. 705, 707; Motive 1847, Schubert / Regge I / 6,2 S. 941. 219 § 234 PrStGB 1851: „Wer, um sich oder Dritten einen rechtswidrigen Vortheil zu verschaffen, einen Anderen zu einer Handlung oder Unterlassung dadurch zwingt oder zu zwingen versucht, daß er denselben schriftlich oder mündlich mit der Verübung eines Verbrechens oder Vergehens bedroht, macht sich der Erpressung schuldig.“; § 236 PrStGB 1851: „Geschieht die Erpressung durch Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben, oder durch Gewalt gegen die Person, so ist der Thäter gleich einem Räuber (§§ 231, 232, 233) zu bestrafen.“; vgl. außerdem zur weitgehend gleich lautenden Bestimmung des Bayerischen Strafgesetzbuchs von 1861 Schweisthal, S. 134 f. 220 Vgl. dazu auch Merkel Lehrbuch S. 324 f. 221 Vgl. Berner Lehrbuch § 168 (S. 339 f.); Cucumus ArchCrimR NF 1834, 55, 71; Temme S. 93 f.; Lüderssen GA 68, 257, 265 f., 269; Goltdammer II, § 234, S. 520 f.; Tausch Jahrbuch 2001, 329, 352 f.
6 Blanke
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
Zudem führte die schnelle Entwicklung im wirtschaftlichen Bereich dazu, dass die alleinige Existenz von Diebstahl und Raub bald als unzureichend empfunden wurde, da mehr und mehr Vermögensobjekte dem Strafrechtsschutz unterstellt werden mussten, die keine beweglichen Sachen waren. Es bedurfte somit eines umfassenderen Vermögensschutzes, so dass die Entwicklung weg von der Sacherpressung hin zur Einbeziehung von anderen Vermögenswerten nur logische Folge der modernen Industriegesellschaft war.223 Indes lässt sich ein Einfluss des französischen Code pénal von 1810, der von einigen Autoren angedeutet wird224, jedenfalls nicht mit Sicherheit nachweisen.225 Die Erpressung allgemein, insbesondere aber die räuberische Erpressung, war also ein Instrument zur Schließung von Strafbarkeitslücken, die vor allem aufgrund der fortschreitenden Industrialisierung fühlbar geworden waren.226
7. Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich 1871 Da nun das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund von 1870 und später auch das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 die Bestimmung des Preußischen Strafgesetzbuches 1851 über die räuberische Erpressung227 fast wörtlich übernahmen228, wird man annehmen können, dass auch der Reichsgesetzgeber dieser Bestimmung keine abweichenden Erwägungen zugrunde legte. Bei der einfachen Erpressung229 hielt sich der Reichsgesetzgeber allerdings nur teilweise an die preußischen Vorgaben.230 Für die im Rahmen dieser Arbeit allein interessierende Frage einer Abgrenzung der Drohungsalternativen von einfacher und räuberischer Erpressung231 ergeben sich hieraus indes keine grundlegenden 222 Vgl. Lüderssen GA 68, 257, 269; Köstlin S. 417; Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 170, 173; Glaser S. 68 f., 165; Tausch Jahrbuch 2001, 329, 351. 223 Vgl. Lüderssen GA 68, 257, 269. 224 Vgl. die Nachweise bei Tausch Jahrbuch 2001, 329, 347 f. und Glaser S. 87. 225 Vgl. dazu ausführlich Tausch Jahrbuch 2001, 329, 347 ff. 226 Vgl. Motive 1828, Vierter Band, Schubert / Regge I / 2 S. 166; Lüderssen GA 68, 257, 262; Berner Lehrbuch § 166 (S. 332); Glaser S. 155; SK-Günther vor § 249 Rn. 17. 227 Die, wie eben dargelegt, auch mit der Sichtweise fast aller Partikularstaaten übereinstimmte. 228 § 255 StGB 1871 (RGBl. 1871, S. 127, 175): „Wird die Erpressung durch Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben begangen, so ist der Thäter gleich einem Räuber zu bestrafen.“ 229 § 253 StGB 1871 (RGBl. 1871, S. 127, 175): „Wer, um sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvortheil zu verschaffen, einen anderen durch Gewalt oder Drohung zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nöthigt, ist wegen Erpressung mit Gefängniß nicht unter einem Monat zu bestrafen.“ 230 Vgl. VD VI-Frank § 4 I. (S. 17 f.).
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel
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Änderungen. Wenngleich der Gesetzgeber die allgemeine Formulierung der „Drohung“ wählte, so hatte er hierbei überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, die Grundsätze des gemeinen Rechts über die Abgrenzung von räuberischer und einfacher Erpressung anhand des Kriteriums „gegenwärtige Gefahr“ – verstanden im Sinne einer Besorgnis sofortiger Vollziehung – im Gegensatz zum „künftigen Übel“ vor Augen.232
8. Zusammenfassung Zusammenfassend bleibt damit festzuhalten, dass der Gesetzgeber von 1871 im Einklang mit der Strafrechtslehre seiner Zeit bei der Schaffung des noch heute gültigen Tatbestandes der räuberischen Erpressung von einer Identität der qualifizierten Nötigungsmittel von Raub und räuberischer Erpressung ausging. Die räuberische Erpressung sollte primär die Anwendung der Raubmittel zur Erzielung von Vermögensvorteilen in solchen Fällen erfassen, in denen der Tatbestand des Raubes, insbesondere wegen der Beschaffenheit des betroffenen Vermögensobjektes, nicht erfüllt war. Die Abgrenzung der Drohungsalternative von einfacher und räuberischer Erpressung – und somit auch von einfacher Erpressung und Raub – sollte maßgeblich233 anhand der Aktualität des angedrohten Übels erfolgen. Insofern standen sich die „gegenwärtige Gefahr“ bei § 255 StGB, verstanden als Besorgnis sofortiger Vollziehung, und das allein § 253 StGB vorbehaltene „künftige Übel“ im Sinne eines Stufenverhältnisses gegenüber. Als Grund für diese Differenzierung fand sich primär die Überlegung, dass nur der Androhung eines sofort zu vollziehenden Nachteils an den näher spezifizierten Rechtsgütern eine der Gewalt gegen eine Person vergleichbare – starke – Nötigungswirkung innewohnen könne, da dem Bedrohten allein bei derartigen Ankündigungen wie im Falle der Gewalt jegliche andere Handlungsmöglichkeit außer der Erfüllung der Täterforderung abgeschnitten sei.
231 Die seit Einführung des Reichsstrafgesetzbuchs bis heute heftig umstrittene Frage, aus welchen Gründen die Gewalt in den Tatbestand der einfachen Erpressung aufgenommen wurde und welchen Inhalt sie hier hat, soll mangels Relevanz für diese Arbeit nicht näher erörtert werden; vgl. dazu etwa nur Buri Beilage GS 29, 3, 13 ff.; Wächter GS 27, 161 ff.; Villnow S. 6 ff., 19 ff.; VD VI-Frank § 4 II. 1. (S. 21 ff.); Gnad S. 111 ff. 232 Vgl. Höinghaus § 253 (S. 176 f.); Schwarze § 253 (S. 563 f.); Rubo § 253 N. 1 (S. 858); VD VI-Frank § 4 I. 2., II. (S. 18 f.), II. 2. (S. 23); Tenckhoff JR 1974, 489, 490. 233 Neben den speziellen Anforderungen des § 255 StGB hinsichtlich des bedrohten Rechtsguts.
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
III. Die Entwicklung der Nötigungsmittel im Rahmen von sexueller Nötigung und Vergewaltigung Eine weitgehend parallele Entwicklung wie die Raubmittel haben – um das Ergebnis an dieser Stelle bereits vorwegzunehmen – die qualifizierten Nötigungsmittel von sexueller Nötigung234 und Vergewaltigung235 genommen. Zwar haben diese Vorschriften vor allem in neuerer Zeit erhebliche Änderungen erfahren.236 Dennoch sind die Nötigungsmittel, „Gewalt“ und „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ seit Erlass des Reichsstrafgesetzbuches 1871 unverändert geblieben. Vorbild waren auch in diesem Punkt die entsprechenden Vorschriften des Preußischen Strafgesetzbuches von 1851.237 Schon aus der Natur der Sache ergibt sich aber, dass das Verbrechen der sexuellen Nötigung oder jedenfalls das der Vergewaltigung auf eine in die Zeit weit vor Christus zurückreichende Entstehungsgeschichte zurückblicken kann.238
1. Römisches Recht Das hier primär interessierende Römische Recht kannte allerdings kein spezielles Verbrechen der sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung. Die öffentliche Bestrafung dieser Deliktsformen ergab sich vielmehr unter dem Gesichtspunkt der 234 § 177 Abs. 1 StGB in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I 1998, S. 3322, 3372): „Wer eine andere Person 1. mit Gewalt, 2. durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder 3. unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist, nötigt, sexuelle Handlungen des Täters oder eines Dritten an sich zu dulden oder an dem Täter oder einem Dritten vorzunehmen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.“ 235 § 177 Abs. 2 StGB in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I 1998, S. 3322, 3372): „In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn 1. der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt oder an sich von ihm vornehmen läßt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere, wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind (Vergewaltigung), oder 2. die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird.“ 236 Beachtenswert erscheint vor allem, dass beide Verbrechensformen einheitlich unter der Vorschrift des § 177 StGB zusammengefasst wurden und die Vergewaltigung inzwischen nur noch ein Regelbeispiel für einen besonders schweren Fall der sexuellen Nötigung darstellt; vgl. allgemein zu den Änderungen in diesem Bereich Maurach / Schroeder / Maiwald § 17 Rn. 2 f., § 18 Rn. 3; SK-Wolters / Horn vor § 174 Rn. 1 ff., § 177 Rn. 1; LK-Laufhütte / Roggenbuck Nachtrag zum StGB, vor § 174, § 177 Entstehungsgeschichte; MüKo-Renzikowski § 177 Rn. 10 ff.; NK-Frommel § 177 Rn. 1 ff.; Schönke / Schröder-Lenckner / Perron / Eisele vor §§ 174 ff. Rn. 1 ff.; Lackner / Kühl vor § 174 Rn. 7 ff.; Kieler S. 17 ff.; Laubenthal Rn. 17 ff.; Sick S. 64 ff. 237 Vgl. VD IV-W. Mittermaier II. § 4 VII, § 5 (S. 15 f.); Kleinbreuer S. 158; Teufert S. 34; Sick S. 48, 50; Kieler S. 16. 238 Vgl. etwa die Nachweise bei Sick S. 26 ff.; Kieler S. 8; Teufert S. 16 f.
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel
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Anwendung von Gewalt239, da das sog. „stuprum violentum“ unter das „crimen vis“ in seinem oben dargestellten weiten Umfang fiel.240 Dabei richtete sich die Bestrafung jedenfalls in späterer Zeit nach der härteren „lex Iulia des vi publica“.241 Dem sexuellen Bezug der Handlung kam somit allenfalls insoweit Bedeutung zu, als es um die Zuordnung zur „vis publica“ ging, für das Verbrechen als solches war dagegen ausschließlich die Anwendung von Gewalt oder Drohungen maßgeblich. Dagegen erfasste die 17 v. Chr. als Reaktion auf die zunehmende Entsittlichung erlassene „lex Iulia de adulteriis coërcendis“ zwar allgemein das „stuprum“242, nicht aber dessen gewaltsame Form, das „stuprum violentum“.243
2. Germanisches und frühes deutsches Recht Anders als das römische Recht fasste das frühe germanische Recht einen Teilbereich der heutigen Vergewaltigung, nämlich die gewaltsame Erzwingung des Beischlafs, bereits als eigenständiges Verbrechen auf. Erstmals zweifelsfrei nachweisen lässt sich diese Deliktsform schon in den „leges barbarorum“244. Zur Bezeichnung wurden in der germanischen Rechtssprache Ausdrücke wie „notnunft“, also gewaltsames Nehmen, „nôtzuht“, „nottucht“ oder „notzogung“, was so viel wie gewaltsames Fortziehen bedeutete, verwendet, aus denen sich in der Folgezeit der noch bis zur Strafrechtsreform 1975 für den Tatbestand der Vergewaltigung verwendete Ausdruck der Notzucht entwickelte.245 Allerdings waren in dieser Zeit Frauenraub und Notzucht noch nicht klar getrennt, da sich diese nur in der Zweckrichtung des Täters unterschieden. Bei der Notzucht wollte der Täter „blos fleischOder der angewendeten Drohung; vgl. oben Fn. 23. Vgl. Mommsen S. 664 f.; Henke S. 219; Maurach / Schroeder / Maiwald § 18 Rn. 3; Rein S. 868 f.; Quistorp § 489 Fn. q (S. 794); Kämmerer ArchCrimR NF 1834, 560, 566; Berner Lehrbuch § 190 (S. 400); Köstlin S. 421; Binding BT 1 S. 200; Wächter Strafrecht § 120 (S. 367); ders. Abhandlungen S. 23; Abegg § 282 (S. 385); Sick S. 29; Teufert S. 21 f. 241 Vgl. Wächter § 133 (S. 13), § 136 (S. 24); Kämmerer ArchCrimR NF 1834, 560, 566; Mommsen S. 664 f.; Roßhirt § 213 (S. 487); Binding BT 1 S. 200; Martin § 296 (S. 719); Quistorp § 489 Fn. q (S. 794); Abegg § 282 (S. 385). 242 Das Wort „stuprum“ konnte je nach Kontext verschiedene Bedeutungen haben: zum Teil wurde jede Unsittlichkeit als „stuprum“ bezeichnet, teilweise diente dieser Terminus aber auch zur Charakterisierung bestimmter Erscheinungsformen unzüchtigen Verhaltens wie der rechtswidrigen Befriedigung des Geschlechtstriebs oder des außerehelichen Beischlafs mit einer ehrbaren Frau; vgl. hierzu Rein S. 858 f.; Mommsen S. 694 Fn. 2; Wächter Abhandlungen S. 20 Fn. 1; Teufert S. 21 Fn. 43; Sick S. 30 Fn. 21. 243 Vgl. Quistorp § 489 Fn. q (S. 794); Maurach / Schroeder / Maiwald § 17 Rn. 1, § 18 Rn. 3; Binding BT 1 S. 195, 200; Rein S. 868 f.; a.A. scheinbar Sick S. 30. 244 Vgl. oben I. 2. 245 Vgl. dazu unten 6. 239 240
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
liche Vermischung“246 in den Fällen des Frauenraubes kam es ihm dagegen entscheidend darauf an, die entführte Frau zu heiraten.247 Wie sich schon aus den verwendeten germanischen Bezeichnungen ergibt, bildete die Anwendung von Gewalt gegen das Opfer das konstituierende und entscheidende Merkmal der Notzucht.248 In dieser Tradition entwickelte sich das Delikt im deutschen Sprachraum auch in den folgenden Jahrhunderten, wobei man die Notzucht zunehmend als besonders schweres Verbrechen einstufte und hart bestrafte.249 So sahen sowohl der Schwaben-250 als auch der Sachsenspiegel,251 der die Notzucht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Raub regelte, die Todesstrafe vor.252 3. Constitutio Criminalis Carolina Ganz in diesem Sinne forderte auch der Notzuchtstatbestand der „Carolina“ ausdrücklich die Anwendung von Gewalt gegen das Opfer zur Erzwingung des Beischlafs. Der Täter sollte in diesem Fall „gleich einem Räuber“ mit Enthauptung bestraft werden. Dem lag der Gedanke zugrunde, dass die Notzucht einem „Raub“ der weiblichen Ehre gleichkam und daher ebenso zu bestrafen sei. Insgesamt statuierte die „Carolina“ aber einen sehr engen Notzuchtbegriff.253 Andere Handlungen mit sexuellem Bezug, die nicht unter diesen engen Tatbestand fielen, aber mit der Anwendung von Gewalt oder Drohungen verbunden waren, wurden über Art. 105 CCC nach den Grundsätzen des römischen „crimen vis“ bestraft.254 Wilda S. 830. Vgl. Wilda S. 829 ff.; Sick S. 32 m. w. N.; Teufert S. 17 f. m. w. N.; Maurach / Schroeder / Maiwald § 18 Rn. 3; Kieler S. 8 f. Fn. 28; Abegg § 283 (S. 386); Berner Lehrbuch § 190 (S. 400); Binding BT 1 S. 200; Mittermaier in Feuerbach § 263 Note I f. (S. 436 f.). 248 Vgl. Wilda S. 829; Binding BT 1 S. 200; Sick S. 30; Teufert S. 17 f. 249 Vgl. Henke S. 219; Berner Lehrbuch § 190 (S. 400); Sick S. 36. 250 So schon § 254, insbesondere aber § 311: „Swer magt eder wip notzogt swi bose si ist man sol vber in rihten also. ist si ein magt man sol in lebnd begraben. ist si wip man sol in hovbten“. 251 Buch II Art. 13 § 5: „Wer einen man slet adir vehet, roubit adir burnet sunder mortbrand, adir wip adir mait notzogit, . . . , den sal man die houbete abeslan“. 252 Vgl. Berner Lehrbuch § 190 (S. 400 f.); Sick S. 34 f., 37; Teufert S. 19 f. 253 Art. 119 CCC: „Item so jemandt eyner vnuerleumbten ehefrawen, witwenn oder jungkfrawen, mit gewalt vnd wider jren willen, jr jungkfrewlich oder frewlich ehr neme, der selbig übelthetter hat das leben verwürckt, vnd soll auff beklagung der benöttigten inn außfürung der mißthat, eynem rauber gleich mit dem schwert vom leben zum todt gericht werden.“; vgl. Abegg § 283 (S. 386); Heffter 292a. (S. 231); Kress Art. 119, § 1 Anm. *1 (S. 348); Tittmann § 210 (S. 433); Mittermaier in Feuerbach § 263 Note II (S. 436 f.); Berner Lehrbuch § 190 (S. 401); Henke S. 219; Binding BT 1 S. 200; Wächter Strafrecht § 120 (S. 368); ders. Abhandlungen S. 25 ff.; Rosshirt §§ 214 f. (S. 488 ff.); Martin § 296 (S. 719); Kieler S. 9 f.; Teufert S. 25 f.; Sick S. 38 f.; Maurach / Schroeder / Maiwald § 18 Rn. 3. 246 247
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel
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4. Gemeines Recht Die Entwicklung des Verbrechens der Notzucht in der Zeit nach der „Carolina“, vor allem in der Strafrechtslehre, verlief weitgehend parallel mit der des Raubes. a) So beschäftigte sich wiederum schon Carpzov mit der Frage, ob Notzucht auch dann vorliege, wenn der Täter die Frau nicht mit körperlicher Gewalt zum Beischlaf zwinge, sondern etwa unter Zuhilfenahme von Waffen so gravierend bedrohe, dass sie seinem Verlangen nachkomme, um der ihr bevorstehenden Gefahr zu entgehen. Carpzov war dabei der Ansicht, dass bei einer solchen Sachlage der Täter die Strafe der Notzucht in jedem Falle verdient habe.255 b) Schließlich war es erneut Kress, der sich eingehend mit den Nötigungsmitteln der Notzucht beschäftigte und bestimmte Formen der Drohung unter den Gewaltbegriff der „Carolina“ subsumierte. Er war dabei der Auffassung, dass es – ebenso wie beim Raub – keinen Unterschied mache, ob der Täter physische Gewalt gegen die Frau anwende oder sie an ihrem Leben bedrohe. Da Kress aber den Tatbestand der Notzucht von vornherein auf besonders stark wirkende Gewaltformen, der die Frau nicht zu widerstehen vermochte, beschränkte, erkannte er nur Drohungen mit einer gegenwärtigen Lebensgefahr, nicht aber anderen Drohungen, wie etwa denen mit künftigen Übeln, eine entsprechende Nötigungswirkung zu.256 c) Böhmer, sich auch hier weitgehend Kress anschließend, präzisierte die Anforderungen an die qualifizierten Nötigungsmittel weiter, wobei er eine mit seinen Ausführungen zum Raub fast identische Sichtweise entwickelte. Auch im Rahmen der Notzucht sollte nur gegen die Person gerichtete Gewalt, „vim personae illatam“, ausreichend sein und sollten ausschließlich solche Drohungen den Tat254 Vgl. Berner Lehrbuch § 190 (S. 401); Roßhirt §§ 213 f. (S. 488 f.); Quistorp § 487 f. (S. 791 f.); Abegg § 283 (S. 386); Wächter Abhandlungen S. 26; Martin § 296 (S. 719), §§ 184 ff. (S. 437 ff.); Heffter 295. (S. 235); Teufert S. 26; Sick S. 39. 255 Carpzov Pars II Qu. LXXV n. 11 (S. 172): „Haec regula ampliatur Primo: etiamsi mulier coacta consentiat; veluti si armis atque minis coacta, libidini stupratoris se prostituit, quo periculum effugiat. Neque enim coacta voluntas proprie voluntas est, neque foemina minis & armis coacta, revera facto stupratoris consenit, ut proinde hoc modo stuprum illatum etiam sit violentum, ac mortis poena coërcendum, maxime cum per consensum ex postfacto intervenientem, crimen stupri violenti non purgetur, . . .“, n. 13 (S. 172): „Quanto magis tenebitur hac poena, qui minis & armis metum incutiendo, foeminam ad libidinem compellit, atque cogit“. 256 Kress ad Artic. 119 § 7 (S. 351 f.): „Non tamen interest, an stuprator pudicitiam per vim eripuerit, an per minas capitales extorserit invitae. Cum rapere & extorquere, si dolus & improba vis accedat, juridice non differant, quicquid olim leges Romanorum alias subtilisaverint.“, § 8 (S. 352 f.): „Violentia utique debet esse magna, nec enim vis levis sufficit, cum secundum vulgare, saepe sit grata vis ista puellis. Interim vim magnam dicerem, cui vel propter vires diversas, vel propter armorum terrorem, sine vitae membrorumque amittendorum discrimine, foemina resistere non potuit. . . . An & vis, quae infamiae metum infert, sufficit? . . . Enim vero, cum periculum hic non sit praesens, licet Titium a poena immunem dicerem, . . .“; vgl. Martin § 297 (S. 722).
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
bestand erfüllen können, die ein „wirkliches, schweres und gegenwärtiges“ Übel in Aussicht stellten.257 d) Gestützt auf ähnliche Erwägungen wie für den Bereich des Raubes schloss sich die spätere gemeinrechtliche Doktrin auch hinsichtlich des Tatbestands der Notzucht der Sichtweise von Kress und Böhmer an. Nach anfänglichem Streit258 setzte sich schnell die Auffassung durch, dass neben der Gewalt gegen eine Person nur solche Drohungen das Verbrechen der Notzucht begründen könnten, die sich gegen Leib oder Leben der Bedrohten richteten und außerdem in dem Sinne gegenwärtig waren, dass die Gefahr augenblicklicher Vollziehung bestand.259 Allerdings handhabte die Lehre die Anforderungen an die Nötigungsmittel im Rahmen des Tatbestandes der Notzucht deutlich strenger als beim Raubtatbestand, vor allem um auszuschließen, dass die Frau nicht doch freiwillig in den Beischlaf eingewilligt hatte. Bei der Anwendung physischer Gewalt wurde aus diesem Grund die „wirkliche Gewalt“ von der „vis grata“, der willkommenen Gewalt, und der „vis haud ingrata“, der nicht unwillkommenen Gewalt, abgegrenzt.260 Eine spezifische Ausprägung dieser strengen Anforderungen an den Gewaltbegriff war der in der Lehre lange Zeit kontrovers beurteilte Aspekt, ob ein einzelner Mann eine erwachsene und gesunde Frau überhaupt durch physische Gewalt zum Beischlaf zwingen könne, oder ob dieser Fall generell aus der Notzucht auszuscheiden sei.261 Dabei setzte sich aber mehr und mehr die Überzeugung durch, dass auch hier Notzucht vorliegen könne.262 257 Böhmer Meditationes Art. 119 § 3 (S. 435 f.): „Vis in hoc crimine omne punctum sert, et ad corpus delicti pertinet. . . . Illud desiderat . . . II) vim personae illatam: quae rebus infertur, aut quae huic auquipollet, per effractionem aedium, vel scalarum ascensionem, non sufficit, si stuprata sponte exceperit stupratorem. . . . nec effectit, vt facto hostili stupratoris, qui tristia pudicitiae minatur, quicquam decedat, vt recte philosophatur Kressivs ad h. a. § VII. Hoc tamen requisitur, vt I) actualis repraesentatio mali accesserit, nec sola suspicio, quae saepe fallit et imaginaria est, stupratam ad patientiam commouerit, quo metus reuerentiae vel potentiae pertinet, quorum quilibet a propositione mali alienus est; II) vt ipsum malum propositum sit verum, graue ac praesens.“; ebenso ders. Elementa § 123 f. (S. 307 f.) und ders. Observationes, Observatio II ad Quaestionem LXXV. N. 14 (S. 43 f.); vgl. Feuerbach § 267 (S. 444); Quistorp § 488 (S. 792 f.); Klein § 406 (S. 314 f.); es erscheint daher schwer verständlich, wenn Kieler, S. 10, unter Berufung auf Böhmer die Ansicht vertritt, Gewalt habe „nach damaligem Verständnis das Brechen eines Widerstandes durch physische Kraftanstrengung des Täters“ vorausgesetzt. 258 Vgl. Martin § 297 Fn. 15 (S. 722) m .w. N.; Wächter Abhandlungen S. 280. 259 Martin § 297 (S. 721 f.); Henke S. 204 f.; Abegg § 285 (S. 388); Heffter 293. Fn. 4 (S. 233); Feuerbach § 267 (S. 444 f.); Quistorp § 488 (S. 792 f.); Tittmann § 208 (S. 429 f.); Klein § 406 (S. 314 f.); weiter Berner Lehrbuch § 190 (S. 403). 260 Vgl. Berner Lehrbuch § 190 (S. 403); Wächter Strafrecht § 120 (S. 369); Kieler S. 10; Sick S. 40. 261 Vgl. Henke S. 202; Wächter Lehrbuch § 134 Fn. 19 c; Mittermaier in Feuerbach § 267 Note I (S. 444); Tittmann § 208 (S. 430) m. w. N.; Sick S. 42 f.; Teufert S. 29 m. w. N.; Kieler S. 12. 262 So etwa Mittermaier in Feuerbach § 267 Note I (S. 444); Henke S. 203 f.
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel
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Die hohen Anforderungen, die auch an die Drohung gestellt wurden, spiegelten sich vor allem in der Formulierung der Lehre wider, es müsse sich um die Ankündigung eines so schweren Übels handeln, dass die bedrohte Frau verständlicherweise die Duldung des Beischlafs als den geringeren Nachteil wähle.263 Die Werke zweier Autoren geben die Sicht der damaligen Lehre besonders gut wieder, weshalb sie hier kurz dargestellt werden sollen. aa) Abegg fasste die Notzucht ganz im Sinne des Art. 119 CCC auf und definierte sie daher als „Raub weiblicher Ehre“ bzw. Raub der „Geschlechtsehre“. Auf dieser Grundlage konnte er mühelos die zum Raub entwickelten Grundsätze auf die Notzucht übertragen.264 bb) Herausragend in der Klarheit seiner Darstellung war auch für den Tatbestand der Notzucht erneut Henke. Was die physische Gewalt anbelangte, ließ es sich seiner Auffassung nach „als allgemeingültig aussprechen“, dass „dieselbe gegen die Person, nicht etwa bloß gegen Sachen, gerichtet sein (müsse)“.265 Hinsichtlich des Nötigungsmittels der Drohung führte Henke aus: „Die zum Wesen der Nothzucht erforderliche Gewalt kann aber auch: B) eine bloß psychische seyn (vis compulsiva), die in der Androhung einer dringenden und gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben besteht. . . . Dagegen ist es wesentlich, daß die gedrohete Gefahr eine gegenwärtige sei, die augenblicklich und unmittelbar zur Wirklichkeit werden kann, weil sie sonst nicht als genügend zur Überwindung des Widerstrebens zu betrachten ist, sondern höchstens eine Art der Concussion begründet. Dahin gehören demnach nur Drohungen körperlicher Verletzungen und des Todes, wohingegen Drohungen einer falschen Anklage, eines falschen Zeugnisses, wenn auch in einer Kriminalsache, und der daraus hervorgehenden Gefahr für die Ehre, Freiheit, ja auch für das Leben, immer noch die Hoffnung, dieser Gefahr entgehen und die Drohung vereiteln zu können, übrig lassen.“266
5. Partikulargesetzgebung In dieser Form fand sich der Tatbestand der Notzucht auch in den Partikulargesetzgebungen des ausklingenden 18. und des 19. Jahrhunderts wieder. a) Das erste territoriale Gesetzbuch, welches den Rahmen der Notzucht deutlich weiter als die „Carolina“ zog, war das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794. Nach seinen Vorgaben erfüllten sowohl der durch besonders intensiv wirkende 263 Vgl. Roßhirt § 214 (S. 489); Grolmann § 239 (S. 252); Tittmann § 208 (S. 430); Feuerbach § 267 (S. 444). 264 Abegg § 284 f. (S. 387 f.). 265 Henke S. 204. 266 Henke S. 204 f.
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
Drohungen267 als auch der mit „unwiderstehlicher Gewalt“ erzwungene Beischlaf268 den Tatbestand der Notzucht.269 b) Vorbild für alle späteren Gesetzbücher – insbesondere im Hinblick auf die Umschreibung der Nötigungsmittel – war aber auch im Bereich der Notzucht das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813, das schon seinem Wortlaut nach die Beschränkung auf „körperliche Gewalt“ und „Drohungen, welche mit dringender gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben verbunden sind“ vorsah.270 In den offiziellen Anmerkungen zu dieser Vorschrift verwies Feuerbach dabei hinsichtlich des Inhalts der Drohungen ausdrücklich auf seine entsprechenden Ausführungen zum Tatbestand des Raubes.271 Weiter bemerkte er, dass der Zwang „durch körperliche Gewalt oder durch Drohungen einer dringenden gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben“ das Wesen der Notzucht ausmache; eine solche könne daher nicht angenommen werden, „so lange nicht Drohungen einer gegenwärtigen dringenden Gefahr und zwar für Leib oder Leben, oder gar körperliche Übergewalt zu der wirklichen unzüchtigen Handlung selbst den augenblicklich einwirkenden unmittelbaren Grund enthalten.“272 Insofern wurden vor allem durch die kumulative Verwendung der Begriffe „gegenwärtig“ und „dringend“ die hohen Anforderungen deutlich gemacht, welche man an die Drohungsalternative im Rahmen der Notzucht stellte. Gerade hierdurch aber wurde auch der zeitliche Aspekt des Gegenwärtigkeitsmerkmals besonders betont, denn die Gefahr musste nach dem Wortlaut nicht nur „dringend“, also für das Opfer unmittelbar entscheidungsrelevant, sondern zugleich auch „gegenwärtig“ im – wie es der damals allgemeinen Meinung entsprach – rein zeitlichen Sinne sein. c) Die meisten territorialen Strafgesetzbücher, wie etwa das Strafgesetzbuch von Hannover273 oder das Strafgesetzbuch von Sachsen-Altenburg274, orientierten sich 267 ALR II, 20 § 1051: „Wer durch gefährliche Bedrohungen des Lebens, oder der Gesundheit, unter Umständen, wo deren Erfüllung mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten war, eine Frauensperson zu seinem Willen nöthigt, gegen den soll Festungsstrafe auf drey bis fünf Jahre statt finden“. 268 ALR II, 20 § 1052: „Wer mit unwiderstehlicher Gewalt eine Person, die über zwölf Jahre alt ist, notzüchtigt, soll sechs- bis achtjährige Festungsstrafe leiden“. 269 Vgl. Klein § 411 (S. 318); Mittermaier in Feuerbach § 263 Note III (S. 437); Maurach / Schroeder / Maiwald § 18 Rn. 3; Teufert S. 31 f.; Sick S. 45. 270 Art. 186: „Wer eine Person weiblichen Geschlechts wider ihren Willen, durch körperliche Gewalt oder durch Drohungen, welche mit dringender gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben verbunden sind, zur Unzucht nöthiget, imgleichen derjenige, welcher, um widernatürlicher Wollust willen, solche Gewaltthat an einer Mannsperson verübt: ist der Nothzucht schuldig.“; vgl. Maurach / Schroeder / Maiwald § 18 Rn. 3; Teufert S. 33. 271 Anmerkungen Bayern II, Anm. 2 zu Art. 186 (S. 62); vgl. dazu oben I. 5. c). 272 Anmerkungen Bayern II, Anm. 2 zu Art. 186 (S. 61 f.). 273 Art. 270: „Wer eine Frauensperson mittelst körperlicher Gewalt oder Drohung, welche mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben verbunden ist, zur Duldung des unehelichen Beischlafs zwingt, ist der Nothzucht schuldig“.
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel
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in der Folge sehr eng an der bayerischen Sicht.275 Besonders deutlich wurden die Anforderungen an die Nötigungsmittel dabei im Badischen Strafgesetzbuch von 1845276 und im Sächsischen Strafgesetzbuch von 1855277 umschrieben. Ebenso wie nach dem Bayerischen Gesetz bestanden demnach in den späteren Territorialgesetzgebungen zwischen den Nötigungsmitteln der Notzucht und denen des Raubes keine wesentlichen Unterschiede. d) Die ersten Preußischen Entwürfe waren dagegen noch deutlich durch die Notzuchtsbestimmungen des Allgemeinen Landrechts beeinflusst.278 Eine Beschränkung der Drohungen auf solche mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben wurde sogar zunächst ausdrücklich als zu eng abgelehnt.279 Allerdings zeichnete sich das Preußische Strafgesetzbuch bereits seit dem zweiten Entwurf durch eine Besonderheit aus, die Art. 331 des französischen Code pénal entnommen war: die besondere Bestrafung gewaltsamer Handlungen mit sexuellem Bezug blieb nicht mehr auf die Notzucht im Sinne eines erzwungenen Beischlafs beschränkt, sondern wurde auf die Fälle der heutigen sexuellen Nötigung ausgeweitet.280 274 Art. 157: „Wer eine Frauensperson durch äußere Gewalt, welche nach den vorliegenden Umständen von ihr nicht abgewendet werden konnte, oder durch eine Drohung, welche mit gegenwärtiger gleichfalls unabwendbarer Gefahr für Leben oder Gesundheit verbunden ist, zu der Duldung unehelichen Beischlafes nöthiget, wird mit sieben- bis zwölfjähriger, . . . Zuchthausstrafe belegt“. 275 Vgl. auch die weiteren Nachweise bei Sick S. 46 Fn. 108; Mittermaier in Feuerbach § 263 Note III (S. 438 f.). 276 § 335: „Wer eine Frauensperson durch thätliche Gewalt, oder durch angewendete, mit der Gefahr unverzüglicher Verwirklichung verbundene Drohungen mit Tödtung oder schweren körperlichen Mißhandlungen, gerichtet gegen sie selbst oder gegen eine der in § 81 bezeichneten Personen, zum außerehelichen Beischlaf nöthigt, wird von folgenden Strafen getroffen: . . .“; vgl. dazu außerdem Anmerkungen Baden 1839, S. 85; Thilo § 335, 4. (S. 303). 277 Art. 180: „Wer eine Frauensperson zu außerehelichem Beischlafe dadurch nöthigt, daß er ihren ernstlichen Widerstand entweder durch Gewalt überwindet, oder durch wörtliche oder thatsächliche Bedrohung mit schweren, gegen sie selbst oder ihre Angehörigen unverzüglich auszuübenden Mißhandlungen beseitigt, macht sich der Nothzucht schuldig“. 278 Vgl. Entwurf 1828, Zweiter Titel, Neunter Abschnitt, § 19, Schubert / Regge I / 1 S. 333; Motive 1829, Dritter Band, Zweite Abtheilung, Neunter Abschnitt, ad §§ 19 – 23, Schubert / Regge I / 1 S. 922; § 287 Entwurf 1830, Schubert / Regge I / 2 S. 517; § 371 Entwurf 1833, Schubert / Regge I / 3 S. 68; Motive 1833 § 371, Schubert / Regge I / 3 S. 497 ff.; § 495 Entwurf 1836, Schubert / Regge I / 3 S. 944 f.; VD IV-W. Mittermaier II. § 4 VI. 1. (S. 13 f.). 279 Vgl. Motive 1829, Dritter Band, Zweite Abtheilung, Neunter Abschnitt, ad §§ 19 – 23, Schubert / Regge I / 1 S. 923; Materielle Abweichungen 134., Schubert / Regge I / 3 S. 185; Motive 1833 § 371, Schubert / Regge I / 3 S. 499 f.; Verhandlungen 1846, 25., Schubert / Regge I / 6,1 S. 237; Sick S. 48. 280 Zunächst unter dem Begriff „Grobe Angriffe auf die Schaamhaftigkeit“, später mittels Einbeziehung in den Tatbestand der Notzucht; vgl. § 287 Entwurf 1830, Schubert / Regge I / 2 S. 517; § 384 Entwurf 1833, Schubert / Regge I / 3 S. 70; Motive 1833 § 371, § 384, Schubert / Regge I / 3 S. 497 f., 512; § 508 Entwurf 1836, Schubert / Regge I / 3 S. 948; § 184 Ent-
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3. Abschn.: Historische Entwicklung
Die Tatsache, dass der Begriff der Gewalt in diesem Zusammenhang nur Gewalt gegen eine Person bedeuten könne, erschien dem Gesetzgeber angesichts der Besonderheiten der Delikte selbstverständlich; eine genauere Beschreibung in der Gesetzesfassung hielt er daher für überflüssig.281 Eine Einengung der Drohung auf diejenige „mit gegenwärtige(r) Gefahr für Leib oder Leben“ wurde erstmals in der Revision 1845 angeregt und in den darauf folgenden Entwurf aufgenommen.282 Erklärtes Ziel des Gesetzgebers war es dabei – unter ausdrücklicher Verweisung auf die Sachlage beim Raub – eine Gleichwertigkeit von Gewalt und Drohungen zu erreichen. Andere als die genannten Drohungen „könn(t)en der wirklichen Gewalt in keinem Fall gleichgestellt werden“.283 Da die Nötigungsmittel in den folgenden Entwürfen und auch in der endgültigen Gesetzesfassung von 1851284 keine Änderungen mehr erfuhren, haben diese Erwägungen als endgültige Auffassung des preußischen Gesetzgebers zu gelten. 6. Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich 1871 Das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund und später das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 engten den sehr weiten Notzuchtsbegriff des Preußischen Strafgesetzbuches von 1851 aber wieder ein und teilten die Notzucht zudem auf die zwei Tatbestände der sexuellen Nötigung285 und der eigentlichen Notzucht286 auf. Dabei blieben die Nötigungsmittel allerdings unverändert.287 wurf 1847, Schubert / Regge I / 6,2 S. 771; Gutachten, zu § 174 bis 178, Schubert / Regge I / 6,2 S. 1157; Goltdammer II, § 144, S. 297; Beseler § 144, S. 313 f.; Kleinbreuer S. 158; VD IV-W. Mittermaier II. § 4 VI. 3. (S. 14); Maurach / Schroeder / Maiwald § 18 Rn. 3; Teufert S. 33 f.; Sick S. 48; Kieler S. 14; noch für den Entwurf 1828 war dies ausdrücklich abgelehnt worden (vgl. Motive 1829, Dritter Band, Zweite Abtheilung, Neunter Abschnitt, ad §§ 19 – 23, Schubert / Regge I / 1 S. 923 f.). 281 Vgl. Motive 1833 § 371, Schubert / Regge I / 3 S. 499; Revision 1845, Zweiter Band, §§ 383 – 386, Schubert / Regge I / 5 S. 664: „Die gebrauchte Gewalt näher zu bestimmen, . . . , erscheint durchaus unnötig; . . . da schon nach den Worten des Entwurfs die Gewalt von der Art sein muß, daß sie die Annahme eines Zwanges zur Duldung des Beischlafs begründen kann, wozu die Ueberwältigung eines thätlichen Widerstandes nothwendig gehört.“; Goltdammer II, § 144, S. 298 f.; Beseler § 144, S. 314; Oppenhoff § 144 N. 7 ff.; ebenso später VD IV-W. Mittermaier II. § 20 VII (S. 106). 282 Vgl. § 244 Entwurf 1845, Schubert / Regge I / 6,1 S. 50. 283 Revision 1845, Zweiter Band, §§ 383 – 386, Schubert / Regge I / 5 S. 664; vgl. auch Verhandlungen 1846, 25., Schubert / Regge I / 6,1 S. 237 f.; Goltdammer II, § 144, S. 299; Sick S. 48. 284 § 144 PrStGB 1851: „Mit Zuchthaus bis zu zwanzig Jahren wird bestraft: 1) wer an einer Person des einen oder des anderen Geschlechtes mit Gewalt eine auf Befriedigung des Geschlechtstriebes gerichtete unzüchtige Handlung verübt, oder sie durch Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zur Duldung einer solchen unzüchtigen Handlung zwingt; . . .“. 285 § 176 StGB 1871 (RGBl. 1871, S. 127, 161): „Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer 1) mit Gewalt unzüchtige Handlungen an einer Frauensperson vornimmt oder
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel
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7. Neuere Gesetzesänderungen Dass auch der aktuelle Bundesgesetzgeber trotz der zahlreichen Änderungen, welche die Delikte der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung bis heute erfahren haben, den unangetastet gebliebenen Nötigungsmitteln der Gewalt und der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben dem Grunde nach keine wesentlich andere Bedeutung beimisst als schon der preußische Gesetzgeber, ergibt sich vor allem aus dem 33. Strafrechtsänderungsgesetz vom 1. Juli 1997.288 Bis zu dessen Verabschiedung fanden sich viele Stimmen, die im Interesse eines umfassenden Opferschutzes entweder eine vollständige Ersetzung oder jedenfalls eine deutliche Erweiterung der althergebrachten qualifizierten Nötigungsmittel forderten.289 Dem ist der Gesetzgeber indes nicht nachgekommen, sondern hat den Tatbestand der sexuellen Nötigung – und damit auch der Vergewaltigung – um die weitere Variante der „Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist“ ergänzt.290 Damit hat er zu erkennen gegeben, dass er die auf der Urfassung beruhende enge Bestimmung der beiden bis dahin vorhandenen Nötigungsmittel nach wie vor billigt.
8. Zusammenfassung Es lässt sich folglich zusammenfassend feststellen, dass der heutige Gesetzgeber bei Schaffung der aktuellen Gesetzesfassung von sexueller Nötigung und Verdieselbe durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zur Duldung unzüchtiger Handlungen nöthigt, . . .“. 286 § 177 StGB 1871 (RGBl. 1871, S. 127, 161): „Mit Zuchthaus wird bestraft, wer durch Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eine Frauensperson zur Duldung des außerehelichen Beischlafs nöthigt, . . .“. 287 Vgl. Rüdorff § 176, S. 310 f.; Motive 1869, § 153 (S. 151); Kleinbreuer S. 158; Wächter Strafrecht § 120 (S. 369); VD IV-W. Mittermaier II. § 5 (S. 16), § 20 VII (S. 106); Höinghaus §§ 176 f. (S. 137 f.); Schwarze §§ 176 f., S. 421 f., 425; Maurach / Schroeder / Maiwald § 18 Rn. 3; Teufert S. 34 f.; Sick S. 50 ff.; Kieler S. 16 f.; Mildenberger S. 20. 288 BGBl. I 1997, S. 1607 f.; vgl. dazu Schönke / Schröder-Lenckner / Perron / Eisele vor §§ 174 ff. Rn. 5; NK-Frommel § 177 Rn. 2 ff.; Maurach / Schroeder / Maiwald § 18 Rn. 3; LK-Laufhütte / Roggenbuck Nachtrag zum StGB, vor § 174, § 177 Entstehungsgeschichte; SK-Wolters / Horn vor § 174 Rn. 1a, § 177 Rn. 1; Laubenthal Rn. 25 ff. 289 Vgl. Laubenthal Rn. 120; Kieler S. 28 ff. m. w. N., 135 ff., 141, 145; LK-Laufhütte § 177 Rn. 3; LK-Laufhütte / Roggenbuck Nachtrag zum StGB, § 177 Entstehungsgeschichte; Rössner, Leferenz-FS S. 527, 530 ff.; Sick S. 152 ff. m. w. N., 201 ff.; NK-Frommel § 177 Rn. 7 f., 10 m. w. N.; Hillenkamp NStZ 1989, 529 m. w. N.; Mildenberger S. 24 ff. m. w. N.; Fischer ZStW 112, 75, 76 f., 79. 290 Vgl. Schönke / Schröder-Lenckner / Perron / Eisele § 177 Rn. 8 ff.; LK-Laufhütte / Roggenbuck Nachtrag zum StGB, § 177 Rn. 1 f.; SK-Wolters / Horn § 177 Rn. 1, 13a ff; NKFrommel § 177 Rn. 3, 13, 28 f., 32 f., 48 ff.; Maurach / Schroeder / Maiwald § 18 Rn. 10, 12; Kieler S. 30 f., 141, 147 ff. m. w. N.; Fischer ZStW 112, 75, 77 ff. m. w. N.; Laubenthal Rn. 25, 120, 146 ff.
94
3. Abschn.: Historische Entwicklung
gewaltigung im Einklang mit den historischen Vorgaben von einer weit reichenden Identität der qualifizierten Nötigungsmittel von Raub und räuberischer Erpressung einerseits und sexueller Nötigung und Vergewaltigung andererseits ausging. Danach sollte das vom Nötigungsmittel der Gewalt zu unterscheidende Merkmal der „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr“ immer dann vorliegen, wenn der Drohende eine Situation in Aussicht stellte, bei der im Falle ihrer Verwirklichung die Besorgnis eines zeitlich unmittelbar bevorstehenden Schadenseintritts bestand.
IV. Zusammenfassung und Zwischenergebnis Die historische Betrachtung der hier behandelten Vorschriften von Raub und räuberischer Erpressung, §§ 249, 255 StGB, und sexueller Nötigung und Vergewaltigung, § 177 StGB, spricht insgesamt ein sehr deutliche Sprache. Bei allen untersuchten Strafbestimmungen stammt das Merkmal der „gegenwärtigen Gefahr“ bereits aus der Urfassung unseres heutigen Strafgesetzbuches, dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871. Sowohl der Gesetzgeber als auch die Literatur verstanden zum damaligen Zeitpunkt unter einer gegenwärtigen Gefahr übereinstimmend die Besorgnis einer unmittelbar bzw. augenblicklich bevorstehenden Rechtsgutverletzung. Die Gegenwärtigkeit charakterisierte also eine zeitliche Beschränkung der Gefahr. Gemeinsam war allen Bestimmungen damals wie heute auch, dass stets nur die gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben erfasst wurde. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Nötigungskomponenten der Delikte von sexueller Nötigung, Vergewaltigung, Raub und räuberischer Erpressung ihre gemeinsame Wurzel – zumindest teilweise – in den römischrechtlichen Grundsätzen zum „crimen vis“ haben und sich die entsprechenden Vorschriften diesbezüglich auch in den Zeiten des späten gemeinen Rechts weitgehend parallel entwickelten. Bei ihnen diente das Gegenwärtigkeitsmerkmal übereinstimmend dazu, die erst später als potentielles Nötigungsmittel anerkannte Drohungsalternative in ihrer möglichen Nötigungsintensität derjenigen des bereits vorhandenen Zwangsmittels der Gewalt anzugleichen. Bei Raub und räuberischer Erpressung sollte es außerdem eine klare Abgrenzung zum Delikt der einfachen Erpressung gewährleisten. Insgesamt lässt sich damit festhalten, dass der Gesetzgeber den Begriff der Gegenwärtigkeit – jedenfalls soweit hierzu ausdrückliche Stellungnahmen vorliegen – einheitlich als Synonym für ein zeitlich unmittelbares Bevorstehen eines Ereignisses oder eines – wenn auch ggf. nur gedachten – Zustandes verwendet hat. Unter Zugrundelegung dieses Begriffsverständnisses lässt sich bei Heranziehung der oben291 dargestellten zeitlichen Gefahrkonstellationen neben der akuten Gefahr auch die Dauergefahr im engeren Sinne unter das Merkmal der „gegenwärtigen 291
Vgl. 2. Abschnitt, A. II. 1.
B. Die historische Entwicklung der Nötigungsmittel
95
Gefahr“ subsumieren, da bei dieser der Schaden jederzeit, also auch in zeitlich unmittelbarer Abfolge, eintreten kann, wenn auch die Möglichkeit offen bleibt, dass die Rechtsgutverletzung noch eine gewisse Zeit auf sich warten lässt. Auf der anderen Seite kann die Dauergefahr im weiteren Sinne nicht als dergestalt potentiell zeitlich unmittelbar bevorstehender Schadenseintritt qualifiziert werden, da bei ihr feststeht, dass der – mögliche – Schadenseintritt erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand eintreten wird. Mit diesem klaren Befund der historischen Interpretation stehen die Ansätze der Rechtsprechung und der herrschenden Literatur zu §§ 249, 255 StGB und die Auffassung der überwiegenden Lehre zu § 177 StGB nicht in Einklang, welche dem Merkmal der gegenwärtigen Gefahr – jedenfalls in Bezug auf die Dauergefahr im weiteren Sinne – seine rein zeitliche Bedeutung absprechen, sondern unter Einbeziehung kriminalpolitischer und normativer Gesichtspunkte den gegenwärtigen Handlungszwang zum entscheidenden Kriterium erheben und daher auch die Dauergefahr im weiteren Sinne als „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne dieser Vorschriften ansehen. Es wird daher im Fortgang dieser Untersuchung zu überprüfen sein, ob dieses Abweichen vom historischen Willen des Gesetzgebers zum einen dogmatisch begründbar und zum anderen durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist. Dabei soll im Folgenden zunächst untersucht werden, wie die Begriffe „Gefahr“ und „gegenwärtig“ in anderen Vorschriften des StGB verstanden werden bzw. zu verstehen sind. Ein solches Vorgehen ist vor allem deshalb erforderlich, weil – worauf bereits mehrfach hingewiesen wurde – einige Hauptargumente der herrschenden Ansicht in Rechtsprechung und Literatur zum inhaltlichen Verständnis des qualifizierten Nötigungsmittels der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben primär aus dem Bereich der Notstandsvorschriften des Allgemeinen Teils stammen, Ihren Ursprung teilweise aber etwa auch bei den Gefährdungsdelikten haben. Schon aus diesem Grund kann die vorliegende Untersuchung sich nicht auf eine isolierte Betrachtung der §§ 177, 249, 255 StGB beschränken.
Vierter Abschnitt
Behandlung der Begriffe „Gefahr“ und „gegenwärtig“ in anderen Vorschriften des StGB Wie bereits zu Beginn dieser Arbeit angedeutet, ist für das Merkmal der „gegenwärtigen Gefahr“ bzw. die Begriffe der „Gefahr“ und der „Gegenwärtigkeit“ allgemein kennzeichnend, dass sie an vielen Stellen des StGB in höchst unterschiedlichen Kontexten verwendet werden.1 Doch trotz der dabei zum Teil sehr divergierenden Regelungszusammenhänge gehen zahlreiche Stimmen in Rechtsprechung und Schrifttum entweder ausdrücklich oder aber stillschweigend von ihrer identischen oder doch weitgehend gleichen inhaltlichen Interpretation aus. Dies zeigt sich etwa daran, dass, wie bereits festgestellt wurde, die Rechtsprechung im Bereich der §§ 249, 255 StGB und die herrschende Ansicht in der Literatur für alle Vorschriften, die das qualifizierte Nötigungsmittel der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben enthalten, von einer Übertragbarkeit der zu den Notstandsvorschriften der §§ 34, 35 StGB entwickelten Grundsätze zur Bestimmung des Merkmals der gegenwärtigen Gefahr ausgehen. Letztere wiederum weisen in ihrer Ausbildung deutliche Bezugspunkte zur Interpretation des Gefahrbegriffs der Gefährdungsdeliktsstrukturen und des Gegenwärtigkeitsbegriffs der Notwehr, § 32 StGB, auf. Daher kann eine Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nicht isoliert bei den Vorschriften der §§ 249, 255, 177 StGB ansetzen, sondern muss auch die Entwicklung der Auffassungen zu den – als Vorbild für die inhaltliche Deutung dienenden – übrigen Vorschriften des StGB, die entsprechende Begriffe verwenden, näher beleuchten. Ziel dieses Abschnitts ist folglich, den zutreffenden Bedeutungsgehalt der genannten Tatbestandsmerkmale in anderen als den hier schwerpunktmäßig behandelten Vorschriften des StGB und dessen Hintergründe zu ermitteln, um sodann auf dieser Grundlage eine Übertragbarkeit auf die qualifizierten Nötigungsmittel der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben kritisch hinterfragen zu können.
1
Kretschmer Jura 2005, 662.
A. Der Gefahrbegriff bei den konkreten Gefährdungsdelikten
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A. Der Gefahrbegriff bei den konkreten Gefährdungsdelikten Besonders häufig wurde und wird der Begriff der Gefahr im Rahmen der konkreten Gefährdungsdelikte thematisiert, was vermutlich vor allem darauf zurückzuführen ist, dass diesen – insbesondere im Bereich der Straßenverkehrsdelikte – auch zahlenmäßig eine hohe Bedeutung in der Gerichtspraxis zukommt.2 Die intensive Beschäftigung mit dem Merkmal der Gefahr in diesem Bereich hatte – jedenfalls in früherer Zeit – zur Folge, dass der Gefahrbegriff der konkreten Gefährdungsdelikte gewissermaßen die gemeinsame Grundlage für die Gefahrdefinitionen anderer diesen Ausdruck verwendenden Bestimmungen des StGB bildete. Daher lassen sich möglicherweise bereits in diesem Kontext wichtige Erkenntnisse über die Bestimmung des Begriffs der Gefahr herausarbeiten.
I. Die Bestimmung der konkreten Gefahr durch die Rechtsprechung Die obergerichtliche Rechtsprechung hat in einem jahrzehntelangen Entwicklungsprozess Kriterien für die Bestimmung des Vorliegens einer konkreten Gefahr herausgearbeitet, ohne jedoch über lange Zeit hinweg zu einer allgemeingültigen, begrifflich klaren Definition zu gelangen. Auf einer früh gefestigten Grundlage wurde dabei die Akzentuierung immer wieder verschoben, was sich anhand einer Einteilung in drei Entwicklungsphasen gut nachvollziehen lässt.
1. Frühe Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs Schon früh musste sich das Reichsgericht in den „Eisenbahnfällen“ mit dem Tatbestandsmerkmal der Gefahr auseinander setzen, wobei man sich bereits zu diesem Zeitpunkt der Problematik des Begriffes bewusst war. Diese resultierte nach der Ansicht der Rechtsprechung primär daraus, dass das „Begriffsmerkmal der ,Gefahr‘ und des ,in Gefahrsetzens‘ . . . überwiegend thatsächlicher und nicht rechtlicher Natur (sei). Der Ausdruck ,Gefahr‘ . . . (werde) in der Sprache des gewöhnlichen Lebens als ein durchaus relativer angewendet; man . . . (spreche) ebenso von einer ,nahen‘ oder ,dringenden‘ Gefahr, wie andererseits von einer ,entfernten‘ Gefahr für Personen oder Sachen, um damit verschiedene Grade von Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit eines den letzteren drohenden Schadens anzudeuten.“ Allerdings sei grundlegend festzuhalten, dass jedenfalls „die bloße ab-stracte Mög2 Lackner S. 1 f.; Berz S. 61; Geppert Jura 2001, 559; Dimitratos S. 6 f.; vgl. auch Koriath GA 2001, 51, 54.
7 Blanke
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4. Abschn.: Begriffe „Gefahr“ und „gegenwärtig“
lichkeit einer Lebens- oder Sachbeschädigung keinesfalls . . . (genügen könne), um den Zustand einer Gefährdung herzustellen“.3 Eine erste grundlegende Bestimmung des Gefahrbegriffs erfolgte dabei in der wegweisenden Entscheidung vom 11. 03. 1884: „Danach genügt zur Annahme einer Gefahr nicht die bloße, vielleicht noch so entfernte Möglichkeit, daß infolge einer Handlung ein Schaden eintrete. . . . Man bezeichnet damit einen Zustand, in welchem nach den zur Zeit bekannten Verhältnissen der Eintritt eines Schadens als wahrscheinlich zu gelten hat, oder was dasselbe sagen will, eine naheliegende Möglichkeit, eine begründete Besorgnis eines Schadens vorliegt. . . . Andererseits verlangt das Gesetz nicht einen hohen oder überhaupt einen bestimmten Grad der Wahrscheinlichkeit eines Schadens. Eine feste, für die unendliche Zahl aller denkbaren Fälle durchgreifende Abgrenzung zwischen der Möglichkeit und der Wahrscheinlichkeit eines Schadens läßt sich nicht ziehen; . . .“.4 Diese Formel der konkreten Gefahr als Wahrscheinlichkeit einer Rechtsgutverletzung, als Zustand, in dem nach den konkreten Umständen die Möglichkeit eines Schadenseintritts nahe liegt, wurde in der späteren Rechtsprechung sowohl des Reichsgerichts5 als auch des BGH6 übernommen und bildet noch heute die Grundlage der Bestimmung des Gefahrbegriffs.7 Im Bemühen um eine weitere Präzisierung und im Anschluss an eine vereinzelt gebliebene Entscheidung des Reichsgerichts8 führte der BGH9 allerdings später teilweise aus, es sei erforderlich, dass der Eintritt eines Schadens wahrscheinlicher sei als sein Ausbleiben.10 3 Rspr. RGSt 6, 98, 99 f.; ähnlich RGSt 10, 173, 175 f.: „Das Begriffsmerkmal der ,Gefahr‘ und des ,Ingefahrsetzens‘ . . . entzieht sich einer scharfen Abgrenzung. Die Begriffe sind dem allgemeinen Sprachgebrauche entnommen.“ und später BGHSt 18, 271, 272: „Der Begriff der Gefahr entzieht sich genauer wissenschaftlicher Umschreibung. Er ist nicht allgemeingültig bestimmbar und überwiegend tatsächlicher, nicht rechtlicher Natur“. 4 RGSt 10, 173, 176; ähnlich, wenn auch noch nicht in dieser Deutlichkeit, zuvor bereits RGSt 6, 396, 397 zu § 223a StGB a. F.: „Der Ausdruck ,Gefahr‘ und ,Gefährdung‘ bedeutet die größere oder geringere Wahrscheinlichkeit eines in naher oder entfernter Zukunft nach menschlicher Erfahrung und den Gesetzen der Kausalität zu erwartenden schädlichen Ereignisses. Wie stark die Wahrscheinlichkeit und wie nahe die danach zu befürchtende Eventualität sein muß, um von vorhandener Gefahr sprechen zu können, läßt sich eben nur für den Einzelfall entscheiden“. 5 Vgl. Rspr. RGSt 7, 128, 130; RGSt 14, 135, 137; Rspr. RGSt 10, 594; RGSt 29, 244, 246; RGSt 30, 178, 179; RGSt 61, 362, 363 f. 6 Vgl. BGHSt 8, 28, 31; BGHSt 13, 66, 70; BGHSt 18, 271, 272; BGHSt 22, 67, 74; BGHSt 22, 341, 345; BGHSt 26, 176, 179. 7 Vgl. BGH NStZ-RR 1997, 18; OLG Schleswig MDR 1989, 1122; Küper BT S. 149, 154 f. 8 Vgl. Rspr. RGSt 6, 98, 100. 9 BGHSt 8, 28, 31; BGHSt 11, 162, 164; BGHSt 13, 66, 69 f. 10 Vgl. Roxin AT I, § 11 Rn. 148; LK-P. König § 315 Rn. 53; Küper BT S. 154; Zieschang S. 38; Jähnke DRiZ 1990, 425, 426 f.
A. Der Gefahrbegriff bei den konkreten Gefährdungsdelikten
99
2. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit 1963 Die zweite Entwicklungsphase, die durch eine stärker normativ ausgerichtete Bestimmung des Gefahrbegriffes gekennzeichnet war, wurde bereits durch eine Entscheidung aus dem Jahre 196311 eingeleitet. Hierin beschrieb der BGH die Gefahr zunächst ganz im Sinne der älteren Rechtsprechung: „Nach dem Sprachgebrauch besteht dann eine ,Gefahr‘, wenn der Eintritt eines Schadens nahe liegt. Das ist der Fall, wenn nicht nur die gedankliche Möglichkeit, sondern eine auf festgestellte tatsächliche Umstände gegründete Wahrscheinlichkeit eines schädigenden Ereignisses besteht“.12 Als Wende in der Rechtsprechung ist aber anzusehen, wenn weiter ausgeführt wurde, dass die Formulierung „der Eintritt eines Schadens müsse wahrscheinlicher sein als sein Ausbleiben“ zumindest missverständlich sei: „Mit Hilfe von Prozentzahlen kann . . . der Begriff der Gefahr nicht bestimmt werden. Vielmehr kann entsprechend dem Sprachgebrauch nur einerseits von einer ,entfernten‘, andererseits von einer ,nahen‘ Möglichkeit eines schädigenden Ereignisses gesprochen werden.“13 Es sei vielmehr maßgeblich, dass die Umstände auf einen unmittelbar bevorstehenden Unfall hindeuteten, falls nicht eine plötzliche Wendung eintrete: „Mit der . . . Wendung, ,der Eintritt eines Schadens müsse wahrscheinlicher sein als dessen Ausbleiben‘, sollte nichts anderes zum Ausdruck gebracht werden, als daß zur Annahme einer (Gemein-)Gefahr . . . nicht schon die entfernte, weit abliegende Gefahr genügt, sondern eine nach der allgemeinen Lebenserfahrung im Einzelfall zu beurteilende nahe liegende Gefahr erforderlich ist, die auf einen unmittelbar bevorstehenden Unfall hindeutet, wenn keine plötzliche Wendung eintritt, . . . Das Gewicht . . . liegt . . . auf der Unterscheidung zwischen der ,schon vorhandenen, als unmittelbar immanenten und über dem bedrohten Objekt hängenden‘ auf der einen und der ,noch gar nicht existenten oder doch entfernt vorliegenden‘ Gefahr auf der anderen Seite“.14 Endgültig vollzogen wurde die Änderung der Sicht durch das bahnbrechende Urteil vom 8. 3. 1973, in dem der BGH15 unter Berufung auf Cramer16 den entscheidenden Schwerpunkt der Gefahr auf das Zufallsmoment legte: „Die . . . konkrete Gefahr ist gegeben, wenn die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache durch das Fahrverhalten des Täters so stark beeinträchtigt wird, daß es vom Zufall abhängt, ob das Rechtsgut verletzt wird oder nicht“.17 BGHSt 18, 271 ff. BGHSt 18, 271, 272. 13 BGHSt 18, 271, 272. 14 BGHSt 18, 271, 272 f.; später ebenso BGHSt 22, 67, 74; BGHSt 22, 341, 344 f.; ähnlich BGHSt 19, 263, 268: „Gefährlich ist ein Zustand, der jederzeit in ein schädigendes Ereignis umschlagen kann.“; zustimmend OLG Frankfurt / M. NJW 1975, 840; vgl. auch Roxin AT I, § 11 Rn. 148; LK-P. König § 315 Rn. 53; Zieschang S. 41, 43. 15 BGH VRS 44, 422, 423. 16 1. Auflage Frankfurt / M. 1971, § 315c Rn. 51 f. 11 12
7*
100
4. Abschn.: Begriffe „Gefahr“ und „gegenwärtig“
3. Aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Den vorläufigen Schlusspunkt der Entwicklung stellt die Grundsatzentscheidung vom 30. 03. 199518 zur Gefährdung des Beifahrers bei einer Alkoholfahrt dar. Nachdem der BGH dabei in den Urteilsgründen zunächst die Anforderungen an das Vorliegen einer konkreten Gefahr ganz im Sinne der bisherigen Rechtsprechung19 wiedergegeben hatte20, präzisierte er das erforderliche Vorliegen einer kritischen Situation dahingehend, dass es sich um einen „Beinahe-Unfall“ gehandelt haben müsse, „also (um) ein Geschehen, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, daß ,das noch einmal gut gegangen sei‘ . . .“.21 Soweit in der neueren Rechtsprechung eine „hochgradige Existenzkrise“ verlangt worden sei22, dürfe „dies (aber) jedenfalls nicht zu einer Überspannung der Anforderungen führen, die an eine konkrete Gefahr zu stellen sind . . .“.23
II. Ansätze zur Gefahrbestimmung in der Lehre Grundsätzliche Einigkeit besteht in der Lehre nur hinsichtlich bestimmter Einzelaspekte des Gefahrbegriffs. So ist heute allgemein anerkannt, dass das Vorliegen einer konkreten Gefahr entscheidend anhand objektiver Gesichtspunkte und nicht etwa aufgrund einer subjektiv beschränkten Wissensbasis24 zu bestimmen ist.25 17 Dieser Gedanke war allerdings nicht neu. So hieß es schon im Leitsatz von Rspr. RGSt 6, 98 f.: „Gefahr für einen Eisenbahnzug besteht im Sinne des Gesetzes nur dann, wenn der Eintritt eines Unglücks wahrscheinlich ist und nur durch Dazwischentreten von Zufälligkeiten abgewendet wurde.“; vgl. LK-P. König § 315 Rn. 53; Küpper S. 129; Küper BT S. 154 f.; Zieschang S. 41, 45. 18 BGH NJW 1995, 3131 ff. 19 Vgl. Fn. 6 sowie BGH NStZ 1985, 263, 264, insb. zum Problem des Beurteilungszeitpunktes. 20 BGH NJW 1995, 3131: „Die Tathandlung muß . . . über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus im Hinblick auf einen bestimmten Vorgang in eine kritische Situation geführt haben . . . ; in dieser Situation muß – was nach der allgemeinen Lebenserfahrung aufgrund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist . . . – die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt worden sein, daß es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht“. 21 BGH NJW 1995, 3131, 3132; ebenso BGH NJW 1996, 329 f.; BGH NZV 1997, 276; BGH NStZ 2006, 447; OLG Hamm NZV 1998, 212; nicht ganz konsequent allerdings in neuerer Zeit BGH NJW 2003, 836, 837 f., der zu seinen abweichenden Ausführungen indes nur deshalb gezwungen ist, weil er das Kriterium des „Beinahe-Unfalls“ bzw. des „Unfalls“ in einem zu engen – wörtlichen – Sinne versteht; vgl. dazu auch die Kritik bei König JR 2003, 255 f. 22 So OLG Düsseldorf NJW 1993, 3212. 23 BGH NJW 1995, 3131; vgl. dazu auch OLG Frankfurt / M. NZV 1994, 365 f.; Roxin AT I, § 11 Rn. 149; LK-P. König § 315 Rn. 53; Küper BT S. 155; Renzikowski JR 1997, 115 f. 24 So aber die früher häufig, zuletzt noch von Lackner, S. 17 f., vertretene sog. subjektive Gefahrtheorie; vgl. dazu die ausführlichen Darstellungen bei Dimitratos S. 32 ff. m. w. N.
A. Der Gefahrbegriff bei den konkreten Gefährdungsdelikten
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Dies entspricht im Übrigen grundsätzlich auch der Sicht der Rechtsprechung.26 Zudem wird die Erforderlichkeit einer Berücksichtigung bestimmter ex post gewonnener Erkenntnisse im Rahmen der grundsätzlich vorzunehmenden objektiven ex-ante-Prognose heute nicht mehr in Frage gestellt.27 Als Begründung hierfür wird zumeist darauf verwiesen, dass die konkreten Gefährdungsdelikte ihrer Natur nach Erfolgsdelikte seien; der missbilligte Erfolg liege in der Herbeiführung einer konkreten Gefahr für ein bestimmtes Rechtsgutsobjekt durch ein Verhalten des Täters.28 Im Übrigen aber finden sich erhebliche Meinungsverschiedenheiten über die für die Gefahrbestimmung im Einzelnen maßgeblichen Kriterien.
1. Herrschende Ansicht in der Literatur Die herrschende Ansicht in der Literatur folgt weitgehend der Linie der Rechtsprechung29, wobei sich einige Autoren bis heute im Wesentlichen auf die Formel und Demuth S. 51 ff. m. w. N. sowie Puhm S. 92 f.; Arzt / Weber § 35 Rn. 66 f. m. w. N.; Schünemann JA 1975, 787, 794; Engisch S. 67, 105; Kindhäuser S. 198. 25 Arzt / Weber § 35 Rn. 68, 70; Lackner / Kühl § 315c Rn. 22; Küper BT S. 153; Ostendorf JuS 1982, 426, 429, 433; LK-P. König § 315 Rn. 56; Schönke / Schröder-Heine vor §§ 306 ff. Rn. 5; Schünemann JA 1975, 787, 794; Demuth S. 58 ff., 71; Hirsch, Art. Kaufmann-FS S. 545, 558; Tröndle / Fischer § 315 Rn. 14, § 315c Rn. 15; vgl. auch Dimitratos S. 36 ff. m. w. N. und die Stellungnahme des Gesetzgebers in der Begründung zum E 1962 (BT-Drs. IV / 650, S. 497). 26 Vgl. oben I. 27 Küper BT S. 153; ders., Hirsch-FS S. 595, 611; Gallas, Heinitz-FS S. 171, 177 ff.; LK-P. König § 315 Rn. 56; Wolter S. 219; Küpper S. 128; Schröder ZStW 81, 7, 9 ff.; Hirsch, Art. Kaufmann-FS S. 545, 558; ders. JuS 1978, 748, 750; Zieschang S. 34, 93; Graul S. 24 f.; Lackner / Kühl § 315c Rn. 22; Arzt / Weber § 35 Rn. 77; Tröndle / Fischer § 315c Rn. 15; Schünemann JA 1975, 787, 794; Schroeder ZStW-Beiheft 1982, 1, 6, 20; Ostendorf JuS 1982, 426, 429, 433; Dimitratos S. 54, 120; Kindhäuser S. 211; Horn S. 51 ff.; NK-Paeffgen § 224 Rn. 5; a.A. in neuerer Zeit alleine Koriath GA 2001, 51, 60 f.; vgl. auch die Begründung zum E 1962 (BT-Drs. IV / 650, S. 497) sowie Puhm S. 93 und Demuth S. 81 ff., 95 ff. 28 Graul S. 24; Zieschang S. 29, 34 f., 93; Küper BT S. 149, 151; Lackner / Kühl vor § 13 Rn. 32; Tröndle / Fischer vor § 13 Rn. 13a; Roxin AT I, § 11 Rn. 147; Jescheck / Weigend § 26 II. 2. (S. 263 f.); Horn S. 11 ff., 104 f.; Gallas, Heinitz-FS S. 171, 176 f.; Ostendorf JuS 1982, 426, 428 f., 433; Wolter S. 219; ders. JuS 1978, 748, 750; Hoyer S. 97, 199; Demuth S. 16 ff., 31 ff.; Lackner S. 7; Schünemann JA 1975, 787, 793 f.; Meyer-Gerhards JuS 1976, 228, 229; Schroeder ZStW-Beiheft 1982, 1, 2 f.; Geppert NStZ 1985, 264; Berz S. 55, 63; Fischer GA 1989, 445, 446; Arzt / Weber § 35 Rn. 61, 64; Jakobs AT, 6. Rn. 79; unrichtig insoweit Jähnke DRiZ 1990, 425, 430; a.A. Koriath GA 2001, 51, 58 ff., 62, 74; vgl. auch Puhm S. 93; Dimitratos S. 7 ff., 120. 29 Tröndle / Fischer § 315c Rn. 15; Arzt / Weber § 35 Rn. 72 f.; Lackner / Kühl § 315c Rn. 21 f.; Zieschang S. 43, 49 f.; Cramer § 315c Rn. 50 ff.; Schönke / Schröder-Heine vor §§ 306 ff. Rn. 5; Schönke / Schröder-Cramer / Sternberg-Lieben § 315 Rn. 14, § 315c Rn. 35; LK-P. König § 315 Rn. 55, 59, 61; ders. JR 2003, 255 f.; Berz S. 56; Berz / Saal NZV 2003, 198, 199; Fischer GA 1989, 445, 446; Geppert Jura 2001, 559, 564; ders. NStZ 1985, 264 ff.;
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4. Abschn.: Begriffe „Gefahr“ und „gegenwärtig“
der frühen Rechtsprechung beschränken, eine Gefahr sei ein Zustand, in dem nach den konkreten Umständen der Eintritt eines Schadens wahrscheinlich sei, die Möglichkeit eines solchen nahe liege.30 2. Naturwissenschaftliche Gefahrerfolgstheorie Horns Einen völlig eigenständigen Lösungsweg zur Bestimmung des Gefahrbegriffs stellt hingegen die von Horn31 entworfene, streng naturalistische sog. „naturwissenschaftliche Gefahrerfolgstheorie“32 dar. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt in der Überlegung, dass es streng genommen aus der ex-post-Sicht heraus überhaupt keine Gefahr geben könne. Denn von einem als gefährlich bezeichneten Zustand spreche man dann, wenn im Nachhinein feststehe, dass die Handlung aufgrund der konkreten Verhältnisse gerade nicht zu einem Schaden geführt habe. Andernfalls trete ja der Erfolg in Form einer Verletzung ein, so dass dem Element der Gefahr keine entscheidende Bedeutung mehr zukomme.33 Wenn nun aber der Begriff der Gefahr Grundlage der Strafverfolgung des Täters sei, ohne dass es dabei auf den tatsächlichen Eintritt einer Rechtsgutsverletzung ankomme, so müsse es sich bei dem zugrunde liegenden Sachverhalt doch zumindest um einen solchen handeln, „dessen Entstehung (im Täter) Unwertempfindungen auslöst, ähnlich jenen, die mit dem Eintritt einer Rechtsgutsverletzung in aller Regel verbunden sind“.34 Die Ermittlung der relevanten Sachverhalte könne man aber nicht – wie es der h. M. in der Literatur entspreche – dadurch erreichen, dass man die Gefahr als „mögliche Verletzungsursache“ begreife und durch die bewusste Abstraktion gerade derjenigen Tatsachen, auf denen das Ausbleiben des Verletzungserfolges beruhe, zu einem Gefährlichkeitsurteil gelange.35 Andernfalls fingiere man den Eintritt eines Gefahrerfolges und liefe Gefahr, non-liquet-Situationen zu Lasten des Angeklagten zu lösen, wodurch man im Endeffekt gegen den Grundsatz „in dubio pro reo“ verstieße.36 Da besagtes Unwertempfinden immer dann aufkomme, wenn unklar bleibe, warum der Sachverhalt im konkreten Fall nicht zu einem Schaden geführt habe, köntrotz der abweichenden Terminologie gehört auch die Auffassung von Schroeder, ZStW-Beiheft 1982, 1, 13, 21, hierher, da auch er nur die Zufälligkeit des Nichteintritts eines nahe liegenden Schadens umschreibt. 30 So etwa Jescheck / Weigend § 26 II. 2. (S. 263 f.); Graul S. 24 f.; vgl. Küpper S. 129 m. w. N.; Koriath GA 2001, 51, 55. 31 S. 104 ff., 158 ff., 172 ff., 190 ff., 212; SK-Horn vor § 306 Rn. 5 ff. 32 So die Bezeichnung von Wolter S. 220, 237. 33 Horn S. 106 f., 110, 112, 115 f. 34 Horn S. 107 f., 115; SK-Horn vor § 306 Rn. 5. 35 Horn S. 106 ff.; SK-Horn vor § 306 Rn. 7. 36 Horn S. 115, 190; SK-Horn vor § 306 Rn. 7.
A. Der Gefahrbegriff bei den konkreten Gefährdungsdelikten
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ne und müsse das Tatbestandsmerkmal der Gefahr vielmehr anhand der Verknüpfung zweier Ursachenzusammenhänge materiell-rechtlich fixiert werden.37 Zunächst sei erforderlich, dass die vorgenommene Handlung naturgesetzlich überhaupt Ursache für die in Rede stehende Rechtsgutsverletzung sein könne. Wenn dabei auf der einen Seite ein Sachverhalt, „von dem die Naturwissenschaft nicht schon sagen . . . (könne), ob ein solcher Sachverhalt überhaupt schon einmal als Ursache eines entsprechenden Verletzungserfolges erlebt worden ist“ und auf der anderen Seite „ein Sachverhalt, von dem die Naturwissenschaft positiv sagen . . . (könne), warum ein solcher Sachverhalt nicht zu einem Verletzungserfolg wie der befürchteten Rechtsgutverletzung führen kann“, keine Gefahr begründen könnten38, so müsse man verlangen, dass „der als ,Gefahrsachverhalt‘ in Rede stehende Umständekomplex bereits einmal als (Mit-)Ursache für die Verletzung eines der Art nach bestimmten Rechtsguts naturwissenschaftlich (also ätiologisch, nicht nur ,massenstatistisch‘) begründbar – ein entspr. ,Verdacht‘ genügt nicht! – erfahren worden ist“.39 Die in dieser ersten Stufe durch das „abstrakte Kausalgesetz“ herausgefilterten Sachverhalte müssten dann in einem zweiten Schritt anhand eines speziellen „Unmöglichkeitsgesetzes“ überprüft werden: „Nur diejenigen Sachverhalte heißen ,Verletzungsgefahr‘, die den Voraussetzungsteil eines auf die Verletzung bezogenen – mehr oder weniger ,abstakten‘ – Erfahrungssatzes und nicht zugleich den Voraussetzungsteil eines auf die Verletzung bezogenen konkreten Unmöglichkeitsgesetzes erfüllen“.40 Als Unmöglichkeitsgesetz bezeichnet Horn ein „dem naturwissenschaftlichen Fachkreise bekannte(s) oder erkennbare(s) konkrete(s) Kausalgesetz . . . , welches auf das Ausbleiben . . . (der) Rechtsgutsverletzung bezogen wäre“.41 Wenn diese Überprüfung ergebe, dass „nicht gesagt werden kann, warum eine Rechtsgutsverletzung im konkreten Fall ausgeblieben ist“, könne von einer Gefahr gesprochen werden.42 Allerdings müsse die „Nichterklärbarkeit . . . den Charakter einer ,Ewigkeits-Eigenschaft‘ tragen . . .“: „Es darf nicht nur momentan ausgeschlossen sein, den betreffenden Sachverhalt als Nichtursache einer bestimmten Verletzung zu erklären. Vielmehr ist notwendig, daß es nach menschlichem und sachverständigem Ermessen niemals gelingen kann, Sachverhalte dieser Art als Verwirklichung eines Kausalgesetzes zu erkennen, das auf Erfolge bezogen ist, bei denen die tatbestandsmäßige Verletzung ausgespart bleibt“.43 Zusammenfassend sei Gefahr also ein „Sachverhalt, der als Ursache für eine Rechtsgutverletzung bestimmter Art bereits erfahren worden ist, von dem aber nie37 38 39 40 41 42 43
Horn S. 115, 191 f. Horn S. 160 f. SK-Horn vor § 306 Rn. 6. Horn S. 159. Horn S. 192. SK-Horn vor § 306 Rn. 7, § 315 Rn. 19; ders. S. 192 f. Horn S. 192.
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4. Abschn.: Begriffe „Gefahr“ und „gegenwärtig“
mand jemals erklären könnte, warum die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts im konkreten Falle ausbleiben mußte“44 oder – anders gesagt – ein „Komplex von Umständen, aus dem sich eine bestimmte Rechtsgutsverletzung unerklärlicherweise nicht entwickelt hat“.45
3. Normative Gefahrerfolgstheorien Gerade in neuerer Zeit wurde schließlich eine Reihe eigenständiger Ansätze entworfen, die sich zusammenfassend als „normative Gefahrerfolgstheorien“ 46 bezeichnen lassen. Wie diese Bezeichnung schon erkennen lässt, besteht ihr gemeinsames Charakteristikum darin, dass sie den Gefahrbegriff normativ, unter Berücksichtigung wertender Gesichtspunkte bestimmen.47 Zudem decken sich die Lösungsvorschläge der verschiedenen Autoren zumindest insoweit, als Grundvoraussetzung einer jeden konkreten Gefahr sein soll, dass ein potentiell gefährdetes Rechtsgutobjekt tatsächlich vorhanden und im konkreten Fall bereits in den Wirkungsbereich einer gefährlichen Handlung geraten ist. Erst dann könne man überhaupt von der erforderlichen kritischen Situation sprechen.48 Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten besteht – zumindest auf den ersten Blick49 – indes ebenso Uneinigkeit wie bei der Bestimmung der übrigen Merkmale des Gefahrbegriffs. a) So stellen Schünemann50 und Demuth51 in ihren Ansätzen zur Definition des Begriffs der konkreten Gefahr jeweils entscheidend auf die Beschaffenheit der schadensverhindernden Rettungsursachen ab. Dabei soll nach Schünemann eine konkrete Gefahr immer dann anzunehmen sein, „wenn die normalen Veranstaltungen für die Entschärfung der Situation nicht mehr ausreichen und zu diesem Zweck zu außergewöhnlichen Maßnahmen gegriffen werden muss bzw. müsste“.52 Denn nur generell beherrschbare und damit VerHorn S. 212. SK-Horn vor § 306 Rn. 5; vgl. auch Roxin AT I, § 11 Rn. 150; LK-P. König § 315 Rn. 54; Küpper S. 129; Küper BT S. 152 f.; Zieschang S. 44, 45 f.; Puhm S. 100 ff. 46 Bezeichnung wiederum nach Wolter S. 217, 219. 47 Vgl. Schünemann JA 1975, 787, 796; Demuth S. 166 f., 169, 184 f.; Wolter S. 227, 229; Hoyer S. 77, 79; Ostendorf JuS 1982, 426, 430. 48 Demuth S. 200, 202; Wolter S. 217, 226; ders. JuS 1978, 748, 752; Ostendorf JuS 1982, 426, 430, 433; dies entspricht im Übrigen auch der Sichtweise der Rechtsprechung (vgl. BGH NJW 1989, 1227 sowie oben A. I. 3.); vgl. außerdem Roxin AT I, § 11 Rn. 148; Küper BT S. 152; LK-P. König § 315 Rn. 59; Zieschang S. 40 f. m. w. N., 44, 49 f. 49 Vgl. aber unten III. 2. 50 JA 1975, 787, 796 f.; JA 1980, 349, 393 f. 51 S. 184 ff., 193 ff., 197 ff., 203 ff., 210 ff., 217 f., 229 f. 52 Schünemann JA 1975, 787, 797. 44 45
A. Der Gefahrbegriff bei den konkreten Gefährdungsdelikten
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trauen erweckende Rettungsmittel beseitigten die Gefährlichkeit einer Handlung und den auf sie bezogenen Unwerteindruck, weshalb von einer Gefahr im Sinne der konkreten Gefährdungsdelikte gesprochen werden könne, wenn der Nichteintritt des Schadens auf solchen „(u. U. statistisch zu interpretierenden) Rettungsursachen“ beruhe, „die nicht bereits in den normalen Ablauf eingeplant sind, sondern auf einer außerordentlichen Geschicklichkeit des Bedrohten oder einer unbeherrschbaren, glücklichen Verkettung anderer Umstände beruhen“.53 In ähnlicher Weise äußert sich auch Demuth, nach dem das Merkmal der konkreten Gefahr neben der Existenz einer „akuten krisenhaften Bedrohungssituation“54 insbesondere voraussetzt, dass sich die – potentiell – zur Schadensverhinderung zu ergreifenden Rettungsursachen „menschlicher Planung und Berechnung entziehen, man weder ihr Eingreifen noch ihre Auswirkungen ,einkalkulieren‘ kann“, es sich also nicht um „menschlicher Steuerung zugängliche, generell beherrschbare und in dem betreffenden Lebensbereich als schadensverhütend vorgesehene Rettungsmittel“ 55 handelt. Aufgrund dessen soll die konkrete Gefahr als „mit normalen schadensverhütenden Mitteln nicht mehr beherrschbare Bedrohung eines Rechtsguts“ zu definieren sein.56 b) Im Rahmen seiner „modifizierten normativen Gefahrerfolgstheorie“57 vertritt Wolter58 die Ansicht, von einer konkreten Gefahr sei immer dann auszugehen, wenn eine an das vom Täter geschaffene adäquate Gefährdungs- bzw. Verletzungsrisiko anknüpfende Prognose zum Zeitpunkt des Eintritts des Rechtsgutes in den Wirkungsbereich ergebe, dass keine ernsthafte Rettungsaussicht mehr für das Rechtsgut bestehe.59 An einer solchen Sachlage fehle es indes vor allem auch dann, wenn erst im Nachhinein feststellbare „Rettungschancen begründende Tatumstände beim Betroffenen oder auch bei Dritten“ vorgelegen hätten, welche „die Rettung des Rechtsguts als objektiv vorhersehbar (bezweckbar, wiederholbar und deshalb nicht als Zufall)“ erscheinen ließen.60 Die konkrete Gefahr sei damit zu definieren als Zustand, in dem „das Rechtsgut infolge des vom Täter geschaffenen adäquaten Gefährdungsrisikos derart in den Wirkungsbereich eines konkreten Verletzungsrisikos geraten ist, daß seine Rettung von diesem Standpunkt aus dem objektiven Beobachter als unvorhersehbar und deshalb zufällig erscheinen muß“.61
53 Schünemann JA 1975, 787, 797; ders. JA 1980, 349, 393; zustimmend Roxin AT I, § 11 Rn. 151; vgl. auch LK-P. König § 315 Rn. 54; Küpper S. 131; Küper BT S. 152; Zieschang S. 46; Puhm S. 103 ff. 54 Demuth S. 200. 55 Demuth S. 217. 56 Demuth S. 218; vgl. auch Roxin AT I, § 11 Rn. 151; LK-P. König § 315 Rn. 54; Küpper S. 131; Zieschang S. 43, 47 f.; Puhm S. 103 ff. 57 So die Bezeichnung von Wolter S. 219, 223, 237. 58 S. 223 ff.; JuS 1978, 748, 749 ff. 59 Wolter S. 224, 226; ders. JuS 1978, 748, 749, 752, 754. 60 Wolter S. 226; ders. JuS 1978, 748, 754.
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c) Hoyer62 stützt seine Gefahrinterpretation maßgeblich auf das kumulative Vorliegen dreier Merkmale, wobei er jeweils entscheidendes Gewicht auf den Aspekt der „Verletzungsfahrlässigkeit“ legt, also die Frage, ob dem Täter mit Blick auf eine – gedachte – Rechtsgutverletzung zumindest ein Fahrlässigkeitsvorwurf gemacht werden könnte.63 Seiner Meinung nach soll für die Existenz einer konkreten Gefahr neben dem Vorhandensein eines „hinreichend verletzungsursachentaugliche(n)“ Sachverhalts64 und der Nichtexistenz von „Negationsfaktoren“, welche die „Verletzungsursachentauglichkeit mit hinreichender Zuverlässigkeit“ beseitigen65, vor allem entscheidend sein, dass die Verletzung eines tatsächlich vorhandenen, verletzungstauglichen Rechtsguts so unmittelbar bevorsteht, dass ihr Eintritt nicht mehr durch „zuverlässig wirkende Negationsfaktoren“ verhindert werden kann.66 Die konkrete Gefahr sei danach als Zustand aufzufassen, „in dem sich eine Gefahrenquelle und ein durch sie konkret veränderbares Objekt so direkt gegenüberstehen, dass kein denkbarer Umstand mehr deren Kollision (und damit dem Eintritt einer Verletzung des Objekts) zuverlässig (= mit einer solchen Sicherheit, dass ein Vertrauen auf die verletzungshindernde Wirksamkeit dieses Umstands gegebenenfalls nicht mehr verletzungsfahrlässig wäre) entgegenwirken könnte“.67 d) Kindhäuser68 legt demgegenüber entscheidendes Gewicht auf die praktische Komponente des Gefahrurteils. Ein Zustand sei als gefährlich zu bezeichnen, wenn es nicht möglich sei, zur Schadensvermeidung „gezielt in ein Geschehen einzugreifen.“69 Damit ergibt sich für Kindhäuser die Definition der konkreten Gefahr als „Unfähigkeit, die Schadensrelevanz einer bestimmten Bedingung gezielt abzuschirmen“. Ein Rechtsgut sei konkret gefährdet, „wenn mit den Mitteln seines Organisationsbereiches keine zur Verhinderung einer wahrscheinlichen Beeinträchtigung geeignete Maßnahme ergriffen werden kann“.70 e) In ähnlicher Weise bestimmen auch Ostendorf71, Renzikowski72 und Koriath73 den Begriff der konkreten Gefahr. So verlangt Ostendorf neben der grund61 Wolter S. 223 f.; vgl. auch Roxin AT I, § 11 Rn. 152; LK-P. König § 315 Rn. 54; Küpper S. 132; Zieschang S. 43, 48. 62 S. 73 f., 76 ff., 80 ff., 83 ff., 93 f., 107 f. 63 Hoyer S. 34 ff., 63 ff., 76 ff., 83, 94. 64 Hoyer S. 74, 76 f., 80 f., 83 f., 93 ff. 65 Hoyer S. 74, 76 f., 79 f., 84, 91, 93 f., 96. 66 Hoyer S. 82 f., 92 ff. 67 Hoyer S. 107 f., ähnlich zuvor bereits a. a. O. S. 83, 93; vgl. auch LK-P. König § 315 Rn. 54; Zieschang S. 46 f. 68 S. 200 ff., 210 ff., 277. 69 Kindhäuser S. 201 f.; dieser Gedanke klingt auch schon bei Schünemann JA 1975, 787, 796; Meyer-Gerhards JuS 1976, 228 f. und Cramer § 315c Rn. 50 ff. an. 70 Kindhäuser S. 210 f., 214 f., 277; vgl. auch Roxin AT I, § 11 Rn. 152; LK-P. König § 315 Rn. 54; Küper BT S. 152; Zieschang S. 44, 48. 71 JuS 1982, 426, 430, 433. 72 JR 1997, 115, 116 ff.
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sätzlichen Möglichkeit einer Gefahrverwirklichung im konkreten Einzelfall die „Unbeherrschbarkeit des Gefährdungsverlaufs“ in Richtung des Verletzungserfolgs als das „essentielle Moment des Gefährdungsunrechts“.74 Für Renzikowski ist eine konkrete Gefahr dann vorhanden, wenn der unmittelbar bevorstehende Schadenseintritt „weder vom Täter noch von Dritten durch finales Verhalten mit hoher Wahrscheinlichkeit abgewendet werden kann“.75 Nach Koriath ist schließlich neben der objektiven Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts die „Unfähigkeit des Aktors, den Schaden intentional zu vermeiden“ maßgebend.76
III. Eigene Stellungnahme Ziel dieser Arbeit kann und soll es nicht sein, den Begriff der Gefahr für den Bereich der konkreten Gefährdungsdelikte abschließend festzulegen. Allerdings ist eine eigene Stellungnahme zu den vorgeschlagenen Lösungswegen insoweit notwendig, als diese Voraussetzung für die Frage der Übertragbarkeit der entwickelten Abgrenzungsmerkmale auf die gegenwärtige Gefahr im Rahmen der qualifizierten Nötigungsmittel ist.
1. Ablehnung der naturwissenschaftlichen Gefahrerfolgstheorie Horns Dabei ist zunächst festzustellen, dass die streng naturalistische „naturwissenschaftliche Gefahrerfolgstheorie“ Horns schwerwiegenden und durchgreifenden Einwänden ausgesetzt ist. Ob dabei allerdings schon der grundsätzliche Vorwurf angebracht ist, dieser Ansatz sei „zu sehr an dem überholten kausalmonistischen Weltbild des 19. Jahrhunderts orientiert“ und lasse sich mit den wahrscheinlichkeitstheoretischen Auffassungen der neueren Wissenschaftstheorie und dem ihnen zugrunde liegenden Indeterminismus vor allem im mikrophysikalischen Bereich nicht in Einklang bringen77, erscheint zumindest fraglich. Denn neben der Tatsache, dass generelle Weiterentwicklungen der Wissenschaft im mikrophysikalischen Bereich keine zwingenden Schlüsse auch hinsichtlich der Beurteilung bestimmter Einzelfälle im Makrobereich zulassen78, können die sich auf empirische bzw. statistische Erkenntnisse stützenden indeterministischen Probabilitätstheorien der modernen Naturwissenschaft nicht uneingeschränkt zur Beurteilung strafrechtlich reGA 2001, 51, 57. Ostendorf JuS 1982, 426, 430, 433; ähnlich später auch Geppert Jura 2001, 559, 564; vgl. auch Roxin AT I, § 11 Rn. 152; Zieschang S. 48. 75 Renzikowski JR 1997, 115, 118; vgl. auch Küper BT S. 152; Zieschang S. 48 Fn. 128. 76 Koriath GA 2001, 51, 57, 74. 77 So Schünemann JA 1975, 787, 795; ihm folgend Demuth S. 164 f. 78 Diese Problematik erkennen auch Schünemann a. a. O. m. w. N. und Demuth S. 66, 165 selbst. 73 74
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levanten Verhaltens im Einzelfall herangezogen werden.79 Außerdem ist Horns Auffassung entgegen des deterministischen Kausalprinzips gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie die Unerklärbarkeit bestimmter Ereignisse betont.80 Ein Haupteinwand gegen die „naturwissenschaftliche Gefahrerfolgstheorie“ ergibt sich aber daraus, dass ihre Ergebnisse – obwohl sie für sich ein „Maximum an Wahrheitsgarantie“ 81 in Anspruch nimmt – in hohem Maße von Zufälligkeiten abhängen. Denn die naturwissenschaftliche Erklärbarkeit eines Phänomens ist stark von der Lückenlosigkeit des zugrunde liegenden Faktenmaterials abhängig. Anders ausgedrückt: Schon ein fehlendes Detail in tatsächlicher Hinsicht kann die Unerklärbarkeit eines ansonsten leicht erklärbaren Vorganges bewirken – ein an sich ungefährlicher, weil erklärbarer Sachverhalt würde folglich als gefährlich eingestuft.82 Nun ist aber gerade im Bereich der Beurteilung strafrechtlich relevanten Verhaltens eine lückenlose Aufklärung der tatsächlichen Umstände äußerst selten. Daher kann ein Lösungsansatz, der zu diesen in absehbarer Zeit wohl nicht zu behebenden Besonderheiten geradezu konträr ist und bei lückenhafter Sachverhaltsaufklärung nur äußerst unsichere, vom zufälligen Bekanntwerden oder Unbekanntbleiben des ein oder anderen Details abhängige Ergebnisse zu liefern vermag, von vornherein nicht überzeugen. Mit diesem Aspekt eng zusammen hängt auch die fehlende Praktikabilität des Horn’schen Gefahrbegriffes.83 Da dieser eine weitgehend lückenlose Sachverhaltsaufklärung einschließlich aller Randgeschehnisse fordert, wäre eine präzise Subsumtion bzw. eine entsprechende gerichtliche Urteilsbegründung in angemessener Zeit kaum zu gewährleisten. Gerade im Rahmen entsprechender gerichtlicher Verfahren wäre die ausufernde Beteiligung Sachverständiger zur Beurteilung der Ursachenzusammenhänge unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten kaum zu vermeiden. Hält man sich nun vor Augen, dass ein Großteil der konkreten Gefährdungsdelikte in der Praxis dem Bereich der Straßenverkehrsdelikte entstammen und diese inzwischen den Charakter eines Massenphänomens angenommen haben, so wird leicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber eine solch schwer handhabbare Vorgehensweise nicht gewollt haben kann.84 Ein weiterer Schwachpunkt der Horn’schen Auffassung ist deren Angewiesensein auf die „Ewigkeits-Eigenschaft“ der Nichterklärbarkeit des Nichteintritts des Verletzungserfolgs im Rahmen der Prüfung des Unmöglichkeitsgesetzes, also auf die Notwendigkeit, dass es nach menschlichem bzw. sachverständigem Ermessen In diesem Sinne auch Kindhäuser S. 199, 231 ff. Ähnlich Wolter S. 240. 81 SK-Horn vor § 306 Rn. 7; ursprünglich stammt dieser Begriff von Gallas, Heinitz-FS S. 171, 178. 82 So andeutungsweise auch Kindhäuser S. 193 f. 83 Dies gesteht Horn, S. 212, selbst ein; vgl. auch Schünemann JA 1975, 787, 795; Demuth S. 157. 84 In diesem Sinne auch Demuth S. 157 f. 79 80
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niemals gelingen wird, entsprechende Sachverhalte als Verwirklichung eines Kausalgesetzes zu erkennen, nach dem der Verletzungserfolg ausbleibt. Dabei ist allerdings nicht zu übersehen, dass diese Forderung aus der Sicht Horns heraus folgerichtig und höchst bedeutungsvoll ist. Wollte man diesen Aspekt weniger streng handhaben, so hätte dies – im Gleichschritt mit den Weiterentwicklungen im Bereich der Naturwissenschaften – eine ständige Veränderung, genauer gesagt eine ständig zunehmende Verengung des Gefahrbegriffs zu Folge. Was heute als unerklärlich dem Begriff der Gefahr unterfallen würde, wäre einige Jahre später – angesichts des rapiden Fortschritts in einigen Naturwissenschaftsbereichen – möglicherweise erklärbar und damit ungefährlich.85 An diesem Punkt muss nun allerdings auch die Kritik ansetzen. Eine „Ewigkeitsgarantie“ lässt sich faktisch niemals abgeben. Zwar wird es Ereignisse geben, von denen die betroffenen sachverständigen Kreise sagen können, dass eine Erklärung hierfür mit großer Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit nicht zu finden sein wird, eine endgültige Sicherheit mit „Ewigkeitswert“ kann es allerdings angesichts der schon angesprochenen Weiterentwicklungen im naturwissenschaftlichen Bereich nicht geben. Es besteht also das Dilemma, dass eine nach Horns Konzeption für den Gefahrbegriff existenziell wichtige Voraussetzung von vornherein nur relativ gewährleistet werden kann – eine angesichts des Bestimmtheitsgrundsatzes und des „in dubio pro reo“-Grundsatzes nicht hinzunehmende Tatsache.86 Schließlich scheint auch der von Horn gezogene Schluss, die Nichterklärbarkeit des Ausbleibens eines Erfolgseintritts könne mit dem Entstehen eines Unwertgefühls beim Täter gleichgesetzt werden, weder zwingend noch grundsätzlich richtig. Vielmehr erscheint nahezu ausgeschlossen, dass beim Täter im Nachhinein ein Unwerteindruck nur deshalb entsteht, weil im folgenden Strafprozess ein Sachverständiger zu der Überzeugung gelangt, der Nichteintritt des Erfolges sei naturwissenschaftlich nicht zu erklären. Unabhängig von der Frage, ob die Forderung eines solchen Unwertempfindens in der Sache überhaupt gerechtfertigt ist, kommt es vielmehr darauf an, wie der Täter selbst die erkannten oder vermuteten Rettungsursachen bewertet. Die nachträgliche Nichterklärbarkeit vermag den Täter jedenfalls nicht zu normgerechtem Verhalten zu motivieren, so dass auch unter Strafwürdigkeitsaspekten grundlegende Bedenken gegen eine solche Sichtweise bestehen.87 Die „naturwissenschaftliche Gefahrerfolgstheorie“ Horns ist folglich zumindest aus den angeführten Gründen88 abzulehnen.
Vgl. dazu Demuth S. 160 f. Ähnliche Überlegungen finden sich bei Demuth S. 158 ff. 87 In diesem Sinne auch Schünemann JA 1975, 787, 795 f.; Demuth S. 167 ff.; Ostendorf JuS 1982, 426, 430; Wolter JuS 1978, 748, 754. 88 Vgl. zur weitergehenden Kritik an Horns Konzept Schünemann JA 1975, 787, 795 f.; Demuth S. 157 ff.; Wolter S. 240; Kindhäuser S. 192 ff. 85 86
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2. Untersuchung der übrigen Ansätze Was die übrigen Ansätze zur Bestimmung des Gefahrbegriffs anbelangt, so stellt sich bei genauerer Betrachtung heraus, dass sich diese zwar im Detail, im Übrigen aber de facto weder in ihrer grundsätzlichen Konzeption noch hinsichtlich ihrer Ergebnisse in der Beurteilung der meisten Einzelfälle grundlegend unterscheiden. Denn wie im Folgenden auszuführen sein wird, stützen sowohl die Rechtsprechung und die ihr folgende herrschende Ansicht in der Literatur als auch die Vertreter der verschiedenen „normativen Gefahrerfolgstheorien“ ihre Gefahrdefinition – neben dem ohnehin einheitlich aufgestellten Erfordernis des Eintritts des Rechtsgutsobjekts in den Wirkungsbereich der gefährlichen Handlung89 – maßgeblich auf das kumulative Vorliegen zweier Voraussetzungen: der Wahrscheinlichkeit bzw. nahe liegenden Möglichkeit eines Schadenseintritts sowie das Ausbleibens des Schadens aufgrund zufälliger Ereignisse.90 An dieser Tatsache hat auch die neuere Entwicklung in der – seit längerer Zeit ohnehin schon stark normativ ausgerichteten – Rechtsprechung nichts geändert.91 Mit der Forderung eines „Beinahe-Unfalls“ bzw. eines „gerade noch einmal Gutgehens“92 hat der BGH in neuerer Zeit lediglich die Merkmale des Eintritts in den Wirkungsbereich und mittelbar auch des Zufallsaspekts präzisiert, eine grundlegende Änderung der Rechtsprechung ergibt sich daraus indes nicht.93 Die Forderung einer Wahrscheinlichkeit oder nahe liegenden Möglichkeit eines Schadenseintritts ergibt sich sowohl – wörtlich – aus den von der Rechtsprechung94 und der h. Lit.95 verwendeten Formulierungen als im Ergebnis auch aus den verschiedenen Varianten der „normativen Gefahrerfolgstheorie“. Letzteres wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass deren Vertreter – sofern sie diese Voraussetzung nicht bereits ausdrücklich aufstellen96 – mit den von ihnen 89 Die Berechtigung dieser zusätzlichen Voraussetzung für den Begriff der konkreten Gefahr kann dabei keinem Zweifel unterliegen und soll daher an dieser Stelle nicht weiter problematisiert werden; vgl. dazu oben II. 3., insb. Fn. 48. 90 So im Ergebnis auch Zieschang S. 43 ff.; Küpper S. 133 ff. 91 A. A. zu Unrecht Renzikowski JR 1997, 115, 118. 92 Vgl. oben I. 3. 93 Abgesehen von einigen Sonderkonstellationen wie den „Beifahrerfällen“ und den „Bremsenmanipulationsfällen“; so spricht denn auch P. König, in LK § 315 Rn. 55, von einer dadurch bewirkten „Annäherung“ der Rechtsprechung an die normativen Gefahrerfolgstheorien der Lehre. 94 Vgl. oben I. 95 Vgl. oben II. 1. 96 Schünemann JA 1975, 787, 796: „Zweitens muß aufgrund der verfügbaren Wahrscheinlichkeitsgesetze die Verletzung des individuellen Rechtsgutsobjekts als eine adäquate Folge der Handlung, d. h. als naheliegende Möglichkeit erscheinen.“; Ostendorf JuS 1982, 426, 430: „Konkreter Gefährdungserfolg ist mehr als ein Wahrscheinlichkeitserfolg, wenngleich die Möglichkeit der Gefahrverwirklichung auf erster Subsumtionsstufe nachgewiesen sein muß.“; Koriath GA 2001, 51, 57: „. . . (i) Die (objektive) Wahrscheinlichkeit eines Ereignis-
A. Der Gefahrbegriff bei den konkreten Gefährdungsdelikten
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verwendeten Begriffen „Bedrohung eines Rechtsguts“97, „vom Täter geschaffene(s) adäquate(s) Gefährdungsrisiko“ im Sinne einer „ernsthaften Gefahr für den Eintritt eines konkreten Gefahrerfolgs und einer nachfolgenden Verletzung“98, „hinreichend verletzungsursachentauglicher Sachverhalt“ ohne entsprechende „zuverlässig verletzungshindernd wirkende Negationsfaktoren“99, „Schadensrelevanz“100 und „unmittelbar drohende(r) Eintritt eines Schadens“101 inhaltlich keine von diesem Grundsatz abweichenden Anforderungen aufstellen, sondern besagte Voraussetzung nur umschreiben.102 Als weiteres maßgebliches Kriterium hat die Rechtsprechung seit Jahrzehnten immer wieder den Zufallsaspekt der Gefahr explizit hervorgehoben.103 Insoweit hat auch die neuere Entwicklung in der Rechtsprechung104 keine Änderung herbeigeführt. Mit der Forderung eines „Beinahe-Unfalls“ wurden lediglich die Anforderungen an die kritische Situation, in der das Ausbleiben oder Eintreten eines Schadens nur noch vom Zufall abhängt, präzisiert. Dass die herrschende Ansicht in der Literatur der Rechtsprechung in diesem Punkt weitgehend gefolgt ist, wurde bereits dargelegt.105 Aber auch die unterschiedlichen Spielarten der „normativen Gefahrerfolgstheorie“ lassen sich im Endergebnis auf diesen Grundsatz zurückführen. So verwendet Schünemann den Terminus der „Vertrauen erweckenden“, „generell beherrschbaren Rettungsmittel“ gerade, um eine Abgrenzbarkeit zu den „zufälligen“ Rettungsursachen zu gewährleisten.106 Dies gilt in gleichem Maße für den von Demuth verwendeten Begriff „menschlicher Steuerung zugängliche, generell beherrschbare und in dem betreffenden Lebensbereich als schadensverhütend vorgesehene Rettungsmittel“107, wobei dieser den „Zufallsaspekt“ ausdrücklich als „das entscheidende“, wenngleich präzisierungsbedürftige „Wertungskriterium“ bezeichnet.108 Dass es nach Wolter ebenso maßgeblich auf die Zufälligkeit der Retses (ii) die Beurteilung dieses Ereignisses als Schaden . . .“, 74: „. . . die objektive Wahrscheinlichkeit eines Schadens“. 97 Demuth S. 208, 218. 98 Wolter S. 223 ff.; ders. JuS 1978, 748, 750 f., 753. 99 Hoyer S. 74, 76 f., 79 ff., 83 f., 93 ff. 100 Kindhäuser S. 201 f., 211 f., 231; obwohl Kindhäuser, S. 200 ff., das Kriterium der Verletzungswahrscheinlichkeit grundsätzlich ablehnt, zieht er, S. 211 f. Fn. 23, 25, zur Beurteilung der Schadensrelevanz dennoch ausdrücklich Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkte heran. 101 Renzikowski JR 1997, 115, 118. 102 Vgl. auch Küpper S. 133 f.; Zieschang S. 43 f. 103 Vgl. insb. oben I. 2. 104 Vgl. oben I. 3. 105 Vgl. oben II. 1. 106 Schünemann JA 1975, 787, 796 f. 107 Demuth S. 217. 108 Demuth S. 213.
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4. Abschn.: Begriffe „Gefahr“ und „gegenwärtig“
tung des Rechtsguts ankommt, wurde oben109 bereits dargelegt. Nichts anders hat aber auch für die Ausführungen Hoyers zu gelten, wenn dieser die Nichtabwendbarkeit der Rechtsgutverletzung durch „hinreichend zuverlässig verletzungshindernd wirkende Negationsfaktoren“ unter Berücksichtigung des Gesichtspunktes der Verletzungsfahrlässigkeit fordert.110 Gerade im Hinblick auf den für den Fahrlässigkeitsvorwurf entscheidenden Vorhersehbarkeitsgesichtspunkt bedeutet auch dieser Ansatz folglich nur eine Umschreibung der Zufallskomponente.111 Soweit nun schließlich Kindhäuser – wenn auch von einem ganz anderen Ausgangspunkt her – die „Unfähigkeit, die Schadensrelevanz einer bestimmten Bedingung gezielt abzuschirmen“112, Ostendorf „die Unbeherrschbarkeit des Gefährdungsverlaufs“113, Renzikowski die fehlende Abwendbarkeit „durch finales Verhalten“ des Täters oder eines Dritten „mit hoher Wahrscheinlichkeit“114 und Koriath die „Unfähigkeit des Aktors, den Schaden intentional zu vermeiden“115, fordern, so bedeuten die verwendeten Situationsbeschreibungen im Ergebnis nichts anderes, als dass der weitere Verlauf des Geschehens dem Zufall überlassen bleibt.116 Auch die „normativen Gefahrerfolgstheorien“ erachten folglich durchgängig den Gesichtspunkt der Zufälligkeit des Eintritts oder Nichteintritts eines Schadens für mitentscheidend und weichen nur insoweit von der Sicht der Rechtsprechung ab, als der Zufallsgesichtspunkt nicht in einem umfassenden Sinne herangezogen wird, sondern bestimmte Einzelaspekte dieses Phänomens als Charakteristika zur Beschreibung der Situation herausgearbeitet werden.117 Die Rechtsprechung und die herrschende Auffassung in der Literatur bestimmen den Gefahrbegriff also dem Grunde nach in gleicher Weise wie die „normativen Gefahrerfolgstheorien“, wobei erstere einen umfassenderen Ansatz verfolgen, während letztere bestimmte deskriptive Merkmale zur Charakterisierung des maßgeblichen Zustandes verwenden – ohne, dass einer dieser Ansätze jedoch dem der Rechtsprechung und der ihr folgenden h. M. in der Literatur in Handhabbarkeit, Richtigkeitsgewähr oder Klarheit der Ergebnisse signifikant überlegen wäre.118 II. 3. b). Hoyer S. 82 f., 92 ff. 111 So auch Zieschang S. 46 f. 112 Kindhäuser S. 277. 113 Ostendorf JuS 1982, 426, 430, 433. 114 Renzikowski JR 1997, 115, 118, der bei der Entwicklung dieses Grundsatzes, a. a. O. 116 f., mehrfach betont, dass die gewählte Formulierung gerade der Gefahr beseitigenden Wirkung zufälliger Rettungsmaßnahmen entgegenstehen soll. 115 Koriath GA 2001, 51, 57, 74. 116 Hinsichtlich des Ansatzes von Kindhäuser ebenso Schönke / Schröder-Heine vor §§ 306 ff. Rn. 5; Zieschang S. 48. 117 Vgl. Küpper S. 133, 135 f., Zieschang S. 44 ff.; Geppert NStZ 1985, 264, 266 f. 118 So im Ergebnis auch LK-P. König § 315 Rn. 55; Lackner / Kühl § 315c Rn. 22. 109 110
B. Die Gefahr bei den abstrakten Gefährdungsdelikten
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Es erscheint daher vorzugswürdig, die Gefahrbestimmung grundsätzlich anhand der von der Rechtsprechung entwickelten, umfassenderen Formel vorzunehmen und zur Konkretisierung in Zweifelsfällen auf die von den Vertretern der „normativen Gefahrerfolgstheorien“ im Einzelnen herausgearbeiteten Kriterien als Indizien zurückzugreifen.119
3. Zusammenfassung Die konkrete Gefahr als das von Koriath120 so bezeichnete „argumentative Patt“: „Es ist nichts passiert. Aber es hätte doch etwas passieren können.“ lässt sich demnach zusammenfassend als Zustand definieren, in dem sich die konkrete Wahrscheinlichkeit bzw. nahe liegende Möglichkeit eines Schadenseintritts nach den Umständen des Einzelfalles bereits in einer vom Täter herbeigeführten kritischen Situation für das betroffene Rechtsgutsobjekt in Form eines „Beinahe-Unfalls“121 verwirklicht hat, in welcher der Eintritt oder Nichteintritt eines Schadens nur noch vom Zufall abhängt.
B. Die Gefahr bei den abstrakten Gefährdungsdelikten und weiteren Gefährdungsdeliktsstrukturen Keine grundlegend neuen, über den bisherigen Befund hinausgehenden Erkenntnisse für die inhaltliche Bestimmung des Tatbestandsmerkmals der Gefahr lassen sich im Ergebnis aus den abstrakten Gefährdungsdelikten oder aus anderen Gefährdungsdeliktsstrukturen ableiten – sofern man letztere überhaupt als eigenständige Deliktskategorien anerkennt122. Bei den abstrakten Gefährdungsdelikten123 erschließen sich die Gründe für diese Erkenntnis schon bei genauerer Betrachtung des jeweiligen Tatbestandes sowie der dahinter stehenden Unwertstruktur. Es zeigt sich, dass bei dieser Deliktsform der Eintritt einer wie auch immer gearteten Gefahr als vom Täterverhalten zu unterscheidender, eigenständiger Erfolg an keiner Stelle gefordert wird; vor allem die konkrete Gefährdung eines durch den Straftatbestand geschützten RechtsgutsobÄhnlich Zieschang S. 49. Koriath GA 2001, 51, 55. 121 Der Begriff des „Beinahe-Unfalls“ darf dabei aber keinesfalls durch ein zu enges Verständnis auf Verkehrsunfälle reduziert werden, sondern muss vielmehr in einem weiten, übertragenen – auch außerhalb der Straßenverkehrsdelikte geltenden – Sinne zur Charakterisierung bestimmter kritischer Situationen verstanden werden. 122 Dazu sogleich. 123 Von manchen Autoren, wie etwa Hirsch, Art. Kaufmann-FS S. 545, 550, 559, 561 f. und Zieschang, S. 27, 205, 346 ff., 349 ff., werden diese aus Klarstellungsgründen auch als abstrakte Gefährlichkeitsdelikte bezeichnet. 119 120
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4. Abschn.: Begriffe „Gefahr“ und „gegenwärtig“
jekts im Einzelfall gehört nicht zu dessen Tatbestandsmerkmalen. Vom Gesetzgeber wurde vielmehr ein bloß typischerweise gefährliches Verhalten unter Strafe gestellt, von dem aufgrund der bisherigen Erfahrungen angenommen wird, dass es generell besonders häufig zum Eintritt einer konkreten Gefahr oder einer Verletzung führen kann, ohne dass diese Überlegung jedoch in irgendeiner Weise mit in den Tatbestand aufgenommen wäre.124 Die generelle Möglichkeit des Entstehens einer konkreten Gefahr oder der Verletzung eines Rechtsguts bildet also gewissermaßen nur das Motiv des Gesetzgebers, ein bestimmtes Verhalten per se unter Strafe zu stellen.125 Anknüpfungspunkt dieser Strafnormen ist demnach ausschließlich die Pönalisierung von Handlungsunrecht; Erfolgsunrecht wird im Rahmen der abstrakten Gefährdungsdelikte nicht vorausgesetzt126, weshalb auch ein konkreter Rechtsgutbezug völlig fehlt. Aber selbst die konkrete Gefährlichkeit des Täterhandelns im Einzelfall muss – jedenfalls im Rahmen des weit überwiegenden Teils der abstrakten Gefährdungsdelikte127 – nicht untersucht werden128, was insbesondere aufgrund von Praktikabilitätserwägungen und andernfalls entstehenden Beweisschwierigkeiten gerechtfertigt ist.129 Der Begriff der Gefahr ist den abstrakten Gefährdungsdelikten – jedenfalls in ihrer klassischen Ausformung – also trotz ihrer Bezeichnung nicht immanent, so dass sich aus ihnen auch keine weiterführenden Gesichtspunkte zur Bestimmung des Gefahrbegriffs ergeben. Gerade in neuerer Zeit ist allerdings häufig thematisiert worden, ob die klassische Zweiteilung in abstrakte und konkrete Gefährdungsdelikte nicht aufgrund der bereits heute existierenden Straftatbestände überholt und durch weitere, eigenständige Gefährdungsdeliktsstrukturen zu ergänzen sei.130 Dabei stehen in erster Linie 124 Vgl. Graul S. 35 ff., 108 f., 113, 115 f., 139, 143, 355; Schröder ZStW 81, 7, 14 ff.; Koriath GA 2001, 51, 65, 67 f., 74; Fischer GA 1989, 445 f.; Berz S. 57 f.; Gallas, Heinitz-FS S. 171, 180; Hirsch, Art. Kaufmann-FS S. 545, 549, 558; Geppert Jura 2001, 559, 560; SKHorn vor § 306 Rn. 15; Roxin AT I, § 10 Rn. 124, § 11 Rn. 153, 156; Wessels / Beulke Rn. 29; Arzt / Weber § 35 Rn. 44, 61; Schönke / Schröder-Heine vor §§ 306 ff. Rn. 3; Kindhäuser S. 225 ff.; Zieschang S. 15, 22, 24 ff.; Dimitratos S. 9 ff. 125 Fischer GA 1989, 445; Berz S. 58; Wolter S. 319 f.; Wessels / Beulke Rn. 29; Hoyer S. 200; Geppert Jura 2001, 559, 560; NK-Paeffgen § 224 Rn. 5; Roxin AT I, § 11 Rn. 153; Arzt / Weber § 35 Rn. 44, 61; Dimitratos S. 10; a.A. ist die sog. „Präsumtionstheorie“, nach der das Vorliegen einer Gefahr bzw. die Gefährlichkeit der Handlung zwar Tatbestandsmerkmal sein soll, aber gesetzlich vermutet werde (so etwa Schröder ZStW 81, 7, 16 f.; Ostendorf JuS 1982, 426, 429); vgl. dazu die eingehende Darstellung bei Graul, S. 140 ff., 144 ff., 151 ff. 126 Graul S. 108 f., 138, 355. 127 Vgl. aber zur häufig vorgeschlagenen Erweiterung des Begriffs der abstrakten Gefährdungs-delikte unten Fn. 134. 128 Vgl. nur Zieschang S. 25 f. m. w. N. 129 Berz S. 61 f.; Schroeder, ZStW-Beiheft 1982, 1, 14; Wolter S. 277; Graul S. 151; Ostendorf JuS 1982, 426, 427. 130 Wolter S. 65 f., 75 ff., 184 ff., 192 ff., 205 ff., 215 f.; 254 ff., 266 ff., 322 ff.; ders. JuS 1978, 748, 750 f., 754; Hoyer S. 56 f., 95 ff., 97 ff., 107 ff., 111, 201; Fischer GA 1989, 445, 446 ff.; Hirsch, Art. Kaufmann-FS S. 545, 548 ff., 557 ff.; Zieschang S. 21 f., 52 ff., 64 ff.,
B. Die Gefahr bei den abstrakten Gefährdungsdelikten
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diejenigen Strafvorschriften im Mittelpunkt der Diskussion, die – ausdrücklich oder jedenfalls gedanklich – das Tatbestandsmerkmal der „Geeignetheit“ enthalten. Hinsichtlich der Behandlung dieser häufig als „potentielle Gefährdungsdelikte“, „abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikte“ oder „Eignungsdelikte“ bezeichneten131 Normen132 besteht nach wie vor große Uneinigkeit. Insoweit wird insbesondere die Frage aufgeworfen, ob diese Deliktsformen aufgrund ihres Konkretheitsbezuges grundsätzlich dem Bereich der konkreten Gefährdungsdelikte zuzuordnen und allenfalls in Ausnahmefällen als echte Mischformen anzuerkennen sind133, nur eine besondere Unterart der abstrakten Gefährdungsdelikte darstellen134 oder aber als eigenständige Deliktsform mit besonderen Voraussetzungen angesehen werden müssen.135 Einen noch weitergehenden Ansatz vertritt Zieschang, der neben den abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikten zwei weitere eigenständige Deliktskategorien mit Gefährdungscharakter anerkennt, nämlich zum einen die konkreten Gefährlichkeitsdelikte136 als Vorschriften, für die ein konkret gefährliches Verhalten des Täters positiv festzustellen ist, und zum anderen die potentiellen Gefährdungsdelikte als Normen, welche die Verursachung eines konkret gefährlichen Zustands als von der gefährlichen Handlung zu unterscheidenden, eigenständigen Erfolg voraussetzen.137 Ein näheres Eingehen auf diese Problematik ist an dieser Stelle aber bereits deswegen entbehrlich, weil sich im Ergebnis weder aus den unterschiedlichen Grund346 ff.; den entscheidenden Anstoß zu dieser Diskussion lieferte indes bereits Schröder mit seinen zwei grundlegenden Aufsätzen in JZ 1967, 522 ff. und ZStW 81, 7, 17 ff. 131 Vgl. die Nachweise bei Zieschang S. 162 f., Fn. 1, 7, 8. 132 Im Rahmen dieser Arbeit wird für diese Vorschriften der Begriff „potentielle Gefährdungsdelikte“ verwandt. 133 So Schröder JZ 1967, 522, 523 ff.; ders. ZStW 81, 7, 17 ff. 134 So BGH NJW 1999, 2129; BGHSt 46, 212, 218; andeutungsweise bereits BGHSt 39, 371, 372; BGH NStZ-RR 1997, 67; aus der Literatur grundlegend Gallas, Heinitz-FS S. 171, 173 ff., 180 ff.; ebenso Graul S. 116 f., 120 ff.; Fischer GA 1989, 445, 447 f., 450; SK-Horn vor § 306 Rn. 18; Roxin AT I, § 11 Rn. 162; Arzt / Weber § 35 Rn. 84; Berz S. 59 f.; Lackner / Kühl vor § 13 Rn. 32; Schönke / Schröder-Heine vor §§ 306 ff. Rn. 3; Wessels / Beulke Rn. 30; Jescheck / Weigend § 26 II. 2. (S. 264); Schröder JZ 1967, 522, 523 ff.; ders. ZStW 81, 7, 17 ff.; Schroeder ZStW-Beiheft 1982, 1, 4 f.; vgl. außerdem die weiteren Nachweise bei Zieschang S. 165 f. Fn. 20. 135 So insb. Wolter S. 65 f., 75 ff., 184 ff., 192 ff., 205 ff., 215 f.; 254 ff., 266 ff., 322 ff.; ders. JuS 1978, 748, 750 f., 754; Hoyer S. 56 f., 95 ff., 97 ff., 107 ff., 111, 201; vgl. dazu auch die ausführliche Darstellung bei Zieschang S. 174 ff. 136 Diese Deliktskategorie wurde erstmals von Hirsch, Art. Kaufmann-FS S. 545, 548 ff., 558 ff., entwickelt; vgl. dazu auch Küper, Hirsch-FS S. 595 ff. 137 Zieschang S. 53 ff., 61 ff., 64 ff., 69 ff., 74 ff., 85 ff., 90 ff., 96 ff., 100 ff., 158 f., 203 f., 275 ff., 282 ff., 290 ff., 301 ff., 304 ff., 323 ff., 328 ff., 333 ff., 337 ff., 340 ff., 342 ff., 347; in der Tendenz auch NK-Paeffgen § 224 Rn. 5; unrichtig insoweit Koriath, GA 2001, 51, 61, der in Verkennung von Zieschangs Ausführungen die konkreten Gefährlichkeitsdelikte und die potentiellen Gefährdungsdelikte vermengt und daher nur von drei Deliktskategorien ausgeht. 138 Im Sinne der Terminologie Hirschs und Zieschangs. 8*
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4. Abschn.: Begriffe „Gefahr“ und „gegenwärtig“
konzeptionen noch aus den von den einzelnen Autoren hierzu ins Feld geführten Erwägungen grundsätzlich neue Ansatzpunkte für die inhaltliche Bestimmung des Gefahrbegriffes ergeben. Denn bei den konkreten Gefährlichkeitsdelikten138 – ihre Eigenständigkeit unterstellt – handelt es sich um rein verhaltensbezogene Deliktsformen, bei denen die Gefährlichkeit der jeweiligen Handlung oder Unterlassung abweichend von den abstrakten Gefährdungsdelikten im klassischen Sinne jeweils konkret – wenn auch gegebenenfalls unter Anwendung einer generalisierenden Sicht – festgestellt werden muss, bei denen aber ein besonderer Gefahrerfolg nicht vorausgesetzt wird. Demgegenüber wird bei den potentiellen Gefährdungsdelikten – sofern sie als eigenständige Deliktskategorie anerkannt werden – häufig ein solcher Gefahrerfolg gefordert139, wobei sich die Situation jedoch noch nicht in so starkem Maße wie im Falle der konkreten Gefährdungsdelikte verdichtet haben muss, so dass der geforderte Gefahrerfolg der Sache nach ein Durchgangsstadium zur konkreten Gefahr darstellt und sich inhaltlich entsprechend deren erster Prüfungsstufe bestimmen lässt.140 Damit beschränkt sich der aufgezeigte Streitstand im Endeffekt auf das Erfordernis eines konkreten Gefahrerfolges im Gegensatz zu der – mehr oder minder – konkret festzustellenden Gefährlichkeit des Täterverhaltens und der damit zusammenhängenden Frage nach dem für das Gefahrurteil heranzuziehenden Beurteilungshorizont.141
C. Der Begriff der gegenwärtigen Gefahr im Notstandsrecht Es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die Notstandsvorschriften der §§ 34, 35 StGB unter Zugrundelegung des Ansatzes der ganz überwiegenden Meinung eine bedeutende Rolle bei der Ermittlung des Bedeutungsgehalts der gegenwärtigen Gefahr auch für die qualifizierenden Nötigungsmittel von Raub und räuberischer Erpressung sowie sexueller Nötigung und Vergewaltigung spielen. Dies erscheint zunächst bei einer reinen Wortlautbetrachtung nicht überraschend, da das Bestehen einer Notstandslage im Sinne sowohl des rechtfertigenden Notstands nach § 34 StGB wie auch des entschuldigenden Notstands gemäß § 35 StGB schon dem Gesetz nach ebenfalls eine „gegenwärtige, . . . Gefahr“ voraussetzt. Ei-
139 So ausdrücklich Zieschang, S. 65, 101, 158, 347; der Sache nach auch Hoyer S. 56 f., 95 ff., 97 ff., 107 ff., 111, 201. 140 Vgl. Wolter S. 65, 220 f. , 224; ders. JuS 1978, 748, 750, 754; Hoyer S. 97 ff., 107 ff.; Zieschang S. 76 f., 101. 141 So für den Tatbestand des § 224 StGB ausdrücklich Tröndle / Fischer § 224 Rn. 12 und Küper, Hirsch-FS S. 595, 611 ff.; vgl. außerdem Gallas, Heinitz-FS S. 171, 181; Schroeder ZStW-Beiheft 1982, 1, 6; Spendel, Stock-FS S. 89, 105 f.; Wolter S. 75, 83 ff., 185 f., 189 f., 255; ders. JuS 1978, 748, 750, 754; Graul S. 126; Hirsch, Art. Kaufmann-FS 545, 548 f., 559; Zieschang S. 53 f., 61 f., 64 ff., 100 f., 158 f., 347.
C. Der Begriff der gegenwärtigen Gefahr im Notstandsrecht
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ne umfassende Begriffsbestimmung kann aber sinnvoller Weise nicht ausschließlich auf den isolierten Wortlaut des zu interpretierenden Merkmals selbst beschränkt bleiben, sondern muss auch andere Umstände, wie insbesondere etwa den textlichen Zusammenhang berücksichtigen.142 Um nun aber auch diesbezüglich einen Vergleich zwischen dem qualifizierten Nötigungsmittel der „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ und der gegenwärtigen Notstandsgefahr zu ermöglichen, soll im Folgenden der zutreffende Inhalt der gegenwärtigen Gefahr im Sinne der §§ 34, 35 StGB herausgearbeitet werden. Dabei bietet es sich an, zunächst zu überprüfen, ob sich der für den Bereich der – konkreten – Gefährdungsdelikte entwickelte Gefahrbegriff auf die Notstandsvorschriften übertragen lässt. Sollte dies der Fall sein, wäre ein gewichtiges Indiz für die Existenz eines einheitlichen Gefahrbegriffs innerhalb des gesamten StGB gewonnen, so dass auch eine Identität des Gefahrmerkmals von §§ 34, 35 StGB einerseits und §§ 249, 255, 177 StGB andererseits nahe läge.
I. Identität des Gefahrbegriffs von Gefährdungsdelikten und Notstandsvorschriften In Rechtsprechung und Literatur wird die Frage, ob der Gefahrbegriff der konkreten Gefährdungsdelikte mit demjenigen der Notstandsvorschriften übereinstimmt oder ob den unterschiedlichen Regelungszusammenhängen jeweils ein eigenständiges – spezifisches – Gefahrverständnis zu entnehmen ist, unterschiedlich beurteilt.
1. Befürwortende Ansicht Für eine Identität sprechen sich – naturgemäß – vor allem diejenigen Autoren aus, die, wie etwa Zipf143, Kühl144 und Hirsch145, von einer einheitlichen Behandlung des Gefahrbegriffes im gesamten StGB ausgehen. Denn eine solche Sicht hat bei konsequenter Anwendung zwangsläufig zur Folge, dass der Gefahrbegriff der Notstandsvorschriften mit dem der Gefährdungsdelikte identisch ist146. 142 Vgl. Larenz / Canaris S. 142, 145 f., 164; Schönke / Schröder-Eser § 1 Rn. 39; Zippelius S. 45 f., 52 f.; Simon S. 69 ff. 143 Maurach / Zipf § 27 Rn. 15: „Der Begriff der Gefahr spielt im Strafrecht eine bedeutsame Rolle; nicht nur im Notwehr- und Notstandsrecht, sondern z. B. auch . . . , vor allem aber bei den gemeingefährlichen Straftaten . . . Dennoch lässt sich der Gefahrbegriff auf einen wesentlich allgemeineren Nenner bringen . . . “. 144 Lackner / Kühl § 34 Rn. 2: „Der Gefahrbegriff ist hier nicht anders als auch sonst im StGB zu verstehen“. 145 Art. Kaufmann-FS S. 545, 555 ff., 558. 146 Vgl. auch Schmidhäuser AT, 9. Rn. 69 (S. 331).
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4. Abschn.: Begriffe „Gefahr“ und „gegenwärtig“
Besonders Hirsch betont dabei, dass die nach Ansicht anderer Autoren bestehende Erforderlichkeit einer differenzierenden Betrachtung allein darauf zurückzuführen sei, dass Gefährlichkeit, also gefahrträchtiges Verhalten, und Gefahr im Sinne eines objektiven Zustandes nicht klar genug getrennt würden. Beachte man diese Unterscheidung konsequent, variierten die verschiedenen Gefahrbegriffe und damit auch diejenigen der Gefährdungsdelikte auf der einen Seite und der Notstandsvorschriften auf der anderen Seite allenfalls graduell bzw. quantitativ, nicht aber qualitativ.147 Die einheitliche Behandlung des Merkmals der Gefahr in den verschiedenen Vorschriften des StGB entspricht im Ergebnis auch der Sicht der Rechtsprechung, die zwar die Frage einer Gleichbehandlung bisher nicht ausdrücklich ausgesprochen hat, aber in der Sache zwischen den Gefahrbegriffen der einzelnen Normen nicht differenziert, so dass auch sie de facto zu einer Deckungsgleichheit des Gefahrmerkmals von Gefährdungsdelikten und Notstandsvorschriften ausgeht.148
2. Ablehnende Ansicht Demgegenüber melden einige Autoren zumindest erhebliche Zweifel an der Möglichkeit einer Identität des Gefahrbegriffes von Gefährdungsdelikten und Notstandsvorschriften an149, während andere eine Gleichbehandlung ausdrücklich ablehnen.150 Dabei wird vor allem darauf verwiesen, dass bei diesen Normkategorien für die Gefahrbeurteilung jeweils ein völlig anderer Blickwinkel einzunehmen sei, da es bei den Notstandsregelungen maßgeblich darum gehe, ab welchem Ausmaß an Gefahr Rettungsmaßnahmen erlaubt werden sollten, während die konkreten Ge147 Hirsch, Art. Kaufmann-FS S. 545, 555 ff., 558, der allerdings an anderer Stelle, LKHirsch § 34 Rn. 31, selbst davon ausgeht, dass „Rechtfertigungsgründe und Vorschriften des Besonderen Teils eine unterschiedliche Funktion haben“. 148 Vgl. etwa RGSt 66, 98, 100 und RGSt 66, 222, 225, die zur Bestimmung des Begriffs der Notstandsgefahr auf die zum Merkmal der „das Leben gefährdenden Behandlung“ im Sinne von § 223a StGB a. F. ergangene Entscheidung RGSt 6, 396, 397 verweisen; RGSt 68, 430, 432 f., das zur Gefahrbestimmung bei § 323 StGB a. F. die sich auf den Aussagenotstand, § 157 StGB, beziehende Entscheidung RGSt 62, 55, 57 zitiert und dazu ausführt: „Diese Auslegung des Begriffes der „Gefährdung“ entspricht dem, was in der Rechtsprechung des RG auch für andere rechtliche Vorschriften anerkannt ist, die diesen Begriff verwenden . . .“; BGH NJW 1951, 769 f., der sich wiederum RGSt 66, 222, 225 anschließt; BayObLG NJW 1957, 1327, 1328, das unter Hinweis auf RGSt 66, 98, 100 von einer Identität der Gefahrbegriffe von Notstand und Landesverrat, §§ 99, 100 I StGB a. F. ausgeht; BGH JZ 2004, 44, 46, der sich bei der Bestimmung der Notstandsgefahr auf den zur (Gemein-)Gefahr im Sinne von §§ 315, 315a StGB a. F. ergangenen Beschluss BGHSt 18, 271 ff. bezieht; vgl. auch Dimitratos S. 4 f. 149 So etwa Demuth S. 14 f., 81 und Jakobs AT, 13. Rn. 13 Fn. 27. 150 So Roxin AT I, § 16 Rn. 14; Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 34 Rn. 12; Pawlik S. 168 f.; Dimitratos S. 24 ff., 29 f., 54, 97, 163, 176.
C. Der Begriff der gegenwärtigen Gefahr im Notstandsrecht
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fährdungsdelikte eine gesteigerte Gefahr voraussetzten, bei welcher der Erfolg nur zufällig ausbleibe.151 Zudem müsse generell schon unter Zugrundelegung einer modernen, funktional normativen Methodik der Gefahrbegriff einer jeden Regelung unter Berücksichtigung seiner spezifischen Bedeutung selbständig bestimmt werden.152 3. Eigene Stellungnahme Die Beantwortung der Frage nach der Kongruenz des Gefahrmerkmals im Rahmen der Gefährdungsdelikte auf der einen Seite und der Notstandsvorschriften auf der anderen Seite muss zunächst bei der Erkenntnis ansetzen, dass es sich bei dem Terminus der „Gefahr“ um einen vorrechtlichen, dem allgemeinen Sprachgebrauch entnommenen Begriff handelt.153 Dabei wird in der Umgangssprache unserer Zeit unter Gefahr die „Möglichkeit, dass jemandem etwas zustößt“, „. . . , dass ein Schaden eintritt“ verstanden, zum Teil wird dieser Terminus auch als Synonym für den Ausdruck „drohendes Unheil“ angesehen.154 Auch in früherer Zeit legte man dem Gefahrbegriff eine solche Bedeutung zugrunde, wobei der Schwerpunkt der Betrachtung zunehmend auf die Sicht des Bedrohten gelegt wurde.155 Schon die Tatsache, dass das Gesetz einen in diesem Sinne allgemeinen und unspezifischen Begriff in höchst unterschiedlichen Regelungszusammenhängen zur Umschreibung bestimmter Lebensvorgänge verwendet, bildet ein erstes Indiz dafür, dass der Gefahrbegriff im Rahmen einer jeden Bestimmung unter Berücksichtigung ihrer Besonderheiten normativ auszulegen ist, wobei insbesondere teleologische Gesichtspunkte heranzuziehen sind. Im Übrigen entspricht es auch den allgemeinen Grundsätzen der modernen rechtswissenschaftlichen Methodenlehre, vom Gesetz verwendete Ausdrücke stets unter Berücksichtigung der Umstände, der Sachbezo151 In diesem Sinne ausdrücklich Roxin AT I, § 16 Rn. 14; Pawlik S. 168 f.; ähnlich auch Demuth S. 81: „. . . , daß es etwa bei § 34 StGB um die völlig anders gelagerte Problematik geht, ob die Gefahr als Eingriffsvoraussetzung, als Legitimation für ein bestimmtes, noch in der Zukunft liegendes menschliches Verhalten (die Rettungshandlung) vorliegt, während im hier interessierenden Zusammenhang zu prüfen ist, ob ein bestimmtes menschliches Verhalten als Ergebnis eine gefährliche Situation hervorgerufen hat. Schlagwortartig ausgedrückt geht es einmal um Gefahr als Ausgangspunkt, zum anderen um Gefahr als Endpunkt menschlichen Verhaltens.“; Dimitratos S. 24 ff., 54; auch Hirsch, Art. Kaufmann-FS S. 545, 549, erkennt dies im Grundsatz an, verneint aber die Entscheidungsrelevanz. 152 Dimitratos S. 5 f., 106, 176; zustimmend Roxin AT I, § 16 Rn. 14 Fn. 23; ähnlich Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 34 Rn. 12; vgl. auch Hirsch, Art. Kaufmann-FS S. 545, 546, 555. 153 Vgl. Dimitratos S. 5 f., 51 ff.; Hirsch, Art. Kaufmann-FS S. 545, 555; Schröder ZStW 81, 7, 8; Kindhäuser S. 200. 154 Duden III S. 1403; ähnlich Brockhaus / Wahrig III S. 85 f.: “ . . . drohender Schaden, drohendes Unheil . . . 1.1 Möglichkeit, daß ein Schaden od. ein Unheil eintritt . . . 1.2 Situation, in der Schaden od. Unheil droht . . . 1.4 . . . Möglichkeit eines Schadenseintritts . . .“. 155 Grimm 4, 1, 1, Sp. 2062, 2064.
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genheit und des Zusammenhangs der Rede sowie der Satzstellung und der Betonung eines Wortes auszulegen.156 Zudem deuten frühere Gesetzgebungsvorhaben darauf hin, dass der Gesetzgeber ebenfalls nicht von einem einheitlichen, für das gesamte StGB gültigen Begriff der Gefahr ausgeht. So heißt es etwa in der Begründung zum E 1962: „Den Begriff der Gefahr näher zu bestimmen, überlässt der Entwurf der Rechtsprechung. Das entspricht dem geltenden Recht. Einer gesetzlichen Umschreibung in den Vorschriften des Allgemeinen Teils über den Sprachgebrauch steht die Schwierigkeit entgegen, dass der Begriff der Gefahr nicht in allen Vorschriften des Gesetzes einheitlich verwendet werden kann, sondern jeweils aus dem Wesen und Sinngehalt der in Betracht kommenden Bestimmungen abgeleitet werden muss“.157 Nachdem also bereits allgemeine Erwägungen generell gegen das Bestehen eines einheitlichen Gefahrbegriffes und damit auch gegen die Identität des Gefahrmerkmals von Gefährdungsdelikten und Notstandsvorschriften sprechen, soll dieser Befund im Folgenden durch eine nähere Betrachtung der Spezifika dieser beiden Normgruppen verifiziert werden. Sollte bereits in diesem eng abgesteckten Rahmen eine Diskrepanz nachzuweisen sein, wäre gleichzeitig auch das Bestehen eines für das gesamte Strafgesetzbuch gültigen, einheitlichen Gefahrbegriffs notwendig ausgeschlossen. In diesem Zusammenhang ist zunächst die einleitende Bemerkung voranzuschicken, dass die von Hirsch158 – allerdings grundsätzlich völlig zu Recht – geforderte strikte Unterscheidung von Gefährlichkeit der Handlung und Gefahr als objektivem Zustand für die konkrete Problematik nur wenig hergibt. So liegt sämtlichen neueren Definitionen der konkreten Gefahr bereits die Erkenntnis zugrunde, dass es sich dabei um einen von der Gefährlichkeit der Handlung zu unterscheidenden Zustand handelt. Zudem ist im Bereich der Notstandsgefahr, die häufig nicht aus menschlichen Verhaltensweisen resultiert, sondern nur den Anknüpfungspunkt menschlichen Verhaltens darstellt, die Differenzierung von Gefährlichkeit und Gefahr nur von begrenztem Erkenntniswert – eine Vermischung dieser beiden Erscheinungsformen ist in diesem Zusammenhang wohl nur äußerst selten zu gewärtigen. Dies berücksichtigend bleibt festzuhalten, dass der Begriff der Gefahr für den Bereich der konkreten Gefährdungsdelikte – wie oben159 bereits herausgearbeitet wurde – als Zustand aufzufassen ist, in dem sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalles die Wahrscheinlichkeit oder nahe liegende Möglichkeit eines Schadenseintritts bereits zu einer vom Täter herbeigeführten, kritischen Situation für das betroffene Rechtsgutsobjekt verdichtet hat, in welcher der Eintritt oder Nichteintritt eines Schadens nur noch vom Zufall abhängt. Dafür bedarf es zumin156 157 158 159
Larenz / Canaris S. 133. BT-Drs. IV / 650, S. 497. Vgl. oben Fn. 147. Vgl. A. III.
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dest der Annahme eines „Beinahe-Unfalls“ im weiteren Sinne, also einer Situation in der ein objektiver Beobachter zu der Einschätzung gelangte, dass „gerade noch einmal alles gut gegangen“ sei. Eine in diesem Sinne zugespitzte Krisensituation wird im Rahmen des rechtfertigenden Notstandes zur Bejahung einer Gefahr von keiner Seite gefordert – auch nicht von denjenigen Autoren, die von einem für das gesamte StGB einheitlichen Gefahrbegriff ausgehen. Vielmehr wird in diesem Zusammenhang unter Gefahr die bestimmte Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts an einem Rechtsgutsobjekt verstanden, wobei an den zu fordernden Wahrscheinlichkeitsgrad unterschiedlich hohe Anforderungen gestellt werden.160 Eine solche – wenn auch konkrete – bloße Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts kann aber in Rahmen der konkreten Gefährdungsdelikte nicht zur Bejahung einer konkreten Gefahr ausreichen. In der Terminologie der Gefährdungsdeliktsstrukturen gesprochen handelt es sich dabei um einen der konkreten Gefahr vorgelagerten Zustand, der etwa von Zieschang als „konkret gefährlicher Zustand“ dem Bereich der in seinem Sinne verstandenen „potentiellen Gefährdungsdelikte“ zugeordnet wird. Dass es sich dabei nicht nur um ein quantitativ bzw. graduell, sondern um ein qualitativ unterschiedliches Phänomen handelt, kann angesichts der obigen Ausführungen kaum in Zweifel gezogen werden.161 Die Rechtfertigung eines solchen qualitativen Unterschiedes der Gefahrbegriffe von konkreten Gefährdungsdelikten und rechtfertigendem Notstand auch in der Sache zeigt sich vor allem dann, wenn man sich die vollkommen unterschiedlichen Blickwinkel vergegenwärtigt, aus denen die Betrachtung erfolgt. Bei den konkreten Gefährdungsdelikten steht der Aspekt des vorgelagerten Rechtsgüterschutzes im Mittelpunkt.162 Entscheidend kommt es dabei auf die nachträglich zu beantwortende Frage an, ab welchem Gefahrstadium der Täter die Schwelle überschritten hat, die den durch sein Verhalten verursachten Zustand als mit den Grundsätzen der Rechtsordnung unvereinbar, als unrechtmäßig erscheinen lässt. Es geht mit anderen Worten um die Problematik, welche Intensität die verursachte kritische Situation erreicht haben muss, um einen der Rechtsgutsverletzung annähernd gleichkommenden Erfolgsunwert zu verkörpern. Hierfür ist eine in besonderer Form verdichtete Gefahr erforderlich, welche die Existenz des geschützten Rechtsgutsobjekts in gesteigertem Maße in Frage stellt. Demgegenüber soll mit Hilfe des Gefahrmerkmals beim rechtfertigenden Notstand eine Entscheidung darüber herbeigeführt werden, wie eine schadensgeneigte Situation beschaffen sein muss, um dem Handelnden die Vornahme von tatbestandsmäßigen Rettungshandlungen zu gestatten. Ein grundlegender Unterscheid besteht also bereits in der Tatsache, dass es bei den konkreten Gefährdungsdelikten um die Beurteilung eines Ergebnisses menschlichen Verhaltens geht, während beim rechtfertigenden Notstand zu klären ist, welche Beschaffenheit die Ausgangslage aufweisen muss, um eine bestimmte 160 161 162
Vgl. unten III. 1. Vgl. oben A. III., B. Vgl. nur Dimitratos S. 15 f. m. w. N.
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Täterreaktion in der Form einer tatbestandsmäßigen Handlung als rechtskonform zu qualifizieren. Die Gefahrenlage ist beim Notstand nicht das Ergebnis, sondern die Voraussetzung für das zu würdigende Täterhandeln. Dass die Notstandsgefahr gegenüber der konkreten Gefahr ein aliud darstellt, lässt sich auch anhand einer weiteren Kontrollüberlegung bestätigen. Hat sich nämlich die kritische Situation bereits in einem so fortgeschrittenen objektiven Zustand wie dem der konkreten Gefahr manifestiert, sind finale Rettungsmaßnahmen zu ihrer Abwehr grundsätzlich nicht mehr denkbar. Denn das Charakteristikum einer Gefahr im Sinne der konkreten Gefährdungsdelikte besteht ja gerade darin, dass der Eintritt oder das Ausbleiben des schädigenden Ereignisses nur noch von Zufälligkeiten abhängig, aber nicht mehr durch steuerbares menschliches Verhalten zielgerichtet abwendbar ist. Hiermit eng verknüpft ist nun wiederum die Verschiedenheit des Blickwinkels. Wenn eine konkrete Gefahr einen Zustand voraussetzt, bei dessen Beurteilung ein objektiver Beobachter zumindest zu der Einschätzung gelangte, dass „gerade noch einmal alles gut gegangen ist“, so setzt dies zwangsläufig einen bereits abgeschlossenen Vorgang voraus. Aufgrund des Täterhandelns muss entweder eine Verletzung eingetreten oder eine solche zufällig nicht eingetreten sein, wofür der Ausgang der Geschehnisse heranzuziehen ist. Zu einem solch späten Zeitpunkt kann aber sinnvoller Weise nicht mehr nach den Voraussetzungen einer rechtlich gebilligten Rettungshandlung gefragt werden. Die Gefahr im Sinne der Notstandsvorschriften ist also auch nach diesen Überlegungen nicht nur eine gegenüber der Notstandsgefahr graduell differierende, einen geringeren Wahrscheinlichkeitsgrad als diese voraussetzende Situation, sondern ein ihr zeitlich vorgelagerter, inhaltlich abweichender Zustand. Nach alledem steht fest, dass das Gefahrmerkmal von konkreten Gefährdungsdelikten und Notstandsvorschriften nicht als identisch aufzufassen, sondern jeweils eigenständig zu interpretieren ist. Hieraus folgt zugleich, dass es einen einheitlichen Gefahrbegriff im Rahmen des gesamten StGB nicht geben kann. Aus dieser Erkenntnis kann aber nicht zugleich der Schluss gezogen werden, dass der Gefahrbegriff der Notstandsvorschriften zwingend nicht mit demjenigen der Drohungsalternative von §§ 249, 255, 177 StGB identisch ist. Denn auch wenn es nach dem eben Gesagten einen einheitlichen Gefahrbegriff für das gesamte StGB nicht gibt, so ist es doch möglich, dass – wie dies von der überwiegenden Meinung vertreten wird – zumindest einzelnen Bestimmungen ein identisches Gefahrverständnis zugrunde liegt. Um in späteren Kapiteln die Maßgeblichkeit der Definition der Notstandsgefahr auch für die qualifizierten Nötigungsmittel von Raub und räuberischer Erpressung sowie sexueller Nötigung und Vergewaltigung kritisch überprüfen zu können, besteht damit das Erfordernis, im Folgenden ein – gegenüber den konkreten Gefährdungsdelikten – eigenständiges, spezifisches Verständnis der gegenwärtigen Notstandsgefahr zu entwickeln.
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II. Die historische Entwicklung des Merkmals der gegenwärtigen Gefahr im Rahmen der Notstandsvorschriften Da sich wichtige Erkenntnisse über das inhaltliche Verständnis der gegenwärtigen Gefahr im Rahmen der Notstandsvorschriften und dessen mögliche Identität mit demjenigen im Bereich der §§ 249, 255, 177 StGB eventuell bereits aus den historischen Vorgaben gewinnen lassen163, soll auch insoweit zunächst eine an diesem Kriterium ausgerichtete Übersicht über die historische Entwicklung des Notstands vorangestellt werden. Die Regelungen der §§ 34, 35 StGB über den rechtfertigenden164 und entschuldigenden Notstand165 in ihrer heutigen Form gehen auf das 2. Strafrechtsreformgesetz vom 4. 7. 1969, in Kraft getreten am 1. 1. 1975, zurück.166 Für das in beiden Vorschriften enthaltene Merkmal der „gegenwärtigen, . . . Gefahr“ relevante Überlegungen finden sich aber schon in weit früherer Zeit. Insgesamt muss man jedoch festhalten, dass die grundsätzliche Anerkennung allgemeingültiger Notstandsbestimmungen ein recht junges Phänomen ist.
1. Römisches Recht Angesichts dieser Tatsache verwundert es kaum, dass im Römischen Recht weder ein allgemeiner Begriff des Notstands noch eine generelle Regelung dieser Problematik existierte. Vielmehr wurden bestimmte Einzelfälle ausschließlich kaVgl. zur Bedeutung der historischen Auslegung oben 3. Abschnitt, A. § 34 StGB in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I 1998, S. 3322, 3335): „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden“. 165 § 35 Abs. 1 StGB in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I 1998, S. 3322, 3335): „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld. Dies gilt nicht, soweit dem Täter nach den Umständen, namentlich weil er die Gefahr selbst verursacht hat oder weil er in einem besonderen Rechtsverhältnis stand, zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen; jedoch kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden, wenn der Täter nicht mit Rücksicht auf ein besonderes Rechtsverhältnis die Gefahr hinzunehmen hatte“. 166 BGBl. I 1969, S. 717, 721; vgl. HRG III-Küper Sp. 1071; ders. JZ 2005, 105; MüKoErb § 34 Rn. 8; SK-Günther § 34 Rn. 3; Roxin AT I, § 16 Rn. 1, 6; LK-Hirsch § 34 Entstehungsgeschichte; NK-Neumann § 34 Rn. 4; Jescheck / Weigend § 33 I 2. (S. 355). 163 164
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suistisch behandelt – meist unter privatrechtlichen Gesichtspunkten.167 Häufig fand sich dabei die Erörterung von Notlagen für Sachgüter, aber auch drohende Lebensgefahren wurden in den römischen Rechtsquellen thematisiert.168 So sollte etwa derjenige nicht belangt werden, der im Falle eines Brandes das Haus seines Nachbarn niederriss, um sein eigenes zu retten. Außerdem war es der Mannschaft eines Schiffes im Fall der Seenot gestattet, fremde Ankertaue oder Fangnetze zu zerstören, wenn sich das Schiff in diese verfangen hatte, oder eine fremde Ladung über Bord zu werfen, wenn andernfalls das Schiff unterzugehen drohte.169 Straffrei sollte weiterhin sein, wer seinen (Verfahrens-)Gegner bestach, um der andernfalls drohenden Todesstrafe zu entgehen.170 Insgesamt war dem römischen Recht die Grundhaltung zu entnehmen, mit Eingriffen in Sachgüter zur Rettung aus einer Lebensgefahr großzügiger umzugehen, während die Befugnisse zur Abwendung einer Sachgefahr eher restriktiv gehandhabt wurden.171 Für die Ansicht einiger Autoren, aus den römischen Rechtsquellen ließen sich weiter gehende, allgemeingültige Grundsätze ableiten, da die genannten Fälle nur als Beispiele eines generell anerkannten Prinzips anzusehen seien,172 finden sich indes keinerlei Belege.173
2. Germanisches und frühes deutsches Recht Auch das germanische und das ältere deutsche Recht bis hin zur „Carolina“ behandelte nur einige Facetten des Notstandes, wobei sich einzelne Notrechte bereits seit den „leges barbarorum“174 nachweisen lassen.175 Allerdings trat der Gedanke der unmittelbar drohenden, nicht anders abwendbaren Gefahr für das Leben oder die körperliche Integrität in einigen dieser fragmentarisch festgelegten Notrechte bereits deutlich hervor. 167 HRG III-Küper Sp. 1064; Stammler S. 7; Janka S. 43, 48 f.; VD II-Oetker II. § 1 II. (S. 335 f.); Mayer AT S. 176; Meißner S. 72. 168 HRG III-Küper Sp. 1064; Mayer AT S. 176. 169 Letzteres bezeichnet man allgemein als Seewurf (vgl. Meißner S. 73). 170 Vgl. die Nachweise der einzelnen Fälle bei Janka S. 44 ff.; Rein S. 143; Stammler S. 9 ff.; Meißner S. 73. 171 Vgl. Meißner S. 73; Mayer AT S. 176; HRG III-Küper Sp. 1064 f.; Janka S. 45, 48; a.A. Stammler S. 15: nach dem römischen Recht sei generell nur erheblich gewesen, dass das bedrohte Rechtsgut von „größere(m) oder doch gleiche(m) Werth“ als das zur Rettung vernichtete gewesen sei. 172 So vor allem Stammler, S. 7 ff., 15, der (S. 15) dem römischen Recht sogar schon den Grundsatz der gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr entnehmen wollte. 173 Im Ergebnis ebenso Janka S. 48 f.; HRG III-Küper Sp. 1064. 174 Vgl. oben 3. Abschnitt, B. I. 2. 175 Vgl. Stammler S. 22 ff.; Titze S. 44 ff.
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So musste etwa vor allem ein Sacheigentümer bestimmte Eingriffe eines in Not geratenen Menschen dulden.176 Beispielhaft hierfür sei der Reisende genannt, der, sofern er des Abends eine menschliche Siedlung nicht mehr erreichen konnte, auf einem fremden Grundstück sein Nachtlager aufschlagen und sich Holz für ein Feuer fällen durfte. Ebenso war es ihm gestattet, zur Stillung seines Hungers fremde Beeren oder Früchte zu essen oder sein ermattetes Pferd auf fremden Weiden grasen zu lassen. In einem ähnlichen Lichte erscheinen die Befugnisse, fremdes Holz zu schlagen, um einen beschädigten Wagen oder Pflug instand zusetzen oder sich einen Weg über ein fremdes Grundstück zu bahnen, wenn der öffentliche Weg nicht passierbar war. Außerdem war weitgehend anerkannt, dass der arme, Hunger leidende Mensch, der aus diesem Grund Essbares entwendete, keinen Diebstahl beging.177 Besonders häufig fand sich auch die Befugnis zur Verletzung oder Tötung eines in fremdem Eigentum stehenden Tieres, das einen Menschen angegriffen oder zumindest bedroht hatte.178 Aber selbst, wenn man diese Fälle nur als explizit genannte Beispiele eines umfassenderen, als selbstverständlich vorausgesetzten Grundsatzes betrachtet179, war das ältere deutsche Recht doch insgesamt von einer generellen Anerkennung des Notstandes mit klar definierten Voraussetzungen weit entfernt.180
3. Constitutio Criminalis Carolina In dieser Hinsicht stellte die sonst so vorbildliche „Carolina“ sogar noch einen Rückschritt dar, denn der Anwendungsbereich der in ihr enthaltenen Notstandsvorschriften war äußerst begrenzt.181 Wilda S. 939; vgl. auch HRG III-Küper Sp. 1065; Mayer AT S. 176. Vgl. die Nachweise bei Wilda S. 939 f.; Titze S. 47 f.; Stammler S. 22 f. 178 So bestimmte etwa der Sachsenspiegel, Buch II Art. 62 § 2: „Slet ein man des veiz icht tot binnen des, daz ez im schaden wil, her blibit ez ane schaden ab herz tar geweren uffe den heiligen [daz heiligen], daz in not dar zu brachte.“, Buch III Art. 48 § 4: „Belemet abir ein man einen hunt adir totet her in, durch daz her en bizen wil daz her sin vie bizet uf der strazen ader uf deme felde, her blibit ez ane wandel, geweret herz uf den heiligen, daz her im anders nicht gesturen konde.“; vgl. außerdem die Nachweise bei Stammler S. 24 f.; Titze S. 44 ff. 179 So etwa Stammler S. 25 und andeutungsweise auch Meißner S. 75. 180 Im Ergebnis ebenso HRG III-Küper Sp. 1065. 181 Art. 166 CCC: „Item so jemandt durch recht hungers not, die er, sein weib oder kinder leiden, etwas von essenden dingen zu stelen geursacht würde, wo dann der selb diebstall tapffer groß vnd kündtlich wer, sollen abermals richter und vrtheyler (als obsteht) radts pflegen. Oder aber der selbigen dieb einer vnsträfflich erlassen würd, soll jm doch der kläger vmb die klag, deßhalb gethan nichts schuldig sein.“; Art. 175 CCC: „Item es sollen auch die diebstall, so an geweichten dingen vnd stetten begangen, die hungers nott, auch jugent vnd thorheyt der personen, wo der eyns mit grundt angezeygt würde, auch angesehen, vnd wie von weltlichen diebstalen deßhalb gesetzt ist, darinn gehandelt werden.“; vgl. außerdem Art. 145 CCC, der die „aberratio ictus“ im Falle der an sich gegebenen Notwehr behandelt. 176 177
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Diese Tatsache ist aller Wahrscheinlichkeit nach darauf zurückzuführen, dass sich die „Carolina“ insoweit an den Vorgaben des kanonischen Rechts orientierte. Dieses hatte zwar zunächst den Grundsatz „necessitas non habet legem“, Not kennt kein Gebot, postuliert, war dann aber über eine isoliert-kasuistische Behandlung des Diebstahls aus Hungersnot nicht hinausgekommen.182 Aber selbst verglichen mit der Sicht des kanonischen Rechts war die „Carolina“ über die Maßen restriktiv in ihrer Behandlung des Notstandes, denn sie beschränkte zwar ganz in dessen Sinne die zu regelnde Erscheinungsform des Notstandes auf den „Notdiebstahl“ wegen Hungers, engte diesen aber in zweierlei Hinsicht zusätzlich ein. So berücksichtigte sie auf der einen Seite nur den Diebstahl „an essenden Dingen“, also an Esswaren, besonders und sah auf der anderen Seite keinen generellen Strafausschluss, sondern nur eine Milderungsmöglichkeit bis hin zur gänzlichen Straflosigkeit vor.183 4. Frühe gemeinrechtliche Doktrin Auch die gemeinrechtliche Strafrechtslehre in der Zeit nach der „Carolina“ kam unter dem Eindruck dieses engen Notstandsverständnisses in ihren Überlegungen lange nicht wesentlich über den Fall des Diebstahls aus Hungersnot hinaus. Soweit in dieser Phase überhaupt Fortschritte erzielt wurden, beschränkten sich diese weitgehend auf eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Art. 166, 175 CCC, indem diesen Vorschriften nicht nur der Diebstahl aus Hungersnot, sondern auch der aufgrund anderer lebensbedrohender Notlagen begangene Diebstahl unterstellt wurde. Zudem interpretierte man den Begriff der „essenden Dinge“ zunehmend extensiv und ließ auch solche Dinge darunter fallen, die man verkaufen konnte, um sich damit Esswaren zu beschaffen.184 Aus diesen Erweiterungen der Notstandvorschriften der „Carolina“ wurde schließlich, wenn auch sehr vorsichtig, der allgemeine Grundsatz entwickelt, dass derjenige straflos ausgehen sollte, der in akuter Lebensgefahr in fremdes Eigentum eingriff, falls dieser Eingriff seine einzige Rettungsmöglichkeit darstellte und er nur aus diesem Grund gehandelt hatte.185 182 Vgl. Titze S. 59 f. m. w. N.; HRG III-Küper Sp. 1065; Janka S. 49 ff. m. w. N., 65; VD II-Oetker II. § 1 II. (S. 336); Meißner S. 73 f. m. w. N.; Stammler S. 16 ff., 25 f.; Binding Handbuch § 151 (S. 755); Mayer AT S. 176. 183 Vgl. HRG III-Küper Sp. 1065 f.; Titze S. 62 ff.; VD II-Oetker II. § 1 II. (S. 336); Janka S. 65 ff.; Stammler S. 26 f., 31; Boldt S. 607; Schaffstein Allgemeine Lehren S. 83; Mayer AT S. 176. 184 Vgl. Quistorp § 374 (S. 599 ff.), § 376 (S. 603 f.); Böhmer Observationes, Observatio III ad Quaestionem LXXXIII. N. 52 (S. 66 f.); Stammler S. 28 ff.; Janka S. 67 f.; Titze S. 64; HRG III-Küper Sp. 1066; Köstlin System S. 116; Boldt S. 620 ff.; Schaffstein Allgemeine Lehren S. 83 ff. 185 Vgl. Kress Artic. 166 § 2 (S. 604); Janka S. 67 ff. m. w. N.; Stammler S. 29 f., 32; Boldt S. 608 f.; Schaffstein Allgemeine Lehren S. 84; Buri GS 30, 434, 437; Binding Handbuch § 151 (S. 756 f.); missverständlich insoweit VD II-Oetker II. § 1 II. (S. 336).
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5. Spätere Weiterentwicklung Einen echten Fortschritt bei der Etablierung eines allgemeinen Notstandsprinzips bewirkten erst die unter dem Naturrechtsgedanken stehenden Ausführungen Pufendorfs186 und die grundlegenden rechtsphilosophischen Überlegungen Kants187, in denen der Notstand systematisch erfasst und sein Anwendungsbereich auch auf Kollisionslagen von Leben gegen Leben erweitert wurde. Dabei erkannten beide Autoren allerdings kein echtes „Notrecht“ an, sondern hielten den Täter lediglich für straflos.188 a) Im Anschluss daran war es schließlich Feuerbach189, der den Notstandsgedanken gänzlich verallgemeinerte und präzise Anforderungen an die Beschaffenheit der Notstandslage aufstellte. In seinem häufig als „Imputabilitätstheorie“190 bezeichneten Ansatz stellte Feuerbach dabei den Grundsatz auf, dass eine im Notstand begangene Tat dem Handelnden nicht zugerechnet werden könne191, dieser sei folglich entschuldigt.192 Eine Zurechnung sollte seiner Ansicht nach nur erfolgen können, wenn der Täter sich „in einem Zustande . . . befunden hat, wo er seinen Willen dem Strafgesetz gemäß bestimmen konnte“. Dem lag Feuerbachs Auffassung zugrunde, die Strafgesetze hätten vorrangig den Zweck, „mittelst Einwirkung auf das Begehrungsvermögen Rechtsverletzungen zu verhindern“.193 Da er nun die Möglichkeit einer Wirkung der Strafgesetze auf das Begehrungsvermögen in bestimmten Notstandslagen infolge der besonderen Zwangssituation des Täters für ausgeschlossen erachtete,194 fehlte es seiner Meinung nach in solchen Fällen an dem erforderlichen gesetzwidrigen Willen.195 Eine zurechnungsausschließende Notstandslage in diesem Sinne sollte außer im Fall der besonders stark wirkenden „Qualen“ immer dann vorliegen, „wenn die That . . . bei gegenwärtiger dringender Gefahr für das Leben oder für ein anderes, unersetzliches persönliches Gut, als einziges Mittel der Rettung begangen worden 186 Lib. II Cap. VI §§ 1 ff., der dabei in seinen Ausführungen zur Charakterisierung der Notstandslage (a. a. O. § 4) schon den Begriff der „praesens vitae periculum“, also der gegenwärtigen Lebensgefahr, verwendet. 187 Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre, II. (S. 44 f.). 188 Vgl. dazu auch Meißner S. 80 ff.; Janka S. 78 ff., 85 f.; Stammler S. 37; VD II-Oetker II. § 1 II. (S. 336 f.); Titze S. 64 f.; HRG III-Küper Sp. 1066 f.; ders. JZ 2005, 105, 108 f.; Köstlin System S. 113; Boldt S. 611 ff.; Schaffstein Allgemeine Lehren S. 86; Binding Handbuch § 151 (S. 755, 757, 764); Mayer AT S. 177 f. 189 §§ 84 f. (S. 153 ff.), § 91 (S. 179 ff.). 190 So etwa Janka S. 92. 191 Diese Sichtweise hatte im Hinblick auf den Notdiebstahl zuvor auch schon Quistorp, § 374 (S. 599), vertreten. 192 Feuerbach § 84 (S. 153 f.), § 91 (S. 179 f.). 193 Feuerbach § 85 (S. 153). 194 Feuerbach § 91 (S. 179). 195 Feuerbach § 84 (S. 153); ähnlich zuvor auch schon Quistorp (vgl. Fn. 191).
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ist, es sei, (dass) die Person in jene Gefahr entweder a. durch bloßen Unglücksfall oder b. durch rechtswidrige Gewalt eines Anderen (thätliche Drohungen, vis compuls.) versetzt worden (ist)“.196 Bei Feuerbach zeigte sich also zumindest die Beschreibung der Notstandslage insgesamt schon in sehr moderner, bis heute nur moderat veränderter Form. b) Auch die übrige Doktrin dieser Zeit beschäftige sich hauptsächlich mit der Frage, aus welchen strafrechtlichen Prinzipien sich die grundsätzlich anerkannte Straflosigkeit des Notstandstäters ergebe. Konträr standen sich hier die Ansicht Feuerbachs, der sich viele spätere Autoren anschlossen,197 und die auf Hegel198 zurückgehende Auffassung vor allem Köstlins199 gegenüber, welche ein „Notrecht“ anerkannte und daher die Rechtswidrigkeit der Notstandstat verneinte.200 Eine Mittelstellung nahm die insbesondere von Grolman201 vertretene, auf Fichte202 zurückzuführende „Exemtionstheorie“ ein, die zwar ein „Notrecht“ ablehnte, die Notstandstat aber dennoch für nicht rechtswidrig hielt, weil sie gänzlich aus dem „Rechtsgebiet“ herausfalle.203 Die Anforderungen an die Notstandlage wurden dabei oft gar nicht oder allenfalls äußerst knapp dargestellt, entsprechende Begründungen blieben spärlich. Soweit aber die Notstandslage von einigen Autoren doch näher charakterisiert wurde, war man sich – unabhängig vom jeweils gewählten generellen Ansatz – weitgehend einig über deren notwendige Beschaffenheit und bestimmte sie ganz im Sinne Feuerbachs. Außerdem stimmten fast alle Autoren dieser Zeit in Bezug auf den häufig thematisierten Nötigungsnotstand darin überein, dass im Falle des Zwanges durch physische Gewalt das Vorliegen einer strafbaren Handlung des die Rechtsgutsver196 Feuerbach § 91 (S. 179); vgl. insgesamt zu Feuerbachs Ansicht Meißner S. 86 f.; Janka S. 92 ff.; Stammler S. 37, 42; VD II-Oetker II. § 1 II. (S. 337 f.); HRG III-Küper Sp. 1067; ders. JuS 1987, 81, 84 f.; Köstlin System S. 113 f.; Hippel II S. 216; Binding Handbuch § 151 (S. 764); Mayer AT S. 177 f. 197 So etwa Tittmann §§ 88 f. (S. 170 ff.); Mittermaier in Feuerbach § 84 Note I, II, § 85 Note I, III (S. 154 ff.), § 91 Note I (S. 179 f.); Martin § 37 (S. 83), § 40 (S. 90 f.); ähnlich Roßhirt § 25 f. (S. 53 ff.); Henke S. 290 ff., 329 ff. 198 Zweiter Teil, Zweiter Abschnitt, § 127 (S. 153 f.); vgl. dazu ausführlich Meißner S. 87 ff.; Pawlik S. 80 ff. und Küper JZ 2005, 105, 110 f. 199 System § 32 (S. 96), § 37 (S. 112, 115). 200 In diesem Sinne auch Abegg § 107 (S. 166 f.); ders. Untersuchungen S. 107 ff.; vgl. Meißner S. 98; Stammler S. 37 f., 49 f.; HRG III-Küper Sp. 1067 f.; ders. JuS 1987, 81, 84; VD II-Oetker II. § 1 II. (S. 337); Titze S. 64; Binding Handbuch § 151 Fn. 26 (S. 763); Mayer AT S. 178; Jescheck / Weigend § 33 I 1. (S. 354). 201 § 23 (S. 20 f.), § 41 (S. 36 f.), § 138 (S. 140 f.). 202 § 19 I. (S. 85 ff.). 203 Ähnlich Heffter 40. (S. 40); vgl. auch Meißner S. 85 f.; Stammler S. 40 f. m. w. N.; Köstlin System S. 113; Hippel II S. 217 Fn. 1; Mayer AT S. 177 f.; Jescheck / Weigend § 33 I 1. (S. 354).
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letzung unmittelbar Ausführenden von vornherein abzulehnen sein sollte, da dieser in Wahrheit gar nicht – jedenfalls nicht willentlich – gehandelt habe.204 Demgegenüber habe der Täter unter der Wirkung von psychischer Gewalt bzw. Drohungen zwar willentlich gehandelt, sich aber, zumindest beim Vorliegen einer Drohung mit gegenwärtiger – auch hier verstanden als „augenblicklich bevorstehend(er)“205 – Gefahr für Leib oder Leben, in einer so akuten und stark wirkenden Zwangslage befunden, dass die in der Ferne liegende Strafandrohung des Gesetzes ihn nicht habe erreichen können. Aus diesem Grund sollte auch er straflos ausgehen.206 Diese Überlegungen zum Nötigungsnotstand wurden indes auf alle anderen Erscheinungsformen des Notstandes übertragen. Man war der Ansicht, dass hinsichtlich der Herkunft der Gefahr nicht unterschieden werden dürfe; eine Zwangslage im eben beschriebenen Sinne könne gleichermaßen durch einen Naturzustand wie durch menschliches Verhalten begründet werden.207 Eine entsprechende Notlage sollte jedenfalls dann vorliegen, wenn sich Leib oder Leben eines Menschen in einer gegenwärtigen Gefahr befanden, die ausschließlich durch Verletzung eines anderen Rechtsgutes abgewendet werden konnte. Das den Voraussetzungen der Notwehr entlehnte Gegenwärtigkeitsmerkmal wurde dabei verwendet, um die Zuspitzung der bedrohlichen Situation in zeitlicher Hinsicht – im Sinne einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr – zu charakterisieren. Entferntere Gefahrzustände sollten schon deshalb keine Notstandslage auslösen können, weil in diesen Fällen regelmäßig noch ein anderer Ausweg zur Abwendung der Gefahr als die Begehung einer Straftat zur Verfügung stehe – vor allem fremde Hilfe sei vorrangig heranzuziehen.208 Beispielhaft sollen die Ausführungen Jankas209 zu dieser Thematik wiedergegeben werden, der das Erfordernis der Gegenwärtigkeit der Gefahr folgenderma204 Vgl. Henke S. 305 f.; Hälschner I S. 274 f.; ders. Beiträge S. 55; Morstadt § 91 Fn. 1 (S. 139); Grolman § 41 (S. 36); Janka S. 207 f.; Martin § 37 (S. 83); Tittmann § 88 (S. 170); Wächter Lehrbuch § 68 (S. 111 f.). 205 Henke S. 337; ebenso Roßhirt § 26 (S. 55): „Die Zufügung des gedrohten Übels muß . . . sogleich geschehen können . . .“; ähnlich Tittmann § 88 (S. 172): „Der Zwang muß . . . den Eintritt des Übels als gewiß und unüberwindbar erscheinen lassen . . .“. 206 Vgl. Hälschner I S. 274 f., S. 493 f.; ders. Beiträge S. 56; Tittmann §§ 88 f. (S. 170 ff.); Henke S. 305, 329, 335 ff.; Grolman §§ 25 f. (S. 53 ff.); Janka S. 209 ff.; a.A. Köstlin System S. 114 f. 207 Binding Handbuch § 152 (S. 777); Berner Lehrbuch § 85 (S. 136); Tittmann § 89 (S. 172 f.); Roßhirt § 25 (S. 54); Grolman § 23 (S. 20 f.), § 41 (S. 36 f.); Janka S. 208 ff.; Heffter 40. (S. 40); Oppenhoff § 40 N. 16 f. 208 Tittmann §§ 88 f. (S. 170 ff.); Martin § 40 (S. 91); Köstlin System S. 118 f.; Roßhirt § 25 (S. 54), § 27 (S. 56 f.); Stammler S. 58, 61 ff.; Janka S. 211 f., 246; Hälschner I S. 488 f., S. 496 ff.; weiter hinsichtlich der gefährdeten Rechtsgüter Berner Lehrbuch § 85 (S. 136); Binding Handbuch § 152 (S. 770 f., 775 f.); Oppenhoff § 40 N. 18; kritisch zur Bestimmtheit der Gegenwärtigkeit der Gefahr Buri GS 30, 434, 451 f. 209 S. 246.
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ßen begründete: „Die Gefahr muss, soll dieselbe die Kollision des Notstandes begründen, eine gegenwärtige sein, d. h. sie muss unmittelbar und dringend bevorstehen. Eine noch in der Zukunft liegende, wenn gleich bestimmt zu befürchtende Gefahr begründet einen Notstand nicht, die Kollision steht hier in Aussicht, sie ist eine wirkliche noch nicht. Es kann sein, dass, trotz der scheinbar sicheren Anzeichen, die Gefahr in Wahrheit doch ausbleibt“.
6. Partikulargesetzgebung Wie weite Teile der gemeinrechtlichen Doktrin stand auch die Partikulargesetzgebung des 19. Jahrhunderts maßgeblich unter dem Einfluss der „Imputabilitätstheorie“ Feuerbachs.210 a) Allerdings zeigte schon der einige Zeit vor Feuerbachs Wirken verfasste Codex Juris Bavarici Criminalis von 1751 einen gegenüber der „Carolina“ deutlich erweiterten Notstandsbegriff.211 Vorbild hierfür scheinen das Römische Recht212 und die im 16. und 17. Jahrhundert entwickelte „Zwangstheorie“ der sog. Italienischen Praktiker213 gewesen zu sein. Obwohl der Gesetzeswortlaut des Codex die Notstandslage nicht näher definierte, ergab sich aus den zugehörigen offiziellen Anmerkungen214 zumindest andeutungsweise das Erfordernis der gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr.215 b) Auch das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 erfasste neben dem Notdiebstahl216 eine weitere Erscheinungsform des Notstands und zwar, ebenfalls 210 Vgl. Köstlin System S. 117; Janka S. 230, 234; Hippel II S. 217; VD II-Oetker II. § 1 II. (S. 337 f.). 211 Erster Theil, Erstes Capitul § 4: „Wem es an genugsamen Verstand oder freyen Willen ermangelt, der ist keines Verbrechens fähig. Was danach . . . aus . . . Noth-Zwang geschiehet, wird für kein Verbrechen geachtet.“, a. a. O. § 33: „Wann zur Entschuldigung die Noth und Forcht vorgeschützet wird, ist zu erwegen, wie hoch die Noth gewesen, und wie schwer die Rettungsmittel gefallen, auch ob man sich nicht selbst muthwillig hierinn gestürtzet habe. Nebst deme soll man eines jeden seine besondere condition, Leibs- und Gemüthsbeschaffenheit, und andere dergleichen Umständ wohl in Obacht nehmen und darnach ermäßigen, wie weit die Straff zu mildern oder gar nachzusehen sein mögte.“; vgl. dazu und zur weitgehend gleich lautenden Bestimmung des Art. 11 § 8 Abs. 2 der Constitutio Criminalis Theresiana 1768 und der späteren österreichischen Strafgesetzbücher Stammler S. 34 f.; Janka S. 225 f.; HRG III-Küper Sp. 1069; Hippel II S. 216 Fn. 4. 212 Vgl. insbesondere Kreittmayr I,1 § 33 Anm. d (S. 26). 213 Vgl. dazu eingehend Janka S. 59 ff. m. w. N. 214 Vgl. oben 3. Abschnitt, B. I. 5. a). 215 Kreittmayr I,1 § 33 Anm. a (S. 26): „Es muss eine wahrhaft – und dringende Noth seyn . . .“, Anm. b (S. 26): „Wann wir alles dagegen thun, was in unsern Kräften ist, so seynd wir aller Straff los“. 216 ALR II, 20 § 1115: „Wenn jemand etwas entwendet, um sich oder Andere aus dringender Leibes- oder Lebensgefahr zu retten: so soll der Fall von dem Richter höhern Orts zur Begnadigung des Thäters angezeigt werden“.
C. Der Begriff der gegenwärtigen Gefahr im Notstandsrecht
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entsprechend den Vorgaben der „Zwangstheorie“, den Zwang durch Drohung.217 Dem Anwendungsbereich waren dabei insgesamt enge Grenzen gesetzt, dennoch zeigt sich das Erfordernis einer dringenden, auf andere Weise nicht abwendbaren Gefahr bereits deutlich in den Bestimmungen der §§ 19 f., 1115 des ALR II, 20. c) Bei der Betrachtung von Feuerbachs Bayerischem Strafgesetzbuch von 1813 fällt zunächst besonders ins Auge, dass dieses dem Wortlaut nach – anders als Feuerbach selbst – den Notstand nur sehr unvollständig behandelte. Ganz im Sinne der „Zwangstheorie“ und entsprechend art. 64 des Code pénal wurde in diesem lediglich der Ausschluss der Zurechnungsfähigkeit im Falle von Gewalt oder Drohung ausführlich geregelt. Eine weitere Einschränkung der Notstandslage ergab sich zudem daraus, dass nur die Drohung mit einer gegenwärtigen Lebensgefahr hinreichend sein sollte.218 Auch die offiziellen Anmerkungen hoben allein den Zwangsaspekt besonders hervor. Dem „physischen Zwange“, der „jede Zurechnung ausschließ(e)“, sei nur derjenige „moralische Zwang“ gleichzusetzen, der einen besonders „hohen Grad“ erreiche219. Davon sei auszugehen, wenn der Bedrohte gehandelt habe „um sich von einer dringenden gegenwärtigen Gefahr zu befreien, und durch Begehung der Handlung das angedrohte Übel abzuwenden“, denn in diesem Falle liege „gleichsam eine Art von Nothwehr“ vor und die Tat sei folglich „kein Akt des freien Willens“.220 Demgegenüber waren – wie schon in der „Carolina“ – „drückende Armuth oder andere Noth“ nach dem Gesetz lediglich als Milderungsgründe konzipiert; gedacht war dabei hauptsächlich an die Fälle des Notdiebstahls.221 Allerdings ergab sich schon aus den Anmerkungen eine deutliche Tendenz, den Täter auch in solchen Notstandsfällen gänzlich zu entschuldigen, wenn sie von besonderer Intensität waren. So hieß es, „bei einem Menschen . . . , welcher fremdes Eigentum sich in einem so hohen Grade von Noth zueignet, der in die Klasse von Nothwehr fällt, z. B. um sich vom augenblicklichen Hungertode zu retten“ solle „alle Strafbarkeit“ ausgeschlossen sein.222 217 ALR II, 20 § 19: „Furcht vor Drohungen, deren Gefahr mit Hülfe des Staats oder sonst abgewendet werden konnte, rechtfertigt den Verbrecher nicht.“; vgl. auch ALR II, 20 §§ 16, 20 f. sowie Mittermaier in Feuerbach § 91 Note I, II (S. 179 f.); Köstlin System S. 116 f.; Hippel II S. 216 Fn. 3; HRG III-Küper Sp. 1068 f.; Stammler S. 54; unrichtig insoweit Janka S. 224. 218 Art. 120: „Es sind daher insbesondere gegen alle Strafe entschuldigt: . . .“; Art. 121: „Eine That ist aus gleichem Grunde straflos, . . . 7) wenn Jemand durch unwiderstehliche körperliche Gewalt, oder 8) durch Drohungen, welche mit einer gegenwärtigen und unabwendbaren Gefahr für das Leben verbunden waren, zu einer sonst sträflichen Handlung genöthiget worden ist, . . .“; vgl. dazu auch Art. 119 sowie Janka S. 219 ff., 230 f.; Köstlin System S. 117; HRG III-Küper Sp. 1069; Stammler S. 51 ff. 219 Anmerkungen Bayern I, zu Art. 121 (S. 303). 220 Anmerkungen Bayern I, zu Art. 121 (S. 303 f.). 221 Art. 93: „Hingegen mildert sich die Strafbarkeit vornämlich . . . III. wenn er durch drückende Armuth oder andere Noth dazu verleitet wurde; . . .“. 222 Anmerkungen Bayern I, zu Art. 93, 94 (S. 232); vgl. Stammler S. 53.
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Aufgrund dieser Überlegungen wurde dann auch schon im Bayerischen Entwurf von 1822 der Regelung des Nötigungsnotstandes223 eine allgemeine Notstandsbestimmung zur Seite gestellt.224 d) Fast alle jüngeren deutschen Territorialgesetzgebungen folgten später dem Bayerischen Entwurf von 1822 jedenfalls insoweit, als auch sie eine Zweiteilung in die Erscheinungsformen des Nötigungsnotstandes und des allgemeinen Notstandes vorsahen.225 Das Criminalgesetzbuch für Hannover und das Badische Strafgesetzbuch von 1845 legten ihren Notstandsbestimmungen außerdem die im bayerischen Entwurf zum Ausdruck kommende Feuerbach’sche „Imputabilitätstheorie“ zugrunde und behandelten alle Notstandsfälle einheitlich unter dem Gesichtspunkt der ausgeschlossenen Zurechnungsfähigkeit.226 Auch die Voraussetzungen der Notstandslage wurden in den meisten Gesetzgebungswerken weitgehend den Bestimmungen des bayerischen Entwurfes entlehnt, die allgemeine Notstandsvorschrift allerdings häufig um das Merkmal der gegenwärtigen Leibesgefahr erweitert. So verwundert es kaum, dass alle territorialen Strafgesetzbücher in beiden kodifizierten Notstandsformen einheitlich das Erfordernis der Gegenwärtigkeit der Gefahr vorsahen.227 Die Gründe hierfür lassen sich beispielhaft anhand des badischen Gesetzgebungsverfahrens aufzeigen, in dessen Rahmen die Ansicht vertreten wurde, die bedrohliche Situation müsse sich – vor allem auch zeitlich – so zugespitzt haben, dass dem Handelnden nur noch die unmittelbar bevorstehende Entscheidung verbleibe, entweder etwas an sich Verbotenes zu tun oder die Realisierung der Gefahr über sich ergehen zu lassen. Diese besonders intensive Zwangslage werde unter anderem durch das Merkmal der Gegenwärtigkeit der Gefahr charakterisiert.228 223 Vgl. Art. 73, der weitgehend der zitierten Passage von Art. 121 des Bayerischen Strafgesetzbuchs 1813 entsprach, den Anwendungsbereich allerdings auf die Drohung mit gegenwärtiger Leibesgefahr ausdehnte. 224 Art. 85: „Wer außer dem Falle der Nothwehr eine unerlaubte Handlung begangen hat, um eine gegenwärtige und dringende Gefahr für sein eigenes oder eines anderen Menschen Leben abzuwenden, der ist straflos.“; vgl. auch Art. 68, 80 des Revidierten Bayerischen Entwurfs 1827 sowie Janka S. 230 f.; Mittermaier in Feuerbach § 91 Note II (S. 180); Gönner S. 125 f.; Stammler S. 55. 225 Vgl. etwa Art. 101, 106 des Strafgesetzbuches für das Königreich Württemberg von 1839; Art. 84 des Criminalgesetzbuches für das Königreich Hannover von 1840; §§ 81 f. des Strafgesetzbuches für das Großherzogthum Baden von 1845; Art. 86, 92 f. des Strafgesetzbuchs für das Königreich Sachsen von 1855 sowie Janka S. 232 ff. m. w. N.; Mittermaier in Feuerbach § 91 Note II (S. 180); Köstlin System S. 117 ff.; HRG III-Küper Sp. 1069; Hippel II S. 217; VD II-Oetker II. § 1 III. Fn. 2 (S. 338); Stammler S. 55 ff. 226 A. a. O.; vgl. Janka S. 232 f. 227 Vgl. Fn. 225. 228 Entwurf Baden 1841, Kommissionsbericht Nr. 1, § 76a (S. 50): „In dem verhängnisvollen Augenblicke, wo es sich um Sein oder Nichtsein handelt, wo dem Menschen nur die bittere Wahl übrig bleibt, entweder selbst unterzugehen, oder ein ihm nahe stehendes theures Wesen untergehen zu sehen, oder aber sich an dem Eigenthum oder an dem Leben eines
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e) Allein der preußische Partikulargesetzgeber blieb völlig den Grundsätzen der „Zwangstheorie“ und den Vorgaben des Code pénal verhaftet.229 Nachdem sich die ersten Entwürfe noch deutlich an den Regelungen des Allgemeinen Landrechts von 1794 orientiert hatten230, wurde zwischenzeitlich im Verlaufe der Gesetzgebungsarbeiten, nämlich konkret vom Entwurf 1836 an231, neben der Regelung des Nötigungsnotstands – wie in den übrigen Territorialgesetzgebungen – auch eine allgemeine Notstandsbestimmung aufgenommen.232 Da der vorgeschlagenen Fassung aber jegliches Korrektiv fehlte, wurde diese vom Gesetzgeber aus Angst vor einer Ausuferung der Straflosigkeit erst auf Eigentumsverletzungen beschränkt233 und später wieder vollständig weggelassen.234 Demgemäß beschränkte sich die Notstandsregelung des Preußischen Strafgesetzbuchs in seiner endgültigen Fassung von 1851 auf eine einzige, zudem sehr allgemein gehaltene Bestimmung über den Nötigungsnotstand.235
anderen zu vergreifen, hat es mit der Willensfreiheit ein Ende; in einem solchen Augenblicke bleibt nicht nur die Stimme des Gesetzes, es bleibt selbst die Stimme der Vernunft wirkungslos; . . . . Dem, der sich in dieser Lage befindet, . . . es würde ihn eine, jeden äußeren Zwang an Kraft überbietende, innere Gewalt unwiderstehlich zur Verübung der That hinreißen, in der er das einzige Mittel zur Rettung aus Todesnoth zu erblicken hätte.“; vgl. auch Thilo § 81, 3. (S. 115 f.). 229 Vgl. Janka S. 219, 224 f., 236; Kleinbreuer S. 52 f., 152; Schwarze § 54 (S. 235); HRG III-Küper Sp. 1069. 230 Vgl. Entwurf 1827, §§ 111, 115 ff., Schubert / Regge I / 1 S. 15 f.; Motive 1827, ad § 111, ad §§ 115 – 118, Schubert / Regge I / 1 S. 175 ff., 189 ff.; Entwurf 1828, §§ 71 f., Schubert / Regge I / 1 S. 285; Entwurf 1830, §§ 73 f., Schubert / Regge I / 2 S. 485; Entwurf 1833, §§ 73, 75, Schubert / Regge I / 3 S. 12; Motive 1833, zu § 73, Schubert / Regge I / 3 S. 281; Beseler § 40, S. 177 f.; Hippel II S. 217. 231 §§ 79 f., Schubert / Regge I / 3 S. 820 f. 232 Vgl. Beratungs-Protokolle 1839, 14., Schubert / Regge I / 4,1 S. 103 ff.; Entwurf 1843, § 91, Schubert / Regge I / 5 S. 17: „Auch außer dem Falle der Nothwehr sind Handlungen, welche zur eigenen oder eines andern Menschen Rettung aus einer gegenwärtigen dringenden Gefahr für Leib oder Leben begangen worden sind, in soweit sie nur die Abwendung dieser unvermeidlichen Gefahr bezwecken und sich darauf beschränken, straflos.“; Beseler § 40, S. 181 f.; Janka S. 224 f.; Hippel II S. 217; Stammler S. 54 f.; Goltdammer I, Geschichtliche Einleitung, S. 370 ff. 233 Vgl. Revision 1845, Erster Band, § 91, Schubert / Regge I / 5 S. 435 f., Entwurf 1845, § 67, Schubert / Regge I / 6,1 S. 17; Verhandlungen 1846, 7., Schubert / Regge I / 6,1 S. 155; Entwurf 1846, § 57, Schubert / Regge I / 6,1 S. 365; Entwurf 1847, § 59, Schubert / Regge I / 6,2 S. 749; Motive 1847, § 59, Schubert / Regge I / 6,2 S. 874; Beseler § 40, S. 182; Janka S. 225. 234 Vgl. Goltdammer I, Geschichtliche Einleitung, S. 370 ff., § 40, S. 411 ff.; Janka S. 225; Hippel II S. 217 f.; Stammler S. 55. 235 § 40 PrStGB 1851: „Ein Verbrechen oder Vergehen ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der That wahnsinnig oder blödsinnig, oder die freie Willensbestimmung desselben durch Gewalt oder durch Drohungen ausgeschlossen war.“; ähnlich allgemein gefasst war auch Art. 67 des Strafgesetzbuches für das Königreich Bayern von 1861, das allerdings neben „Gewalt und Drohung“ auch den „Nothstand“ erfasste.
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Dass im Rahmen der Drohungsalternative nur die Drohung mit einer gegenwärtigen – unmittelbar bevorstehenden – Gefahr eine entsprechende Notstandslage herbeiführen konnte, schien dem Gesetzgeber dabei so selbstverständlich, dass er dies weder für erörterungs- noch für erwähnungsbedürftig hielt.236
7. Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich 1871 Das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund von 1870 und mit ihm das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 ist nun aber im Bereich des Notstands nicht den Vorgaben des Preußischen Strafgesetzbuchs von 1851, sondern den einschlägigen Grundsätzen der übrigen territorialen Strafgesetzbücher gefolgt.237 Da im Verlauf der Gesetzgebungsarbeiten das Merkmal der gegenwärtigen Gefahr nicht mehr erörtert wurde, wird man davon ausgehen können und müssen, dass für dessen Aufnahme dieselben Überlegungen leitend sein sollten, die zur Aufnahme dieses Merkmals in die Landesgesetzgebungen geführt hatten.238
8. Spätere Änderungen des Gesetzes Wenn nun auch der spätere Gesetzgeber 1969 als Konsequenz aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts239 und des Bundesgerichtshofs und im Anschluss an §§ 39, 40 E 1962 die sog. „Differenzierungstheorie“ kodifiziert und damit die Not-
236 Vgl. Goltdammer I, § 40, S. 412: „Daß die Gefahr eine gegenwärtige sein müsse, liegt in der Natur der Sache, da die zukünftige, wenigstens nicht augenblickliche Gefahr durch Hülfe Fremder oder der Obrigkeit in der Regel wird abgewendet werden können. Insbesondere wird hier in den meisten Fällen auch die Flucht geboten sein, wenn sie ausführbar ist“. 237 § 52 StGB 1871 (RGBl. 1871, S. 127, 136 f.): „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter durch unwiderstehliche Gewalt oder durch eine Drohung, welche mit einer gegenwärtigen, auf andere Weise nicht abwendbaren Gefahr für Leib oder Leben seiner selbst oder eines Angehörigen verbunden war, zu der Handlung genöthigt worden ist.“; § 54 StGB 1871 (RGBl. 1871, S. 127, 137): „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn die Handlung außer dem Falle der Nothwehr in einem unverschuldeten, auf andere Weise nicht zu beseitigenden Nothstande zur Rettung aus einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben des Thäters oder eines Angehörigen begangen worden ist.“; vgl. auch Motive 1869, § 46 (S. 100); Rüdorff § 52, S. 184 f., § 54, S. 187; Höinghaus § 54 (S. 82); Schwarze § 52 (S. 229), § 54 (S. 235); Janka S. 236 ff.; Buri GS 30, 434, 457 f.; Hälschner I S. 492 f.; ders. Beiträge S. 53; HRG III-Küper Sp. 1069 f.; ders. JuS 1987, 81, 85; Hippel II S. 219; Mayer AT S. 176; Stammler S. 61; VD II-Oetker II. § 1 II., III. (S. 338 f.); SK-Günther § 34 Rn. 4. 238 Wenn auch wahrscheinlich bereits aus einem leicht veränderten Blickwinkel heraus; vgl. oben 6. c), d) sowie Rubo § 52 (S. 475), § 54 (S. 483); Janka S. 236 ff., 246; Hälschner I S. 492 f., 495 ff.; VD II-Oetker II. § 1 III. 2. (S. 342 f.); Stammler S. 65; Binding Handbuch § 151 (S. 765 f.), § 152 (S. 776 f.); kritisch zu diesem Merkmal Buri GS 30, 434, 451. 239 Grundlegend RGSt 61, 242 ff.; vgl. dazu unten V. 1. c) aa).
C. Der Begriff der gegenwärtigen Gefahr im Notstandsrecht
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standsregelungen grundsätzlich umgestaltet und erweitert hat240, so hat er dabei doch unverändert am Merkmal der gegenwärtigen Gefahr festgehalten und dieses auch für die Neuregelung des rechtfertigenden Notstandes verwendet. Tatsächlich wurde dieser Bestandteil der Notstandslage im eigentlichen Gesetzgebungsverfahren241 gar nicht mehr näher erörtert. Allein im Jahre 1934 hatte sich die damalige Strafrechtskommission mit der Frage auseinandergesetzt, ob angesichts der Rechtsprechung des Reichsgerichts zur Dauergefahr242 am Erfordernis der gegenwärtigen Gefahr festzuhalten sei, oder ob nicht eine engere Gesetzesfassung gewählt werden müsse.243 Man wird also aus der Tatsache, dass der spätere Gesetzgeber eine solche Einengung des Tatbestandes nicht mehr in Erwägung gezogen hat, folgern müssen, dass hinsichtlich des Merkmals der gegenwärtigen Gefahr an denjenigen Grundsätzen festgehalten werden sollte, die durch den Gesetzgeber von 1871 im Zusammenspiel mit der Weiterentwicklung durch die Rechtsprechung aufgestellt worden waren.244 Dabei scheint es sich allerdings nicht um eine bewusste Entscheidung des Reformgesetzgebers zu handeln; es drängt sich vielmehr der Eindruck auf, dass die Problematik der Gegenwärtigkeit der Gefahr – vor allem im Zusammenhang mit Dauergefahren – im Zuge der Reformarbeiten wegen der Vielzahl anderer erörterungsbedürftiger Fragen schlicht übersehen wurde.245
9. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass auch im Rahmen der Notstandsvorschriften der §§ 34, 35 StGB nach dem Willen des historischen Gesetzgebers eine gegenwärtige Gefahr immer dann vorliegen sollte, wenn eine mögliche Rechtsgutverletzung zeitlich unmittelbar bevorstand. Dadurch sollte die Situation gekennzeichnet werden, in der sich die bedrohliche Lage – auch temporär – so zugespitzt hatte, dass dem Täter nur noch die Wahl blieb, entweder sofort eine an sich strafbare Handlung zu begehen oder aber ein – zumeist eigenes – Rechtsgut untergehen zu lassen. Auch wenn der jüngere Gesetzgeber in diesem Bereich grundlegende Änderungen vorgenommen hat, so hat er dabei hinsichtlich des Merkmals der gegenwärtigen Gefahr doch auf eine abweichende Gesetzesfassung 240 Vgl. Fn. 166 sowie BT-Drs. IV / 650, S. 1, 16, 158 ff.; BT-Drs. V / 4095, S. 15 ff.; SKGünther § 34 Rn. 4, 6 f.; Roxin AT I, § 16 Rn. 4 ff.; Küper JuS 1987, 81, 85 ff.; Schmidhäuser S. 176 ff.; Mayer AT S. 178, 180, 189 f. 241 Vgl. die Nachweise bei LK-Hirsch § 34 Entstehungsgeschichte. 242 Vgl. dazu unten V. 1. c). 243 Vgl. Strafrechtskommission 1933 / 1934, 13. Sitzung vom 24. 1. 1934, S. 26 ff. 244 Ähnlich zu § 39 E 1962 Lenckner S. 66, 82; vgl. auch Niederschriften 2, Anhang Nr. 22, S. 67. 245 So auch Schroeder JuS 1980, 336, 339.
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verzichtet. Man wird folglich davon ausgehen müssen, dass der Gesetzgeber durch seine Entscheidung, den Wortlaut der Notstandsbestimmungen insoweit unverändert zu lassen, eine Abweichung von den bis dahin herrschenden Grundsätzen nicht beabsichtigt hat. Danach besteht, was das inhaltliche Verständnis des Gesetzgebers von der gegenwärtigen Gefahr der §§ 34, 35 StGB anbelangt – jedenfalls hinsichtlich des Gegenwärtigkeitsmerkmals – eine Identität mit den qualifizierten Nötigungsmitteln der §§ 249, 255, 177 StGB. Das Gegenwärtigkeitserfordernis soll einheitlich als zeitliche Beschränkung der Gefahr dahingehend zu verstehen sein, dass der Eintritt eines Schadens unmittelbar bevorstehen muss. Die Gründe für die Aufnahme dieses einschränkenden Merkmals in die §§ 34, 35 StGB sind allerdings ebenso von der Sachlage bei Raub, räuberischer Erpressung, sexueller Nötigung und Vergewaltigung verschieden, wie der geschichtliche Werdegang der Notstandsbestimmungen einen vollkommen eigenständigen Weg eingeschlagen hat. Im Bereich der Notstandsvorschriften hat die Voraussetzung der Gegenwärtigkeit der Gefahr die Aufgabe, jene – vor allem zeitlich – besonders intensiven Zwangssituationen zu kennzeichnen, in denen sich der Notstandstäter befinden muss, um gerechtfertigt zu sein. Entscheidend ist die Ausweglosigkeit der Situation, die anderweitige Unabwendbarkeit der Gefahr, die durch ihr zeitlich unmittelbares Bevorstehen in ihrer Wirkung noch verstärkt wird. Auf der Grundlage dieses Ausgangsbefundes soll im Folgenden der zutreffende Bedeutungsgehalt der gegenwärtigen Gefahr der §§ 34, 35 StGB ermittelt und dessen Übertragbarkeit auf die §§ 249, 255, 177 StGB untersucht werden.
III. Meinungsstand zum Gefahrbegriff von rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand, §§ 34, 35 StGB Bei einer ersten Betrachtung der einschlägigen Fundstellen aus Rechtsprechung und Literatur stellt man – vor allem angesichts der Tatsache, dass das Merkmal der Gefahr nach dem Bekunden vieler Autoren als einer der umstrittensten und am wenigsten geklärten Begriffe des StGB gilt246 – zunächst erstaunt fest, dass nahezu alle bislang entwickelten Ansätze in selten vorzufindender Einigkeit die Gefahr für den Bereich von rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand einheitlich247 So etwa Roxin AT I, § 16 Rn. 14. Es entspricht der – hier geteilten – ganz herrschenden Ansicht in Rechtsprechung und Literatur, dass die Begriffe der „gegenwärtigen Gefahr“ von rechtfertigendem (§ 34 StGB) und entschuldigendem (§ 35 StGB) Notstand einen identischen Bedeutungsgehalt aufweisen; vgl. BGH NJW 1979, 2053 f.; BGH JZ 2004, 44, 45 f.; Wessels / Beulke Rn. 437; Bockelmann / Volk § 16 I. 3. (S. 128); Dimitratos S. 3; Haft AT S. 141; Jakobs AT, 20. Rn. 5 f.; Jescheck / Weigend § 44 I. 2. (S. 481); Kindhäuser StGB § 35 Rn. 2; Kühl AT § 12 Rn. 13, 41 ff.; Küper, Rudolphi-FS S. 151 ff.; Lackner / Kühl § 35 Rn. 2; LK-Hirsch § 34 Rn. 37, § 35 246 247
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als Zustand definieren, in dem die bestimmte Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts besteht.248 Bei näherem Hinsehen wird indes schnell klar, dass, trotz dieser grundsätzlichen Konkordanz, die Einzelheiten zur Ermittlung des Gefahrzustandes sehr unterschiedlich beurteilt werden.
1. Erforderlicher Gefahrengrad So herrscht bereits Uneinigkeit darüber, welchen Gefahrengrad, d. h. nach dem eben Gesagten Wahrscheinlichkeitsgrad, die schadensträchtige Situation erreicht haben muss, um als Gefahr im Sinne der §§ 34, 35 StGB gelten zu können. a) Die neuere Rechtsprechung bestimmt das Merkmal der Gefahr im Rahmen der Notstandsvorschriften insoweit ganz im Sinne der älteren, inzwischen überholten Gefahrdefinition für den Bereich der konkreten Gefährdungsdelikte – zumeist unter Berufung auf den Beschluss des BGH vom 15. 2. 1963 zur (Gemein-)Gefahr im Sinne der §§ 315, 315a StGB a. F.249 – als „Zustand, in dem aufgrund tatsächlicher Umstände die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines schädigenden Ereignisses besteht“250, „in dem nach den konkreten Umständen der Eintritt eines Schadens nahe liegt“.251 b) Diese Sicht stößt bei vielen Vertretern der Lehre auf Zustimmung, weshalb auch die herrschende Auffassung in der Literatur die Notstandsgefahr als Zustand begreift, in dem aufgrund der tatsächlichen Umstände des Einzelfalles die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines schädigenden Ereignisses besteht. Wahrscheinlich soll der Eintritt dann sein, wenn eine nahe liegende Möglichkeit eines Schadenseintritts oder zumindest eine entsprechende begründete Besorgnis anzunehmen ist; eine bloße allgemeine Möglichkeit soll demgegenüber nicht genügen.252 Rn. 17; Baumann / Weber / Mitsch § 23 Rn. 20; MüKo-Müssig § 35 Rn. 20, 22; NK-Neumann § 35 Rn. 10, 12; SK-Rudolphi § 35 Rn. 6 f.; SK-Günther § 34 Rn. 25 hinsichtlich der Gegenwärtigkeit der Gefahr; Tröndle / Fischer § 35 Rn. 2; Roxin AT I, § 22 Rn. 15; ders. JA 1990, 97, 99; Schroeder JuS 1980, 336, 341; Rengier NStZ 1984, 21, 22; Otto Jura 1999, 552 f.; a.A. Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 35 Rn. 11 und Ludwig S. 20, 172 ff., 176 ff., 210, Letztgenannter unter Zugrundelegung einer dualistischen Deutung des entschuldigenden Notstands im Sinne der sog. Theorie der doppelten Schuldminderung (vgl. dazu etwa Jakobs AT, 20. Rn. 3; Roxin AT I, § 22 Rn. 9 m. w. N.; Kühl AT § 12 Rn. 1 ff., 18 f.). 248 Vgl. auch Dimitratos S. 44 ff., 58 ff., 64. 249 BGHSt 18, 271 ff.; vgl. oben A. I. 2. 250 Zuletzt BGH JZ 2004, 44, 46. 251 BayObLG StV 1996, 484, 485; ähnlich bereits früher RGSt 43, 342, 343; RGSt 59, 69, 71; RG JW 1933, 700, 701; RGSt 66, 98, 100. 252 So ausdrücklich LK-Hirsch § 34 Rn. 26, 32 f.; ders., Art. Kaufmann-FS S. 545, 546; ebenso Tröndle / Fischer § 34 Rn. 3; Kretschmer Jura 2005, 662, 663; in diesem Sinne auch Kion JuS 1967, 499, 502 f.; Schroeder JuS 1980, 336, 337; Blei AT § 44 III. 2., 3. (S. 164); Bockelmann / Volk § 15 II. 3. (S. 97); Schaffstein, Bruns-FS S. 89, 104; Lackner / Kühl § 34 Rn. 2; Ebert S. 81; Ludwig S. 84 f., 210 für den Bereich des § 34 StGB; Rudolphi, Arm.
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c) Andere Autoren verwenden zwar im Grundsatz ähnliche Formulierungen, sehen den entscheidenden Aspekt der Gefahrdefinition aber ausschließlich darin, eine Abgrenzung zum – nicht notstandsbegründenden – allgemeinen Lebensrisiko zu gewährleisten. Dies hat im Ergebnis eine deutliche Absenkung der Anforderungen an das Vorliegen einer Gefahr zur Folge. So ist etwa für Kühl, Pawlik und Haft entscheidend, dass von einer nicht nur ganz entfernten oder nur gedanklichen Möglichkeit eines Schadenseintritts gesprochen werden kann. Die Notstandsgefahr müsse vielmehr einen über die allgemeinen Lebensrisiken hinausgehenden Grad erreicht haben.253 Nach Erb254 sind die von der neueren Rechtsprechung vertretenen Formeln jedenfalls insoweit brauchbar, als sie „lediglich das allgemeine Lebensrisiko sowie entfernte oder sogar rein gedankliche Möglichkeiten eines Schadenseintritts, die man üblicherweise nicht ernst nimmt, ausschließen sollen“.255 In keinem anderen Licht erscheint auch die Gefahrdefinition von Zipf, wenn dieser einen Zustand fordert, in dem „nach den obwaltenden konkreten Umständen der Eintritt eines Schadens als wahrscheinlich gilt“, also eine „Situation, die nach allgemeinen Erfahrungsgrundsätzen als schadenbringend gelten muß“256, wovon bereits beim „Vorhandensein einer das Normalrisiko übersteigenden Not“ auszugehen sei.257 Inhaltlich nur marginal abweichende Ansätze finden sich auch bei Lenckner und Perron258 sowie bei Neumann259, die allerdings das Gewicht der Beurteilung verstärkt auf die vom potentiell Gefährdeten – unter Zugrundelegung eines objektivierten Maßstabes – zu erwartende Reaktion legen. Demgemäß fordern Lenckner und Perron einen objektiven Zustand, in dem „bestimmte tatsächliche Umstände nicht nur die gedankliche Möglichkeit, sondern eine über die allgemeinen Lebensrisiken hinausgehende Wahrscheinlichkeit“ einer „Schädigung – Eintritt oder Intensivierung eines Schadens, Fortdauer einer schädigenden Entwicklung – begründen“.260 Die „Wahrscheinlichkeit (müsse) einen über die allgemeinen Lebensrisiken . . . hinausgehenden Grad erreicht haben, von dem an man sich vernünftigerweise auf sie einzustellen“ pflege. Das sei aber schon dann der Fall, wenn die Wahrscheinlichkeit eines Schadens zumindest messbar sei, also nicht völlig fern liege.261 In ähnlicher Weise verlangt Neumann einen „Zustand, in dem aufgrund der Existenz besonderer Risikofaktoren die ernstzunehmende Möglichkeit eines Kaufmann-GDS S. 371, 385: „. . .ernstlich zu befürchten . . .“; ebenso Wessels / Beulke Rn. 303; SK-Günther § 34 Rn. 18: „Gefahr ist ein dynamischer, auf Veränderung angelegter Vorgang, der bei ungestörtem Verlauf in die Schädigung eines notstandsfähigen Rechtsguts zu münden droht, d. h. sie wahrscheinlich macht, nahe legt“; vgl. Dimitratos S. 102 ff. 253 Kühl AT § 8 Rn. 40; Pawlik S. 169; Haft AT S. 98; ähnlich Gropp § 6 Rn. 118. 254 MüKo-Erb § 34 Rn. 67 ff. 255 MüKo-Erb § 34 Rn. 68. 256 Maurach / Zipf § 27 Rn. 15. 257 Maurach / Zipf § 27 Rn. 23. 258 Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 34 Rn. 12, 15. 259 NK-Neumann § 34 Rn. 39 f., § 35 Rn. 10. 260 Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 34 Rn. 12.
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Schadenseintritts bei einem geschützten Rechtsgut besteht“. Die Gefahr sei ernst zu nehmen, „wenn die für das Gefahrurteil relevante Konstellation von Risikofaktoren eine besonnene Person typischerweise zu akuten Schutz- bzw. Rettungsmaßnahmen“ veranlasse.262 Der Rückgriff auf das allgemeine Lebensrisiko sei folglich ausgeschlossen.263 d) Andere Verfasser wiederum fordern terminologisch abweichend, der Eintritt eines Schadens dürfe „nicht unwahrscheinlich“ 264 oder „nicht ganz unwahrscheinlich“265 sein. Bei diesen Formulierungen handelt es sich im Ergebnis aber nur um negative, inhaltlich identische, Umschreibungen der letztgenannten Auffassung.266 Besonderer Erwähnung bedarf an dieser Stelle Dimitratos, dessen Sicht zwar grundsätzlich mit der seines Lehrers Roxin übereinstimmt, der sich darüber hinausgehend aber erstmals ausführlich mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob der Gefahrbestimmung im Rahmen der Notstandsvorschriften nicht statt eines statistischen ein induktiver oder auch logischer Wahrscheinlichkeitsbegriff zugrunde zu legen ist.267 e) Neben diesen eher extensiven Auslegungsvarianten findet man in der Literatur aber vereinzelt auch ein wesentlich engeres Verständnis der Notstandsgefahr.268 So ist Kindhäuser der Ansicht, ein Rechtsgut sei nur dann im Sinne der Notstandsvorschriften gefährdet, „wenn seine Schädigung aufgrund der gegebenen Umstände als (zumindest) sehr wahrscheinlich erscheint“.269 In ähnlicher Weise fordert Dornseifer, dass der Eintritt einer Schädigung „höchst wahrscheinlich“ sein muss.270 261 Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 34 Rn. 15; zustimmend Frisch S. 442; ähnlich auch RGSt 62, 55, 57 zur Gefahr im Sinne des Aussagenotstands, § 157 I StGB: „. . . , daß nicht eine naheliegende Gefahr vorausgesetzt werde, sondern auch eine . . . , daß, . . . , für die Verwirklichung der Gefahr eine ,gewisse Wahrscheinlichkeit‘ bestehen muss. Es genügt . . . nicht die (rein ,abstrakte‘) Gefährdung, . . . ; es reicht auch nicht eine ganz entfernte Möglichkeit aus. . . . Eine Gefahr, die innerhalb vernünftiger Lebenserfahrung liegt, genügt jedenfalls . . .“. 262 NK-Neumann § 34 Rn. 39. 263 NK-Neumann § 34 Rn. 40. 264 Jakobs AT, 13. Rn. 12. 265 Roxin AT I, § 16 Rn. 14; ebenso Lenckner, Lackner-FS S. 95, 99, hinsichtlich des Merkmals der „Nicht-anders-Abwendbarkeit“; ähnlich Bergmann JuS 1989, 109, 110: „Für die Annahme einer Gefahr im Sinne des § 34 reicht es aus, wenn die Wahrscheinlichkeit einer Beeinträchtigung nicht völlig fernliegt“. 266 Vgl. Kühl AT § 8 Rn. 39 f.; MüKo-Erb § 34 Rn. 68. 267 Vgl. Dimitratos S. 67 ff., 74 ff., 77 ff., 80 ff., 94 ff., 97, 112 ff., 173 ff., 176 f., 187 f. 268 Die früher von der Rechtsprechung – vor allem im Bereich der konkreten Gefährdungsdelikte – häufig verwendete Formel, der Eintritt eines Schadens müsse wahrscheinlicher sein, als sein Ausbleiben (vgl. dazu oben A. I. 1.) wird allerdings heute auch bei den Notstandsvorschriften nicht mehr vertreten; vgl. aber etwa Preisendanz § 34 Rn. 2b und Dimitratos S. 100 f. m. w. N. 269 Kindhäuser StGB § 34 Rn. 19. 270 Dornseifer JuS 1982, 761, 763.
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Strenge Anforderungen an den erforderlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab stellt – unter deutlicher Anlehnung an den Gefahrbegriff der konkreten Gefährdungsdelikte – auch Mitsch. Unter einer Gefahr verstehe man die „Situation einer drastisch erhöhten Ansammlung und Konzentration von Risikofaktoren, die den alsbaldigen Eintritt eines Verletzungserfolges erwarten“ lasse.271 Ein gefährlicher Zustand sei gekennzeichnet durch „das Vorliegen von Tatsachen, die den Schluss auf das nahe Bevorstehen einer Schädigung“ ermöglichten.272 Entgegen einem verbreiteten Irrtum273 sind zu diesen engen Auffassungen aber nicht einzelne Entscheidungen der obergerichtlichen Rechtsprechung274 oder Autoren wie Burkhardt275, Lenckner276, Weigend277 oder Spendel278 zu rechnen. Die gegenteilige Auffassung verkennt, dass sich die Ausführungen an den genannten Fundstellen nicht isoliert auf das Merkmal der Gefahr, sondern auf das der gegenwärtigen Gefahr insgesamt – und hierbei in concreto auf die Problematik der Dauergefahr – beziehen, für welche die Rechtsprechung und mit ihr viele Vertreter der Literatur, insbesondere im Zusammenhang mit der Erscheinungsform des „gegenwärtigen Handlungszwangs“,279 einen deutlich erhöhten Gefahrengrad verlangen.280 f) Wenn somit auch der weit überwiegende Teil der Autoren zumindest eine „Richtschnur“ für den erforderlichen Gefahrengrad in Form der soeben dargestellten Ansätze zur Verfügung stellt, mehren sich doch die Stimmen in der Literatur, die annehmen, der Begriff der Gefahr weise generell einen relativen Charakter auf, so dass der erforderliche Wahrscheinlichkeitsgrad nicht allgemeingültig bestimmt werden könne. Vielmehr könne jeweils nur im Einzelfall unter Einbeziehung des Wertes des konkreten Erhaltungsguts und des möglichen Schadensausmaßes geklärt werden, ob der Eintritt eines Schadens mit solcher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei, dass man von einer Gefahr sprechen könne.281 Baumann / Weber / Mitsch § 17 Rn. 47. Baumann / Weber / Mitsch § 17 Rn. 48. 273 Vgl. etwa Dimitratos S. 99 f.; Kühl AT § 8 Rn. 39; MüKo-Erb § 34 Rn. 68; diesem Irrtum ist auch Kindhäuser, StGB § 34 Rn. 19, erlegen, wenn er zur Stützung seiner Auffassung auf BGHSt 18, 271 ff. und BGH GA 1967, 113 verweist. 274 RGSt 36, 334, 338 f.; RGSt 61, 242, 255; RGSt 66, 222, 225; OGHSt 1, 369; BGH NJW 1951, 769; BGHSt 14, 1, 3; BGH GA 1967, 113. 275 Eser / Burkhardt I, 12. Rn. 27 (S. 145). 276 S. 82. 277 Jescheck / Weigend § 44 I. 2. (S. 481). 278 Spendel StV 1984, 45, 46. 279 Vgl. oben 2. Abschnitt, A. II. 1. 280 Vgl. dazu ausführlich oben 2. Abschnitt, A. I. 2., 3. a), b). 281 Grundlegend Schaffstein, Bruns-FS S. 89, 104 f., 106; ebenso Grebing GA 1979, 81, 102 f. Fn. 126; Rudolphi, Arm. Kaufmann-GDS. S. 371, 384 f., 387; Schlehofer Jura 1989, 263, 265; Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 34 Rn. 15; Kühl AT § 8 Rn. 41; MüKo-Erb § 34 Rn. 69; Frisch S. 441 ff.; Ludwig S. 125, 210; kritisch LK-Hirsch § 34 Rn. 34; vgl. auch Dimitratos S. 106 ff., 112 ff. 271 272
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2. Maßgebliche Tatsachenbasis Abgesehen von diesem die generelle Bestimmung der Gefahr betreffenden Streitpunkt finden sich zudem auch Unstimmigkeiten hinsichtlich der dem Gefahrurteil im Einzelfall zugrunde zu legenden Tatsachenbasis. Weitgehende Einigkeit besteht dabei nur insoweit, als ganz herrschend von der Ermittlung im Wege einer nachträglichen, objektiven ex-ante-Prognose ausgegangen wird. Schon dem Gesetzeswortlaut nach werde eine Gefahr im Sinne eines objektiven Zustandes gefordert, so dass subjektive Gesichtspunkte keine entscheidende Rolle spielen könnten. Hinzu komme, dass – zumindest bei § 34 StGB – eine Abgrenzung von Recht und Unrecht in Frage stehe, für die anerkanntermaßen objektive Kriterien heranzuziehen seien. Zudem werde im Rahmen des rechtfertigenden Notstands dem betroffenen Dritten eine Duldungspflicht auferlegt, weshalb auch dessen Interessen zu berücksichtigen seien. Auch aus diesem Grund könne das Vorliegen einer Gefahr nicht allein aus dem Blickwinkel des Notstandstäters heraus beurteilt werden, da dieser andernfalls einseitig bevorteilt und der Betroffene unverhältnismäßig benachteiligt werde.282 Streitig ist allerdings, ob sich diese objektive ex-ante-Beurteilung lediglich auf die künftige Entwicklung des Geschehens oder auch auf alle der Prognose zugrunde liegenden tatsächlichen Umstände erstreckt, ob also eine Trennung in Prognose und Diagnose vorzunehmen ist. a) Vor allem Lenckner und Perron haben sich – jedenfalls bei § 34 StGB – dafür ausgesprochen, die ex-ante-Betrachtung ausschließlich auf die vorzunehmende Prognose über die weitere Geschehensentwicklung zu beschränken, wohingegen die ihr als gegenwärtig zugrunde gelegten Umstände auch aus ex-post-Sicht tatsächlich gegeben sein müssten, sofern sie nur überhaupt objektiv erkennbar gewesen seien.283 Dafür sprächen vor allem die bereits für die Objektivität des Gefahr282 Vgl. SK-Günther § 34 Rn. 21 f.; Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 34 Rn. 14 f.; Kretschmer Jura 2005, 662, 663 ff.; Maurach / Zipf § 27 Rn. 15; Rudolphi, Arm. KaufmannGDS S. 371, 387 ff.; ders., Schröder-GDS S. 73, 80 f.; Schaffstein, Bruns-FS S. 89, 92 ff., 96, 99, 104, 106; Grebing GA 1979, 81, 102; Kühl AT § 8 Rn. 44 f.; Wessels / Beulke Rn. 304 f.; Arm. Kaufmann, Welzel-FS S. 393, 400; Frisch S. 424, 440 f.; Pawlik S. 171 ff.; Paeffgen, Arm. Kaufmann-GDS S. 399, 419 f.; Baumann / Weber / Mitsch § 17 Rn. 48; Roxin AT I, § 16 Rn. 15 f.; Dimitratos S. 54, 118 ff., 124 ff., 129 ff., 141; MüKo-Erb § 34 Rn. 66; Kindhäuser StGB § 34 Rn. 19; LK-Hirsch § 34 Rn. 27; ders., Art. Kaufmann-FS S. 545, 546 ff., 549, 551 ff., 555, 558; Tröndle / Fischer § 34 Rn. 3; NK-Neumann § 34 Rn. 45; Eser / Burkhardt I, 12. Rn. 27 (S. 145); Jakobs AT, 11. Rn. 12 f., 13. Rn. 13; Schroeder JuS 1980, 336, 337; Lackner / Kühl § 34 Rn. 2; Haft AT S. 98; Blei AT § 44 III. 2., 3. (S. 164 f.); aus der Rechtsprechung RGSt 62, 55, 56; BayObLG StV 1996, 484, 485; BayObLG NJW 2000, 888; a.A. alleine Zielinski, S. 242, 244 ff., 290, mit deutlichen Anklängen der subjektiven Gefahrtheorie. 283 Schönke / Schröder-Lenckner vor §§ 32 ff. Rn. 10a; Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 34 Rn. 13; ebenso MüKo-Erb § 34 Rn. 62 ff., Müko-Müssig § 35 Rn. 20; SK-Günther § 34 Rn. 21 f.; zustimmend Herzberg JA 1989, 243, 249 f.; ähnlich Paeffgen, Arm. Kaufmann-GDS S. 399, 419 f. und Bockelmann / Volk § 15 II. 3. (S. 97 f.); vgl. auch Gallas, Heinitz-FS S. 171, 177 ff.; Kretschmer Jura 2005, 662, 663 f.
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urteils angeführten Argumente, denn nur mittels einer solchen Differenzierung könne dem Erfordernis einer möglichst objektiven Gefahrbestimmung entsprochen werden. Nur die eigentliche Prognose sei einer rein objektiven Betrachtung nicht zugänglich, da niemand in die Zukunft blicken könne, wohingegen die dem Gefahrurteil zugrunde gelegten tatsächlichen Umstände zum Zeitpunkt der Notstandshandlung bereits objektiv vorlägen. Vor allem aber müsse zwischen wirklicher und scheinbarer Gefahr unterschieden werden. Zudem führe nur eine solche Betrachtung zu einer angemessenen Verteilung des Irrtums- bzw. Zufallsrisikos zwischen beeinträchtigtem Dritten und Notstandstäter. Schon nach allgemeinen Grundsätzen müsse Letzterer sein eigenes Irrtumsrisiko tragen, da er diesem evident näher stehe. Hierdurch werde er selbst in den Fällen, in denen eine Anwendung des § 34 StGB in Frage stehe, auch nicht unbillig belastet, da er sich insoweit im Regelfall auf einen Erlaubnistatbestandsirrtum berufen könne, welcher jedenfalls die Vorsatzschuld entfallen lasse, und überdies Notwehrmaßnahmen des „Opfers“ nur selten zu besorgen seien.284 Schließlich führe auch ein Vergleich mit der Notwehrregelung des § 32 StGB zu diesem Ergebnis, da in dessen Anwendungsbereich anerkanntermaßen nur dann eine Rechtfertigung in Betracht komme, wenn ex post betrachtet tatsächlich ein Angriff vorgelegen habe.285 Etwas weniger streng, aber dennoch stark objektivierend ausgerichtet präsentiert sich auch die Auffassung Neumanns, wenn dieser als „objektives Minimum“ einer Gefahr verlangt, dass aus ex-post-Sicht überhaupt Risikofaktoren für das zu schützende Rechtsgut vorhanden gewesen sein müssten, an die das Gefahrurteil habe anknüpfen können.286 b) Demgegenüber steht die herrschende Ansicht in der Literatur auf dem Standpunkt, dass sich Diagnose und Prognose wechselseitig überschnitten und gegenseitig stark beeinflussten, so dass schon aus diesem Grund eine strikte Trennung dieser beiden Ebenen nicht möglich sei. Auch finde sich kein sachlicher Grund dafür, den Beschränkungen des menschlichen Erkenntnisvermögens auf der einen Seite bei zukünftigen Entwicklungen Rechung zu tragen, diesen Faktor auf der anderen Seite aber bei der Beurteilung bestimmter situativer Umstände gänzlich außer Acht zu lassen. Vielmehr spreche die Funktion der strafrechtlichen Erlaubnissätze für eine Gleichbehandlung aller Erkenntnismöglichkeiten. Im Übrigen sei die Frage nach einer Rechtfertigung bzw. Entschuldigung strafrechtlich relevanten Verhaltens primär auf der Ebene des Handlungs- und somit des Gefährlichkeitsunwerts anzusiedeln, welcher aber bereits durch eine der Notstandshandlung innewohnende Rettungschance aufgewogen werde. Dagegen komme es nicht entscheidend darauf an, ob ex post betrachtet tatsächlich ein den Erfolgsunwert kompensierender Erfolgswert geschaffen worden sei.287 Für den Bereich des Gefährlichkeitsunrechts 284 Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 34 Rn. 13; MüKo-Erb § 34 Rn. 62 ff.; vgl. auch Dimitratos S. 121 ff., 145 f. und Hirsch, Art. Kaufmann-FS S. 545, 546 ff. 285 Herzberg JA 1989, 243, 249; vgl. auch Hirsch, Art. Kaufmann-FS S. 545, 547. 286 NK-Neumann § 34 Rn. 45, 50 f. 287 Vgl. dazu Sinn GA 2003, 96, 104 ff.; Rudolphi, Schröder-GDS S. 73, 82 ff.
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sei aber anerkanntermaßen ausschließlich eine ex-ante-Sicht maßgebend. Aus diesen Gründen sei das Vorliegen einer Gefahr im Wege einer umfassenden ex-antePrognose festzustellen.288 Auch die Rechtsprechung differenziert nicht zwischen Diagnose und Prognose, sondern geht einheitlich von einer ex-ante-Beurteilung aus.289
3. Anzulegender Beurteilungsmaßstab In engem Zusammenhang mit der soeben dargestellten Problematik der Reichweite der ex-ante-Betrachtung steht schließlich die bis heute nicht abschließend geklärte Frage nach dem im Rahmen der ex-ante-Prognose anzulegenden Beurteilungsmaßstab. a) Wiederum deutlich gekennzeichnet durch das Bemühen um eine möglichst weitgehende Objektivität des Gefahrurteils sind insoweit die klar restriktiv ausgerichteten Auffassungen vor allem Bleis sowie Lenckners und Perrons290, nach welchen der für die Prognose maßgebende Beurteilungsmaßstab durch diejenige Sachkunde gebildet werde, welche das gesamte menschliche Erfahrungswissen im Zeitpunkt der Handlung umfasst. Jedenfalls eine Rechtfertigung des Täterhandelns könne nicht auf die mangelnde Urteilsfähigkeit des Delinquenten gestützt werden, eine solche setzte das Vorliegen einer wirklichen Gefahr voraus. Nicht zu berücksichtigen seien allerdings im Hinblick auf die Situationsgebundenheit der Prognose solche besonderen Erkenntnismittel, die in der konkreten Handlungssituation auch einem mit dem Höchstwissen seiner Zeit ausgestatteten Betrachter nicht zur Verfügung stünden, sondern gegebenenfalls erst später herangezogen werden könnten.291
288 Vgl. LK-Hirsch § 34 Rn. 27 f., 31; ders., Art. Kaufmann-FS S. 545, 551 f.; Dimitratos S. 147 ff.; Rudolphi, Schröder-GDS S. 73, 80 ff., 86; ders., Arm. Kaufmann-GDS S. 371, 378 f., 381 ff.; Schaffstein, Bruns-FS S. 92, 95 ff., 105; Kühl AT § 8 Rn. 43, 45, 49, 52; Baumann / Weber / Mitsch § 17 Rn. 48; Wessels / Beulke Rn. 304; Arm. Kaufmann, Welzel-FS S. 393, 401; Frisch S. 421 ff., 440, 443, 448; Roxin AT I, § 16 Rn. 15 f., 18; Herzberg JZ 1987, 536, 541; Lackner / Kühl § 34 Rn. 2; Jakobs AT, 13. Rn. 13; Bergmann JuS 1989, 109, 110; Dornseifer Jus 1982, 761, 763 f.; Blei AT § 44 III. 2., 3. (S. 164 f.); Kretschmer Jura 2005, 662, 664; in diesem Sinne wohl auch Jescheck / Weigend § 31 IV. 4. (S. 331), § 33 IV. 4. b) Fn. 35 (S. 361); unklar Grebing GA 1979, 81, 102: „Das Gefahrurteil ist objektiv ex ante zu fällen, unterliegt aber einer generalisierenden ex-post-Betrachtung.“; eine ähnliche Formulierung findet sich auch bei Maurach / Zipf § 27 Rn. 15. 289 Vgl. etwa BayObLG StV 1996, 484, 485 und zuletzt BGH JZ 2004, 44, 46 zur gegenwärtigen Gefahr bei § 35 StGB. 290 Lenckner und Perron beschränken ihre enge Lesart allerdings ausdrücklich auf den rechtfertigenden Notstand; vgl. Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 35 Rn. 11. 291 Blei AT § 44 III. 3. (S. 164 f.); Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 34 Rn. 14; ebenso MüKo-Erb § 34 Rn. 66; kritisch LK-Hirsch § 34 Rn. 30; ders., Art. Kaufmann-FS S. 545, 553 f.; Dimitratos S. 151 ff.
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4. Abschn.: Begriffe „Gefahr“ und „gegenwärtig“
b) Dagegen halten andere Autoren das Gefahrurteil eines sachverständigen Beobachters für maßgebend, der auch über etwaiges Sonderwissen des Täters verfüge. Sachverständig sei der für eine Konfliktlage der konkret in Frage stehenden Art an sich zuständige Fachmann. Mit einem solchen Maßstab werde sowohl – insbesondere bei § 34 StGB – der Erwartungshaltung des Eingriffsopfers als auch dem Gedanken der angemessenen Irrtumsverteilung Rechnung getragen, ohne auf der anderen Seite übersteigerte Anforderungen zu stellen. Bei der Bestimmung des anzuwendenden Beurteilungsmaßstabs dürfe auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass den Notstandsvorschriften generell ein subsidiärer Charakter zukomme; primär sei die Gefahrenabwehr Aufgabe staatlicher Institutionen, bei deren Tätigwerden aber von einer erhöhten Richtigkeitsgewähr ausgegangen werden könne. Es sei zudem interessengerecht, auf das Urteil derjenigen Person abzustellen, auf deren Sachkunde sich die Gesellschaft auch generell verlasse.292 c) Noch etwas weiter herabgesetzt werden die Anforderungen, wenn man mit einigen Stimmen aus der Literatur auf das Urteil eines verständigen Beobachters mit eventuellem Sonderwissen des Notstandstäters abstellt.293 d) Einen subjektiven Einschlag des – allerdings auch aus ihrer Sicht grundsätzlich objektiven – Gefahrurteils befürworten diejenigen Vertreter der Lehre, die das Gefahrurteil eines verständigen Beobachters aus dem Verkehrskreis des Handelnden für ausschlaggebend erachten, wobei auch nach dieser Auffassung spezielle Kenntnisse des Notstandstäters zu berücksichtigen sein sollen. Dem liegt die Überlegung zu Grunde, dass die stärker objektiv ausgerichteten Ansätze den Anwendungsbereich der Notstandsvorschriften zu sehr einengten und den Notstandstäter unangemessen benachteiligten. Besonders deutlich werde dies in den Fällen, in denen den Notstandstäter zugleich eine Garantenpflicht treffe. Stelle man dabei mit den übrigen Auffassungen strengere Anforderungen an die Annahme einer Notstandsgefahr, könne dies – vorausgesetzt, man forderte im Rahmen der Unterlassungsdelikte nicht ähnlich hohe Maßstäbe294 – zu dem paradoxen und sinnvoller 292 Jakobs AT, 13. Rn. 13; Eser / Burkhardt I, 12. Rn. 27 (S. 145); NK-Neumann § 34 Rn. 50 f.; in diesem Sinne auch Kühl AT § 8 Rn. 52 f.; Kretschmer Jura 2005, 662, 664 f.; Pawlik S. 174: „. . . , daß jenes Niveau an Kenntnissen ,objektiv‘ zugrunde zu legen ist, das in der konkreten Handlungssituation von demjenigen zu erwarten gewesen wäre, der professionell mit der Bekämpfung einer Gefahr nach Art der in Rede stehenden befasst ist . . .“, S. 176; vgl. auch Dimitratos S. 165 ff. 293 SK-Günther § 34 Rn. 21; Jescheck / Weigend § 31 IV. 4. (S. 331), § 33 IV. 4. b) Fn. 35 (S. 361); Schlehofer Jura 1989, 263, 265; ebenso Schönke / Schröder-Lenckner / Perron, § 35 Rn. 11, für den entschuldigenden Notstand; ähnlich Arm. Kaufmann, Welzel-FS S. 393, 402: „. . . was ein einsichtiger Mensch in der Tatsituation hätte erkennen können.“; Tröndle / Fischer § 34 Rn. 3: „. . . Standpunkt eines nachträglichen Beobachters, dem die im kritischen Augenblick wesentlichen Umstände bekannt sind . . .“; ebenso BayObLG NJW 2000, 888. Einige, wie Lackner / Kühl § 34 Rn. 2, Wessels / Beulke Rn. 304 und BayObLG StV 1996, 484, 485 verwenden ohne weitere Erläuterung den nicht ganz eindeutigen Begriff des sachkundigen Beobachters bzw. sachkundigen Beurteilers; aus dem jeweiligen Gesamtkontext ergibt sich aber, dass hiermit der verständige Beobachter gemeint sein soll.
C. Der Begriff der gegenwärtigen Gefahr im Notstandsrecht
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Weise nicht in Betracht kommenden Ergebnis führen, dass der Täter in der konkreten Situation zwar zur Nothilfe verpflichtet, gleichzeitig aber nicht berechtigt wäre. Auch sei der Weg über den Erlaubnistatbestandsirrtum einer Rechtfertigung nach § 34 StGB rechtsethisch nicht gleichwertig, da in ersterem Falle dem Täter kein rechtstreues Handeln bescheinigt werde. Zudem könne in Einzelfällen eine Fahrlässigkeitsbestrafung des Notstandstäters drohen.295 e) Eine vermittelnde Haltung nehmen schließlich Roxin, Dimitratos und Hirsch ein. Dimitratos ist unter Berufung auf Roxin der Ansicht, dass in Beurteilungssituationen, die das Wissen eines Fachmanns erfordern, auf dessen Sicht abzustellen sei, während in allen Fällen, in denen Fachkenntnisse nicht weiterführten, das Urteil eines verständigen Beobachters aus dem Verkehrskreis des Handelnden maßgeblich sei.296 Das verwundert zumindest insoweit, als sich Dimitratos zuvor vehement gegen Schaffsteins Beurteilungsmaßstab des verständigen Beobachters aus dem Verkehrskreis des Handelnden gewandt hatte.297 Weitgehend identisch gestaltet sich auch die in Bezug genommene Stellungnahme Roxins, der entweder einen Fachmann – sofern dessen Fachwissen erforderlich ist – oder aber einen „verständigen Beobachter“ als Maßstabsperson heranziehen will. Den Beurteilungsmaßstab des „verständigen Beobachters“ interpretiert er dabei, obwohl er den Horizont des verständigen Beobachters aus dem Verkehrskreis des Handelnden generell für zu relativ hält, ebenfalls im Sinne der Auffassung Schaffsteins.298 In einer ganz eigenen Weise verwendet dagegen Hirsch den Ausdruck des von ihm herangezogenen „sachkundigen Betrachters“. Sachkundigkeit bedeute dort, wo spezielles Fachwissen erforderlich sei, spezielle fachliche Kompetenz, d. h. Fachkundigkeit eines für den konkreten Bereich generell zuständigen Sachverständigen, während in Situationen, zu deren Beurteilung es nicht auf die Sicht eines Experten ankomme, auf eine verständige Maßstabsperson abzuheben sei. Entscheidend für den anzuwendenden Beurteilungsmaßstab sei stets das Kriterium der objektiven Feststellbarkeit in der betreffenden zeitlich-räumlichen Situation, dem nur anhand der genannten Differenzierung hinreichend Rechnung getragen werden könne.299 294
Was eine erhebliche Verminderung des Umfangs der Gefahrenabwehrpflicht zu Folge
hätte. 295 Grundlegend Schaffstein, Bruns-FS S. 89, 94 f., 97 ff., 106; ebenso Frisch S. 424 ff., 441; Rudolphi, Arm. Kaufmann-GDS S. 387 ff., hinsichtlich aller Rechtfertigungsgründe, die keinen personal eingeschränkten Anwendungsbereich aufweisen, sondern für jedermann Gültigkeit besitzen; Maurach / Zipf § 27 Rn. 15; Haft AT S. 98; in diesem Sinne auch Dornseifer JuS 1982, 761, 764; vgl. auch Herzberg JZ 1987, 536, 540; ders. JA 1989, 243, 247 f., 249 f.; kritisch vor allem LK-Hirsch § 34 Rn. 30; ders., Art. Kaufmann-FS S. 545, 546 f., 553; Dimitratos S. 157 ff., 160 ff.; Kretschmer Jura 2005, 662, 664 f. 296 Dimitratos S. 167 ff., 172. 297 Dimitratos S. 160 ff. 298 Roxin AT I, § 16 Rn. 18. 299 LK-Hirsch § 34 Rn. 27, 29 ff.; ders., Art. Kaufmann-FS S. 545, 552, 554, 558.
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4. Abschn.: Begriffe „Gefahr“ und „gegenwärtig“
IV. Eigene Stellungnahme zum Gefahrbegriff von rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand, §§ 34, 35 StGB Bereits die Vielschichtigkeit der im Zusammenhang mit dem Begriff der Notstandsgefahr der in Literatur und Rechtsprechung erörterten Problemkreise und die Verschiedenheit der in ihrem Rahmen vertretenen Ansichten machen deutlich, dass eine Wortlautinterpretation300 allein kaum zum Ziel führen kann, sondern eine umfassende und zutreffende Auslegung dieses Merkmals vor allem auch normative und teleologische Gesichtspunkte mit in die Überlegungen wird einbeziehen müssen.
1. Erforderlicher Gefahrengrad Dabei gilt es nach dem oben Gesagten zunächst, den für die Annahme einer Notstandsgefahr erforderlichen Gefahrengrad zu ermitteln. Wie bereits ausgeführt, wird die Notstandsgefahr gemeinhin als Zustand definiert, in dem die bestimmte Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintrittes besteht, wobei die Skala des geforderten Wahrscheinlichkeitsgrades von „nicht ganz unwahrscheinlich“ bis „sehr wahrscheinlich“ reicht, während andere Autoren die pauschale Festlegung einer bestimmten Wahrscheinlichkeit gänzlich ablehnen.301 a) Primär stellt sich damit die Frage nach der Relativität des Gefahrbegriffes. Denn handelte es sich bei der Gefahr um ein relatives Merkmal, so wäre die rechtsgutabhängige Bestimmung des erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrades und damit eine Uneinheitlichkeit des notwendigen Gefahrgrades die logische Folge. Gegen eine solche Sicht sprechen indes mehrere Erwägungen. Grundlegende Bedenken ergeben sich insoweit bereits aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben. Nach dem Grundgedanken des Bestimmtheitsgrundsatzes im Sinne von Art. 103 Abs. 2 GG, der sich in ähnlicher Form auch in den Bestimmungen des § 1 StGB und des Art. 7 Abs. 1 EMRK findet, müssen vor allem auch strafrechtliche Bestimmungen widerspruchsfreie und orientierungssichere Verhaltensregelungen für den Einzelnen zur Verfügung stellen. Jeder Bürger muss vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist.302 Vor allem soll auch der im Einzelfall konkret Betroffene bereits im Zeitpunkt unmittelbar vor Beginn seines strafVgl. hierzu bereits oben I. 3. Vgl. oben III. 1. 302 Vgl. BVerfG NStZ 1982, 285; BVerfGE 92, 1, 11 f.; Sachs-Degenhart Art. 103 Rn. 58; KGG-G. Nolte Art. 103 Abs. 2 Rn. 102; Maunz / Dürig-Schmidt-Aßmann Art. 103 Abs. II Rn. 178 f., 197; Krey Rn. 126, 133; Renzikowski S. 125 f.; Tröndle / Fischer § 1 Rn. 2 f.; Schönke / Schröder-Eser § 1 Rn. 17; Zippelius S. 48 f.; Erb ZStW 108, 266, 274 ff., 287; Jähnke, BGH-FS S. 393, 395, 399 f. 300 301
C. Der Begriff der gegenwärtigen Gefahr im Notstandsrecht
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rechtlich relevanten Verhaltens beurteilen können, ob die in Frage stehende Vorgehensweise gegen die Rechtsordnung verstößt oder sich innerhalb des erlaubten Rahmens bewegt. Verhaltenssteuernde Orientierungspunkte in diesem Sinne ergeben sich aber nicht nur aus den Tatbeständen der Strafvorschriften des Besonderen Teils des StGB, sondern etwa auch aus den Rechtfertigungsgründen des Allgemeinen und des Besonderen Teils. Denn auch diese stellen insoweit Verhaltensrichtlinien zur Verfügung, als sie Auskunft darüber geben, wann eine Verhaltungsweise als mit dem Recht konform oder als rechtswidrig anzusehen ist. Erst ein Zusammenspiel aus Tatbestand und Rechtfertigungsgründen gibt verbindlich Auskunft darüber, wann ein bestimmtes Verhalten verboten ist. Daher muss Art. 103 Abs. 2 GG ebenso wie § 1 StGB und Art. 7 Abs. 1 EMRK Geltung zumindest auch für den Bereich der Rechtfertigungsgründe des Allgemeinen Teils des StGB beanspruchen können.303 Wenn nun aber Art. 103 Abs. 2 GG im Rahmen strafrechtlicher Bestimmungen möglichst zuverlässige Verhaltensvorgaben erfordert, scheint es damit kaum zu vereinbaren, dem Gefahrbegriff ohne zwingende Gründe eine derart ausgeprägt relative Bedeutung beizumessen, wie dies von jenen Autoren befürwortet wird, die eine Gefahrbestimmung abhängig vom Wert des betroffenen Rechtsguts und den möglichen Schadensausmaßen vornehmen wollen. Denn auch insoweit muss aus der Sicht des Handelnden feststehen, ob der potentielle Gefahrenzustand eine Qualität aufweist, welche die Vornahme bestimmter Rettungshandlungen gestattet. Der Gefahrbegriff des rechtfertigenden Notstands ist daher auf eine einheitliche, allgemeingültige Grundlage zu stellen, um als zuverlässige Verhaltensrichtlinie dienen zu können. Für eine solche Vorgehensweise sprechen auch systematische Gründe. Nach § 34 Satz 1 StGB sind in die vorzunehmende Interessenabwägung insbesondere die betroffenen Rechtgüter und der Grad der ihnen drohenden Gefahren einzustellen.304 Dass der Gesichtspunkt der betroffenen Rechtsgüter auch und vor allem deren Wert beinhaltet, wird man wohl kaum in Frage stellen können. Nach den dem Gesetz zu entnehmenden Vorgaben stellt also der Wert des Erhaltungsguts einen im Rahmen der Interessenabwägung zu beachtenden Aspekt dar. Die Notwendigkeit einer Abwägung besteht aber generell nur dann, wenn zunächst vom Bestehen einer Gefahr ausgegangen werden kann, denn im Falle ihres Fehlens läge von vornherein schon aus diesem Grund keine Notstandslage vor. Würde man nun im Rah303 So auch BGHSt 42, 158, 160 f.; 235, 241; Sachs-Degenhart Art. 103 Rn. 58; Maunz / Dürig-Schmidt-Aßmann Art. 103 Abs. II Rn. 197; Dreier-Schulze-Fielitz Art. 103 II Rn. 20; KGG-G. Nolte Art. 103 Abs. 2 Rn. 110; Schönke / Schröder-Eser § 1 Rn. 14a, 17 26, § 2 Rn. 4; Tröndle / Fischer § 1 Rn. 2a; LK-Hirsch vor § 32 Rn. 35; ders., Tjong-GDS S. 50, 56, 63; Erb ZStW 108, 266, 271 ff., 284 ff., 290 f.; Hillenkamp, Miyazawa-FS S. 141, 157; Jähnke, BGH-FS S. 393, 405 ff. Abzulehnen ist hingegen im Ergebnis eine Anwendbarkeit auch auf die Entschuldigungsgründe des Allgemeinen Teils des StGB; vgl. dazu Jähnke, BGH-FS S. 393, 395 ff., 407; Tröndle / Fischer § 1 Rn. 2a, 10. 304 Vgl. dazu etwa die umfangreichen Nachweise bei Renzikowski S. 28 ff.
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men der Gefahrbestimmung bereits den Wert des betroffenen Rechtsguts berücksichtigen, so würde dadurch der Anwendungsbereich der Interessenabwägung unzulässig verengt. Aufgrund einseitiger, allein den Wert des Erhaltungsguts berücksichtigender Betrachtungen könnte bereits das Vorliegen einer Gefahr verneint werden, womit eine angemessene Abwägung unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Faktoren von vornherein abgeschnitten wäre. Insbesondere weniger bedeutende Rechtsgutsobjekte würden in ihrer Notstandsfähigkeit unangemessen eingeschränkt, da es zur Berücksichtigung sonstiger Umstände gar nicht kommen könnte. Demnach kann der Wert des betroffenen Rechtsgutsobjekts bei der Gefahrbestimmung keine Beachtung finden; vielmehr ist er im Rahmen der vorzunehmenden umfassenden Interessenbewertung angemessen zu gewichten. Im Übrigen kann auch nicht verkannt werden, dass es einen Widerspruch darstellt, wenn einige Vertreter eines relativen Gefahrbegriffs auf der einen Seite den Wert des Erhaltungsguts und die möglichen Schadensausmaße bereits im Rahmen des Gefahrurteils berücksichtigen, auf der anderen Seite aber unter ausdrücklichem Hinweis auf den Wortlaut der Interessenabwägungsklausel eine Maßgeblichkeit des Gefahrengrades ablehnen.305 Abschließend soll an einem einfachen Beispiel verdeutlicht werden, dass ein rechtsgutsabhängiger Gefahrbegriff jedenfalls in einzelnen Fällen auch zu paradoxen, nicht hinnehmbaren Ergebnissen führen kann. Befand sich etwa ein Autofahrer während der Fahrt in einer kritischen Situation, die sich mit dem Prädikat „der Eintritt eines Schadens ist nicht ganz unwahrscheinlich“ beschreiben lässt, so müsste man unter Berücksichtigung des Wertes des Erhaltungsguts wohl regelmäßig zu dem Urteil gelangen, dass sich der Autofahrer als Mensch in Gefahr befand, während sein Auto als Sache gleichzeitig nicht gefährdet war. Eine solche realitätsfremde Sicht lässt sich aber wohl nur schwer rechtfertigen. Nach alledem ist eine allgemeingültige, rechtsgutunabhängige Bestimmung der Notstandsgefahr der allein gangbare Weg. b) Damit stellt sich aber zugleich die Frage, welchen feststehenden Grad die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts generell erreicht haben muss, um eine Notstandsgefahr begründen zu können. Eine reine Wortlautauslegung führt insoweit zu keinem klaren Ergebnis, da sich alle vertretenen Lösungsansätze innerhalb des Wortsinnes bewegen, ohne dass einer von ihnen den anderen klar überlegen wäre. Da aber auch die historischen Vorgaben für die konkrete Problematik wenig aussagekräftig sind306, muss die zutreffende Lösung vor allem auf systematische und teleologische Überlegungen aufbauen. Dabei ist zunächst festzustellen, dass die Bestimmung des § 34 StGB neben dem Erfordernis der Gefahr eine Reihe weiterer einschränkender Anforderungen auf305
Besonders deutlich tritt diese Diskrepanz etwa bei Erb, in MüKo § 34 Rn. 67, 69, zu
Tage. 306
Vgl. oben II.
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stellt, die als zusätzliche Korrektive fungieren. So muss die Gefahr eine gegenwärtige sein, sie darf nicht anders abwendbar sein307, das geschützte Interesse muss im Rahmen einer Interessenabwägung das beeinträchtigte wesentlich überwiegen, und die Tat muss ein angemessenes Mittel sein, die Gefahr abzuwenden. In ähnlicher Weise enthält auch § 35 StGB neben der ebenfalls notwendigen Gegenwärtigkeit der Gefahr zusätzliche einschränkende Voraussetzungen. Einerseits werden nur nicht anders abwendbare Gefahren für bestimmte Rechtsgüter erfasst und andererseits können ausschließlich Gefahrzustände für einen eng begrenzten Personenkreis notstandsbegründend wirken. Zudem fließen nach der Zumutbarkeitsklausel des § 35 Abs. 1 S. 2 StGB im Einzelfall auch wertende Gesichtspunkte mit in die Entscheidung über eine Entschuldigung ein. Bereits die Existenz dieser zusätzlichen Restriktionen spricht dafür, dass an das Merkmal der Gefahr keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen, denn andernfalls wären diese weiteren Einschränkungen – wenn nicht gänzlich überflüssig – zumindest in vielen Fällen ohne praktische Relevanz. Die Systematik spricht vielmehr dafür, dass der Begriff der Gefahr in einem weiteren Sinne aufzufassen ist und erst durch die zusätzlichen Korrektive auf zweiter Stufe eine Einschränkung erfolgt. Dieser Gedanke kann insbesondere für die Interessenabwägungsklausel des § 34 StGB Geltung beanspruchen, denn der Grad der Gefahr soll nach den ausdrücklichen Vorgaben des Gesetzes erst im Rahmen der umfassenden Interessenabwägung Berücksichtigung finden.308 In dieser Beziehung sind ähnliche Erwägungen leitend, wie sie bereits im Zusammenhang mit der Einbeziehung des Wertes des Erhaltungsguts bei der Gefahrbestimmung dargelegt wurden. Wollte man bereits im Rahmen der Gefahrprüfung erhöhte Anforderungen stellen, liefe die Interessenabwägungsklausel in vielen Fällen weitgehend leer. Es entspricht aber gerade dem Gesetzessinn, die Frage einer Rechtfertigung primär aufgrund einer alle maßgeblichen Faktoren berücksichtigenden Interessenabwägung zu klären. Um insoweit eine maximale Wirksamkeit zu gewährleisten, darf nicht bereits unter einseitiger Betrachtung des Gefahrengrades das Vorliegen einer Notstandslage verneint werden. Nach der Konzeption des Gesetzes soll es vielmehr auch möglich sein, dass bereits eine geringgradige Gefahr im Einzelfall zu einer Rechtfertigung führen kann, wenn die übrigen Umstände ein solches Ergebnis nahe legen. Dazu bedarf es aber grundsätzlich auch der Qualifizierung kritischer Situationen mit nur geringer Schadenswahrscheinlichkeit als Notstandsgefahr. Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen kann dem Merkmal der Notstandsgefahr allein die Bedeutung zukommen, solche Risiken auszuscheiden, denen jedermann in gleicher Weise ausgesetzt ist und die sich in einer modernen Industriegesellschaft schlechterdings nicht umfassend ver307 Dabei spielt es in diesem Zusammenhang keine Rolle, ob sich das Merkmal der Nichtanders-Abwendbarkeit auf die Notstandslage, auf die Notstandshandlung oder auf beides bezieht (vgl. dazu etwa LK-Hirsch § 34 Rn. 21, 50 m. w. N.; Lenckner, Lackner-FS S. 95 ff.); bei Einbeziehung historischer Aspekte spricht indes viel dafür, dass hiermit – zumindest auch – die Notstandslage charakterisiert werden soll (vgl. oben II.). 308 So auch Ebert S. 81; Maurach / Zipf § 27 Rn. 15; Lenckner, Lackner-FS S. 95, 99; Bergmann JuS 1989, 109, 110.
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meiden lassen. Nicht gefahr- und somit auch nicht notstandsbegründend können insofern etwa allgemeine Lebensrisiken oder abstrakte, rein gedankliche Schadensmöglichkeiten wirken, die sich noch nicht in einem schadensträchtigen Verlauf konkretisiert haben.309 In diesen Fällen liegt bereits dem Wortsinn nach keine Gefahr vor, denn es fehlt an der erforderlichen Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts – die bloße Möglichkeit ist nicht mit Wahrscheinlichkeit gleichzusetzen. Auch teleologische Gesichtspunkte sprechen für eine solche Betrachtungsweise, da es nicht Sinn des Gesetzes sein kann, schlechterdings sämtliche existenten Alltagsrisiken als hinreichende Notstandsgefahren zu qualifizieren. Mit der genannten Ausschlussfunktion ist die Bedeutung des Gefahrmerkmals nach dieser Sicht erschöpft; eines gesteigerten Wahrscheinlichkeitsgrades bedarf es aus den genannten Gründen nicht. Die Notstandsgefahr lässt sich folglich zusammenfassend als Zustand definieren, in dem nach den konkreten Umständen des Einzelfalles die über bloße allgemeine Lebensrisiken und rein abstrakte, gedankliche Schadensmöglichkeiten hinausgehende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts an einem geschützten Rechtsgutsobjekt besteht.
2. Tatsachengrundlage des Gefahrurteils Damit ist aber noch nicht geklärt, auf welcher Tatsachengrundlage das Gefahrurteil zu treffen ist. Primär ist in diesem Zusammenhang die Frage einer Lösung zuzuführen, ob im Rahmen der insoweit erforderlichen nachträglichen Prognose die Einbeziehung ex post gewonnener Erkenntnisse geboten ist oder ob nicht vielmehr eine einheitliche ex-ante-Betrachtung dem Wesen der Notstandsgefahr besser gerecht wird. Für eine teilweise Berücksichtigung erst ex post erkennbarer Umstände ließe sich anführen, dass eine solche Vorgehensweise im Rahmen der Gefahrbestimmung bei den konkreten Gefährdungsdelikten der ganz herrschenden Auffassung in Literatur und Rechtsprechung entspricht. Abgesehen von der Tatsache, dass – wie soeben herausgearbeitet wurde – schon der Gefahrbegriff von rechtfertigendem Notstand und konkreten Gefährdungsdelikten nicht identisch ist, ergeben sich gegen einen solchen Vergleich aber in mehrfacher Hinsicht Bedenken. So ist insbesondere zu beachten, dass es sich bei den konkreten Gefährdungsdelikten anerkanntermaßen um Erfolgsdelikte handelt und somit primär die Frage im Raum steht, ob der Täter gegen die Rechtsordnung verstoßen hat, indem er einen rechtlich missbilligten Erfolg in Form einer konkreten Gefahr für ein bestimmtes Rechtsgutsobjekt herbeigeführt hat. Ziel der konkreten Gefährdungsdelikte ist es, einen möglichst umfassenden und weit reichenden 309
Vgl. dazu auch MüKo-Erb § 34 Rn. 68 ff.
C. Der Begriff der gegenwärtigen Gefahr im Notstandsrecht
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Rechtsgüterschutz zu gewährleisten, was vorrangig dadurch erreicht werden soll, dass die Anknüpfungspunkte der Strafbarkeit bereits in das Vorstadium des Verletzungseintritts verlegt werden. Eng mit diesem Schutzgedanken hängt auch die Erkenntnis zusammen, dass im Rahmen der konkreten Gefährdungsdelikte – vor allem bei den praktisch bedeutsamen Tatbeständen der Straßenverkehrsgefährdung – der Schutz der Allgemeinheit im Vordergrund steht, während dem Individualschutz eine eher untergeordnete Bedeutung zukommt.310 Schließlich darf auch nicht übersehen werden, dass es sich bei der Herbeiführung einer konkreten Gefahr um ein ausschließlich negativ bewertetes Ereignis handelt, dessen Erfolgsunwert im Regelfall nicht durch das Vorhandensein grundsätzlich positiv bewerteter Faktoren gemindert oder aufgehoben wird. Es besteht demnach insgesamt ein vitales Interesse der Rechtsordnung, Gefahrzustände im Sinne eines Deliktserfolges der genannten Art weitmöglichst zu verhindern. Aus diesem Gedanken lässt sich nun das Bedürfnis ableiten, Ungewissheiten über den Ausgang des Geschehens im Regelfall nicht dem Delinquenten zugute kommen zu lassen, denn die konkreten Gefährdungsdelikte können ihre volle Wirksamkeit im Hinblick auf die durch sie zu erlangende Verhaltensmotivation nur erreichen, indem der Täter bei vorhandenen Unsicherheiten darüber, ob der aus seinem Verhalten potentiell resultierende Zustand eine Gefahr darstellt, dazu veranlasst wird, im Zweifel auf die Vornahme der schadensgeneigten Handlung zu verzichten. Insofern ist es aber nur konsequent, strenge Anforderungen an die tatsächlichen Voraussetzungen der Negation einer Gefahr zu stellen und eine fehlende ex-ante-Erkennbarkeit als den Täter nicht entlastend zu qualifizieren. Gänzlich anders müssen sich demgegenüber die Überlegungen im Bezug auf die Notstandsgefahr gestalten. Auch wenn man der Rechtsordnung wohl kaum wird unterstellen können, dass sie das Entstehen von Notstandsgefahren als uneingeschränkt positives Ereignis auffasst, so ist in diesem Zusammenhang doch von einer völlig anderen Sichtweise als bei den Gefährdungsdelikten auszugehen. Die Gefahr ist als Ausgangspunkt des Täterhandelns konzipiert, das Gefahrurteil soll neben verschiedenen anderen Merkmalen Auskunft darüber geben, in welchen Situationen der Täter berechtigt ist, nach dem Gedanken des überwiegenden Interesses311 ein bestimmtes Rechtsgutsobjekt durch tatbestandsmäßiges Handeln zu retten. Dabei kann das Irrtumsrisiko nicht einseitig dem Täter auferlegt werden, denn andernfalls bestünde die Gefahr, dass insbesondere ängstliche Personen beim Bestehen von Unsicherheiten über die tatsächlichen Gegebenheiten generell auf die 310 Lackner S. 12 f.: „Die Tatbestände der Straßenverkehrsgefährdung sind durch und durch Tatbestände zum Schutze der Allgemeinheit. Der in ihnen mitverwirklichte Schutz des einzelnen ist nur eine Nebenwirkung von untergeordneter Bedeutung.“; in diesem Sinne auch Geppert Jura 2001, 559, 560; Berz / Saal NZV 2003, 198, 199; König JR 2003, 255, 257. 311 Dass das Prinzip des überwiegenden Interesses – zumindest auch – einen tragenden Gedanken des rechtfertigenden Notstands darstellt, kann angesichts der aktuellen Gesetzesfassung keinem Zweifel unterliegen; vgl. etwa SK-Günther § 34 Rn. 9 ff.; NK-Neumann § 34 Rn. 5 ff.; LK-Hirsch § 34 Rn. 2 f.; Gropp § 6 Rn. 112; Renzikowski S. 14 f., 28, 33 ff., 73 f.
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Vornahme der Rettungshandlung verzichteten. Damit wäre aber das Erhaltungsgut häufig schutzlos gestellt, was im Interesse eines möglichst umfassenden Rechtsgüterschutzes – jedenfalls bei hochwertigen Rechtsgütern – nicht akzeptabel erscheint. Der Untergang eines Rechtsgutes darf nicht deswegen sehenden Auges hingenommen werden, weil eine umfassende Tatsachenanalyse in der konkreten Handlungssituation nicht erreichbar ist. Wie Hirsch312 mit Recht betont hat, muss der Aspekt der objektiven Erkennbarkeit in der konkreten zeitlich-räumlichen Situation im Vordergrund stehen. Zudem darf auch nicht übersehen werden, dass es sich bei der durch eine Notstandsgefahr veranlassten Handlung nicht um ein uneingeschränkt negativ zu bewertendes Verhalten handelt, da der verwirklichte Erfolgsunwert in erheblichem Maße durch den aus der Rettung eines höherwertigen Rechtsguts resultierenden Erfolgswert kompensiert und dadurch im Endeffekt auch der Handlungsunwert vermindert wird, wenn eine solche Rettung angestrebt war.313 Dabei darf zwar nicht unberücksichtigt bleiben, dass diese Maximen uneingeschränkt nur bei objektivem Vorliegen der Rechtsfertigungsvoraussetzungen Geltung beanspruchen können, ihnen lässt sich aber jedenfalls die allgemeine Wertung entnehmen, dass eine Rettungshandlung im Falle bestehender Unsicherheiten nicht schlechthin unterbunden werden soll. Darüber hinaus wird von denjenigen Autoren, die eine teilweise Maßgeblichkeit ex post gewonnener Erkenntnisse befürworten, der – allerdings grundsätzlich zutreffende – Aspekt einer Objektivierung der Notstandslage einseitig überstrapaziert. So ist zunächst schon äußerst zweifelhaft, ob eine klare Trennung zwischen den der Prognose zugrunde liegenden gegenwärtigen Umständen und der eigentlichen Prognose über die künftige Entwicklung des Geschehens überhaupt praktisch durchführbar ist. Wie bereits erwähnt, bestehen insoweit vielfältige Überschneidungen. Zudem lässt sich häufig nicht klar herausarbeiten, ob ein bestimmter Umstand dem Bereich der Ausgangslage oder dem der eigentlichen Prognose zuzuordnen ist; vielfach wird eine solche Einordnung maßgeblich vom zugrunde gelegten Horizont des Betrachters abhängen. In jedem Falle aber wird eine solche Handhabung dem prognostischen Charakter des Gefahrurteils nicht gerecht, denn die vorhandenen Unsicherheiten über die künftige Entwicklung sind keineswegs ausschließlich dem Bereich der eigentlichen Prognose zuzuordnen. Könnte eine Prognose auf die lückenlose Kenntnis aller maßgebenden Umstände aufbauen, so wäre ihr Ergebnis nur äußerst selten durch Zweifel gekennzeichnet. Dies lässt sich schon anhand eines Gedankens verdeutlichen, der bereits im Rahmen der konkreten Gefährdungsdelikte vertiefend erörtert wurde: die Unsicherheit über die künftige Entwicklung eines Geschehens hängt in aller Regel entscheidend von der UnvollstänVgl. oben Fn. 299. Vgl. Kühl AT § 6 Rn. 12; Hillenkamp JZ 2004, 48, 50 f.; abweichend Paeffgen, Arm. Kaufmann-GDS S. 399, 420 und Zielinski S. 245, die der Ansicht sind, die hier interessierende Frage spiele sich primär auf der Ebene des Handlungsunwerts ab. 312 313
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digkeit der für die Prognose zur Verfügung stehenden Fakten ab.314 Wenn nun insbesondere Lenckner und Perron eine Berücksichtigung aller objektiv erkennbaren Umstände fordern, so überspannen sie damit die Anforderungen an den Notstandstäter. In einer Notlage ist häufig weder ausreichend Zeit vorhanden, noch verfügt der Handelnde über die erforderlichen Erkenntnismittel, um eine umfassende Aufklärung der Gesamtumstände vornehmen zu können. Diese auch den der Gefahrprognose zugrunde liegenden Tatsachen innewohnende Ungewissheit wird aber durch eine teilweise ex-post-Betrachtung in nicht akzeptabler Weise vernachlässigt. Eine solche Handhabung ließe sich allenfalls dann rechtfertigen, wenn zwingende Gründe dafür sprächen, das Irrtumsrisiko isoliert dem Notstandstäter aufzuerlegen. Das ist aber, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, nicht der Fall. Zwar darf nicht übersehen werden, dass der rechtfertigende Notstand ein Eingriffsrecht des Handelnden und eine damit korrespondierende Duldungspflicht des Betroffenen zur Folge hat, die diesem jegliche Abwehrmöglichkeit abschneidet. Dies stellt aber lediglich eine Seite der Medaille dar, die weiterer Ergänzung bedarf. Vollständig unberücksichtigt bliebe nämlich im Falle einer ausschließlich die Interessen des Betroffenen berücksichtigenden Sicht das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, das – wie oben bereits dargelegt wurde315 – auch für die Rechtfertigungsgründe316 des Allgemeinen Teils des StGB Geltung beanspruchen kann. Nach seinen Vorgaben müssen strafrechtliche Bestimmungen dem Einzelnen in der konkreten Handlungssituation Verhaltensmaßstäbe an die Hand geben, anhand derer dieser beurteilen kann, ob sein Vorgehen der Rechtsordnung entspricht oder nicht. Auch Rechtfertigungsgründe müssen als Verhaltensbefehle, als umsetzbare Verhaltensrichtlinien fungieren können, an denen der potentielle Täter seine weitere Aktivität ausrichten kann. Um dies zu gewährleisten, muss nicht zuletzt auch auf Erkenntnisbeschränkungen Rücksicht genommen werden, denn eine Orientierung kann nur mit Hilfe solcher Umstände erfolgen, die im entscheidenden Zeitpunkt unmittelbar vor Ausführung der Notstandshandlung tatsächlich verfügbar, d. h. in der betreffenden zeitlich-räumlichen Gesamtsituation objektiv feststellbar sind.317 Dabei sei an dieser Stelle betont, dass eine solche Sicht keinesfalls den besonders von Hirsch betonten Unterschied zwischen Gefährlichkeit und Gefahr im Sinne eines objektiven Zustandes zu verwischen geeignet ist, da im Zusammenhang mit der vorliegenden Problematik allein die Frage im Raume steht, ob der Notstandstäter die Gefahr als Ausgangslage seines Handelns in der konkreten Situation unter Berücksichtigung seiner Erkenntnisbeschränkungen hinreichend zuverlässig zu ermitteln vermochte. Da somit das Interesse des Betroffenen, nur im Falle einer ex post betrachtet objektiv vorliegenden Gefahr in Anspruch genommen werden zu können, in einem Spannungsverhältnis zu dem Vgl. oben A. III. sowie Frisch S. 419 ff. Vgl. oben den Text bei Fn. 303. 316 Nicht aber für die Entschuldigungsgründe; vgl. oben Fn. 303 am Ende. 317 Vgl. Herzberg JA 1989, 243, 247 f.; Zielinski S. 246; Hirsch, Art. Kaufmann-FS S. 545, 552; Pawlik S. 171 f. 314 315
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Bedürfnis des Notstandstäters nach einem zuverlässigen, auf seine beschränkte Tatsachenkenntnis Rücksicht nehmenden Verhaltensmaßstab steht, muss eine Lösung in Wege einer alle Gesichtpunkte weitmöglichst verwirklichenden Abwägungsentscheidung gesucht werden. Dem wird indes eine – teilweise – ex-post-Untersuchung nicht gerecht, da sie das Gewicht einseitig zu Gunsten des Betroffenen verschiebt. Schon aus diesen Gründen erscheint also eine umfassende ex-ante-Betrachtung vorzugswürdig. Dafür spricht aber auch, dass andernfalls ein eklatanter Unterschied zwischen den Gefahrbeurteilungsmaßstäben von rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand bestehen müsste. Denn das von den Befürwortern einer partiellen expost-Sichtweise im Rahmen des rechtfertigenden Notstands stets als solches hervorgehobene entscheidende Argument für einen solchen Beurteilungshorizont ist die auf Seiten des an sich unbeteiligten Betroffenen bestehende Duldungspflicht. Eine solche ergibt sich aber selbst bei Vorliegen aller Voraussetzungen des entschuldigenden Notstandes nach § 35 StGB nicht, da dem Täter in diesem Rahmen kein rechtmäßiges Handeln attestiert, sondern sein Verhalten lediglich als nicht strafwürdig angesehen wird. Fällt damit im Anwendungsbereich des entschuldigenden Notstands der zentrale Grund für die Maßgeblichkeit einer ex-post-Sicht weg, hätte deren Befürwortung für das Institut des rechtfertigenden Notstands zwangsläufig eine Divergenz der Beurteilungsperspektiven dieser beiden Vorschriften zur Folge.318 Eine solche Unterscheidung ließe sich aber weder mit dem Wortlaut und der Gesetzessystematik noch mit den historischen Vorgaben vereinbaren. Sowohl § 34 StGB als auch § 35 StGB verlangen übereinstimmend nicht nur das Vorliegen einer „Gefahr“, sondern die Existenz einer „gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr“ für ein Rechtsgut, wobei § 35 StGB insoweit enger formuliert ist, als nur Gefahren für bestimmte Rechtgüter erfasst werden. Der entscheidende Unterschied beider Bestimmungen ist indes ausschließlich darin zu erblicken, dass im Rahmen des § 34 StGB die Interessenabwägung ein wesentliches Überwiegen des bedrohten Rechtsguts gegenüber dem beeinträchtigen Rechtsgut ergibt. Die übrigen Voraussetzungen der Notstandslage und somit auch der Gefahrbegriff sind hingegen identisch konzipiert, was deutlich gegen die Anwendung einer unterschiedlichen Beurteilungsperspektive spricht.319 Auch die Normgenese führt zu einer Identität des Gefahrmerkmals bei § 34 StGB und § 35 StGB, denn die heutige Gesetzesfassung beider Vorschriften ist einheitlich den Bestimmungen der §§ 52, 54 StGB a. F. entlehnt.320 Schließlich muss auch unter Berücksichtigung teleologischer Aspekte für eine Gleichbehandlung votiert werden, da beide Normen einheitlich an die jeweils vorzufindende Unrechtsminderung anknüpfen.
318 Was etwa von Lenckner und Perron auch konsequent gefordert wird, vgl. Schönke / Schröder-Lenckner vor §§ 32 ff. Rn. 9 ff.; Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 34 Rn. 13, § 35 Rn. 11. 319 Vgl. auch Lenckner, Lackner-FS S. 95, 99. 320 Vgl. oben II. 8.
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Abgesehen von diesen grundlegenden dogmatischen Bedenken kann auch der häufig vorgebrachte Hinweis auf die notwendige Unterscheidung zwischen wirklicher Gefahr und Scheingefahr nicht uneingeschränkt überzeugen. Zwar steht außer Zweifel, dass eine rein subjektiv befürchtete Gefahr keine Notstandsbefugnisse zu begründen vermag, dies schließt indes das Bestehen einer zwischen Scheingefahr und wirklicher Gefahr anzusiedelnden dritten Erscheinungsform nicht aus. So ist vor allem für den Bereich des präventiven Gefahrenabwehrrechts anerkannt, dass eine sog. Anscheinsgefahr als Zustand, in dem unter Zugrundelegung einer ex-ante-Betrachtung objektive Anhaltspunkte für die Annahme sprechen, dass der Eintritt eines Schadens zu erwarten steht, aus Gründen der effektiven Gefahrenabwehr zumindest auf der Primärebene als Gefahr anzusehen ist.321 Auch wenn man nun gegen diese Erkenntnis einwenden wollte, dass sowohl das präventive Gefahrabwehrrecht an sich als auch der in seinem Anwendungsbereich maßgebliche Gefahrbegriff andere Zwecke verfolgen als die Notstandsbestimmungen des StGB und deren Gefahrbestimmung, so ändert dies doch nichts an der grundlegenden Einsicht, dass auch Irrtümer über der Gefahrprognose zugrunde liegende Tatsachen nicht per se gegen die Annahme einer Gefahr sprechen, wenn aus normativen Gründen eine andere Behandlung erforderlich scheint. Letztendlich geht auch die Argumentation fehl, die Notwendigkeit einer ex-postBetrachtung ergebe sich aus dem Gedanken der Gleichbehandlung mit dem Merkmal des „gegenwärtigen Angriffs“ bei der Notwehr gemäß § 32 StGB. Wenn auch zuzugeben ist, dass die herrschende Ansicht in der Literatur im Einklang mit der Rechtsprechung das Vorliegen eines Angriffs im Rahmen der Notwehr aus der Sicht ex post bestimmt322, so besteht zwischen § 32 StGB und §§ 34, 35 StGB ein nicht zu übersehender gravierender Unterschied: der Begriff der Gefahr enthält eo ipso ein prognostisches Element, die Notwendigkeit der Vornahme eines auf die Zukunft gerichteten Urteils, das dem Merkmal des Angriffs in dieser Form nicht immanent ist.323 321 Vgl. Schmidt-Aßmann-Schoch, 2. Kap. Rn. 84, 88, 91 ff.; Knemeyer Rn. 87, 95; Götz Rn. 140, 161 ff.; Dimitratos S. 55 ff.; Kretschmer Jura 2005, 662, 665 f.; ähnlich, aber enger, Gusy Rn. 107 ff., 194 f. 322 Vgl. unten D:. 323 In diesem Sinne äußert sich auch Ludwig, S. 84: „Dagegen wird die ,Gefahr‘ . . . durch das Moment einer gewissen Latenz gekennzeichnet. Charakteristisch für sie ist die Notwendigkeit einer Prognose, die sich auf zukünftige, möglicherweise schadenstiftende Entwicklungen und Ereignisse bezieht und die daher mit hohen Irrtumsrisiken behaftet ist.“, S. 86: „. . . weil der ,Angriff‘ keine Prognosen über zukünftige Entwicklungen und Ereignisse fordert, sondern ein aktuelles Verhalten darstellt, . . .“. Aus diesem Grund erscheint es nicht unproblematisch, mit der h. M. einen Angriff nach § 32 StGB als unmittelbare Bedrohung rechtlich geschützter Interessen durch menschliches Verhalten (so oder ähnlich etwa Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 32 Rn. 3; LK-Spendel § 32 Rn. 23; Jescheck / Weigend § 32 II 1. a) [S. 338]; Lesch StV 1993, 578, 580; Haft AT S. 85; Ebert S. 72; Gropp § 6 Rn. 68; Roxin AT I, § 15 Rn. 6; Wessels / Beulke Rn. 325; Lackner / Kühl § 32 Rn. 2; Kühl AT § 7 Rn. 23; Schröder JuS 2000, 235) oder als menschliches Handeln, das eine noch nicht abgeschlossene Rechtsgutsverletzung oder einen Zustand verursacht, der die unmittelbare Gefahr einer
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3. Beurteilungsmaßstab für das Gefahrurteil Wenn nach alledem ausschließlich eine umfassende ex-ante-Beurteilung dem Wesen des Notstandsgefahrurteils entspricht, bleibt abschließend zu klären, welche Wissensbasis dieser Feststellung zugrunde zu legen ist. Trotz des nicht zu leugnenden Erfordernisses, das Vorliegen einer Gefahr entscheidend anhand objektiver Kriterien zu beurteilen, kann der äußerst restriktive Ansatz vor allem Lenckners und Perrons sowie Bleis, nach dem der Prognose das gesamte menschliche Erfahrungswissen im Zeitpunkt der Handlung zugrunde zu legen sein soll, auch insoweit nicht überzeugen. Gegen eine solche Sicht sprechen bereits praktische Erwägungen, denn das jeweilige Höchstwissen der Gegenwart als generell nur theoretisch denkbare Größe wird sich in aller Regel nicht zuverlässig feststellen lassen. Selbst ein für das betreffende Gebiet zuständiger Sachverständiger ist im Rahmen der von ihm vorzunehmenden Situationsanalyse lediglich in der Lage, darzulegen, zu welchem Gefahrurteil er unter Anwendung seiner besonderen Sachkunde hätte gelangen können. Damit ist aber die Existenz einer Person, die möglicherweise eine „zutreffendere“ ex-ante-Prognose hätte stellen können, nicht zuverlässig ausgeschlossen. Die jeweilige Gefahrprüfung müsste demnach de facto stets auf der spekulativen Annahme aufbauen, dass bessere als die verwerteten Erkenntnisquellen nicht zu erreichen seien. Vor allem aber lässt ein solcher Maßstab das bereits angesprochene Erfordernis einer für den konkret Handelnden befolgbaren Verhaltensrichtlinie gänzlich unbeachtet. Insofern bleiben die genannten Autoren eine Erklärung schuldig, an welchen Orientierungspunkten der Notstandstäter sein Verhalten soll ausrichten können. Eine das Höchstwissen der Zeit berücksichtigende Gefahrprognose ist ihm schlechterdings, nicht nur in zeitlicher Hinsicht, unmöglich. Das scheinen auch Blei sowie Lenckner und Perron selbst zu erkennen, wenn sie solche besonderen Erkenntnismittel, die in der konkreten Handlungssituation auch einem mit dem Höchstwissen seiner Zeit ausgestatteten Betrachter nicht zur Verfügung stehen, sondern gegebenenfalls erst später herangezogen werden können, unberücksichtigt lassen wollen. Sie ziehen hieraus indes nicht die einzig sinnvolle Schlussfolgerung, dass die von ihnen gewählte Beurteilungsgrundlage der charakteristischen Sachlage des Notstands nicht hinreichend Rechnung trägt. Auch das von ihnen vorgebrachte Argument, der irrende Täter sei in den Fällen des § 34 StGB durch die Grundsätze über den Erlaubnistatbestandsirrtum hinreichend geschützt, verRechtsgutsverletzung begründet (so Tröndle / Fischer § 32 Rn. 4; ähnlich LK-Spendel § 32 Rn. 23) zu definieren, weil mit diesen Formulierungen in hohem Maße ein prognostischer Charakter des Angriffsbegriffes impliziert wird, der diesem nicht eigen ist; vorzugswürdig erscheint es insoweit, unter einem Angriff im Sinne des § 32 StGB jede bevorstehende oder bereits eingetretene Verletzung rechtlich geschützter Güter oder Interessen durch menschliches Verhalten zu verstehen (ähnlich Schroeder JuS 1980, 336 f.; NK-Herzog § 32 Rn. 3; SK-Günther § 32 Rn. 21; Seesko S. 18; Zaczyk JuS 2004, 750, 752; vgl. auch Sinn GA 2003, 96 f.; Kroß S. 80 ff.).
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dient keine Zustimmung. Zwar ist zutreffend, dass der Handelnde insofern regelmäßig tatsächlich nicht wegen vorsätzlicher Deliktsbegehung bestraft werden wird324, eine Lösung über den Erlaubnistatbestandsirrtum stellt aber dennoch kein angemessenes Äquivalent zu einer Rechtfertigung dar. So steht für den Notstandstäter zum einen stets zu befürchten, dass der Betroffene seinerseits auf die ihm nun grundsätzlich unbeschränkt offen stehenden Notrechte zurückgreift, während zum anderen auch die Möglichkeit einer Fahrlässigkeitsbestrafung häufig nicht zuverlässig auszuschließen sein wird. Zudem ist es nicht nur als Marginalie, sondern vielmehr als gravierender Unterschied anzusehen, wenn dem Handelnden bei Annahme eines Erlaubnistatbestandsirrtums im Gegensatz zur Sachlage beim rechtfertigenden Notstand nicht die Rechtmäßigkeit seines Vorgehens und somit Rechtstreue, sondern lediglich die Entschuldbarkeit seines Verhaltens bescheinigt wird. Schließlich erscheint vor allem das Gesamtkonzept Lenckners und Perrons inkonsequent, wenn sie auf der einen Seite die Anforderungen an den notwendigen Wahrscheinlichkeitsgrad tendenziell niedrig ansetzen, auf der anderen Seite aber durch eine äußerst strenge Handhabung der Anforderungen an die tatsächlichen Beurteilungsmaßstäbe der Sache nach ein Gefahrurteil befürworten, in dem ex post betrachtet325 die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts zumindest höchstwahrscheinlich sein muss. Auf der anderen Seite vermag aber auch die Auffassung insbesondere Schaffsteins nicht zu befriedigen, nach der Maßstabsperson ein verständiger Beobachter aus dem Verkehrskreis des Handelnden sein soll, der auch über spezielle Kenntnisse des Notstandstäters verfügt, da sie zu einer nicht gerechtfertigten Subjektivierung des Gefahrurteils führen würde. Die im Fall des § 34 StGB bestehende Duldungspflicht des grundsätzlich unbeteiligten Betroffenen kann nicht von Zufälligkeiten wie der Zugehörigkeit des Handelnden zu einem bestimmten Verkehrskreis abhängig gemacht werden. Überdies würde der Betroffene unangemessen benachteiligt, wenn ihm einseitig das von ihm in keiner Weise zu verantwortende Risiko auferlegt würde, mit Angehörigen eines besonders leichtfertigen Personenkreises konfrontiert zu werden. Bedenken gegen Schaffsteins Ansicht ergeben sich aber auch bei Betrachtung möglicher Ergebnisse im Rahmen ihrer praktischen Anwendung. So lässt sich das durchaus zu erwartende Resultat nur schwer vermitteln, dass beim Tätigwerden mehrerer Helfer aus verschiedenen Verkehrskreisen gegebenenfalls einige gerechtfertigt, andere aber lediglich entschuldigt sein sollen.326
324 Vgl. zu den Voraussetzungen und Folgen eines Erlaubnistatbestandsirrtums etwa Dornseifer JuS 1982, 761, 765; Herzberg JA 1989, 243 ff.; Paeffgen, Arm. Kaufmann-GDS S. 399 ff.; Schroth, Art. Kaufmann-FS S. 595 ff., 604 ff. 325 So spricht auch Dornseifer, JuS 1982, 761, 763, von einer modifizierten ex-post-Beurteilung. 326 So auch Roxin AT I, § 16 Rn. 18; Dimitratos S. 161 f.
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Aus denselben Gründen ist auch die vermittelnde Konzeption von Roxin und Dimitratos abzulehnen, wenn auch sie in gewissen Fällen auf die Sicht des Beobachters aus dem Verkehrskreis des Handelnden abstellen wollen. Im Übrigen betont die letztgenannte Auffassung ebenso wie der Ansatz Hirschs lediglich die als Selbstverständlichkeit zu betrachtende Tatsache besonders, dass in solchen Fällen, in denen das Wissen eines Fachmannes keine zusätzlichen Erkenntnismöglichkeiten eröffnet, dessen Urteil in seiner Funktion als „Normalbürger“ maßgeblich ist. Bei der demnach verbleibenden Entscheidung, ob auf das Urteil eines sachverständigen oder auf das eines verständigen Beobachters abgestellt werden muss, kann zunächst grundlegend nicht bestritten werden, dass ein sachverständiges Urteil der Forderung nach einer in möglichst hohem Maße zu verwirklichenden Objektivität der Gefahrbestimmung eher gerecht und den Betroffenen weitgehend vor möglichen Irrtumsrisiken schützen würde. Eine Lösung allein aufgrund dieser Argumente würde allerdings die Interessen des Notstandstäters unberücksichtigt lassen. Dieser hat ein durch den Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG geschütztes327 Interesse daran, zuverlässige und befolgbare Verhaltensrichtlinien in Form von Strafnormen vorzufinden, die auch auf seine spezielle Lage und die damit untrennbar verbundenen Erkenntnisbeschränkungen Rücksicht nehmen. Der Gesichtspunkt der objektiven Erkennbarkeit in der konkreten Situation darf nicht einseitig vernachlässig werden. Unter diesem Gesichtspunkt wäre der Maßstab des verständigen objektiven Beobachters mit etwaigem Sonderwissen des Täters vorzugswürdig, da er dem Notstandstäter einen gewissen Prognosespielraum zu Verfügung stellt. Wägt man nun die dargestellten Interessen umfassend gegeneinander ab, so sprechen die besseren Gründe für eine Maßgeblichkeit des Gefahrurteils eines verständigen Beobachters. Durch die Anwendung einer solchen Sicht werden auf der einen Seite keine überhöhten Anforderungen an den Täter gestellt und die dem prognostischen Gefahrurteil immanenten Unsicherheitsfaktoren hinreichend berücksichtigt, während auf der anderen Seite auch der Betroffene nicht über die Maßen belastet wird. So steht schon zu erwarten, dass dann, wenn ein objektiver verständiger Betrachter vom Vorhandensein einer Gefahr ausginge, auch der Betroffene in der konkreten Situation zu einem entsprechenden Gefahrurteil gelangen würde und somit schon aus dem Solidaritätsgedanken328 heraus eine Duldungspflicht keine unerträglichen Unbilligkeiten mit sich brächte. Sollte er indes ausnahmsweise aufgrund überlegener Sachkenntnis zu einem abweichenden Urteil gelangen, so ist es ihm zunächst unbenommen, die Situation aufzuklären und dem Notstandstäter somit die Rechtfertigung abzuschneiden. Aber auch wenn dem BeVgl. oben Fn. 302. Vgl. zum Solidaritätsprinzip als für den rechtfertigenden Notstand wesentlichen Grundsatz NK-Neumann § 34 Rn. 7 ff.; Renzikowski S. 188 ff.; Jakobs AT, 11. Rn. 12; Küper JuS 1987, 81, 87 f.; MüKo-Erb § 34 Rn. 6; Lackner / Kühl § 34 Rn. 1 m. w. N.; Kühl AT § 8 Rn. 9; SK-Günther § 34 Rn. 11; Ludwig S. 121 ff.; Frister, Rudolphi-FS S. 45, 48; Meißner S. 123 f. 329 In diesem Sinne aber Frister, Rudolphi-FS S. 45, 58, unter Berufung auf das Rechtsinstitut der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung. 327 328
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troffenen im Falle überlegenen Wissens keine generelle Aufklärungspflicht aufgebürdet werden kann329, so muss man doch bedenken, dass in den Fällen, in denen auch ein verständiger Beobachter das Vorliegen einer Gefahr bejaht hätte, die Sicht des Notstandstäters für diesen doch zumindest nachvollziehbar und verständlich erscheinen muss. Das gilt umso mehr, wenn man sich den Erwartungshorizont des Betroffenen vergegenwärtigt. Dieser wird wohl kaum voraussetzen, in der konkreten Situation jeweils auf einen für den maßgeblichen Bereich zuständigen Fachmann zu treffen, sondern vielmehr, dass ihm ein verständiger Durchschnittsbürger gegenübersteht, der die Sachlage im Wege einer Prognose unter Heranziehung der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen gewissenhaft beurteilt. Verknüpft man nun diesen Gesichtspunkt des Erwartungshorizonts mit dem Solidaritätsgedanken, so wird man zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass das Bestehen eines Eingriffsrechts auch in diesen Fallgestaltungen den Betroffenen zwar beeinträchtigen kann, eine ihm auferlegte unangemessene Belastung damit aber nicht verbunden ist. Im Übrigen wird man die vereinzelt verbleibenden Problemfälle zwanglos mittels der weiteren in § 34 StGB enthaltenen Korrektive einer angemessenen Lösung zuführen können. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem den Notstandsvorschriften immanenten Subsidiaritätsgedanken. So ist schon die Aussage bedenklich, dass bei Rettungshandlungen staatlicher Institutionen stets von einer erhöhten Richtigkeitsgewähr auszugehen sei.330 In jedem Falle aber verkennt die gegenteilige Ansicht die Bedeutung des Erforderlichkeitskriteriums. Es ist gerade unabdingbare Voraussetzung des Eingreifens der Notstandsvorschriften, dass die Gefahr nicht auf andere Weise – also vor allem durch Inanspruchnahme staatlicher Hilfe – abwendbar ist. Wenn eine solche Situation aber gegeben ist, so besteht die Notstandsbefugnis des Notstandstäters originär, nicht aber derivativ. Aus der Tatsache, dass in Fällen, die eine Erforderlichkeit in diesem Sinne nicht aufweisen, möglicherweise staatliche Einrichtungen gehandelt hätten, kann daher nichts für die der Gefahrbeurteilung zugrunde zulegende Wissensbasis hergeleitet werden. Die Situationsanalyse muss aufgrund der tatsächlichen Gegebenheiten vorgenommen werden. Die Frage nach der hypothetischen Sachlage im Falle des Fehlens einer der erforderlichen Voraussetzungen kann daher nicht zum entscheidenden Kriterium erhoben werden. Zudem ist sich der von der Notstandshandlung Betroffene im Regelfall bewusst, dass der ihm gegenüber erfolgende Eingriff von einer „normalen“ Privatperson und nicht von einem Fachmann vorgenommen wird. Schließlich wird auch nicht recht klar, warum die Fehleinschätzung eines Fachmannes noch im Toleranzbereich eines verantwortbaren sozial-adäquaten Risikos liegen soll, während der Irrtum eines verständigen Durchschnittsbeobachters diesem gerade nicht mehr unterfallen soll331 – auch insoweit lässt sich gerade der Erwartungshorizont des Betroffenen heranziehen. 330 331
Vgl. oben Fn. 292. So vor allem Kühl AT § 8 Rn. 52.
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Nach alledem ist die vorzunehmende nachträgliche Gefahrprognose auf der Wissensbasis eines verständigen Betrachters zu treffen, der auch über ein eventuelles Sonderwissen des Notstandstäters verfügt.
4. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass es weder einen einheitlichen Begriff der Gefahr innerhalb des gesamten StGB gibt, noch die Gefahrdefinitionen von konkreten Gefährdungsdelikten und §§ 34, 35 StGB übereinstimmen. Im Rahmen des rechtfertigenden und des entschuldigenden Notstands ist das Merkmal der Gefahr generell – unabhängig vom Wert des bedrohten Rechtsguts und den drohenden Schadensausmaßen – als Zustand aufzufassen, in dem nach den konkreten Umständen des Einzelfalles die über bloße allgemeine Lebensrisiken und rein abstrakte, gedankliche Schadensmöglichkeiten hinausgehende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts an einem geschützten Rechtsgutsobjekt besteht. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich im Wege einer umfassenden nachträglichen ex-ante-Prognose, in deren Rahmen die Wissensbasis eines gedachten, verständigen Beobachters heranzuziehen ist, der auch über etwaige Sonderkenntnisse des Notstandstäters verfügt. Ob diese Gefahrdefinition – trotz der generellen Nichtidentität des Gefahrbegriffes im Rahmen des StGB – auch für den Bereich der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben bei §§ 249, 255, 177 StGB Geltung beanspruchen kann, gilt es im späteren Fortgang der Untersuchung zu klären.
V. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr bei rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand, §§ 34, 35 StGB Nachdem somit die Frage nach den grundsätzlichen Voraussetzungen des Vorliegens einer Gefahr im Sinne der §§ 34, 35 StGB beantwortet ist, bleibt zu klären, wann ein in dieser Weise bestimmter Gefahrenzustand im Rahmen der Notstandsvorschriften als „gegenwärtig“ zu betrachten ist.
1. Beispiele aus der Rechtsprechung für die verschiedenen nach temporären Charakteristika gebildeten Fallgruppen aus dem Bereich der Notstandsvorschriften Dabei soll, wie zuvor schon bei der Darstellung des Meinungsstandes zur Gegenwärtigkeit der angedrohten Gefahr im Rahmen der §§ 249, 255 StGB und des § 177 StGB, auch an dieser Stelle eine Einteilung der zu beurteilenden Sachverhalte in die vier genannten Fallgruppen akute Gefahr, Dauergefahr im engeren Sinne,
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Dauergefahr im weiteren Sinne und Gefahren, bei denen feststeht, dass der Schadeneintritt erst in fernerer Zukunft zu besorgen ist, erfolgen.332 Denn da sich grundlegende Abweichungen insoweit zumindest prima facie nicht aufdrängen, erleichtert eine solche Vorgehensweise zum einen die Plastizität der Darstellung und schafft zum anderen eine mögliche Vergleichsgrundlage zwischen den §§ 34, 35 StGB auf der einen und den §§ 249, 255, 177 StGB auf der anderen Seite. Hinzu kommt, dass der weit überwiegende Teil der bislang von Rechtsprechung und Literatur behandelten praktischen Beispiele für die verschiedenen Gefahrenzustände dem Bereich der Notstandsvorschriften entstammt; daher können und sollen die oben ausschließlich abstrakt dargestellten verschiedenen Gefahrenzustände nunmehr im Folgenden näher exemplifiziert werden. Gerade durch die Auswertung der spezifischen Charakteristika der einzelnen Gefahrzustände, die sich aus den im Zusammenhang mit den §§ 34, 35 StGB behandelten praktischen Beispielen herausarbeiten lassen, können aber gegebenenfalls bereits erste Argumente für oder gegen eine Parallelität zur Sachlage bei den §§ 249, 255, 177 StGB entwickelt werden. a) Als Beispiele für den zeitlich aktuellsten Gefahrenzustand, die „Augenblicksgefahr“ oder auch „akute Gefahr“, die als sich unmittelbar zuspitzende Gefahrenlage dadurch gekennzeichnet ist, dass die Gefahr alsbald oder in allernächster Zeit und unmittelbar in einen Schaden umschlagen kann, dass der Eintritt des Rechtsgutsobjektsschadens unmittelbar bevorsteht oder unmittelbar droht, können etwa das Kleinkind, das in einem Gewässer zu ertrinken droht, der Schwerverletzte, der vermutlich in Kürze verbluten wird, oder der aus einem Zoo ausgebrochene wilde Löwe, der sich einer Personengruppe nähert, genannt werden.333 b) Weniger eindeutig gestaltet sich die Zuordnung von praktischen Beispielen zum Bereich der Dauergefahr im engeren Sinne, was vor allem daran liegt, dass diese in Teilbereichen Berührungspunkte mit der Dauergefahr im weiteren Sinne aufweist und daher nicht immer einfach von dieser zu unterscheiden ist. Unter einer Dauergefahr im engeren Sinne oder auch „echten“ Dauergefahr ist ein ungewöhnlicher, gefahrdrohender Zustand von längerer Dauer zu verstehen, der nach menschlicher Erfahrung bei natürlicher Weiterentwicklung jederzeit, also auch alsbald, in eine Rechtsgutsbeeinträchtigung umschlagen kann, ohne aber die Möglichkeit auszuschließen, dass der Eintritt des Schadens noch eine Zeitlang auf sich warten lässt.334 aa) Dieser Kategorie sind bei zutreffender Betrachtung insbesondere solche Gefahrzustände zuzurechnen, die primär nicht auf menschlichem Verhalten, sondern auf Naturereignissen beruhen.335 Ein anschauliches Beispiel dieser Fallgruppe bieVgl. oben 2. Abschnitt, A. II. 1. Vgl. oben 2. Abschnitt Fn. 14. 334 Vgl. oben 2. Abschnitt Fn. 17. 335 Vgl. RG JW 1933, 700 f. (Überschwemmung); RGSt 72, 246 ff. (Schlagwetterexplosion); hierher sind auch die Entscheidung RGSt 59, 69 ff. (baufälliges Haus) und das zu § 904 332 333
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tet die „Überschwemmungsentscheidung“ des Reichsgerichts vom 3. Oktober 1932336, der folgender Sachverhalt zugrunde lag: Im Rahmen eines Hochwassers war ein regionaler Graben über seine Ufer getreten und hatte in der Folge den vorhandenen örtlichen Schutzdamm an zwei Stellen durchbrochen, wobei an der einen Stelle das Wasser auf landwirtschaftlich genutzte Wiesen floss, während aufgrund des anderen Dammbruchs mehrere bewohnte Gehöfte, darunter auch die der Angeklagten, in erheblichem Maße überschwemmt zu werden drohten. Um die Höfe zu schützen, erweiterten die Angeklagten die bereits entstandene Lücke im Damm, die zu den Wiesen führte, wesentlich, was – wie beabsichtigt – zur Folge hatte, dass die Höfe weitgehend verschont blieben, wohingegen das Wiesengebiet in deutlich verstärktem Maße beeinträchtigt wurde. Dem Reichsgericht oblag somit die Beurteilung, ob die wegen Herbeiführens einer sachengefährdenden Überschwemmung gemäß § 313 StGB a. F. strafverfolgten Angeklagten gehandelt hatten, um sich oder ihre Angehörigen aus einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben im Sinne des entschuldigenden Notstands gemäß § 54 StGB a. F. zu retten. Das Landgericht hatte als „gegenwärtig“ nur die für die Bewohner der Gehöfte unmittelbar bevorstehende Gefahr anerkannt, vom Wasser durchnässt zu werden, und aus diesem Grund das Vorliegen der Voraussetzungen des § 54 StGB a. F. verneint. Diese Auffassung bezeichnete das Reichsgericht in seinem Urteil ausdrücklich als zu eng. Eine Gefahr für Leib oder Leben sei nicht nur dann gegenwärtig, wenn der zu befürchtende Eintritt einer Verletzung an den genannten Rechtsgütern unmittelbar bevorstehe, sondern auch dann, wenn jederzeit, also alsbald oder auch später, ein Zustand einzutreten drohe, der eine Entstehung von erheblichen oder tödlichen Erkrankungen des Täters oder seiner Angehörigen befürchten lasse.337 bb) Der Gedanke der jederzeitigen Möglichkeit einer Rechtsgutsbeeinträchtigung als maßgebliches Element der Dauergefahr im engeren Sinne spiegelt sich auch deutlich im Urteil des BGH aus dem Jahre 1957 wider, in dem das Gericht die Entschuldigungsmöglichkeit eines Gefängnisausbrechers nach § 54 StGB a. F. zu beurteilen hatte.338 Der in Westdeutschland wohnende Angeklagte, der im Jahre 1950 illegal in die Sowjetische Besatzungszone einreisen wollte, war unmittelbar nach dem Grenzübertritt wegen eines „Wirtschaftsvergehens“ festgenommen und in Untersuchungshaft verbracht worden. Nachdem er dort durch Zufall erfahren hatte, dass er „demnächst“ in eine für ihre unmenschlichen Haftbedingungen allgemein bekannte Strafanstalt verlegt werden sollte, war er zusammen mit einem Mitgefangenen aus dem Untersuchungsgefängnis geflüchtet. Zu diesem Zweck BGB ergangene Urteil RGZ 57, 187 ff. (Wasserableitung) zu rechnen; vgl. auch Joerden JR 1999, 120; Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 34 Rn. 17; Kühl AT § 8 Rn. 65; LKHirsch § 34 Rn. 36. 336 RG JW 1933, 700 f. 337 RG JW 1933, 700, 701. 338 BGH ROW 1958, 33 f.
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hatte er einen Wachmann gefesselt und geknebelt, der aufgrund dieser Behandlung später „durch Ersticken“ verstorben war. Der BGH verneinte zwar im Ergebnis eine Entschuldigung durch Notstand nach § 54 StGB a. F., bejahte aber grundsätzlich das Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben. Dem Angeklagten sei zwar unbekannt gewesen, an welchem Tage er habe verlegt werden sollen, weshalb das unmittelbare Bevorstehen einer Rechtsgutsbeeinträchtigung ausscheide, von einer Gegenwärtigkeit der Gefahr sei aber dennoch auszugehen, da die „Verlegung jeden Tag plötzlich und ohne längere Ankündigung durchgeführt werden konnte“.339 Die weitere Begründung des Gerichts, eine Gefahr sei schon dann gegenwärtig, wenn befürchtet werden müsse, ein Eingreifen werde, wenn es nicht sofort geschehe, zu spät kommen340, deutet zwar auf die Annahme einer Dauergefahr im weiteren Sinne341 hin, ihr kann aber für die exakte Einordnung keine maßgebliche Bedeutung beigemessen werden, da die Rechtsprechung nicht zwischen einer Dauergefahr im engeren und einer solchen im weiteren Sinn unterscheidet, sondern beide Erscheinungsformen einheitlich unter den Begriff der „Dauergefahr“ fasst.342 Entscheidend für die gewählte Eingruppierung ist vielmehr der vom BGH zu Recht betonte Aspekt, dass die Verlegung jederzeit zu erwarten war. cc) In die Fallgruppe der Dauergefahr im engeren Sinne gehört der Sache nach schließlich auch der vom BGH entschiedene Fall, in dem ein Ehepaar seine bei ihm lebende, an „paranoider halluzinatorischer Schizophrenie“ leidende Mutter bzw. Schwiegermutter immer dann in ihrem Wohn- und Schlafraum eingeschlossen hatte, wenn es das erneute Herannahen „krankheitsbedingter Erregungszustände“ befürchtete.343 Im Rahmen solcher temporärer Krankheitszustände war die alte Dame zuvor immer wieder halb oder unbekleidet durch das Dorf geirrt oder hatte Gegenstände und Räume „mit Weihwasser durchfeuchtet“. In seiner Entscheidung hat der BGH die wegen Freiheitsberaubung gemäß § 239 StGB angeklagten Eheleute pauschal wegen erwiesener Unschuld freigesprochen, ohne im Einzelnen darauf einzugehen, welcher Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund den Angeklagten zugute komme, oder ob eine teleologische Tatbestandsreduktion anzunehmen sei. Dabei hat er ausgeführt, die Besonderheiten des Falles kennzeichneten die Einschließungen weniger als Eingriffe in die persönliche Freiheit denn als Akte familiärer Fürsorge. Es habe sich um durch die Erregungszustände der Kranken bedingte Pflegemaßnahmen gehandelt, an deren Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit kein Zweifel bestehen könne. Zudem stehe auch außer Frage, dass die zeitweiBGH ROW 1958, 33, 34. BGH ROW 1958, 33, 34. 341 Vgl. dazu oben 2. Abschnitt, A. II. 1. sowie sogleich unten c). 342 Vgl. auch unten 2. 343 BGHSt 13, 197 ff.; vgl. auch Ludwig S. 38, der allerdings in der Sache vom Vorliegen einer Dauergefahr im weiteren Sinne auszugehen scheint. 339 340
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sen Einschließungen für die alte Dame ein geringeres Übel als die dauerhafte „Verwahrung“ in einer „Anstalt“ dargestellt hätten. Diese Ausführungen des BGH lassen sich zwanglos unter den Gedanken des durch eine Dauergefahr im engeren Sinne begründeten Notstands subsumieren; das Eintreten eines krankhaften Erregungszustandes mit entsprechenden Folgen war zumindest jederzeit mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten. c) Von der Dauergefahr im engeren Sinne unterscheidet sich die Dauergefahr im weiteren Sinne – nach dem oben bereits Gesagten – dadurch, dass der Eintritt des drohenden Schadens auf der einen Seite zwar erst nach Ablauf einer gewissen Zeit zu erwarten, auf der anderen Seite aber sofortiges Handeln angezeigt ist, um ihm wirksam begegnen zu können. Die Notwendigkeit sofortigen Handelns, der „gegenwärtige Handlungszwang“, ist also das ausschlaggebende Kriterium.344 Auch hierfür finden sich charakteristische Beispiele in der Rechtsprechung. aa) Wegen des Fehlens einer strafrechtlichen Sonderregelung hatten sich die Obergerichte in früherer Zeit in den „Abtreibungsfällen“ immer wieder mit der Frage auseinanderzusetzen, ob ein zum Schutz der Gesundheit der Schwangeren vorgenommener, medizinisch indizierter Schwangerschaftsabbruch bzw. eine Teilnahme hieran durch Notstand gerechtfertigt oder zumindest entschuldigt sein konnte.345 Von richtungweisender Bedeutung ist dabei das Urteil des Reichsgerichts vom 11. März 1927, in welchem sich der Senat nicht nur mit der Problematik der Dauergefahr auseinandergesetzt, sondern in dem er vor allem im Wege richterlicher Rechtsfortbildung das Institut des übergesetzlichen rechtfertigenden Notstands, den Vorgänger unseres heutigen § 34 StGB, entwickelt hat.346 Dabei hat das Reichsgericht ausgesprochen, dass „bei der Schwangerschaftsunterbrechung aus ,medizinischer Indikation‘ stets ein Notstand“ vorliege, „nämlich ein Zustand gegenwärtiger Gefahr für das Rechtsgut des Lebens oder der Gesundheit der Schwangeren, der nicht anders beseitigt werden kann als durch einen den äußeren Tatbestand einer strafbaren Handlung erfüllenden Eingriff in das Rechtsgut des Lebens der Leibesfrucht“.347 Denn unter einer gegenwärtigen Gefahr sei „ein Zustand zu verstehen, der bei natürlicher Weiterentwicklung den Eintritt der Schädigung als sicher bevorstehend erscheinen“ lasse, „wenn nicht dagegen eingeschritten“ werde.348 Vgl. oben 2. Abschnitt Fn. 21, 24. Vgl. etwa RG JW 1899, 788; RGSt 36, 334 ff.; RGSt 61, 242 ff.; RGSt 62, 137 ff.; BGHSt 14, 1 ff.; Ludwig S. 31 f.; Lenckner S. 231 ff.; Renzikowski S. 267 f.; Schmidhäuser S. 176 ff. 346 RGSt 61, 242 ff.; vgl. auch SK-Günther § 34 Rn. 6, Schmidhäuser S. 177 ff.; LKHirsch § 34 Entstehungsgeschichte. 347 RGSt 61, 242, 248. 348 RGSt 61, 242, 255; ähnlich BGHSt 13, 1, 3: „Eine gegenwärtige . . . Gefahr liegt nicht nur vor, wenn sie unmittelbar bevorsteht; darunter ist auch ein Zustand zu verstehen, der 344 345
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Die Einordnung dieser Fälle in den Bereich der Dauergefahr im weiteren Sinne ist zwar insofern nicht ganz eindeutig, als man angesichts der Tatsache, dass im Rahmen einer Risikoschwangerschaft stets – vor allem zeitlich – unkalkulierbare Gesundheitsrisiken für die Mutter bestehen, auch von einer Dauergefahr im engeren Sinne sprechen könnte. In den meisten der Abtreibungsentscheidungen stand jedoch eine Gesundheitsschädigung der Frau erst im Rahmen des unmittelbaren Geburtsvorgangs zu erwarten, so dass von einer jederzeitigen Schadensmöglichkeit nicht auszugehen war. Insofern scheint eine Behandlung unter dem Gesichtspunkt der Dauergefahr im weiteren Sinne systemgerecht. bb) In den sog. „Haustyrannenfällen“ musste die Rechtsprechung mehrfach die Problematik einer Klärung zuführen, ob die Tötung eines Familientyrannen durch seine Familienangehörigen, die er zuvor jahrelang aufs Brutalste misshandelt, gedemütigt und unterdrückt hatte, gerechtfertigt oder doch zumindest nach § 35 StGB entschuldigt sein könnte.349 Zuletzt hat der Bundesgerichtshof in seinem vielbeachteten Urteil vom 25. 03. 2003 ausführlich zu dieser Thematik Stellung genommen.350 Dabei hat er dem in der Vorinstanz entscheidenden Landgericht zum Vorwurf gemacht, dass dieses im Rahmen der Verurteilung wegen Mordes, § 211 StGB, vorschnell auf die von der Rechtsprechung entwickelte sog. Strafzumessungslösung abgestellt habe, ohne sich in ausreichendem Maße mit der Frage auseinanderzusetzen, ob nicht eine Rechtfertigung oder Entschuldigung in Betracht komme. Eine Rechtfertigung der Täterin hat der BGH indes abgelehnt. Eine Notwehrlage im Sinne des § 32 StGB habe schon deswegen nicht vorgelegen, weil der Ehemann zum Zeitpunkt der Tötungshandlung geschlafen und somit ein gegenwärtiger Angriff nicht vorgelegen habe. Die Annahme eines rechtfertigenden Notstands, § 34 StGB, verbiete sich ebenso, da jedenfalls bei Anwendung der Interessenabwägungsklausel das Überwiegen des Lebens eines Menschen gegenüber demjenigen eines anderen Menschen in keinem Falle festgestellt werden könne. Was das Vorliegen eines entschuldigenden Notstands nach § 35 StGB angehe, so müsse aber doch zumindest davon ausgegangen werden, dass sich die betroffene Ehefrau in einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben befunden habe. Dazu führt der BGH aus: „Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Gefahr im Sinne des § 35 StGB ein Zustand, in dem aufgrund tatsächlicher Umstände die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines schädigenden Ereignisses besteht. Dazu zählt auch eine erfahrungsgemäß bei natürlicher Weiterentwicklung den Eintritt der Schädigung als sicher bevorstehend erscheinen läßt, falls nicht dagegen eingeschritten wird“. 349 Vgl. etwa RG St 60, 318 ff.; RG JW 1934, 422 f.; OGHSt 1, 369 ff.; BGH GA 1967, 113 f.; BGH NJW 1966, 1823 ff.; BGH NStZ 1984, 20 f.; BGH JZ 2003, 50 ff.; hierher ist auch die Entscheidung RG JW 1930, 2958, 2959 zu rechnen, die sich mit dem Fall einer durch anhaltende Misshandlung erzwungenen Abtreibung befasst; vgl. zu den „Haustyrannenfällen“ auch Hillenkamp S. 113 f.; ders., Miyazawa-FS S. 141, 143 ff.; ders., Rudolphi-FS S. 463, 464; Schaffstein, Stutte-FS S. 253, 260 f., 265 ff.; Kargl Jura 2004, 189 f.; Otto NStZ 2004, 142, 143 f.; Rengier NStZ 2004, 233 ff.; Geppert JK 05, StGB § 211 / 43; Ludwig S. 32 ff.; Renzikowski S. 268 f. 350 BGH JZ 2004, 44 ff.
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Dauergefahr, bei der ein länger andauernder gefahrdrohender Zustand jederzeit in einen Schaden umschlagen kann. Insoweit unterscheidet sich der Anknüpfungspunkt des entschuldigenden Notstandes, die gegenwärtige Gefahr, von demjenigen der Notwehr, die einen gegenwärtigen Angriff voraussetzt. . . . Gegenwärtig ist die Gefahr dann, wenn sich die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts nach einem objektiven Urteil aus der ex-ante-Sicht so verdichtet hat, daß die zum Schutz des bedrohten Rechtsguts notwendigen Maßnahmen sofort eingeleitet werden müssen, um den Eintritt des Schadens sicher zu verhindern. Bei einer Dauergefahr ist eine solche Verdichtung der Gefahr dann anzunehmen, wenn der Schaden jederzeit eintreten kann, auch wenn die Möglichkeit offen bleibt, daß der Schadenseintritt noch einige Zeit auf sich warten läßt. Auf der Grundlage dieses Maßstabes war die Annahme einer ,gegenwärtigen Gefahr‘ im Sinne des § 35 Abs. 1 StGB hier nahe liegend. Diese konnte sich jederzeit realisieren, auch wenn . . . (das Opfer) im Tatzeitpunkt schlief; . . . . Zur Vermeidung weiteren Schadenseintritts war deshalb im Grundsatz sofortiges Handeln geboten“.351 Da der BGH wiederum nicht zwischen Dauergefahr im engeren Sinne und Dauergefahr im weiteren Sinne unterscheidet, sondern beide Phänomene in einem Atemzug nennt und augenscheinlich als Ausprägung eines einheitlichen Prinzips begreift,352 ist die Zuordnung auch hier nicht ganz eindeutig. Da aber die „Haustyrannenfälle“ in aller Regel gerade dadurch gekennzeichnet sind, dass der oder die Täter aufgrund ihrer Angst, dem Tyrannen offen gegenüberzutreten, einen Augenblick abpassen, in denen sich dieser gerade ruhig verhält und – vergleichsweise – ungefährlich ist, erscheint auch insoweit eine Zuordnung zum Bereich der Dauergefahr im weiteren Sinne angebracht.353 cc) Ebenfalls zum Anwendungsbereich der Dauergefahr im weiteren Sinne zu rechnen sind die „Aussageerpressungsfälle“ vor allem der älteren Rechtsprechung, in denen die Frage beantwortet werden musste, ob die Abgabe eines falschen Eides oder einer falschen Aussage vor Gericht durch Notstand gerechtfertigt oder entschuldigt sein könnte, wenn dem Zeugen für den Fall der wahrheitsgemäßen Aussage schwere körperliche Misshandlungen oder gar die Tötung in Aussicht gestellt worden waren.354 Dabei hat sich vor allem der BGH eingehend mit dem Thema der Dauergefahr beschäftigt und dazu festgestellt: „Die Drohungen . . . hatten die Angeklagte nicht etwa plötzlich in eine Gefahr versetzt, der sie nur durch eine unmittelbar folgende Abwehr entgegentreten konnte. Die Gefahr dauerte vielmehr während eines längeren Zeitraumes an. Auch eine solche Dauergefahr kann gegenwärtig sein und einen Notstand nach § 52 StGB (a. F.) wie auch nach § 54 StGB (a. F.) begründen. Das ist dann der Fall, wenn die Dauergefahr so dringend ist, daß sie jederzeit, also auch alsbald, in einen Schaden umschlagen kann, mag auch die BGH JZ 2004, 44, 46. Vgl. dazu schon oben b) bb) sowie unten 2. 353 A. A. Renzikowski S. 268 f. und Baumann / Weber / Mitsch § 17 Rn. 58, die vom Vorliegen einer Dauergefahr im engeren Sinn ausgehen. 354 Vgl. etwa RGSt 66, 98 ff.; RGSt 66, 222 ff.; RG JW 1932, 3068 ff.; RG HRR 1936 Nr. 708; RG HRR 1939 Nr. 1553; BGHSt 5, 371 ff.; Ludwig S. 36 f. 351 352
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Möglichkeit offen bleiben, daß der Eintritt des Schadens noch eine Zeitlang auf sich warten läßt, . . . Weitergehend ist in der Rechtsprechung Gegenwärtigkeit einer Dauergefahr schon dann angenommen worden, wenn der nach dem Lauf der Dinge zu besorgende Schaden zwar nicht unmittelbar bevorsteht, aber nur durch sofortiges, gegenwärtiges Handeln abwendbar war“.355 Die Zurechnung der „Aussageerpressungsfälle“ zur Dauergefahr im weiteren Sinne rechtfertigt sich dadurch, dass den Aussagenden jedenfalls zum Zeitpunkt der Aussage vor Gericht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit jeweils keine Misshandlung drohte. dd) Nicht unerwähnt bleiben soll schließlich der vieldiskutierte „Spannerfall“, den der BGH im Jahre 1979 zu entscheiden hatte.356 Immer wieder war ein unbekannter Mann – jeweils mit einem Abstand von mehreren Wochen – des Nachts in die Wohnung der Familie des Angeklagten eingedrungen und hatte ihn und seine Ehefrau beim Schlafen beobachtet. Immer wenn einer der Ehepartner erwachte, ergriff der Eindringling unverzüglich die Flucht. Nachdem weder eine Alarmierung der Polizei noch die Installation eine Alarmanlage durchschlagenden Erfolg gebracht hatte, ließ der Angeklagte eine seiner Ehefrau gehörende Schusswaffe instand setzen. Eines Nachts erwachte der Angeklagte erneut, als sich der „Spanner“ in unmittelbarer Nähe seines Bettes befand. Als sich dieser – wie stets – zur Flucht wandte, schoss ihm der Angeklagte mit der scharfen Pistole in Gesäß und Flanke, wodurch dieser erheblich verletzt wurde. Der Bundesgerichtshof betrachtete im Ergebnis sowohl die gefährliche Körperverletzung gemäß §§ 223, 223a StGB a. F. als auch den Verstoß gegen §§ 53 III Nr. 1a, 56 WaffG a. F. als durch Notstand gemäß § 35 StGB entschuldigt. Eine Gefahr im Sinne dieser Vorschrift sei auch eine Dauergefahr. Eine solche begründe einen Notstand, wenn sie so dringend sei, dass sie jederzeit, also auch alsbald, in einen Schaden umschlagen könne, möge auch die Möglichkeit offen bleiben, dass der Eintritt des Schadens noch eine Zeitlang auf sich warten lasse. Bei dem Bestehen einer gegenwärtigen Dauergefahr brauche sich die Abwehr nicht darauf zu beschränken, den sofortigen Eintritt des Schadens zu hindern, die Gefahr also hinauszuschieben; die einheitliche Dauergefahr sei nicht in einen gegenwärtigen und einen zukünftigen Teil zu zerlegen.357 Wenn auch die Begründung des BGH auf die Annahme einer Dauergefahr im engeren Sinne hinzudeuten scheint, so ist der Spannerfall dennoch der Dauergefahr im weiteren Sinne zuzuordnen. Der Spanner flüchtete bereits, und seine Rückkehr stand nach den bisherigen Erfahrungen erst in einigen Tagen bis Wochen, also nicht jederzeit, zu erwarten.358 BGHSt 5, 371, 373. BGH NJW 1979, 2053 f.; vgl. auch Ludwig S. 38 ff.; Bottke JA 1980, 510, 512 f. 357 BGH NJW 1979, 2053, 2054. 358 A. A. Roxin AT I, § 16 Rn. 21, der mit dem Argument, eine Rückkehr sei „in jeder Nacht . . . zu befürchten“, von einer Dauergefahr im engeren Sinne ausgeht; ebenso Baumann / Weber / Mitsch § 17 Rn. 58. 355 356
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d) Schließlich mag als Beispiel für Gefahrenzustände, bei denen feststeht, dass sich die Gefahr erst in der Zukunft realisieren wird, die mit einem Zeitzünder versehene Bombe, die sich an einem bekannten Ort befindet und deren Explosion erst in mehreren Stunden oder gar Tagen ausgelöst werden wird, genannt werden.359 Die Annahme einer Dauergefahr im weiteren Sinne unter dem Gesichtspunkt des gegenwärtigen Handlungszwangs scheidet in einer solchen Konstellation aus, da keine besonderen Faktoren existieren, welche die Notwendigkeit eines sofortigen Handelns zur effektiven Gefahrenabwehr begründeten.
2. Zusammenfassung der Sicht der Rechtsprechung Fasst man nun in einem zweiten Schritt die sich aus den soeben dargestellten praktischen Beispielen ergebenden Grundsätze zusammen, so ergibt sich bezüglich der Sicht der Rechtsprechung zwar im Ganzen betrachtet ein recht klares Bild, das allerdings in seinen einzelnen Facetten auch erhebliche Unklarheiten aufweist. Als gefestigte Rechtsprechung lässt sich im Ergebnis jedenfalls betrachten, dass neben der akuten Gefahr sowohl die Dauergefahr im engeren Sinne als auch die Dauergefahr im weiteren Sinne als gegenwärtig und somit als notstandsbegründend anerkannt werden, wohingegen die sich erst in Zukunft realisierende Gefahr, die auch keiner unverzüglichen Abwendung bedarf, den Anwendungsbereich der Notstandsvorschriften nicht eröffnet. Allerdings differenziert die Rechtsprechung de facto nicht zwischen der Dauergefahr im engeren Sinn und der Dauergefahr im weiteren Sinn, sondern fasst beide Erscheinungsformen entweder alternativ oder – wie vor allem die neuere Rechtsprechung – kumulativ unter dem einheitlichen Begriff der Dauergefahr zusammen.360 Es scheint, als betrachte die obergerichtliche Rechtsprechung beide Typen dabei als Ausdruck eines einheitlichen Phänomens. Zudem findet sich bei der Behandlung der Dauergefahr insbesondere in der älteren Rechtsprechung der Ansatz, mehrere Einzelgefahrphasen zu einem Gesamtgefahrkomplex zusammenzuziehen und auf dieser Grundlage im Wege einer Gesamtschau von einer Gegenwärtigkeit bereits dann auszugehen, wenn nur eine der zusammengefassten Einzelgefahren bereits in das – rein zeitlich verstandene – Gegenwärtigkeitsstadium gelangt ist.361 Aus diesen soeben beschriebenen Eigentümlichkeiten der Sicht der Rechtsprechung resultiert wohl auch die im Einzelfall anzutreffende mangelnde Präzision. So behilft sich etwa der Bundesgerichtshof in einem dem Bereich der Dauergefahr im engeren Sinne zuzuordnenden Fall mit einer Definition, welche die Charakteristika der Vgl. Joerden JR 1999, 120. Vgl. etwa BGHSt 5, 371, 373; BGH JZ 2004, 44, 46; BayObLG StV 1996, 484, 485. 361 Vgl. RG JW 1899, 788; RGSt 59, 69, 71; RGSt 60, 318, 320 f.; RG JW 1930, 2958 f.; RG JW 1932, 3068 f.; RG JW 1934, 422 f.; RG HRR 1939 Nr. 1553; BGH GA 1967, 113; BGH NJW 1979, 2053 f.; Hillenkamp, Miyazawa-FS S. 141, 154; Küper, Rudolphi-FS S. 151, 157, 159 f. 359 360
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Dauergefahr im weiteren Sinne umschreibt362, während er an anderer Stelle umgekehrt in einer der Dauergefahr im weiteren Sinne zuzurechnenden Konstellation zu denjenigen Voraussetzungen Stellung nimmt, die nach ganz überwiegender Ansicht eine Dauergefahr im engeren Sinne kennzeichnen.363 3. Meinungen in der Literatur Auch in der Literatur besteht im Ergebnis weitgehend Einigkeit darüber, dass nicht nur die akute Gefahr und die Dauergefahr im engeren Sinne, sondern auch die Dauergefahr im weiteren Sinne als gegenwärtige Gefahr im Sinne von §§ 34, 35 StGB notstandsbegründend wirken können. Uneinheitlich ist indes die Begründung dieses Resultats, wobei insgesamt vier verschiedene Erklärungsansätze vorzufinden sind. a) Vor allem viele Kommentar- und Lehrbuchautoren orientieren sich eng an den Vorgaben des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs. Auch sie differenzieren nicht zwischen der Dauergefahr im engeren Sinn und der Dauergefahr im weiteren Sinn, sondern nennen beide Erscheinungsformen in einem Atemzug als Ausprägung einer einheitlich verstandenen Problematik der Dauergefahr. Dabei wird als ausschlaggebend häufig die ursprünglich der Rechtsprechung364 entstammende Formel verwendet, eine Gefahr sei dann gegenwärtig, wenn der Eintritt eines Schadens sicher oder doch höchstwahrscheinlich sei, wenn nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen würden. Davon sei unter anderem auch dann auszugehen, wenn der ungewöhnliche Zustand bei natürlicher Weiterentwicklung nach menschlicher Erfahrung jederzeit in einen Schaden umschlagen könne.365 b) Andere Verfasser unterscheiden zwar klar zwischen der Dauergefahr im engeren Sinn und der Dauergefahr im weiteren Sinn, messen dieser Differenzierung im Vgl. BGH ROW 1958, 33 f. Vgl. BGH NJW 1979, 2053 f. 364 Vgl. etwa RGSt 61, 242, 255; RG JW 1932, 2290, 2292; RGSt 66, 222, 225; BGHSt 14, 1, 3. 365 Lackner / Kühl § 34 Rn. 2: „Gegenwärtig ist eine Gefahr, auch eine Dauergefahr, dann, wenn nach menschlicher Erfahrung der ungewöhnliche Zustand bei natürlicher Weiterentwicklung jederzeit in einen Schaden umschlagen kann, wenn also der Eintritt eines Schadens sicher oder doch höchstwahrscheinlich ist, sofern nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen werden.“; ähnlich Tröndle / Fischer § 34 Rn. 4; Bergmann JuS 1989, 109, 110; Renzikowski JR 2001, 468, 470; Eser / Burkhardt I, 12. Rn. 26 (S. 145); Haft AT S. 99; Tenckhoff JR 1981, 255, 257; Grebing GA 1979, 81, 102 f.; Krey ZRP 1975, 97 f.; Spendel StV 1984, 45, 47; Wessels / Beulke Rn. 303, 306; Lesch StV 1993, 578, 580 f., 583; Rengier NStZ 1984, 21, 22; ders. NStZ 2004, 233, 236 f.; Jescheck / Weigend § 33 IV. 3. a) (S. 361), § 44 I. 2. (S. 481); Schmidhäuser AT, 9. Rn. 69 (S. 331), 11. Rn. 14 (S. 465); Bockelmann / Volk § 15 II. 4. (S. 98), der aber ausdrücklich das Kriterium der alsbaldigen Entscheidungsnotwendigkeit zum maßgeblichen Faktor erklärt; SK-Günther § 34 Rn. 25; SK-Rudolphi § 35 Rn. 7, der jedoch ausdrücklich diejenigen Fälle gleichstellt, in denen zu einem späteren Zeitpunkt die Abwehr der Gefahr einen schwereren Eingriff erfordern würde. 362 363
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Endeffekt aber keine entscheidende Bedeutung zu, da ihrer Ansicht nach das maßgebliche Kriterium der Gegenwärtigkeit einer Gefahr nicht das zeitliche Moment, sondern die Notwendigkeit zu sofortigem Handeln ist.366 So lässt sich nach Küper die Bestimmung des Merkmals der Gegenwärtigkeit einer Gefahr prinzipiell anhand zweier unterschiedlicher Kriterien durchführen, eines primär zeitlichen und eines primär teleologischen oder normativen, das aber ebenfalls einen gewissen zeitlichen Bezug aufweist, wobei er selbst das letztgenannte Moment für entscheidend erachtet. Gegenwärtig im Sinne des Gesetzes sei eine gegenwärtiger Abwehr bedürftige Gefahr, ohne Rücksicht darauf, ob der Eintritt eines Schadens in allernächster Zeit oder erst in ferner Zukunft zu erwarten sei. Der Begriff der Gegenwärtigkeit der Gefahr solle die temporale Erforderlichkeit der Notstandshandlung unter dem Aspekt des Eingriffszeitpunkts kennzeichnen. Die Gefahr müsse daher in dem Sinne normativ gegenwärtig sein, dass ihre Abwehr nicht nur überhaupt mit dem jeweiligen Mittel, sondern auch gerade zur Zeit der Notstandshandlung geboten sei. Es komme darauf an, dass gerade im Zeitpunkt der Notstandshandlung Gegenmaßnahmen erforderlich seien, um die drohende Rechtsgutverletzung zu verhindern, wohingegen das unmittelbare Bevorstehen des Schadenseintritts, die zeitliche Nähe des drohenden Schadens, nur ein Indiz und lediglich als spezieller Unterfall des umfassender verstandenen Gegenwärtigkeitsbegriffes anzusehen sei. Gegenwärtig sei eine Zwangslage folglich immer dann, wenn nur noch zwischen zwei Alternativen gewählt werden könne, nämlich entweder sogleich, d. h. alsbald bzw. unverzüglich, zu handeln oder aber den drohenden Schaden hinzunehmen. Normativ aufgefasst bedeute „Gegenwärtigkeit“ somit im Ergebnis nichts anderes als „Notwendigkeit unverzüglicher Gefahrenabwehr“.367 In ähnlicher Weise hatte sich in früherer Zeit bereits Lenckner geäußert. Er hob dabei ebenfalls besonders hervor, dass die Gegenwärtigkeit der Gefahr nur eine besondere Ausprägung des Erforderlichkeitsgrundsatzes sei. Entscheidend sei in zeitlicher Hinsicht, dass der Täter grundsätzlich erst in dem Augenblick handeln dürfe, in dem weiteres Abwarten nicht mehr zumutbar sei. Gegenwärtig sei eine Gefahr folglich immer dann, wenn sie eine gegenwärtige Abwehr erforderlich mache.368
366 Roxin AT I, § 16 Rn. 20, § 22 Rn. 17; ders. JA 1990, 97, 99 f.; Kindhäuser StGB § 34 Rn. 21 ff.; Lenckner S. 80 ff., 121; Pawlik S. 170, 177 f.; Küper, Rudolphi-FS S. 151 ff., 162; ders. S. 23 f.; Ludwig S. 85, 122 f., 210; Otto Jura 1999, 552, 553; Blei AT, § 44 III. 4. (S. 166), § 61 I. 1. (S. 208); MüKo-Erb § 34 Rn. 79 ff.; LK-Hirsch § 34 Rn. 36 f.; Hillenkamp S. 116 f.; ders. JuS 1994, 769, 772; ders., Miyazawa-FS S. 141, 154, wobei er als entscheidendes Argument auf die gegenüber einem Angriff zeitlich weiter reichende Wortbedeutung der Gefahr, die dem Gefahrbegriff innewohnende Latenz, verweist; ähnlich Jakobs AT, 12. Rn. 27, 13. Rn. 15; Kion JuS 1967, 499, 502 f. 367 Küper, Rudolphi-FS S. 151 ff., 162 f.; ähnlich bereits ders. S. 23 f. 368 Lenckner S. 80 ff., 121.
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In demselben Licht erscheinen auch die Ausführungen Pawliks, wenn dieser darlegt, dass die einen Notstand auslösende Situation sowohl in sachlicher als auch in zeitlicher Hinsicht die Notwendigkeit eines Eingriffs nachdrücklich indizieren müsse. Daher müsse die Gegenwärtigkeit der Gefahr normativ dahingehend verstanden werden, dass sie in erster Linie nicht vom zeitlichen Abstand des drohenden Schadenseintritts her zu bestimmen, sondern maßgeblich vielmehr der Zwang zur Entscheidung und die Notwendigkeit zu sofortigem Handeln sei. Von einer gegenwärtigen Gefahr könne demzufolge immer dann gesprochen werden, wenn sich die Situation so weit zugespitzt habe, dass ein weiteres Abwarten den Verlust des bedrohten Guts als durch planmäßiges Handeln nicht mehr oder nur mit einem unverhältnismäßig größeren Aufwand verhinderbar erscheinen lasse, d. h. die Notstandshandlung auch in temporaler Hinsicht normativ alternativlos sei.369 Auch Hirsch ist der Ansicht, dass der Begriff der Gegenwärtigkeit nicht ausschließlich zeitlich zu bestimmen sei, sondern primär einen qualitativen Faktor aufweise. Die Gefahr müsse sich so verdichtet haben, dass die zum Schutze des bedrohten Rechtsguts notwendigen Maßnahmen sofort eingeleitet werden müssten. Die Notwendigkeit sofortigen Handelns sei das ausschlaggebende Kriterium. Von einer solchen Notwendigkeit könne dort gesprochen werden, wo sich die Gefahr ständig vergrößere, es als wenig wahrscheinlich erscheine, dass sie wieder entfalle und es bei Beginn des drohenden Erfolgseintritts voraussichtlich zu spät wäre, ihr wirksam entgegenzutreten, oder sich bis dahin das Ausmaß der angezeigten Abwehrhandlung unverhältnismäßig gesteigert haben würde. Sei unter Berücksichtigung dieser Grundsätze von der Zwangsläufigkeit oder zumindest hohen Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts auszugehen, so liege eine gegenwärtige Gefahr im Sinne der Notstandsvorschriften vor.370 Schließlich sei an dieser Stelle auch Erb erwähnt, der ebenfalls der Auffassung ist, die Notwendigkeit unverzüglichen Eingreifens stelle das zentrale Gegenwärtigkeitskriterium dar. Die vielfach als Primäraspekt behandelte zeitliche Komponente habe im Grunde genommen nur eine Indizfunktion. In begrifflicher Hinsicht spreche nichts dagegen, das Gegenwärtigkeitsverständnis vom Erfordernis eines unmittelbar nachfolgenden Schadenseintritts zu lösen, denn mit „Gefahr“ könnten auch länger angelegte Risikosachverhalte bezeichnet werden. Für eine solche Lösung sprächen aber zwingende teleologische Gründe, da auch in Fällen, in denen der Schadenseintritt zwar noch in einiger Ferne liege, ein unverzügliches Eingreifen aber dennoch erforderlich erscheine, eine notstandstypische Zwangslage vorliegen könne.371 c) Mit letzteren Ansichten im Ergebnis, nicht hingegen in der Begründung übereinstimmend gestaltet sich die Auffassung Ludwigs. Dieser geht davon aus, dass der Gesetzgeber mit der Verwendung des Wortes „gegenwärtig“ nicht den Zweck 369 370 371
Pawlik S. 170, 177 f. LK-Hirsch § 34 Rn. 36 f., § 35 Rn. 29. MüKo-Erb § 34 Rn. 76 ff., 81 ff.
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4. Abschn.: Begriffe „Gefahr“ und „gegenwärtig“
einer zeitlichen Begrenzung dergestalt verfolge, dass der Schadenseintritt bereits in der Gegenwart drohen müsse, sondern er beschreibe lediglich den Zeitpunkt näher, in dem Indizien auftauchten, aufgrund deren auf einen Schadenseintritt in der Zukunft geschlossen werden könne. Danach könne eine Gefahr bereits dann als „gegenwärtig“ bezeichnet werden, wenn in der Gegenwart Anhaltspunkte vorlägen, aufgrund deren ein zukünftiger Schadenseintritt mit gewisser Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden könne.372 Eine „gegenwärtige Gefahr“ liege daher bereits vor, wenn ein Zustand bestehe, der für die Zukunft die Prognose gestatte, dass eine Rechtsgutsverletzung nach dem zu erwartenden Verlauf der Ereignisse möglich sei, dass es wenig wahrscheinlich sei, dass diese Gefahr wieder entfalle und dass es bei Beginn des drohenden Erfolgseintritts voraussichtlich zu spät wäre, ihr wirksam entgegenzutreten.373 d) Demgegenüber bestimmen andere Autoren das Gegenwärtigkeitsmerkmal maßgeblich anhand zeitlicher Gesichtspunkte. Schon dem Wortsinn nach erfordere die „Gegenwärtigkeit“ einer Gefahr das unmittelbare Bevorstehen eines Schadenseintritts.374 Außerdem sei – insbesondere auch unter Berücksichtigung der Normgenese – eine Gleichbehandlung mit dem Merkmal der Gegenwärtigkeit des Angriffs bei der Notwehr notwendig. Dort erfordere das Gegenwärtigkeitskriterium anerkanntermaßen aber zumindest ein unmittelbares Bevorstehen des Angriffs.375 Demgemäß seien zwar die akute Gefahr und die Dauergefahr im engeren Sinne, nicht aber die Dauergefahr im weiteren Sinne gegenwärtig im Sinne des Gesetzes. Vor allem aufgrund teleologischer Überlegungen sei es jedoch gerechtfertigt, die Dauergefahr im weiteren Sinne der gegenwärtigen Gefahr wertungsmäßig gleichzustellen. Denn auch Situationen, in denen ein Abwarten bis zur tatsächlichen Aktualisierung der Gefahr nicht zumutbar sei, könnten eine dem Grundgedanken der Notstandsvorschriften entsprechende Zwangslage auslösen. Die Notwendigkeit sofortigen Handelns, die temporale Erforderlichkeit im Sinne einer alternativlosen Wahlmöglichkeit, entweder unverzüglich zu handeln oder den mit Sicherheit oder mit höchster Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Schadenseintritt hinzunehmen, sei ein im Rahmen des Notstands als entscheidend zu erachtender Aspekt. Das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB stehe dem nicht entgegen, da im vorliegenden Fall eine Analogie zugunsten des Täters, eine Einschränkung der Strafbarkeit, in Rede stehe.376 Ludwig S. 85. Ludwig S. 122 f., 210. 374 Baumann / Weber / Mitsch § 17 Rn. 56, 58 f.; Schroeder JuS 1980, 336, 339; Ebert S. 81; Kühl AT § 8 Rn. 66; Joerden JR 1999, 120, 121; Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 34 Rn. 17; Mayer JW 1932, 2291 ff.; ders. AT S. 193; in der Tendenz auch Gropp § 6 Rn. 118 f.; vgl. auch Arzt / Weber § 2 Rn. 79, die eine weitere Auslegung als „contra legem“ qualifizieren. 375 Mayer JW 1932, 2291, 2293; ders. AT S. 193. 376 Schroeder JuS 1980, 336, 339; NK-Neumann § 34 Rn. 56 f., § 35 Rn. 12; Ebert S. 81; Kühl AT § 8 Rn. 66, 68; Joerden JR 1999, 120, 121; Schönke / Schröder-Lenckner / Perron 372 373
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4. Eigene Stellungnahme Wie jede Auslegung muss auch die Begriffbestimmung des Gegenwärtigkeitsmerkmals bei der Notstandsgefahr ihren Ausgangspunkt im Wortsinn des zu interpretierenden Ausdrucks nehmen. Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze einer jeden Auslegung. Maßgebend ist hierbei in erster Linie der für den Adressaten erkenn- und verstehbare, also aus der Sicht des Bürgers zu bestimmende Wortlaut der Norm, wobei vor allem auch der allgemeine Sprachgebrauch Berücksichtigung finden muss.377 In diesem Kontext lässt sich wohl kaum bestreiten, dass der Begriff „gegenwärtig“ ursprünglich dem allgemeinen Sprachgebrauch entnommen ist, was sich im Übrigen auch anhand rechtshistorischer Untersuchungen belegen lässt.378 Nach diesem originären umgangssprachlichen Wortverständnis, das jedenfalls auch die Bedeutung bei der Verwendung in älteren juristischen Texten bestimmte, hatte der Begriff der Gegenwärtigkeit entweder eine örtlich oder eine zeitlich eingrenzende Funktion. In örtlicher Hinsicht wurde die Gegenwärtigkeit als der Wendung „an einem bestimmten Ort zugegen oder vorhanden“ entsprechend begriffen, während gegenwärtig im zeitlichen Sinne „augenblicklich“ oder „in nächster Zukunft“ bedeuten und insbesondere eine Abgrenzung zur ferneren Zukunft gewährleisten sollte.379 Obwohl sich der Schwerpunkt des allgemeinen Sprachverständnisses hinsichtlich des Gegenwärtigkeitsbegriffs inzwischen generell weg vom örtlichen hin zum zeitlichen Kriterium ent§ 34 Rn. 17; Mayer JW 1932, 2291, 2293, der eine Analogie allerdings nur in denjenigen Fällen zulassen will, in denen die Gefahr nicht von einem anderen Menschen ausgeht, da andernfalls die Sonderregelung der Notwehr umgangen werden könnte. 377 BVerfG NStZ 1982, 285; BVerfGE 71, 108, 114 ff.; BVerfGE 73, 206, 234 ff.; BVerfGE 92, 1, 12; BVerfG NJW 2001, 1848, 1849 f.; BGHSt 42, 235, 241; Dreier-Schulze-Fielitz Art. 103 II Rn. 39; KGG-G. Nolte Art. 103 Abs. 2 Rn. 157 f.; Sachs-Degenhart Art. 103 Rn. 70 f.; Maunz / Dürig-Schmidt-Aßmann Art. 103 Abs. II Rn. 226 ff.; Tröndle / Fischer § 1 Rn. 11 f.; Schönke / Schröder-Eser § 1 Rn. 37; SK-Rudolphi § 1 Rn. 29, 35; Krey Rn. 116, 130; Hillenkamp S. 136 ff.; Joerden JR 1999, 120; Jähnke, BGH-FS S. 393, 400; Jahr, Art. Kaufmann-FS S. 141, 154 f.; Bydlinski S. 437 ff.; Larenz / Canaris S. 141, 143 f., 163 f.; Zippelius S. 46 ff. 378 Vgl. oben II. 5. f). 379 Grimm 4, 1, 2, Sp. 2292, 2294, 2296 ff.; Rechtswörterbuch III Sp. 1467 f.; vgl. auch Spendel StV 1984, 45, 47, der allerdings – fälschlicherweise, in Verkennung der Alternativität – von einem kumulativen, d. h. gleichzeitig örtlichen und zeitlichen, Bedeutungsgehalt der Gegenwärtigkeit ausgeht: „Der Begriff (der Gegenwärtigkeit) hat eine Doppelbedeutung und lässt sich nicht nur im zeitlichen sondern auch im räumlichen Sinne verstehen, wobei der letztere nicht ohne Rückwirkung auf den ersteren ist. Gegenwärtig oder ,präsent‘ heißt sowohl derzeitig (jetzig) als auch anwesend (zugegen). So begründet die bedrohliche ,Existenz‘, d. h. die örtliche Gegenwart oder Anwesenheit eines aggressiven, immer wieder gewalttätig werdenden Menschen, der für seine Angehörigen der Tätertyp des gefährlichen ,Schlägers‘ ist, für die in seinem Haushalt mit ihm zusammenlebenden Familienmitglieder auch die zeitliche Gegenwärtigkeit der von ihm ausgehenden Gefahr.“; Engisch S. 67, 69 ff., 73 ff., bezeichnet die Gegenwärtigkeit im Rahmen seiner rechtsphilosophischen Abhandlung als Melange aus Zeitdimensions- und Zeitrelationsbegriff und begreift sie als – relativen – Zeitrahmen, der auf einer imaginären „Zeitlinie“ Vergangenheit und Zukunft trennt.
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wickelt hat, so kommt dem Terminus „gegenwärtig“ doch auch in der Alltagssprache der heutigen Zeit kein wesentlich veränderter Bedeutungsgehalt zu, wenn er temporär als Synonym für Ausdrücke wie „in der Gegenwart gegeben oder geschehen“, „der Gegenwart angehörend“ oder „derzeitig“ aufgefasst wird.380 Aber auch in der derzeitigen juristischen Fachsprache wird der Gegenwärtigkeit prinzipiell kein abweichender Begriffsinhalt zugemessen, denn gegenwärtig soll nach dem generellen juristischen Wortverständnis sein, „was einerseits mindestens unmittelbar bevorsteht, aber andererseits noch nicht vollständig abgeschlossen ist“.381 Wenn nun auch prinzipiell nicht übersehen werden darf, dass die Wortlautanalyse den textlichen Zusammenhang, in dem der Begriff verwendet wird, nicht außer Betracht lassen darf,382 so ergeben sich nach dem eben Gesagten doch bereits aus dem Wortlaut erhebliche Bedenken gegen diejenigen Stimmen, die dem Merkmal der Gegenwärtigkeit im Wege einer teleologisch erweiternden Auslegung seine primär zeitliche Bedeutung absprechen wollen. Diese Bedenken werden noch verstärkt, wenn man auch rechtshistorische Argumente mit in die Auslegung einbezieht. Gerade in Zweifelsfällen aber muss die historische Auslegung als in ihrer Aussagekraft nicht zu gering zu bewertende Auslegungshilfe herangezogen werden.383 Die geschichtliche Untersuchung ergibt klar, dass der Gesetzgeber von 1871, auf den das Merkmal der gegenwärtigen Gefahr im Ergebnis in allen einschlägigen Vorschriften zurückgeht, im Einklang mit der damaligen einhelligen Lehrmeinung und dem allgemeinen Sprachgebrauch, Gegenwärtigkeit einheitlich und durchgängig als Synonym für „unmittelbares Bevorstehen“ in zeitlicher Hinsicht verstanden hat.384 Es kann und soll in diesem Zusammenhang keineswegs geleugnet werden, dass mit diesem Begriff maßgeblich die temporale Erforderlichkeit der Notstandstat unter dem Aspekt des Eingriffszeitpunkts gekennzeichnet werden sollte, allein die aus dieser Tatsache zum Teil gezogenen Schlüsse385 zielen in die falsche Richtung. Bei genauerer Betrachtung ist nämlich festzustellen, dass bei Schaffung des relevanten Tatbestandsmerkmals sowohl der Gesetzgeber als auch die gesamte damalige strafrechtliche Literatur eine entsprechende zeitliche Erforderlichkeit nur in solchen Fällen anerkannte, in denen das notstandsauslösende Übel, mit anderen Worten der Eintritt eines Schadens an einem geschützten Rechtsgutsobjekt, unmittelbar bevorstand. Aus diesem Grund wurde der Begriff der Gegenwärtigkeit, der nach dem damaligen Sprachverständnis die beschriebene Situation in zeitlicher Hinsicht umfassend charakterisierte, in den Tat380 Duden III S. 1419; ähnlich Brockhaus / Wahrig III S. 103: “ . . . in der Gegenwart lebend, stattfindend, jetzig, derzeitig, augenblicklich . . .“. 381 Rechtslexikon II-Köbler S. 1804. 382 BVerfGE 92, 1, 16; KGG-G. Nolte Art. 103 Abs. 2 Rn. 158; Larenz / Canaris S. 142, 145 f., 164; Schönke / Schröder-Eser § 1 Rn. 39; Zippelius S. 45 f., 52 f.; Simon S. 69 ff. 383 Vgl. oben 3. Abschnitt, A. 384 Vgl. oben 3. Abschnitt, B. I. 5. e), 6., 7., II. 5. d), 7., 8., III. 5. d), 6., 8. sowie in diesem Abschnitt C. II. 7., 9. 385 Vgl. oben 3. b).
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bestand aufgenommen.386 Wenn auch nicht übersehen werden darf, dass sich die Einschätzung der damaligen Zeit rückschauend betrachtet als unzutreffend erwiesen hat und es aus teleologischer Sicht gerechtfertig erscheint, in bestimmten Fällen auch die Dauergefahr im weiteren Sinne als potentiell notstandsbegründend anzuerkennen387, so kann dies doch nicht dazu führen, dass dem Merkmal der Gegenwärtigkeit im Wege der Auslegung eine Bedeutung beigemessen wird, die von ihrem Wortsinn nicht gedeckt ist. Erachtet man das Erfordernis der gegenwärtigen Gefahr im Rahmen der §§ 34, 35 StGB – mit der heute ganz herrschenden Meinung – für zu eng, so ist man auf eine Lösung durch Analogiebildung oder durch Neufassung des Vorschriftsmerkmals durch den Gesetzgeber verwiesen. De lege lata verstößt eine Berichtigung im Wege der Auslegung selbst unter Einbeziehung objektiv-teleologischer Gesichtspunkte gegen den Wortsinn der Gegenwärtigkeit und ist aus diesem Grund als Lösungsweg versperrt. Diese Auffassung wird auch durch die Bestimmung über die Notwehr nach § 32 StGB bestätigt. In deren Anwendungsbereich ist nach fast allgemeiner Ansicht ein Angriff erst dann gegenwärtig, wenn er zumindest unmittelbar bevorsteht.388 Zwar ist zuzugeben, dass der Begriff des Angriffs gegenüber demjenigen der Gefahr einen deutlich begrenzteren Zeitraum erfasst, da eine Gefahr eine gewisse Latenz aufweist und unter Umständen auch über mehrere Monate oder gar Jahre hinweg bestehen kann; dies ändert aber nichts daran, dass das Merkmal der Gegenwärtigkeit auch im Rahmen der Notstandsvorschriften stets und gerade zum Zeitpunkt der Notstandshandlung erfüllt sein muss.389 Hierbei handelt es sich nun wiederum um eine zeitlich äußerst schmale Zeitspanne, so dass aus der Unterschiedlichkeit von Angriff und Gefahr kein entscheidendes Argument für eine abweichende Wortlautinterpretation des Gegenwärtigkeitsmerkmals von Notwehr und Notstandsvorschriften hergeleitet werden kann. Es spricht im Gegenteil vieles dafür, dass die Gegenwärtigkeit des Angriffs und die Gegenwärtigkeit der Gefahr von ihrer Wortbedeutung her identisch aufzufassen sind. So darf vor allem nicht übersehen werden, dass das Gegenwärtigkeitsmerkmal bei der Etablierung der ersten allgemeinen Notstandsvorschriften aus den zu diesem Zeitpunkt schon existierenden Notwehrnormen übernommen wurde390 und seit dieser Zeit in unveränderter Kontinuität und Parallelität bestehen blieb. 386 Auch in der im Zeitraum nach Erlass des Reichsstrafgesetzbuchs 1871 entstandenen strafrechtlichen Literatur fand sich keine abweichende Bestimmung des Gegenwärtigkeitsmerkmals (vgl. etwa nur Buri, Beilage GS 29, 3, 25 f.; ders. GS 30, 434, 451; Hippel II S. 220); die aus dem Gesetzeswortlaut in Verbindung mit dem allgemeinen Sprachverständnis der Gegenwärtigkeit resultierende Problematik, Dauergefahren im weiteren Sinne als gegenwärtige Gefahren im Sinne des Gesetzes zu erfassen, wird dabei – soweit ersichtlich – erstmals bei Buri, Beilage GS 29, 3, 26 f. und GS 30, 434, 451 deutlich. 387 Vgl. dazu die späteren Ausführungen in diesem Unterabschnitt. 388 Vgl. unten D. 389 Vgl. unten Fn. 409. 390 Vgl. dazu Mayer JW 1932, 2293; ders. JW 1932, 3068 f.; ders. AT S. 193.
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Schließlich spricht auch eine Betrachtung der Begriffsdeutung der gegenwärtigen Gefahr im Rahmen des präventiven Gefahrabwehrrechts für eine solche Sicht.391 In dessen Regelungsbereich versteht die ganz überwiegende Auffassung unter der Gegenwärtigkeit der Gefahr eine Zuspitzung der Gefahrenlage in zeitlicher Hinsicht in dem Sinne, dass ein Schaden unmittelbar bevorstehen muss.392 Demgemäß ist die gegenwärtige Gefahr in einigen Landespolizeigesetzen – entsprechend dem Muster des ME-PolG – als Sachlage legaldefiniert „bei der die Einwirkung des schädigenden Ereignisses bereits begonnen hat oder bei der diese Einwirkung unmittelbar oder in allernächster Zeit mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bevorsteht“.393 Man könnte nun erwägen, die soeben angestellten Überlegungen deswegen für obsolet zu erklären, weil der Reformgesetzgeber von 1969 dem Gegenwärtigkeitsbegriff im Zusammenhang mit der Neufassung der Notstandsvorschriften ungeachtet der früheren Ansichten bewusst eine vom allgemeinen Sprachgebrauch und dem Willen des historischen Gesetzgebers abweichende Bedeutung beigemessen haben könnte. Unabhängig davon, ob sich der Gesetzgeber überhaupt derartig weit vom allgemeinen Sprachverständnis entfernen darf394, fehlen hierfür zumindest jegliche Anhaltspunkte. Wie bereits angesprochen, hat der Reformgesetzgeber allem Anschein nach die Problematik der Gegenwärtigkeit einer Gefahr im Falle des Vorliegens einer Dauergefahr im weiteren Sinne im Rahmen seiner Gesetzgebungstätigkeiten schlicht nicht mehr bedacht.395 Es lässt sich damit zunächst festhalten, dass auch im Rahmen der Notstandsvorschriften der Begriff der „Gegenwärtigkeit“ mit den Worten „unmittelbares Bevorstehen“ gleichzusetzen ist. Fügt man nun die Begriffe „Gefahr“, verstanden als „Zustand, in dem die bestimmte Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts an einem geschützten Rechtsgutsobjekt besteht“, und „gegenwärtig“ im Sinne von „unmittelbar bevorstehend“ zusammen, so ließe sich die „gegenwärtige Gefahr“ rein semantisch zwanglos als „unmittelbar bevorstehender Zustand“ begreifen, „in dem die bestimmte Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts an einem geschützten Rechtsgutsobjekt besteht“. Ein solches Verständnis der „gegenwärtigen Gefahr“, das – wie von einigen Autoren zu Recht bemerkt wird – sprachlogisch tautologische Charakterzüge aufwie391 Wobei – worauf oben IV. 2. bereits hingewiesen wurde – keineswegs verkannt werden soll, dass präventives Gefahrabwehrrecht und materielles Strafrecht gänzlich unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen. 392 Vgl. etwa Knemeyer Rn. 94; Schmidt-Aßmann-Schoch, 2. Kap. Rn. 100 m. w. N.; Götz Rn. 147. 393 So etwa § 2 Nr. 1b NGefAG, § 2 Nr. 3b brPolG, § 3 Nr. 3b SOG LSA, § 54 Nr. 3b thürOBG (zitiert nach Götz Rn. 147). 394 Vgl. Maunz / Dürig-Schmidt-Aßmann Art. 103 Abs. II Rn. 179, 227; Dreier-SchulzeFielitz Art. 103 II Rn. 39; Sachs-Degenhart Art. 103 Rn. 70a; Larenz / Canaris S. 141. 395 Vgl. oben II.
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se396, da ein als Gefahr zu bewertender Zustand denknotwendig stets einen gewissen Gegenwartsbezug aufweist, entspricht aber nicht den Vorstellungen des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber wollte mit dem Gegenwärtigkeitsmerkmal nicht das unmittelbare Bevorstehen des Gefahrzustands, sondern das unmittelbare Bevorstehen des im Rahmen des Gefahrzustands zu befürchtenden Schadenseintritts näher charakterisieren. 397 Unter einer „gegenwärtigen Gefahr“ im Sinne der Notstandsvorschriften ist damit zusammenfassend ein Zustand zu verstehen, in dem nach den konkreten Umständen des Einzelfalles die über bloße allgemeine Lebensrisiken und rein abstrakte, gedankliche Schadensmöglichkeiten hinausgehende Wahrscheinlichkeit eines unmittelbar bevorstehenden Schadenseintritts an einem geschützten Rechtsgutsobjekt besteht. Von einer gegenwärtigen Gefahr kann man daher sowohl bei akuten Gefahren als auch bei Dauergefahren im engeren Sinne sprechen, da bei letzteren der Schaden jederzeit eintreten, der Schadenseintritt also möglicherweise auch unmittelbar bevorstehen kann und lediglich nicht mit Sicherheit feststeht, dass dies tatsächlich der Fall sein wird. Nicht unter den Begriff der gegenwärtigen Gefahr lassen sich allerdings Dauergefahren im weiteren Sinne subsumieren, da in diesen Fällen feststeht, dass der Schadenseintritt noch eine Weile auf sich warten lassen wird und somit nicht unmittelbar bevorsteht. Damit soll indes keinesfalls gesagt werden, dass Dauergefahren im weiteren Sinne nicht notstandsbegründend wirken könnten, nur der zu beschreitende Weg muss ein anderer als der der teleologischen oder normativen Wortlautauslegung sein. De lege lata können Dauergefahren im weiteren Sinne nur über eine Analogie den Anwendungsbereich der Notstandsvorschriften eröffnen. Dass eine solche unter Berücksichtigung teleologischer Gesichtspunkte sachlich gerechtfertigt ist, ergibt sich bereits unter dem Aspekt des wirksamen Rechtsgüterschutzes. Wollte man im Falle eines für die fernere Zukunft mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Schadenseintritts, der in Erfolg versprechender Weise nur durch eine Handlung zum aktuellen Zeitpunkt abgewendet werden könnte, den Betroffenen darauf verweisen, bis zur Aktualisierung der Gefahr in zeitlicher Hinsicht zuzuwarten, auch wenn dadurch die Erfolgsaussicht des Abwehrhandelns erheblich geschmälert wäre, so würde dabei der Aspekt des Rechtsgüterschutzes praktisch völlig außer acht gelassen. Man wird aber nicht ernstlich bestreiten können, dass der Gedanke des Güterschutzes eines der tragenden Prinzipien der Notstandsregelungen darstellt.398 Auch die durch eine Dauergefahr im weiteren Sinne hervorgerufene Zwangslage für den Betroffenen kommt, jedenfalls in bestimmten Fäl396 So etwa Mayer JW 1932, 2291, 2293; Küper, Rudolphi-FS S. 151, 152; ähnlich Baumann / Weber / Mitsch § 17 Rn. 56: „pleonastischer Ausdruck“. 397 Vgl. oben Fn. 384. 398 Vgl. Ludwig S. 121 ff.; LK-Hirsch § 34 Rn. 1 ff.; MüKo-Erb § 34 Rn. 2 ff.; SKGünther § 34 Rn. 9 ff.; Kühl AT § 8 Rn. 1, 7 ff.
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len, in Intensität und Ausweglosigkeit derjenigen nahe, die durch eine akute Gefahr oder Dauergefahr im engeren Sinne entsteht. Die Erforderlichkeit der Notstandshandlung vor allem auch in zeitlicher Hinsicht, die Notwendigkeit zu sofortigem Handeln, kann in ähnlichem Maße wie in den Fällen der gegenwärtigen Gefahr auszumachen sein. Zudem kann durch die weiteren in § 34 StGB und § 35 StGB enthaltenen Korrektive, wie etwa die der Erforderlichkeit und der Interessenabwägungsklausel im Falle des rechtfertigenden Notstands, eine ausufernde Anwendung der Notstandsvorschriften verhindert werden. Gerade im Falle der Annahme einer Dauergefahr im weiteren Sinne wird man daher im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung des § 34 StGB besonders strenge Maßstäbe anzulegen haben. Aus diesem Grund ist auch der durch den Notstandstäter in Anspruch genommene, an sich unbeteiligte Dritte hinreichend geschützt und wird demnach durch die Erweiterung der Notstandsbefugnis auf die Dauergefahr im weiteren Sinn nicht unzumutbar belastet.399 Man wird folglich die für die Bejahung einer Analogie erforderliche Vergleichbarkeit der Sachverhalte unter Berücksichtigung der ratio legis der Vorschrift über den rechtfertigenden Notstand annehmen können. Auch eine für die Möglichkeit einer Analogiebildung erforderliche Regelungslücke kann nicht verneint werden, da dem früheren Gesetzgeber die Problematik der Dauergefahr im weiteren Sinne augenscheinlich nicht bekannt war und auch der spätere Gesetzgeber nicht etwa bewusst eine abweichende Regelung getroffen, sondern die entsprechende Problematik allem Anschein nach nicht mehr in seine Überlegungen einbezogen hat. Schließlich steht auch das aus dem Bestimmtheitsgrundsatz abzuleitende Analogieverbot der Art. 103 Abs. 2 GG, Art. 7 Abs. 1 EMRK und des § 1 StGB nicht entgegen, da diese Normen ausschließlich eine Analogiebildung zuungunsten des Täters für unzulässig erklären und damit nur in solchen Fällen zu beachten sind, in denen die Sanktionierbarkeit erst durch eine nicht mehr vom Wortlaut gedeckte Interpretation des Gesetzes begründet oder verschärft wird, in denen der Täter also durch die Analogiebildung schlechter gestellt wird.400 Für den Notstandstäter selbst wird aber eine Strafbarkeit durch eine Erweiterung der Notstandslage um die Dauergefahr im weiteren Sinne weder begründet noch verschärft. Vielmehr wird der Anwendungsbereich des rechtfertigenden Notstandes zu seinen Gunsten ausgedehnt, was de facto eine Beschränkung der Strafbarkeit zur Folge hat, so dass jedenfalls insoweit das Analogieverbot nicht zur Anwendung gelangt. Die Begründung einer Strafbarkeit durch die analoge Anwendung des § 34 StGB401 auch in diesem Fall käme allenfalls auf Seiten des unbeteiligten Drittbetroffenen oder seiVgl. dazu auch Joerden JR 1999, 120, 121. Vgl. BVerfGE 73, 206, 236, 238 f.; BVerfG NJW 2002, 1031, 1032; Dreier-SchulzeFielitz Art. 103 II Rn. 39 f.; Maunz / Dürig-Schmidt-Aßmann Art. 103 Abs. II Rn. 226 f.; Sachs-Degenhart Art. 103 Rn. 70 f.; KGG-G. Nolte Art. 103 Abs. 2 Rn. 110, 155 ff.; Hirsch, Tjong-GDS S. 50, 53 f.; Schönke / Schröder-Eser § 1 Rn. 7; Tröndle / Fischer § 1 Rn. 2, 10. 401 Auf den Entschuldigungsgrund des § 35 StGB findet das Analogieverbot nach zutreffender Ansicht generell keine Anwendung; vgl. dazu oben Fn. 303 am Ende. 399 400
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ner Nothelfer in Betracht, welche durch die Erweiterung in ihrer Notwehr- und Notstandsbefugnis gegenüber dem Notstandstäter eingeschränkt werden. Dabei handelt es sich jedoch um eine nur mittelbare Auswirkung, einen bloßen Rechtsreflex, der von Art. 103 Abs. 2 GG, Art. 7 Abs. 1 EMRK und § 1 StGB nach Sinn und Zweck nicht erfasst wird.402 In Rückkehr zu der ursprünglichen Fragestellung bleibt damit festzuhalten, dass allein derjenigen Auffassung beizupflichten ist, welche die Dauergefahr im weiteren Sinne im Wege der „Gleichstellung“ in den Anwendungsbereich des rechtfertigenden Notstands mit einbezieht. Demgegenüber wird die Ansicht der Rechtsprechung und des ihr folgenden Teils der Literatur den eben dargestellten Grundsätzen nicht gerecht und weist auch im Übrigen erhebliche Schwächen auf. So ist schon die von der obergerichtlichen Rechtsprechung aufgestellte Definition der gegenwärtigen Gefahr als „Zustand . . . , der nach menschlicher Erfahrung bei natürlicher Entwicklung der gegebenen Sachlage den Eintritt einer Schädigung sicher oder doch höchstwahrscheinlich macht, wenn nicht alsbald eine Abwehrmaßnahme ergriffen wird“403 insoweit nicht überzeugend, als sie – überflüssiger Weise – das Fehlen einer ergriffenen oder zu ergreifenden Abwehrmaßnahme, welche die Realisierung der Gefahr verhindert, zu einer ausdrücklichen Voraussetzung der Gefahr erhebt und auf diese Weise zur Gegenwärtigkeit der Gefahr gelangt, indem dieses Kriterium schlicht um den Zusatz „alsbald“ ergänzt wird.404 Das Fehlen einer erfolgversprechenden Abwehrmaßnahme stellt bereits denknotwendig eine Voraussetzung für die Annahme der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts dar, so dass es der namentlichen Erwähnung ihres Nichtvorliegens nicht bedarf. Es wird somit zur Beschreibung der Gegenwärtigkeit der Gefahr ein prinzipiell überflüssiger Definitionsbestandteil in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt. Besonders zu bemängeln aber ist an dem von der Rechtsprechung beschrittenen Lösungsweg die fehlende Unterscheidung zwischen der Dauergefahr im engeren und der Dauergefahr im weiteren Sinne. Zwar lassen auch die Definitionsformeln der Obergerichte der Sache nach einen Unterschied erkennen, aber beide Erscheinungsformen der Gefahr werden einheitlich und ohne tatsächliche Differenzierung unter den Begriff der Dauergefahr subsumiert, wodurch stets der Eindruck einer Identität erweckt wird. Das verwundert umso mehr, als auch RG und BGH die besondere Problematik der Dauergefahr im weiteren Sinne erkannt zu haben scheinen. Denn ansonsten ließe sich kaum erklären, warum die in den übrigen Konstellationen durchgehend aufgestellten Anforderungen an den für die Annahme einer Gefahr notwendigen Wahrscheinlichkeitsgrad hinsichtlich eines Schadensein402 So auch Schönke / Schröder-Eser § 1 Rn. 14; LK-Hirsch vor § 32 Rn. 36; ders., TjongGDS S. 50, 54 f.; Hillenkamp S. 158 f., 165; Suppert S. 297; kritisch Jähnke, BGH-FS S. 393, 398. 403 Vgl. Fn. 348. 404 Vgl. auch Küper, Rudolphi-FS S. 151, 152 f. Fn. 10.
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4. Abschn.: Begriffe „Gefahr“ und „gegenwärtig“
tritts405 im Falle der Dauergefahr im weiteren Sinne deutlich erhöht werden.406 Zudem wird in einigen obergerichtlichen Entscheidungen sehr deutlich, dass auch die Rechtsprechung das Gegenwärtigkeitsmerkmal primär zeitlich interpretiert.407 Eine besondere Ausprägung hat diese Tatsache vor allem in der älteren Jurisdiktion gefunden, die, um eine Subsumtion der Dauergefahr im weiteren Sinne unter das rein zeitlich verstandene Gegenwärtigkeitsmerkmal zu gewährleisten, vermehrt alle relevanten Einzelgefahrmomente zu einer einheitlichen und kohärenten Gefahreneinheit zusammengefasst hat und im Wege einer Gesamtschau die Gegenwärtigkeit dieses Gesamtgefahrkomplexes bereits immer dann angenommen hat, wenn auch nur eine der Einzelgefahrphasen als zeitlich unmittelbar bevorstehend angesehen werden konnte.408 Eine solche Interpretation der gegenwärtigen Gefahr als bloßes Teilstück in der Kontinuität einer einheitlichen gegenwärtigen Dauergefahr missachtet freilich die Funktion des Gegenwärtigkeitsmerkmals im Rahmen der Notstandsvorschriften. Nach der Konzeption des Gesetzgebers ist wesentliches Merkmal der Gegenwärtigkeit der Gefahr, dass die Notstandstat gerade im Zeitpunkt des Abwehrverhaltens auch in zeitlicher Hinsicht erforderlich ist.409 Auch wenn die neuere Rechtsprechung inzwischen von einer rein zeitlichen Betrachtung des Gegenwärtigkeitsbegriffs abgekommen zu sein scheint, so bleibt es unverständlich, warum sie trotz augenscheinlicher Kenntnis der damit verbundenen Schwierigkeiten auf eine dogmatisch fundierte Lösung verzichtet und sich vielmehr einer Art „Mischinstitut“ zwischen Dauergefahr im engeren und Dauergefahr im weiteren Sinne bedient, das vorhandene Unterschiede und Charakteristika einebnet und deshalb nicht überzeugen kann. Was nun diejenige Ansicht betrifft, die das Gegenwärtigkeitsmerkmal im Wege einer normativen oder teleologischen Auslegung erweiternd interpretieren will, so kann auch sie im Ergebnis nicht überzeugen. Zwar ist nicht zu verkennen, dass sie in der Sache von den zutreffenden Erwägungen ausgeht, allein der von ihr beschrittene Lösungsweg ist dogmatisch betrachtet nicht haltbar. Eine Lösung, die dem Gegenwärtigkeitsmerkmal seine vornehmlich zeitliche Bedeutung abspricht, lässt sich mit dem Wortsinn nicht in Einklang bringen. Das erkennen de facto auch einige ihrer Vertreter selbst an, wenn sie die gegenwärtige Gefahr als Gefahr, die „gegenwärtiger Abwehr“ bedarf, oder als Zustand, der „nur durch sofortiges (,gegenwärtiges‘) Handeln abgewendet werden kann“, bezeichnen und dabei der Gegenwärtigkeit der erforderlichen Abwehr im Gegensatz zu ihren Stellungnahmen im Vgl. oben III. 1. a). „. . . sicher oder doch höchstwahrscheinlich . . .“; vgl. oben Fn. 274. 407 Vgl. RG JW 1899, 788; RGSt 36, 334, 336 f.; RG JW 1932, 2290, 2292 f.; RG JW 1932, 3068, 3069; RGSt 66, 98, 101 f.; RGSt 66, 222, 225; RG JW 1933, 700, 701; RG HRR 1936 Nr. 708; RG HRR 1939 Nr. 1553; BGHSt 5, 371, 373. 408 Vgl. oben 2. sowie Tröndle / Fischer § 34 Rn. 4; Küper, Rudolphi-FS S. 151, 157, 159 f. 409 So bereits ausdrücklich RGSt 64, 101, 102, 104; RG JW 1930, 2958, 2959; BGH GA 1967, 113; ebenso Pfeiffenberger JW 1930, 2958 f.; Küper, Rudolphi-FS S. 151, 161 f.; Baumann / Weber / Mitsch § 17 Rn. 56. 405 406
C. Der Begriff der gegenwärtigen Gefahr im Notstandsrecht
181
Übrigen eine rein zeitliche Bedeutung zumessen.410 Dabei sei an dieser Stelle erneut betont, dass der grundsätzliche Ansatz, auch die Dauergefahr im weiteren Sinne als notstandsbegründend anzuerkennen, durchaus Beifall verdient. Jedoch „schütten“ die Vertreter einer extensiven Wortlautlösung gleichsam „das Kind mit dem Bade aus“. Eine Gleichsetzung der Gegenwärtigkeit mit der „Notwendigkeit einer sofortigen Abwehr“, in deren Rahmen das unmittelbare Bevorstehen eines Schadenseintritts lediglich als Unterfallgruppe anzusehen wäre, entspricht zwar weitgehend der ratio legis, verkennt aber die Wortbedeutung des Begriffs der gegenwärtigen Gefahr. Das wird besonders deutlich, wenn man sich das Zusammenspiel der Merkmale der Gefahr und ihrer Gegenwärtigkeit vor Augen hält. Eine Gefahr ist im Bereich der Notstandsvorschriften nach ganz überwiegender Ansicht als Zustand zu begreifen, in dem nach den konkreten Umständen des Einzelfalles die bestimmte Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts an einem geschützten Rechtsgutsobjekt besteht. Fügt man nun dieser Definition das Wort gegenwärtig, verstanden als „sofortiger Abwehr bedürftig“, hinzu, so bestehen bereits definitorisch erhebliche Unklarheiten. Nahe liegend wäre eine Deutung als ein „sofortiger Abwehr bedürftiger Zustand, . . .“, was aber wiederum die Frage aufwirft, ob ein Zustand überhaupt einer sofortigen Abwehr zugänglich sein kann. Denn bei genauerer Überlegung wird deutlich, dass nicht der Zustand als solcher, sondern der ihm innewohnende drohende Schadenseintritt das sofortige Abwehrbedürfnis auslöst. Insgesamt wirkt jede Kombination der in dieser Weise verstandenen Begrifflichkeiten „gekünstelt“ und in erheblichem Maße konstruiert. Auch wenn sich dies bis zu einem gewissen Grad ebenso gegen eine Bestimmung der Gegenwärtigkeit als „. . . Wahrscheinlichkeit eines unmittelbar bevorstehenden Schadenseintritts . . .“ einwenden lässt, so erscheint ein solches Verständnis doch insgesamt sprachlogisch klarer und widerspruchsfreier; es entspricht zudem – wie bereits dargelegt – dem Willen des Gesetzgebers. Schließlich droht im Rahmen einer anderen Sicht stets ein Zirkelschluss, den Engisch bereits früh für den Bereich der Notwehr formuliert hat411 und der, übertragen auf die Notstandsvorschriften, mit der Sentenz: „die Gefahr ist gegenwärtig, wenn die Notstandshandlung erforderlich ist und die Notstandshandlung ist erforderlich, wenn die Gefahr gegenwärtig ist“ umschrieben werden kann. Zur Vermeidung eines solchen circulus vitiosus bedarf es einer näheren Bestimmung des Zeitraums, innerhalb dessen die Gefahr sofortiger Abwehr bedürftig ist. Auch diesbezüglich bietet nun die Wendung des „Zustands, in dem die Wahrscheinlichkeit eines unmittelbar bevorstehenden Schadenseintritts besteht“ einen klar abgesteckten Rahmen. Wenn nun nach alledem feststeht, dass das Merkmal der Gegenwärtigkeit rein zeitlich aufzufassen ist, so bleibt der Vollständigkeit halber darauf hinzuweisen, Küper, Rudolphi-FS S. 151 f.; Lenckner S. 82. Engisch S. 67, 80: „Der Angriff ist gegenwärtig, wenn die Abwehr geboten ist, die Abwehr ist geboten, wenn der Angriff gegenwärtig ist“. 410 411
182
4. Abschn.: Begriffe „Gefahr“ und „gegenwärtig“
dass für die Beurteilung der Frage, wann eine solche Gegenwärtigkeit anzunehmen ist, ebenfalls auf die mittels nachträglicher ex-ante-Prognose eines verständigen Beobachters ermittelte Tatsachengrundlage zurückzugreifen ist.412
VI. Zwischenergebnis Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass unter gegenwärtiger Gefahr im Sinne von rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand ein Zustand zu verstehen ist, in dem nach den konkreten Umständen des Einzelfalles die über bloße allgemeine Lebensrisiken und rein abstrakte, gedankliche Schadensmöglichkeiten hinausgehende Wahrscheinlichkeit eines unmittelbar bevorstehenden Schadenseintritts an einem geschützten Rechtsgutsobjekt besteht. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich im Wege einer umfassenden nachträglichen ex-ante-Prognose, in deren Rahmen die Wissensbasis eines gedachten verständigen Beobachters heranzuziehen ist, der auch über etwaige Sonderkenntnisse des Notstandstäters verfügt. Nicht unter den Begriff der gegenwärtigen Gefahr fallen damit Dauergefahren im weiteren Sinne, die sich dadurch auszeichnen, dass der Schadenseintritt zwar erst in weiterer Zukunft zu erwarten ist, aber nur durch sofortiges, unverzügliches Handeln abgewendet werden kann. Diese Gefahrzustände sind jedoch aus der ratio legis der Notstandsvorschriften heraus im Wege der Analogie gegenwärtigen Gefahren gleichzustellen. Ob diese Überlegungen in gleicher Weise auch für den Bereich des qualifizierten Nötigungsmittels der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben im Sinne von §§ 249, 255, 177 StGB Geltung beanspruchen können, wird im weiteren Fortgang der Untersuchung überprüft werden.
D. Die Gegenwärtigkeit des Angriffs bei der Notwehr, § 32 StGB Nicht übersehen werden darf schließlich auch, dass die Bestimmung über die Notwehr gemäß § 32 StGB ebenfalls das Merkmal der „Gegenwärtigkeit“ enthält; das Bestehen einer Notwehrlage setzt bereits nach dem Gesetzeswortlaut unter anderem das Vorliegen eines „gegenwärtigen Angriffs“ voraus. Möglicherweise lassen sich auch hieraus Rückschlüsse auf die zutreffende Interpretation der gegenwärtigen Gefahr bei den §§ 249, 255, 177 StGB ziehen. Unter einem nach § 32 StGB grundlegend zu fordernden Angriff ist jede bevorstehende oder bereits eingetretene Verletzung rechtlich geschützter Güter oder Interessen durch menschliches Verhalten zu verstehen.413 412
Vgl. etwa auch Lenckner S. 80 ff.; LK-Hirsch § 34 Rn. 37.
D. Die Gegenwärtigkeit des Angriffs bei der Notwehr
183
Gegenwärtig ist ein derartiger Angriff nach ganz überwiegender Auffassung dann, wenn er unmittelbar bevorsteht, bereits stattfindet oder noch fortdauert.414 Eine Situation, die sich als akute Gefahr oder Augenblicksgefahr im oben415 beschriebenen Sinne qualifizieren lässt, kann demnach in jedem Falle einen gegenwärtigen Angriff darstellen, da eine Verletzung rechtlich geschützter Güter oder Interessen bei einer solchen Sachlage stets zumindest unmittelbar bevorsteht. Etwas anderes muss allerdings für Dauergefahren im engeren Sinne gelten. Denn im Gegensatz zum Gefahrbegriff weist das Merkmal des Angriffs weder ein prognostisches Element noch ein Latenzmoment auf, das eine Einbeziehung auch der Dauergefahr im engeren Sinne rechtfertigen würde.416 Ein Angriff setzt im Unterschied zur Gefahr stets eine akut zugespitzte, zeitlich begrenzte Konfliktlage voraus. Demgemäß lässt sich der Charakter der Dauergefahr im engeren Sinne als Zustand, in dem ein Schadenseintritt jederzeit, gegebenenfalls aber auch erst nach Ablauf eines verhältnismäßig langen Zeitraums zu erwarten ist, nicht mit dem Begriff des gegenwärtigen Angriffs als Zustand der zumindest unmittelbar bevorstehenden Verletzung geschützter Interessen in Einklang bringen; der Gedanke der Dauergefahr im engeren Sinne resultiert primär aus den einem Gefahrurteil immanenten Unsicherheitsfaktoren, die das Angriffsmerkmal gerade nicht aufweist. Aus diesem Grunde wird man Dauergefahren im engeren Sinne nicht als zur Begründung einer Notwehrlage tauglich anerkennen können.417 Erst recht zu verneinen ist das Vorliegen eines gegenwärtigen Angriffs nach den eben genannten Grundsätzen in solchen Sachverhaltskonstellationen, die sich als Dauergefahr im weiteren Sinne begreifen lassen, in denen also feststeht, dass eine Rechtsgutverletzung erst in Zukunft eintreten wird, aber sofortiges Handeln angezeigt ist, um ihr wirksam zu begegnen. In solchen Fällen lässt sich nicht mehr von einer unmittelbar bevorstehenden Rechtsgutsverletzung sprechen.418 413 Vgl. oben Fn. 323, wo auch bereits erläutert wurde, dass die von der h. M. zur Definition des Angriffs gewählte Formulierung insoweit nicht überzeugen kann, als sie in hohem Maße einen prognostischen Charakter des Angriffsbegriffes nahe legt. 414 Vgl. RGSt 60, 318, 320 f.; BGHSt 27, 336, 339; BGH JZ 2003, 50, 51; BGH NStZ 2003, 425, 426; BayObLG StV 1987, 203, 204; Kion JuS 1967, 499, 502; Jescheck / Weigend § 32 II. 1. d) (S. 341 f.); Ebert S. 73; Otto Jura 1999, 552; ders. NStZ 2004, 142, 143; Roxin AT I, § 15 Rn. 21 ff.; ders., Tjong-GDS S. 137 ff.; ders. JZ 2003, 966 f.; Zaczyk JuS 2004, 750, 751 f.; Kroß S. 119 f.; Wessels / Beulke Rn. 328; Walther JZ 2003, 52, 53; Amelung GA 1982, 381, 384; Kindhäuser StGB § 32 Rn. 16; Baumann / Weber / Mitsch § 17 Rn. 11 ff.; Gropp § 6 Rn. 77; Hillenkamp, Rudolphi-FS S. 463, 465, 469; ders. JuS 1994, 769, 772; Tröndle / Fischer § 32 Rn. 8 ff.; MüKo-Erb § 32 Rn. 96 ff.; NK-Herzog § 32 Rn. 26 ff.; LKSpendel § 32 Rn. 115 ff.; Seesko S. 74; vgl. auch Erb NStZ 2004, 369, 370 f.; differenzierend Ludwig S. 42 ff., 97 ff., 191, 208, nach dem ein gegenwärtiger Angriff analog § 22 StGB erst dann vorliegen soll, wenn der Angreifer unmittelbar zur Rechtsgutverletzung ansetzt; in diesem Sinne auch Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 32 Rn. 13 ff.; Renzikowski S. 288 f.; Lackner / Kühl § 32 Rn. 4; Kühl AT § 7 Rn. 39 ff.; SK-Günther § 32 Rn. 65, 67 ff. 415 Vgl. oben V. 1. a). 416 Vgl. oben Fn. 323. 417 In diesem Sinne auch SK-Günther § 32 Rn. 66; a.A. Otto Jura 1999, 552.
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4. Abschn.: Begriffe „Gefahr“ und „gegenwärtig“
Was die Frage anbelangt, ob ein in diesem Sinne gegenwärtiger Angriff tatsächlich vorliegt bzw. vorgelegen hat, bleibt abschließend festzuhalten, dass die Rechtsprechung im Einklang mit der herrschenden Lehre völlig zu Recht von der grundsätzlichen Maßgeblichkeit einer objektiven ex-post-Betrachtung ausgeht.419 Schon nach dem Gesetzeswortlaut ist das objektive Vorliegen einer Notwehrlage erforderlich. Im Gegensatz zum Gefahrbegriff verlangt das Angriffsmerkmal des § 32 StGB auch keine Prognose, die aufgrund der stets mit ihr verbundenen Unsicherheitsfaktoren die Anwendung einer ex-ante-Beurteilung rechtfertigen könnte. Das den Notwehrtäter insoweit treffende Fehlbeurteilungsrisiko besteht in weit geringerem Maße, als dies etwa im Falle eines Gefahrurteils der Fall ist, so dass es nicht unbillig erscheint, ihm dieses einseitig aufzuerlegen. Diese Überlegung wird vor allem auch dadurch bestätigt, dass die Notwehrvorschrift keine den in rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand enthaltenen vergleichbaren weiteren tatbestandlichen Korrektive enthält, so dass eine Restriktion bereits im Rahmen der Angriffsprüfung vorgenommen werden muss. Unter dieser Prämisse ist das tatsächliche Vorliegen eines gegenwärtigen Angriffs unabdingbare Vorraussetzung dafür, dass dem Angreifer eine mit dem Eingriffsrecht des Angegriffenen korrespondierende Duldungspflicht auferlegt wird.420 Es lässt sich damit festhalten, dass die Auslegung des Merkmals des gegenwärtigen Angriffs im Sinne des § 32 StGB nur bedingt Interpretationshilfen für den Begriff der gegenwärtigen Gefahr liefern kann, da dem Angriff im Gegensatz zur Gefahr kein prognostisches Element innewohnt, dessen Unsicherheitsfaktoren bei der Deutung berücksichtigt werden müssten. Auf der anderen Seite ist festzuhalten, dass der Gesetzgeber – jedenfalls ursprünglich – sowohl im Rahmen des § 32 StGB 418 BayObLG StV 1987, 203, 204; Schönke / Schöder-Lenckner / Perron § 32 Rn. 14, 16; Roxin AT I, § 15 Rn. 27; Tröndle / Fischer § 32 Rn. 10 f.; Hillenkamp S. 150; ders., Miyazawa-FS S. 141, 152; Roxin, Tjong-GDS S. 137, 139 ff., 146 ff.; SK-Günther § 32 Rn. 66; Lackner / Kühl § 32 Rn. 4; Kühl AT § 7 Rn. 42; NK-Hezog § 32 Rn. 30; LK-Spendel § 32 Rn. 126 f.; weiter aber etwa Schmidhäuser AT, 9. Rn. 94 (S. 347); Suppert S. 356 ff., 371 ff., 381 ff., 404; Renzikowski S. 103 f., die in diesen Fällen § 32 StGB zumindest analog heranziehen wollen. 419 BGH NStZ-RR 2002, 203, 204; BGH JZ 2003, 50, 51; BGH NStZ 2003, 420, 421; OLG Stuttgart NJW 1992, 850, 851; Jakobs AT, 11. Rn. 9; Herzberg JA 1989, 243, 247; Graul JuS 1995, 1049 ff., 1056; Roxin, Tjong-GDS S. 137, 145 f.; MüKo-Erb § 32 Rn. 56 f.; Wessels / Beulke Rn. 330; Lackner / Kühl vor § 32 Rn. 5, § 32 Rn. 6; Schönke / SchröderLenckner vor §§ 32 ff. Rn. 9, 10a; Schönke / Schröder-Lenckner / Perron § 32 Rn. 3, 27; SKGünther § 32 Rn. 22; Schmidhäuser AT, 9. Rn. 93 (S. 346 f.); ähnlich Jescheck / Weigend § 31 IV. 4. (S. 331), § 32 II. 1. d) (S. 342): objektive ex-post-Prognose eines kundigen Dritten in der Lage des Angegriffenen; a.A. Arm. Kaufmann, Welzel-FS S. 393, 401; Rudolphi, Arm. Kaufmann-GDS, S. 371, 382 f., 386; NK-Herzog § 32 Rn. 3; Schröder JuS 2000, 235 ff., 239, 241; Walther JZ 2003, 52, 53, die auf die ex-ante-Sicht eines vernünftigen Durchschnittsbürgers in der konkreten Situation und mit dem Erkenntnisvermögen des Täters abstellen wollen. 420 Vgl. dazu eingehend Graul JuS 1995, 1049 ff. m. w. N.
E. Zusammenfassung und Zwischenergebnis
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als auch bei den §§ 34, 35 StGB das Merkmal der Gegenwärtigkeit einheitlich als Synonym für „zeitlich unmittelbar bevorstehend“ konzipiert hat.
E. Zusammenfassung und Zwischenergebnis Die Untersuchungen im Rahmen dieses Abschnitts haben ergeben, dass es einen einheitlichen, für das gesamte StGB geltenden Gefahrbegriff nicht gibt. Das Merkmal der Gefahr ist vielmehr im Grundsatz jeweils nach Wesen und Sinngehalt der in Betracht kommenden Bestimmungen normativ bzw. teleologisch auszulegen. Auf dieser Grundlage ist als Gefahr im Sinne der konkreten Gefährdungsdelikte ein Zustand aufzufassen, in dem sich die konkrete Wahrscheinlichkeit bzw. nahe liegende Möglichkeit eines Schadenseintritts nach den Umständen des Einzelfalles bereits in einer vom Täter herbeigeführten kritischen Situation für das betroffene Rechtsgutsobjekt in Form eines „Beinahe-Unfalls“ verwirklicht hat, in welcher der Eintritt oder Nichteintritt eines Schadens nur noch vom Zufall abhängt. Demgegenüber ist unter einer Gefahr im Sinne der Notstandsvorschriften gemäß §§ 34, 35 StGB ein Zustand zu verstehen, in dem nach den konkreten Umständen des Einzelfalles die über bloße allgemeine Lebensrisiken und rein abstrakte, gedankliche Schadensmöglichkeiten hinausgehende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts an einem geschützten Rechtsgutsobjekt besteht. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich im Wege einer umfassenden nachträglichen ex-ante-Prognose, in deren Rahmen die Wissensbasis eines gedachten verständigen Beobachters heranzuziehen ist, der auch über etwaige Sonderkenntnisse des Notstandstäters verfügt. Weitergehend ist festzustellen, dass das sowohl in der Bestimmung über die Notwehr, § 32 StGB, als auch in den Normen der §§ 34, 35 StGB über den rechtfertigenden und entschuldigenden Notstand enthaltene Merkmal der Gegenwärtigkeit für diese Vorschriften weitgehend übereinstimmend als Synonym für den Ausdruck „zumindest unmittelbar bevorstehend“ zu begreifen ist. Aufgrund dieser Erkenntnisse lässt sich die gegenwärtige Gefahr im Sinne der Notstandsvorschriften der §§ 34, 35 StGB – die von zahlreichen Stimmen als identisch mit derjenigen der §§ 249, 255, 177 StGB angesehen wird – als Zustand definieren, in dem nach den konkreten Umständen des Einzelfalles die über bloße allgemeine Lebensrisiken und rein abstrakte, gedankliche Schadensmöglichkeiten hinausgehende Wahrscheinlichkeit eines unmittelbar bevorstehenden Schadenseintritts an einem geschützten Rechtsgutsobjekt besteht. Wendet man die hier entwickelte Definition in concreto an, so zeigt sich, dass sowohl akute Gefahren, also Zustände, in denen der Eintritt eines Rechtsgutsobjektsschadens unmittelbar bevorsteht, als auch Dauergefahren im engeren Sinne, verstanden als ungewöhnliche, gefahrdrohende Zustände von längerer Dauer, die nach menschlicher Erfahrung bei natürlicher Weiterentwicklung jederzeit, also auch alsbald, in eine Rechtsgutsbeeinträchtigung umschlagen können, ohne aber die Möglichkeit auszuschließen,
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4. Abschn.: Begriffe „Gefahr“ und „gegenwärtig“
dass der Eintritt des Schadens noch eine Zeitlang auf sich warten lässt, dem Begriff der gegenwärtigen Notstandsgefahr unterfallen. Nicht unmittelbar unter das Merkmal der gegenwärtigen Gefahr im Sinne der Notstandsvorschriften lässt sich hingegen eine Dauergefahr im weiteren Sinne als Zustand, in dem der Eintritt des drohenden Schadens zwar erst nach Ablauf einer gewissen Zeit zu erwarten, aber sofortiges Handeln angezeigt ist, um ihm wirksam begegnen zu können, subsumieren. Dauergefahren im weiteren Sinne sind im Rahmen der §§ 34, 35 StGB jedoch nach Sinn und Zweck dieser Bestimmungen im Wege der Analogie einer gegenwärtigen Gefahr gleichzustellen und aus diesem Grund ebenfalls als notstandsbegründend anzuerkennen. Die für das Ergebnis dieser Untersuchung wegweisende Frage, ob dieses für die §§ 34, 35 StGB zutreffende Verständnis der gegenwärtigen Gefahr trotz der grundsätzlichen Nichtidentität des Gefahrbegriffes im gesamten StGB auch für die Tatbestände der §§ 249, 255, 177 StGB Geltung beanspruchen kann, soll im weiteren Fortgang der Arbeit beantwortet werden.
Fünfter Abschnitt
Folgerungen für die Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben bei Raub, § 249 StGB, und räuberischer Erpressung, § 255 StGB Nachdem im vorigen Abschnitt ausführlich erarbeitet wurde, welcher Bedeutungsgehalt den Merkmalen der „gegenwärtigen Gefahr“ bzw. der „Gefahr“ und der „Gegenwärtigkeit“ allgemein in anderen Normen des Strafgesetzbuches zukommt, ist es nun an dieser Stelle möglich, auf dieser Grundlage den Begriff der „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ im Rahmen von Raub und räuberischer Erpressung, §§ 249, 255 StGB, einer umfassenden inhaltlichen Bestimmung zuzuführen. Dabei gilt es zunächst zu klären, ob und inwieweit sich die im vorherigen Abschnitt zu den verschiedenen behandelten Bestimmungen – insbesondere zu den §§ 34, 35 StGB – herausgearbeiteten Grundsätze trotz der grundsätzlichen Erkenntnis, dass es keinen einheitlichen Gefahrbegriff für das gesamte StGB gibt, auf diese Normen übertragen lassen. Soweit dies aus dogmatischen oder faktischen Gründen nicht der Fall sein sollte, wird im Anschluss eine eigene Begriffsbestimmung vorzunehmen sein. Bevor auf das Merkmal der gegenwärtigen Gefahr selbst eingegangen werden kann, müssen allerdings zunächst einige Überlegungen zum Drohungsbegriff der §§ 249, 255 StGB vorangestellt werden. Denn die gegenwärtige Gefahr steht im Rahmen der Bestimmungen über Raub und räuberische Erpressung nicht isoliert, sondern ist eingebettet in das Merkmal der Drohung. Daher kann deren inhaltliche Deutung in diesem Kontext erhebliche Auswirkungen auf die Auslegung auch des Begriffs der gegenwärtigen Gefahr haben. Die zutreffende Interpretation der gegenwärtigen Gefahr im Rahmen der §§ 249, 255 StGB kann mit anderen Worten nur auf der Grundlage eines bestimmten, feststehenden Drohungsbegriffes abschließend ermittelt werden. Erst wenn klar ist, wann der Täter im Sinne der genannten Normen droht, kann in einem zweiten Schritt ermittelt werden, in welchen Fällen die Drohung eine solche mit einer gegenwärtigen Gefahr darstellt.
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5. Abschn.: Folgerungen für die Drohung
A. Der Begriff der Drohung in den §§ 249, 255 StGB Eine Drohung im Sinne der §§ 249, 255 StGB ist nach der gängigen Definition – in Übereinstimmung mit den zu §§ 240, 253 StGB entwickelten Prinzipien – als ausdrückliche oder schlüssige Ankündigung eines künftigen Übels aufzufassen, dessen Eintritt der Ankündigende gegenüber dem Adressaten als von seinem Einfluss abhängig darstellt und das verwirklicht werden soll, wenn der Adressat sich dem Willen des Ankündigenden nicht beugt und sich dementsprechend verhält.1 In Anknüpfung an diesen Ansatz sollen im Folgenden die einzelnen Spezifika der genannten Begriffsdeutung näher beleuchtet werden.
I. Die Drohung als Ankündigung eines künftigen Übels Das zentrale Element des Drohungsbegriffs ist nach der soeben genannten Inhaltsbestimmung die Ankündigung eines künftigen Übels. Hieraus ergibt sich deutlich, dass die Drohung als solche einen Zukunftsbezug aufweist. Zwar erfolgt die Inaussichtstellung des Übels selbst in der Gegenwart, ihr Inhalt aber bezieht sich stets auf ein, wenn auch möglicherweise nur mit einem geringen zeitlichen Abstand folgendes zukünftiges Geschehen. Dies unterscheidet die Drohung von der Gewalt. Bei der Anwendung von Gewalt handelt es sich – unabhängig von der zutreffenden Bedeutung des Gewaltbegriffs2 – stets um die Zufügung eines aktuellen Übels, welches das Opfer unmittelbar tatsächlich beeinträchtigt. Demgegenüber bedarf die Drohung erst ihrer künftigen Realisierung, um eine über die Beeinträchtigung der Willensfreiheit hinausgehende Rechtsgutverletzung bewirken zu können. Demgemäß dient die Deutung der Drohung als Ankündigung eines künftigen Geschehens nicht zuletzt der Abgrenzung von – aktuell angewendeter – Gewalt, vor allem in Form von vis compulsiva3, und der Drohungsalternative.4 1 So oder ähnlich etwa BGHSt 7, 252, 253; BGHSt 23, 126, 127 f., BGH NStZ 1981, 218; BGH NStZ 2005, 41; MüKo-Gropp / Sinn § 240 Rn. 67; MüKo-Sander § 249 Rn. 20, § 253 Rn. 10; Küper BT S. 102, 111; Schmidhäuser BT 4. Rn. 5; NK-Toepel § 240 Rn. 94 f.; NKKindhäuser vor § 249 Rn. 22, § 249 Rn. 5; § 253 Rn. 5; ders. BT II § 13 Rn. 5; Joecks § 249 Rn. 12; Schönke / Schröder-Eser vor §§ 234 ff. Rn. 30; Küpper BT 1, I. § 3 Rn. 47; Mitsch BT 2, 1, § 3 Rn. 30; Blei BT § 18 III. 1. b) (S. 72); Gössel / Dölling BT 1, § 17 Rn. 59; Gössel BT 2, § 13 Rn. 26, § 31 Rn. 23; Maurach / Schroeder / Maiwald § 13 Rn. 24; Lackner / Kühl § 240 Rn. 12, § 249 Rn. 3, § 253 Rn. 2; Tröndle / Fischer § 240 Rn. 31; Rengier BT I, § 7 Rn. 11; SK-Günther § 249 Rn. 17, § 253 Rn. 8; LK-Träger / Altvater § 240 Rn. 56; Hagel S. 391; Lask S. 141 f.; Moseschus S. 106; Geilen Jura 1979, 109, Jura 1980, 43, 47; Schünemann JA 1980, 349, 350 f.; Zaczyk JuS 2004, 750. 2 Vgl. dazu unten 7. Abschnitt, B. 3 Vgl. unten 7. Abschnitt, B. 4 Vgl. BGHSt 23, 126, 127 f.; BGH NStZ 1981, 218; Küpper BT 1, I. § 3 Rn. 49; Zaczyk JR 1999, 343, 344; SK-Horn / Wolters § 240 Rn. 15, SK-Günther § 249 Rn. 19, § 253 Rn. 10;
A. Der Begriff der Drohung
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Unter einem Übel im Sinne der angeführten Drohungsdefinition ist etwas Unangenehmes, Nachteiliges und den Umständen nach zu Vermeidendes zu verstehen. Es muss sich um eine nachteilige Veränderung des Status quo handeln, die ihrer Art nach dazu geeignet ist, das Verhalten des Opfers zu beeinflussen.5 Auf die konkrete Form der Ankündigung oder Inaussichtstellung des Nachteils kommt es dabei nicht an. Das Vorliegen einer Drohung kann sich sowohl aus einer ausdrücklichen Äußerung des Ankündigenden als auch konkludent aus den Umständen ergeben. Ein qualitativer Unterschied besteht insoweit nicht, da entscheidend nur die in Aussicht stehende Wirkung auf das Opfer, die Eignung zur Erzeugung der für eine Nötigung charakteristischen Zwangslage, nicht aber die Art und Weise der konkreten Übermittlung der dazu erforderlichen Informationen sein kann.6
II. Potentielle Abhängigkeit des Übelseintritts vom Willen des Drohenden Ein weiteres Charakteristikum des Drohungsmerkmals ist in der Tatsache zu erblicken, dass der Ankündigende den Eintritt des die potentielle Zwangslage hervorrufenden Übels als von seinem Willen und seinem Einfluss abhängig darstellt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Drohung von einer nicht tatbestandsmäßigen Warnung, bei welcher der Betroffene nur auf einen unabhängig vom Willen des Warnenden eintretenden Nachteil hingewiesen wird.7 Zwar haben Drohung LK-Herdegen § 249 Rn. 9; Joecks § 249 Rn. 21; Rengier BT II, § 23 Rn. 41; Schönke / Schröder-Eser vor §§ 234 ff. Rn. 37; Krey / Hellmann Rn. 190; Schroth BT S. 111; im Ergebnis auch Schroeder NJW 1996, 2627, 2628 f.; Hoyer GA 1997, 451, 455 f.; kritisch Mitsch BT 2, 1, § 3 Rn. 33 und NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 18 f., 23, 25 f. 5 Vgl. MüKo-Gropp / Sinn § 240 Rn. 69; NK-Toepel § 240 Rn. 103; Schönke / SchröderEser § 240 Rn. 9; Rengier BT II, § 23 Rn. 44; Wessels / Hettinger Rn. 404; LK-Träger / Altvater § 240 Rn. 57. 6 Vgl. RGSt 34, 15, 19; BGHSt 7, 252, 253; BGHR StGB § 255 Drohung 6; BGH Wistra 1994, 225; BGH NStZ 1997, 184; BGH NJW 1997, 265, 266; NK-Toepel § 240 Rn. 95; NKKindhäuser vor § 249 Rn. 22, § 249 Rn. 5, § 253 Rn. 5; ders. BT II § 13 Rn. 5; MüKoGropp / Sinn § 240 Rn. 68; MüKo-Sander § 249 Rn. 20; Mitsch BT 2, 1, § 3 Rn. 30; LK-Träger / Altvater § 240 Rn. 56, 61; Tröndle / Fischer § 240 Rn. 31; SK-Günther § 249 Rn. 17, § 253 Rn. 8; LK-Herdegen § 249 Rn. 10, 12; Wessels / Hettinger Rn. 402 f.; Schmidhäuser BT 4. Rn. 5; Hagel S. 391 f.; Küper NJW 1970, 2253; Geilen Jura 1979, 109, 110; Schünemann JA 1980, 349 f.; Hillenkamp JuS 1994, 769, 771. 7 Vgl. RGSt 34, 15, 18 f.; RGSt 54, 236 f.; BGH NStZ-RR 2001, 171, 172; NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 22, § 249 Rn. 5, § 253 Rn. 5; Schmidhäuser BT 4. Rn. 5 f.; MüKo-Gropp / Sinn § 240 Rn. 70, 73; Schönke / Schröder-Eser vor §§ 234 ff. Rn. 31; Gössel / Dölling BT 1, § 17 Rn. 59 f.; Maurach / Schroeder / Maiwald § 13 Rn. 24; SK-Horn / Wolters § 240 Rn. 17; SK-Günther § 253 Rn. 11; Küper BT S. 105; ders. NJW 1970, 2253; Küpper BT 1, I. § 3 Rn. 49; Krey / Heinrich Rn. 325; Mitsch BT 2, 1, § 3 Rn. 30; Hagel S. 391 ff.; Geilen Jura 1980, 43, 47; Hillenkamp JuS 1994, 769; Herzberg GA 1996, 557, 558 f.; a.A. NK-Toepel § 240 Rn. 97 ff.; Jakobs, Peters-FS S. 69, 84; Schroeder NJW 1996, 2627, 2628 f.
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5. Abschn.: Folgerungen für die Drohung
und Warnung gemeinsam, dass beide dem Betroffenen ein Übel in Aussicht stellen und diesen in eine Zwangslage versetzen. Entscheidend ist aber, dass der Täter sich nur im Falle der Drohung als Herr über die bedrohliche Situation ausgibt und auf diese Weise den Entscheidungsprozess des Opfers – möglicherweise – beherrschen kann. Allerdings ist für die Behauptung einer Einflussmöglichkeit nicht erforderlich, dass der Täter ankündigt, er werde den Eintritt des Übels in Person herbeiführen. Es reicht in diesem Zusammenhang aus, wenn der Ankündigende vorgibt, Einfluss auf einen Dritten zu haben, so dass er nach seinem Willen das in Aussicht gestellte Übel verhindern oder auch eintreten lassen könnte.8 Denn auch insoweit muss als entscheidendes Moment des Drohungsbegriffs die generelle Eignung zur Herbeiführung einer vom Täter beherrschbaren Zwangslage angesehen werden, mit der er das Opfer nach seinen Vorstellungen zu steuern vermag. Schließlich ist aus den genannten Gründen mit der ganz h. M. auch nicht zu verlangen, dass der Ankündigende tatsächlich die von ihm zum Ausdruck gebrachten Einflussmöglichkeiten hat, da es allein darauf ankommt, dass der Adressat durch die Ankündigung in eine Zwangslage gebracht werden kann.9
III. Die Drohung als Mittel zur Willensbeeinflussung und Willenssteuerung Aus den beiden soeben dargestellten Komponenten ergibt sich mittelbar bereits das dritte und letzte, aber keineswegs weniger wesentliche Wesensmerkmal des Drohungsbegriffs. Die Drohung erschöpft sich – jedenfalls im hier behandelten Kontext – nicht in der Inaussichtstellung eines künftigen Übels als solcher, sondern sie wird vom Androhenden als Mittel zur Willensbeeinflussung und Willenssteuerung des Opfers eingesetzt.10 Dies wird unter anderem durch den Definitionsbestandteil zum Ausdruck gebracht, dass das angekündigte Übel für den Fall verwirklicht werden soll, dass der Adressat sich dem Willen des Ankündigenden nicht beugt und sich dementsprechend verhält. In Anbetracht dessen lässt sich von einem „instrumentalisierenden Charakter“ der Drohung sprechen.11 Dabei ist weitgehend anerkannt, dass der Qualifizierung eines Verhaltens als Drohung nicht entgegen8 Vgl. BGHSt 7, 197, 198; BGHSt 23, 294, 296; BGHSt 31, 195, 201; BGH StV 1996, 482; OLG Stuttgart NStZ 1982, 161, 162; Lackner / Kühl § 240 Rn. 12; LK-Träger / Altvater § 240 Rn. 56; Schönke / Schröder-Eser vor §§ 234 ff. Rn. 31; SK-Günther § 253 Rn. 11; Gössel / Dölling BT 1, § 17 Rn. 60; Küper BT S. 105; Küpper BT 1, I. § 3 Rn. 49; Krey / Heinrich Rn. 325; Mitsch BT 2, 1, § 3 Rn. 31; Hagel S. 391; Sieber JuS 1986, 547, 548; weiter Puppe JZ 1989, 596 ff.; Jakobs, Peters-FS S. 69, 84; MüKo-Gropp / Sinn § 240 Rn. 70, 72 f., MüKo-Sander § 253 Rn. 10; NK-Toepel § 240 Rn. 98 ff. 9 BGHSt 23, 294, 295 f.; BGH NStZ 1997, 184; Lackner / Kühl § 240 Rn. 12; MüKoGropp / Sinn § 240 Rn. 70, 72 f., MüKo-Sander § 249 Rn. 20; § 253 Rn. 10; LK-Träger / Altvater § 240 Rn. 56; NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 22, § 249 Rn. 5. 10 So auch Lask S. 137; ähnlich Paeffgen, Grünwald-FS S. 433, 464; Schroeder NJW 1996, 2627, 2629; Hoyer GA 1997, 451, 454 f. 11 So MüKo-Gropp / Sinn § 240 Rn. 67, 72.
A. Der Begriff der Drohung
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steht, dass der Drohende weder den Willen noch die Fähigkeit hat, das angekündigte Übel wirklich herbeizuführen, so dass grundsätzlich auch eine sog. Scheindrohung eine tatbestandliche Drohung im Sinne der §§ 249, 255 StGB darstellen kann.12 Insoweit steht die Eigenschaft der Drohung als Mittel des Angriffs auf die Freiheit der Willensbestimmung im Vordergrund. Umstritten ist hingegen die damit in engem Zusammenhang stehende Problematik, ob die Annahme einer – vollendeten – Drohung zwingend voraussetzt, dass der Bedrohte die ihm zur Kenntnis gelangte Übelsankündigung in concreto ernst nimmt, also zumindest mit der Möglichkeit ihrer Verwirklichung rechnet. In Rechtsprechung und Literatur werden hierzu zwei konträre Auffassungen vertreten, deren wesentlicher Unterschied darin liegt, dass auf der einen Seite die Eignung zur Herbeiführung einer Zwangslage auf Seiten des Opfers aus der Sicht des Bedrohten bestimmt wird, während auf der anderen Seite der subjektiven Sicht des Täters entscheidende Bedeutung zugemessen wird.13
1. Überwiegende Ansicht: Notwendigkeit eines Erfolgselements Die überwiegende Ansicht nimmt ihren Ausgangspunkt in der Prämisse, dass dem Begriff der Drohung ein Erfolgselement innewohne, welches die tatsächliche Beeinträchtigung der Motivationsfreiheit des Opfers oder jedenfalls die objektive Möglichkeit einer solchen kennzeichne. Ein Erfolgsmoment in diesem Sinne komme der Drohung nur zu, wenn der Adressat zumindest befürchte und für möglich halte, die Drohung könne ernst gemeint und das in Aussicht gestellte Übel ausführbar sein bzw. die Drohung hierzu jedenfalls objektiv geeignet sein.14 Eine solche 12 RGSt 3, 262, 263; BGHSt 23, 294, 295 f.; BGH NStZ 1985, 408; BGHSt 38, 83, 86; BGH NStZ 1997, 184; BGHR StGB § 255 Drohung 11; MüKo-Gropp / Sinn § 240 Rn. 67; MüKo-Sander § 249 Rn. 20; Wessels / Hettinger Rn. 404; Wessels / Hillenkamp Rn. 325; Gössel / Dölling BT 1, § 17 Rn. 59; Gössel BT 2, § 13 Rn. 26; Wessels / Hettinger Rn. 404; Maurach / Schroeder / Maiwald § 35 Rn. 18; Schönke / Schröder-Eser vor §§ 234 ff. Rn. 33, § 249 Rn. 5, § 253 Rn. 5; SK-Günther § 253 Rn. 12; LK-Träger / Altvater § 240 Rn. 56 f., 61, LK-Herdegen § 249 Rn. 12; Tröndle / Fischer § 240 Rn. 31, § 249 Rn. 3; Küper BT S. 103; ders. JuS 1976, 645, 648; ders. Jura 1983, 206, 207; Küpper BT 1, I. § 3 Rn. 48; Krey / Heinrich Rn. 325; Mitsch BT 2, 1, § 3 Rn. 32; Hagel S. 397; Geilen Jura 1979, 109 f., Jura 1980, 43, 48; Seelmann JuS 1986, 201, 203; Puppe JZ 1989, 596. 13 Vgl. Rengier, Maurer-FS S. 1195, 1197 ff.; Küper BT S. 103 ff.; ders. JuS 1976, 645, 648. 14 Mitsch BT 2, 1, § 3 Rn. 32; NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 23 f., § 249 Rn. 5; ders. BT II § 13 Rn. 5; Rengier, Maurer-FS S. 1195, 1197 ff.; ders. BT I, § 7 Rn. 11; ders. BT II, § 23 Rn. 39; LK-Träger / Altvater § 240 Rn. 56, 61; LK-Herdegen § 249 Rn. 12; Schönke / SchröderEser vor §§ 234 ff. Rn. 33, 37, § 249 Rn. 5; Schmidhäuser BT 4. Rn. 5, 10, 8. Rn. 49 f., 11. Rn. 49; Krey / Heinrich Rn. 325; Krey / Hellmann Rn. 195; Gössel / Dölling BT 1, § 17 Rn. 16, 59, 64; Gössel BT 2, § 13 Rn. 26, § 31 Rn. 6 f.; Schroth BT S. 111, 170; Gnad S. 110; Lask S. 142 ff.; Seesko S. 33; Seelmann JuS 1986, 201, 203; Klesczewski GA 2000, 257, 259 ff., 263 ff.; in der Tendenz ebenso MüKo-Gropp / Sinn § 240 Rn. 68, 72 f., MüKo-Sander § 249 Rn. 20; Haft BT I S. 36; Paeffgen, Grünwald-FS S. 433, 464 f.; Maurach / Schroeder /
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5. Abschn.: Folgerungen für die Drohung
Sicht hat – vor allem im kritischen Bereich der Scheindrohung – zur Folge, dass objektiv nur dann von einer vollendeten Drohung im Sinne des Tatbestands der §§ 249, 255 StGB auszugehen ist, wenn das Opfer die Drohung ernst nimmt oder aber zumindest mit der Möglichkeit einer Realisierung des angekündigten Übels rechnet. a) Insbesondere Kindhäuser bezieht entschieden für eine erfolgsorientierte Betrachtung des Drohungsmerkmals Stellung. Er führt aus, die Drohung als Ankündigung eines Übels sei als solche selbst als aktuelle Übelszufügung zu qualifizieren, die unmittelbar auf die Entscheidungsfreiheit des Opfers einwirke.15 Daher sei in diesem Zusammenhang das Verstehen der Ankündigung als ernst gemeinte Drohung durch den Adressaten von der Drohung als natürliche Sprechhandlung zu unterscheiden. Zwar verliere die Äußerung des Täters weder ihre Bedeutung als Drohung, wenn sie vom Opfer nicht ernst genommen werde, noch werde ein Verhalten zu einer Drohung, weil es vom Opfer als solche missverstanden werde. Dennoch gehöre bei der als Zwangsmittel eingesetzten Drohung das Verstehen der Äußerung als Drohung zur vollendeten Tat. Dies ergebe sich insbesondere aus der wertungsmäßigen Gleichstellung von Drohung und Gewalt. Bei Zugrundelegung einer anderen Sicht fehle ersterer im Gegensatz zu letzterer objektiv die Möglichkeit, den Adressaten in eine Notstandslage zu bringen. Der Erfolg des kommunikativen Aktes der Drohung hänge notwendig von ihrem Bedeutungsverständnis durch den Adressaten ab, wohingegen die Gewalt ihre physische Wirkung unabhängig von der Einschätzung des Kausalverlaufs durch das Opfer entfalte. Aus diesem Grund sei für die vollendete Drohung die Ernstnahme der angedrohten Gefahr durch das Opfer erforderlich. Dazu genüge allerdings, dass das Opfer zumindest mit der konkreten Möglichkeit einer Übelszufügung rechne. Auch in einem solchen Fall werde das Opfer bereits in eine für die Annahme einer vollendeten Nötigung erforderliche Notstandslage versetzt. Demgegenüber sei die tatsächliche Reaktion des Opfers auf die als ernst gemeint verstandene Übelsankündigung für den Begriff der Drohung ohne Relevanz; hierbei handle es sich vielmehr um den von der Drohung als solcher zu unterscheidenden Nötigungserfolg.16 b) Rengier schließt sich im Ergebnis der Argumentation Kindhäusers an, legt seiner Begründung aber weitere Überlegungen zugrunde. Seiner Meinung nach könnten, wenn man mit der ganz h. M. annehme, dass § 249 StGB auch den Schutz der freien Willensbildung und Willensbetätigung bezwecke, schwerlich missglückte Angriffe auf den Willen als Vollendungsunrecht erfasst werden. Zudem sei bei gegen Dritte gerichteten Drohungen anerkannt, dass der Nötigungsadressat das eiMaiwald § 35 Rn. 18; Amelung GA 1982, 381, 385; im Ergebnis wohl auch RGSt 2, 286 f.; RGSt 3, 262, 263 f.; Rspr. RGSt 3, 317 ff.; RGSt 12, 194, 198; RGSt 34, 15, 18 f.; BGH MDR 1957, 691; BGHSt 23, 294, 295 f.; BGHSt 26, 309, 310 f.; BGH NStZ 1985, 408; BGH NJW 1997, 265, 266 f.; unklar BGHSt 31, 195, 201; BGHSt 32, 165, 174 f. 15 NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 23; ebenso Mitsch BT 2, 1, § 3 Rn. 33. 16 NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 23 f., § 249 Rn. 5; ders. BT II § 13 Rn. 5, § 17 Rn. 5; vgl. dazu auch die ausführliche kritische Darstellung von Seesko S. 26 ff.
A. Der Begriff der Drohung
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nem anderen zugedachte Übel auch für sich selbst als Übel empfinden müsse. Dies sei bei einer vom Adressaten als nicht ernsthaft durchschauten Drohung offenkundig nicht der Fall. Um Wertungswidersprüche zu vermeiden, müsse daher der Drohungserfolg, der im Drei-Personen-Verhältnis verlangt werde, genauso in ZweiPersonen-Konstellationen vorausgesetzt werden. Demnach liege eine tatbestandsmäßige Drohung nur vor, wenn sie einerseits beim Raubopfer den Anschein der Ernstlichkeit erwecken solle und andererseits von diesem tatsächlich ernst genommen werde. Keine vollendete Drohung sei daher anzunehmen, wenn das Opfer die nur vorgetäuschte Übelsankündigung entgegen den Erwartungen des Täters durchschaue.17 c) Auch Herdegen wirft die Frage auf, ob der Adressat zur Tatvollendung die Vorstellung gewinnen müsse, dass der Täter die Drohung möglicherweise realisieren könne und werde und gibt der befürwortenden Ansicht den Vorzug. Andernfalls weise die Drohung kein die tatsächliche Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit charakterisierendes Erfolgselement mehr auf, sondern beschreibe nur noch eine Methode des Angriffs auf die Freiheit der Willensbestimmung.18 d) Ohne näher auf die Problematik eines Erfolgsmoments der Drohung einzugehen, geht Seelmann ebenfalls von einer Maßgeblichkeit der Opferperspektive aus. Er betont, dass für die Annahme einer Drohung eine objektive Gefährdung nicht erforderlich sei. Die Nötigungswirkung der Drohung ergebe sich vielmehr aus dem Eindruck, den sie objektiv hervorrufe. Entscheidend könne folglich nur sein, ob der Täter beim Adressaten den Eindruck erwecke, die Drohung sei ernst gemeint. Aus diesem Grund könne es auch nicht auf den Wortlaut der Aussage oder gar auf eine bestimmte Interpretation des Wortlautes ankommen, die der Täter ihm gebe. Entscheidend sei allein, ob das Opfer aus dem ausdrücklichen oder konkludenten Verhalten des Täters eine entsprechende Ankündigung entnehmen könne.19
2. Gegenansicht: keine Erforderlichkeit eines Erfolgselements Demgegenüber stellt die Gegenauffassung entscheidend darauf ab, dass das Drohungselement – unter anderem – von Raub und räuberischer Erpressung lediglich das Mittel des Angriffs auf die Willensfreiheit des Opfers kennzeichne, mit der ein spezifischer Erfolg noch nicht verbunden sei. Da es folglich diesbezüglich ausschließlich um die Beurteilung von Handlungsunrecht gehe, seien der Wille und die Sicht des Täters das ausschlaggebende Kriterium.20 Nach dieser Ansicht ist Rengier, Maurer-FS S. 1195, 1197 ff.; ders. BT I, § 7 Rn. 11. LK-Herdegen § 249 Rn. 12; ähnlich in der Folge LK-Träger / Altvater § 240 Rn. 56; Lask S. 144. 19 Seelmann JuS 1986, 201, 203. 20 Küper BT S. 103 ff., 112 f.; Wessels / Hillenkamp Rn. 325; Tröndle / Fischer § 240 Rn. 31, § 249 Rn. 5; Küpper BT 1, I. § 3 Rn. 48; Blei BT § 18 III. 1. b) (S. 72); Hagel 17 18
13 Blanke
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5. Abschn.: Folgerungen für die Drohung
eine Scheindrohung immer dann als vollendete, tatbestandliche Drohung im Sinne der Vorschriften über Raub und räuberische Erpressung zu qualifizieren, wenn der Täter aus seiner Sicht von einer Ernstnahme der Drohung durch das Opfer ausgeht oder aber letzteres die Übelsankündigung nach seiner Vorstellung zumindest ernst nehmen soll. a) So ist etwa Küper der Auffassung, dass der Drohungsbegriff unabhängig von einem wie auch immer gearteten Erfolgsmoment nur eine Methode des intentionalen Angriffs auf die Freiheit der Willensbestimmung beschreibe, zu der eine Wirkung noch nicht gehöre. Ähnlich wie bei der Täuschung im Rahmen des Betrugs kennzeichne das Gesetz mit der Drohung ausschließlich das vom Täter eingesetzte unwertige Mittel zur Willensbeeinflussung und damit einen bestimmten Handlungsunwert. Die tatsächliche oder mögliche Wirkung dieses Mittels auf den Willen des Opfers liege als Erfolg, der vom Täter lediglich angestrebt werden müsse, noch außerhalb des Drohungsbegriffs. Dafür spreche neben dem neutralen Wortsinn auch das Verständnis der Bedrohung im Sinne von § 241 Abs. 1 StGB. In dessen Anwendungsbereich sei nämlich anerkannt, dass der Bedrohte die Verbrechensandrohung nicht tatsächlich ernst nehmen müsse. Daher sei für die Annahme einer vollendeten Drohung ausreichend, dass der Bedrohte die Ankündigung nach der Vorstellung des Täters ernst nehmen solle, weil das Handlungsunrecht sich maßgeblich nach der intentionalen Täterperspektive bestimme. Diese Interpretation des Drohungsmerkmals sei indes nur dort praktisch relevant, wo die betreffenden Nötigungsdelikte keinen Kausalzusammenhang zwischen Drohung und Opferverhalten voraussetzten, da es andernfalls zumindest an der erforderlichen objektiven Kausalität des Nötigungsmittels für das Opferverhalten fehle. Da aber etwa der Raub nach § 249 StGB lediglich einen subjektiven Finalzusammenhang zwischen Nötigungsmittel und Wegnahme erfordere, sei die Bejahung eines vollendeten Raubes durchaus auch in solchen Fällen denkbar, in denen der Bedrohte die Ankündigung faktisch nicht ernst nehme.21 b) Auch Hillenkamp stellt entscheidend auf das im Anwendungsbereich des Raubes fehlende Erfordernis eines Kausalzusammenhangs zwischen Nötigung und Wegnahme ab. Aus diesem Grund sei jedenfalls in diesem Rahmen nicht erforderlich, dass das Opfer die Drohung tatsächlich ernst nehme. Maßgebend sei allein, dass die Drohung den Anschein der Ernstlichkeit erwecken und vom Opfer ernst genommen werden solle. Das Fehlen eines Drohungserfolges sei unschädlich, da das Gesetz mit der Drohung nur das den Handlungsunwert bestimmende Mittel beschreibe, mit dem der Täter das Rechtsgut der Willensfreiheit angreife, nicht aber auch einen (Zwischen-)Erfolg.22 S. 397 f.; Geilen Jura 1979, 109 f., 221, Jura 1980, 43, 48; Schünemann § JA 1980, 349, 351; so wohl tendenziell auch RGSt 54, 236, 237; BGHSt 4, 210, 211 f.; BGHSt 18, 329, 331; BGH NStZ 1997, 184. 21 Küper BT S. 103 ff., 112 f. 22 Wessels / Hillenkamp Rn. 325.
A. Der Begriff der Drohung
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c) Nicht gänzlich widerspruchsfrei sind die Aussagen Fischers, der im Rahmen seiner Erläuterungen zum Drohungsbegriff bei § 249 StGB ausführt: „Ob sie (die Drohung) tatsächlich verwirklicht werden soll oder ggf. verwirklicht werden könnte, ist unerheblich; der Täter muss nur wollen, dass das Opfer die Verwirklichung für möglich hält“.23 Diese Stellungnahme deutet auf eine täterorientierte Sicht hin. Fischer verweist allerdings zugleich auf seine Ausführungen zu § 240 StGB, in denen es unter anderem heißt: „Grds. gleichgültig ist, ob sie (die Drohung) tatsächlich zu verwirklichen ist . . . und ob der Drohende dies irrig annimmt oder nicht . . . ; ebenso, ob der Bedrohte die Verwirklichung für möglich hält oder nicht (Versuch; . . . ).“24 Durch die Inbezugnahme der Vorschriften über den Versuch scheint der Autor vordergründig stillschweigend von einem Erfolgselement der Drohung auszugehen. Da insoweit aber auch in Betracht kommt, dass Fischer mit dieser Wendung die in diesem Fall hinsichtlich des Tatbestands des § 240 StGB fehlende Kausalbeziehung zwischen Drohung und Nötigungserfolg zum Ausdruck bringen will, dürfte er im Ergebnis der Auffassung zuzurechnen sein, die den Blickwinkel des Täters für maßgeblich erachtet. d) In ähnlicher Weise nicht eindeutig sind auch die Ausführungen Küppers. Dieser ist auf der einen Seite grundsätzlich der Auffassung, dass sich die Ernsthaftigkeit der Drohung aus der Sicht des Opfers bestimme.25 Mit diesem Ausgangspunkt würde prinzipiell eine am Nötigungserfolg ausgerichtete Drohungsbestimmung korrespondieren. Auf der anderen Seite aber legt er dar, dass es nicht darauf ankomme, ob das angekündigte Übel überhaupt realisierbar sei. Aus diesem Grund reichten Scheindrohungen aus, sofern der Bedrohte sie für ernsthaft halten solle. Der Täter müsse den Willen haben und in der Vorstellung handeln, durch sein Handeln in seinem Gegenüber Furcht vor der Verwirklichung eines Übels zu erzeugen, um dadurch dessen Entschließungen zu beeinflussen.26 Durch diese, seine Grundaussage präzisierenden Äußerungen bekennt sich somit wohl auch Küpper zu einer an den Täterwillen anknüpfenden Sicht.
3. Eigene Stellungnahme Eine nähere Analyse der Problematik zeigt, dass beide Ansichten weder im Ergebnis noch in ihrer dogmatischen Begründung vollumfänglich zu überzeugen vermögen. Vielmehr liegt ihnen – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – jeweils eine Teilwahrheit zugrunde. Als Ausgangspunkt der Betrachtung wird man die wohl kaum ernsthaft anzuzweifelnde Tatsache heranziehen können, dass die Bestimmungen über Raub und 23 24 25 26
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Tröndle / Fischer § 249 Rn. 5. Tröndle / Fischer § 240 Rn. 31. Küpper BT 1, I. § 3 Rn. 48. Küpper BT 1, I. § 3 Rn. 48.
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5. Abschn.: Folgerungen für die Drohung
räuberische Erpressung nach der Konzeption des Gesetzes neben dem Rechtsgut des Eigentums bzw. des Vermögens auch die freie Willensbetätigung und Willensbildung zu schützen bestimmt sind.27 Damit steht indes – wie die zweitgenannte Auffassung zutreffender Weise betont – keinesfalls fest, dass das Gesetz den Eintritt eines Nötigungs- bzw. zumindest eines entsprechenden Zwischenerfolges zum Inhalt des Tatbestandsmerkmals der Drohung erhebt. Der Schutz eines Rechtsguts wird, wie vor allem die Existenz der Tätigkeits- bzw. Unternehmensdelikte zeigt, vom Gesetz nicht stets auf den Nichteintritt eines bestimmten Verletzungserfolges beschränkt. Vollendungsunrecht kann vielmehr auch dann vorliegen, wenn sich das Verhalten des Täters auf die Vornahme einer bestimmten Handlung beschränkt, ohne dass der Eintritt eines Erfolges in Form einer spezifischen Rechtsgutsverletzung erforderlich wäre. Es ist demnach nicht auszuschließen, dass der Gesetzgeber bei Schaffung der Tatbestände von Raub und räuberischer Erpressung bereits das bloße, die Willensfreiheit des Opfers potentiell beeinträchtigende Tätigwerden des Täters unter Strafe stellen wollte. Unter Zugrundelegung dieses Gedankens erscheint jedenfalls die Annahme nicht zwingend, dass dem Begriff der Drohung im Sinne der genannten Vorschriften ein für dieses Tatbestandsmerkmal charakteristisches Erfolgsmoment innewohnt. Dabei ist allerdings nicht zu verkennen, dass die Anwendung eines Nötigungsmittels regelmäßig einen Erfolg in Gestalt einer tatsächlichen Beeinträchtigung des Opfers durch die Entstehung einer objektiv bestehenden psychischen Zwangslage zur Folge hat. Dies besagt allerdings keineswegs denknotwendig, dass der Nötigungserfolg oder generell eine irgendwie geartete Opferreaktion zum Inhalt des Drohungsmerkmals erhoben sind. Vielmehr sind die Vornahme des auf eine Nötigung gerichteten Verhaltens und die dadurch bewirkte Reaktion des Opfers – der Nötigungserfolg – streng voneinander zu trennen. Auf dieser Grundlage sprechen erhebliche Gründe dafür, den Begriff der Drohung lediglich als auf die Willensfreiheit des Bedrohten abzielendes Tätigwerden des Drohenden in bestimmter Form zu interpretieren. Ein erster Hinweis auf diese Deutungsweise ergibt sich bereits aus dem Wortverständnis des Begriffs der „Drohung“ im allgemeinen Sprachgebrauch. Denn der Ausdruck „Drohung“ wird in der Umgangssprache unserer Zeit allein als bestimmtes Tätigwerden ohne Rücksicht auf den dadurch tatsächlich erzielten Drohungserfolg interpretiert.28 Zudem fällt ins Auge, dass selbst die Vertreter einer streng 27 Vgl. etwa BVerfGE 73, 206, 237; RGSt 3, 262, 263; BGHSt 19, 342, 343; BGH StV 1986, 530; LK-Herdegen § 249 Rn. 1, § 253 Rn. 1; SK-Günther vor § 249 Rn. 1, § 249 Rn. 2, § 253 Rn. 2; MüKo-Sander § 249 Rn. 2; Mitsch BT 2, 1, § 3 Rn. 1; Maurach / Schroeder / Maiwald § 32 Rn. 5, § 42 Rn. 12; Schönke / Schröder-Eser § 249 Rn. 1, § 253 Rn. 1; Otto § 46 Rn. 1; Joecks § 249 Rn. 1; Wessels / Hillenkamp Rn. 317, 705; NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 1, 3 ff., § 253 Rn. 2; ders. BT II § 12 Rn. 3, § 17 Rn. 1; ders. StGB vor § 249 Rn. 2, § 253 Rn. 1; Haft BT I S. 34, 46; Rengier BT I, § 7 Rn. 1; Hagel S. 269 f.; Seesko S. 21, 34, 66; Blesius S. 75; Schünemann JA 1980, 349; Küper JZ 1981, 568, 571; Amelung GA 1982, 381, 385; Seelmann JuS 1986, 201 f., 204; Zaczyk JuS 2004, 750; differenzierend Schroeder NJW 1996, 2627, 2628 f.
A. Der Begriff der Drohung
197
erfolgsorientiert ausgerichteten Deutung des Drohungsbegriffs „Gewalt“ und „Drohung“ gemeinhin als „Nötigungsmittel“, „Raubmittel“, „Zwangsmittel“, „Mittel der Wegnahme“29 oder als „Nötigungshandlung“30 bezeichnen. Auch der Terminus der „Handlung“ wird aber nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ausschließlich zur Kennzeichnung eines bestimmten menschlichen Verhaltens oder einer menschlichen Tätigkeit aufgefasst, welches bzw. welche unabhängig von einem damit gegebenenfalls zusammenhängenden Erfolg in Erscheinung tritt.31 Nichts anderes kann im Ergebnis für den Begriff des „Mittels“ gelten. Das Wort „Mittel“ charakterisiert, bildlich gesprochen, den Weg zu einem gewissen Ziel, nicht aber das Ziel selbst.32 Sofern man die genannte, für das Merkmal der Drohung allgemein anerkannte Terminologie beim Wort nimmt, so wird bereits hieraus deutlich, dass ein Erfolgsmoment dem Drohungsbegriff nicht immanent ist. Die – mögliche – Wirkung der Drohung auf den Opferwillen liegt als deren Erfolg außerhalb des Drohungsbegriffs. Das erkennt de facto auch Kindhäuser selbst an, wenn er ausführt, dass die Handlung des Täters ihre Bedeutung als Drohung nicht verliere, wenn sie vom Opfer nicht ernst genommen werde.33 Das Gesetz fordert indes allein das Vorliegen einer Drohung; weitere Anforderungen werden insoweit – jedenfalls ausdrücklich – nicht aufgestellt, weshalb die Aussage Kindhäusers im Kontext seiner übrigen Ausführungen nicht widerspruchsfrei erscheint. Darüber hinaus kann auch der grammatikalische Zusammenhang, in den das Drohungsmerkmal jedenfalls bei Raub und räuberischer Erpressung eingebettet ist, zur Stützung einer solchen Interpretation herangezogen werden. Denn in deren Rahmen muss der Täter die Eigentums- oder Vermögensschädigung in der Drohungsalternative lediglich „unter Anwendung“ der näher spezifizierten Übelsankündigungen herbeiführen. Hätte der Gesetzgeber aber bereits der Drohung als solcher ein gewisses Erfolgsmoment beigemessen, so läge es nahe, dass er dies durch eine erfolgsorientierte Formulierung des Drohungsmerkmals klargestellt hätte. Gerade eine solche ist der Wendung „unter Anwendung“ aber nicht immanent, denn 28 Vgl. Brockhaus / Wahrig II S. 297: „. . . Ankündigung, jmdm. etwas Böses anzutun (als Mittel, den eigenen Willen durchzusetzen) . . .“; Duden II S. 870: “ . . . drohende Äußerung, Geste o. Ä. . . .“. 29 So etwa LK-Träger / Altvater § 240 Rn. 6, LK-Herdegen § 249 Rn. 1, § 255 Rn. 2; SKGünther vor § 249 Rn. 1, § 249 Rn. 6, 7, 17; Rengier, Maurer-FS S. 1195 f.; Gössel BT 2, § 31 Rn. 16, 42, 44; Lackner / Kühl § 249 Rn. 2, 4, § 255 Rn. 1; MüKo-Sander § 249 Rn. 10; § 255 Rn. 4; NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 1, 5, 7, 23, 25 f., 40, § 249 Rn. 1 ff., 10, 12, § 255 Rn. 1 f.; ders. BT II § 18 Rn. 2; ders. StGB vor § 249 Rn. 1; § 249 Rn. 3; Krey / Hellmann Rn. 185, 191; Schönke / Schröder-Eser § 240 Rn. 3, 9, § 249 Rn. 3; ebenso RGSt 3, 262, 263. 30 So LK-Herdegen § 249 Rn. 3; Schönke / Schröder-Eser § 240 Rn. 12, 15. 31 Vgl. Brockhaus / Wahrig III S. 396: . . . das Handeln, Tat, Tun . . .“; Duden IV S. 1669. 32 Vgl. Duden VI S. 2611: “ . . . das zwischen zwei Dingen Befindliche, dann mit Bezug auf das, was zwischen dem Handelnden u. dem Zweck steht, zur Erreichung des Zweckes dient . . .“; Brockhaus / Wahrig IV S. 699: “ . . . etwas . . . , das man einsetzt, um etwas Bestimmtes zu erreichen, . . . etwas, das zu einem Ziel führt . . .“. 33 NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 24.
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5. Abschn.: Folgerungen für die Drohung
sie impliziert unter Berücksichtigung des allgemeinen Sprachgebrauchs ein rein tätigkeitsbezogenes Merkmal. Eine Drohung wendet nämlich nicht nur an, wer erfolgsgeeignet tatsächlich auf den Willen des Opfers einwirkt, sondern bereits jeder, der eine in diese Richtung zielende Tätigkeit entfaltet, welche nicht notwendig den in Aussicht genommenen Erfolg herbeizuführen geeignet sein muss. Ähnliches gilt indes auch für die Gewaltalternative des Raubes, wenn der Täter die weitergehenden Rechtsgutverletzungen nicht „durch“ Gewalt, sondern „mit“ Gewalt herbeiführen muss, wodurch insoweit ein Gleichlauf der qualifizierten Nötigungsmittel gewährleistet wird. Dass in anderen Vorschriften, wie etwa bei der räuberischen Erpressung, eine abweichende Formulierung gewählt wurde, rechtfertigt insofern keine gegenteiligen Schlüsse. Denn hierdurch sollte der zusätzlich zu fordernde Kausalzusammenhang zwischen Nötigungsmittel und Vermögensschädigung verdeutlicht werden, welcher jedoch streng vom Nötigungsmittel selbst zu trennen ist und keine Rückschlüsse auf dessen inhaltliche Bestimmung zulässt. Der sprachliche Gesamtkontext streitet somit insgesamt ebenfalls für eine nicht erfolgsorientierte Auslegung der Drohung. Aber auch ein Vergleich mit der Strafvorschrift des § 263 StGB über den Betrug spricht für eine solche Sicht. In dessen Anwendungsbereich ist anerkannt, dass das Tatbestandsmerkmal der Täuschung, also die Vorspiegelung falscher oder die Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen, ausschließlich das vom Täter eingesetzte unwertige Mittel zur Willensbeeinflussung kennzeichnet, von dem die Reaktion des Opfers zu unterscheiden ist. Letztere wird durch das Tatbestandsmerkmal der Irrtumserregung und das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Vermögensverfügung umschrieben, welche beide deutlich von der Täuschung abzugrenzen sind.34 Das Nötigungsmittel der Drohung im Rahmen von Raub und räuberischer Erpressung aber weist von seiner Stellung im Tatbestand her eine weitgehende Parallelität zur Täuschung des Betruges auf, die auf eine identische Verwendung hindeutet. Vor allem ist sowohl die Täuschung als auch die Drohung auf eine Willensbeeinflussung des Opfers ausgerichtet, beide Merkmale beschreiben das dazu vom Täter verwendete Mittel näher. Auch normative Gründe, die eine abweichende Behandlung der Drohung rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Solche Gründe ergeben sich insbesondere nicht daraus, dass der Gesetzgeber im Rahmen von Raub und räuberischer Erpressung darauf verzichtet hat, die durch die Anwendung der qualifizierten Nötigungsmittel hervorgerufene Zwangslage eigens zum Tatbestandsmerkmal zu erheben. Denn allein aus der Tatsache, dass auf der einen Seite beim Betrug die spezifische Wirkung auf den Willen des Opfers als Tatbestandsmerkmal ausgestaltet ist, diese auf der anderen Seite beim Raub und der räuberischen Erpressung aber nicht besonders erwähnt wird, folgt nicht, dass im letzteren Falle die – mögliche – Wirkung auf den Bedrohten bereits mit in die 34 Vgl. Schönke / Schröder-Cramer / Perron § 263 Rn. 6, 11 f., 14, 32 f., 54 f.; Lackner / Kühl § 263 Rn. 3, 6, 18, 20 ff.; NK-Kindhäuser § 263 Rn. 43 f., 57 ff., 168 ff., 195 ff.; LKKlaus Tiedemann § 263 Rn. 2 f., 76 f., 96 f.; SK-Hoyer § 263 Rn. 8 f., 62 ff., 85 f.; Küper BT S. 104 f., 111, 220 ff., 278 ff., 379 ff.; Tröndle / Fischer § 263 Rn. 5, 10, 32 f., 40.
A. Der Begriff der Drohung
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grundsätzlich von ihr streng zu trennende Anwendung des auf sie abzielenden Mittels einbezogen werden müsste. Schließlich lässt sich auch – worauf insbesondere Küper und Hillenkamp zutreffend hinweisen – für diese Ansicht der von der Rechtsprechung und der herrschenden Lehre vertretene und hier geteilte Grundsatz heranziehen, dass im Anwendungsbereich des Raubes das angewendete Nötigungsmittel für die Wegnahme nicht tatsächlich objektiv kausal sein muss. Vielmehr genügt es, dass objektiv ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang bestanden hat und das Nötigungsmittel auf subjektiver Ebene vom Täter final zur Herbeiführung der Wegnahme eingesetzt wurde.35 Wenn aber die qualifizierte Nötigung nur subjektiv final zum Zwecke der Wegnahme eingesetzt worden sein muss, so bedarf es zur Vollendung des Raubes schon nicht notwendig der Vollendung der Nötigung in Form der tatsächlichen Herbeiführung einer spezifischen Zwangslage auf Seiten des Opfers. Trotz des bereits betonten Prinzips, dass die Anwendung des Nötigungsmittels als solche strikt von der dadurch erzielten Wirkung zu trennen ist, ergibt sich aus der hier nicht in Frage gestellten Sicht doch jedenfalls mittelbar, dass dem gesamten Nötigungselement des Raubes das Wesen einer Erfolgseignung nicht innewohnt. Denn wenn nach dem Gesagten lediglich der finale Einsatz eines bestimmten Mittels, nicht aber die durch dieses herbeigeführte Zwangslage im Sinne einer Wirkung als tatsächlicher Erfolg zu den Voraussetzungen des Raubes gehört, so lässt sich kaum überzeugend begründen, weshalb dem Raubmittel als solchem ein bestimmtes charakteristisches Erfolgselement innewohnen sollte. Vielmehr ist, da die mögliche Wirkung auf den Willen des Opfers nur vom Täter subjektiv angestrebt sein muss, nicht erforderlich, dass das angewendete Mittel vom Opfer tatsächlich ernst genommen wird und damit im konkreten Fall objektiv eine Erfolgseignung aufweist. Setzt nun aber der Raub keine objektive Erfolgseignung der Drohung voraus, so muss dies in gleichem Maße für die räuberische Erpressung gelten, auch wenn diese abweichend das Bestehen eines tatsächlich gegebenen Kausalzusammenhanges zwischen Nötigungsmittel und Opferreaktion voraussetzt. Denn nach allgemeiner Meinung entspricht das qualifizierte Nötigungsmittel der Drohung im Rahmen der räuberischen Erpressung vollumfänglich dem des Raubes. An dieser Sicht können vor allem angesichts der historischen Entwicklung der räuberischen Erpressung auch keine vernünftigen Zweifel bestehen, denn die Nötigungsmittel 35 BGHSt 4, 210, 211; BGHSt 18, 329, 331; BGH NStZ 1982, 380; BGH StV 1991, 516; BGH StV 1995, 416; BGH NStZ-RR 1997, 298; BGH NStZ-RR 2002, 304, 305; BGH NStZ 2003, 431, 432; BGH NStZ 2004, 152, 153; MüKo-Sander § 249 Rn. 24 f.; Rengier, MaurerFS S. 1195, 1196; ders. BT I, § 7 Rn. 14 ff.; Schönke / Schröder-Eser § 249 Rn. 6 f.; Lackner / Kühl § 249 Rn. 4; Tröndle / Fischer § 249 Rn. 6; LK-Herdegen § 249 Rn. 13 f.; Wessels / Hillenkamp Rn. 322; Otto § 46 Rn. 7 ff.; ders. JZ 2004, 364; Maurach / Schroeder / Maiwald § 35 Rn. 21; Gössel BT 2, § 13 Rn. 31 ff.; Hagel S. 377, 398 f.; Schroth BT S. 170; Küper BT S. 177; ders. JZ 1981, 568, 570 f.; Geilen Jura 1979, 165 f., 221; Schünemann JA 1980, 349, 351 f.; Walter NStZ 2004, 154 f.; a.A. NK-Kindhäuser § 249 Rn. 10 ff.; ders. BT II § 13 Rn. 10 ff.; Arzt / Weber § 17 Rn. 10 f.; Schmidhäuser BT, 8. Rn. 50 f.; Blesius S. 77 ff.; Seelmann JuS 1986, 201, 203 f.
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5. Abschn.: Folgerungen für die Drohung
des zu diesem Zeitpunkt bereits existierenden Raubtatbestandes wurden bei der erstmaligen Etablierung der räuberischen Erpressung bewusst unverändert auf diese übertragen.36 Auf der anderen Seite vermögen die gegen die genannte Auffassung erhobenen Einwände nicht zu überzeugen. Auch das insbesondere von Kindhäuser ins Feld geführte Argument, dass die Nötigungsmittel der Gewalt und der Drohung wertungsmäßig gleichstellt seien und aus diesem Grund übereinstimmend zumindest objektiv geeignet sein müssten, den Adressaten in eine Notstandslage zu bringen,37 streitet nicht für eine gegenteilige Ansicht. Denn Kindhäuser legt seiner Begründung stillschweigend eine bestimmte Sicht des Gewaltmerkmals zugrunde, die in dieser Form nicht per se zu überzeugen vermag und in der Sache zu einem Zirkelschluss führt. Indem er betont, dass die Drohung aufgrund Ihrer wertungsmäßigen Gleichstellung mit der Gewalt in derselben Weise objektiv geeignet sein müsse, eine Notstandslage herbeizuführen, so setzt er voraus, dass das Nötigungsmittel der Gewalt nicht nur typischer Weise eine objektive Erfolgseignung aufweist, sondern eine solche zu den vom Gesetz geforderten Voraussetzungen des Gewaltmerkmals gehört. Ob aber die qualifizierten Nötigungsmittel von Raub und räuberischer Erpressung nach der Gesetzeskonzeption übereinstimmend die objektive Eignung zur Herbeiführung des in Aussicht genommenen Erfolges voraussetzen, ist gerade die hier interessierende Frage, welche durch die pauschale Verweisung auf das Gewaltmerkmal lediglich verschoben, nicht aber einer Lösung zugeführt wird. Nach der hier vertretenen Meinung enthalten beide Nötigungsmittel aus oben genannten Gründen gerade kein Erfolgsmoment im Sinne der tatsächlichen Herbeiführung einer Zwangslage, so dass sich aus einem Wertungsvergleich zwischen Gewalt und Drohung keine Schlüsse gegenteiligen Inhalts herleiten ließen. Selbst wenn man das Tatbestandsmerkmal der Gewalt entscheidend anhand des Merkmals der – körperlichen – Zwangswirkung beim Opfer bestimmt,38 setzt dies gedanklich nicht zwingend das tatsächliche Bestehen einer spezifischen Zwangslage voraus. Ebenso wenig beinhaltet eine solche Deutung zwangsläufig eine jeweils im konkreten Fall bestehende objektive Eignung der Gewalt zur Herbeiführung einer spezifischen Zwangslage des Opfers. Zwar wird durch die Anwendung von Gewalt – je nach Begründungsansatz in aller Regel oder stets – eine Zwangswirkung ausgeübt, dabei handelt es sich aber keineswegs zugleich immer um die einen Raub oder eine räuberische Erpressung regelmäßig kennzeichnende spezifische Zwangslage, aus der heraus sich das Opfer aufgrund der bereits eingetretenen Rechtsgutverletzungen oder aus Angst vor – weiteren – Einbußen an Rechtsgütern dem Willen des Täters fügt. Bereits hieraus wird deutlich, dass die gegenteiligen Erwägungen Kindhäusers zu kurz greifen. Selbst wenn man, entgegen der hier vertretenen Ansicht, dem Drohungsbegriff ein Erfolgsmoment zumisst, so wird man kaum umhin36 37 38
Vgl. oben 3. Abschnitt, B. II. 4., 5., 7., 8. NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 24. Vgl. etwa LK-Herdegen § 249 Rn. 4; sowie unten 7. Abschnitt, B.
A. Der Begriff der Drohung
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kommen, anzunehmen, dass es sich bei der herbeizuführenden Zwangssituation um eine den Raub kennzeichnende, spezifische Zwangslage handeln muss. Wie bereits betont, erschöpfen sich die Nötigungsmittel des Raubes und der räuberischen Erpressung gerade nicht in der Zufügung von Gewalt bzw. in der Inaussichtstellung eines künftigen Übels als solcher, sondern werden vom Drohenden als Mittel zur Willensbeeinflussung und Willenssteuerung des Opfers eingesetzt. Konsequenter Weise müsste sich daraus ergeben, dass auch nur solche Notlagen als die das Erfolgsmoment der Nötigungsmittel kennzeichnenden Zwangssituationen angesehen werden, die diesen den einschlägigen Tatbeständen immanenten Spezifika entsprechen. Zur Herbeiführung derartiger Zwangslagen aber ist auch das Merkmal der Gewalt gerade nicht stets geeignet. Denn genauso wie es möglich ist, dass der Bedrohte die Drohung des Täters im konkreten Fall nicht ernst nimmt, kann es vorkommen, dass das Opfer sich durch zugefügte Schläge in keiner Weise beeindrucken, geschweige denn zu dem vom Schlagenden in Aussicht genommenen Verhalten bestimmen lässt.39 Wenn nun Kindhäuser in diesem Zusammenhang weiter betont, dass das Opfer sowohl durch die Anwendung von Gewalt als auch im Bereich der Drohung in eine Notstandslage versetzt werden und aus diesem Grund die Drohung ernst nehmen müsse, wohingegen das Verhalten des Opfers selbst für den Begriff der Drohung irrelevant sei, so setzt er sich hiermit zudem in einen Widerspruch zu seinen bisherigen Äußerungen. Sofern dies dahingehend aufzufassen sein sollte, dass das Opfer das Verhalten oder die Äußerungen des Täters lediglich als ernst gemeinte Drohung begreift, wohingegen nicht erforderlich sein soll, dass es diese Drohung inhaltlich ernst nimmt, so resultiert hieraus weder zwangsläufig das Bestehen einer Notstandslage40 noch die generelle Anerkennung eines Erfolgsmoments der Drohung in Form einer tatsächlichen Beeinträchtigung der Willensfreiheit. Falls Kindhäuser aber, wofür nach seinen übrigen Ausführungen vieles spricht, den Merkmalen von Gewalt und Drohung ein Erfolgselement beimisst, das, unabhängig von der konkreten Reaktion des Opfers, durch die tatsächliche Herbeiführung einer Notstandslage gekennzeichnet ist, so kann es nicht allein darauf ankommen, dass die Drohung objektiv geeignet ist, eine Zwangslage herbeizuführen. Die objektive Eignung des angewandten Nötigungsmittels, im konkreten Fall eine Zwangslage herbeizuführen, vermag nichts über den tatsächlichen Eintritt einer Notstandslage auszusagen. Gerade Letzteres verlangt Kindhäuser indes augenscheinlich. Und nur aus dieser Sicht ist es auch konsequent, zu fordern, dass das Opfer die angedrohte Gefahr in concreto ernst nimmt und zumindest mit ihrer Realisierung rechnet. Die Ernstnahme der Drohung durch das Opfer und die daraus resultierende Zwangslage ist vielmehr als Zwischenerfolg von der objektiven Erfolgseignung der Drohung zu unterscheiden. Wenn nun aber Kindhäuser unter Verweis auf den von der Drohung als solcher zu unterscheidenden Nötigungserfolg die Irrelevanz des aus der Drohung resultierenden Opferverhaltens hervorhebt, so teilt er damit de facto den Erfolg der Nötigung in einen „unech39 40
Vgl. dazu auch Knodel S. 21. Ebenso Seesko S. 35.
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5. Abschn.: Folgerungen für die Drohung
ten“ Zwischenerfolg, den Eintritt einer Notstandslage, und einen „echten“ Nötigungserfolg in Form der tatsächlichen Reaktion des Opfers auf. Eine solche Differenzierung kann aber zumindest im Bereich des Raubes nicht überzeugen, da insoweit auf der einen Seite eine über bloße Passivität hinausgehende Reaktion des Opfers schon nicht erforderlich ist und auf der anderen Seite eine Aufspaltung der genannten Art verkennt, dass bereits die tatsächliche Herbeiführung einer Notstandslage als spezifischer Erfolg zu qualifizieren und die gegebenenfalls anzutreffende Opferreaktion lediglich unmittelbare Folge dieser vom Täter hervorgerufenen Zwangslage ist, die sich nicht völlig von Letzterer abstrahieren lässt, sondern vielfältige Verzahnungen mit dieser aufweist. Mit demselben Gedankengang lässt sich auch die These Rengiers widerlegen, dass, falls man mit der ganz h. M. annehme, § 249 StGB bezwecke auch den Schutz der freien Willensbildung und Willensbetätigung, missglückte Angriffe auf den Willen nicht als Vollendungsunrecht erfasst werden könnten. Denn es lässt sich kaum rechtfertigen, einen Raub dort zu verneinen, wo es zwar zur Wegnahme kommt, die vom Täter angewandte Gewalt aber keine spezifische Zwangswirkung auf das Opfer zu erzeugen vermochte. Vielmehr streitet gerade die von der h. M. befürwortete und hier geteilte Ansicht, dass im Rahmen des Raubes ein Kausalzusammenhang zwischen Nötigungsmittel und Wegnahme nicht erforderlich ist, sondern ein Finalzusammenhang ausreicht41, für die gegenteilige Ansicht. Auch unter Beachtung der wertungsmäßigen Gleichstellung von Gewalt und Drohung ergibt sich daraus, dass im Bereich der Drohung ebenfalls fehlgeschlagene Einwirkungen auf die Freiheit der Willensbestimmung in bestimmten Konstellationen als Vollendungsunrecht zu erfassen sind. Auch Rengiers weiterer Einwand, die von der ganz überwiegenden Auffassung befürworteten Grundsätze im Bereich der gegen Dritte gerichteten Drohungen führten zwangsläufig zu dem Ergebnis, dass dem Begriff der Drohung ein Erfolgselement innewohne, vermag nicht zu überzeugen. Zwar ist zuzugeben, dass die insoweit häufig gewählte Formulierung, es sei erforderlich, dass das Opfer das für einen Dritten in Aussicht gestellte Übel auch für sich selbst als Übel empfinde42, auf den ersten Blick für die Anerkennung eines Nötigungserfolges zumindest im Drei-Personen-Verhältnis spricht. Diese dürfte aber allein darauf zurückzuführen sein, dass bei ihrer Abfassung die hier thematisierte Problematik schlicht nicht mit in die Überlegungen einbezogen wurde. Eine Entscheidung für die eine oder andere Sicht lässt sich hieraus nicht entnehmen. So wird denn teilweise auch – was vgl. oben Fn. 35. BGHSt 16, 316, 318; BGH NStZ 1985, 408; zustimmend BGHSt 38, 83, 86; Tröndle / Fischer § 240 Rn. 37, § 249 Rn. 5; Schönke / Schröder-Eser § 249 Rn. 5, § 253 Rn. 6; Bohnert JR 1982, 397, 398 f.; Wessels / Hillenkamp Rn. 727; Maurach / Schroeder / Maiwald § 13 Rn. 24; SK-Günther § 249 Rn. 20; Schroth BT S. 170, 215; Gössel BT 2, § 13 Rn. 29; ähnlich Tröndle / Fischer § 255 Rn. 1; vgl. auch Cramer NStZ 1998, 299; ablehnend etwa Reuter-Stracke S. 117 f., 127 f., 149; NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 29 ff., § 249 Rn. 16 f., § 253 Rn. 20; Kindhäuser / Wallau StV 1999, 379 ff.; Mitsch NStZ 1999, 617; Zaczyk JR 1999, 343, 345 f. 41 42
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vorzugswürdig erscheint – die nahezu inhaltsgleiche, aber neutraler gefasste Formel verwendet, es sei zu fordern, dass sich das für einen Dritten in Aussicht gestellte Übel auch für das Opfer als Übel darstelle.43 Bereits nach dieser geringfügigen sprachlichen Modifikation ist das Vorliegen eines Nötigungserfolges nicht mehr zwingende Voraussetzung einer Drohung im Drei-Personenverhältnis. Denn mit der Aussage, dass sich das hinsichtlich eines Dritten angekündigte Übel auch für den Bedrohten als solches darstellen müsse, ist nicht gesagt, dass er dieses tatsächlich ernst nehmen und dadurch in eine spezifische Zwangslage versetzt werden muss, sondern es kann vielmehr auch genügen, dass er die Ankündigung als Inaussichtstellung eines Übels auch für sich selbst versteht.44 Es zeigt sich also, dass das Drohungsmerkmal von Raub und räuberischer Erpressung keinen spezifischen Nötigungserfolg beinhaltet, sondern lediglich das Mittel des Angriffs auf die Willensfreiheit des Opfers kennzeichnet. Damit ist allerdings noch keineswegs gesagt, dass sich das Vorliegen einer Drohung ausschließlich aus der Sicht des Täters bestimmte. Allein die Tatsache, dass ein spezifischer Nötigungserfolg vom Gesetz nicht vorausgesetzt wird, zwingt nicht zur Annahme eines solchen Betrachtungshorizonts. Denn auch wenn nicht zu leugnen ist, dass der Täter subjektiv vorsätzlich und mit dem Willen handeln muss, das qualifizierte Nötigungsmittel zum Zwecke der Wegnahme bzw. einer Handlung, Duldung oder Unterlassung des Opfers mit Vermögensbezug einzusetzen,45 darf nicht übersehen werden, dass es sich bei der Drohung um ein Merkmal des objektiven Tatbestandes handelt.46 Schon nach allgemeinen Grundsätzen hängt aber der tatsächliche Inhalt einer Äußerung nicht entscheidend davon ab, was der Sprecher erklären will, sondern was er unter Zugrundelegung der einschlägigen 43 BGH NStZ 1994, 187; MüKo-Gropp / Sinn § 240 Rn. 82, MüKo-Sander § 249 Rn. 23; Lackner / Kühl § 255 Rn. 1; Schönke / Schröder-Eser § 240 Rn. 11; Maurach / Schroeder / Maiwald § 35 Rn. 18; Krey / Heinrich Rn. 328; Schroth BT S. 111; Moseschus S. 107; Küper Jura 1983, 206, 207; Cramer NStZ 1998, 299, 300; hinsichtlich § 240 StGB ebenso ReuterStracke S. 73; in diesem Sinne schon Rspr. RGSt 3, 317, 318 f.: „. . . es war aber . . . anerkannt, daß, wie beim Raube, so auch bei der Erpressung, und folgeweise bei der Nöthigung unter Umständen auch die Bedrohung eines Dritten den Thatbestand bilden könne, sobald nur das dem Dritten gedrohte Uebel geeignet ist, auch von demjenigen, der genöthigt werden soll, als ein Uebel angesehen zu werden“. 44 Vgl. auch LK-Träger / Altvater: „Voraussetzung ist allerdings, daß der Eintritt des Übels auch den Genötigten empfindlich treffen würde“; ebenso Küper BT S. 106; ähnlich Schünemann JA 1980, 349, 353; weitergehend Wessels / Hillenkamp, Rn. 326, der – aus seiner Sicht heraus konsequent – völlig auf den Täterhorizont abstellt: „. . . , dass das dem Dritten angekündigte Übel nach der Vorstellung des Täters vom Gewahrsamsinhaber als empfindliches eigenes und darin idR von einer Beziehung zum Dritten abhängiges Übel empfunden werden soll“. 45 Der Täter muss also zumindest den Willen haben, das Opfer durch eine den Anschein der Ernstlichkeit erweckende Drohung, deren Verwirklichung von diesem zumindest für möglich gehalten werden soll, in eine nötigungsspezifische Zwangslage zu versetzen; vgl. Küper BT S. 111; LK-Herdegen § 249 Rn. 12; Küpper BT 1, I. § 3 Rn. 48. 46 So auch Mitsch BT 2, 1, § 3 Rn. 32 Fn. 54.
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5. Abschn.: Folgerungen für die Drohung
Sprachregeln tatsächlich erklärt. Insoweit ist Kindhäuser zuzustimmen, wenn er ausführt, das Merkmal der Drohung erschöpfe sich nicht in der bloßen Entäußerung in Richtung des Opfers, sondern setzte auch voraus, dass die Ankündigung des Übels auf der Opferseite als solche ankomme.47 Der Begriff der Drohung weist einen kommunikativen Charakter48 auf, welcher sowohl eine entsprechende Äußerung oder Handlung des Täters als auch die Kenntnisnahme seitens des Opfers beinhaltet.49 Dies widerspricht auch nicht der soeben befürworteten Sicht, dass die Drohung ein spezifisches Erfolgselement nicht enthält. Denn die Drohung im oben dargelegten Sinn muss nach der hier vertretenen Ansicht nur als solche auf der Opferseite ankommen, d. h. dem Opfer als Übelsankündigung zur Kenntnis gelangen, wohingegen nicht erforderlich ist, dass der Bedrohte die Ankündigung tatsächlich ernst nimmt und dadurch in eine spezifische Nötigungslage versetzt wird oder das Entstehen einer solchen aufgrund der objektiven Eignung zur Ernstnahme auch nur möglich ist. Es ist mit anderen Worten nicht zu fordern, dass die Drohung des Täters objektiv geeignet ist, einen Nötigungserfolg herbeizuführen, sondern es muss lediglich objektiv eine – wenn auch objektiv nicht Erfolg versprechende – Drohung vorliegen. Dies wiederum setzt voraus, dass die Übelsankündigung auf Seiten des Opfers als solche ankommt.50 Hierfür aber kann das alleinige Abstellen auf den Täterwillen nicht den geeigneten Maßstab liefern. Die für die Beurteilung des objektiven Tatbestandsmerkmals der Drohung heranzuziehende Tatsachengrundlage wird man vielmehr unter Rückgriff auf die allgemeinen Grundsätze über den maßgeblichen Beurteilungshorizont und die geeignete Maßstabsperson zu treffen haben. Was den sachgerechten Beurteilungszeitpunkt anbelangt, so ließe sich angesichts der Tatsache, dass dem Begriff der Drohung ein Erfolgselement nicht innewohnt, eine Einbeziehung erst ex post gewonnener oder zumindest ex post erreichbarer Erkenntnisse kaum überzeugend begründen. Daher wird man insoweit bei der Prüfung des Drohungsmerkmals einen uneingeschränkten ex-ante-Blickwinkel zu Grunde zu legen haben. Hinsichtlich des anzuwendenden Beurteilungsmaßstabs kommen prinzipiell ein alleiniges Abstellen auf die subjektive Sicht des Opfers, das Heranziehen eines rein objektiven Maßstabes sowie eine Kombination dieser beiden Alternativen in Betracht. Dabei lässt sich indes feststellen, dass ein rein subjektiver Maßstab nicht zu Vgl. NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 24; ebenso Seesko S. 33. So auch NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 23. 49 Ebenso BGH Wistra 1994, 225; BGH NStZ 2005, 41; Schönke / Schröder-Eser vor §§ 234 ff. Rn. 32. 50 Ähnlich Geilen Jura 1979, 221; in diesem Sinne auch Küpper, BT 1, I. § 3 Rn. 48: „Die Ernsthaftigkeit der Drohung bestimmt sich aus der Sicht des Opfers.“, und, allerdings mit einer Betonung des Erfolgsmoments im Sinne einer zumindest möglichen Gefährdung der Motivationsfreiheit des Opfers, wohl auch Lackner / Kühl § 240 Rn. 12: “ . . . es kommt nur darauf an, ob sie objektiv als ernstlich erscheint, d. h. beim Bedrohten zumindest Zweifel zu erwecken geeignet ist, ob sie verwirklicht werden soll . . .“. 47 48
B. Der Begriff der Gefahr
205
überzeugen vermag. Bei der Anwendung eines solchen bestünde die Gefahr, dass es zu einer ungerechtfertigten Ausdehnung des Drohungsmerkmals kommen könnte, wenn etwa überängstliche oder besonders empfindsame Menschen bereits ein objektiv nicht strafwürdiges Täterverhalten als Übelankündigung qualifizieren. Wenn auch nicht zu übersehen ist, dass insoweit eine Korrektur auf der Ebene des subjektiven Tatbestandes möglich wäre, so scheint es dennoch nicht tragbar, solche Verhaltensweisen des Täters als objektives Unrecht zu qualifizierten. Das Vorliegen einer Drohung muss in solchen Fällen vielmehr bereits objektiv verneint werden. Auf der anderen Seite dürfen besondere Persönlichkeitsstrukturen und individuelle Empfindungen des Opfers nicht völlig unberücksichtigt bleiben. Denn andernfalls drohte eine nicht hinnehmbare Verkürzung des Strafrechtsschutzes für sensible oder weniger willensstarke Personen, wie insbesondere etwa Kinder oder ältere Menschen. Es würde gerade der Täter privilegiert, der sich – bewusst oder unbewusst – an solche besonders empfindsamen und leicht zu beeindruckenden, also in besonderem Maße schutzwürdige Menschen wendet. Von den verschiedenen in Betracht kommenden und nach dem eben Ausgeführten vorzugswürdigen, auf beide Aspekte gleichermaßen abstellenden Perspektiven dürfte daher allein diejenige eine adäquate Beurteilungsgrundlage zu liefern im Stande sein, bei der auf das Urteil eines verständigen Menschen aus dem Verkehrskreis des Opfers abgestellt wird, wobei auch dessen gegebenenfalls existierende Spezialkenntnisse zu berücksichtigen sind.51 Sie ermöglicht einen sachgerechten Interessenausgleich, indem auf der einen Seite ein weitgehender, die Individualität des Opfers berücksichtigender Schutz vor Beeinträchtigungen der Willensfreiheit gewährleistet wird, während auf der anderen Seite Auswüchse zuungunsten des Täters vermieden werden. Auf diese Weise werden auch Diskrepanzen zum Nötigungsmittel der Gewalt vermieden, bei dem ebenfalls in ähnlicher Weise objektive und subjektive Gesichtspunkte verknüpft werden.52 Nach alledem lässt sich zusammenfassend festhalten, dass eine Drohung dann anzunehmen ist, wenn der Täter aus der ex-ante-Sicht eines verständigen Menschen aus dem Verkehrskreis des Opfers, der auch über eventuelle spezielle Kenntnisse des Opfers verfügt, ausdrücklich oder schlüssig die Zufügung eines künftigen Übels ankündigt, dessen Eintritt von seinem Einfluss abhängen und das verwirklicht werden soll, wenn der Adressat sich dem Willen des Täters nicht beugt.
B. Der Begriff der Gefahr in den §§ 249, 255 StGB Auf der Basis dieses soeben herausgearbeiteten Drohungsverständnisses ist es nun auch möglich, den Gefahrbegriff der §§ 249, 255 StGB abschließend inhaltlich zu bestimmen. 51 52
Ähnlich wohl auch BGHR StGB § 255 Drohung 11. Vgl. LK-Träger / Altvater § 240 Rn. 57.
206
5. Abschn.: Folgerungen für die Drohung
Zunächst gilt es, im Rahmen der am Beginn einer jeden Auslegung stehenden Wortlautanalyse die für die weitere Untersuchung entscheidende Frage zu beantworten, in welcher Weise der vom Gesetz verwendete Ausdruck der Drohung „mit“ einer Gefahr zu verstehen ist. Prinzipiell kommen insoweit zwei Deutungsmöglichkeiten in Betracht. Zum einen könnte der Begriff „Drohung mit“ dahingehend auszulegen sein, dass der Täter das Opfer durch die Drohung in eine, wenn auch möglicherweise nur vorgespiegelte, Gefahrenlage versetzen muss. Danach wäre die (Schein-)Gefahr nicht Inhalt, sondern Folge der Drohung. Zum anderen könnte „Drohung mit“ bedeuten, dass der Inhalt der Drohung auf die Ankündigung einer Gefahr beschränkt ist. Im ersten Fall stellte sich das Merkmal der Gefahr mit anderen Worten als – wenn auch möglicherweise nur in der Vorstellung des Opfers bestehender – Zustand dar, während im zweiten Fall der Drohungsinhalt allenfalls hypothetisch daraufhin überprüft werden könnte, ob er sich im Falle seine Realisierung als Gefahr darstellte. Hieraus erhellt, dass der jeweilige Ausgangspunkt einer inhaltlichen Auslegung des Gefahrmerkmals in beiden Varianten ein gänzlich unterschiedlicher ist. Bereits eine reine Wortlautinterpretation deutet indes auf die zweitgenannte Lesart hin. Denn schon nach dem allgemeinen Sprachgebrauch kennzeichnet die Drohung „mit“ etwas den Drohungsinhalt. Hätte dagegen die Folge der Drohung näher beschrieben werden sollen, wäre hierfür aller Voraussicht nach eine Wendung wie „Drohung mittels Erzeugung einer Gefahr“ oder dergleichen verwendet worden. Endgültig bestätigt wird diese Interpretation aber durch einen Vergleich mit der mit beiden hier untersuchten Bestimmungen in engem Zusammenhang stehenden Vorschrift des § 253 StGB über die einfache Erpressung. Denn in deren Rahmen muss der Täter „mit einem empfindlichen Übel“ drohen. Ein empfindliches Übel kann aber bereits sprachlogisch keine durch die Drohung in Form einer Folge hervorgerufene objektive Zwangslage sein. Vielmehr kann das Übelsmerkmal ausschließlich als Präzisierung des Inhalts der Drohung angesehen werden.53 Da nun aber die „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ lediglich eine in der potentiellen Nötigungsintensität qualitativ erhöhte Sonderform der „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ darstellt, lassen sich keine Gründe anführen, die eine abweichende Verwendung des Begriffs der Drohung „mit“ einer Gefahr rechtfertigen könnten. Darüber hinaus spricht auch der hier für zutreffend erachtete Bedeutungsgehalt der Drohung für eine solche Lösung, nach dem die Übelsankündigung gerade keine spezifische Zwangswirkung zur Folge haben muss, sondern lediglich das inten-
53 Diese Erkenntnis wird zusätzlich dadurch gestützt, dass die unmittelbare Vorgängerregelung des heutigen Erpressungstatbestandes, § 234 PrStGB 1851, in der Drohungsalternative nicht die „Drohung mit einem empfindlichen Übel“, sondern die „(Drohung) . . . mit der Verübung eines Verbrechens oder Vergehens . . .“ pönalisierte; vgl. dazu oben 3. Abschnitt Fn. 219 sowie NK-Kindhäuser § 253 Rn. 1 m. w. N.; Maurach / Schroeder / Maiwald § 42 Rn. 3; Tausch S. 58, 70, 78.
B. Der Begriff der Gefahr
207
tional eingesetzte Mittel der Willensbeeinflussung beschreibt. Schließlich weisen auch die historischen Vorgaben deutlich in diese Richtung.54 Wenn nun aber das Gefahrmerkmal nach zutreffender Ansicht den Inhalt der Drohungserklärung näher beschreibt55, so ergeben sich hieraus erhebliche Bedenken gegen eine Übertragbarkeit nicht nur der zu den Gefährdungsdelikten, sondern vor allem auch der zu den Notstandsvorschriften entwickelten Gefahrbegriffe. Denn bei der Herausarbeitung der maßgeblichen Definitionen dieser Bestimmungen hat sich im Ergebnis übereinstimmend die Tatsache entscheidend ausgewirkt, dass das Gesetz in beiden Fällen einen objektiv bestehenden Zustand umschreibt. Demgegenüber kann es im Rahmen von Raub und räuberischer Erpressung nicht um die Beurteilung eines in der äußeren Realität erfahrbaren Zustandes gehen, da die Gefahr im Rahmen der qualifizierten Nötigungsmittel der §§ 249, 255 StGB nach dem eben Gesagten ausschließlich den Inhalt einer menschlichen Äußerung konkretisiert. Insoweit könnte – worauf bereits hingewiesen wurde – allenfalls die hypothetische Fragestellung als entscheidungsrelevant anzusehen sein, ob die vom Täter angedrohte Sachlage im Falle ihrer Realisierung als objektiver Gefahrzustand zu qualifizieren wäre. Diese Bedenken werden weiter verstärkt, wenn man sich die unterschiedlichen Gesetzeszwecke vergegenwärtigt, die der Gefahrbegriff in den verschiedenen Vorschriften erfüllt. Bei den Gefährdungsdelikten geht es primär um die Beantwortung der Frage, ab welchem Zeitpunkt sich eine Gefahrensituation derart zugespitzt hat, dass hieraus unter dem Aspekt des Rechtsgüterschutzes eine der tatsächlichen Rechtsgutsverletzung vergleichbare Bedrohung des geschützten Rechtsgutsobjekts entsteht, die im Interesse der Allgemeinheit eine Pönalisierung erfordert. Im Rahmen der Notstandsvorschriften hingegen bildet das Gefahrmerkmal die Grundlage für eine Rechtfertigung bzw. Entschuldigung des Täters, die ihm im ersten Fall auch Eingriffe in Rechtsgüter unbeteiligter Dritter erlaubt. Entscheidend ist mit anderen Worten, welche Beschaffenheit eine für den Täter bestehende Zwangslage aufweisen muss, um diesen derart zu beeinträchtigen, dass ihm von der Rechtsordnung – unter Beachtung des Prinzips des überwiegenden Interesses – kein eine Bestrafung erfordernder Unwertvorwurf mehr zur Last gelegt werden kann. Wiederum anders gestaltet sich die Sachlage im Bereich der qualifizierten Nötigungsmittel. In diesem Zusammenhang kennzeichnet die Gefahr das vom Täter zum Zwecke der Willensbeeinflussung eingesetzte unwertige Mittel. Im Zusammenspiel mit der ergänzend geforderten „Gegenwärtigkeit“ soll der Gefahrbegriff eine Vorgehensweise des Täters beschreiben, die aufgrund ihrer erhöhten potentiellen Nötigungsintensität eine Bestrafung als Verbrechen rechtfertigt. Vgl. oben 3. Abschnitt, B. I., II. So neben Mitsch, BT 2, 1, § 3 Rn. 34, auch Lask S. 142; Seelmann JuS 1986, 201, 203; Küper Jura 1983, 206, 207; Geilen Jura 1979, 109, 110; Schmidt JuS 1994, 891, 892; a.A. noch Geilen JZ 1970, 521, 526 sowie SK-Günther § 249 Rn. 19; Klesczewski, GA 2000, 257, 263 f. und offenbar auch Cramer NStZ 1998, 299: „. . . das eingetretene empfindliche Übel . . .“. 54 55
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5. Abschn.: Folgerungen für die Drohung
Angesichts der gravierenden Unterschiede der zu beurteilenden Sachverhalte ist es somit weder möglich noch angebracht, mit der ganz überwiegenden Ansicht die zu den Notstandsvorschriften entwickelte Gefahrdefinition unverändert auf die Tatbestände von Raub und räuberischer Erpressung zu übertragen – eine Sicht, die, wie bereits dargelegt, auch der Gesetzgeber zu teilen scheint.56 Die Bedeutung des Gefahrmerkmals der §§ 249, 255 StGB ist vielmehr eigenständig normativ, vor allem unter Berücksichtigung teleologischer Gesichtspunkte, zu ermitteln. Erste Anhaltspunkte für das zutreffende spezifische Gefahrverständnis ergeben sich dabei bereits aus den historischen Vorgaben. Denn die Entstehung der noch heute gültigen Fassung der genannten Vorschriften resultierte maßgeblich aus dem Gedanken, dass die Drohung des Täters in diesem Zusammenhang in einer Form erfolgen müsse, die hinsichtlich der potentiellen Nötigungswirkung auf das Opfer eine Gleichstellung mit dem Gewaltmerkmal rechtfertige. Diese historisch gewachsene Grundwertung lässt sich indes auch in der heutigen Zeit unter Einbeziehung systematischer und teleologischer Gesichtspunkte verifizieren. Die Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben steht als gleichberechtigte Alternative neben dem Tatbestandsmerkmal der Gewalt. Hieraus wird man ableiten können und müssen, dass die Drohung vor allem auch hinsichtlich des durch sie verkörperten Unwertgehalts der Gewalt entsprechen soll. Im Falle der Gewalt aber beabsichtigt der Täter entweder den entgegenstehenden Willen des Opfers ganz auszuschalten oder diesen mittels aktueller Einwirkungen zu überwinden.57 Demgemäß wird regelmäßig, aber eben auch nur dann, eine Vergleichbarkeit gegeben sein, wenn das vom Täter in Aussicht gestellte Übel eine besonders gravierende und intensive Beeinträchtigung der Interessen des Opfers verkörpert. Hierfür müssen neben der Bedeutung der potentiell betroffenen Rechtsgutsobjekte und des Grades der denkbaren Beeinträchtigung vor allem auch die dem Opfer verbleibenden Handlungsmöglichkeiten herangezogen werden. Denn sofern dem Opfer mehrere Handlungsalternativen zur Wahl stehen, wird es – jedenfalls bei generalisierter Betrachtung – in aller Regel nicht in eine der Gewalt vergleichbare Zwangslage versetzt werden können. Es ist vielmehr zu fordern, dass die Drohung inhaltlich potentiell geeignet ist, das Opfer unausweichlich vor die Alternative zu stellen, sich entweder dem Verlangen des Täters zu beugen oder das in Aussicht gestellte Übel hinzunehmen.58 Demgemäß lässt sich auch von einem Bedingungselement der Drohung sprechen.59 Insofern kann Küper nicht zugestimmt werden, wenn er ausführt, es sei unerheblich, ob das Opfer der Drohung die angedrohte Gefahr nur durch das vom Täter verlangte Verhalten oder auch auf andere Weise beseitigen Vgl. oben 4. Abschnitt Fn. 157. Vgl. unten 7. Abschnitt, B. 58 In diesem Sinne auch RGSt 34, 15, 18; vgl. hierzu zudem die Ausführungen von Schmidt, JuS 1994, 891, 892, und Zaczyk, JR 1999, 343, 344 f., zur Gegenwärtigkeit der Gefahr. 59 Rengier BT II, § 23 Rn. 40; vgl. dazu Hoyer GA 1997, 451, 454 f.; ablehnend Herzberg GA 1998, 211, 212. 56 57
B. Der Begriff der Gefahr
209
könne, da das Gesetz insoweit keine besonderen Anforderungen aufstelle.60 Richtig an dieser Aussage ist zwar, dass der Tatbestand insoweit keine ausdrückliche Beschränkung enthält; aus den genannten teleologischen Gesichtspunkten wird man aber eine solche Einschränkung als dem Gesetz immanent ansehen müssen.61 Wie Küper an anderer Stelle selbst erkennt, impliziert der Verhaltenstypus der „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ faktisch wie teleologisch die stärksten Formen und wirkungsvollsten Methoden der Willensbeeinflussung, die sich denken lassen.62 Für eine solche, erklärtermaßen zu fordernde, nachhaltige potentielle Zwangswirkung ist aber immer dann kein Raum, wenn dem Opfer verschiedene Handlungsalternativen verbleiben. Gegen die hier vertretene Forderung nach einer wertungsmäßigen Gleichstellung von Gewalt und Drohung lässt sich auch nicht etwa einwenden, eine solche sei nach der Gesetzeskonzeption bereits deshalb nicht gewollt, weil mit der Anwendung von Gewalt typischerweise tatsächliche, möglicherweise erhebliche Verletzungen der körperlichen Integrität verbunden seien, weswegen die Gewalt bereits per se nicht mit der Drohung verglichen werden könne. Denn diese – wie nicht zu leugnen ist – regelmäßig im Zusammenhang mit der Anwendung von Gewalt auftretende Folge wird in ihrem Unwertgehalt weder durch die Bestimmung über den Raub noch durch diejenige über die räuberische Erpressung als solche erfasst. Denn beide Vorschriften schützen zumindest als Grundtatbestand neben dem Eigentum bzw. dem Vermögen übereinstimmend und ausschließlich die freie Willensbetätigung und Willensbildung; die körperliche Integrität wird hingegen nicht zum Schutzgut erhoben.63 Grund für die hohe Strafandrohung des § 249 StGB ist, um es in Seelmanns Worten auszudrücken, nicht die objektive Gefahr für, geschweige denn die Schädigung von Leib oder Leben. Sie resultiert vielmehr aus der die Willensfreiheit beeinträchtigende Kombination von Nötigung und Wegnahme.64 Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit können daher allenfalls durch die Annahme einer tateinheitlichen Verwirklichung von Körperverletzungs- oder Tötungsdelikten oder durch die Raubqualifikationen erfasst werden. Inhaltliche Abweichungen der qualifizierten Nötigungsmittel der Gewalt und der Drohung können sich auf dieser Grundlage indes nicht ergeben. Die genannten Ansichten zur Gefahrdefinition bei den §§ 249, 255 StGB mit Ausnahme derjenigen Mitschs können daher schon deshalb nicht überzeugen, weil sie den besonderen Kontext, in dem die Gefahr bei diesen Vorschriften steht, unzureichend berücksichtigen. Spezifisch gegen die Ansicht Kindhäusers lässt sich neben dem eben Gesagten zudem einwenden, dass er das von ihm selbst grundsätzKüper BT S. 115. Vgl. dazu auch unten C. I. 62 Küper JuS 1976, 645, 646. 63 Vgl. oben Fn. 27; zumindest teilweise anderer Ansicht allerdings Arzt / Weber, § 17 Rn. 1 f. und Klesczewski, GA 2000, 257, 264 f. 64 Seelmann JuS 1986, 201, 204. 60 61
14 Blanke
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5. Abschn.: Folgerungen für die Drohung
lich erkannte Erfordernis einer strikten Trennung von Nötigungshandlung und Nötigungserfolg65 nicht konsequent beachtet. Indem er fordert, dass die Bejahung einer Gefahr stets die Herbeiführung einer nach allgemeinen Kriterien zu beurteilenden Notstandslage voraussetze, erhebt er einen aus der Drohung resultierenden Zwischenerfolg zu deren Voraussetzung. Zudem erscheint bereits seine Annahme, die §§ 34, 35 StGB enthielten nur typisierte Zwangslagen, die eine tatsächliche Beeinträchtigung des Betroffenen im Einzelfall nicht voraussetzten, jedenfalls angesichts der in Frage stehenden Übertragbarkeit auf das Nötigungsmittel der „Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben“ äußerst zweifelhaft. Denn sollte man, wie Kindhäuser dies tut, dem Drohungsmerkmal ein spezifisches Erfolgselement beimessen, so kann angesichts des Nötigungskontextes eine pauschale Betrachtung unter Heranziehung eines generellen Maßstabes keine Zustimmung finden. Vielmehr wird man bei stringenter Handhabung einen individualisierten, auf das konkrete Nötigungsopfer abstellenden Prüfungshorizont heranzuziehen haben. Damit bleibt zunächst festzuhalten, dass sich die Bestimmung des Gefahrmerkmals von Raub und räuberischer Erpressung auf der einen Seite maßgeblich an dem Nötigungszusammenhang auszurichten hat, in dem es nach der gesetzlichen Gefahr“ begnügt. Angesichts dieser beiden zu beachtenden, sich in gewisser Weise konterkarierenden Hauptkriterien lässt sich der Schluss ziehen, dass zwar einerseits die nur vage Möglichkeit eines Schadenseintritts die erforderliche potentielle Nötigungsintensität nicht erreicht, andererseits aber die Gewissheit eines Schadenseintritts im Falle der Verwirklichung der Drohung nicht zwingend erforderlich ist. Auch insoweit besteht ein erheblicher Unterschied zu den Notstandsvorschriften, da es in deren Anwendungsbereich, vor allem wegen der weiteren vorhandenen Korrektive, keinen Bedenken begegnet, eine Gefahr auch bei geringergradigeren Schadenswahrscheinlichkeiten anzunehmen. Wägt man nun die beiden als maßgeblich herausgearbeiteten Faktoren unter angemessener Gewichtung gegeneinander ab, so ergibt sich, dass von einer nötigungsrelevanten Gefahr im Sinne der §§ 249, 255 StGB immer dann auszugehen ist, wenn der Täter die nahe liegende Möglichkeit eines Schadenseintritts in Aussicht stellt. Eine Drohung mit einer Gefahr liegt mit anderen Worten immer dann vor, wenn der Täter ein Übel in Aussicht stellt, das mit der nahe liegenden Möglichkeit eines Schadenseintritts an einem Rechtsgut verbunden ist. Dabei wird man auch für die Beantwortung der Frage, ob eine solche Ankündigung nach den konkreten Umständen des Einzelfalles zu bejahen ist, wie schon für den Bereich der Drohung als solcher, die ex-ante-Sicht eines verständigen Menschen aus dem Verkehrskreis des Opfers, der auch über eventuelle spezielle Kenntnisse des Opfers verfügt, heranziehen können. Wesentliche Abweichungen zu dem von der überwiegenden Ansicht – jedenfalls im Bereich der Drohung mit einem 65 Vgl. NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 24: „Ohne Bedeutung für den tatbestandsmäßigen Erfolg einer Drohung ist die Reaktion des Opfers auf die . . . Übelsankündigung; die Reaktion im Sinne des Täters ist vielmehr der Nötigungserfolg“.
C. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr
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empfindlichen Übel – vertretenen Grundsatz, wonach ein Nachteil von solcher Erheblichkeit zu fordern ist, dass seine Ankündigung geeignet erscheint, den Bedrohten im Sinne des Täterverlangens zu motivieren, es sei denn, dass vom Bedrohten in seiner Lage erwartet werden kann, dass er der Drohung in besonnener Selbstbehauptung standhält66, liegen hierin nicht begründet. Da es somit nicht auf die rein objektiven Gegebenheiten ankommt, kann auch eine scheinbare Gefährdung von Leib oder Leben als Gefahr im Sinne des § 255 StGB anzusehen sein.67
C. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr in den §§ 249, 255 StGB Steht damit nach dem Vorstehenden der für den Bereich der §§ 249, 255 StGB zutreffende Gefahrbegriff fest, bleibt abschließend zu klären, wann eine so bestimmte Gefahr als gegenwärtig im Sinne des Gesetzes anzusehen ist.
I. Eigene Lösung Nimmt man bei der Ermittlung der zutreffenden Auslegungsvariante des Gegenwärtigkeitsmerkmals in diesem Bereich zunächst methodisch korrekt seinen Ausgangspunkt in einer reinen Wortlautinterpretation, so ergeben sich bereits in deren Rahmen erhebliche Zweifel an der extensiven Auslegung der herrschenden Ansicht in Rechtsprechung und Literatur. Dabei können dieselben Überlegungen fruchtbar gemacht werden, die bereits mit Blick auf die Gegenwärtigkeit der Notstandsgefahr leitend gewesen sind.68 Denn allein die Tatsache, dass es dort um die Konkretisierung eines äußerlich erfahrbaren Zustandes als Voraussetzung für eine Rechtfertigung oder Entschuldigung des Täters, hier aber um die Spezifizierung des Drohungsinhalts als intentionalen Angriff des Täters auf die Willensfreiheit des Opfers geht, ändert nichts daran, dass im Übrigen ein weitgehend identischer Wortlaut zur Beurteilung steht. Sachliche Gründe für eine abweichende Deutung des Wortsinnes ergeben sich hieraus nicht. Kommt demnach dem Begriff „gegenwärtig“ – wie bereits ausgeführt – sowohl im allgemeinen Sprachgebrauch als auch in der juristischen Fachsprache eine temporär eingrenzende Funktion zu, so legt bereits die Wortlautanalyse im Ergebnis den Schluss nahe, dass unter den Begriff 66 So etwa BGHSt 23, 195, 201; BGH St 31, 195, 201; BGHSt 32, 165, 174 f.; BGH NStZ 1992, 278; BGH NJW 1999, 800, 801; vgl. dazu MüKo-Gropp / Sinn § 240 Rn. 74 f. m. w. N.; a.A. noch die frühere Rechtsprechung des BGH, wie etwa BGH NJW 1976, 760 f., und Teile der heutigen Literatur, wie etwa MüKo-Sander § 255 Rn. 7: “ . . . vom Täter für möglich gehaltene Sicht des Erpressungsopfers . . .“. 67 Ebenso Kindhäuser / Wallau StV 1999, 379, 380. 68 Vgl. oben 4. Abschnitt, C. V. 4.
14*
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5. Abschn.: Folgerungen für die Drohung
der „gegenwärtigen Gefahr“ zwar die akute Gefahr und die Dauergefahr im engeren Sinne, nicht aber die Dauergefahr im weiteren Sinne fällt. Hieran vermag auch das in Rechtsprechung und Literatur häufig genannte Argument nichts zu ändern, der wirksame Schutz von Erpressungsopfern erfordere es, den Begriff der Gegenwärtigkeit angedrohter Gefahren nicht zu eng zu verstehen. Es bedürfe vielmehr einer begrifflichen Anpassung an den Sinn der §§ 249, 255 StGB, um bestimmte Fälle der Erpressung wegen der vom Täter gezielt eingesetzten wirklichen oder vermeintlichen Gefährlichkeit der Drohung unter erhöhte Strafe zu stellen. Denn eine am Opferschutz orientierte Teleologie allein kann Gesetzesbegriffe nicht ändern oder ersetzen, sie weit oder eng machen. Methodisch korrekt kann schon wegen Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB nur ein Vorgehen sein, das im Rahmen der Strafrechtsdogmatik üblicherweise als Auslegung der Tatbestandsmerkmale bezeichnet wird.69 Bei einer Auslegung aber ist stets auch der Wortlaut als äußerste, nicht überwindbare Grenze zu beachten. Dagegen ist es sowohl wegen des fragmentarischen Charakters des Strafrechts als auch nach dem Grundgedanken der Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB nicht zulässig, allein von der Strafwürdigkeit eines Verhaltens auf dessen Strafbarkeit zu schließen.70 Für diese Sichtweise spricht zudem insbesondere die Erkenntnis, dass tatbestandsbegründende Verbote und Gebote ausschließlich als Verhaltensregeln, als Bestimmungsnormen, zu deuten sind.71 Der potentielle Adressat muss unter Berücksichtigung des Wortlautes klar erkennen können, welche Verhaltensweisen ihm nach der einschlägigen Vorschrift untersagt sind und welche nicht. Dieser Funktion kann eine Strafbestimmung immer dann nicht mehr gerecht werden, wenn sie über ihren Wortlaut hinaus ausgedehnt wird. Schon aus diesem Grund trägt auch die insbesondere von Hillenkamp72 angeführte Überlegung nicht, die Bedenken, die im Rahmen der §§ 32, 34 StGB gegen eine Ausweitung des Begriffs der Gegenwärtigkeit auch auf den Bereich der Dauergefahr im weiteren Sinne bestünden, träten im Bereich der §§ 249, 255 StGB zurück, weil es insofern um die Beurteilung der Freiheitsbeeinträchtigung des Betroffenen, nicht aber um seine Eingriffsbefugnis gegenüber Dritten gehe. Die Erkenntnis, dass das Tatbestandsmerkmal der gegenwärtigen Gefahr allein die akute Gefahr und die Dauergefahr im engeren Sinne, nicht aber die Dauergefahr im weiteren Sinne erfasst, lässt sich indes auch durch die Heranziehung rechtshistorischer und teleologischer Erkenntnisse bestätigen. Denn bei der Auswertung der historischen Vorgaben wurde vor allem deutlich, dass zu dem Zeitpunkt, in dem das Tatbestandsmerkmal der „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr“ in die Tatbestände von Raub und räuberischer Erpressung aufgenommen wurde, sowohl der Gesetzgeber als auch die einhellige strafrechtliche Literatur unter „Ge69 70 71 72
Vgl. Zaczyk JR 1999, 343, 344. Joerden JR 1999, 120; ähnlich Paeffgen, Grünwald-FS S. 433, 459 f. Lackner / Kühl vor § 13 Rn. 5, vor § 32 Rn. 5. Vgl. oben 2. Abschnitt Fn. 47.
C. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr
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genwärtigkeit“ übereinstimmend die „Gefahr unverzüglicher Verwirklichung“ oder die „Gefahr augenblicklicher Vollziehung“ verstanden. Eine gegenwärtige Gefahr wurde demgemäß immer dann angenommen, wenn der Bedrohte nach dem Inhalt der Drohung „eben jetzt“ und nicht erst „bei irgend einer Gelegenheit“ gefährlich behandelt werden sollte. Das Gegenwärtigkeitsmerkmal war somit auch vom Gesetzgeber rein zeitlich konzipiert, wobei die Gegenwärtigkeit nicht auf die Gefahr als solche, sondern auf die zeitliche Nähe des Schadenseintritts bezogen war. Dies lässt sich vor allem dann gut nachvollziehen, wenn man sich vor Augen hält, dass – wie oben bereits ausführlich dargelegt wurde – die Aufnahme des Tatbestandsmerkmals der Gegenwärtigkeit aus der Entwicklung des Raubtatbestandes im deutschen Sprachraum resultierte. Der gemeinrechtliche Tatbestand des Raubes kannte zunächst ausschließlich das qualifizierte Nötigungsmittel der Gewalt gegen eine Person. Mit der erst später erfolgten Aufnahme auch der Drohung setzte sich zugleich die Auffassung durch, dass nur solche Drohungen einen Raub konstituieren könnten, die in ihrer potentiellen Nötigungsintensität der Gewalt gleichzusetzen seien. Daher wurde das Drohungsmerkmal auf der einen Seite auf die Drohung mit Gefahren für Leib oder Leben und auf der anderen Seite auf die Ankündigung gegenwärtiger Gefahren beschränkt. Mit dem Begriff der Gegenwärtigkeit sollte dabei zum Ausdruck gebracht werden, dass der Schadenseintritt nach der Täterankündigung so unmittelbar bevorstehen müsse, dass das Opfer vor die unverzüglich zu treffende Entscheidung gestellt werde, entweder sogleich dem Täterverlangen nachzukommen oder alternativ das Risiko einer alsbaldigen Schädigung hinzunehmen.73 Diese Sicht, dass das Gegenwärtigkeitsmerkmal den möglichen Eintritt der in Aussicht gestellten Schädigung zeitlich begrenze, war aber auch in der Zeit nach Erlass des Reichsstrafgesetzbuches 1871 herrschend.74 Obwohl insbesondere die Vertreter einer extensiven Auslegung teleologische Gesichtspunkte ins Feld führen, kann bei richtiger Betrachtung schließlich auch die Auslegung der Vorschrift aus ihrem Sinn und Zweck heraus zu keinem anderen Vgl. oben 3. Abschnitt, B. I. 4., 5., 6., II. 5., 7., 8. Vgl. etwa Binding BT 1 S. 313: „. . .Gefahr . . . , den Inhalt der Drohung sofort zu verwirklichen, . . .“; Buri, Beilage GS 29, 3, 26: „Eine angedrohte gegenwärtige Gefahr wäre . . . vorhanden, wenn sich der Bedrohte sofort mit der Drohung in diese Gefahr versetzt fühlt.“; VD VI-Frank 2. § 2 II. 1. (S. 126): „Gegenwärtig ist die Gefahr bei Ankündigung der sofortigen Verwirklichung des angedrohten Übels.“; Hälschner II S. 370: „Die Gefahr muß eine gegenwärtige, eine solche sein, die den Angriff auf Leib und Leben sofort erwarten läßt, weil eine auf die Zukunft sich beziehende Drohung die begründete Aussicht offen läßt, die Sache, ohne eine Gefahr besorgen zu müssen, gegen Diebstahl schützen zu können, und weil darum eine derartige Drohung, auch wenn sie sich als wirksam erweisen sollte, nicht geeignet ist, der räuberischen Gewalt gleichgestellt zu werden.“; Holtzendorffs Handbuch III-Merkel S. 718: „Die Drohung muß die sofortige Verletzung der bedrohten Güter in Aussicht stellen.“; Olshausen § 255 N. 3: „Hierunter fallen, außer den Drohungen mit sofortiger Ermordung . . . auch die Bedrohungen mit ,Todtschlag‘, falls dessen Ausführung unmittelbar zu gewärtigen ist . . .“; Villnow S. 22: „Unter die Vorschrift gehört also namentlich außer der Drohung mit sofortigem Mord auch die Bedrohung mit Todtschlag. Ausgeschlossen dagegen ist die Drohung mit zukünftigem Mord“. 73 74
214
5. Abschn.: Folgerungen für die Drohung
Ergebnis gelangen. Betrachtet man zunächst den besonderen Unwertgehalt von Raub und räuberischer Erpressung näher, so wird deutlich, dass Kern der Vorschriften der §§ 249, 255 StGB die Tatsache ist, dass sich mit der besonderen Intensität des Nötigungsmittels der – potentielle – Motivationsdruck auf das Nötigungsopfer in einer Weise erhöht, dass daraus eine Qualifizierung des Tatbestandes erwächst.75 Fügt man nun hinsichtlich des qualifizierten Nötigungsmittels der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben ergänzend die sowohl systematisch als auch teleologisch kaum in Zweifel zu ziehende und auch durch die historischen Vorgaben eindeutig bestätigte Erkenntnis hinzu, dass aufgrund des gleichberechtigten Nebeneinanders von Gewalt und Drohung letztere in ihrer potentiellen Nötigungsintensität der Gewalt gleichstehen muss, so ergibt sich hieraus, dass die Gegenwärtigkeit der Gefahr nach der Konzeption des Gesetzes eine Beschränkung des Drohungsmerkmals auf bestimmte Fallkonstellationen mit deutlich erhöhter möglicher Zwangswirkung bewirken soll. Es ist mit anderen Worten zu fordern, dass das Opfer, vergleichbar dem Fall der Anwendung von Gewalt, nach der Ankündigung des Täters alternativlos vor die Wahl gestellt ist, entweder dem Verlangen des Täters nachzukommen oder die Möglichkeit einer Rechtsgutverletzung zu gewärtigen. Eine derartige Alternativlosigkeit liegt aber insbesondere immer dann nicht vor, wenn das Opfer noch die Möglichkeit hat, obrigkeitliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.76 Bereits hieraus ergibt sich ein erster Kritikpunkt an der herrschenden Ansicht in Rechtsprechung und Literatur, die bezüglich der Gegenwärtigkeit der Gefahr weit allgemeiner darauf abstellt, dass das Opfer zur sofortigen Anwendung irgendeiner Abwehrmaßnahme gezwungen sein müsse. Dies kann nach dem eben Gesagten nicht richtig sein. Denn die nach dem Inhalt des Täterhandelns zu erwartende Zwangslage gewinnt ihre besondere Nötigungsintensität gerade dadurch, dass das Opfer auf der einen Seite gezwungen ist, eine sofortige Entscheidung zu treffen, ihm auf der anderen Seite aber gerade keine weiteren Alternativen zur Gefahrabwendung außer der Erfüllung der Täterforderung zur Verfügung stehen. Daher ist auch Küper zu widersprechen, wenn er ausführt, dass für den Adressaten einer Drohung mit gegenwärtiger Gefahr das begrenzende, der Vermeidung unnötiger oder voreiliger Rechtsgutsverletzungen dienende Prinzip der Erforderlichkeit nicht gelte.77 Zwar ist zunächst zuzugeben, dass das Gesetz in der Tat keine ausdrücklichen Anforderungen an die zur Gefahrabwendung zu ergreifenden Maßnahmen aufstellt. Darüber hinaus kann auch nicht geleugnet werden, dass das Erforderlichkeitsprinzip im Sinne der §§ 34, 35 StGB für den Bereich der §§ 249, 255 StGB keine unmittelbare Geltung beanspruchen kann. Auf der anderen Ebenso Cramer NStZ 1998, 299. Es wurde bereits oben, 3. Abschnitt, B. I. 5. e), hervorgehoben, dass die seiner Auffassung nach andernfalls bestehende Möglichkeit einer Inanspruchnahme obrigkeitlicher Hilfe einen der Hauptbeweggründe des historischen Gesetzgebers für eine Begrenzung der Drohungsalternative auf die Ankündigung einer gegenwärtigen Gefahr – verstanden im Sinne einer Besorgnis sofortiger Verwirklichung – darstellte. 77 Vgl. oben Fn. 60. 75 76
C. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr
215
Seite ergibt sich aber aus den soeben erörterten Besonderheiten des Gegenwärtigkeitsmerkmals der Drohung ein allgemeingültiges begrenzendes Prinzip, das sich durchaus mit der Erforderlichkeit im Sinne der Notstandsvorschriften vergleichen lässt. Wenn auch nicht zu verkennen ist, dass der Zweck dieses Prinzips bei den Normen über Raub und räuberische Erpressung ein anderer als bei den Bestimmungen über den rechtfertigenden und entschuldigenden Notstand ist, so besteht doch insoweit eine Gemeinsamkeit, als eine gleich wirksame Alternative zur Gefahrbeseitigung dem Opfer nicht zur Verfügung stehen darf. Denn nur in diesem Falle weist die Drohung ihrem Inhalt nach die vom Gesetz nach Sinn und Zweck geforderte, der Gewalt vergleichbare, Nötigungsintensität auf. Der Erforderlichkeitsgrundsatz ist also sehr wohl, wenn auch aus unterschiedlichen Überlegungen heraus, dem Gegenwärtigkeitsmerkmal in gewisser Weise immanent. Von einer Gegenwärtigkeit der angedrohten Gefahr ist folglich immer dann nicht auszugehen, wenn dem Opfer neben dem Erfüllen der Täterforderung oder der Hinnahme der Gefahr weitere Verhaltensalternativen zu Gebote stehen. Dies wird im Falle von Fristsetzungen aber regelmäßig der Fall sein. Hier hat der Drohungsadressat angesichts der ihm eingeräumten Überlegungsfrist zumeist die Möglichkeit, obrigkeitliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dass es sich dabei nicht nur um eine theoretische Möglichkeit handelt, wird insbesondere dann deutlich, wenn man sich die kriminalistische Wirklichkeit vor Augen hält. Denn weil es der Polizei in aller Regel gelingt, des Bedrohungserpressers habhaft zu werden, ist eine Bedrohung – sofern dafür eine hinreichende Zeit zur Verfügung steht – beinahe sicherer durch Anzeige des Erpressers als durch Erfüllung erpresserischer Forderungen abzuwenden.78 Die Strafverfolgungsbehörden werden zudem im Falle des Vorliegens einer Drohung selbst dann zum Eingreifen verpflichtet sein, wenn man die Gegenwärtigkeit der angedrohten Gefahr verneint, da bei einer solchen Sachlage richtiger Auffassung nach79 jedenfalls stets eine einfache Erpressung nach § 253 StGB anzunehmen ist. In diesem Gesichtspunkt greift auch der im übrigen sehr begrüßenswerte Ansatz Zaczyks zu kurz, da er übersieht, dass dem Opfer auch in denjenigen Fristsetzungskonstellationen, in denen es aufgrund der Komplexität des Vorgehens an sich unverzüglich mit der Sicherung des Freikaufs beginnen müsste, weitere Handlungsalternativen zur Verfügung stehen, welche der angedrohten Situation ihre besondere Nötigungsintensität nehmen. Hiergegen lässt sich auch nicht einwenden, dass auch derartige Drohungen eine sehr intensive Zwangslage zu schaffen vermögen. Denn zum einen spricht auch, wie sich etwa am Beispiel der äußerst nötigungsintensiven Chantage als Freikauf von unangenehmer Bloßstellung80 zeigt, die potentielle Schaffung gravierender Zwangslagen nicht gegen eine Anwendbarkeit der einfachen Erpressung, und zum anderen sollen die §§ 249, 255 StGB gerade nicht alle angedrohten Zwangssituationen mit erhöhter Nötigungswirkung, sondern nur solche Sachlagen erfassen, in denen die Drohung sowohl hin78 79 80
So etwa ausdrücklich auch Arzt / Weber § 18 Rn. 5. Vgl. dazu unten Fn. 84. Vgl. etwa NK-Kindhäuser § 253 Rn. 9; Hillenkamp, Rudolphi-FS S. 463, 474.
216
5. Abschn.: Folgerungen für die Drohung
sichtlich des „unmittelbaren Handlungszwangs“ als auch bezüglich der Alternativlosigkeit des Opferverhaltens dem Gewaltmerkmal gleichsteht. Fasst man das eben Gesagte zusammen, so wird deutlich, dass zwar die akute Gefahr und die Dauergefahr im engeren Sinne als angedrohte Gefahrzustände mit zumindest jederzeit möglicher Gefahrrealisierung unter den Begriff der gegenwärtigen Gefahr subsumiert werden können, nicht hingegen die Dauergefahr im weiteren Sinne, bei der dem Drohungsadressaten stets weitere Verhaltensmöglichkeiten, insbesondere in Form der Inanspruchnahme obrigkeitlicher Hilfe, zu Gebote stehen. Für die besondere Fallkonstellation der Drohung unter Fristsetzung bedeutet dies, dass eine solche als Ankündigung einer Dauergefahr im weiteren Sinne regelmäßig keine gegenwärtige Drohung im Sinne des Gesetzes darstellt. Etwas anderes kann ausnahmsweise nur dann gelten, wenn die gesetzte Frist so kurz bemessen ist, dass dem Opfer aufgrund dessen weitere Handlungsmöglichkeiten versperrt sind. Dies hängt maßgeblich von den Umständen des Einzelfalles ab; als absolute Höchstgrenze wird man aber einen Zeitraum von maximal einem Tag ansehen müssen. Führt man diesen Gedankengang nun konsequent zu Ende, so ergibt sich weiter, dass das Merkmal der Gegenwärtigkeit der Gefahr im Ergebnis eng mit dem unmittelbaren Bevorstehen des angedrohten – möglichen – Schadenseintritts verbunden ist. Zwar wird hiergegen von einigen Autoren eingewandt, nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes müsse nur die angekündigte Gefahr als solche, nicht aber ihre zu erwartende Realisierung gegenwärtig sein. Sie bleiben dabei aber weitere Erklärungen schuldig, woraus eine Gefahr ihre besondere Nötigungsintensität schöpfen soll, wenn nicht gerade aus der besonderen Wirkungsstärke der mit ihr zusammenhängenden Realisierung in Form eines Schadens an einem Rechtsgutsobjekt. Die gegenwärtige Gefahr als ein der Rechtsgutverletzung vorgelagertes Phänomen kann von dieser nicht gänzlich abstrahiert werden. Denn sie gewinnt ihre spezifische Relevanz gerade durch die Möglichkeit ihrer Verwirklichung. Nach alledem ist eine angedrohte Gefahr im Sinne der §§ 249, 255 StGB dann gegenwärtig, wenn ihre vom Täter angekündigte Realisierung unmittelbar bevorsteht. Dabei ergibt es sich aus der Natur der Sache, dass der maßgebliche Beurteilungshorizont mit dem des Gefahrmerkmals identisch sein muss. Es kommt folglich auf die ex-ante-Sicht eines verständigen Menschen aus dem Verkehrskreis des Opfers an, der auch über eventuelle spezielle Kenntnisse des Opfers verfügt.
II. Mögliche Einwände gegen diese Lösung Als mögliche Einwände gegen die hier vertretene Lösung lassen sich primär zwei Argumentationsstränge denken, die allerdings – wie im folgenden gezeigt werden soll – im Ergebnis nicht durchgreifen.
C. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr
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1. Schwebezustand als Folge Zum einen könnten deshalb Bedenken gegen eine rein zeitliche Bestimmung des Gegenwärtigkeitsmerkmals erhoben werden, weil eine solche Sicht – wie es von einigen Stimmen formuliert wird81 – eine Art „Schwebezustand“ zur Folge haben könnte. Denn wenn die Dauergefahr im weiteren Sinne, insbesondere im Falle von Fristsetzungen, im Zeitpunkt des Ausspruchs der Drohung rein zeitlich gesehen noch nicht gegenwärtig sein sollte, so könnte sie sich doch durch Zeitablauf immer weiter verdichten, bis sie sich schließlich spätestens mit dem Ablauf der Frist in eine gegenwärtige Gefahr verwandelte. Dabei wird allerdings nicht hinreichend beachtet, dass die gegenwärtige Gefahr im hier zu behandelnden Kontext nach der Gesetzesfassung keinen in der Wirklichkeit erfahrbaren Zustand, sondern einen intentionalen Angriff auf die Freiheit der Willensbestimmung darstellt. Es geht mit anderen Worten bei der gegenwärtigen Gefahr nicht um die reale Existenz einer bestimmten Zwangslage, sondern um eine inhaltliche Präzisierung der Ankündigung des Täters. Spätere Veränderungen in der äußeren Wirklichkeit können demnach keinen Einfluss auf die Qualität der Drohung als solcher im maßgeblichen Zeitpunkt der Äußerung oder Handlung des Delinquenten haben. Wenn auch nicht zu übersehen ist, dass die Drohung als Übelsankündigung über einen längeren Zeitraum auf den Willen des Opfers einwirken kann, so ist sie selbst doch mit ihrer Entäußerung und ihrer Kenntnisnahme auf Seiten des Adressaten abgeschlossen – wie dies in vergleichbarer Weise auch bei der Anwendung von Gewalt der Fall ist.82 Wie oben bereits ausführlich erörtert, umschreibt das Gesetz mit dem Merkmal der gegenwärtigen Gefahr nämlich gerade nicht die durch die Drohung geschaffene Zwangslage, sondern das vom Täter hierzu willentlich eingesetzte Mittel. Zur Beurteilung des Vorliegens der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale kann es folglich allein auf den Drohungszeitpunkt ankommen, spätere Entwicklungen müssen unbeachtlich sein. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn der Täter die Drohung nach Fristablauf – diesmal ohne Fristsetzung – erneuert oder zur Realisierung der Ankündigung schreitet. Dem Gesagten kann schließlich auch nicht entgegengehalten werden, die Fortentwicklung der Gefahr zu einer gegenwärtigen sei gewissermaßen in der ursprünglichen Androhung des Täters enthalten. Denn die tatsächliche Verdichtung der Gefahr, die ohnehin nur nach dem Inhalt der Drohung bestehen muss, hängt von so vielen Unwägbarkeiten und wechselseitigen Verhaltensweisen ab, dass sie nicht bereits als in der Inaussichtstellung einer Dauergefahr im weiteren Sinne enthalten zu betrachten ist. Der Täter hat mit dem Ausspruch der Drohung, um es in der Terminologie des Versuchs auszudrücken, deswegen noch nicht unmittelbar zur Tatverwirklichung angesetzt, weil noch weitere wesentliche Zwischenschritte erforderlich sind, die nicht im Wege einer Rückschau in die ursprüngliche Übels81 So etwa BGHR StGB § 255 Drohung 11; Zaczyk JR 1999, 343, 345; Kindhäuser / Wallau StV 1999, 379, 381. 82 Ähnlich Seesko S. 22 f., 41 ff., 65, 76 ff., 113.
218
5. Abschn.: Folgerungen für die Drohung
ankündigung implementiert werden können.83 Andernfalls entstünde die kaum zu rechtfertigende Folge, dass der Adressat, der die für ihn erreichbare anderweitige Hilfe in Anspruch nähme, nicht gegenwärtig bedroht, derjenige aber, der eine solche Hilfe grundlos ungenutzt ließe, rückblickend betrachtet als mit einer gegenwärtigen Gefahr konfrontiert zu betrachten wäre. Eine solche Sicht ist mit der Maxime, dass die Drohung mit gegenwärtiger Gefahr einen intentionalen Angriff auf die Freiheit der Willensbestimmung und -betätigung verkörpert, nicht in Einklang bringen.
2. Kriminalpolitische Bedenken Zum anderen könnte gegen die hier vertretene Lösung eingewandt werden, dass sie in der kriminalistischen Wirklichkeit unerträglich scheinende Ergebnisse bewirken könnte. Hierauf ist zunächst zu entgegnen, dass – wie oben bereits ausführlich dargelegt – die Strafwürdigkeit eines Verhaltens allein keine Auskunft über dessen Strafbarkeit zu liefern vermag. Im Übrigen aber sind die vor allem von der Rechtsprechung befürchteten Strafbarkeitslücken realiter gar nicht zu gewärtigen. Denn sofern man der zutreffenden Ansicht folgt und für das Vorliegen einer Erpressung nicht, wie im Falle des Betruges, eine Vermögensverfügung für erforderlich erachtet84, greift die einfache Erpressung nach § 253 StGB als subsidiäres Delikt in all denjenigen Fallkonstellationen ein, in denen die Annahme eines Raubes oder einer räuberischen Erpressung allein an der fehlenden Gegenwärtigkeit der Gefahr scheitert. Deren Strafrahmen reicht bis zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren, während sie bei Annahme eines besonders schweren Falles nach § 253 Abs. 4 StGB gar den Strafrahmen eines Verbrechens bekommt. Die Konstellationen, in denen der Täter zwar ein nötigungsintensives, aber nicht gegenwärtiges Mittel verwendet, sind hierdurch ihrem Unwertgehalt nach hinreichend erfassbar. Die in diesem Punkt problematischen Fälle, in denen der Täter – möglicherweise unter Anwendung qualifizierender Mittel – zur Realisierung seiner Ankündigung schreitet, indem er etwa, wie in den klassischen Fällen der Produkterpressung, vergiftete Lebensmittel im Kundenbereich von Supermärkten deponiert, lassen sich auch nach der hier vertretenen Ansicht unproblematisch als räuberische Erpressung erfassen, da der Täter in diesem Falle seine Drohung konkludent durch das Deponieren der Ware erneuSo auch Geilen Jura 1979, 109, 110. So etwa BGHSt 7, 252, 254 f.; BGHSt 14, 386, 390; BGHSt 25, 224, 228; BGH StV 1995, 416, 417; BGH NStZ-RR 1997, 321; BGH NStZ 1999, 350; BGH NStZ-RR 2004, 333, 334; BGH NStZ 2006, 448, 449; NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 37 ff., 44 ff., 56 ff., § 253 Rn. 16 f.; ders. BT II § 12 Rn. 3 ff., § 18 Rn. 3; ders. StGB vor § 249 Rn. 2 ff., § 249 Rn. 8 f., § 255 Rn. 3, 10; LK-Herdegen § 253 Rn. 5 ff.; SK-Günther vor § 249 Rn. 9 ff., § 249 Rn. 23 ff.; § 253 Rn. 3, 5 ff.; Arzt / Weber § 17 Rn. 12, 15 ff., 18, § 18 Rn. 14 ff., 25 f.; Mitsch BT 2, 1, § 6 Rn. 37 ff., 75 f.; Krey / Hellmann Rn. 296, 297a ff, 305; Küper, Lenckner-FS S. 495, 500 ff., 516 f.; Schünemann JA 1980, 349, 486 ff., 491; Geilen Jura 1980, 43, 50 ff.; Cramer NStZ 1998, 299. 83 84
D. Zusammenfassung
219
ert, wobei diese spätere Drohung in aller Regel jedenfalls als Dauergefahr im engeren Sinne und somit als gegenwärtig zu qualifizieren ist. In Sachlagen, welche die Anwendung des Raubtatbestandes nahe legen, wird die Dauergefahr im weiteren Sinne in der kriminalistischen Wirklichkeit angesichts der raubspezifischen Besonderheiten ohnehin allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen. Gravierende Unterschiede zur Ansicht der herrschenden Auffassung können sich daher allenfalls hinsichtlich der Anwendbarkeit der Qualifikationstatbestände der §§ 250, 251 StGB ergeben. Dabei kann es nach dem oben Gesagten ausschließlich um diejenigen Fallgruppen gehen, in denen der Täter im Zeitpunkt des Drohungsausspruchs eine Raubqualifikation erfüllt, seine Drohung aber später entweder gar nicht oder jedenfalls nicht in qualifizierender Art und Weise verwirklicht. Schwierigkeiten wegen der Nichtanwendbarkeit des § 251 StGB lassen sich insoweit kaum denken, da es praktisch ausgeschlossen erscheint, dass der Täter durch die Anwendung von Nötigungsmitteln den Tod des Opfers herbeiführt, ohne dass er zuvor zumindest mit einer gegenwärtigen Gefahr gedroht hat. Was schließlich die Qualifikationen des § 250 StGB85 anbelangt, so zwingen die insoweit in Frage stehenden Sachverhalte nicht zur Bejahung einer Anwendbarkeit. Denn der spezifische Unwertgehalt der intentionalen gravierenden Beeinträchtigung der Willensfreiheit des Opfers, der eine Eröffnung des Anwendungsbereiches der Raubqualifikationen rechtfertigen würde, liegt in diesen Fällen gerade nicht vor. Es kann aber nicht richtig sein, dass allein kriminalpolitische Erwägungen, wie die besondere Allgemeingefährlichkeit erpresserisch tätig werdender Banden oder die generelle Gefährlichkeit des Täterhandelns für dritte Personen, per se sowohl einen erhöhten Strafrahmen also auch die Möglichkeit einer Qualifizierung eröffnen sollen. Hierdurch würde der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers, der de lege lata nicht gänzlich unbeachtet bleiben darf, schlicht überspielt. Denn wie bereits betont wurde, besteht der Grund für die erhöhte Strafbarkeit von Raub und räuberische Erpressung allein in der deutlich erhöhten potentiellen Zwangswirkung der angewandten Nötigungsmittel. Zudem unterscheidet sich die Drohung mit einer Dauergefahr im weiteren Sinne auch nicht so erheblich von den übrigen Fällen der einfachen Erpressung, dass eine abweichende Behandlung zwingend geboten wäre. Demnach ergeben sich auch unter Strafwürdigkeitsgesichtspunkten keine durchgreifenden Bedenken gegen den hier vertretenen Lösungsansatz.
D. Zusammenfassung Die Untersuchungen in diesem Abschnitt haben ergeben, dass eine uneingeschränkte Übertragung der zu den Notstandsbestimmungen entwickelten Grundsätze zum Merkmal der gegenwärtigen Gefahr nicht möglich ist. Zwar bestehen insoweit auf der einen Seite zahlreiche Gemeinsamkeiten, auf der anderen Seite aber 85
Vgl. hierzu für den Bereich der Produkterpressung ausführlich Moseschus S. 128 ff.
220
5. Abschn.: Folgerungen für die Drohung
finden sich grundlegende Differenzen, die nicht zuletzt daraus resultieren, dass die gegenwärtige Gefahr im Rahmen von Raub und räuberischer Erpressung in einen Nötigungszusammenhang in Form eines intentionalen Angriffs auf die Freiheit der Willensbestimmung und -betätigung des Nötigungsopfers eingebettet ist. Nach der danach erforderlichen eigenständigen Begriffsbestimmung droht der Täter dann mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben, wenn er ausdrücklich oder schlüssig die Zufügung eines Übels ankündigt, das mit der nahe liege den Möglichkeit einer zeitlich unmittelbar bevorstehenden erheblichen Körperverletzung oder Tötung verbunden ist, wenn dessen Eintritt von seinem Einfluss abhängen und das Übel verwirklicht werden soll, falls sich der Adressat dem Willen des Täters nicht beugt und sich dementsprechend verhält. Unter die so verstandene gegenwärtige Gefahr fallen sowohl die akute Gefahr als auch die Dauergefahr im engeren Sinne, bei welcher der Schaden nach der Täterankündigung jederzeit, alsbald oder auch später, eintreten kann. Nicht gegenwärtig ist hingegen die Dauergefahr im weiteren Sinne, die ihrem Inhalt nach ein unmittelbares Bevorstehen des Schadens nicht erwarten lässt. Übertragen auf den Sonderfall der Drohung unter einer Fristsetzung bedeutet dies, dass in derartigen Fallkonstellationen eine gegenwärtige Gefahr regelmäßig nicht vorliegt. Etwas anders gilt nur dann, wenn die gesetzte Frist derart kurz bemessen ist, dass die Gefahr normativ betrachtet als unmittelbar bevorstehend zu qualifizieren ist. Dabei sind stets die Umstände des jeweiligen Einzelfalles zu betrachten, die absolute Höchstgrenze ist aber in einer Tagesfrist zu erblicken. Wann eine Ankündigung solchen Inhalts vorliegt, beurteilt sich im Einzelfall aus der ex-ante-Sicht eines verständigen Menschen aus dem Verkehrskreis des Opfers, der auch über eventuelle spezielle Kenntnisse des Opfers verfügt.
Sechster Abschnitt
Folgerungen für die Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben bei sexueller Nötigung und Vergewaltigung, § 177 StGB Wurde im vorigen Abschnitt der zutreffende Bedeutungsgehalt der „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ für den Bereich des Raubes und der räuberischen Erpressung gemäß §§ 249, 255 StGB ermittelt, gilt es nun die Frage zu klären, ob sich die dort gefundenen Ergebnisse auch auf die in § 177 StGB normierten Delikte der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung übertragen lassen. Denn auch diese enthalten – worauf bereits hingewiesen wurde – als weiteres qualifiziertes Nötigungsmittel neben der Gewalt die Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben. Die Sichtung der einschlägigen Rechtsprechung und Literatur hat ergeben, dass grundsätzlich eine mit den §§ 249, 255 StGB übereinstimmende Interpretation befürwortet wird, wobei jedoch in einzelnen Punkten durchaus Differenzen vorherrschen. Die Richtigkeit dieser Ansichten soll im Folgenden kritisch überprüft werden. Dabei gilt es zunächst festzustellen, dass sich Unterschiede im Bedeutungsverständnis insbesondere aus den unterschiedlichen Schutzgütern der genannten Strafnormen ergeben können. Denn während Raub und räuberische Erpressung sowohl das Eigentum bzw. das Vermögen als auch die freie Willensbetätigung und Willensbildung schützen1, dienen die Straftatbestände der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers ausschließlich dem Schutz der Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung.2 Bei letzterer handelt es sich nicht um ein eigenständiges Rechtsgut, sondern um einen speziellen Bestandteil der freien Willensbetätigung und Willensbildung im Sinne einer Freiheit vor Fremdbestimmung auf sexuellem Gebiet. Es soll dem einzelnen Individuum selbst überlassen bleiben, „ob“, „mit wem“, „wann“ und „wie“ es Handlungen mit sexuellem Bezug vornehmen oder an sich vornehmen lassen möchte.3 Vgl. oben 5. Abschnitt Fn. 27. Vgl. die Überschrift des 13. Abschnitts des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 und BT-Drs. VII / 514, S. 1, 8, 12 sowie Folkers NStZ 2005, 181 f. 3 Vgl. Tröndle / Fischer § 177 Rn. 2; Lackner / Kühl § vor § 174 Rn. 1, § 177 Rn. 1; MüKoRenzikowski vor §§ 174 ff. Rn. 1, 7 f., 10, 13, 15; 177 Rn. 1; SK-Wolters / Horn vor § 174 1 2
222
6. Abschn.: Folgerungen für die Drohung bei Vergewaltigung
Zudem gilt es zu beachten, dass § 177 StGB – jedenfalls dem Wortlaut nach – in der Gewaltalternative nicht die Anwendung von „Gewalt gegen eine Person“, sondern schlicht „Gewalt“ verlangt. Hieraus könnten abweichende Rückschlüsse auch auf die Drohungsalternative zu ziehen sein. Schließlich darf auch nicht übersehen werden, dass § 177 StGB, anders als die §§ 249, 255 StGB, in der Drohungsalternative nicht die Wendung „unter Anwendung von Drohungen“, sondern den Terminus „durch Drohung“ enthält. Auch dies könnte eine unterschiedliche Interpretation bedingen.
A. Der Begriff der Drohung in § 177 StGB Was den Drohungsbegriff anbelangt, so geht die ganz herrschende Ansicht in Rechtsprechung und Literatur zutreffend davon aus, dass dieser in § 177 StGB ebenso wie in anderen Vorschriften des StGB, insbesondere in § 240 StGB und §§ 249, 255 StGB zu verstehen sei.4 Denn es fehlt an einem sachlichen Grund für eine abweichende Behandlung, die weder im Hinblick auf die unterschiedlichen Schutzgüter noch auf die nicht in allen Fällen übereinstimmende nähere sprachliche Ausgestaltung der Drohungsspezifika geboten ist. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass § 177 StGB der Sache nach eine spezielle Ausprägung des allgemeinen Nötigungstatbestandes darstellt. In Anbetracht dessen erscheint es kaum denkbar, dass der Drohung allein aufgrund der differenten näheren inhaltlichen Ausgestaltung trotz Verwendung eines identischen Begriffs eine abweichende Bedeutung zuzumessen ist. Auch im Bereich der Delikte der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung ist somit vom Vorliegen einer Drohung auszugehen, wenn der Täter ausdrücklich oder schlüssig die Zufügung eines künftigen Übels ankündigt, dessen Eintritt von seinem Einfluss abhängen und das verwirklicht werden soll, wenn der Adressat sich dem Willen des Täters nicht beugt und sich dementsprechend verhält. Wann dies in concreto der Fall ist, beurteilt sich wie im Rahmen von Raub und räuberischer Erpressung5 aus der ex-ante-Sicht eines verständigen Menschen aus Rn. 2 f., § 177 Rn. 2; Laubenthal Rn. 94; Arzt / Weber § 10 Rn. 3; NK-Frommel § 177 Rn. 16; Schönke / Schröder-Lenckner / Perron / Eisele vor §§ 174 ff. Rn. 1, § 177 Rn. 2; LK-Laufhütte vor § 174 Rn. 4, § 177 Rn. 1; § 178 Rn. 1; Küpper BT 1, I. § 3 Rn. 69; Maurach / Schroeder / Maiwald § 17 Rn. 6, 14, § 18 Rn. 6, 8; Gössel / Dölling BT 1, § 22 Rn. 1; Schmidhäuser BT 4. Rn. 35; Fischer NStZ 2000, 142, 143; ders. ZStW 112, 75, 80. 4 So ausdrücklich Tröndle / Fischer § 177 Rn. 18, 21 f.; Schönke / Schröder-Leckner / Perron / Eisele § 177 Rn. 7; Lackner / Kühl § 177 Rn. 5; SK-Wolters / Horn § 177 Rn. 9; LKLaufhütte § 177 Rn. 9; MüKo-Renzikowski § 177 Rn. 4, 35; Arzt / Weber § 10 Rn. 12; in der Sache ebenso BGH NStZ 1981, 218; BGH NJW 1984, 1632; BGHR StGB § 177 Abs. 1 Drohung 2; BGH MDR 1991, 701, 702; NK-Frommel § 177 Rn. 42; Laubenthal Rn. 136; Mildenberger S. 38; Kieler S. 144; Teufert S. 41; Sick S. 199 f., 207. 5 5. Abschnitt, A. III. 3.
B. Der Begriff der Gefahr
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dem Verkehrskreis des Opfers, der auch über eventuelle spezielle Kenntnisse des Opfers verfügt. Eine sachliche Abweichung zu dem von der Rechtsprechung und herrschenden Auffassung in der Literatur für maßgeblich erachteten Beurteilungshorizont dürfte hierin nicht begründet liegen. Denn zumindest für den hier interessierenden Anwendungsbereich des § 177 StGB entspricht es der überwiegenden Ansicht, dass sich das Verhalten des Täters unter Heranziehung objektiver Gesichtspunkte aus dem Horizont des Opfers als Drohung im eben genannten Sinne darstellen muss. Da es sich dabei nämlich um ein objektives Tatbestandsmerkmal handle, komme ein Abstellen allein auf die subjektive Sicht des Opfers oder gar die des Täters nicht in Betracht.6 Soweit zum Teil weiterhin verlangt wird, das Opfer müsse das Täterverhalten auch subjektiv als Ankündigung eines Übels begreifen7, so dürfte hiermit eher das Kausalitätserfordernis8 als der für die Beurteilung der Drohung als solcher maßgebliche Betrachtungsmaßstab angesprochen sein.
B. Der Begriff der Gefahr in § 177 StGB Auch wenn sich der Drohungsbegriff von Raub und räuberischer Erpressung einerseits und sexueller Nötigung und Vergewaltigung andererseits nach dem eben Gesagten selbst nicht unterscheidet, steht damit angesichts der oben aufgezeigten Differenzen noch nicht zugleich zwingend fest, dass auch die nähere inhaltliche Ausgestaltung der Drohungsalternative einer identischen Interpretation zugänglich ist. Insoweit kann jedenfalls die von Rechtsprechung und Literatur vorgenommene unkritische Übertragung der für andere Vorschriften entwickelten Grundsätze nicht überzeugen. Ob eine Identität anzunehmen ist, muss vielmehr auch für den Bereich des § 177 StGB unter Berücksichtigung des normativen Gesamtzusammenhanges unter Einbeziehung auch teleologischer Gesichtspunkte herausgearbeitet werden. Es wird daher im Folgenden dezidiert zu prüfen sein, ob die oben bereits erörterten Unterschiede zwischen §§ 249, 255 StGB und § 177 StGB zu einer abweichenden Behandlung zwingen. Dabei wird man zunächst bereits bei der vom Wortlaut her unterschiedlichen Ausgestaltung der Gewaltalternative anzusetzen haben; während im Bereich von Raub und räuberischer Erpressung ausdrücklich „Gewalt gegen eine Person“ gefordert wird, fehlt eine entsprechende Einschränkung im Rahmen der sich allgemein mit „Gewalt“ begnügenden Vorschrift des § 177 StGB. Da die Tatsache, dass die 6 BVerfGE 92, 1, 17 f.; BGHR StGB § 177 Abs. 1 Drohung 2, 4, 6; BGH NStZ 2003, 424; BGH NStZ 2006, 395, 396; Kieler S. 146; Sonnen JA 1989, 113 f.; Fischer NStZ 2000, 142; vgl. auch Mildenberger S. 38, 40 f., 45; abweichend MüKo-Renzikowski § 177 Rn. 35, der allein die Opfersicht, den subjektiven Horizont des Opfers, für maßgebend hält. 7 So etwa BGHR StGB § 177 Abs. 1 Drohung 1, 11, Gewalt 8; BGH MDR 1991, 701, 702; BGH NStZ-RR 1998, 322; vgl. dazu Mildenberger S. 38, 40 f., 45. 8 Vgl. dazu sogleich unten B.
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6. Abschn.: Folgerungen für die Drohung bei Vergewaltigung
Drohungsalternative gleichberechtigt neben der Gewalt steht, nach der hier vertretenen Rechtsauffassung als für das Verständnis des Gefahrbegriffs mit entscheidendes Kriterium anzusehen ist, kann bereits dessen möglicherweise differente Fassung eine divergierende Inhaltsbestimmung bedingen. Denn grundlegend ist insoweit zunächst festzustellen, dass auch im Hinblick auf sexuelle Nötigung und Vergewaltigung die Nötigungsmittel der Gewalt und der Drohung gleichberechtigt nebeneinander stehen.9 Eine abweichende Fassung des Gewaltmerkmals kann daher auch Rückschlüsse auf die Auslegung der Drohungsalternative zulassen. Insbesondere kann die Verwendung eines weiteren Gewaltbegriffs als jenes der §§ 249, 255 StGB in § 177 StGB den Befund nahe legen, dass auch das Nötigungsmittel der Drohung in einem weiteren Sinne zu interpretieren ist. Indes handelt es sich – um das Ergebnis vorweg zu nehmen – bei der unterschiedlichen Gesetzesfassung des Gewaltmerkmals nur um eine vermeintliche Verschiedenheit. Trotz des missverständlichen Wortlauts kann auch für die Anwendbarkeit des § 177 StGB nicht jede Gewalt, sondern nur gegen die Person gerichtete Gewalt genügen.10 Dies gilt unabhängig davon, ob man mit einer verbreiteten Ansicht davon ausgeht, dass sich Gewalt bereits ihrer Definition nach generell notwendig gegen die Person richten muss, oder nicht.11 Hierfür sprechen insbesondere die historischen Untersuchungen. Denn in deren Rahmen hatte sich gezeigt, dass der Gesetzgeber zum einen von einer identischen Interpretation der qualifizierten Nötigungsmittel von Raub und räuberischer Erpressung auf der einen Seite und sexueller Nötigung und Vergewaltigung auf der anderen Seite ausgegangen war und zum anderen nur deshalb auf die ausdrückliche Beschränkung der Gewalt auf solche gegen die Person verzichtet hatte, weil ihm dies angesichts der ihm vor Augen stehenden Fallkonstellationen wegen des stets offensichtlich vorhandenen Körperlichkeitsbezugs überflüssig erschien.12 Aber auch eine Betrachtung der aktuell geltenden Gesetzesfassung unter Berücksichtigung des gleichberechtigten Nebeneinanderstehens von Gewalt und Drohung auf der einen Seite und der Vorschriften über den Raub und die räuberische Erpressung auf der anderen Seite bestätigt diese Sicht. Misst nämlich der Gesetzgeber – wie sich bei §§ 249, 255 StGB 9
So auch BGH JZ 1999, 581, 582; BGH NStZ 2000, 140, 141; Laubenthal JZ 1999, 583,
584. 10 Ebenso RGSt 64, 113, 117; BGH NStZ 1981, 218; BGH NStZ 1985, 71; StGB § 177 Abs. 1 Drohung 4, Gewalt 3, 4, 7, 8, 9, 14; BGH NStZ 1989, 528; BGH NStZ 1999, 506; BGH NStZ-RR 2003, 42, 43; BGH StV 2005, 135 f.; Tröndle / Fischer § 177 Rn. 9; Lackner / Kühl § 177 Rn. 4; SK-Wolters / Horn § 177 Rn. 10; Küpper BT 1 I. § 3 Rn. 69; Schönke / Schröder-Lenckner / Perron / Eisele § 177 Rn. 5; NK-Frommel § 177 Rn. 40; LK-Laufhütte § 177 Rn. 3; Maurach / Schroeder / Maiwald § 18 Rn. 10; Schmidhäuser BT, 4. Rn. 36; Krey Gewaltbegriff 2, Rn. 141 ff., 146, 148; Teufert S. 39; a.A. Rössner, Leferenz-FS. S. 527, 530 ff., 534 f., 536; Sick S. 155 ff., 160 ff., 164; Otto JR 1982, 116, 118; Wolter NStZ 1985, 245, 250 f.; Hillenkamp NStZ 1989, 529; kritisch auch Kieler S. 137 ff., 141 und Sonnen JA 1989, 113. 11 Vgl. dazu unten 7. Abschnitt, B. 12 Vgl. oben 3. Abschnitt, B. III. 5., 6., 7., 8.
B. Der Begriff der Gefahr
225
zeigt – grundsätzlich nur der Gewalt gegen eine Person eine der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben vergleichbare potentielle Nötigungsintensität zu, so müssten gewichtige Gründe dafür bestehen, weshalb hiervon abweichend an anderer Stelle bereits jegliche Gewalt als der Drohungsalternative gleichwertig anzusehen sein sollte. Solche gewichtigen Gründe sind indes nicht ersichtlich und finden sich insbesondere auch nicht im spezifischen Schutzgut der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Denn es ist nicht zu rechtfertigen, dem als Ausfluss der freien Willensbestimmung und Willensbetätigung zu qualifizierenden Schutzgut der Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung eine gegenüber dem Schutz von freier Willensbestimmung und Willensbetätigung sowie Eigentum bzw. Vermögen so deutlich erhöhte Bedeutung und Schutzwürdigkeit zuzumessen, dass dies trotz weitgehend identisch gefasster Drohungsalternative eine unterschiedliche Behandlung des Gewaltmerkmals zu begründen vermöchte. Im Übrigen hat der Gesetzgeber auch hinsichtlich des Schutzzwecks des § 177 StGB eine grundlegende Wertentscheidung dahingehend getroffen, dass nicht jede Form der mit der Anwendung von Zwang verbundenen Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung dem Anwendungsbereich des § 177 StGB unterfallen soll. Dies zeigt sich bereits daran, dass die Drohungsalternative der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung gegenüber derjenigen der insoweit als lex generalis anzusehenden Vorschrift über die Nötigung gemäß § 240 StGB erhöhte Anforderungen hinsichtlich ihrer potentiellen Nötigungsintensität aufweist. Denn während bei Letzterer lediglich eine „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ gefordert wird, muss der Täter im Fall des § 177 StGB „mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ drohen. Dem lässt sich die Wertung entnehmen, dass nur besonders gravierende Angriffe13 dem Tatbestand des § 177 StGB unterfallen sollen. Bestätigt wird dies dadurch, dass der Gesetzgeber durch die Existenz des § 240 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StGB, der – jedenfalls für einen Teilbereich – die Funktion erfüllt, die § 253 StGB im Rahmen der Vermögensdelikte zukommt, zu verstehen gibt, dass es im Rahmen von Angriffen auf die sexuelle Selbstbestimmung sowohl Formen der Gewaltanwendung als auch der Drohung gibt, die nicht die für den Tatbestand des § 177 StGB erforderliche potentielle Nötigungsintensität aufweisen.14 Gerade dieser Vergleich mit der Sachlage bei § 253 StGB und § 255 StGB bzw. § 249 StGB zeigt aber, dass bei konsequenter Betrachtung auch die Gewaltalternative von sexueller Nötigung und Vergewaltigung strengere Anforderungen aufstellt, als dies bei der Grundnorm des § 240 StGB der Fall ist.15 Auch die Neuschaffung des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB kann für die Richtigkeit dieser Sicht herangezogen werden. Denn deren Aufnahme in das Gesetz beruhte gerade auf der Überlegung, dass das Opfer in bestimmten Fallkonstellationen, in denen der Täter gerade nicht die eng zu versteSo auch Laubenthal JZ 1999, 583, 584. Vgl. dazu auch Tröndle / Fischer § 177 Rn. 2, 18; MüKo-Renzikowski § 177 Rn. 1; Arzt / Weber § 10 Rn. 15; Gössel / Dölling BT 1, § 22 Rn. 1, § 23 Rn. 1; Laubenthal JZ 1999, 583, 584; unklar insoweit BGH NStZ 2003, 424. 15 Vgl. auch Laubenthal Rn. 111; Krey Gewaltbegriff 2, Rn. 143. 13 14
15 Blanke
226
6. Abschn.: Folgerungen für die Drohung bei Vergewaltigung
henden Nötigungsmittel der Gewalt oder der Drohung anwende, dennoch durch die Gesamtumstände der Tat in eine Situation geraten könne, in der es dem sexuellen Anliegen des Täters keine effektive Gegenwehr mehr entgegensetzen könne. Eine Einbeziehung solcher Fälle in den Tatbestand der sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung hätte nun aber auch, wie dies in der Literatur vielfach vorgeschlagen wurde, dadurch erzielt werden können, dass die Nötigungsmittel der Gewalt und der Drohung entsprechend weiter, etwa entsprechend denen der Nötigung, gefasst worden wären. Dem ist der Gesetzgeber aber gerade nicht nachgekommen, sondern hat das „Ausnutzen einer schutzlosen Lage“ als zusätzliche Variante mit in den Tatbestand aufgenommen.16 Hiermit hat er zu verstehen gegeben, dass er nach wie vor an dem restriktiven Verständnis der beiden übrigen qualifizierten Nötigungsmittel festhält. Schließlich darf auch nicht übersehen werden, dass § 177 StGB als Verbrechen ausgestaltet ist. Dieser Charakter kann der Norm aber nach der Gesetzeskonzeption nicht allein aufgrund des Erfolgsunwertes in Form einer Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung, sondern nur in Kombination auch mit dem durch die Anwendung qualifizierter Nötigungsmittel verwirklichten Handlungsunwert zukommen. Aus diesem Grund kann von einer Verwirklichung der tatbestandlichen Nötigungsmittel nur dann ausgegangen werden, wenn eine Betrachtung auch deren Qualität eine Bestrafung als Verbrechen rechtfertigt. Gerade hiervon ist aber etwa im Falle der Sachgewalt nicht auszugehen. Aus der nach dem Wortlaut unterschiedliche Ausgestaltung der Gewaltalternative lässt sich nach alledem kein Argument für eine von den zu §§ 249, 255 StGB entwickelten Grundsätzen abweichenden Auslegung des Gefahrmerkmals ableiten. Aber auch die leicht modifizierte sprachliche Ausgestaltung der Drohungsvariante, die sich statt des Terminus „unter Anwendung von“ der Wendung „durch“ bedient, rechtfertigt kein abweichendes inhaltliches Verständnis des Gefahrbegriffes. Vor allem ergibt sich aus ihr nicht, dass das Gefahrmerkmal im Bereich des § 177 StGB nicht wie bei Raub und räuberischer Erpressung nähere Anforderungen an die inhaltliche Ausgestaltung der Täterankündigung aufstellte, sondern eine auf Seiten des Opfers tatsächlich bestehende Zwangslage beschriebe. Denn rein semantisch betrachtet, lassen sich die im Zusammenhang mit den Delikten der §§ 249, 255 StGB und § 177 StGB verwendeten Ausdrücke „unter Anwendung von“, „durch“ und „mit“ zwanglos als Synonyme für ein und dieselbe inhaltliche Verknüpfung begreifen, wie dies etwa auch in einschlägigen Formulierungen in Rechtsprechung und Literatur zum Ausdruck kommt.17 Aber 16 Vgl. zu Grund und Inhalt von § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB etwa BGH JZ 1999, 581 ff.; BGH NStZ 2000, 140 ff.; BGH NStZ-RR 2003, 42, 44; BGH NStZ 2006, 395 ff. m. w. N.; Mildenberger S. 46 ff.; Kieler S. 147 ff.; NK-Frommel § 177 Rn. 13, 48 ff.; Laubenthal JZ 1999, 583 f.; Fischer ZStW 112, 75 ff.; Folkers NStZ 2005, 181 ff.; Hiebl / Bendermacher StV 2005, 264, 266; Renzikowski NStZ 2006, 397 ff. 17 So Paeffgen, Grünwald-FS S. 433, 442, 445, zu § 240 StGB; vgl. auch BGH NStZ-RR 1999, 294: „. . . in unmittelbarem Zusammenhang mit sexuellen Handlungen Gewalt angewendet oder es ,mit‘ gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben bedroht hat“.
B. Der Begriff der Gefahr
227
selbst wenn man davon ausgeht, dass diesen Begriffen eine abweichende Bedeutung zukommt und im jeweiligen Gesetzeskontext bewusst exakt die verwendete Wortwahl erfolgte, so ergibt sich hieraus nicht der Schluss, dass das Gesetz im Rahmen von sexueller Nötigung und Vergewaltigung, anders als bei Raub und räuberischer Erpressung, mit den Nötigungsmitteln nicht die Form des intentionalen Angriffs auf die Freiheit der Willensbestimmung, sondern die vom Täter herbeigeführte Zwangslage des Opfers bezeichnet, mit der Folge, dass dem Merkmal der Gefahr ein abweichender Begriffsinhalt zukäme. Insoweit gilt es zunächst zu beachten, dass, ungeachtet der Frage, ob § 177 StGB uneingeschränkt als mehraktiges Delikt zu betrachten ist,18 das angewendete Zwangsmittel streng vom herbeigeführten Erfolg in Form der Duldung oder Vornahme einer sexuellen Handlung zu unterscheiden ist.19 Wie auch die Verwendung des Wortes „durch“ klarstellt, sind diese beiden grundsätzlich voneinander zu trennenden Bestandteile des objektiven Tatbestands vielmehr lediglich durch einen spezifischen funktionalen Zusammenhang miteinander verknüpft. Zum einen erfordert nämlich der Tatbestand des § 177 StGB eine zweckbedingte Verknüpfung zwischen dem Nötigungsmittel und dem Taterfolg dergestalt, dass die Anwendung des Nötigungsmittels nach dem Willen des Täters der Vornahme der sexuellen Handlung tatsächlich dienen muss. Es ist mit anderen Worten subjektiv eine „finale Verknüpfung“ zwischen Nötigungsmittel und tatbestandlichem Erfolg erforderlich.20 Insoweit besteht eine Parallele zum Tatbestand des Raubes, was aus den dort genannten Gründen auch im hiesigen Kontext eindeutig gegen ein dem Begriff der Drohung immanentes Erfolgsmoment spricht. Wenn darüber hinaus, wie etwa auch im Falle der räuberischen Erpressung, nach zutreffender Ansicht zur Annahme eines vollendeten Delikts der sexuellen Nötigung oder der Vergewaltigung zudem eine objektive Verbindung in dem Sinne vorliegen muss, dass die Anwendung des Nötigungsmittels für die Duldung oder Vornahme der sexuellen Handlung tatsächlich kausal geworden ist,21 so vermag diese Tatsache im Zusammen18 So etwa BGH GA 1977, 144; BGH NStZ 1985, 546; Tröndle / Fischer § 177 Rn. 23; LK-Laufhütte § 177 Rn. 2; Folkers NStZ 2005, 181 ff.; Hiebl / Bendermacher StV 2005, 264, 265 f., 268; differenzierend BGH NStZ 2004, 440 f.; BVerfG NStZ 2005, 30; BGH NStZ 2006, 395, 396; NK-Frommel § 177 Rn. 13, 28; SK-Wolters / Horn § 177 Rn. 3; MüKo-Renzikowski § 177 Rn. 28; ders. NStZ 2006, 397, 398. 19 So auch SK-Wolters / Horn § 177 Rn. 11; NK-Frommel § 177 Rn. 28; Fischer NStZ 2000, 142 f.; Folkers NStZ 2005, 181, 182 f.; vgl. dazu auch BVerfGE 92, 1, 17. 20 BGH NJW 1984, 1632; BGHR StGB § 177 Abs. 1 Gewalt 1, 8; BGH NStZ 1995, 229 f.; BGH NStZ 1995, 230; BGH NStZ-RR 1998, 322; BGH NStZ-RR 1998, 322 f.; BGH NStZRR 1998, 323; BGH NStZ 1999, 506; BGH NStZ-RR 2003, 42, 43; BGH NStZ 2004, 682, 683; BGH NStZ 2006, 395, 396 f.; Tröndle / Fischer 177, 13, 51; Lackner / Kühl § 177 Rn. 4, 10; Schönke / Schröder-Lenckner / Perron / Eisele § 177 Rn. 4, 6 f., 11; MüKo-Renzikowski § 177 Rn. 28, 32; LK-Laufhütte § 177 Rn. 15; Laubenthal Rn. 106, 114, 124, 145; Folkers NStZ 2005, 181, 182; vgl. auch Mildenberger S. 39; Kieler S. 141 f. 21 BGH NStZ 1985, 71, 72; BGHR StGB § 177 Abs. 1 Drohung 11; BGH NStZ 2003, 424; BGH NStZ 2004, 682, 683; BGH NStZ 2006, 395, 396; Tröndle / Fischer § 177 Rn. 4;
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228
6. Abschn.: Folgerungen für die Drohung bei Vergewaltigung
spiel mit der Verwendung des Wortes „durch“ nicht dazu zu führen, dass dem Drohungsbegriff nach der Gesetzesfassung ein spezifisches Erfolgsmoment innewohnen würde. Denn allein das durch Gebrauch des Terminus „durch“ präzise zum Ausdruck gebrachte Erfordernis eines zusätzlichen Kausalzusammenhangs vermag den Bedeutungsgehalt weder der Drohung noch der Gefahr zu modifizieren. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass, sofern man bereits die vorsätzliche Herbeiführung einer spezifischen Zwangslage auf Seiten des Opfers zum tatbestandlichen Inhalt der Drohung erheben würde, die Forderung eines subjektiven Finalzusammenhanges schlicht überflüssig wäre. Man wird folglich zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass die Verwendung des Wortes „durch“ ausschließlich dem Zweck dient, den Kausalzusammenhang zwischen Nötigungsmittel und tatbestandlichem Erfolg deutlich herauszuheben, nicht aber dem Begriff der Gefahr eine andere begriffliche Färbung geben soll. Nach alledem spezifiziert, was auch durch die von der überwiegenden Rechtsprechung und den meisten Autoren verwendeten Formulierungen deutlich zum Ausdruck gebracht wird22, das Merkmal der Gefahr auch im Rahmen von sexueller Nötigung und Vergewaltigung den Inhalt des vom Täter in Aussicht gestellten Übels, von dem die hierdurch verursachte Zwangslage des Opfers als Zwischenerfolg und der tatbestandliche Erfolg in Form der Vornahme oder Duldung einer sexuellen Handlung zu unterscheiden sind. Ein Unterschied zu den Delikten von Raub und räuberischer Erpressung besteht diesbezüglich nicht. Schließlich kann auch in den divergierenden Rechtsgütern, deren Schutz die hier behandelten Vorschriften dienen, kein entscheidender Anknüpfungspunkt für eine abweichende Gefahrinterpretation gesehen werden; insoweit gilt das soeben im Rahmen der Behandlung des Gewaltmerkmals Gesagte. Schönke / Schröder-Lenckner / Perron / Eisele § 177 Rn. 4, 12; LK-Laufhütte § 177 Rn. 14; Blei BT § 41 I. (S. 147); Laubenthal Rn. 145; Teufert S. 42. 22 Vgl. BGH NStZ 1981, 218: „Während bei jenem (dem Merkmal der Gewalt) die Übelszufügung bereits im Zeitpunkt der Tat tatsächlich erfolgt, wird sie bei der anderen Alternative erst in Aussicht gestellt, wenn auch im Sinne einer bereits jetzt drohenden Gefahr.“; BGH NStZ 03, 424: “ . . . hat die Drohung zur Erzwingung sexueller Handlungen zum Inhalt, dass gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben in Aussicht gestellt wird . . .“; SK-Wolters / Horn § 177 Rn. 8: „Vielmehr muss der Sexualkontakt des Täters mit dem Opfer gerade auf eine Person treffen, die sich zu diesem Zeitpunkt in Unfreiheit, also in einem Zustand befindet, in dem sie zum Neinsagen gegenüber dem sexuellen Ansinnen des Täters zwar im Prinzip . . . , jedoch angesichts der ihr zugefügten Zwangslage nur noch erheblich eingeschränkt oder gar nicht mehr fähig ist. Diese Zwangslage des Opfers muss durch die spezifischen Nötigungsmittel . . . verursacht worden sein . . .“, § 177 Rn. 9: „Mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben droht, wer . . . ankündigt, er werde, sofern sich der Adressat seinem Willen nicht füge, eine Situation setzen, die den Begriff der ,gegenwärtigen Gefahr‘ für dessen Leben oder körperliche Integrität erfüllt.“; Laubenthal Rn. 105: „Bei der sexuellen Nötigung trifft das sexuelle Ansinnen des Täters auf eine Person, die zwar prinzipiell den Sexualkontakt verweigern kann – hierzu jedoch aufgrund der ihr durch spezielle Nötigungsmittel zugefügten Zwangslage nur erheblich eingeschränkt oder gänzlich nicht mehr fähig ist.“; unklar BGH NStZ 1994, 31: In Fällen, in denen der Angriff auf eine dritte Person angedroht wird, „muss der Adressat der Drohung in seinem eigenen Sicherheitsgefühl unmittelbar beeinträchtigt sein“.
C. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr
229
Auch im Bereich von sexueller Nötigung und Vergewaltigung droht der Täter folglich mit einer Gefahr, wenn er aus der ex-ante-Sicht eines verständigen Menschen aus dem Verkehrskreis des Opfers, der auch über eventuelle spezielle Kenntnisse des Opfers verfügt, ein Übel in Aussicht stellt, das mit der nahe liegenden Möglichkeit eines Schadenseintritts an einem Rechtsgut verbunden ist.
C. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr in § 177 StGB Im Rahmen von sexueller Nötigung und Vergewaltigung ist – wie bereits gesagt – indes ebenfalls nicht jede Drohung mit einer Gefahr tatbestandsmäßig. Eine Verwirklichung des § 177 StGB kommt vielmehr nur dann in Betracht, wenn zum einen eine Gefahr für Leib oder Leben23 angekündigt wird und sich diese zum anderen als gegenwärtig im Sinne des Gesetzes darstellt. Im Ergebnis besteht hinsichtlich der Gegenwärtigkeit der Gefahr allerdings bei zutreffender Betrachtung – wie sogleich zu zeigen sein wird – eine Identität mit den §§ 249, 255 StGB. Eine eigenständige Analyse der genannten Problematik führt danach zu dem Schluss, dass – aus den oben24 bereits ausführlich erörterten Gründen – allein eine restriktive Deutung25 überzeugen kann, wobei die bislang vorzufindenden Ansätze an einigen Stellen zumindest der Ergänzung und Präzisierung bedürfen. Denn auch bei diesen fehlt es insbesondere an einer dezidierten Unterscheidung zwischen der Dauergefahr im engeren Sinne und der Dauergefahr im weiteren Sinne. Hält man sich vor Augen, dass, wie Horn und Wolters es so plastisch formulieren, der Sexualkontakt des Täters mit dem Opfer gerade auf eine Person treffen muss, die sich zu diesem Zeitpunkt aufgrund der vom Täter eingesetzten Nötigungsmittel in Unfreiheit, also in einem Zustand befindet, in dem sie zum Neinsagen gegenüber dem sexuellen Ansinnen des Täters zwar im Prinzip, jedoch angesichts der ihr zugefügten Zwangslage nur noch erheblich eingeschränkt oder gar nicht mehr fähig ist26, so wird deutlich, dass den qualifizierten Nötigungsmitteln nach der Gesetzeskonzeption – ebenso wie bei den §§ 249, 255 StGB – eine hohe potentielle Nötigungsintensität zukommen muss. Dies ist neben den Fällen der Gewalt, die sich – wie bereits ausgeführt – bei zutreffender Betrachtung gegen die Person richten muss, aus den oben27 genannten Gründen nur in solchen Drohungskonstellationen gegeben, in denen das Opfer vor der im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zu treffenden Entscheidung steht, entweder dem Täterverlangen nachzukommen oder aber einen Schaden entsprechend der Täterankündigung zu erleiden. In eine solche, keinen Aufschub duldende Entscheidungssituation wird 23 24 25 26 27
Vgl. dazu oben 2. Abschnitt Fn. 59. Vgl. dazu ausführlich oben 5. Abschnitt, C. I. Vgl. oben 2. Abschnitt, C. II. 4. SK-Wolters / Horn § 177 Rn. 8. Vgl. oben 5. Abschnitt, C. I.
230
6. Abschn.: Folgerungen für die Drohung bei Vergewaltigung
das Opfer aber nur versetzt, wenn der Täter einen unmittelbar bevorstehenden Schadenseintritt in Aussicht stellt, wie dies bei der akuten Gefahr und der Dauergefahr im engeren Sinne der Fall ist. Hingegen stehen dem Bedrohten bei der Ankündigung einer Dauergefahr im weiteren Sinne aufgrund der verbleibenden Zeit bis zum Eintritt des angedrohten Übels regelmäßig weitere Verhaltensalternativen zur Verfügung, die der Drohung ihre besondere potentielle Nötigungsintensität nehmen. Die Dauergefahr im weiteren Sinne kann daher grundsätzlich nicht als gegenwärtige Gefahr im Sinne des § 177 StGB qualifiziert werden. Auch die Betrachtung der durch die jeweilige Bestimmung geschützten Rechtsgüter vermag, wie im vorigen Unterabschnitt bereits herausgearbeitet wurde, keine abweichende Sicht zu rechtfertigen. Nach der aus diesen Erwägungen resultierenden Begriffsbestimmung droht der Täter im Rahmen des § 177 StGB, wie auch bei §§ 249, 255 StGB, dann mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben, wenn er ausdrücklich oder schlüssig die Zufügung eines Übels ankündigt, das mit der nahe liegenden Möglichkeit einer zeitlich unmittelbar bevorstehenden erheblichen Körperverletzung oder Tötung verbunden ist, wenn dessen Eintritt von seinem Einfluss abhängen und das Übel verwirklicht werden soll, falls sich der Adressat dem Willen des Täters nicht beugt und sich dementsprechend verhält.
D. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass die „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ im Sinne der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung inhaltlich mit dem entsprechenden Tatbestandsmerkmal von Raub und räuberischer Erpressung identisch ist. Auch in deren Rahmen ist hierunter die aus der ex-ante-Sicht eines verständigen Menschen aus dem Verkehrskreis des Opfers, der auch über eventuelle besondere Kenntnisse verfügt, zu beurteilende ausdrückliche oder schlüssige Ankündigung des Täters zu verstehen, für den Fall, dass sich der Adressat dem Willen des Täters nicht beugt und sich dementsprechend verhält, ein Übel herbeizuführen, das mit der nahe liegenden Möglichkeit einer zeitlich unmittelbar bevorstehenden erheblichen Körperverletzung oder einer Tötung verbunden ist, wobei dessen Eintritt von seinem Einfluss abhängen soll.
Siebter Abschnitt
Die Abgrenzung der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben von der Gewaltalternative in §§ 177, 249, 255 StGB In den vorherigen Abschnitten wurde ausführlich herausgearbeitet, wie der Begriff der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen der §§ 177, 249, 255 StGB inhaltlich zu interpretieren ist und „ab wann“ – bildlich gesprochen – vom Vorliegen einer derartigen Drohung ausgegangen werden kann. Es bleibt damit abschließend, gewissermaßen als Kehrseite der Medaille, zu klären, ob und bejahendenfalls ab welchem Zeitpunkt die angekündigte Gefahr im Rahmen der §§ 177, 249, 255 StGB – um weiter in einer allegorischen Terminologie zu bleiben – in ihrer Gegenwärtigkeit so präsent sein kann, dass sie nicht mehr bzw. zumindest nicht mehr ausschließlich als Drohung sondern – gegebenenfalls auch – als Gewalt im Sinne dieser Tatbestände erscheint. Es ist mit anderen Worten zu untersuchen, ob und, sofern dies der Fall sein sollte, wie die Drohungs- von der in den jeweiligen Delikten ebenfalls enthaltenen Gewaltalternative abzugrenzen ist.
A. Der Meinungsstand zur Notwendigkeit einer Abgrenzung Vor der Beantwortung der Frage, wie die Drohungs- von der Gewaltalternative abzugrenzen ist, soll zunächst der Überlegung nachgegangen werden, ob eine solche Abgrenzung überhaupt erforderlich bzw. sinnvoll ist oder aber allenfalls akademischen Wert besitzt. Entsprechende Bedenken könnten sich vor allem angesichts der Tatsache ergeben, dass zumindest ein Teil der Rechsprechung und einigen Autoren eine Überschneidung von Gewalt und Drohung ausdrücklich für möglich halten.1 1 So etwa BGHSt 23, 126 f.: „Oft werden die Vornahme von Gewalt in der Form von vis compulsiva und die Anwendungen von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben ineinander übergehen; in der vis compulsiva kann auch das Element der Drohung enthalten sein.“; NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 25 f.; diesem zustimmend Moseschus S. 105; ebenso Herzberg GA 1996, 557, 560; ders. GA 1998, 211, 214; in der Tendenz auch Tröndle /
232
7. Abschn.: Die Abgrenzung der Drohung
So betont insbesondere Kindhäuser, dass eine Verzahnung von Gewalt und Drohung möglich sei. Diese beiden Nötigungsmittel stünden nicht in einem Exklusivitätsverhältnis, denn insbesondere vollendete oder versuchte Körperverletzungen als Fall des Aufzeigens physischer Überlegenheit, die zugleich als Drohmittel eingesetzt würden, verlören ihren Gewaltcharakter nicht dadurch, dass sich das Opfer erst durch die zusätzliche Drohung, mit dem Handeln fortzufahren, im Sinne des Täters füge. Der Täter verwirkliche in diesem Fall beide Nötigungsmittel zugleich. Dies erhelle, dass gegebenenfalls ein und dasselbe Verhalten zugleich Gewaltanwendung, in seiner schieren physischen Struktur, und Drohung, in seiner symbolischen Bedeutung der Ankündigung eines weiteren Übels, sein könne. Es bestünde die Möglichkeit, dass Gewalt und Drohung Hand in Hand gehen können.2 Diese Sicht scheint – jedenfalls prima facie – auch dadurch gestützt zu werden, dass die herrschende Ansicht sowohl im Bereich des § 177 StGB3 als auch im Rahmen von §§ 249, 255 StGB4 die Auffassung vertritt, die vom Täter gegen das Opfer angewandte Gewalt könne entweder als Gewalt oder als – zumeist konkludente – Drohung fortwirken, je nachdem, ob das qualifizierte Nötigungsmittel der Gewalt fortwährend eingesetzt werde oder aber die durch seinen Einsatz ausgelöste Nötigungswirkung fortbestehe. Demgegenüber sind andere Autoren explizit der Ansicht, dass eine Überschneidung von Gewalt und Drohung denklogisch ausgeschlossen sei, da diese beiden Nötigungsmittel in einem Exklusivitätsverhältnis stünden.5 Sollte dieser Auffassung zuzustimmen sein, so resultierte hieraus nach dem oben Gesagten das Erfordernis, die Abgrenzungskriterien von der Gewaltalternative auf der einen Seite und der Drohungsalternative auf der anderen Seite näher zu beleuchten. Eine Entscheidung dieses Meinungsstreites kann indes an dieser Stelle nicht abstrakt getroffen werden, sondern setzt zunächst eine nähere Untersuchung des GeFischer § 240 Rn. 27 f., 30, der davon ausgeht, dass sich Drohung und Gewalt im Grenzbereich überschneiden können; ähnlich SK-Günther § 253 Rn. 10, jedenfalls hinsichtlich der Gewalt gegen Sachen. 2 NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 25 f. 3 Vgl. dazu BGH NJW 1984, 1632; BGHR StGB § 177 Abs. 1 Drohung 2, 4, 6, 7, 11; BGHR StGB § 177 Abs. 1 Gewalt 1; BGH StV 1994, 127; BGH NStZ-RR 1998, 322; BGH NStZ 1999, 505; BGH NStZ 2000, 86, 87; BGH NStZ-RR 2000, 355; BGH StV 2001, 679, 680; BGH NStZ 2003, 424 f.; BGH NStZ-RR 2003, 42, 43 f.; Küper JZ 1981, 568, 569 f.; Schönke / Schröder-Lenckner / Perron / Eisele § 177 Rn. 7; Tröndle / Fischer § 177 Rn. 15 f., 20; MüKo-Renzikowski § 177 Rn. 30 ff.; NK-Frommel § 177 Rn. 42; Lackner / Kühl § 177 Rn. 4; LK-Laufhütte § 177 Rn. 9; Mildenberger S. 37 f.; Sick S. 208 f.; Kieler S. 142 f., 145. 4 BGH NStZ 1982, 380 f.; BGHR StGB § 249 Abs. 1 fortwirkende Gewalt 1; BGHR StGB § 249 Abs. 1 Drohung 3; BGH StV 1995, 416; BGH NStZ-RR 1997, 298; BGH NStZ 2003, 431, 432; BGH NStZ 2004, 152, 153; BGH NStZ-RR 2004, 333, 334; Wessels / Hillenkamp Rn. 334 ff.; Otto § 46 Rn. 13 ff.; Rengier BT I, § 7 Rn. 15; Krey / Hellmann Rn. 193 f., 307; Küper BT S. 177 f.; Schünemann JA 1980, 349, 350, 352 f.; Baier JA 2000, 12, 13; Walter NStZ 2004, 154; kritisch Tröndle / Fischer § 249 Rn. 9 ff., 13 ff. 5 Vgl. unten Fn. 25, 29.
B. Der Begriff der Gewalt gegen eine Person
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waltgebegriffs bzw. in concreto des Begriffs der Gewalt gegen eine Person6 voraus. Denn erst wenn feststeht, welche Charakteristika das Merkmal der Gewalt gegen eine Person im Rahmen der fraglichen Vorschriften kennzeichnen, kann auf dieser Grundlage geklärt werden, ob eine Überschneidung von Gewalt und Drohung begrifflich möglich ist. Daher soll im Folgenden zunächst das für die §§ 177, 249, 255 StGB maßgebliche Verständnis des Tatbestandsmerkmals der Gewalt gegen eine Person ermittelt werden.
B. Der Begriff der Gewalt gegen eine Person in den §§ 177, 249, 255 StGB Das Tatbestandsmerkmal der Gewalt gehört wohl zu einem der problematischsten und umstrittensten Termini des gesamten Strafrechts7; dies gilt sowohl für die Grundform der „Gewalt“ allgemein als auch für die verschiedenen im Gesetz enthaltenen speziellen Gewaltformen, wie etwa die hier behandelte „Gewalt gegen eine Person“. Eine umfassende Darstellung der gesamten Problematik kann und soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit angesichts der Fülle verschiedener insoweit zu beachtender Problemkreise nicht erfolgen. Vielmehr wird sich die Darstellung darauf beschränken, die für die aufgeworfene Fragestellung relevanten Grundsätze herauszugreifen und näher zu beleuchten. Als Ausgangsbefund lässt sich dabei festhalten, dass die derzeit herrschende Auffassung unter dem Tatbestandsmerkmal der Gewalt eine mit dem Einsatz von zumindest nicht völlig unerheblicher körperlicher Kraftentfaltung verbundene Einwirkung versteht, die auf die Person, gegen die sie gerichtet ist, nicht nur einen psychischen, sondern einen körperlicher Zwang ausübt, wobei in subjektiver Hinsicht hinzukommen muss, dass dieser nach der Vorstellung des Täters dazu geeignet ist, einen tatsächlich geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden oder von vornherein unmöglich zu machen.8 In objektiver Hinsicht wird das Gewaltmerkmal nach dieser Ansicht also durch das kumulative Vorliegen zweier Bestandteile konstituiert – auf der einen Seite die vom Täter angewandte nicht ganz unerhebliche Körperkraft und auf der anderen Seite die auf das Opfer ausgeübte physische Zwangswirkung. Dies gilt auch für die Norm des § 177 StGB; vgl. dazu oben 6. Abschnitt, B. MüKo-Gropp / Sinn § 240 Rn. 31; Küper BT S. 168; Küpper BT 1, I. § 3 Rn. 36; Krey / Heinrich Rn. 328a. 8 RGSt 64, 113, 115 f.; BGH JR 1982, 115 f.; BGH NStZ 1995, 230; BGH NStZ 1999, 506; MüKo-Sander § 249 Rn. 11, § 253 Rn. 8; Tröndle / Fischer § 177 Rn. 6; Lackner / Kühl § 240 Rn. 5; LK-Träger / Altvater § 240 Rn. 7, 9; Otto § 46 Rn. 4; Küper BT S. 167, 169; Krey / Heinrich Rn. 333 f., 340 ff., 350e; Rengier BT I, § 7 Rn. 3; ders. BT II, § 23 Rn. 2 ff., 23; Schmidhäuser BT 4. Rn. 4, 15; Lask S. 138 f.; Blesius S. 15; Moseschus S. 104 f.; Otto JZ 1982, 116, 117 f.; Hoyer GA 1997, 451; in der Sache ebenso BVerfGE 92, 1, 14 f.; BVerfG NJW 2002, 1031, 1032; vgl. auch NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 10 f.; ders. BT II § 13 Rn. 4, § 17 Rn. 4. 6 7
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7. Abschn.: Die Abgrenzung der Drohung
Bei dieser Definition der Gewalt handelt es sich indes keinesfalls um einen allgemein anerkannten Konsens, denn sowohl die Berechtigung der Forderung eines Einsatzes von Körperkraft als auch die des Merkmals der physischen Zwangswirkung wird von zahlreichen Stimmen zum Teil erheblich in Zweifel gezogen.9 Diese Problematik kann aber vorliegend zumindest teilweise mit Blick darauf dahinstehen, dass das Gesetz im Rahmen der hier in Frage stehenden Vorschriften nicht allgemein Gewalt, sondern entweder ausdrücklich, wie bei §§ 249, 255 StGB, oder jedenfalls bei zutreffender Betrachtung normativ, so bei § 177 StGB10, „Gewalt gegen eine Person“ verlangt. Wenn in concreto aber bereits qua Gesetz eine gegen die Person gerichtete Gewalt erforderlich ist, so wird man voraussetzen können, dass die Gewalt jedenfalls im Kontext dieser Normen durch eine aktuelle körperliche Zwangswirkung auf Seiten des Opfers gekennzeichnet ist.11 An diesem, insoweit gesicherten, Merkmal der aktuellen Zwangswirkung hat sich auch die Abgrenzung zur Drohungsalternative auszurichten. Denn unabhängig von der an dieser Stelle nicht zu klärenden Frage, ob die Gewalt gegen eine Person tatsächlich auch zwingend die Entfaltung körperlicher Kraft seitens des Täters bzw. die Anwendung eines sie ersetzenden Werkzeugs voraussetzt, so taugt dieser – mögliche – Bestandteil der strafrechtlichen Gewaltdefinition doch in jedem Falle nicht für eine Unterscheidung vom qualifizierten Nötigungsmittel der „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“.12 Man wird vernünftigerweise kaum in Zweifel ziehen können, dass auch eine – vor allem konkludente – Drohung mit der Anwendung körperlicher Kraft seitens des Täters einhergehen kann. 9 Vgl. dazu etwa NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 5 f., 16, 18 f., 249 Rn. 4, § 253 Rn. 4; MüKo-Gropp / Sinn § 240 Rn. 31 ff., 53 ff.; SK-Horn / Wolters § 240 Rn. 9 ff., 23 ff.; Krey / Heinrich Rn. 330 ff.; Gössel / Dölling BT 1, § 17 Rn. 40 ff.; Gössel BT 2, § 13 Rn. 11 ff.; Schmidhäuser BT 8. Rn. 48, 50; Rengier BT II, § 23 Rn. 4 ff.; Knodel S. 25 ff., 59 f., 77 f., 83 ff.; Busse Nötigung S. 94 ff.; Bergmann S. 93, 123 ff.; Sick S. 152 ff.; Blesius S. 25 ff., 45 ff.; Jakobs, H. Kaufmann-GDS S. 791, 794 ff., 808 ff.; Paeffgen, Grünwald-FS S. 433, 438 ff., 452 ff., 463; Haffke ZStW 84, 37, 47 ff., 55, 57 ff., 62 ff., 71, 74; Wolter NStZ 1985, 193, 196 ff., 245 ff., 251 f.; Lesch StV 1993, 578, 579 f.; Herzberg GA 1996, 557, 563 ff. 10 Vgl. oben 6. Abschnitt, B. 11 So auch BGH GA 1962, 145; BGHSt 18, 329, 330; BGHSt 23, 126, 127; BGH NStZ 1981, 218; BGH JR 1982, 115, 116; BGH NStZ 1985, 71; BGH StV 1986, 61; BGHR StGB § 177 Abs. 1 Gewalt 3, 4, 7, 9, 14; BGH NStZ 1989, 528; BGH NStZ 1995, 230; BGH NStZ 1999, 506; BGH NStZ 2003, 89; BGH NStZ 2005, 41; MüKo-Renzikowski § 177 Rn. 25; MüKo-Sander § 249 Rn. 11, 13, 18 f.; Schönke / Schröder-Eser vor §§ 234 ff. Rn. 27, § 249 Rn. 4 f.; LK-Herdegen § 249 Rn. 5; SK-Wolters / Horn § 177 Rn. 10; SK-Günther § 249 Rn. 7; Tröndle / Fischer § 177 Rn. 5 f., § 249 Rn. 4; Lackner / Kühl § 177 Rn. 4, § 249 Rn. 2; Joecks § 249 Rn. 16; Maurach / Schroeder / Maiwald § 35 Rn. 15; Schroth BT S. 169; Wessels / Hillenkamp Rn. 319, 321; Mitsch BT 2, 1, § 3 Rn. 17 ff.; Laubenthal Rn. 117 ff.; Rengier BT I, § 7 Rn. 3; Küper BT S. 175; Krey / Hellmann Rn. 186; Krey Gewaltbegriff 2, Rn. 101 ff., 105, 107 ff., 121, 146 ff.; Blesuis S. 80 ff., 90 f.; Moseschus S. 119; Lüderssen GA 1968, 257, 259; Geilen JZ 1970, 521, 527; Schünemann JA 1980, 349, 350; Seelmann JuS 1986, 201, 202; Otto JZ 1993, 559, 568; ders. JZ 2004, 364. 12 A. A. Hagel S. 329.
B. Der Begriff der Gewalt gegen eine Person
235
Betrachtet man nun das nach hiesiger Auffassung entscheidungserhebliche Kriterium der körperlichen Zwangswirkung näher, so lässt sich feststellen, dass hierfür nicht nur eine unmittelbar, sondern auch eine mittelbar gegen den Körper gerichtete Einwirkung als hinreichend zu betrachten ist, sofern sie nur als körperlicher Zwang auf das Opfer wirkt.13 Es kann keinen Unterschied machen, ob der Täter direkt auf das Opfer einwirkt oder sich hierzu eines „Umwegs“ in Form von Hilfsmitteln o. ä. bedient. Weitergehend ist zu konstatieren, dass inzwischen, nach heftigem Streit zum Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts14, weitgehend anerkannt ist, dass „Gewalt gegen eine Person“ grundsätzlich sowohl in Form der „vis absoluta“, der willensausschließenden Gewalt, durch welche dem Opfer mittels körperlicher Einwirkung die Willensbildung oder die Willensbetätigung unmöglich gemacht wird, als auch in der Form der „vis compulsiva“, der willensbeugenden Gewalt, welche den Willen des Opfers nicht ausschaltet oder negiert, sondern von diesem ein bestimmtes vom Täter erstrebtes Verhalten erzwingt, auftreten kann, wobei sich beide Gewaltformen prinzipiell erheblich von der Drohung unterscheiden.15 Umstritten ist bis zum heutigen Tage allerdings, ob „vis absoluta“ als taugliches Nötigungsmittel nicht nur im Rahmen der §§ 177, 249 StGB, sondern auch im Sinne des § 255 StGB anzusehen ist. Die eine solche Eignung ablehnende Ansicht stützt sich dabei maßgebend auf die Überlegung, dass der Tatbestand der räuberischen Erpressung auf der Erfolgsseite ein willensgetragenes Verhalten des Opfers voraussetze, das entweder als Vermögensverfügung oder doch zumindest als nicht 13 Ebenso Tröndle / Fischer § 177 Rn. 9, § 249 Rn. 4; Lackner / Kühl § 249 Rn. 2; MüKoRenzikowski § 177 Rn. 25; MüKo-Sander § 249 Rn. 11; LK-Herdegen § 249 Rn. 6; NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 17, § 249 Rn. 4; ders. StGB § 249 Rn. 4; Arzt / Weber § 17 Rn. 6; Wessels / Hillenkamp Rn. 319, 321; Haft BT I S. 35; Mitsch BT 2, 1, § 3 Rn. 22 f.; Küper BT S. 175; Schroth BT S. 169; Krey / Heinrich Rn. 348; Krey Gewaltbegriff 2, Rn. 113 f.; Gnad S. 108 f.; Lask S. 140 f.; Blesius S. 80; Lüderssen GA 1968, 257, 259; Seelmann JuS 1986, 201, 202. 14 Vgl. dazu auf der einen Seite Binding, BT 1 S. 81 ff. (insb. S. 83 Fn. 2), der nur vis absoluta als tatbestandliche Gewalt im Sinne des Gesetzes anerkannte, und auf der anderen Seite Wächter, GS 27, 161, 171 Fn. *), nach dem nur vis compulsiva geeignetes Nötigungsmittel sein sollte, sowie im Übrigen oben 3. Abschnitt, B. I. 4. 15 Grundlegend bereits VD VI-Frank 1. § 4 II. 1. (S. 20): „. . . daß es denn doch etwas anderes ist, ob ich jemandem Prügel nur in Aussicht stelle, oder ob ich sie ihn wirklich schmecken lasse.“; vgl. außerdem RGSt 2, 287, 288; RGSt 64, 113, 116 ff.; BGH VRS 22, 435, 437; BGH GA 1965, 57; MüKo-Gropp / Sinn § 240 Rn. 29; Schönke / Schröder-Eser vor §§ 234 ff. Rn. 13 ff., 37, § 249 Rn. 4; LK-Herdegen § 177 Rn. 3, 5 f., 9; LK-Träger / Altvater § 240 Rn. 7; SK-Horn / Wolters § 240 Rn. 9 ff., 22 ff.; NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 18 ff., § 249 Rn. 4; Tröndle / Fischer § 240 Rn. 27 f.; Mitsch BT 2, 1, § 3 Rn. 18; Wessels / Hettinger Rn. 396 f., 405 f.; Gössel / Dölling BT 1, § 17 Rn. 45 ff.; Knodel S. 23 f., 28 f., 31 ff., 59, 72; Busse Nötigung S. 110 ff.; Bergmann S. 81 ff.; Blesius S. 19, 22, 86 f.; Geilen JZ 1970, 521, 525, 527 f.; ders. Jura 1979, 53, 54; Haffke ZStW 84, 37, 47 f., 50, 68 ff.; Seelmann JuS 1986, 201, 202 f.; Hoyer GA 1997, 451, 453 ff.; kritisch zur Unterscheidung allerdings Gössel BT 2, § 31 Rn. 19: „höchst fragwürdig“; Jakobs, H. Kaufmann-Gds S. 791, 801 Fn. 33: „wenig ertragreich“ und Hruschka, JZ 1995, 737, 744: „an sich nicht sinnvoll“.
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7. Abschn.: Die Abgrenzung der Drohung
rein passives Erdulden in Erscheinung treten müsse. Dies ergebe sich unter anderem auch daraus, dass Nötigungsmittel und Nötigungserfolg streng zu trennen und demnach nicht identisch sein könnten. Ein willensgetragenes Opferverhalten müsse aber denklogisch immer dort ausscheiden, wo der Täter, wie im Falle der „vis absoluta“, den Willen des Opfers ausschalte.16 Dem ist jedoch im Ergebnis nicht zuzustimmen. Denn neben der Tatsache, dass die §§ 253, 255 StGB nach zutreffender Meinung nicht das Vorliegen einer Vermögensverfügung des Genötigten voraussetzen17, erscheint es bereits zweifelhaft, aus dem tatbestandlichen Erfolg Rückschlüsse auf das eingesetzte Nötigungsmittel zu ziehen. Im Übrigen ist es auch verfehlt, aus den Worten „Handlung, Duldung oder Unterlassung“ zu folgern, „vis absoluta“ komme als Zwangsmittel nicht in Betracht. Denn vieles spricht – zumindest im Bereich der Nötigung nach § 240 StGB – dafür, dass mit den genannten Ausdrücken schlechterdings jedes Verhalten des Genötigten umschrieben werden soll.18 Wenn dem aber so ist, besteht kein sachlicher Grund dafür, den Nötigungserfolg der verschiedenen Erpressungsformen, die anerkanntermaßen als Spezialfall der Nötigung anzusehen sind, abweichend zu interpretieren. Darüber hinaus ist die „vis absoluta“, wenn auch nicht mit den Verhaltensformen der Handlung und der Unterlassung, so doch jedenfalls mit derjenigen der Duldung kompatibel.19 Schon nach dem allgemeinen Sprachgebrauch kann „Duldung“ auch rein passives Verhalten sein, ohne dass es darauf ankommt, ob die Duldung auf einem erzwungenen Willensentschluss beruht oder nicht. Eine Duldung liegt demgemäß auch vor, wenn eine Willensbildung von vornherein ausgeschlossen wird.20 Diese wortlautorientierte Auslegung wird auch durch die Gegenüberstellung der Begriffe „Unterlassung“ einerseits und „Duldung“ andererseits bestätigt. Sowohl die „Unterlassung“ als auch die „Duldung“ kennzeichnen nämlich ein in der Tendenz passives Verhalten des Opfers, wobei der „Unterlassung“ allerdings ein gewisser aktiver Bezug in Form einer bewussten Willensentscheidung zukommt. Wenn aber bereits die „Unterlassung“ ein willensgetragenes Passivverhalten des Genötigten charakterisiert, muss die „Duldung“, sofern man dem Gesetzgeber nicht unnötige Wiederholungen ein- und desselben Spezifikums unterstellt, auch rein passive Verhaltensweisen des Opfers erfassen. Insoweit geht auch der Einwand fehl, bei einer solchen Betrachtung fielen die 16 Tröndle / Fischer § 253 Rn. 5, 9, § 255 Rn. 1, 3; Wessels / Hillenkamp Rn. 707, 727, 731; MüKo-Sander § 253 Rn. 8, 13 ff.; Haft BT I S. 47; Schönke / Schröder-Eser § 253 Rn. Rn. 3, 8, § 255 Rn. 2; Maurach / Schroeder / Maiwald § 42 Rn. 19, 53; Krey Gewaltbegriff 2, Rn. 137; Schmidhäuser BT 11. Rn. 54; Gnad S. 111 ff.; Tenckhoff JR 1974, 489 ff.; im Hinblick auf § 240 StGB ebenso MüKo-Gropp / Sinn § 240 Rn. 59; Hruschka JZ 1995, 737, 740, 742 ff.; ders. NJW 1996, 160, 162 f.; Köhler, Leferenz-FS S. 511, 512, 514 ff., 524 f.; ders. NJW 1984, 10, 11 f., da mit „vis absoluta“ keine Opferreaktion im Sinne einer Handlung, Duldung oder Unterlassung korrespondieren könne. 17 Vgl. oben 5. Abschnitt Fn. 84. 18 Vgl. Knodel S. 20, 28 f.; Köhler, Leferenz-FS S. 511, 512; Krey / Hellmann Rn. 305. 19 RGSt 2, 287, 288; Knodel S. 20, 28 f. 20 LK-Herdegen § 253 Rn. 12.
B. Der Begriff der Gewalt gegen eine Person
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streng voneinander zu trennenden Gesichtspunkte Nötigungsmittel und Nötigungserfolg zusammen. Denn auch wenn zuzugeben ist, dass im Falle der Anwendung von „vis absoluta“ regelmäßig ein nach außen erkennbarer weiterer Nötigungserfolg nicht in Erscheinung tritt, so ändert dies doch nichts an der Tatsache, dass bei genauer Betrachtung doch zwei voneinander zu trennende Akte gegeben sind.21 Denn das Verhalten des Täters erschöpft sich sowohl im Falle der Nötigung als auch bei der – räuberischen – Erpressung, selbst im Falle der Anwendung von „vis absoluta“, gerade nicht darin, isoliert eine unwiderstehliche körperliche Zwangswirkung auf das Opfer auszuüben, sondern erstrebt wird ein „mehr“, ein auf deren Grundlage eintretender Erfolg. Dieser Erfolg besteht auch im Falle der Duldung nicht ausschließlich in der Anwendung des Nötigungsmittels, sondern in einem – wenn auch möglicherweise nur gedanklich abgrenzbaren – Passivverhalten des Genötigten. Zudem führt auch ein Vergleich mit der Vorschrift des § 177 StGB zu keinem anderen Ergebnis. Auch diese verlangt unter anderem, dass das Opfer mit Gewalt genötigt wird, sexuelle Handlungen zu dulden. Dass aber gerade das gewaltsame Eindringen in den Genötigten als Paradebeispiel für ein rein passives Erdulden des Opfers als Duldung in diesem Sinne zu qualifizieren ist, kann nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden. Schließlich sprechen auch das umgangssprachliche Verständnis des Wortes Gewalt sowie die historische und teleologische Auslegung für eine Einbeziehung der „vis absoluta“. Schon nach dem allgemeinen Wortverständnis umfasst der Begriff Gewalt das Unmöglichmachen der freien Willensbetätigung durch brutale Überwältigung, ja dies ist nach der Volksanschauung sogar gerade ein klassischer Fall der Anwendung von Gewalt.22 Diese Tatsache wird auch durch die historische Betrachtung verifiziert, aus der sich darüber hinaus ergibt, dass zum Zeitpunkt der Schaffung des Tatbestandes der räuberischen Erpressung in seiner bis heute fast unveränderten Fassung weitgehend Einigkeit darüber bestand, dass auch die Anwendung von „vis absoluta“ eine Bestrafung nach § 255 StGB auslösen können sollte. Im Übrigen wäre es teleologisch betrachtet geradezu unverständlich, warum die „vis absoluta“ als die Willensfreiheit des Opfers in der Regel stärker beeinträchtigende Gewaltform im Gegensatz zur „vis compulsiva“ nicht in den Erpressungstatbestand einbezogen werden sollte. Nach alledem ist auch im Rahmen der räuberischen Erpressung die „vis absoluta“ als taugliches qualifiziertes Nötigungsmittel zu betrachten.23 Lüderssen GA 1968, 257, 260. Knodel S. 20, 28 f. 23 So auch RGSt 2, 287, 288; NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 21, 49 ff., § 255 Rn. 2; SKGünther vor § 249 Rn. 14 f., § 255 Rn. 4; LK-Träger / Altvater § 240 Rn. 7; LK-Herdegen § 253 Rn. 11, § 255 Rn. 2; Tröndle / Fischer § 240 Rn. 27; Arzt / Weber § 18 Rn. 7, 14, 25; Gössel BT 2, § 31Rn. 18 ff.; Knodel S. 23 f., 28 f., 72, 77; Blesius S. 20 ff., 77; Lüderssen GA 1968, 257, 259 ff., 268, 278; Geilen Jura 1980, 43, 47, 50 ff.; Wolter NStZ 1985, 245, 248; vgl. zudem Schönke / Schröder-Eser vor §§ 234 ff. Rn. 13, § 240 Rn. 4, 12 und Lackner / Kühl § 177 Rn. 4, § 240 Rn. 5. 21 22
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7. Abschn.: Die Abgrenzung der Drohung
Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass die Gewalt gegen eine Person im Rahmen sämtlicher hier behandelter Vorschriften zum einen schwerpunktmäßig durch die aktuell auf das Opfer ausgeübte physische Zwangswirkung konstituiert wird und zum anderen sowohl als willensausschließende Gewalt, „vis absoluta“, als auch als willensbeugende Gewalt, „vis compulsiva“, in Erscheinung treten kann. An dieser Erkenntnis hat sich auch die Frage nach der Erforderlichkeit einer Abgrenzung von Gewalt- und Drohungsalternative zu vollziehen.
C. Eigener Standpunkt zur Notwendigkeit einer Abgrenzung Blickt man auf die hier entwickelten Definitionen der Gewalt und der Drohung, so erscheint eine Überschneidung und damit auch ein gleichzeitiges Vorliegen dieser beiden Nötigungsmittel im Ergebnis ausgeschlossen. Denn das Gewaltmerkmal ist, unabhängig von der Frage, ob bereits jede Zufügung eines gegenwärtigen Übels als Gewalt zu betrachten ist24, stets dadurch charakterisiert, dass der Täter eine aktuelle physische Zwangswirkung auf das Opfer ausübt, während im Falle der Drohung der Eintritt eines Übels erst in Aussicht gestellt wird und demzufolge allenfalls eine psychische Beeinträchtigung des Opfers vorliegen kann. Danach konstituiert das Merkmal der aktuellen körperlichen Zwangswirkung einerseits das Nötigungsmittel der Gewalt, während es andererseits das Vorliegen einer Drohung ausschließt.25 Auf der anderen Seite ist allerdings zuzugeben, dass eine Überschneidung von Gewalt und Drohung zumindest im ersten Zugang gedanklich möglich erscheint. Wendet der Täter etwa vis compulsiva in Form von Schlägen gegen das Opfer an, so ließen sich diese durchaus gleichzeitig als konkludente Drohung begreifen, mit den Misshandlungen fortzufahren, wenn sich das Opfer dem Willen des Täters nicht fügt. Dass diese Betrachtungsweise nicht zutrifft, ergibt sich indes aus folgenden Überlegungen. Die Aufnahme des Nötigungsmittels der Drohung in die Tatbestände der hier behandelten Delikte erfolgte zu einem Zeitpunkt, in dem das Gewaltmerkmal bereits seit langer Zeit allgemein anerkannt war. Dies deshalb, weil man erkannte, dass durch die alleinige Verwendung der Gewaltalternative nicht hinnehmbare Strafbarkeitslücken entstanden, die durch die gleichberechtigte Nebeneinanderstel24 In diesem Sinne etwa Knodel S. 64; Schönke / Schröder-Eser vor §§ 234 ff. Rn. 6, 8, 15; ähnlich LK-Herdegen § 249 Rn. 4. 25 Ähnlich MüKo-Gropp / Sinn § 240 Rn. 29; LK-Laufhütte § 177 Rn. 5 f., 9; LK-Herdegen § 249 Rn. 5 f., 9; Schönke / Schröder-Eser vor §§ 234 ff. Rn. 16; Joecks § 249 Rn. 21; Rengier BT II, § 23 Rn. 41; Wessels / Hettinger Rn. 405 f.; Knodel S. 32 f., 63 ff., 77; Hagel S. 328 f.; Lask S. 139.
C. Eigener Standpunkt zur Notwendigkeit einer Abgrenzung
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lung von Gewalt und Drohung geschlossen werden sollten.26 Kam und kommt demnach aber dem Merkmal der Drohung Lückenschließungscharakter für solche Fälle zu, die von der Gewaltalternative nicht erfasst werden, so müssen die genannten qualifizierten Nötigungsmittel alternativ gemeint und damit voneinander abgrenzbar sein.27 Die Drohung ist mit anderen Worten nach der gesetzlichen Konzeption offensichtlich kein Unterfall der Gewalt, sondern aliud, ein anderes Nötigungsmittel.28 Diese Prämisse wird durch den weiteren Gedankengang bestätigt und endgültig verifiziert, dass sich die Nötigungsmittel – jedenfalls im Bereich der hier interessierenden Normen – nicht in einem Selbstzweck erschöpfen, sondern einen weiteren Erfolg, sei es kausal, sei es zumindest subjektiv final, herbeiführen oder herbeiführen sollen. Mit dieser Erkenntnis lässt sich nun aber die Sicht nicht vereinbaren, beide Zwangsmittel könnten durchaus kumulativ vorliegen. Denn eine solche hätte zur Folge, dass entweder der Gewalt oder aber der Drohung eine kausale oder finale motivatorische Wirkung unterstellt würde, die dieser de facto gar nicht zukam. Es kann aus diesem Grund allein richtig sein, die qualifizierten Nötigungsmittel als exklusiv zu betrachten und sie danach abzugrenzen, welcher Komponente die entscheidende Motivationswirkung zukam oder zukommen sollte. Dies ist nach ihrem originären Gehalt im Falle der Gewalt der aktuell ausgeübte, körperlich wirkende Zwang, bei der Drohung hingegen die Furcht vor dem Eintritt künftiger Nachteile. Entscheidend ist somit, ob der schon ausgeübte, körperlich wirkende Zwang oder aber die Vorstellung eines angekündigten Übels in Verbindung mit der Furcht vor seiner Realisierung den entscheidenden Motivationsfaktor bildet, so dass eine Überschneidung denklogisch ausscheiden muss.29 Eine andere Auffassung hätte einen bedauerlichen Rückschritt in die Phase der historischen Strafrechtsentwicklung zur Folge, in der noch nicht zutreffend zwischen „vis compulsiva“ und Drohung unterschieden wurde. Verfolgt man diese Erkenntnis konsequent weiter, so wird deutlich, dass dem auch die bereits angesprochene Sicht zur Fortwirkung der Gewaltanwendung30 nicht entgegensteht, sondern das hier gefundene Ergebnis vielmehr bestätigt. Denn diese resultiert gerade aus der Erkenntnis, dass in den zugrunde liegenden Fällen an sich die Annahme einer Kausalität bzw. Finalität der vom Täter angewandten Gewalt ausscheiden müsste. Nur zur Vermeidung dieses aufgrund der anhaltenden Willensbeeinträchtigung des Opfers unbillig erscheinenden Ergebnisses bedient sich die herrschende Meinung der Konstruktion über eine als kausale bzw. finale Gewalt oder Drohung fortwirkende Gewaltanwendung. Dies bedeutet indes keineswegs, dass damit in den Fällen des Fortwirkens der Gewalt als konVgl. oben 3. Abschnitt, B. I. 4., 5., 6., 7. So auch Wolter NStZ 1985, 193, 195 f., 198, 245, 246 f. 28 Vgl. Otto JZ 1982, 116, 118; Seelmann JuS 1986, 201, 203; Hoyer GA 1997, 451, 453. 29 Ebenso LK-Herdegen § 249 Rn. 9; Krey / Heinrich Rn. 345; Krey / Hellmann Rn. 186a; Geilen JZ 1970, 521, 528; ders. Jura 1979, 53, 54; Wolter NStZ 1985, 245, 247; Sommer NJW 1985, 769, 772 f.; Dölling JR 1994, 113; Hillenkamp JuS 1994, 769, 771. 30 Vgl. oben Fn. 3 f. 26 27
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7. Abschn.: Die Abgrenzung der Drohung
kludente Drohung ein kumulatives Vorliegen beider Nötigungsmittelalternativen anzunehmen wäre. Vielmehr beruht die Erforderlichkeit einer derartigen Vorgehensweise im Ergebnis gerade auf einer strikten Trennung von kausaler oder finaler Gewalt einerseits und entsprechender Drohung andererseits, so dass das Konstrukt der fortwirkenden Gewaltanwendung lediglich über die Fiktion erklärbar ist, der Täter bediene sich der ursprünglich angewandten Gewalt als neues, differentes Nötigungsmittel.31 Folglich besteht auch unter Zugrundelegung einer solchen Sicht eine Exklusivität der qualifizierten Nötigungsmittel von Gewalt und Drohung.
D. Die Abgrenzungskriterien Die damit notwendige Abgrenzung von Gewalt- und Drohungsalternative scheint nach den obigen Ausführungen auf den ersten Blick unproblematisch durchführbar zu sein. Während bei der Gewalt die Übelszufügung in Form einer tatsächlich körperlich wirksamen Zwangsausübung bereits im Zeitpunkt der Tat entscheidend motivatorisch wirkt, wird der ausschlaggebende, willensbeugende Nachteil bei der Drohung erst in Aussicht gestellt und für die Zukunft befürchtet, wenn auch im Sinne eines bereits aktuell unmittelbar bevorstehenden Schadenseintritts.32 Trotz dieser scheinbaren Simplizität der Differenzierung stellt man bei Durchsicht der einschlägigen Rechtsprechung indes rasch fest, dass das als entscheidend qualifizierte Unterscheidungskriterium der aktuellen körperlichen Zwangswirkung zumindest der Präzisierung bedarf. Denn die Judikatur hat, trotz grundsätzlichen Festhaltens am Gewaltbestandteil der gegenwärtigen physischen Einwirkung, mehrfach Konstellationen unter die Gewaltalternative subsumiert, in denen sich der Täter an sich auf die Androhung künftiger Nachteile beschränkte.33 So auch Walter NStZ 2004, 154. In diesem Sinne auch RGSt 64, 113, 116; BGH VRS 22, 435, 437; BGHSt 23, 126, 127 f.; BGH NStZ 1981, 218; Tröndle / Fischer § 240 Rn. 27a, 31; Schönke / Schröder-Eser vor §§ 234 ff. Rn. 16, 37; LK-Laufhütte § 177 Rn. 5; LK-Träger / Altvater § 240 Rn. 7, 56; LK-Herdegen § 249 Rn. 9; Joecks § 249 Rn. 21; Rengier BT II, § 23 Rn. 41; Küpper BT 1, I. § 3 Rn. 49; Wessels / Hettinger Rn. 392, 405 f.; Schroth BT S. 111; Lask S. 139; Geilen Jura 1979, 53, 54; Klesczewski GA 2000, 257, 264; ähnlich Hoyer, GA 1997, 451, 455 f., der darauf abstellt, dass das befürchtete Übel im Falle der Gewalt vom Täter immerhin schon aus seiner Einflusssphäre entlassen worden sein muss, wohingegen der Täter bei der Drohung eine solche Übelsentäußerung nur bedingt für die Zukunft in Aussicht gestellt haben darf. 33 Vgl. etwa RGSt 60, 157, 158: Schreckschüsse mit einer scharfen Pistole als Gewalt; RGSt 66, 353, 355 f.; BGH GA 1962, 145: Schreckschüsse mit einer Schreckschuss- bzw. Gaspistole als Gewalt; BGH St 23, 126; BGH StV 1993, 576, 577: Gewalt beim Drohen mit einer Schusswaffe; BayObLG JR 1994, 112: Gewalt beim Drohen mit einer Gaspistole; ähnlich auch BGH VRS 22, 435, 437 beim schnellen Zufahren auf einen Polizisten oder BGHSt 19, 263, 265 f. beim dichten Auffahren auf der Autobahn. 31 32
D. Die Abgrenzungskriterien
241
Begründet wurde diese Einordnung vor allem damit, dass zur körperlichen Sphäre des Opfers unter anderem auch dessen Nervensystem gehöre. Zwischen diesem und der äußeren Körperhülle bestehe eine unmittelbare Wechselwirkung. Daher werde auch dann aktuell auf den Körper des Genötigten eingewirkt, wenn bei diesem infolge des Täterverhaltens eine starke Erregungswirkung auftrete, die sich insbesondere auch durch äußerliche Anzeichen wie gesteigerter Blutdruck, schweißnasse Hände oder Schweißperlen auf der Stirn oder aber auch Gänsehaut manifestieren könne. Richte etwa der Täter eine durchgeladene Schusswaffe mit dem Finger am Abzug aus nächster Nähe auf einen anderen, so drohe er nicht nur mit der Anwendung von Gewalt, sondern wende unmittelbaren körperlichen Zwang an, übe also Gewalt aus. Denn er wirke unmittelbar auf die Sinne des Vergewaltigten ein, versetze ihn hierdurch in einen Zustand seelischer Erregung und beeinflusse so sein ganzes körperliches Befinden.34 Eine solche Sicht begegnet indes denselben Bedenken, die bereits gegenüber der Annahme, Gewalt und Drohung könnten sich im Einzelfall überschneiden, geltend gemacht wurden. Gewalt und Drohung sind bei zutreffender Betrachtung als verschiedene, einander ausschließende Nötigungsmittel zu qualifizieren, die zumindest insoweit differieren, als bei ersterer die körperliche Zwangswirkung beim Opfer, bei letzterer hingegen die Furcht des Opfers vor künftigen Nachteilen den – potentiell – ausschlaggebenden Motivationsfaktor darstellt. Entscheidend für die zutreffende Eingruppierung des Zwangsmittels können daher nicht die regelmäßig auch als Folge der Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben auftretenden – psychosomatisch begründeten – körperlichen Auswirkungen beim Opfer sein, da anderenfalls die Grenze zwischen Gewalt und Drohung verwischt und das Nötigungsmittel der Drohung faktisch überflüssig wäre. Bloße Begleitphänomene und Nebeneffekte müssen vielmehr außer Betracht bleiben.35 Denn in derartigen Fällen motivieren – wie es Günther treffend ausdrückt – nicht der gesteigerte Blutdruck, die Schweißperlen auf der Stirn oder eine Gänsehaut das Opfer, sondern seine Angst vor dem künftigen Verhalten des Täters.36 Dessen gegenwärtiges seelisches Missempfinden ergibt sich nur aus der gedanklichen Vorwegnahme des erst in Aussicht gestellten körperlichen Übels, verletzt oder getötet zu werden, als entscheidendem Zwangsmoment.37 Deshalb ist die genannte Rechtsprechung, die ihren wahren Grund ohnehin zu einem Großteil in der alten Fassung des § 251 StGB haben dürfte,38 im ganz überwiegenden Schrifttum zu Recht auf Ablehnung gestoßen.39 BGHSt 23, 126, 127 f. NK-Kindhäuser vor § 249 Rn. 25 f.; Krey / Heinrich Rn. 345; Geilen JZ 1970, 521, 528. 36 SK-Günther § 249 Rn. 12. 37 Wie hier Wessels / Hettinger Rn. 406 und Wessels / Hillenkamp Rn. 319. 38 Dieser ermöglichte eine Bestrafung wegen Raubes oder räuberischer Erpressung mit Todesfolge nur, wenn der Eintritt des Todes auf die vom Täter angewandte Gewalt zurückzuführen war; vgl. hierzu insbesondere Geilen Jura 1979, 501 f. 34 35
16 Blanke
242
7. Abschn.: Die Abgrenzung der Drohung
Steht demnach fest, dass das entscheidende Kriterium für die Klärung der Frage, ob im konkreten Einzelfall von der Anwendung von Gewalt oder vom Vorliegen einer Drohung auszugehen ist, darin besteht, dass im Falle der Gewalt die aktuelle körperliche Zwangswirkung beim Opfer, bei der Drohung aber die Furcht vor dem Eintritt künftiger Nachteile den entscheidenden Motivationsfaktor darstellt oder zumindest darstellen soll, bleibt abschließend zu klären, an welchem Betrachtungshorizont eine derartige Abgrenzung auszurichten ist. Auch insoweit kommt – aus den oben40 bereits dargestellten Gründen – weder eine alleiniges Abstellen auf den Täterwillen noch eine isolierte Orientierung am subjektiven Empfinden des Opfers, sondern allein ein objektiver Maßstab in Betracht.41 Zur Harmonisierung mit dem nach hiesiger Ansicht für den Bereich der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben maßgebenden Beurteilungsmaßstab42 erscheint es dabei sachgerecht, die ex-ante-Sicht eines verständigen Menschen aus dem Verkehrskreis des Opfers, der auch über eventuelle spezielle Kenntnisse des Opfers verfügt, für ausschlaggebend zu erachten.
E. Zusammenfassung Es lässt sich damit zusammenfassend festhalten, dass es sich bei den qualifizierten Nötigungsmitteln der Gewalt gegen eine Person und der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben um unterschiedliche, einander ausschließende Zwangsmittel handelt, die bei zutreffender Betrachtung auch in Grenzbereichen keinerlei Überschneidungen aufweisen. Dabei vollzieht sich die Unterscheidung und Abgrenzung von Gewalt und Drohung anhand des ausschlaggebenden Kriteriums, dass bei ersterer im Gegensatz zu letzterer nicht die Furcht vor dem künftigen Eintritt von Nachteilen, sondern die aktuelle körperliche Zwangswirkung auf das Opfer den entscheidenden Motivationsfaktor darstellt, was sich in concreto aus der ex-ante-Sicht eines verständigen Menschen aus dem Verkehrskreis des Opfers, der auch über eventuelle spezielle Kenntnisse des Opfers verfügt, bestimmt. Für das hier primär interessierende Nötigungsmittel der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben bedeutet dies mit anderen Worten, dass eine Dro39 Vgl. MüKo-Gropp / Sinn § 240 Rn. 33; LK-Herdegen § 249 Rn. 5, 9; SK-Günther § 249 Rn. 12; Schönke / Schröder-Eser vor §§ 234 ff. Rn. 16; Joecks § 249 Rn. 19 ff.; Wessels / Hillenkamp Rn. 319; Mitsch BT 2, 1, § 3 Rn. 18; Küpper BT 1, I. § 3 Rn. 49; Krey / Heinrich Rn. 335 ff., 345; Paeffgen, Grünwald-FS S. 433, 447, 456; Maurach JR 1970, 70; Geilen JZ 1970, 521, 522 ff.; ders. Jura 1979, 109, 501 f.; Wolter NStZ 1985, 193, 198, 245, 246 f.; Sommer NJW 1985, 769, 771 ff.; Seelmann JuS 1986, 201, 203; Lesch, StV 1993, 578 f.; Dölling JR 1994, 113; Hillenkamp JuS 1994, 769, 771. 40 Vgl. oben 5. Abschnitt, A. III. 3. 41 So auch MüKo-Sander § 249 Rn. 14. 42 Vgl. oben 5. Abschnitt, A. III. 3.
E. Zusammenfassung
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hung im Sinne der §§ 177, 249, 255 StGB immer dann nicht vorliegt, wenn das Opfer maßgeblich und entscheidend durch die durch das Täterverhalten aktuell ausgeübte physische Zwangswirkung in seiner Entscheidung beeinflusst wird bzw. – aus Opfersicht – werden soll. Dies gilt selbst dann, wenn sich das Täterverhalten im Einzelfall rein definitorisch auch unter die Drohungsalternative subsumieren ließe.
16*
Achter Abschnitt
Schlussbetrachtung und Gesamtergebnis Die Untersuchung hat gezeigt, dass es einen einheitlichen, für das gesamte StGB geltenden Gefahrbegriff nicht gibt und auch nicht geben kann. Denn mit dem in zahlreichen strafrechtlichen Vorschriften verwendeten Merkmal der Gefahr hat sich der Gesetzgeber eines äußerst vielschichtigen Terminus bedient, der angesichts der Vielgestaltigkeit der Kontexte, in denen er steht, einer spezifischen Anpassung an die jeweiligen grundlegenden gesetzlichen Vorgaben bedarf. Aus diesem Grund wird allein eine normative Auslegung des Gefahrbegriffs aus dem konkreten Normzusammenhang heraus, unter Beachtung insbesondere auch teleologischer Gesichtspunkte, seinem Wesensgehalt gerecht. Im Unterschied zur Sachlage bei den Gefährdungsdeliktsstrukturen und den Notstandsvorschriften umschreibt das Gesetz im Rahmen der „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ bei §§ 249, 255 StGB1 und § 177 StGB mit dem Merkmal der Gefahr nicht einen objektiv bestehenden, äußerlich erfahrbaren Zustand, sondern spezifiziert den Inhalt der Ankündigung des Täters. Von einer derartigen Drohung mit einer Gefahr ist nach der damit erforderlichen eigenständigen Begriffsbestimmung dann auszugehen, wenn der Täter ausdrücklich oder schlüssig die Zufügung eines Übels ankündigt, das mit der nahe liegenden Möglichkeit eines Schadenseintritts verbunden ist, dessen Eintritt von seinem Einfluss abhängen und das verwirklicht werden soll, falls sich der Adressat dem Willen des Täters nicht beugt und sich nicht wie verlangt verhält. Die weitere gesetzliche Restriktion im Bereich der hier schwerpunktmäßig behandelten Vorschriften, dass zur Erfüllung des Tatbestandes nicht die Inaussichtstellung einer jeden Gefahr, sondern nur die Ankündigung von „gegenwärtigen“ Gefahren – für Leib oder Leben – hinreichend sein soll, hat eine zeitliche Eingrenzung des angedrohten Übels insofern zur Folge, als nach dem Inhalt der Drohung die nahe liegende Möglichkeit eines Schadenseintritts temporär unmittelbar bevorstehen muss; hierunter fällt sowohl die akute Gefahr als auch die Dauergefahr im engeren Sinne, bei welcher der Schaden jederzeit – alsbald oder auch später – eintreten kann. Insoweit besteht eine weitgehende Parallele zum Gegenwärtigkeitsmerkmal der §§ 34, 35 StGB. Eine Einbeziehung auch der Dauergefahr im weiteren Sinne, also solcher Konstellationen, in denen der Schadenseintritt nach der 1 Und damit auch bei der Vorschrift des § 252 StGB über den räuberischen Diebstahl, vgl. oben 1. Abschnitt Fn. 2.
8. Abschn.: Schlussbetrachtung und Gesamtergebnis
245
Täterankündigung zwar noch eine gewisse Zeit auf sich warten lassen würde, das Opfer zur effektiven Schadensabwendung aber alsbald tätig werden müsste, in den Bereich der Gegenwärtigkeit, ist unter – insbesondere historischen und teleologischen – Auslegungsgesichtspunkten de lege lata nicht möglich. In derartigen Fällen besteht nicht die vom Gesetz geforderte in besonderem Maß gesteigerte potentielle Zwangsintensität des Nötigungsmittels. Droht der Täter damit nur mit einer gegenwärtigen Gefahr, wenn er ein Übel ankündigt, das mit der nahe liegenden Möglichkeit eines zeitlich unmittelbar bevorstehenden Schadenseintritts verbunden ist, so ist der Begriff der „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ sowohl für §§ 249, 255 StGB als auch für § 177 StGB zusammenfassend zu definieren als ausdrückliche oder schlüssige Ankündigung der Zufügung eines Übels, welches mit der nahe liegenden Möglichkeit einer zeitlich unmittelbar bevorstehenden erheblichen Körperverletzung oder Tötung verbunden ist, wenn dessen Eintritt vom Einfluss des Täters abhängen und das Übel verwirklicht werden soll, falls sich der Adressat dessen Willen nicht beugt und sich nicht wie verlangt verhält. Ob im konkreten Einzelfall von einer Täterankündigung dieses Inhalts auszugehen ist, beurteilt sich aus der objektiven ex-ante-Sicht eines verständigen Menschen aus dem Verkehrskreis des Opfers, der auch über eventuelle spezielle Kenntnisse des Opfers verfügt. Schließlich gilt es festzuhalten, dass eine Überschneidung der qualifizierten Nötigungsmittel „Gewalt“ und „Drohung“ auch in Randbereichen nicht möglich ist. Zwischen beiden Verhaltensformen besteht ein Exklusivitätsverhältnis. Denn während die Drohung dadurch gekennzeichnet ist, dass ihr – gewollter – motivatorischer Schwerpunkt auf der Ankündigung eines künftigen Übels und der damit korrespondierenden Furcht des Opfers vor einem bevorstehenden Schadenseintritt liegt, muss bei der Gewalt die aktuell auf das Opfer ausgeübte physische Zwangswirkung als entscheidender Motivationsfaktor zumindest in Aussicht genommen worden sein.
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Literatur- und Quellenverzeichnis
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