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German Pages 352 [1056] Year 2014
Christoph Brachmann ist Mary H. Cain Distinguished Professor of Art History an der University of North Carolina at Chapel Hill, USA. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Kunstgeschichte sowie der Architektur der Moderne.
Das Mittelalter
Im Zentrum dieses Bandes stehen 50 Schlüsselwerke der mittelalterlichen Baukunst aus ganz Europa, von der Pfalzkapelle in Aachen über die Kathedrale von Reims bis zur Karlsbrücke in Prag. Die eingehende Beschreibung dieser kanonischen Bauten zeichnet die Entwicklung der Architektur von der Karolingerzeit bis ca. 1500 in ihrem jeweiligen kulturellen, religiösen und politischen Zusammenhang nach. Einzelne Beispiele schärfen zudem das Bewusstsein für den Austausch mit außerhalb des westlichen Abend landes gelegenen Kulturräumen. Themenblöcke widmen sich den antiken Vorgaben, der Rolle des Architekten, der Bauorganisation, Steinbearbeitung und Backsteinbau, dem Klosterschema oder Liturgie und Kirchenausstattung.
Christoph Brachmann
Frömmigkeit und Fürstenhöfe
Das Mittelalter
wbg Architekturgeschichte
Christoph Brachmann
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27023-1
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Christoph Brachmann Das Mittelalter
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wbg Architekturgeschichte Herausgegeben von Christian Freigang
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Christoph Brachmann
Das Mittelalter 800 – 1500 Klöster – Kathedralen – Burgen
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www. dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Academic ist ein Imprint der wbg. Sonderausgabe 2018 (2., unveränderte Auflage) © 2014 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Redaktion: Barbara M. Eggert, Berlin Layout und Satz: schreiberVIS, Seeheim Einbandabbildung: Amiens, Kathedrale, Westfassade. © akg-images /Schütze / Rodemann Einbandgestaltung: Harald Braun, Berlin Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27023-1 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73596-9 eBook (epub): 978-3-534-73597-6
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Vorbemerkung zur Neuauflage Überblickswerke haben – selbst wenn dies im Zeichen der Nachmoderne anachronistische Züge zeigen kann – immer etwas mit Kanonisierung zu tun: Ein bestimmter Blick auf einen Gegenstand soll in praktische, lehrreiche, informative, hoffentlich originelle Form gegossen werden. Die Autoren dieser Buchreihe waren sich dieser Herausforderung schon 2013 bei der ersten Auflage bewusst. Die Nachfrage hat aber gezeigt, dass durchaus Interesse und Bedarf an diesem Versuch besteht, einen bestimmten, individuellen Zugang zu über 1000 Jahren Architekturgeschichte zu eröffnen. Wir freuen uns daher, wenn diese Sonderausgabe der anhaltenden Nachfrage entgegenkommt. Berlin, Chapel Hill und Darmstadt 2018
Vorwort des Herausgebers Die WBG Architekturgeschichte umfasst drei Bände und erläutert kompakt die bedeutendsten Entwicklungen, Hauptthemen und wesentliche Schlüsselwerke des Bauens ab ca. 800 bis heute in Europa und ausgewählten weiteren Gebieten. Der erste Band („Klöster – Kathedralen – Burgen“) umfasst das Mittelalter bis ca. 1500, der zweite („Ordnung – Erfindung – Repräsentation“) behandelt die Architektur der Neuzeit von 1450 bis 1800, also Renaissance und Barock, der dritte ist einer ‚langen‘ Moderne, also der Epoche von der Französischen Revolution bis heute, gewidmet („Baukunst – Technik – Gesellschaft“). Die Epochenschwellen – um 1500 bzw. um 1800 – folgen einer lange bestehenden und gut begründeten Einteilung der europäischen Architekturgeschichte: Vor der Neuentdeckung der antiken Säulengrammatik, dem sog. Vitruvianismus, im 15. Jahrhundert und vor der gleichzeitigen Erfindung des massenhaften Bilddrucks war das Bauen grundsätzlich anders: eine virtuos gehandhabte Technik im Dienst von Liturgie und Ritual, Verteidigung und Verkehr. Danach, im vitruvianischen Zeitalter, wurde das Bauen zu einer rhetorisch-künstlerischen Sprache, die vermittels eines universellen Kanons verstanden und bewertet sein wollte. Dies wiederum änderte sich seit 1800 in grundlegender Weise: Architektur sollte nunmehr (auch) unmittelbar wirken oder aber vielfältig ältere Stile abrufen oder neue Bautechniken gestalterisch steigern; der Vitruvianismus unterliegt seither einer grundlegenden Verdammung oder zumindest Revision. In jedem Band bildet die exemplarische Darstellung von jeweils 50 besonders signifikant erscheinenden, realisierten und erhaltenen Ensembles den Schwerpunkt. Das stellt sicherlich eine knappe Auswahl berühmter und
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auch weniger bekannter Bauten dar, ein kleiner Ausschnitt aus der immensen Geschichte des Bauens. Doch geht es darum, die faszinierende Vielzahl der Kriterien, aus denen Architektur entstanden ist und entsteht, an konkreten Gebäuden, weniger an theoretischen Entwürfen, zu erfahren. Bauen heißt im Gegensatz zu den anderen Künsten immer, in die Erde einzugreifen, mit der Schwere der Materialien richtig umzugehen, auf gesellschaftliche und politische Gegebenheiten zu reagieren und nicht zuletzt: omnipräsent zu sein, unübersehbar, wunderschön oder auch störend und beunruhigend, der Pflege wie der Kommentierung bedürftig. Das ist die Besonderheit von Architektur als kulturellem Faktor, und deswegen bilden hier hauptsächlich konkrete Bauten den Ausgangspunkt, Bauten, an denen beispielhaft größere und theoretische Zusammenhänge erläutert werden: Was etwa sind die Vorteile des Spitzbogens, warum benötigt ein Herrscher ein Schloss, kann und soll Architektur ‚sprechen‘, in welchem Zusammenhang können Philosophie und Architektur stehen? Die Beschreibung der Schlüsselwerke folgt prinzipiell einer chronologischen Ordnung, ohne dass beabsichtigt ist, hier eine kontinuierliche Entwicklungsgeschichte in allen Verästelungen vorzulegen. Deren Grundzüge sind gleichwohl in einem eigenen Kapitel ausgeführt, ebenso wie Erläuterungen zu essentiellen Themen der Architekturtheorie sowie zur Entwicklung der Erforschung der Architekturgeschichte. Wichtige Einzelthemen, zum Beispiel zur Bautechnik, den Säulenordnungen, der Architektenausbildung, zu Baugattungen und Vermittlungsmedien sind in separaten Themenblöcken dargestellt. Querverweise sorgen dafür, dass sich die Kenntnisse vertiefen und erweitern lassen. Die Texte können also auch auswahlweise und springend gelesen werden. Literaturverweise ermöglichen es, weiteres zu den Themen in Erfahrung zu bringen. Zeittafel und Register tragen zur praktischen Benutzbarkeit der Bände bei. Die Absicht der Autoren, allesamt Hochschullehrer im Bereich der Architekturgeschichte, ist es, nicht Altbekanntes vorzutragen, sondern neuere Erkenntnisse in ihre Texte einfließen zu lassen. Insofern beansprucht die WBG Architekturgeschichte, ein faszinierendes Thema aktuell und angemessen übergreifend zu überblicken: Intensiv, ohne zu überborden; vielfältig, ohne beliebig zu sein; unterhaltsam, ohne ins Oberflächliche zu gleiten; originell, ohne Einseitigkeit zu forcieren; didaktisch, ohne belehrend zu wirken. Sie wendet sich an alle, die an der Geschichte der Architektur interessiert sind oder beruflich mit ihr zu tun haben. Berlin, im Mai 2013 Christian Freigang
Vorwort
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Inhalt Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Mythen und Probleme der Forschung zur Architektur des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Architektur und Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Organisationsstrukturen und Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
II. Grundzüge der mittelalterlichen Architekturgeschichte . . . . .
41
Karolingische Reichsbildungen und ottonische Reichskirchenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Alternative Leitbilder: Die Rolle der oströmisch-byzantinischen Architektur . . . . . . . . . . . . 44 Die Etablierung wegweisender Standards: Die Bedeutung der Klöster . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Aufstieg der französischen Monarchie und die Entstehung der Gotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Fürstenhöfe und Städte als Auftraggeber im Spätmittelalter: Schlösser, Rathäuser, Pfarrkirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
III. Schlüsselwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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|1| Die Pfalzkapelle in Aachen: Antikenrezeption und Spolienverwendung . . . . . . . . . .
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Themenblock · Das Erbe der Antike und die Anfänge christlicher Baukunst . . . 81
|2| Die Klosterkirche Corvey: Mythos ‚Westwerk‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |3| Das Lips-Kloster in Istanbul: Die Kreuzkuppelkirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |4| Die Abteikirche St. Michael in Hildesheim: Ottonischer Idealbau
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mit innovativen Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
|5| |6| |7| |8| |9| |10| |11|
Die Sophienkathedrale in Kiew: Das Schema der orthodoxen Kirche . . . . . . . . . . . . . 96 Der Dom in Speyer: Monumentalisierung der Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Der Dom von Modena: Romanische Architektur in Oberitalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 S. Marco in Venedig: Byzanz als Vorbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Der Dom von Pisa: Konkurrenz zu Venedig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Die Kathedrale von Ely: Leitbilder romanischer Architektur in England . . . . . . . . . . . 115 Die Kathedrale von Santiago de Compostela: Das Problem mittelalterlicher Pilgerkirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
8
|12| Die Abteikirche von Cluny: Liturgische Reform
und ein maßstabsetzender Kirchenbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . | 13| Die Zisterzienserabtei Fontenay: Idealanlage eines mittelalterlichen Klosters . . . . . Themenblock · Die Benediktsregel und das benediktinische Klosterschema . . . |14| Die Kathedrale von Angoulême: Frühe monumentale Fassadenlösungen . . . . . . . . . |15| Der Dom von Monreale: Byzantinische und islamische Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . | 16| Die Abteikirchen St-Etienne und Ste-Trinité: Wegweisende Wölbungskonzepte . . . |17| Die Abteikirche von St-Denis: Grablege der Könige und technische Synthese . . . . . |18| Groß St. Martin in Köln: Architekturmodelle im Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . | 19| Der Chor der Kathedrale von Canterbury: Kultur- und Techniktransfer vom Kontinent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |20| Die Kathedrale von Bourges: Gotische Alternativmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |21| S. Sepolcro in Segovia: Zentralbau und Zentralbautendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . | 22| Die Kathedrale von Lincoln: Neuartige Gewölbelösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |23| Die Kathedrale von Reims: Krönungskirche und Klimax der Hochgotik . . . . . . . . . . . Themenblock · Der mittelalterliche Baubetrieb und seine Organisation . . . . . . . |24| Burg und Donjon von Coucy: Idealtypische französische Wehrarchitektur . . . . . . . . | 25| Die Ste-Chapelle in Paris: Maßstabsetzender Kapellenbau der Gotik . . . . . . . . . . . . .
123 126 130 135 140 145 149 154 159 164 167 171 176 182 187 190
Themenblock · Liturgie und Kirchenausstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
| 26| Der Kölner Dom: Französische Rayonnantgotik im Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . | 27| Die Prager Altneu-Synagoge: Etablierte Architekturformen
200
in neuem (Glaubens-)Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
| 28| | 29| |30| |31|
Das Marburger Schloss: Höhenburg und Residenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Die Predigerkirche in Erfurt: Bettelorden und Reduktionsgotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Das Straßburger Münster: Die Westfassade als Bauaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Die Kathedrale von Narbonne: Die Weiterentwicklung des ‚klassischen‘ gotischen Kathedralkonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Themenblock · Der Architekt und seine soziale Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
| 32| Der Dom von Florenz: Ehrgeiz der Stadtkommune . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . | 33| Der Palazzo della Signoria in Florenz und der Palazzo pubblico in Siena:
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Konkurrenzen im Bauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Themenblock · Gewinnung, Bearbeitung und Versatz des Steinmaterials . . . . . 238
|34| Die Tuchhalle in Brügge und das Rathaus in Löwen:
Bürgerlich-städtische Repräsentationskultur nördlich der Alpen . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
| 35| | 36| |37| |38| | 39|
Inhalt
S. Chiara in Neapel: Besonderheiten eines Frauenklosters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 S. María del Mar in Barcelona: Reduktion als Stilmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Das Schloss von Vincennes: Vorgeschichte des neuzeitlichen Schlosses . . . . . . . . . . 255 Der Papstpalast in Avignon: Das päpstliche Zeremoniell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Die Alhambra in Granada: Höfische Architektur im islamischen Kontext . . . . . . . . . . 265
9
|40| Die Marienkirche von Danzig: Bürgerliches Bauen in einer Handelsstadt . . . . . . . . .
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Themenblock · Zur Geschichte des Backsteinbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
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Der Prager Veitsdom: Scharnier zur Spätgotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Die Prager Karlsbrücke: Mittelalterliche Ingenieurbaukunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Der Wiener Stephansdom: Hallenkirche mit spektakulärem Turmbau . . . . . . . . . . . . 287 Der Mailänder Dom: Frühe internationale Expertenrunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Das Esslinger Rathaus: Aspekte mittelalterlicher Holzarchitektur . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Das Uenglinger Tor in Stendal: Die Zeichenhaftigkeit von Wehrbauten . . . . . . . . . . . 299 Die Kartause S. María de Miraflores: Eine spätmittelalterliche Klosteranlage . . . . . 304 King’s College Chapel in Cambridge: Der Perpendicular Style . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Die Klosterkirche Batalha: Grablege und Schlachtengedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 St-Nicolas-de-Tolentin in Brou: Brabantische Flamboyantgotik in Savoyen . . . . . . . 319
Nachwort des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
IV. Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Register der Orte und Bauten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
Inhalt
I. Einleitung
Mythen und Probleme der Forschung zur Architektur des Mittelalters
U
nter dem Titel „Klöster, Kathedralen, Burgen: 800 – 1500“ ist vorliegender Band dem Mittelalter und damit zugleich 700 Jahren Architekturgeschichte gewidmet. Auf diese Weise deckt er bei der üblichen Epocheneinteilung Mittelalter – Neuzeit – Moderne den größten Zeitraum überhaupt ab. Genau besehen müsste er sogar noch einige Jahrhunderte mehr umfassen, beginnt das Mittelalter doch nach gängiger Sichtweise bereits deutlich früher als im Jahre 800. So bezeichnet der dahinterstehende, auf die Humanisten des 14. und 15. Jh.s zurückgehende lateinische Begriff medium aevum (‚Mittleres Zeitalter‘) den etwas amorphen Zeitraum zwischen dem Untergang des Römischen Reiches, den man gewöhnlich mit dem Ende des Weströmischen Reiches im Jahre 476 ansetzt, und – nun unter dem bezeichnenden Epochentitel Rinascimento bzw. Renaissance – der Wiedergeburt von dessen antiker, klassischer Kultur spätestens im Laufe des 15. Jh.s: verbunden mit zunächst v. a. in Italien einsetzenden Entwicklungen und zeitlich markiert durch so epochemachende Ereignisse wie die Erfindung des Buchdrucks (um 1450), die osmanische Eroberung Konstantinopels (1453) oder aber – nun wesentlich weiter ausgreifend – die Entdeckung Amerikas (1492) und die Reformation (nach 1517). Es darf allerdings bezweifelt werden, dass man sich in den betreffenden Zeiten des Mittelalters wirklich in einer Übergangsepoche sah; gerade die Bauten bestimmter früher Phasen machen deutlich, dass diese durchaus als in der Tradition der klassischen römischen Architektur stehend verstanden wurden |▶ 1|. Auch fanden deren Detailformen grundsätzlich das gesamte Mittelalter hindurch Rezeption; man denke nur an die Kapitell erfindungen, denen anfänglich weiterhin oft das antike korinthische Kapitell zugrunde lag. Zu einem veritablen Epochenbegriff avancierte das ‚Mittelalter‘ nicht vor dem ausgehenden 17. Jh., als der Hallenser Historiker Christoph Cellarius die Geschichte erstmals überhaupt nach dem Drei-Perioden-Schema Altertum – Mittelalter – Neuzeit gliederte, das heute noch um den Begriff der ‚Moderne‘ zu ergänzen wäre. Gibt es hinsichtlich der genauen zeitlichen Abgrenzung nach unten und oben durchaus divergierende Ansichten, so kommt dem ‚Mittleren Zeitalter‘ – versteht man den Namen im wörtlichen Sinne – die we
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□ 1 K. F. Schinkel: „Mittelalterliche Stadt am Fluss“, 1815, Alte Nationalgalerie, Berlin
nig schmeichelhafte Rolle zu, lediglich ein lang andauerndes, teilweise sehr heterogenes, zwischen diesen zwei Epochen vermittelndes Intervall zu sein, gerne auch mit dem Attribut ‚dunkel‘ versehen. Diese Sichtweise kontrastiert mit der entgegengerichteten, das Mittelalter zu jener Ära zu romantisieren, die noch frei war von den soziokulturellen Zivilisationskrankheiten der Moderne: eine Epoche, in der die Menschen vermeintlich noch leben konnten, „ohne beständige oder beständig drohende Nationalkriege, ohne Zwangs- und Massenindustrie mit tödlicher Konkurrenz, ohne Kredit und Kapitalismus“ (Burckhardt 1884). Es ist in diesem Fall ein bewundernder, ja verklärender Blick auf das Mittelalter; ein Blick in eine andere Welt, „die eben deshalb mit Sehnsucht betrachtet wird, weil sie nicht unsere Welt, weil sie nicht die Welt der Moderne ist“ (Oexle 1992, S. 10). Hinzu kommen andere idealisierende Wahrnehmungen wie jene im frühen 19. Jh. im deutschsprachigen Raum anzutreffende, das Mittelalter etwas konkreter als die Epoche anzusehen, als das Reich noch nicht zersplittert, sondern – unter einem König bzw. Kaiser geeint – seinen Konkurrenten und Feinden in ganz anderer Stärke begegnen konnte, als das gerade kurz zuvor im Kampf gegen Napoleon der Fall gewesen war. Bezeichnender Ausdruck einer derartigen Verklärung ist beispielsweise Karl Friedrich Schinkels 1815, d. h. unmittelbar nach den erfolgreichen Befreiungskriegen gegen Napoleon und die französische Okkupation entstandenes Gemälde „Mittelalterliche Stadt am Fluss“ (□ 1): Auf einer Anhöhe über einer aus Versatzstücken rheinländischer Romanik komponierten mittelalterlichen Stadt thront in einer parkartigen Anlage isoliert eine nicht weniger fantastische, stark an das Straßburger Münster (□ vgl. 115) erinnernde Kathedrale gotischen Stils. Nach Ausweis der allein fehlenden linken Turmspitze, an deren Stelle ein Gerüst und eine
I. Einleitung
13
Fahne mit dem Reichsadler zu finden sind, steht sie kurz vor ihrer Vollendung. Der sie überfangende, fast das gesamte Bild einende Regenbogen macht deutlich, dass soeben ein schweres Unwetter über sie hinweggezogen ist, dessen dunkle Regenwolken im Hintergrund noch aufscheinen. Nun aber wird die Szenerie wieder von strahlendem Sonnenschein erleuchtet, unter dem ein gekröntes Haupt mit seinem Gefolge auf die Kathedrale zu- und wohl demnächst in diese einzieht. Zweifellos eine Anspielung auf die Rückkehr des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. nach den Befreiungskriegen, ebenso auf die kurz vor ihrer Vollendung stehende Einung der Nation – realiter sollte sie noch einige Jahre, bis 1871 dauern –, die in ihrer wieder erstarkten Form durch den Kathedralneubau in gotischem Stil symbolisiert wird: nach damaliger Sichtweise die Inkarnation des deutschen Stils schlechthin, der sich als Projektionsfläche politischer und nationaler Identitätsfindung hervorragend zu eignen schien. Nicht wenig dürfte dazu Goethe mit seinem auf das Straßburger Münster bzw. dessen Westfassade (□ vgl. 115) und seinen Architekten Erwin von Steinbach verfassten Hymnus „Von deutscher Baukunst“ (1772) beigetragen haben, der zu einer wahren Streitschrift gegen das damals allgemein geltende Kunsturteil geriet. So sprach er insbesondere Italien wie Frankreich genuine Leistungen im Bereich der Architektur ab, da diese sich in den genannten Ländern an der römischen Antike orientiert habe. Goethes im Angesicht der elsässischen Bischofskirche getroffene Einschätzung: Dies ist deutsche Baukunst, unsere Baukunst …, musste gleichwohl bald schon, nämlich mit den Forschungen zur Mitte des 19. Jh.s, revidiert werden. Das hinderte allerdings nicht daran, die seit über drei Jahrhunderten brachliegende Baustelle des Kölner Domes zu reaktivieren und diesen gewaltigsten gotischen Kathedralbau in Deutschland überhaupt als Architektur gewordenes Symbol der deutschen Reichseinigung mit geeinter Kraft bis 1880 nach den alten Plänen zu vollenden. Es überrascht wenig, dass diese Wahrnehmung kaum kompatibel war mit der entsprechenden französischen Perspektive. Ein exemplarischer Blick auf den diesbezüglich bedeutendsten Exponenten, Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc (1814 – 79), macht das schnell deutlich: den Architekten und wichtigsten Restaurator der Epoche, dem die Bewahrung zahlreicher Hauptwerke französischer Architektur des Mittelalters verdankt wird, so die von Notre-Dame in Paris, Saint-Denis (□ vgl. 81) oder aber der Kathedrale von Amiens (□ vgl. 30). In der zweiten Hälfte des 19. Jh.s resultierten daraus zahlreiche Publikationen, wie der „Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècles“ [‚Ausführliches Lexikon der französischen Architektur vom 11. bis zum 16. Jh.‘], 10 Bände, 1854 – 68, oder die „Entretiens sur l’architecture“ [‚Gespräche über die Baukunst‘], 2 Bände, 1863 – 72, die sich nicht nur mit mittelalterlicher, sondern auch mit daraus ableitbaren Konsequenzen für die zeitgenössische Architektur beschäftigen. Dabei vertrat Viollet-le-Duc nun eine gezielt antiklerikale beziehungsweise bürgerlich-laizistische Position: Erst nachdem die erstarrten Bauregeln, die die Klosterkultur der Romanik bestimmten, von der säkularen Kultur der Städte überwunden worden seien, hätten freie Bürger die Bauträgerschaft über die großen Projekte übernommen. Geniale Konstrukteure hätten die Freiheit erhalten, in reiner Logik und Vernunft nach den Naturgesetzen und zur Erfüllung der jeweiligen Bauaufgabe zu arbeiten. Einschränkende Faktoren des Fortschritts seien somit bloßer formaler Traditionalismus, überkommene akademische Regelsysteme und autoritäre, gemäß Viollet-le-Duc v. a. klerikale und monarchische Strukturen. Die Klimax des Fortschritts sei
Mythen der Forschung
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in der gotischen Skelettarchitektur erreicht. Hier hätten die Überwindung theokratischer Strukturen, die Qualität des Materials und das Genie der französischen Nation, in der sich seiner Meinung nach die arische und gallo-römische Rasse in glücklicher Weise vereinigten, zu einer Bauweise geführt, die statische Verhältnisse in ein dynamisches Kräfteverhältnis bringen konnte. In ungekannter Radikalität entwickelte Viollet-le-Duc in einem weiteren Schritt dann sogar Gegenpositionen zur zeitgenössischen Architektur: Gotik gegen Klassik, Konstruktion gegen Dekoration, Ingenieurtechnik gegen Kunstarchitektur (Freigang 2013). Exemplarisch machen Schinkels Berliner Kathedral-Gemälde und Viollet-le-Ducs etwas spätere Sicht auf gotische Architektur deutlich, wie wenig objektiv, sondern eher gesteuert die Wahrnehmung des Mittelalters und seiner Architektur in den ihm nachfolgenden Jahrhunderten war, dabei noch einmal von Nation zu Nation besondere Ausprägungen aufweisend. Neben diesen national gefärbten Mythen gibt es aber auch eine ganze Reihe von populären Forschungstopoi, die sich bei der Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Baukunst allmählich entwickelt haben. Es sind solche allgemeiner Natur, wie etwa Hans Sedlmayrs „Die Entstehung der Kathedrale“ (1950), in ihrer Absolutheit aus heutiger Sicht sicherlich zu weitgehende Interpretation der gotischen Kathedrale als realistisches Abbild des in der Johannes-Apokalypse beschriebenen Himmlischen Jerusalems. Wie sich noch zeigen wird, spielen hier zu viele andere Faktoren mit, als dass man die immer größer und filigraner werdenden Glaswände der Bauten ausschließlich als Bemühen um eine Reproduktion der im Bibeltext beschriebenen Edelsteinwände der endzeitlichen Gottesstadt ansehen könnte. Mythen haben sich aber auch um Architektenpersönlichkeiten – reale wie virtuelle – entsponnen. Das sich hier v. a. stellende Problem sind die nur spärlich vorhandenen Quellen, die selten aussagekräftige Namen preisgeben, also solche, die mit weiteren Angaben verknüpfbar wären und so eine detailliertere Rekonstruktion einer Architektenpersönlichkeit ermöglichten. Ist das vor dem frühen 13. Jh. zumindest nördlich der Alpen eher die Ausnahme ( Themenblock · Der Architekt, S. 224), so mehren sich fortan die Beispiele mit dem ersten Baumeister der gotischen Kathedrale von Clermont-Ferrand (ab 1248), Jean Deschamps, oder jenen des Pariser Nord‑ und Südquerhauses, Jean de Chelles und Pierre de Montreuil (Mitte 13. Jh.). Als ein späteres Beispiel einer stärker personalisierten Architekturgeschichte ist für den mitteleuropäischen Raum Peter Parler (gest. 1399) zu nennen, den man nun mit seinen gesicherten Projekten gewissermaßen zum ‚Erfinder der Spätgotik‘ machte und dabei ein wenig in den Hintergrund treten ließ, dass er es kaum im Alleingang gewesen sein konnte, der in der zweiten Hälfte des 14. Jh.s das Tor zu ganz neuen Gestaltungsformen aufstieß |▶ 41|. Auch ist in diesen Zeiten generell Vorsicht geboten, einem einzelnen Architekten jeweils eine klar definierte Handschrift zuzusprechen, da damals, mehr noch als heute, andere Faktoren für die letztendliche Gestalt eines Bauwerks ausschlaggebend sein konnten: beginnend beim Auftraggeber und endend mit den funktionalen Zusammenhängen und Notwendigkeiten. Eine solche Fokussierung auf herausragende Einzelpersönlichkeiten bzw. ‑phänomene hat sicherlich mit der nicht auf die Architekturgeschichte beschränkten Neigung zu tun, Entwicklungsstränge auf wenige impulsgebende Individuen oder Werke zu verengen. Im Hintergrund steht hier partiell immer noch die sich nur allmählich verabschiedende ahistorische Vorstellung einer teleologischen, also zielgerichteten, zugleich sehr biologis-
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tischen Entwicklung, die, von einer Frühphase ausgehend, ihren Höhepunkt erreicht, um dann über ihre Blüte hinaus als dekadenter Spätstil schließlich dem Verfall entgegenzugehen und durch etwas Neues abgelöst zu werden. Klassischerweise sind die Termini der in diesem Mittelalter-Band aufeinander folgenden Stilepochen ,karolingisch‘, ,ottonisch‘, ,romanisch‘ und ,gotisch‘. Allgemein gängig und unverfänglich sind die beiden letzteren, mit denen man grob die Phasen vom 11. bis zum frühen 13. Jh. bzw. jene vom frühen 12. bis ins frühe 16. Jh. umschreiben würde. Allerdings treten dabei beträchtliche regionale Unterschiede auf, die in der Konsequenz dazu führen, dass sich die beiden Stilepochen oftmals für Jahrzehnte überlagern oder parallel laufen. Ebenso ist immer zu bedenken, dass beides alles andere als in ihrer Zeit gängige Bezeichnungen waren: Wurde der Begriff ‚Romanik‘ erst um 1820 von französischen Gelehrten eingeführt, so ist ‚Gotik‘ ein erstmals in der Renaissance vom italienischen Kunsttheoretiker Giorgio Vasari (1511 – 74) benutztes, vom germanischen Stamm der Goten abgeleitetes Schimpfwort gotico (‚fremdartig, barbarisch‘), mit dem er – die Formensprache klassischer antiker Kunst vor Augen – seine Verachtung gegenüber dem aus dem nordalpinen Raum stammenden Stil zum Ausdruck bringen wollte. Für die vorausgehenden Epochen wird im Vergleich dazu die Namensgebung merklich diffiziler. Sie folgen nun erstmals nicht irgendwelchen abstrakten Stilbegriffen, sondern gebrauchen die Namen jeweils regierender Herrscher bzw. ihrer Geschlechter. Ist dabei der Terminus ‚karolingisch‘ für das späte 8. und 9. Jh. – angesichts des sehr weit ausgreifenden, fast römische Dimensionen erlangenden Reichs Karls des Großen und seiner Nachfolger – noch für die meisten Teile Europas anwendbar, so wird das angesichts der unmittelbaren Verbindung mit den deutschen Königen bzw. Kaisern Otto I., Otto II. und Heinrich I. mit dem Begriff ‚ottonisch‘ für das 10. und frühe 11. Jh. schon schwieriger. Hier hätte man sich für den französischen Bereich wohl mit dem Terminus préroman zu behelfen. Problematisch ist jedoch v. a. die in allen vier Fällen gleich schwer zu beantwortende Frage, wo denn eigentlich die genaue Grenzlinie zwischen all diesen Epochen verläuft: Welche Bauwerke sind als ‚spätottonisch‘, welche bereits als ‚frühromanisch‘ zu bezeichnen; gibt es überhaupt allgemeingültige Unterscheidungskriterien? Schwierigkeiten werden hier evident, die allerdings nicht daran hindern sollen, diese etablierte, grobe zeitliche Einordnung von Kunstwerken und Architekturen – bei aller beschränkten Aussagekraft – als Hilfskonstruktion auch für diesen Band zu verwenden. Zur Aufrechterhaltung des Systems einer genauen und klaren Stilabfolge – einschließlich ihrer Untergliederung in ‚früh‘, ‚hoch‘ und ‚spät‘ – blieben nicht ins Bild passende Werke bzw. Bauten mitunter bewusst unberücksichtigt. Ebenso wurde gerne auf ‚Zwischentöne‘ verzichtet, wenn man z. B. die Diskussion auf die monumentalen Großbauten der Bischofskirchen beschränkte. Solche Verengungen, ja, Simplifizierungen bergen die Gefahr weiterer Mythenbildung in sich, so etwa jene, dass es nach einer rasanten, etwa eineinhalb Jahrhunderte dauernden Entwicklung gotischer Architektur gegen Ende des 13. Jh.s zu einer Stagnation gekommen sei, die erst die benannten spätgotischen Tendenzen Mitte des 14. Jh.s aufgelöst hätten. Mit einer derart klaren Ordnung vor Augen mussten nicht ins Schema passende Kirchen geradezu wie Störenfriede empfunden werden, so etwa der eigenwillige Bau der Zisterzienserkirche Salem, den man – trotz überlieferter Weihedaten der Altäre – lange als ein Werk des 14. Jh.s angesehen hatte (□ 2). Erst in jüngerer Zeit konnte u. a. durch dendrochronologische Untersuchungen des
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16 □ 2 Salem, Zisterzienserkirche, Blick auf die nördliche Hochschiffswand des Chores, ab ca. 1285, 1307 erste Altarweihen
Dachstuhls geklärt werden, dass sein Chor bereits im ausgehenden 13. Jh. ausgeführt worden war (Knapp 2004). Salem ist sicherlich kein Einzelfall, wie schon die Stiftskirche Munster-en-Lorraine, eine prominente Stiftung des Erzbischofs von Trier, oder die Antoniterkirche in Pont-à-Mousson (vgl. S. 69, 70; Brachmann 2008) zeigen: Bauten, die man trotz der für 1293 bzw. 1335 überlieferten Weihen angesichts ihrer wiederum sehr reduzierten, fortschrittlichen Detailformen wie z. B. die komplizierten Profile oder die kapitelllos auf den Pfeilern aufsitzenden Rippen spät, diesmal in das 15. Jh. zu datieren suchte. Das System einer zielgerichteten, linearen Entwicklung innerhalb einer Stilepoche wird aber auch noch auf andere Weise durchbrochen, belegen doch zahlreiche Beispiele, dass es im Mittelalter nicht unbedingt immer darum ging, jeweils den – aus heutiger, kunsthistorischer Perspektive – modernsten Bau, der zu dieser Zeit möglich gewesen wäre, zu errichten. Vielmehr können auch ganz andere Kriterien greifen: so etwa die einheitliche Vollendung eines langandauernden Bauprojekts gemäß des ursprünglichen Plans – oder aber die Betonung eigener Traditionen im Sinne eines Rückbezugs auf vergangene glanzvolle Zeiten. Damit noch einmal zurück zu dem eingangs diskutierten, seit dem 18. Jh. etablierten Epochenbegriff ‚Mittelalter‘, dessen genaue zeitliche Abgrenzung, wie angedeutet, von Fall zu Fall stark variiert und auf diese Weise dessen gewisse Künstlichkeit offensichtlich
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macht. In seiner „Historia tripartita“ ließ Christoph Cellarius das Mittelalter bzw. den betreffenden Band z. B. recht pragmatisch bereits mit dem Amtsantritt Kaiser Konstantins im Jahre 306 einsetzen, letztlich also mit der Tolerierung des Christentums und dessen Etablierung kurze Zeit später als Staatsreligion. Grundsätzlich hätte auch der vorliegende Band mehr oder weniger mit diesem Datum und dem damit verbundenen fundamentalen Wandel in der europäischen Kultur zu beginnen, werden doch bereits damals bestimmte für die abendländische Baukunst maßgebliche Typen festgelegt, die eine lang andauernde Wirkkraft entfalten sollten: zumindest im sakralen Bereich, der bei weitem den größten und wichtigsten Anteil am mittelalterlichen Baugeschehen hatte. Man denke nur an den Typus der Basilika oder aber an so einflussreiche und wichtige Einzelbauten wie die Heiliggrabkirche in Jerusalem (□ vgl. 47). Ebenso wären die verschiedenen frühen christlichen Bauten in Rom, wie etwa Alt-St. Peter (□ vgl. 45), oder aber die mit dem oströmischen, byzantinischen Kaiserreich verbundenen Architekturen in Konstantinopel oder auch in Ravenna zu berücksichtigen gewesen. Das kann an dieser Stelle nur eingeschränkt geschehen, doch soll ihre fundamentale Bedeutung zumindest in einem eigenen Themenblock Würdigung erfahren ( Themenblock · Antike, S. 81). Diesen Mittelalter-Band mit der Aachener Pfalzkapelle (□ vgl. 43, 44), also grob gesprochen mit dem Jahr 800, beginnen zu lassen, hat seinen eigenen Grund, stellt dieser Bau doch bereits für sich gesehen eine klare Zäsur dar. Zwar ist er – wie angedeutet – nicht der früheste Monumentalbau der Christenheit, gleichwohl aber der gewaltigste, weitgehend authentisch erhaltene aus dieser frühen Phase abendländischen Architekturschaffens, zumindest nördlich der Alpen. Zudem ist er mit einem Herrscher verbunden, dem es erstmals gelang, ein ähnlich umfassendes Gebilde wie das Römische Reich in dessen alten Grenzen wieder erstehen zu lassen: sicher auch einer der Gründe, weshalb der Bau niemals etwas von seiner Anziehungskraft verlor und all die Jahrhunderte hindurch weitgehend unverändert überdauerte. Die obere Begrenzung des Bandes mit dem Jahr 1500 muss demgegenüber deutlich zufälliger erscheinen: Sie ist zwar mit den bereits angeführten historischen Ereignissen durchaus zu rechtfertigen; allerdings lässt sich für damals kein vergleichbar zentraler, zäsursetzender Bau benennen wie für den Anfang des behandelten Zeitraums. Eine konsequente Abgrenzung zur Neuzeit ist mit dem Jahr 1500 also nicht wirklich möglich. Es werden deswegen auch einige spätere Bauten behandelt, die zweifellos eher aus der mittelalterlichen Tradition heraus denn aus ihrem frühneuzeitlichen Kontext zu verstehen sind, so etwa die Anlagen in Brou und Batalha oder das King’s College in Cambridge |▶ 48 – 50|. Die europäische Architekturgeschichte des Mittelalters lässt sich nur schwer auf eine Zahl von 50 Objekten eingrenzen: eine Beschränkung, die aber angesichts des vorgegebenen Umfangs des Bandes nicht zu vermeiden war. Die letztlich getroffene Auswahl ist demnach nicht als ein Ranking misszuverstehen, gleichsam als ein neuer – partiell auch alter – Kanon der wichtigsten Bauten. Vielmehr sind es Fallbeispiele: 50 so weit als möglich gleichmäßig über Europa, die Jahrhunderte und die Bauaufgaben verteilte Bauten, anhand derer Grundprobleme oder aber markante Entwicklungssprünge in der europäischen Architektur des Mittelalters besonders gut darstellbar erschienen. Fokussiert auf die drei im Titel genannten Hauptbauaufgaben der Zeit, also Klöster, Kathedralen und Burgen, sollen die gewählten Schlüsselbauten im wahrsten Sinne des Wortes ‚Schlüssel‘
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zum Verständnis bestimmter Phänomene liefern, in der Zusammenschau zugleich aber ein möglichst abgerundetes Gesamtbild entstehen lassen, das – je nach Bedarf – einen guten Überblick über bzw. einen guten Einstieg in die mittelalterliche Architekturgeschichte liefert. Das Hauptaugenmerk liegt dabei im Bereich der Westkirche. Anhand einiger weniger Bauten wurde aber versucht, die Perspektive mitunter etwas zu weiten und auch solche der Ostkirche einzubeziehen bzw. den Einfluss außereuropäischer Kulturen mit zu berücksichtigen. Das mögen die Beispiele der Alhambra |▶ 39| und islamischer Baukunst in Südspanien zeigen oder aber ein Blick auf die entsprechenden Inspirationsquellen der Architektur des sizilianischen Königreichs |▶ 15|, in der normannische mit islamischen Einflüssen verschmolzen: eindrückliche Belege eines geradezu modern anmutenden Kulturtransfers. Anliegen war es durchaus auch, mitunter neue Blickwinkel zu etablieren oder zumindest in Diskussion zu bringen. Verständlicherweise sind davon die frühen Phasen kaum betroffen, in denen zum einen an sich weniger Bauten entstanden sind, zum anderen in deutlich geringerem Umfang Substanz die Zeiten überdauert hat. Hier können die Vernetzungen innerhalb der Epoche noch nicht ganz so detail- und umfangreich dargelegt werden wie in jenem Abschnitt, der sich mit gotischer Architektur, d. h. mit dem 12. bis 15. Jh., beschäftigt. Zudem ist in den ihnen vorangehenden Jahrhunderten vieles lediglich durch die (teilweise sehr kontroverse) Interpretation archäologischer Grabungen rekonstruierbar. Über das Aussehen anderer, den Quellen nach hochbedeutender Bauten wissen wir – wie etwa im Fall des einflussreichen Reformklosters Gorze (Binding / Untermann 1985) – demgegenüber so gut wie gar nichts, fehlen doch bei ihnen mitunter selbst archäologische Untersuchungen. Da es diesem Band v. a. um eine Annäherung an das Medium Architektur anhand bestehender und uns umgebender Baukunst geht, konnten solche Aspekte aber sowieso nur eingeschränkt Berücksichtigung finden. Das ist auch der Grund, weswegen der Profanbau weit weniger umfangreich und auf die späteren Jahrhunderte sowie auf den Bereich des Burgen- und Schlossbaus konzentriert in Erscheinung tritt. In gleicher Weise muss die entsprechende geographische Verteilung zwangsläufig differieren, galt es doch jeweils die (Innovations-)Zentren in den verschiedenen Entwicklungsphasen zu berücksichtigen, oftmals verbunden mit einer besonderen historischen Konstellation bzw. einem herausragenden Herrscher: so z. B. das französische Königreich im 12. und 13. Jh. und die Ausbildung dessen, was man heute allgemein als ‚Gotik‘ bezeichnet. Einer derartigen Rekonstruktion historischer Zusammenhänge kommt insofern große Bedeutung zu, als unsere Sichtweise auf bestimmte Regionen und Landschaften nicht unbedingt den damaligen Gegebenheiten entspricht. Das betrifft gerade auch die Grenzziehung bzw. Nicht-Grenzziehung im Mittelalter, die oft noch Gebiete vereinte, die heutzutage kaum mehr jemand als zusammengehörig ansehen würde, oder aber Regionen isolierte, die seit langem in einem größeren Staatenverband aufgegangen sind. Ein solcher historischer Rückbezug erscheint in einer Zeit, da der oder die Auftraggeber eine fast ebenso große Rolle spielte(n) wie der planende Architekt, noch einmal in besonderem Maße wichtig. Ebenso ist die historische Verankerung, die Verbindung mit Daten und Ereignissen bei derartigen Großprojekten, wie sie nun einmal Sakralbauten darstellen, eher gegeben und weit einfacher nutzbar zu machen als bei anderen Artefakten der Zeit. Am
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ehesten können hier noch aussagekräftige Daten generiert und für die Argumentation verwendet werden, z. B. – bei aller angemessenen Vorsicht – in Verbindung mit Weihen oder Grundsteinlegungen. Eine Einbindung der Architekturen in ihren historischen Kontext erscheint aber v. a. auch deswegen notwendig, als die zum klassischen kunsthistorischen Methodenrepertoire gehörende Stilkritik in den letzten eineinhalb Jahrhunderten mitunter Zusammenhänge entwickelt hat, die so nicht unbedingt den historischen Realitäten entsprechen. Ebenso ging es schließlich in den wenigsten Fällen allein um ein rein architektonisches Problem, war doch die Hauptmotivation vieler dieser Bauten eine weit umfänglichere Stiftung, die der Etablierung einer angemessenen eigenen Grablege oder die der eigenen Dynastie galt. In der Tat versuchten sich die jeweiligen Stifter auf diese Weise in den Stiften und Klöstern den fürbittenden Gebetsdienst und die Hilfe der in den Reliquien anwesenden Heiligen zu sichern; solches lässt sich das gesamte Mittelalter hindurch nachweisen, von der Aachener Pfalzkapelle und St. Michael in Hildesheim über S. Chiara in Neapel bis zu Brou |▶ 1, 4, 35, 50|.
Architektur und Stadt Das „schwere Kommunikationsmedium“ Architektur (Fischer 2010) unterscheidet sich von den beiden weiteren klassischen kunsthistorischen Gattungen Malerei und Skulptur, aber auch von manch anderem Medium bereits dadurch, dass man sich den von ihr in vielfältiger und sehr differenzierter Weise kommunizierten Informationen nur schlecht entziehen kann: Architektur ist permanenter Bestandteil der Welt, in der wir leben bzw. in der vorangegangene Generationen lebten. Zugleich besitzen die von ihr ausgesandten Signale – angesichts des bei Architektur deutlich höheren Aufwandes und der materialbedingten größeren Haltbarkeit – eine ungleich längere Wirkdauer als andere Medien. Negativ könnte man das als ‚Schwerfälligkeit‘, bei positiver Auslegung als ‚Beständigkeit‘ bezeichnen, wenn etwa der eingangs benannte Bau der Aachener Pfalzkapelle (□ vgl. 36, 43, 44) über Jahrhunderte hinweg nichts von seiner Bedeutung und Interpretation als Wirkstätte des heiligen Kaisers Karls des Großen verlor. Als etwas anders gelagertes Beispiel zeigt der noch monumentalere, 1248 begonnene Kölner Dom (□ vgl. 108), dass die betreffenden Bedeutungen durchaus auch einem gewissen Wandel unterworfen sein konnten, ohne dabei etwas an der allgemeinen Wichtigkeit der damit verbundenen Architektur zu ändern: War die rheinische Bischofskirche zunächst ein Symbol der herausragenden Bedeutung des Erzbistums Köln im Reich, ja, in Europa, so wurde sie – wie aufgezeigt – mit dem Vorgang ihrer Vollendung im 19. Jh. zu einem solchen der zu einenden bzw. bald geeinten deutschen Nation. Das klassische, wenn auch nicht ausschließliche Bezugssystem, in dem all diese Kommunikation am besten funktioniert, ist jenes, das sich geradezu zwangsläufig aus der Summe von Einzelarchitekturen ergibt: eine menschliche Siedlung, in welcher Ausformung und Dimensionierung auch immer, ob als Klostersiedlung, Dorf oder aber vorzugsweise als Stadt, als Ganzes geplant oder aber als heterogenes, peu à peu zusammengewachsenes
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Gebilde. Sich mit Architektur zu beschäftigen, erfordert demnach geradezu zwangsläufig eine Auseinandersetzung mit der Stadtbaugeschichte, was – soweit das im Rahmen eines derartigen Bandes überhaupt möglich ist – auch hier geschehen soll. Zumindest sind fallweise einige grundsätzliche Aspekte zu benennen, die zeigen, wie wichtig Stadtgeschichte letztlich für die Analyse und das Verständnis eines einzelnen Gebäudes sein kann. Dazu ist allerdings zunächst einmal festzuhalten, was heute und was im Mittelalter im landläufigen Sinne als Stadt verstanden wird bzw. wurde. Sind es heute Großsiedlungen mit einer üblicherweise fünfstelligen Einwohnerzahl, so waren es damals wesentlich bescheidenere Anlagen mit zumeist kaum mehr als 1000 – 2000 Einwohnern. Auf dem europäischen Kontinent ist um 1300 Paris mit ca. 100 000 Bürgern die größte Stadt, südlich der Alpen Venedig mit ca. 90 – 100 000. Es folgt eine kleine Gruppe von Städten mit fünfstelligen Einwohnerzahlen wie Mailand (Ende 15. Jh.: 85 000), Brügge (50 000), Köln (40 000), Rom (35 000), Metz (30 000), Danzig und Lübeck (24 000), Nürnberg (1438: 23 000) und Straßburg (1473: 21 000). Dass sich die Stadt seit dem 12. Jh. immer mehr zur eigentlich bedeutenden Siedlungsform – zu den alles bestimmenden wirtschaftlichen wie kulturellen Zentren – entwickelte, belegen eindrücklich die überlieferten bzw. partiell geschätzten Zahlen, etwa für den Bereich des heutigen Deutschlands: Lebten auf diesem Territorium um 1150 lediglich 2 % der Bevölkerung in gerade einmal 200 Städten, so waren es um 1400 bereits 12 % in 3000 Städten. Wie angedeutet hatten diese allerdings für heutige Verhältnisse noch recht bescheidene Ausmaße, besaßen doch um 1500 – bei inzwischen 4000 Städten – 2800 von ihnen weniger als 1000 Einwohner und lediglich 20 mehr als 10 000 (vgl. dazu u. a. den Eintrag „Stadt“ und verwandte Begriffe in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, Sp. 2169 – 2208 u. Bd. 8, Sp. 1 – 34; Meckseper 1982). Basierend auf ihrer stark differierenden Entstehungsgeschichte können europäische Städte im Mittelalter eine sehr unterschiedliche Gestalt aufweisen. Es kann sich bei ihnen um über mehrere Jahrzehnte oder Jahrhunderte unkoordiniert, ja, wild gewachsene Gebilde handeln, in gleicher Weise aber auch um planvoll erstellte. Gründe dafür gibt es verschiedene, wobei der wichtigste der Zeitpunkt ihrer Entstehung ist. So ist, etwas vergröbernd gesprochen, bei einer Lage westlich des Rheins und südlich der Donau die Wahrscheinlichkeit groß, dass die betreffende Stadt bereits römische Wurzeln und – damit verbunden – ursprünglich eine sehr planvolle Stadtanlage besaß, wie das etwa bei Paris und Reims, aber auch bei Trier und Köln der Fall ist, um nur einige prominente Beispiele zu nennen. Selbst hier kann aber die individuelle Ausformung noch einmal stark divergieren: Während sich die unter Kaiser Konstantin zwischenzeitlich römische Hauptstadt Trier in nachantiker Zeit als viel zu groß für die aktuellen Bedürfnisse erwies und ein Gutteil ihres alten Stadtgebiets als Weide- und Ackerfläche verödete – heute würde man das unter dem Schlagwort shrinking cities fassen –, kam es u. a. in Köln, Metz, Regensburg oder Paris zu beachtlichen Erweiterungen dieser Boomstädte, die in ihrem Kern – mehr oder weniger deutlich – immer noch die Rasterstruktur der römischen Städte erkennen ließen. Zum Vergleich: Das bebaute Stadtgebiet Triers reduzierte sich im Mittelalter von 285 auf 138 ha, demgegenüber vergrößerte es sich in Metz von 54 auf 160 ha, in Köln sogar von 120 auf 400 ha. Wie erfolgreich sich die Weiterentwicklung dieser Städte im Westen und Süden Europas auch in nachantiker Zeit gestaltete, außer Zweifel steht, dass sie immer privilegiert blieben gegenüber jenen weiter im Norden und Nordosten Europas gelegenen,
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wo Stadtgründungen erheblich später, zumeist erst im zweiten Jahrtausend und hier v. a. im 12. oder 13. Jh., erfolgten. Deren Größe, aber auch wirtschaftliche Potenz erreichte deswegen nur in wenigen Fällen jene der älteren, westlichen und südlichen Konkurrenten, sieht man einmal von den Hansestädten an der Ostsee ab. Eher selten weisen mittelalterliche Gründungen eine Römerstädten vergleichbar planvolle Anlage auf. Zumeist lassen sich bei ihnen kleinere ältere Siedlungskerne ausmachen, von denen die Weiterentwicklung ausging. Üblicherweise lagerten sich zunächst Vorstädte an, die dann, bei Erlangung entsprechender Größe und Bedeutung, mit einer eigenen, das geschützte Stadtgebiet erweiternden Ummauerung eingefasst wurden. Oft erweist sich eine derartige, vermeintliche städtische Einheit als Konglomerat unabhängiger Einzelstädte, die jeweils ihre eigene Rechtsprechung, Rathaus und Stadtbefestigung besaßen. Das ist z. B. in Brandenburg a. d. Havel der Fall, dessen gesamte heute noch ablesbare mittelalterliche Stadtanlage aus drei unabhängigen Siedlungszentren gebildet wird: den zwei Bürgerstädten der Altstadt und der Neustadt sowie der etwas abseits gelegenen Bischofsstadt. Ähnliches trifft für die heutige deutsche Hauptstadt Berlin zu, die im Mittelalter noch zwei unabhängige, einen Spreeübergang markierende Städte umfasste: Cölln auf der Westseite, das im 15. Jh. der Markgraf von Brandenburg zu seiner Hauptresidenz erhob, und Berlin auf der Ostseite (□ 3). Dieser Teil weist zudem eine weitere interessante Eigenheit auf, schließt sich dort doch an einen alten um die Pfarrkirche St. Nikolai gebildeten Siedlungskern eine einheitlich gerasterte, offensichtlich in einem Zug erfolgte Erweiterung an. Solch planvoll konzipierte Städte bzw. Stadterweiterungen lassen sich im 13. Jh. östlich der Elbe häufiger finden (vgl. u. a. Neubrandenburg, Stralsund) und sind Beleg zum einen für den enormen Bevölkerungszuwachs, der erst Mitte des 14. Jh.s mit den Pestepidemien enden sollte, zum anderen aber dafür, dass diese Regionen damals überhaupt erstmals eine systematische Besiedlung erfuhren. Ablesbar werden damit zugleich die stark divergierenden Kräfte, die hinter einer derartigen Stadtentwicklung stehen konnten: Ist im Mittelalter die planvolle Gründung einer neuen Stadt zumeist das Werk eines entsprechenden weltlichen oder geistlichen (Landes-)Herrn, so geht der Rest größtenteils auf Kaufleute zurück. Sie und ihr immer erfolgreicher und wichtiger werdender Handel sorgten entweder für erfolgreiche Neugründungen oder aber dafür, dass aus älteren Siedlungskernen, wahlweise Resten einer Römerstadt, neue und größere Städte erwuchsen. Rechtlich bedeutend für das Funktionieren eines derartigen Gebildes war die Verleihung des Stadtrechts durch den Kaiser oder König oder aber durch den jeweiligen Territorialherrn, bei dem es – bei allen Unterschieden im Detail – jeweils um das existentiell wichtige Privileg auf Befestigung und Selbstverwaltung sowie um das Markt- und Münzrecht geht. Für den Einzelbau bedeutet die Stadt ein riesiges Bezugssystem, in dem die dahinterstehende Institution bzw. der dahinterstehende Auftraggeber seine eigenen Ansprüche, seine eigene Position angemessen zum Ausdruck bringt. Stadtbild-prägend sind fraglos zunächst einmal die Kirchen, die als größte Bauten der Zeit jede mittelalterliche Stadt dominierten. Als einzige Konkurrenz konnten hier die erst seit dem späten 12. Jh. – zunächst in Italien (Orvieto, ab ca. 1160; Padua, ab 1172; Mailand, ab 1233) – als Zeichen der bürgerlichen Autonomie aufkommenden Rathäuser hinzutreten |▶ 33, 34| oder, für den Fall, dass es sich um die Residenzstadt eines Herrschers handelte, eine entsprechende Burgbzw. Schlossanlage. Dank ihrer Bedeutung, aber auch dank ihrer Entstehungszeit zeich-
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□ 3 Johann Gregor Memhardt: „Grundriss der beyden Churf. Residentz Stätte Berlin und Cölln an der Spree“, 1652; links an das Cöllner Stadtgebiet anschließend das kurfürstliche Schloss, für das man die ehem. Dominikaner- als Schlosskirche weiterverwendete
neten sich innerhalb des Gefüges bestimmte Bauten durch ihre besondere Lage aus. So befinden sich etwa die gerade genannten Rathäuser zumeist am wichtigsten Marktplatz der Stadt, oft in unmittelbarer Nachbarschaft zur Hauptpfarrkirche (□ vgl. 3, T und H): ein System, das insbesondere in Norddeutschland zu finden ist. Überregional einheitlich ist demgegenüber die Positionierung der Bettelordens- oder Mendikantenkirchen |▶ 29|. Als vergleichsweise spätes, erst mit dem hl. Franziskus im 13. Jh. auftretendes Phänomen mussten sie sich oftmals mit den Restgrundstücken der bis dahin gewachsenen Ansiedlungen, am Rand unweit der Stadtmauer, zufriedengeben (vgl. die Berliner Franziskanerkirche, □ vgl. 3, K). Blickt man auf die europäischen Großstädte der Zeit, wie Paris oder Köln, so wird man auf eine kaum mehr überschaubare, von der Bischofskirche bis zur einfachen Kapelle reichende Ansammlung verschiedenartigster Sakralbauten stoßen. Sie differieren nicht nur hinsichtlich ihrer schieren physischen Größe, sondern geben auch durch eine entsprechende Detailgestaltung ihren unterschiedlichen Rang zu erkennen. Martin Warnke („Bau und Überbau“, 1984) hat dieses Phänomen mit dem aus der Soziologie übernommenen Begriff des ‚Anspruchsniveaus‘ zu umschreiben versucht. Darunter verstand er bauliche
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wie künstlerische Leistungen, die „es in einer geschichtlichen Epoche Individuen oder Gruppen ermöglichen, ihre soziale Stellung und Funktion sichtbar zu bestimmen oder zu erfahren“. Den „repräsentativ bestimmten Bauzwang“ betreffend, meint er weiter: „Auf dieser Ebene wird das Anspruchsniveau auf dem Weg über einen Vergleich wirksam, der festzustellen erlaubt, inwieweit ein Individuum, eine Institution oder eine Gruppe ihren Rang in der Gesellschaftspyramide behaupten oder beanspruchen kann.“ Am Beispiel des auf den ersten Blick recht heterogenen Œuvre des zwischen ca. 1356 und 1399 für Kaiser Karl IV. in Prag tätigen Peter Parler (u. a. Veitsdom, Stiftskirche in Kolín) hat Robert Suckale (1980) alternativ dazu den Begriff der „Stillage“ etabliert. Dieser besitzt insofern noch einmal besonderen Reiz, als es sich dabei um ein Denkmodell handelt, das aus der mittelalterlichen Rhetorik, konkret aus den genera dicendi (‚Arten der Rede, Stillagen‘), abgeleitet ist: Demnach habe sich der Redner erstens am Rang des Adressaten, zweitens am Rang des behandelten Gegenstandes und drittens an der Bedeutung des Anlasses zu orientieren: „Vereinfacht gesagt hat die Rede vor dem König würdevoller zu sein als die vor Bauern; die über Gott feierlicher als die über Tagesereignisse; und der panegyrische Festvortrag anders als die Tischrede usw. Im Prinzip werden drei Stillagen unterschieden: a) der ‚hohe‘ Stil (stilus altus, grandis oder grandiloquus), im Mittelalter auch ‚reich‘ oder ‚geblümt‘ genannt (d. h. mit vielen schmückenden Redefiguren ausgestattet); b) der ‚mittlere Stil‘ (stilus medius) und c) der ‚niedere Stil‘ (stilus humilis). [...] Entsprechend ist zu erwarten, dass eine Altartafel mit würdevolleren bildnerischen Mitteln gestaltet wird als ein erzählendes Historienbild und dass die Erscheinung einer Bettelordenskirche bescheidener ist als die der benachbarten Kathedrale. In der Mentalität der Gesellschaft des vormodernen Europa war die Vorstellung von der Abstufung aller Verhältnisse nach Rängen, im Himmel wie auf Erden, in der Kirche und im Staat, also auch in Bau- und Bildkunst, in Kleidung und Schmuck, so tief verwurzelt, dass man sich über sie als eine Selbstverständlichkeit kaum äußerte.“ Bestätigung findet ein solches Denkmodell durch Drapers (2000, S. 34) Beobachtung, dass es in England im 12. und 13. Jh. eine deutliche Hierarchie bei der Verwendung der verschiedenen Sprachen Latein (theologische, philosophische und chronikalische Texte), Französisch (literarische Texte; Sprache des Hofes und der höheren sozialen Schichten) und Englisch (Umgangssprache) gegeben habe. Gebunden an die jeweilige Aufgabe bzw. Stillage konnten sich auf diese Weise aus der Hand eines einzigen Architekten in der Tat ausnehmend unterschiedliche Lösungen ergeben, wie es das Beispiel Peter Parlers zeigt: Modernste hochgotische, ingenieurtechnisch virtuose Baukunst, wie sie der Chor des Prager Veitsdoms präsentiert, steht hier zeitgleich geradezu archaischer, eher an der Schatzkunst orientierter Architektur gegenüber: die den Nationalheiligen bergende Wenzelskapelle, die in ihrer architektonischen Gliederung verhältnismäßig einfach ausfällt, deren Wände aber überreich mit Edelsteinen verziert sind |▶ 41|. Hinzuzunehmen wäre noch der im Vergleich zum Veitsdom deutlich reduziertere Entwurf Peter Parlers für die Pfarrkirche St. Bartholomäus (ab 1360) in der böhmischen Königsstadt Kolín (Suckale 1980). Ein eindrückliches Beispiel für das konkrete Funktionieren eines derartigen, mit dem Begriff der Stillage oder des Anspruchsniveaus verbundenen Ordnungsmodells stellt die ungewöhnlich vielfältig und gut erhaltene Kirchenfamilie dar, die in der ehemaligen freien Reichsstadt Metz in Lothringen in der zweiten Hälfte des 13. Jh.s entstanden ist. Damals wurden fast alle stadtprägenden Bauten erneuert oder aber gänzlich neu errich-
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□ 4 Metz, Wandaufriss (v. l. n. r.) der Pfarrkirche Ste-Ségolène, der Benediktinerabteikirche St-Vincent (Grundsteinlegung 1248) und der Kathedrale St-Etienne, jew. Mitte 13. Jh.
tet, so dass sämtliche überhaupt nur denkbaren Anspruchsniveaus an diesem Ort versammelt und abgedeckt sind: vom vornehmsten und aufwändigsten Vorhaben der Kathe drale über die Klosterkirche und die Stifts- bis zur Pfarrkirche, bevor dann mit der halb sakralen, halb profanen Bauaufgabe des Hospitals das Niveau des Bürgerhauses erreicht wird, an dem immerhin solche reicher gestalteten Elemente wie Säulen und Fenstergliederungen mit jenen des Sakralbaus vergleichbar erscheinen (Brachmann 1998). Das Einzigartige an dieser allein schon vom Umfang her ungewöhnlichen Metzer Neubauwelle ist, dass bei allen Bauten die grundsätzlich gleiche Formsprache zur Anwendung kam, lediglich von Projekt zu Projekt in ihrer Subtilität oder aber Opulenz auf das intendierte Anspruchsniveau abgestimmt (□ 4). So besitzt die Kathedrale kantonierte Pfeiler, die Pfarrkirche Ste-Ségolène hingegen einfache Rundpfeiler; weist die darauf ruhende Hochschiffswand bei der Kathedrale zwei in unzählige Rundstabschichten aufgelöste Zonen auf – jene des Triforiums und des Obergadens –, so ist es im Fall der Abteikirche St-Vincent, wo das Triforium fehlt, lediglich eine einzige. In der Pfarrkirche verzichtete man schließlich gänzlich auf eine derart differenzierte Untergliederung. Hier finden sich nun schlichteste Obergadenfenster und ebenso einfaches, ungegliedertes Mauerwerk. Als ein weiteres Beispiel zu nennen wäre die Differenzierung einer identischen Bauaufgabe bei zwei unterschiedlich hochrangigen Institutionen: in diesem Fall die wiederum Mitte des 13. Jh.s entstandenen Kreuzgänge einmal der Benediktinerinnenabtei St-Pierre‑ aux‑Nonnains und einmal der Klarissen (um 1258), also eines weit bescheideneren Bettelordens (□ 5). Besitzen beide Anlagen auf den ersten Blick nur wenig Ähnlichkeit, so
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erkennt man schnell, dass sie jeweils nach einem grundsätzlich ähnlichen Prinzip alternierend schmalerer und breiterer Stützelemente aufgebaut und strukturiert sind: bei den Klarissen einfache Rundpfeiler, die ebenso einfache Arkaden tragen, beim Kreuzgang der Benediktinerinnen dagegen eine Kolonnade, gebildet aus Achteckstützen mit vielen raffiniert geschnittenen Profilen, die eine reiche Licht-Schatten-Wirkung evozieren. Die zunächst ungewöhnliche Lösung, die sich aber in ihren Detailformen zweifelsfrei an die restliche Metzer Architektur des 13. Jh.s anbinden lässt, zeigt im Übrigen eindrucksvoll, dass man in der Gotik nicht nur den Spitzbogen als gestalterisches architektonisches Element kannte. Sicherlich ist diese Kirchengruppe schon in ihrer Zeit ein Idealfall, der noch ungewöhnlicher wird durch die fast lückenlose Überlieferung aller Einzelbauten. Für die vorangegangenen Jahrhunderte wird man wohl angesichts des damals generell geringeren Bauumfangs, aber auch des wesentlich fragmentarischeren Erhaltungszustands vergeblich ähnliche Ensembles suchen; von der Existenz eines entsprechenden hierarchisierenden Denkens ist gleichwohl auszugehen. Für die zweite Hälfte des 14. Jh.s kann dem Metzer Beispiel dagegen immerhin die gemeinsam mit dem Neubau des Veitsdoms entstandene Prager Kirchenfamilie (Emmauskloster, ab 1347; Augustinerchorherrenstift Karlshof, um 1350; Teynkirche, ab 1370; St. Maria Schnee, ab 1379; Altstädter Brückenturm, 1380 – 1400; Fronleichnamskapelle, ab 1393; zudem: Moldaubrücke, ab 1357, □ vgl. 146, 147), die als zusammengehörige Gruppe allerdings noch nicht wirklich untersucht ist, zur Seite gestellt werden (Crossley / Opacˇi´c 2006); ebenso die zahlreichen, fast zeitgleich unter dem polnischen König Kasimir (1333 – 70) in Krakau ins Werk gesetzten Sakralbauten (Crossley 1985). Die beschriebenen Wirkmechanismen der verwandten Denkmodelle – jenes der Stillage von Suckale und jenes des Anspruchsniveaus von Warnke – sind natürlich kaum auf das Funktionssystem einer einzelnen Stadt zu beschränken. Das zeigt bereits
□ 5 Metz, Details der Kreuzgänge der Benediktinerinnenabtei St-Pierre-aux-Nonnains (mit Kolonnaden) und der Klarissen (mit Arkaden), Mitte 13. Jh. und um 1258
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□ 6 S. Gimignano, mit mittelalterlichen Wohntürmen, 12. und 13. Jh.
ein Blick auf die Mitte des 13. Jh.s um den Kölner Dom (□ vgl. 108) rekonstruierbare Gruppe von Sakralbauten (Köln, Franziskanerkirche; Altenberg, Zisterzienserabtei; Mönchengladbach, Chorneubau der Abteikirche). Vielmehr können auf diese Weise einzelne Architekturen – eine Burg, ein Schloss, eine Kathedrale, eine Pfarrkirche – selbstverständlich ebenso mit entsprechenden, an einem ganz anderen Ort befindlichen Bauten kommunizieren bzw. mit diesen in Konkurrenz treten: egal, ob das die Dimensionen, die Detailgestaltung oder aber die Modernität der Architektur betrifft. Wird in den angeführten Ensembles die Ausprägung einer Rangordnung in geradezu idealtypischer Weise verfolgt, so lassen sich an ihnen durchaus auch allgemein gültige Regeln für eine derartige Hierarchie herausfiltern. Als Grundtypen sind zum Beispiel schlichte einschiffige Saalkirchen von reicheren dreischiffigen Kirchen zu unterscheiden, bei denen das Mittelschiff von zwei Seitenschiffen flankiert wird. Ebenso zeigt sich, dass v. a. aufwändige Chorlösungen (z. B. mit Umgang und angelagerten Umgangskapellen gegenüber einem Staffelchor oder einem simplen einschiffigen Chor) oder Querhäuser eher zum Formenrepertoire für ein hohes Anspruchsniveau gehören. Gleiches gilt für Turmbauten (oft motiviert durch ein nicht weniger aufwändiges Glockengeläut, das es unterzubringen galt), egal ob als Doppelturmfassade, als Vierungsturm oder aber als Rahmung des Querhauses. Auch im profanen Bereich sind Turmbauten ein deutliches, nicht unbedingt rein funktionsorientiertes Machtsymbol, nicht nur im Mittelalter, sondern auch in der Moderne mit
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ihren Turmhäusern: Versuchten damals z. B. in den italienischen Städten einzelne Familien ihre Konkurrenten mit immer höher aufragenden Geschlechtertürmen zu übertrumpfen wie z. B. in S. Gimignano (□ 6) oder Bologna, so verfolgen in unserer Zeit – blickt man etwa auf die Skyline Frankfurts – Hochhausbauten einzelner Banken und Konzerne dieses Ziel grundsätzlich immer noch in sehr ähnlicher Weise. Angesichts des eher prestigeträchtigen Grundcharakters von Türmen verwundert es also wenig, dass derartige Elemente zumeist bei den Kirchen der Bettelorden oder der Zisterzienser fehlen, die in ihren Ordensregeln in besonderem Maße die Vermeidung von jeglichem Bauluxus festgeschrieben hatten. Ähnlich aufschlussreich ist der Umstand, dass gerade in Italien Türme bei Kirchen oft gar nicht von Anfang an Teil des Bauvorhabens waren, sondern erst nachträglich oder aber zumindest separat als frei stehende Campanile errichtet wurden. Hierarchisiert ist auch ein Kirchengebäude in sich selbst: So ist der Chorbereich, in dem sich der Hochaltar der Kirche befindet, fraglos wichtiger als das Langhaus, was sich in einer Niveauerhöhung, aber auch in reicheren Architekturformen ausdrücken kann ( Themenblock · Liturgie und Kirchenausstattung, S. 195). In gleicher Weise existiert eine Bedeutungsabstufung für die Eingänge einer Kirche: Nimmt man eine gotische Kathedrale wie Reims als Beispiel, so ist bis heute unschwer erkennbar, dass der wichtigste, an den hohen Festtagen genutzte Zugang – allein wegen der schieren Größe, aber auch angesichts des Auftretens der Hauptpatronin der Kirche, der Jungfrau Maria – zweifellos das Mittelportal an der Westfassade ist, über das man in das Hauptschiff der Kirche gelangt (□ vgl. 30). An weniger eindeutig strukturierten Bauten, wie etwa dem zu Anfang des 13. Jh.s entstandenen Bamberger Dom (□ 7), kann man solche Hierarchien demgegenüber mitunter schon anhand des skulpturalen Aufwandes erkennen. Auf diese Weise wird im Fall der genannten Kirche deutlich, dass der alltägliche Zugang über die sog. Gnadenpforte an der Nordostseite erfolgte, das nächstwichtige Portal dann die Adamspforte an der Südostecke war, während beide gemeinsam schließlich durch das noch prachtvollere, weit ausladende Fürstenportal übertroffen wurden, das man nur an besonders hohen Festtagen nutzte (Suckale 1987). In den hier aufgezeigten Ordnungssystemen gibt es selbstredend immer auch Ausnahmen. Solche dürfen gerade im Mittelalter nicht verwundern, handelt es sich doch um eine Epoche, in der die betreffenden Regelungen – insbesondere auf überregionalem Niveau – noch nicht in dem Maße normiert und standardisiert waren, wie das heute der Fall ist. Zugleich lässt sich aber natürlich schon damals das Phänomen des inszenierten Normbruchs finden. Ein gutes Beispiel dafür sind die Nürnberger Pfarrkirchen St. Sebald und St. Lorenz (□ 8; □ vgl. 38, 39). Ganz im Gegensatz zu dem Gestaltungsaufwand, der ihrer Stillage eigentlich zugestanden hätte, besitzen beide nämlich ein geradezu kathe dralartiges Aussehen. In der Tat weisen ihre monumentalen Umgangschöre und Doppelturmfassaden auf einen Bedeutungsanspruch hin, der einer Bischofskirche würdig wäre. Mit dieser kalkulierten Grenzüberschreitung intendierten die dahinterstehenden Bürger zweifellos, ihr Selbstbewusstsein ebenso wie die Macht und Bedeutung des herausragenden europäischen Handelszentrums Nürnberg mit allem Nachdruck zur Schau zu stellen. Dazu lohnt auch ein Blick auf die für beide Bauten verwendeten Vorbilder, überhaupt auf die Genese dieser in mehreren Etappen errichteten Pfarrkirchen: Jeweils aktuellsten und hochambitionierten Leitbildern folgend, erweisen sich ihre einzelnen Baukampagnen nämlich als Reaktion auf die entsprechenden vorangegangenen Aktivitäten des innerstäd-
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□ 7 Bamberg, Dom, Ansicht von Osten mit der Gnadenpforte (l.) und dem Fürstenportal (r.), ca. 1215 – 37
tischen Konkurrenten. Dies beginnt mit dem ersten um 1230 begonnenen Neubau von St. Sebald als doppelchörige Anlage, die in diesem wie in vielen anderen Details deutlich das Vorbild des benachbarten, 1237 geweihten Bamberger Doms zu erkennen gibt. Kaum waren die Arbeiten an St. Sebald abgeschlossen, da begann man mit dem Neubau von St. Lorenz. Dieser folgte nun allerdings nicht mehr lokalen Leitbildern, sondern wesentlich moderneren und ausgefalleneren der zeitgenössischen französischen Architektur. Insbesondere die Bündelpfeiler und andere Details lassen hier an den zweiten, hochgotischen Neubau der Abteikirche St-Denis (ab 1231) bei Paris denken (□ vgl. 82). Kaum mehr als ein Jahrhundert später sollte ein weiterer Aufwertungsversuch für St. Sebald folgen, indem man ab 1361 bis 1379 einen abermals für die Zeit hochmodernen Hallenumgangschor ins Werk setzte, auf den – dem benannten ‚Aktion-Reaktion-Schema‘ gemäß – etwas später ein ebensolcher an St. Lorenz (1437 – 77) antwortete. Anschaulich zeigt das Beispiel der
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29 □ 8 Nürnberg, Blick von der Burg über die Stadt mit den beiden Pfarrkirchen St. Sebald (r.) und St. Lorenz (l.); Aufnahme um 1900, vor den massiven Zerstörungen des 2. Weltkriegs
beiden Nürnberger Stadtkirchen, wie die dortige kompetitive Situation zu immer neuen und noch ambitionierteren Teilprojekten anspornte, zu denen es wohl kaum gekommen wäre, hätte es nur eine einzige, konkurrenzlose Pfarrkirche gegeben.
Ordnungsstrukturen und Vorgaben Das dargelegte Phänomen der Stillage bzw. des Anspruchsniveaus liefert bereits eine erste Vorstellung von den Regulierungen oder gar Restriktionen, die es – bei allem schöpferischen Genie der Architekten, bei allen markanten Entwicklungen zwischen 800 und 1500 – in der mittelalterlichen Baukunst zu berücksichtigen, fallweise auch einmal zu durchbrechen galt. Schon hier wird deutlich, wie wenig es den tatsächlichen historischen Gegebenheiten entsprach, die jeweiligen Projekte in der Art eines hochspezialisierten, internen Diskurses unter Experten zu interpretieren, die sich gleichsam kollektiv bzw. in Konkurrenz zueinander an bestimmten architektonischen Gestaltungsproblemen abgearbeitet hätten. Ebenso wird vor diesem Hintergrund deutlich, dass das Auftreten spezieller Einzelformen möglicherweise durchaus sehr unterschiedliche Gründe hat. So kann z. B. ein Rundpfeiler in einem gotischen Bau zunächst Indiz für eine Entstehung im 12. Jh. sein. In gleicher Weise kann er aber auch auf ein viel später anzusetzendes Projekt hinweisen, bei dem das einfache Architekturglied im Sinne eines Bescheidenheitsgestus gegenüber wichtigeren und deswegen aufwändiger bzw. moderner gestalteten Anlagen zu verstehen
Ordnungsstrukturen und Vorgaben
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□ 9 Sog. Meister der Darmstädter Passion (tätig in Oberschwaben und am Mittelrhein, um 1440 – 60): Anbetung der Könige und Erhöhung des Kreuzes vor Kaiser Konstantin und seiner Mutter Helena, um 1455, Gemäldegalerie Berlin
ist. Ähnlich gelagert ist der Fall der Verwendung schlichter Zungenblattkapitelle: In der entwickelten Sakralbaukunst wiederum eher im 12. Jh. üblich, finden sie als archaische Form im Profanbau – bei Bürgerhäusern ebenso wie bei einfachen Nutzbauten wie Speichern – erneut als Ausdruck einer geringeren Wertigkeit, einer niedrigeren Stillage gerne weiterhin im 13. Jh. Verwendung (vgl. u. a. Kimpel / Suckale 1985, S. 380 f.). Auch bildlich lässt sich ein derartiges Stilbewusstsein fassen. Zum Beispiel setzt es der sog. Meister der Darmstädter Passion – ein deutscher Nachfolger der wegweisenden altniederländischen Malerei – bereits Mitte des 15. Jh.s ein, um auf diese Weise geschickt verschiedene Zeitebenen des Heilsgeschehens zu thematisieren (□ 9). So findet bei der Anbetung der Hll. Drei Könige die mit der Geburt Christi überwundene Zeit des Alten Testaments durch die Ruine des Palasts König Davids Verbildlichung, die im Hintergrund in romanischen Formen zu sehen ist. Demgegenüber symbolisiert auf dem korrespondierenden Flügel, der das nachbiblische Ereignis der Erhöhung des Heiligen Kreuzes durch Kaiser Konstantin und der hl. Helena zum Inhalt hat, eine im Bau befindliche spätgotische, also zeitgenössische Kirche das Wachsen der noch jungen christlichen Kirche. Ein interessanter Beleg für ein bereits früh ausgeprägtes Stilbewusstsein, das sich in den folgenden Jahrhunderten mit zunehmender Stilvielfalt weiter verfeinern sollte: Schon im späten 15. Jh. unterschied man in nordalpinen Zentren wie Nürnberg in der bildenden Kunst klar zwischen ‚welscher‘ und ,altfränkischer Manier‘, womit der Stil der italienischen Renaissance bzw. die Gotik gemeint waren.
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Für die gebaute Architektur des Mittelalters wird dieses Bewusstsein für unterschiedliche Zeitstile noch einmal in anderem Zusammenhang bedeutungsvoll: jenem der Werkkonformität (Wolff 1974). Dieses Problem tritt gerade in Verbindung mit monumentalen Großprojekten auf, bei denen ein bereits seit langem begonnener Bau auch noch nach Jahrzehnten, ja, teilweise nach Jahrhunderten gemäß dem ursprünglichen Plan zu Ende zu führen war – obwohl er damals kaum mehr modern sein und lediglich in den Detailformen etwas adaptiert werden konnte. Unter den betreffenden ebenso zahlreichen wie prominenten Beispielen finden sich Bauten wie die Reimser Kathedrale und der Kölner Dom. Dass diesen Vorhaben durchaus Erfolg beschieden war, zeigt gerade Letzterer, der in seinen mittelalterlichen Teilen auf den ersten Blick tatsächlich wie aus einem Guss wirkt – und das, obwohl die betreffenden Partien im Laufe von fast zwei Jahrhunderten zwischen 1248 und dem frühen 15. Jh. (vgl. Westfassade) entstanden sind. Einige mittelalterliche Architekten scheinen sich sogar dezidiert durch solch subtile Ergänzungs- und Vollendungsarbeiten Ruhm erworben zu haben ( Themenblock · Der Architekt, S. 224). Einmal mehr war hier nicht der entwerfende Intellekt eines Architekten gefordert, sondern das Unterordnen in die bereits bestehende Architektur. Oftmals ging es schlicht darum, trotz eines langandauernden Entstehungsprozesses die Illusion eines in einer kurzen Phase einheitlich errichteten Baus aufrechtzuerhalten. Tritt schon hier der Auftraggeber oft als die für die Gestalt der Architektur eigentlich ausschlaggebende Größe in Erscheinung, so ist er es noch mehr in einem weiteren Fall, in dem erneut nicht architektonische Innovation, sondern – wenn auch in einer etwas anderen Art – Tradition im Vordergrund steht: die zitathafte Übernahme von Formen oder ganzer Konzepte älterer Bauten. Besonders früh und deutlich findet sich dieses Phänomen im 11. Jh. bei der Damenstiftskirche in Essen und der Benediktinerinnenabtei in Ottmars heim, die beide in Teilen oder als Ganzes an der Architektur der bereits drei Jahrhunderte zurückliegenden Aachener Pfalzkapelle |▶ 1| orientiert sind. Motiviert ist das – allein schon angesichts der Distanz von über 500 km zwischen beiden Bauten – wohl kaum durch einen gemeinsamen Architekten, sondern hat vielmehr mit ähnlichen Interessen der Auftraggeber(innen) zu tun, die sich offensichtlich jeweils ganz bewusst auf dieses weit zurückliegende Vorbild beziehen wollten. Wird hier über die genauen Motive noch immer gestritten, so erscheinen sie im Fall der Aachener Bürgerschaft klarer: Weniger Gründe der Materialersparnis dürften ausschlaggebend gewesen sein, das neue gotische Rathaus zwischen 1334 / 35 ausgerechnet über den Resten der karolingischen Palastaula der Pfalzanlage Karls des Großen errichten zu lassen. Vielmehr schloss sie damit im weitesten Sinne an die Tradition dieses großen Herrschers an und war v. a. fortan gesichert für die prestigeträchtige Austragung des Krönungsmahls verantwortlich, das traditionell in diesem seit dem 13. Jh. mehr und mehr verfallenden Gebäude abgehalten wurde. Ein noch konkreter zitiertes Vorbild, das sich das gesamte Mittelalter hindurch und in allen Teilen Europas immer wieder findet, ist die Heiliggrabkapelle mit dem Grab Christi, die in Jerusalem in einem von Kaiser Konstantin im 4. Jh. errichteten, seit dem 7. Jh. immer wieder erneuerten, überkuppelten Zentralbau mit Säulenumgang (sog. Anastasisrotunde) lag, von der es in ganz Europa zahlreiche Nachbildungen gibt |▶ 21|. In seinem wegweisenden Aufsatz „Introduction to an ‚Iconography of Mediaeval Architecture‘“ (1942) hat Richard Krautheimer nicht zuletzt an diesem Beispiel herausgearbeitet, wie vage dabei
Ordnungsstrukturen und Vorgaben
32 □ 10 Rom, Pantheon, Grundriss und Schnitt, ca. 119/25 fertiggestellt
die Übernahmen ausfallen konnten, durch die das Zitat des Jerusalemer Baus als solches für die Zeitgenossen erkennbar werden sollte: Oft genügte die Eigenheit des Zen tralraums, egal ob auf rundem, polygonalem oder gar quadratischem Grundriss. Die Kopie musste also keineswegs bis ins Detail mit dem Original übereinstimmen; es reichte vollkommen aus, wenn sich besonders charakteristische Züge der Vorlage wiedergegeben fanden. Wenig später hat, darauf aufbauend, Günter Bandmann in seiner Publikation „Architektur als Bedeutungsträger“ (1951) am Beispiel der Nachbauten der byzantinischen Palastkapellen und der Aachener Pfalzkapelle darauf hingewiesen, dass bei derartigen Übernahmen nicht ästhetische Aspekte im Vordergrund standen, sondern v. a. die religiöse oder politisch-historische Bedeutung. Dabei genügte bereits die „[...] ungefähre formale Ähnlichkeit, wenn nur das Nacherleben oder die Bannung der an das Vorbild geknüpften heiligen Ereignisse oder Eigenschaften ermöglicht wird“. Einen ähnlich gelagerten Fall stellt das Pantheon in Rom (□ 10) dar, das – nachdem man es unter dem Titel Santa Maria
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Rotonda zum wichtigsten der Jungfrau Maria geweihten Bau der frühchristlichen Kirche umgewidmet hatte – mit seinem runden Grundriss Vorbild für zahlreiche Marienkirchen wurde |▶ 21|. Überhaupt wurde das Kopieren, Variieren und Zitieren im Mittelalter – ob nun inhaltsgebunden oder bedeutungsfrei, ob in der Architektur oder der bildenden Kunst – gänzlich anders beurteilt als das heute der Fall ist. Ernst Gombrich („Die Geschichte der Kunst“, 1982, S. 129) hat dazu einen durchaus treffenden Vergleich mit der Musik gezogen: „Wenn wir einen Musiker bitten, [...] zu spielen, so erwarten wir genauso wenig von ihm, dass er etwas Neues für diese Gelegenheit komponiert, wie der mittelalterliche Auftraggeber eine neue Erfindung erwartete, wenn er eine Darstellung von Christi Geburt bestellte [...]. Und so wie zwei gleich gute Musiker das gleiche Stück sehr verschieden interpretieren können, so konnten auch zwei gleich große mittelalterliche Meister aus demselben Thema und sogar nach demselben Vorbild zwei sehr verschiedene Kunstwerke gestalten.“ Pro blemlos kann das Erklärungsmodell auch auf Architektur übertragen werden, bei der es in ähnlicher Weise nicht um Originalität im heutigen Sinne ging, sondern um „die Imitation von sakral, historisch und ästhetisch renommierten Vorbildern“: Wie bereits am Beispiel der Nachbauten der Heiliggrabkapelle gezeigt, stellte der erkennbare Verweis auf solche Modelle das eigentlich entscheidende Qualitätskriterium dar und weniger das schöpferische Einzelgenie, das von der Kunstgeschichte – der Tradition des 18. und 19. Jh.s folgend – bis heute favorisiert wird (vgl. Klein 2007). Ein im Vergleich zu den (runden) Marien- oder Heiliggrabkapellen etwas konkreteres Beispiel für Übernahmen älterer Modelle im Mittelalter ist die zwischen 1219 und 1227 in protogotischen Formen erneuerte Kölner Stiftskirche St. Gereon (□ 11). Ihr ungewöhnlicher ovaler Zentralbau geht immer noch auf einen spätantiken, in der zweiten Hälfte des 4. Jh.s entstandenen Vorgänger zurück. Dass ein solches Bewahren partiell auch rein praktische Gründe haben konnte, zeigen u. a. die am Kölner Dom mit dem gotischen Neubau (ab 1248) auftretenden Probleme |▶ 26|: Seine fortan einchörige Anlage mit Chorumgang und angelagerten Kapellen unterschied sich ganz erheblich von dem doppelchörigen Vorgänger des 9. Jh.s. Zwangsläufig veränderte diese Neuorganisation des Dominneren viele Positionen der zu übernehmenden alten Altarstellen, wodurch einstige Bezüge empfindlich ge-, gegebenenfalls sogar zerstört wurden. Ein Bau konnte allerdings auch für so altehrwürdig und prominent erachtet werden, dass man auf einen Neubau von Haus aus verzichtete oder aber lediglich gewisse Adaptionen vornahm: Die um 1140 erfolgte, lediglich partielle Erneuerung der Kirche der Benediktinerabtei St-Denis |▶ 17| wäre ein erstes prominentes Beispiel dafür. Noch konsequenter konservativ ging man mit der Kirche des altehrwürdigen deutschen Erzbistums Trier um, die – trotz des Erneuerungsdrucks angesichts entsprechender Bauprojekte in den beiden konkurrierenden Erzbistümern Köln und Mainz – als einzige im Mittelalter keinen vollständigen Neubau erhielt. Stattdessen konzentrierte man sich auf eine partielle Erneuerung und Umgestaltung in gotischen Formen. Die dahinterstehende Motivation war ganz offensichtlich, dass man den aus dem 4. Jh. stammenden römischen Gründungsbau bewahren wollte, der eng mit dem ersten großen Förderer des Christentums, Kaiser Konstantin, und dessen Mutter Helena verbunden war. Dereinst hatte diese dem Trierer Bischof dazu ihren Palast geschenkt, den man dann zum ersten Dom umnutzte. Eine derartige Konservierung des Vorgängerbaus
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34 □ 11 Köln, Stiftskirche St. Gereon, ca. 1219 – 27 errichtetes Dekagon über spätantikem Vorgängerbau des 4. Jh.s
konnte aber auch rein bauökonomische Gründe haben, wie es das Beispiel der Kathedrale von Gloucester eindrucksvoll zeigt, deren romanischer Urbau des späten 11. Jh.s im 14. Jh. in geschickter Weise in die gotische Erneuerung und Erweiterung integriert wurde. Andererseits scheint es schließlich zumindest im Hochmittelalter durchaus auch bereits zu Übernahmen aus rein ästhetischen Gründen gekommen zu sein. Eindrucksvoll zeigen das verschiedene Beispiele der Rezeption Pariser Architektur zur Mitte des 13. Jh.s. So erweisen sich etwa Architektur und Skulptur des in den 1270er Jahren ausgeführten Südquerhausportals der Kathedrale von Meaux als verblüffend exakte Kopie der entsprechenden Anlage von Notre-Dame in Paris (ab 1258): Ganz offensichtlich haben die Verantwortlichen in Meaux dabei „[...] eine mit dem Siegel des Meisterwerks versehene Kunstschöpfung um ihrer ästhetischen Qualität willen insgesamt reproduziert [...]“ (Kurmann 2010, S. 68; |▶ 25|).
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All das sind vergleichsweise ‚weiche‘ Faktoren, die die Gestaltung von Architektur beeinflussen konnten: In diesen Fällen war es immer noch eine freie Entscheidung, ob man die dargelegten Vorgaben berücksichtigen wollte oder nicht. Im Folgenden soll nun auf die demgegenüber weit substantielleren Faktoren eingegangen werden, die tatsächlich dafür ausschlaggebend waren, dass nicht jede Architektur immer und überall entstehen konnte, oder dass gegebenenfalls ein entsprechendes Projekt zumindest einen nicht unerheblichen Mehraufwand nach sich zog. Die diesbezüglich sicherlich wichtigsten Faktoren sind die vor Ort gegebenen natürlichen Ressourcen, d. h. die jeweils vorhandenen und einfach zugänglichen Baumaterialien ebenso wie die dort verfügbaren Arbeitskräfte, deren Entwicklungs- und Kenntnisstand, deren technische Fähigkeiten etc. Die im Mittelalter einfachste und billigste Lösung für das Erstellen eines Gebäudes ist das Arbeiten mit Holz, zumeist in Form einer materialsparenden Fachwerkkonstruktion. Im Sakralbau ist dies bei anspruchsvollen Projekten – mit Ausnahme weniger Regionen wie Skandinavien – verständlicherweise so gut wie nicht zu finden. Immerhin wurden aber einige Urbauten verschiedener Orden zunächst mit diesem Material errichtet; so etwa die verschiedenen ersten Anlagen der Großen Kartause bei Grenoble, die man ab dem 11. Jh. jeweils aus Holz ausführte |▶ 49|. Demgegenüber gibt es in der Profanarchitektur eine ganze Reihe von eindrucksvollen und aufwändigen Holzkonstruktionen, gerade im Bereich des Speicher- oder Rathausbaus, wie dies am Beispiel des Esslinger Rathauses |▶ 45| zu sehen sein wird. An einer Stelle spielte Holz allerdings auch im Bereich der gehobenen Kirchenarchitektur eine Rolle: bei den nicht weniger eindrucksvollen und komplizierten Dachstuhlkonstruktionen, von denen sich einige sogar noch erhalten haben (so u. a. bei der Marburger Elisabethkirche und der Zisterzienserkirche Salem; □ vgl. 152). Ist Holz – wenn auch in unterschiedlicher Qualität – im Mittelalter so gut wie überall als Rohstoff verfügbar, so liegt der Fall für Stein etwas anders ( Themenblock · Steinmaterial, S. 238). Hier gibt es durchaus Regionen, die über keine nutzbaren Natursteinvorkommen verfügten. Die Gründe dafür variieren: Entweder es existierten überhaupt keine derartigen geologischen Schichten oder das vorhandene Steinmaterial war als zu weich, zu kleinteilig oder zu inhomogen schlicht unbrauchbar für die Errichtung von Architektur, zumindest für eine feiner differenzierte. Für diese am besten geeignet sind – aus unterschiedlichen erdgeschichtlichen Zeiten stammend – der Sandstein oder der demgegenüber meist feinkörnigere und festere Kalkstein. Doch auch hier gibt es Qualitätsunterschiede, z. B. wie homogen der Stein ist oder in welchem Umfang er Einschlüsse aufweist etc., was ganz unmittelbaren Einfluss auf die Belastbarkeit und Widerstandsfähigkeit eines Steines hat. Gesucht wurden geologische Schichten, die in mehr oder weniger hoch gebankten, homogenen Lagen anstanden (□ vgl. 125): angesichts des nicht zu unterschätzenden Kostenfaktors des Transports im Idealfall möglichst nahe am zukünftigen Bauplatz. Das gewonnene Material konnte entweder unbehandelt als Bruchstein oder aber weiterverarbeitet und verfeinert als Haustein Verwendung finden. Bruchstein eignete sich gut für die Aufmauerung von schlichten Wänden, die man dann verputzte und auf diese Weise die Unregelmäßigkeiten des Steinmaterials kaschierte. Gerade in den frühen Jahrhunderten ist diese Technik auch bei großen und ambitionierten Bauten anzutreffen, um dann aus Gründen der Kosten- und v. a. Zeitersparnis all die Jahrhunderte hindurch bei rangniederen Bauten zum Einsatz zu kommen. Das Material, das man aber üblicherweise benutzte,
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gerade sobald die Detailformen etwas differenzierter ausfielen, ist Haustein: Material, das von Steinmetzen weiterverarbeitet, in eine gleichmäßige rechteckige Form gebracht wird ( Themenblock · Steinmaterial, S. 238). Auch hier gibt es wieder Qualitätsunterschiede: wie groß die versetzten Quader sind, wie gleichmäßig, wie präzise gearbeitet und – daraus resultierend – wie dünn die Mörtelfugen ausfielen. In Regionen, in denen derartige Natursteinvorkommen weitgehend fehlten (z. B. Oberitalien, Languedoc, Schlesien, Nord- und Ostseeraum, bayerisches Voralpenland), behalf man sich seit der Römerzeit mit einem Kunststein, dem aus Lehm gebrannten Ziegel, eine Technik, die interessanterweise nördlich der Alpen im 12. Jh. mitunter erst wieder neu eingeführt werden musste: ein guter Hinweis auf die gewissen technischen Schwierigkeiten seiner Herstellung. Ein großer Unterschied zum Haustein besteht darin, dass der Dimensionierung des Steins von vornherein enge Grenzen gesetzt waren, ist doch der Brand derartigen Materials überhaupt nur bis zu einer bestimmten Größe technisch möglich. Ein Backsteinbau ist deswegen logischerweise insgesamt erheblich kleinteiliger, additiver als ein Hausteinbau: Gerade bei langgezogenen (und eigentlich) einheitlichen Profilen, wie etwa einer Gewölberippe, kann das mitunter zu deutlichen Unregelmäßigkeiten führen, wird die Rippe doch nun nicht mehr aus einigen wenigen, langen Steinen, sondern aus vielen kleinen Elementen gebildet. Ebenso musste man, da eine Nachbearbeitung hier nicht mehr möglich ist, bei den Einzelelementen die Feinheit bzw. Rauheit der Oberfläche akzeptieren, die der Brand jeweils lieferte ( Themenblock · Backsteinarchitektur, S. 274). Gerade in Zeiten immer filigranerer und kühnerer Bauten, wie sie mit der Gotik auftreten, stellte das vor Ort verfügbare Material einen ganz wesentlichen Faktor dar. So war eine Ausdünnung der Architekturelemente mit dem extrem widerstandsfähigen Basalt stein, einem vulkanischen Ergussgestein, wie es ab 1248 beim Neubau der Kathedrale von Clermont-Ferrand zum Einsatz kam, zweifellos einfacher möglich als mit anderem Material. Gleiches gilt alternativ für den extrem harten und belastbaren sog. Purbeck marble: Er wurde wegen seiner dunklen Färbung und glatten Oberfläche in der englischen gotischen Architektur zwar auch gerne zu rein dekorativen Zwecken eingesetzt. Eine derart filigrane Konstruktion wie sie die Chorscheitelkapelle der Kathedrale von Salisbury (□ 12) darstellt, mit ihren geradezu hauchdünnen, langgestreckten Säulchen, auf denen die Gewölbekonstruktion ruht, wäre aber ohne dieses besondere Material – alternativ z. B. in Sandstein – bei gleicher Dimensionierung wohl kaum möglich gewesen. Das Beispiel führt uns zu einem weiteren wesentlichen Faktor, der bei der Realisierung derart gewagter und statisch komplizierter Architektur oder in früheren Zeiten auch einfach nur monumentaler Bauten notwendig war: das entsprechende technische Know-how. Auch hier gilt wieder: Die dafür benötigten menschlichen Ressourcen – d. h. die Architekten mit den entsprechenden Kenntnissen – waren nicht überall und jederzeit verfügbar, sondern mussten mitunter aus entfernt gelegenen Innovationszentren importiert werden. Solches lässt sich bereits bei der Paderborner Bartholomäuskapelle feststellen, die den Quellen zufolge um 1017 von „griechischen Werkleuten“ errichtet wurde, was v. a. die schwierige Gewölbekonstruktion dieser im deutschsprachigen Raum frühesten Hallenkirche betroffen haben dürfte (□ vgl. 15). Noch klarer lässt sich der Import technischen Wissens aus weiter entwickelten Gebieten für den Neubau der Kathedrale von Canterbury nachweisen |▶ 19|. Um einen ähnlich modernen, gotischen Bau zu erhalten, wie man sie
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37 □ 12 Salisbury, Kathedrale, Scheitelkapelle, um 1220/25
damals schon in Frankreich bewundern konnte, holte man sich 1175 mit Wilhelm von Sens kurzerhand einen von eben dort stammenden Architekten. Ein weiteres prominentes Beispiel stellt schließlich der Prager Veitsdom dar, für den man erneut nicht auf lokale Kräfte zurückgreifen konnte oder wollte. So wurde zunächst 1344 der zuvor für den päpstlichen Hof im südfranzösischen Avignon tätige Architekt Matthias von Arras (gest. 1352) engagiert, ab ca. 1356 dann der aus dem Westen des Reiches stammende Peter Parler |▶ 41|. Beide Architekten führten bis dahin in der Region, d. h. Böhmen, vollkommen unbekannte Konzepte und Lösungen ein. Die Bedeutung derartiger Experten ging im 15. Jh. dann sogar so weit, dass man mit ihnen in sehr modern anmutender Weise ganze Diskussionsrunden veranstaltete, um so bestimmte Probleme eines Bauprojekts kompetent zu analysieren und zu lösen. Ein prominentes Beispiel dafür ist der Mailänder Dom |▶ 44|. Ging es hier in der Tat um einen ganz unmittelbaren, persönlichen Meinungsaustausch, so war andererseits spätestens im frühen 13. Jh. durch das Aufkommen zweidimensionaler Planungs-
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medien die Anwesenheit des Architekten auf der Baustelle technisch nicht mehr zwingend notwendig. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war auch der Austausch von Formen und Ideen nicht länger von der unmittelbaren, persönlichen Kenntnis eines bestimmten Baus abhängig ( Themenblock · Der Architekt, S. 224; Themenblock · Der Baubetrieb, S. 182;): Allgemeine formale Übereinstimmungen z. B. zwischen dem Maßwerk der Kathedrale von Clermont-Ferrand (ab 1248) und solchem an der Straßburger Westfassade (1277; |▶ 30|) setzen also nicht mehr unbedingt den Besuch bzw. die Vorbildlichkeit dieses Baus in der Auvergne voraus. Schwerer – und in gewisser Weise auch unsinniger – als zuvor wird es nun, bestimmte Innovationsschübe auf einige wenige Bauten zu verengen, für diesbezügliche Entwicklungslinien immer noch ein einzelnes, zentrales Modell zu etablieren: Zu vielfältig und verteilt können jetzt die jeweiligen Anregungen sein. In Zusammenhang mit dem Ordnungsmodell des Anspruchsniveaus war bereits von den unterschiedlichen Kirchentypen die Rede, die im Abendland überhaupt in Erscheinung treten konnten. Da diese Ordnung das gesamte Buch begleiten wird, ist es sinnvoll, sie noch zu verfeinern bzw. zu ergänzen, was unter den einzelnen Titeln, die in dieser Rangfolge auftreten, genau zu verstehen ist. Erneut gibt es hier im Laufe der Zeit gewisse Abweichungen: Sind es in den Jahrhunderten bis etwa 1150 Abteikirchen, die mit ihren gewaltigen Dimensionen und ihrer reichen Ausgestaltung das Bild maßgeblich bestimmten, ja, dominierten – man denke nur an so gewaltige Anlagen wie Cluny |▶ 12| –, so ändert sich das in den darauffolgenden Jahrhunderten deutlich. Die wichtigste Position nehmen nun die Bischofskirchen, der Ort der höchsten kirchlichen Öffentlichkeit eines Bistums, ein: im Deutschen und Italienischen üblicherweise ‚Dom‘ oder duomo genannt, abgeleitet vom lateinischen domus episcopalis (‚das Haus des Bischofs‘), im Französischen und Englischen demgegenüber cathédrale bzw. cathedral, zurückgehend auf den aus dem Griechischen übernommenen Begriff kathédra, der im wörtlichen Sinne den ‚Stuhl des Bischofs‘ bezeichnet. Schon im 6. Jh. taucht der Begriff cathedralis ecclesia (‚Kathedralkirche‘) auf, ebenso das gesamte Mittelalter hindurch jener der ecclesia maior, also der ‚großen Kirche‘. Hier war nicht nur ein Bischof, sondern auch ein Domkapitel zu finden: jene von einer größeren Gruppe von Geistlichen gebildete Korporation, der die Durchführung der gottesdienstlichen Verpflichtungen im Dom oblag, die aber auch den Bischof in seiner geistlichen wie weltlichen Regierung zu unterstützen hatte. Ein weiterer in diesen Zusammenhang mitunter auftretender Titel, ‚Münster‘ (vgl. Straßburg, Basel), abgeleitet vom lateinischen monasterium (‚Kloster‘), gibt einen Hinweis darauf, wie diese Gesamtheit von Bischof und Domkapitel zumindest anfänglich funktionierte: nämlich in der Art einer klösterlichen Gemeinschaft (vgl. die Regel Chrodegangs des 8. Jh.s), die in einem von der Außenwelt abgeschiedenen Bereich, der Klausur, lebte. Üblicherweise standen die Bischofskirchen nicht für sich allein, sondern waren innerhalb des Dombezirks, der Domfreiheit, von einer aus Gemeinde- und Stiftskirchen, Baptisterium und Kapellenbauten gebildeten Kirchenfamilie umgeben (vgl. Paris etc.; Erlande-Brandenburg 1994). Zu diesem Ensemble gehörte auch der Palast des Bischofs, ebenso die Gebäude der Domherren – die Domherrenhöfe oder Kurien –, die mitunter noch heute in ihrer mittelalterlichen Gestalt zu finden sind, wie das u. a. in Bamberg oder Naumburg der Fall ist. Durch spätere Veränderungen haben sich allerdings kaum mehr vollständige Beispiele solcher Bautengruppen erhalten.
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In den älteren, d. h. schon zur Römerzeit besiedelten Gebieten erfolgte die Einteilung der einzelnen geistlichen Territorien nach dem alten römischen Provinzsystem. In ihm waren bestimmte Städte mittlerer Größe einer Provinzhauptstadt untergeordnet: So stand etwa die Hauptstadt von Belgica prima, Trier, in der Römerzeit den Städten Toul, Metz und Verdun vor, in der Konsequenz dann seit dem 6. Jh. der Erzbischof von Trier den entsprechenden, gleichnamigen drei (Suffragan-)Bistümern. Erzbistümer weit größerer Bedeutung stellten demgegenüber Canterbury, Köln und Mainz oder aber Reims und Sens dar, denen die größten Teile Englands bzw. Nordwestdeutschlands und Nordfrankreichs untergeordnet waren. Im Fall von Reims, der alten römischen Hauptstadt von Belgica secunda, sind es allein elf. Hier wie in den erst in nachantiker Zeit gegründeten Erzbistümern – wie z. B. Magdeburg oder Gnesen (Polen) – versuchte man zumeist die herausgehobene Stellung durch entsprechend ambitionierte und große Kirchenbauten zu repräsentieren, die jene der Suffraganbistümer in den Schatten zu stellen vermochten. Hinsichtlich der Frage nach dem Auftraggeber ist in jüngerer Zeit immer wieder darauf hingewiesen worden, dass dafür nicht unbedingt die Einzelperson des (Erz-)Bischofs entscheidend sein musste, wie das bei der Kathedrale von Bourges der Fall war |▶ 20|, sondern in dieser Hinsicht auch ein subtiles Wechselspiel zwischen ihm und seinem Domkapitel denkbar ist oder aber Letzteres überhaupt maßgeblich sein konnte. Nicht außer Acht lassen sollte man dabei allerdings, dass beide Institutionen häufig in gewisser Weise deckungsgleich sein konnten, gingen doch die Bischöfe nicht selten aus den jeweiligen Domkapiteln hervor. Aber nicht nur Bischof und Domkapitel waren für Anspruch und Dimension eines Bauvorhabens essentiell, nicht nur die vorhandenen Materialien und ebenso wenig die menschlichen Ressourcen: Ähnlich wie heute, erwies sich natürlich v. a. der finanzielle Hintergrund des jeweiligen Auftraggebers als entscheidend. Konnte dieser überhaupt auf genügend Geldmittel zurückgreifen, um ein derartiges Vorhaben zu realisieren? Manches hochambitionierte, als Fragment stehengebliebene mittelalterliche Bauprojekt gibt darüber beredt Auskunft (□ vgl. 25). Je nach Ambition und Dimensionierung den Bischofskirchen mitunter gleichgestellt und ebenbürtig, in späteren Zeiten dann aber deutlich den Kathedralen nachgeordnet sind die Abteikirchen, Kirchen von Klöstern, die bis in das 13. Jh. fast exklusiv dem Benediktinerorden bzw. den von diesem abgeleiteten Reformorden zugehörten. Wie ihr Name bereits besagt, gehen sie auf den Stammvater des abendländischen Mönchtums, Benedikt von Nursia (gest. 547) zurück, der als Erster im Abendland klösterliches Leben zu organisieren versuchte und dazu auch eine Regel verfasste. Charakteristikum jedes Klosters ist die bereits in Zusammenhang mit den frühen Domkapiteln benannte vita communis, d. h. das gemeinschaftliche Leben in einer Klausur, in einem von der Außenwelt abgeschlossenen Bereich, der sich üblicherweise um einen Kreuzgang entwickelt. Im Laufe des Mittelalters lassen sich in Zusammenhang mit dem Benediktinerorden mehrere Reformbewegungen nachweisen, wie die Cluniazenser und Zisterzienser |▶ 12, 13|, bevor dann im 13. Jh. mit den Bettelorden |▶ 29| eine gänzlich neue Form des monastischen Lebens auf den Plan trat. Von Bedeutung für den europaweiten Austausch innovativer Bauformen und Lösungen waren hier insbesondere die überregionalen Organisationsstrukturen einiger dieser Bewegungen. So lassen sich z. B. in Deutschland die ersten dezidiert französischen, gotischen Bauformen bezeichnenderweise im Kontext der in Burgund begründeten Zisterzienser finden.
Ordnungsstrukturen und Vorgaben
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Von Bedeutung ist in Zusammenhang mit den Zisterziensern aber auch, dass hinsichtlich der Gestaltung der Kirchenbauten bereits von Bernhard von Clairvaux (um 1090 – 1153), der maßgeblich zur Etablierung des Ordens beitrug, recht klare Vorgaben gemacht wurden |▶ 13|: Kaum ein anderer Orden des Mittelalters hat diesbezüglich eine so große Zahl an normativen Schriften hinterlassen. So wurde der Verzicht auf alles ‚Überflüssige‘ in Architektur und Ausstattung gefordert. Eine vergleichbare Abkehr von jeglichem offensichtlichen Bauluxus stand auch bei den erst im 13. Jh. mit Franz von Assisi aufkommenden Bettelorden der Franziskaner, der Klarissen, der Dominikaner(innen), Augustiner(innen), Karmeliter(innen) usw. im Vordergrund |▶ 29|. In der Tat findet man hier keine monumentalen, turmreichen Westfassaden, ebenso wie zumindest bei den Bauten nördlich der Alpen oftmals auf ein Querhaus verzichtet wurde. Überhaupt gibt es einige bemerkenswerte konzeptionelle Übereinstimmungen zwischen Zisterzienser- und Bettelordenskirchen, wenigstens bei den frühen italienischen (Schenkluhn 2000, 45 ff.), bzw. zwischen ihren diesbezüglichen Regeln: Die sog. Konstitutionen der Franziskaner von 1239 / 60 gestatteten z. B. Gewölbe nur im Chorbereich, ebenso wie – ähnlich den Vorgaben bei den Zisterziensern – in gleicher Weise auf eigenständige Glockentürme zu verzichten war. Festgelegt wurden auch die Dimensionen der Kirche. Angesichts der Bescheidenheit der Maße und dem dazu kontrastierenden Erfolg des Ordens und der deswegen eigentlich erforderlichen Größe der Kirchen waren diese aber von Anfang an kaum einzuhalten. In der Tat setzte man sich allein schon aus praktischen Gründen fast durchgängig über derartige Regeln, wie etwa das Wölbeverbot, hinweg. Man konnte sich dabei auf prominente Beispiele berufen, stellte doch die in mehreren Abschnitten im 13. Jh. errichtete Hauptkirche des Franziskanerordens, S. Francesco in Assisi, einen Regelverstoß par excellence dar. Ist sie als Grabeskirche des maßgeblichen Ordensheiligen und -gründers sicherlich eine Ausnahme – auch angesichts des Umstands, dass der Bau maßgeblich vom Papst gefördert wurde –, so waren es in den meisten Fällen erneut die jeweiligen Auftraggeber, die verantwortlich zeichneten für die Überschreitungen und Durchbrechungen von Regelungen, welchen Ordens auch immer: etwa die Grafen von Berg, die Mitte des 13. Jh.s ihre Grablege, die Zisterzienserkirche von Altenberg, (wenn auch zisterziensisch vereinfacht) als eine verkleinerte Version des Kölner Doms neu errichten ließen. Von all diesen Klosterkirchen, die jeweils Mönchsorden zugehören, sind die Stiftskirchen abzusetzen. Hinter ihnen stehen Stiftskapitel (auch „Kollegiatsstifte“ genannt; Binding / Untermann 1985, S. 13), d. h. Korporationen von Weltgeistlichen, die zwar erneut einer bestimmten Kirche zugeordnet sind, im Gegensatz zu den Mönchsgemeinschaften aber keine vita communis in einem abgeschlossenen Klausurbereich pflegen. Anders als bei den gerade genannten Orden und ihren Kirchen gibt es für diese sehr heterogene Gruppe von Sakralbauten keine bestimmten Vorgaben. Vielmehr kommen hier zumeist eher lokale Besonderheiten und Bautraditionen zum Tragen. Abgeschlossen wird die Hier archie der Sakralbauten schließlich von den Pfarrkirchen, die sich nun ausschließlich der allgemeinen Seelsorge der Stadt- und Landbevölkerung annahmen. Auch sie können durchaus monumentale Dimensionen aufweisen, wie das nicht nur die erwähnten Beispiele in Nürnberg, sondern auch die betreffenden Bauten mit geradezu kathedralartigen Ausmaßen in den Niederlanden und Belgien zeigen.
I. Einleitung
II. Grundzüge der mittelalterlichen Architekturgeschichte
Karolingische Reichsbildungen und ottonische Reichskirchenpolitik
D
ie 330 unter Kaiser Konstantin erfolgte Verlegung der Hauptstadt des Römischen Reiches nach Konstantinopel, die definitive Zweiteilung des Imperiums 395 in ein west- und ein oströmisches Reich und die anschließende allmähliche Bedeutungsverlagerung nach Osten hin hatte nicht nur für das ehemalige Machtzentrum, die Stadt Rom, nachhaltige Konsequenzen. Die gerade durch die mehrfache Eroberung und Zerstörung während der Völkerwanderung erfolgte Verringerung ihrer Bevölkerung im Mittelalter auf ca. 35 000 Einwohner (bei ehemals mehreren 100 000) spricht hier eine deutliche Sprache. Eine derartige Ansiedlung konnte natürlich kaum mehr die gleichen Bedürfnisse haben und Aufgaben stellen wie noch die Hauptstadt eines Weltreiches. Auch bei anderen römischen Stadtgründungen, gerade außerhalb Italiens, war das der Fall. Zwar liegt hier noch vieles im Dunklen, ebenso wie es lokale Unterschiede zu berücksichtigen gibt, doch ist ein genereller Bedeutungsverlust der Städte kaum zu leugnen. Die nun jeweils vor Ort existierenden Gesellschaften waren deutlich weniger städtisch organisiert und strukturiert als noch zur Römerzeit. Allgemein charakteristisch ist im Weiteren die auch für Rom zu konstatierende Aufgabe der Besiedlung des gesamten ehemaligen Stadtraums, der nun stattdessen von mehreren separaten Kleinsiedlungen eingenommen wurde. Dazwischenliegende Viertel konnten dagegen verfallen und wüst werden. Gut ablesbar ist das an der heutigen Struktur vieler Römergründungen, die oft nur noch rudimentär das gleichmäßige Straßengitter ihrer Entstehungszeit erkennen lassen. Zugleich kam es aber auch zur Ausbildung gänzlich neuer Siedlungskerne. Davon betroffen waren typischerweise vor den Toren gelegene Gräberfelder, auf denen zunächst über Märtyrergräbern Kirchen entstanden (□ vgl. 17), die den Ausgangspunkt für die weitere Besiedlung bildeten. In den ursprünglichen römischen Stadtgebieten konnten dagegen in vielen Fällen – insofern sie nicht einfach als Steinbruch missbraucht wurden (z. B. das Amphitheater in Lyon für den dortigen Kathedralneubau, ab 1192) – antike (Groß-)Bauten durch Umwidmung in bemerkenswerter Weise neu genutzt werden. Die römischen Toranlagen, die in Regensburg als Bischofspalast bzw. mit der Trierer Porta Nigra als Kirchenbau das Mittelalter überdau-
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erten, sind dafür gute Belege, ebenso die dortigen römischen Speicherhallen, die man für die Benediktinerinnenabtei St. Irminen (7. Jh.) umnutzte. Zumindest außerhalb der östlichen, byzantinischen Einflusssphäre lebte man damals also eher ‚von der Substanz‘. All das steht in eindrucksvollem Kontrast zur zeitgleichen islamischen Baukunst, die ihre Wurzeln partiell ja ebenfalls in der römischen Architektur hatte. Dazu genügt ein Blick auf solch komplexe und riesige Anlagen wie den Felsendom in Jerusalem (691 – 2), die Al-Walid-Moschee in Damaskus (706 – 15), die Paläste in Mschatta und Qusair al-Amra (8. Jh.) oder die Mezquita in Córdoba (785 – 990). Aufbauend auf Errungenschaften seiner unmittelbaren Vorgänger gelang es erst Karl dem Großen im ausgehenden 8. Jh., erneut ein gewaltiges, zentral kontrolliertes Herrschaftsgebiet zu etablieren. Nicht nur im sakralen, sondern auch im profanen Kontext entstanden damals wieder in größerem Umfang Monumentalbauten. Gerade Karls Pfalzen stellten dabei ebenso umfassende wie vielgliedrige Gebilde dar, für die man sich an entsprechenden Anlagen in Rom, Ravenna oder Konstantinopel orientierte. Neben den Mauerresten in Ingelheim (780 – 1) kündet heute allein noch die imposante Aachener Pfalzkapelle (790 – 1;|▶ 1|) von Karls damaligem politischem Anspruch, v. a. jenem, legitimer Nachfolger der römischen Kaiser zu sein. Nördlich der genannten Kapelle lag eine riesige Palastaula, die von einem ca. 120 m langen, auf der Hälfte durch ein Quergebäude unterbrochenen Gangbau erschlossen wurde. Etwas weiter östlich ist parallel dazu ein zweiter, in Holz ausgeführter Verbindungsgang zu vermuten (□ 13). Bei der sog. Aula regia handelte es sich um einen riesigen einschiffigen Bau auf rechteckigem Grundriss, der über drei Apsiden – zwei kleineren an den Längsseiten und einer großen an der westlichen Schmalseite – verfügte. In Analogie zu vergleichbaren antiken Anlagen (□ vgl. 46) dürfte letztere dem Herrscher vorbehalten gewesen sein. Von der Existenz zahlreicher weiterer (hölzerner) Gebäude, v. a. der eigentlichen Wohnbauten, ist auszugehen. Doch nicht nur in der Architektur, sondern auch hinsichtlich der restlichen Detailgestaltung im Umfeld der Pfalzkapelle kam der von Karl intendierte Rom-Bezug zum Ausdruck, sei es durch die umfangreiche Verwendung antiker Kunsttechniken (Bronzeguss, Mosaik) oder das im Atrium aufgestellte Reitermonument des Ostgotenkönigs Theoderich (gest. 526). Gemeinsam mit anderen Bronzefiguren und zahlreichen Spolien hatte es Karl aus Ravenna kommen lassen. Gerade mit den antiken Bauteilen und dem dahinter stehenden Anspruch begründete Karl nördlich der Alpen eine gewisse Tradition, wie das u. a. der Magdeburger Dom (□ vgl. 32) zeigt. In der heutigen Form nach einem Brand ab 1209 entstanden, finden sich in seinem Chor zahlreiche, nun ‚doppelte‘ Spolien, die geradezu zeichenhaft präsentiert werden: antike Architekturglieder, die Kaiser Otto I. für die erste, ab 955 in seiner Lieblingsresidenz errichtete Kathedrale des neuen, weit nach Osten ausgreifenden Erzbistums aus Italien bezogen hatte. Derartiges erwog auch noch Abt Suger im frühen 12. Jh. für den Neubau von St-Denis |▶ 17|. Gerade dieses Beispiel zeigt, dass es für den Import von römischen Marmorsäulen noch andere Gründe gegeben zu haben scheint ( Themenblock · Steinmaterial, S. 238) bzw. mag ein solches Vorgehen damals bereits schlicht zu einem Topos geronnen sein. Zwar entstanden in der Karolingerzeit schon die ersten neuen Bischofskirchen beachtlicher Größe. Angesichts der lückenhaften Überlieferung fällt es heute aber schwer, ein umfassendes Bild karolingischer Architektur zu entwerfen. Auffallend ist die Lösungsviel-
II. Grundzüge der mittelalterlichen Architekturgeschichte
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□ 13 Aachen, Pfalzanlage, Rekonstruktion der gesamten Anlage im Umfeld der Pfalzkapelle, spätes 8. Jh.
falt, die bereits weit über die Typologie und das Formengut der altchristlichen Basilika hinausgeht. Gerade die in verschiedenster Form realisierten Turmbauten erhalten einen ganz neuen Stellenwert, ebenso das Vierungsquadrat als Modul für die gesamte restliche Kirchenanlage. Trotzdem bleibt ‚Rom‘ in vielerlei Hinsicht weiterhin das alles überragende Leitbild: Wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass in Europa auch in anderer Weise kulturelle Errungenschaften der Römerzeit weiterhin verbindlich blieben, bis hin zur damaligen lingua franca des Kontinents, dem Lateinischen. Viele der frühen Anlagen verfügten über zwei Chöre (Fulda, Köln, Paderborn). Dahinter stand das Interesse, neben der üblichen Ostung eines Kirchenbaus zusätzlich nach dem römisch-päpstlichen Vorbild die Messe an einem westlichen Hochaltar feiern zu können, wobei der Geistliche – einmal der Gemeinde zu- und einmal von ihr abgewandt – jeweils nach Osten zelebrierte. Erst nach Karls Tod fiel die Entscheidung für den alleinigen Ostchor. Dass es hier und schon zuvor mehr um liturgische denn um architektonische Probleme ging, wird auch am Wirken Chrodegangs von Metz (742 – 66) deutlich, den der Papst als Nachfolger des hl. Bonifatius zum Erzbischof der austrasischen Gebiete bestimmt hatte. Maßgeblich war er für die Übertragung römischer liturgischer Gebräuche in das Frankenreich verantwortlich, z. B. für die Einführung des Stationsgottesdiensts nördlich der Alpen, also jene Liturgiefeier, bei der die einzelnen Kirchen einer Stadt einer festen Ordnung folgend der Reihe nach besucht und so zu einer Einheit zusammengefasst werden. Überhaupt verstand man damals die einzelnen Sakralbauten und die damit verbundenen religiösen Institutionen noch weit stärker als Teil eines größeren Ganzen, einer Kirchenfamilie. Ein wichtiges Beispiel für dieses Phänomen ist die Abtei Centula / St-Riquier (Ende 8. Jh.), für die Karl der Große seinen Hofkaplan Angilbert mit einem Neubau beauftragte. Heute zerstört, bestand er
Karolingische Reichsbildungen und ottonische Reichskirchenpolitik
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einst aus drei individuellen Kirchen, die wiederum durch das Feiern der Messe als Stationsgottesdienst zu einer Einheit verbunden wurden. Karls Riesenreich erfuhr bald nach seinem Tod im Laufe des 9. und 10. Jh.s eine Aufteilung in letztlich zwei Einzelterritorien: im Westen das Königreich Frankreich, im Osten das Heilige Römische Reich, das sich damals noch von der Nordsee bis weit nach Süditalien erstreckte. Mit dieser Teilung werden in der Architektur fortan auch in stärkerem Maße lokale Eigenheiten greifbar. Verantwortlich sind dafür wiederum die unterschiedlichen Herrschaftsstrukturen und Machtverhältnisse. Von besonderer Bedeutung für das Reich ist das sog. Reichskirchensystem, das eng mit den Herrschergeschlechtern der Ottonen und der Salier (10.–12. Jh.) verbunden war. Mit diesen etablierte sich ein weiteres Mal eine effektive Zentralgewalt, ohne dass es jedoch eine früheren Zeiten vergleichbare Bevorzugung bestimmter Orte gegeben hätte. Worauf der Name schon hinweist, erfuhr das Herrschaftssystem der Könige bzw. Kaiser damals besondere Unterstützung und Absicherung durch die Bischöfe sowie durch die Äbte der seit Karolingerzeiten den Königen zugeordneten Reichsklöster. Deutlich spiegelt sich die daraus resultierende privilegierte Stellung der Geistlichkeit in einer regen Stiftungs- und Bautätigkeit |▶ 4|. Angesichts der weiterhin geringen Anzahl authentisch überlieferter Bauten fällt es schwer, ein allgemeingültiges Urteil über die Eigenheiten ottonischer Architektur zu fällen. Trotz seiner gewissen Sonderstellung zeigt das Beispiel der vom Hildesheimer Bischof Bernward gestifteten Abteikirche St. Michael, dass schon damals der vielgliedrige, d.h. aus einer Vielzahl von einzelnen Baukörpern komponierte Gruppenbau, wie er für die nachfolgende Romanik charakteristisch ist, voll entwickelt war. In allen Fällen stark von der Massivität der Mauern geprägt, weisen die Kirchen durch Stützenwechsel, Lisenen, Blendbogen etc. insgesamt ein komplexeres und stärker rhythmisiertes Erscheinungsbild auf als das bei den frühchristlichen Basiliken der Fall war. Relativ häufig sind auch die als ‚Westwerke‘ bezeichneten turmartigen Abschlüsse im Westen (u. a. Werden; Köln, St. Pantaleon; |▶ 2|), die in einigen Fällen wie ein zusätzlicher Chor genutzt wurden. Letztlich ist es kaum möglich, einen exakten Trennstrich zwischen dieser Epoche und der früheren karolingischen bzw. der späteren romanischen zu ziehen. Vielmehr weisen alle drei zahlreiche Eigenheiten auf, die sie gemeinsam von der nachfolgenden gotischen Baukunst absetzen, die demgegenüber eine sehr viel stärkere Zäsur in der mittelalterlichen Architekturgeschichte darstellt.
Alternative Leitbilder Die Rolle der oströmisch-byzantinischen Architektur Das zweite und besterhaltene Beispiel ottonischer Architektur, St. Cyriakus in Gernrode (ab 959), zeigt zunächst, welche Langlebigkeit der Zweichörigkeit zumindest im Reich beschieden war (□ 14). Im Unterschied zu anderen Bauten der Epoche weist Gernrode zwischen Obergaden und Arkaden erstmals eine Empore auf. Das dürfte mit der Funktion der Anlage als Damenstiftskirche zu tun haben |▶ 35|, doch erhält sie gerade durch diesen
II. Grundzüge der mittelalterlichen Architekturgeschichte
45 □ 14 Gernrode, amenstiftskirche D St. Cyriakus, ab 959
Zusatz im Inneren ein Erscheinungsbild, das älteren byzantinischen Sakralbauten – z. B. diversen im 5. Jh. in Thessaloniki entstandenen – sehr ähnlich ist. Auch die Würfelkapitelle von St. Michael |▶ 4| mit den markanten Kämpferzonen, die ebenfalls von derartigen Bauten inspiriert zu sein scheinen, machen deutlich, dass man diese Architektur im Westen durchaus kannte. Noch eindeutiger fallen die Bezüge bei der im Paderborner Dombezirk gelegenen Bartholomäuskapelle aus, die um 1017 per Graecos operarios, d.h. wohl von byzantinischen Werkleuten aus Italien, ausgeführt wurde: eine grazile dreischiffige Hallenkirche mit ausnehmend subtilem Wandrelief (□ 15). Dass eine derartige Verbindung nach Osten das gesamte Hochmittelalter hindurch nicht zu unterschätzen ist, belegt die Heirat Kaiser Ottos II. 972 mit der byzantinischen Prinzessin Theophanu. Diese Beziehung hatte
Alternative Leitbilder
46 □ 15 Paderborn, Bartholomäuskapelle im Dom bezirk, Innenansicht, um 1017
einen deutlich intensivierten Kulturtransfer zur Folge, dessen Langlebigkeit sich im Fortleben byzantinischer Bildtypen und Artefakte in der gesamten westlichen Kunst des Mittelalters manifestiert. Dazu gehört auch das sog. Kuppelreliquiar aus dem Reliquienschatz Herzog Heinrichs des Löwen (Köln, um 1175 / 80), das deutlich den Typus byzantinischer Kreuzkuppelkirchen reflektiert (□ 16). Es liefert damit ein gutes frühes Beispiel für den Einfluss von Monumental- auf Mikroarchitektur – ein Phänomen, das dann v. a. bei der Schreinarchitektur (z. B. Nivelles, nach 1272) aber auch der gesamten Goldschmiedekunst (Abendmahlskelche, Monstranzen, Pokale) des späteren Mittelalter zu beobachten ist. Ein Blick nach Osten hätte sich für uns bereits früher, nämlich bei der Aachener Pfalzkapelle, angeboten, scheint doch Byzanz in den Architekturprojekten Karls des Großen ebenfalls eine nicht unwesentliche Rolle gespielt zu haben. Von Bedeutung dürften dabei weniger entsprechende Bauten in der weit entfernt am Bosporus gelegenen Hauptstadt dieses Reiches gewesen sein, die Karl niemals gesehen hat. Die Rezeption erfolgte wohl eher über Ableger byzantinischer Architektur im oberitalienischen Ravenna. Nicht nur, dass Karl die Stadt 787 besuchte, von hier stammen auch die Spolien für Aachen, ebenso wie die Pfalzkapelle eine enge Verwandtschaft mit dem dortigen, 547 geweihten Zentralbau von S. Vitale aufweist (□ vgl. 18; |▶ 1|). Ravenna hatte damals bereits seit längerem eine Zentrumsfunktion inne: Seit dem 5. Jh. weströmische Hauptresidenz, erfuhr es im frühen
II. Grundzüge der mittelalterlichen Architekturgeschichte
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6. Jh. unter dem Ostgotenkönig Theoderich eine weitere Blüte, bevor es schließlich 540 nach den (Rück-)Eroberungsfeldzügen Kaiser Justinians I. (527 – 65) zur Hauptstadt eines byzantinischen Teilreiches aufstieg. Gerade diese Vermischung von Herrschaften und Regenten lässt Zweifel aufkommen, ob sich Karl der Große wirklich immer bewusst war, auf wen die diversen Anlagen im Einzelnen zurückgingen. Zu einer solchen möglicherweise ungenauen Wahrnehmung mag auch beigetragen haben, dass sich viele der betreffenden Bauten fast zeitlos dem Kanon frühchristlicher oder byzantinischer Architektur zuordnen lassen. So folgt z. B. die unter Theoderich entstandene dreischiffige, querhauslose Basilika S. Apollinare in Classe (532 – 49; □ 17) mit ihrem recht simplen Aufriss (Arkaden; streifenartige Bildzone; Obergadenfenster) immer noch dem fast 200 Jahre älteren Typus von
□ 16 Berlin, Kuppelreliquiar aus dem Welfenschatz, um 1175 / 80, Kunstgewerbemuseum, Staatliche Museen zu Berlin
Alternative Leitbilder
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□ 17 Ravenna, San Apollinare in Classe, Innenansicht, 532 – 49
□ 18 Ravenna, San Vitale, Schnitt und Grundriss, Weihe 547
II. Grundzüge der mittelalterlichen Architekturgeschichte
49 □ 19 Hagia Sophia, Innenraum nach Osten, 532 – 37
S. Maria Maggiore in Rom (352 – 66) oder einigen früheren Anlagen in Ravenna selbst. Wie dort ist das eher schlichte Innere auch in S. Apollinare durch Steinverkleidungen und prachtvolle farbige Mosaiken in der halbrunden Apsis bereichert. Ein vergleichender Blick auf die in der Anlage sehr ähnliche Palastaula Konstantins des Großen in Trier (□ vgl. 46) zeigt zudem eindrucksvoll, wie eng sich anfänglich die Verbindung zwischen Sakralarchitektur und spätantiker Profanbaukunst darstellte. Stärker in eine neue Richtung wies demgegenüber der Zentralbau von S. Vitale (□ 18). Schon seine reliefverzierten Korbkapitelle mit darauf aufsitzenden Kämpferelementen belegen die enge Verbundenheit mit aktueller byzantinischer Architektur. In der Tat ist der Bau als Variation entsprechender größerer Anlagen zu verstehen, von denen die bedeutendste die ebenfalls unter Justinian errichtete Hagia Sophia (532 – 37; □ 19) ist: ein in Konstantinopel im weitläufigen Residenzbezirk des Kaisers errichteter Zentralbau,
Alternative Leitbilder
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der wohl in Konkurrenz zu etwas älteren römischen Großbauten wie etwa dem Pantheon (□ vgl. 10) zu verstehen ist. Auch noch weit über das Mittelalter hinaus war er einer der größten Sakralräume der Christenheit: Mit seinem gewaltigen lichtdurchfluteten Innenraum und einer Kuppel von atemberaubender Dimensionierung (Durchmesser: 33 m; Höhe: 55,6 m) belegt er den hohen Standard damaliger byzantinischer Wölbtechnik. So wichtig diese und entsprechende Anlagen für die Architektur im Westen waren |▶ 8|, ihre eigentliche Bedeutung besteht darin, mit dem kuppelüberwölbten Zentralbau die einzige Alternative zu dem im Westen dominierenden Typus der Basilika geliefert zu haben, die zum Leitbild der Sakralarchitektur der Ostkirche, von Griechenland bis weit in den Osten, wurde.
Die Etablierung wegweisender Standards Die Bedeutung der Klöster Seit dem 19. Jh. hat man sich angewöhnt, zwischen ca. 950 und ca. 1150 / 1200 entstandene Architektur als ‚romanisch‘ zu bezeichnen. Dies ist ein recht unpräziser Begriff, denn zum einen könnte die dazu herangezogene Begründung – die Nähe zu römischer Architektur – ebenso gut auf die unmittelbar vorhergehenden Epochen angewandt werden. Das gilt im Übrigen auch für viele der für romanische Architektur angeführten Charakteristika, wie die Verwendung von Rundbogen, von Wandvorlagen oder Pfeilern als Ersatz von Säulen und schließlich das abgestimmte Zusammenwirken von Mauer, Bogen und Pfeiler. Zum anderen differieren Anfang und Ende dieser Stilepoche ebenso wie die für sie gewählte Terminologie oder weiteren Unterteilungen regional sehr stark (England: Norman style; Frankreich: Differenzierung in Früh- und Hochromanik). Gleichwohl gibt es Gründe, die eine Unterscheidung rechtfertigen: Erstmals entstehen in dieser Phase über ganz Europa verteilt Bauten, deren Standards auch jenen späterer Jahrhunderte standhalten konnten. In der Konsequenz heißt das, dass die Architektur dieser Epoche nun nicht mehr primär aus archäologischen Befunden rekonstruierbar, sondern in großem Umfang und an prominenter Stelle überliefert ist. Auch im Bereich des Profanbaus lassen sich z. B. erste gut erhaltene Vertreter monumentaler Werksteinarchitektur wie die eines Donjons finden: Jene gewaltigen festungsartigen Wohntürme stellten bis in das Spätmittelalter einen zentralen Bestandteil französischer Burganlagen dar |▶ 24, 37|. Der riesige, 37 m hohe, fast fensterlose Kubus, der für den Herzog von Anjou 1012 – 35 in Loches aus mächtigen, von halbrunden Vorlagen strukturierten Werksteinmauern errichtet wurde, ist ein gutes Beispiel dafür (□ 20). Er zeigt auch, wie solche Anlagen in der Folge zu immer komplexeren Gebilden heranwuchsen: Anfänglich Teil einer ‚Motte‘, d.h. einer Turmhügelburg, wurde der Donjon in Loches dank später hinzugefügter Umfassungsmauern letztlich Bestandteil einer ganzen Burganlage. So aufwändig dieser und ähnliche Wehrbauten in der Errichtung auch waren und so sehr sie als Ehrfurcht gebietende Herrschaftszeichen fungierten, so boten sie doch kaum Wohnkomfort. Die Innenaufteilung mittels hölzerner Balkendecken ließ zwar bereits eine differenziertere Nutzung zu. Eine wirklich repräsentative, höfische Lebensweise war damit allerdings noch nicht möglich.
II. Grundzüge der mittelalterlichen Architekturgeschichte
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□ 20 Loches, Donjon, 1012 – 35; weiterer Ausbau zu einer Burganlage bis ins 13. Jh.
Wie schlicht anfänglich auch viele der Kirchen ausfielen, zeigt das Beispiel der Abteikirche in Limburg an der Haardt (□ 21), die gleichzeitig mit dem Speyerer Dom |▶ 6|– diesem für das Reich maßstabsetzenden Projekt – ab 1025 im Auftrag Kaiser Konrads II. errichtet wurde. Es handelt sich um eine Säulenbasilika mit Querhaus (mit Apsiden), ausgeschiedener Vierung und geradem Chorabschluss. Speyer vergleichbar sind die hohen Blendbogen und die Krypta, die in solcher Form immer mehr zum Standard aufwändigerer Anlagen wurde. Die Grundanlage von Limburg folgt weiterhin der bereits für karolingische und ottonische Bauten benannten Eigenheit, den Grundriss der Kirche aus dem Maß des Vierungsquadrats zu entwickeln. Verfeinerung fand diese Praxis als sog. gebundenes System, bei dem jeweils vier Joche des Seitenschiffs einem des Mittelschiffs eingeschrieben werden können. Diese Entwicklung hat weniger gestalterische Gründe als mit der Anlage der Gewölbe zu tun, da so im Idealfall deren Bogen durchweg halbkreisförmig zu führen waren. Bei diesen handelt es sich im Übrigen um eines der Charakteristika der Epoche, geriet damals doch die Holzdecken oder offene Dachstühle ersetzende steinerne Einwölbung ganzer Kirchen (und nicht mehr nur bestimmter auszuzeichnender Partien)
Die Etablierung wegweisender Standards
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□ 21 Limburg an der Haardt, Abteikirche, Gesamtansicht, ab 1025
immer mehr zum Standard, abgesehen von gewissen Ausnahmen v. a. in Italien. Geradezu paradigmatisch spiegeln die unterschiedlichen Gewölbeformen die allgemein große, oft regional bestimmte Lösungsvielfalt: So lassen sich Staffelhallen mit durchlaufenden Tonnengewölben (St-Savin sur Gartempe, um 1080) oder Spitztonnen (Burgund; □ vgl. 70) ebenso finden wie Basiliken mit bereits auf gotische Architektur vorausweisenden Kreuzrippengewölben (Normandie, England; □ vgl. 78) oder mit den eher kleinere Raumeinheiten betonenden Kreuzgratgewölben. Die Kirche der Benediktinerabtei in Vézelay (ab 1120; □ 22), einer der Ausgangspunkte der Wallfahrt nach Santiago de Compostela, ist dafür ein gutes Beispiel. Zugleich zeigt sie, wie differenziert die Innenraumgliederung bereits vor dem gotischen Neubau von St-Denis |▶ 17| war. Mit einem konsequent aufgebauten System halbrunder Vorlagen, die an die kreuzförmigen Pfeiler appliziert die Arkaden und die Gurte der Gewölbe aller drei Schiffe ‚tragen‘ bzw. auf diese bezogen sind, erinnert vieles bereits an die Gliederbauweise späterer gotischer Architektur. Gemeinsam mit den rechteckigen Rücklagen und den Gurtbogen ergibt sich zugleich eine markante Jochteilung, durch die der Raum Rhythmisierung erfährt. Grundsätzlich lässt sich diese Lösung zwar bereits einige Jahre zuvor finden (□ vgl. 67). Jedoch ermöglicht die Entscheidung, in
II. Grundzüge der mittelalterlichen Architekturgeschichte
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□ 22 Vézelay, Abteikirche Ste-Marie-Madeleine, Innenansicht, ab 1120; Chorbau 1185 – 1215
ézelay Kreuzgrat- statt einem Tonnengewölbe und Obergadenfenster statt einer Empore V zu verwenden, eine deutlich verbesserte Beleuchtung. Neben solchen Lösungen gibt es in Europa zeitgleich auch zweifelsfrei an byzantinischer Architektur orientierte Kuppelbauten wie etwa St-Front in Périgueux. In Italien konnten all die verschiedenen Lösungen sogar auf engstem Raum, ja, teilweise in einem Bau parallel auftreten: Hier entstehen im 11. Jh. Kuppelbauten wie S. Marco in Venedig gemeinsam mit an klassischen Basilika-Lösungen
Die Etablierung wegweisender Standards
54 □ 23 Jumièges, Abteikirche, Ansicht von Osten, 1040 – 67
orientierten Anlagen wie dem Pisaner Dom, der im – um ein Emporengeschoss erweiterten – Langhaus eine Holzdecke aufweist, in den Abseiten aber bereits Kreuzgratgewölbe und in der Vierung schließlich eine aufwändige Kuppel |▶ 8, 9|. So individuell die Lösungen im Detail auch sind, so kann anderes, wie etwa der Aufriss, selbst bei weit entfernten Bauten sehr ähnlich ausfallen. Das zeigt sich etwa bei der Abteikirche in Jumièges (Weihe 1067; □ 23), die – verbunden mit frühen vertikalen Gliederungselementen – in ihrem Langhaus mit einem Stützenwechsel von Pfeilern und Säulen erstmals eine Alternative zu den frühmittelalterlichen Säulenarkaden ausbildet: Eigenheiten, die gemeinsam mit einer vergleichbaren Emporengliederung wenig später am Dom
II. Grundzüge der mittelalterlichen Architekturgeschichte
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von Modena (ab 1099; □ vgl. 59) auftreten. Kaum anders liegt der Fall bei Santiago de Compostela und einigen in ähnlicher Weise angelegten spanischen und französischen Pilgerkirchen der Zeit |▶ 11|: Man könnte hier fast von der Variation eines Themas sprechen, wobei in die Betrachtung sogar noch zahlreiche Bauten aus dem anglo-normannischen Bereich einzubeziehen wären |▶ 10, 16|. Neben solchen eher formalen Aspekten romanischer Architektur gilt es schließlich, einen Blick auf die dahinterstehenden politischen und gesellschaftlichen Strukturen und insbesondere auf die Rolle der Klöster zu werfen – auch deswegen, weil die Romanik früher explizit als Baukunst der Klöster dargestellt wurde. Das ist zweifellos dem überlieferten Bestand geschuldet, für den sich tatsächlich in ‚vorgotischen‘ Zeiten weit mehr Klosterkirchen als andere Sakralbauten erhalten haben – in Frankreich z. B. schlicht deswegen, weil fast alle Kathedralen durch gotische Neubauten ersetzt wurden. Gleichwohl ist unbestritten, dass einige der maßstabsetzenden Anlagen wirklich Abteikirchen sind, wie überhaupt den verschiedenen Reformbewegungen des Benediktinerordens hinsichtlich Gestalt und Ausbreitung romanischer Architektur große Bedeutung zukam. Zu nennen sind hier v. a. die an anderer Stelle genauer behandelten Reformen von Cluny |▶ 12| und Cîteaux |▶ 13| ebenso die von Cluny abhängige Hirsauer Reform. In architektonischer Hinsicht bestand ihre Bedeutung jeweils darin, nicht mehr regional begrenzte Phänomene zu sein, sondern – wie das schon die Verbindung Cluny II-Hirsau (954 – 94 u. 1080 – 91) zeigt – eine oft (europa-)weite Ausstrahlung zu besitzen. Mit diesen beiden ist u. a. der Typus des mehrteiligen Staffelchors verbunden, der eine differenzierte Innenaufteilung mit zahlreichen Altarstellen ermöglichte. Diese Eigenheit wird mit anderen Bauten des genannten Kontexts geteilt, z. B. mit St. Blasien (ab 1095) oder Paulinzella (ab 1106). In noch anderer Hinsicht wirkmächtig war demgegenüber Cluny III (ab 1088), dessen Architektur sogar im Detail Leitbild für Bauten der Region wurde. Als wichtigste Beispiele genannt seien die Prioratskirche von Paray-le-Monial (ab 1090) und die Kathedrale von Autun (ab 1120; □ 24), an denen sich die für Cluny III so typischen, stark antikisie□ 24 Autun, Kathedrale St-Lazare, Innenansicht, 1120 – 46
Die Etablierung wegweisender Standards
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renden Formen finden lassen – v. a. die gestuften Pfeiler mit den kannelierten, pilasterartigen Vorlagen. Ähnlich ist auch der dreiteilige Aufriss mit spitzbogigen Arkaden und einer gleich geformten Tonne, die den gesamten Kirchenraum überwölbt, ebenso schließlich die Nutzung der Kapitellzone für die Wiedergabe reicher Bildprogramme. Dass es sich hier um ein allgemeines Phänomen der Zeit handelt, zeigt ein Blick auf die Prioratskirche von Vézelay (□ vgl. 22). Als eine gegenüber Cluny noch strahlkräftigere Reformbewegung erwies sich der etwas später, 1099, in Cîteaux als ‚Reform der Reform‘ gegründete Zisterzienserorden |▶ 13|, dessen straffe zentralisierte Organisation zu einer bemerkenswerten Ordenseinheit und zu geradezu normativen Grund- und Aufrisslösungen führte. Diese sind nun in der Tat oft verblüffend ähnlich in ganz Europa zu finden.
Aufstieg der französischen Monarchie und die Entstehung der Gotik In mancherlei Hinsicht setzt sich ‚die Gotik‘, diese etwa vom frühen 12. bis in das frühe 16. Jh. reichende Phase der Architekturgeschichte, nicht nur von den bisher besprochenen ab, sondern auch von den nachfolgenden der Renaissance oder des Barock: Sie blieb die einzige Epoche der Nachantike, in der es zur Ausbildung einer eigenständigen Architektursprache kam, die nicht mehr direkt und eng mit jener der Antike verbunden war. Gotische Architektur darf in der Tat als eigentlicher Vorläufer moderner Ingenieurbaukunst bezeichnet werden, die durch eine vergleichbare Gliederbauweise charakterisiert ist, wenn auch noch maßgeblich in Stein ausgeführt. Dabei wurde in Frankreich im Laufe von kaum mehr als 100 Jahren Entwicklung das statische Gerüst eines Gebäudes soweit reduziert, dass das nichttragende Material Glas immer mehr die Wände füllen konnte |▶ 25|. Ein wesentliches, dazu notwendiges Element war das Strebebogensystem, das über mehrere Zwischenschritte Ende des 12. Jh.s in optimierter Form verfügbar war und gemeinsam mit dem Spitzbogen zum Erkennungszeichen gotischer Architektur schlechthin wurde: Trugen bis dahin meterdicke Mauern die Last des Daches oder des Gewölbes, so konnte man nun die architektonische Gliederung auf einige wenige statisch belastete Elemente reduzieren. Die so ermöglichte Lichtfülle bei gleichzeitiger erheblicher Materialund damit verbunden Kosten- und Zeitersparnis, sind wichtige Gründe für den europaweiten Erfolg der neuen Architektursprache. Die Kathedrale von Beauvais (ab 1240er Jahre; □ 25) mit ihrem noch erhaltenen geradezu winzigen Vorgängerbau (10. Jh.) ist dafür ein eindrucksvoller Beleg – ebenso die nach 1140 innerhalb von kaum mehr als 100 Jahren erreichte Verdoppelung der Gewölbehöhe gotischer Kathedralen (Noyon: 24 m; Beauvais: 48 m) oder schließlich die beachtliche Zahl von gut 150 sakralen Großbauten, die man im gleichen Zeitraum im französischen Kernland errichtete. Kurzum: Mit dieser neuen Architektur wurden Ressourcen effizienter eingesetzt als jemals zuvor. Es fällt auf, dass dies einhergeht mit anderen Phänomenen der Effizienzsteigerung, wie der um 1100 aufkommenden Dreifelderwirtschaft oder der Einführung des eisernen Wendepflugs.
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□ 25 Beauvais, Kathedrale: der gotische Neubau mit den Resten des frühromanischen Vorgängers im Langhausbereich, spätes 10. Jh. und ab 1240er Jahre
Eine weitere Eigenheit gotischer Architektur ist sicherlich, dass man nicht nur den für den Beginn der Epoche maßgeblichen Bau – den Chor von St-Denis (ab 1140; |▶ 17|) –, sondern auch noch die theologische Fundierung dafür zu kennen glaubte. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr die nördlich von Paris gelegene Benediktinerabtei u. a. schon deswegen, weil hier die Gebeine des Apostels Galliens, des heiligen Pariser Bischofs Dionysius, verehrt wurden, den man legendär mit dem gleichnamigen Schüler des Apostels Paulus identifizierte, dem ersten Bischof von Athen, Dionysius Areopagita. Infolge einer zweiten ‚Verwechslung‘ wurde dieser wiederum mit einem im 5. / 6. Jh. in Syrien nachweisbaren Theologen der Ostkirche und Autor weithin rezipierter Traktate, in denen sich Theologie und neoplatonische Lichtmystik verbinden, in eins gesetzt. Besondere Bedeutung erlangte der von einem vermeintlichen Apostelschüler legitimierte Text „De caelesti hierarchia“ (‚Die himmlische Hierarchie‘) insofern, als man im 20. Jh. sogar versuchte, ihn zum eigentlichen Ausgangspunkt des gotischen Chorneubaus von St-Denis zu stilisieren: zweifelsohne ein Gründungsmythos dieser Epoche. Ähnliches gilt hinsichtlich der Einschätzung der Rolle des für den Bau verantwortlichen Abt Suger, der damals angesichts seiner Nähe zu Ludwig VI. und VII. fraglos eine der zentralen Persönlichkeiten des Königreichs der Zeit war. Ob allerdings die diversen von ihm im Zusammenhang mit dem Neubau verfassten Texte |▶ 17| wirklich als eine Art begleitende Erklärungsschriften dafür zu lesen sind, scheint fraglich: allein wegen der vielen gängigen Topoi, derer sich Suger bediente, aber auch, weil den größten Teil seiner Aus-
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58 □ 26 St-Denis, Abteikirche, Westfassade, 1137 – 40
führungen eher die Ausstattung, die Materialbeschaffung oder das geradezu staatstragende Ereignis der Weihe ausmachen. Immerhin erfahren wir aus den Schriften etwas über die eigentliche Motivation für den Neubau, nämlich, die Reliquien der Kirche neu zu präsentieren und dabei zugleich ein funktionales Problem – die wachsenden Pilgermassen – zu beheben. Wesentlicher Teil der Lösung war deswegen neben dem doppelten Chorumgang (1140 – 44) der zweitürmige Westbau (1137 – 49) von 2 × 3 Jochen Größe, mit dem man fortan den Zugang regulierte und so die ehemals geradezu lebensbedrohlichen Zustände entschärfte (□ 26). Bemerkenswert ist schließlich, dass dieser Bauteil nicht nur im Obergeschoss Kapellen beherbergte, sondern – seinem trutzigen Zinnenkranz und Sugers eigenen Aussagen zufolge – auch der Verteidigung diente. Mit Blick auf die Kathedralen von Ávila und Narbonne oder auf die sog. Wehrkirchen ist dies ein nicht seltenes Phänomen. Dafür, dass es sich bei diesem Chorneubau nicht im eigentlichen Sinne um die komplette ‚Erfindung‘ eines neuen Stils handelte, spricht im Übrigen bereits die etwas ältere Variation der Lösung bei St-Martin-des-Champs in Paris (1132 – 33). Vielmehr war es eine kalkulierte Zusammenführung früherer Innovationen wie der normannischen Kreuzrippengewölbe und Strebesysteme |▶ 16| und der in Burgund üblichen, gegenüber Rundbogen, dank besserer Druckableitung, statisch überlegenen Spitzbogen (|▶ 12|, |▶ 17|, □ vgl. 24), aus deren Synthese letztlich ein neuartiges Architektursystem resultierte. Rasant sind die anfänglich v. a. in der Île–de–France und der Champagne gemachten Entwicklungsschritte, die über die Jahrzehnte allmählich ein allgemein verbindliches System heranreifen ließen. Auffällig deckungsgleich ist diese Phase (12. /13. Jh.) mit der parallelen Erstarkung des französischen Königtums, die v. a. auf der Unterstützung der Bischöfe
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□ 27 Laon, Kathedrale, Innenansicht, 1155 – 1235
und ihrer Domkapitel basierte – mithin den maßgeblichen Bauträgern der Zeit. So lässt sich unter ihnen ein beeindruckender Wettstreit nach immer größer dimensionierten Kirchenbauten ausmachen, bei dem man bis an die Grenzen des technisch Möglichen ging. Wie wenig St-Denis eine Einzelleistung war, zeigt dabei noch einmal die beachtliche Fülle fast zeitgleicher oder wenig späterer Anlagen, die nahelegen, dass es sich hier nicht um reine Nachfolgebauten handeln kann: Bereits auf hohem Niveau und in großer Vielfalt ausgeführt, finden sie sich an verschiedensten Orten des französischen Kernlandes, der Île–de–France. Genannt seien hier nur die Abteikirche St-Germer-de-Fly (nach 1132) sowie die Kathedralen von Sens (ab 1140), Noyon (nach 1148) und Paris (ab 1163). Abgesehen von der mehr oder weniger ausgeprägten Gliederbauweise erscheint der vierteilige Aufriss als alleiniges Kriterium, das zumindest bei den meisten frühen Großbauten auftritt; so auch bei der Kathedrale von Laon (ab 1155; □ 27): Schlanke Rundpfeiler
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60 □ 28 Chartres, Kathedrale, Innenansicht, ab 1194
tragen hier einen feingliedrigen vierteiligen Aufriss mit Arkaden, Empore, Triforium und Obergaden (zum Grundriss: |▶ 23|). Akkurat sind allen lastenden Elementen (Halb-)Säulchen oder Dienste zugeordnet. Bedingt durch die sechsteiligen Gewölbe kommt es dabei zu einem subtilen Vor- und Zurückschwingen der Hochschiffswand, bestehen doch die zu Diagonalrippe, Gurt- und Schildbogen führenden Dienstbündel jeweils aus fünf Elementen, während die Bündel für Querrippe und Schildbogen nur drei aufweisen. Solche Uneinheitlichkeiten sollten gemeinsam mit dem Emporengeschoss bald verschwinden. Letzteres ist im Übrigen damals wohl noch als eine technische Voraussetzung der neuen leichteren Bauweise zu sehen, wurde doch mit ihren Gewölben offensichtlich der auf den Gebäuden lastende Druck abgeleitet. Es fällt zumindest auf, dass sie nach Einführung der Strebesysteme (spätes 12. Jh.) kaum mehr auftreten. Eines der frühesten monumentalen Beispiele für all diese Innovationen ist die Kathedrale von Chartres (ab 1194), mit der auch zahlreiche andere neue Standards Einzug hielten (□ 28). Neben dem Strebesystem gehören dazu die nun in jedem Joch identisch
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□ 29 Auxerre, Kathedrale, Chor, 1215 – 30
vierteiligen Gewölbe, der dreiteilige Aufriss, die kantonierten Pfeiler (Pfeilerkern von vier Diensten umstellt) sowie das Plattenmaßwerk: eine mittels gelochter Steinplatten bewerkstelligte Ausschmückung des Couronnements nunmehr zweiteiliger Obergadenfenster. Dieses wurde Ausgangspunkt einer weiteren folgenreichen Erfindung: des aus Steinstegen gebildeten Maßwerks. In Reinform ist es zuerst in der Kathedrale von Reims (Grundsteinlegung 1211) zu finden, die sich auch ansonsten in Vielem als verfeinerte Version von Chartres erweist |▶ 23|. Gerne werden sie deswegen mit einem dritten bemerkenswert ähnlichen Bau, der Kathedrale von Amiens (ab 1220), zu einem Dreiklang vereinigt, der idealtypisch die drei Entwicklungsstufen von ‚früh‘, ‚hoch‘ und ‚spät‘ zu verkörpern scheint. Tatsächlich sind in Amiens immer raffiniertere und reichere Detailformen anzutreffen, gerade was das Maßwerk der nun bis zu vierteiligen Fenster betrifft. Jedoch verlief die Genese in Wirklichkeit nicht ganz so linear, wie die ganz anderen Leitbildern folgenden Kathedralen von Bourges (ab 1195; |▶ 20|) und Auxerre (1215; □ 29) zeigen. Von der für Amiens konstatierten allgemeinen Zunahme an Formen und Details war natürlich
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□ 30 Amiens, Kathedrale, Westfassade, ab 1220
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□ 31 Troyes, Stiftskirche St-Urbain, Ansicht von Südosten, ab 1262
auch die Westfassade (□ 30) nicht ausgenommen, wo die ehemals drei einzelnen Portale der doppeltürmigen Anlage (□ vgl. 26) zu einer das gesamte Erdgeschoss überspinnenden Einheit zusammengefasst sind: ein horror vacui, der sich auch an der restlichen Fassade ausmachen lässt. Diese Verfeinerung wurde v. a. in den Pariser Bauprojekten der Jahrhundertmitte wie den von riesigen Maßwerkrosen dominierten Querhausfassaden von Notre-Dame und St-Denis (sowie Langhaus und Choroberteile, ab 1231; |▶ 17|) weiter vorangetrieben. Die Preziosität und der Erfindungsreichtum dieser Strömung kulminierte in der ab 1262 für Papst Urban IV. an der Stelle seines Geburtshauses errichteten Stiftskirche St-Urbain in Troyes (□ 31): Feinheit und Leichtigkeit des atemberaubenden Außenbaus mit durchbrochenem Strebewerk und zarten, teilweise in zwei Schichten gearbeiteten Maßwerkformen sind kaum mehr zu steigern. Man möchte hier eher an Goldschmiedearbeiten denn an Steinarchitektur denken. Spektakulär sind auch die nicht minder transparenten Querhausvorhallen, an denen sich bereits früh die zukunftsweisende Eigenheit, Bogenprofile kapitelllos in das Stützglied laufen zu lassen, findet |▶ 31|. All diese Innovationen erfuhren durchaus überregionale Rezeption: St-Urbain war Vorbild für die Gesamtkonzeption des Regensburger Domchors (ab 1273) ebenso wie für die Zweischaligkeit der Straßburger Westfassade (ab 1277; |▶ 30|). Überhaupt entwickelte sich gotische Architektur schnell
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zu einem wahren Exportschlager über die Grenzen Frankreichs hinaus. Südlich der Alpen, wo sie v. a. bei Zisterzienser- und Bettelordenskirchen auftritt (Florenz, Bologna), fällt sie vielleicht noch am reduziertesten und ‚ungotischsten‘ aus. Gleichwohl lässt sich mit der an der Reimser Kathedralarchitektur orientierten Grabeskirche des hl. Franziskus, S. Francesco in Assisi (Weihe 1253), ein prominentes Beispiel benennen (ebenso: Vercelli, Sant’Andrea, Weihe 1224; die Bauten der Anjou in Süditalien, ab Ende 13. Jh., |▶ 35|). Weit umfangreicher und deutlicher am französischen Vorbild orientiert stellt sich dagegen die Rezeption in den restlichen Gebieten dar. Sie reicht von verschiedensten normannischen Bauten des 13. Jh.s (Coutances, ab 1210; Bayeux, ab 1230), die eine eigene Sondergruppe formieren, über den Utrechter Dom (ab 1254) bis hin zu den beiden deutlich in der Nachfolge von Bourges stehenden Kathedralen von Burgos (ab 1221) und von Toledo (ab 1222) oder jener von León (ab 1255). Mit der Hedwigskapelle (ca. 1268 – 75) der Zisterzienserinnenabtei Trebnitz bei Breslau lässt sich nur wenige Jahre nach den Einfällen der Mongolen, die zwischenzeitlich bis in diese Region vorgedrungen waren, selbst noch in den polnischen Teilherzogtümern ein authentischer Vertreter französischer Baukunst finden. Sind es hier jeweils die Formen, die klar auf französische Wurzeln hinweisen, so weiß man von der Kathedrale im schwedischen Uppsala, dass dafür 1287 ein Pariser Architekt mit 20 Werkleuten ‚importiert‘ wurde.
□ 32 Magdeburg, Dom, gotischer Chorneubau (ab 1209) mit den Spolien des ottonischen Vorgängerbaus, die ihrerseits im 10. Jh. als Spolien aus Italien geholt worden waren.
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65 □ 33 Trier, Liebfrauenkirche, Innenansicht, ab ca. 1235
Dass sich das Aussehen dieser französischen Architektur vor dem Hintergrund andersartiger Herrschaftsstrukturen deutlich anders entwickeln konnte, zeigt die Rezeption im weniger zen tralistisch organisierten Heiligen Römischen Reich. Dort ist zwar mit dem Kölner Dom (ab 1248; |▶ 26|) ebenfalls eine ganz unmittelbare Übernahme zu finden, ebenso – bei materialbedingten Unterschieden – mit der in Backstein errichteten Lübecker Marienkirche (Umbau um 1280), dem Ausgangspunkt für alle späteren Hansekirchen des Ostseeraums. Deutlich eigenwilliger sind jedoch die Bauten der etwas früheren ersten Rezeptionswelle, wie etwa der Limburger Dom (ab 1213) oder St. Gereon in Köln (ab 1219; □ vgl. 11), die bei aller ‚romanischen Schwere‘ bereits gute Kenntnis der Gliederbauweise französischer Kathedralgotik zeigen. Ihre Architektur erscheint damit fast eleganter als die des Projekts, bei dem im Reich – nimmt man einmal die Sonderfälle von Lausanne und Genf (2. Hälfte 12. Jh.) aus – erstmals versucht wurde, das französische Kathedralsystem in Gänze, also auch den Grundriss mit Chorumgang, zu übernehmen |▶ 23|: dem Magdeburger Domchor (ab 1209; □ 32). Um wie viel eigenständiger und zukunftsweisender fallen demgegenüber die ganz unmittelbaren Rezeptionen der Reimser Kathedrale aus, die sich schließlich im Westen des Reiches in den 1230er Jahren finden lassen – bezeichnenderweise in Übereinstimmung mit einem fraglos Kapazitäten freisetzenden temporären Baustopp in Reims ab 1233: die einem Stift zugehörige Liebfrauenkirche in Trier (um 1235; □ 33), die als Grablege einer Heiligen fungierende Elisabethkirche in Marburg (Grundsteinlegung 1235) und die Kathedrale von Toul (frühestens 1230 / 5). Kaum weniger unterschiedlich sind die jeweils verfolgten Kon-
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zepte: ein in seiner Zeit einmaliger Zentralbau; eine erste Hallenkirche im Reich; eine ottonischen Anlagen folgende Bischofskirche. Angesichts einer nahezu zeitgleichen Entstehung der Bauten gibt es wenig Zweifel, dass das hier wie anderswo übliche moderne Erklärungsmodell eines Nacheinanders durch das eines Nebeneinanders zu ersetzen ist.
Fürstenhöfe und Städte als Auftraggeber im Spätmittelalter Schlösser, Rathäuser, Pfarrkirchen Bereits seit dem 12. Jh. ist ein oft erstaunlicher Austausch zwischen den europäischen Regionen zu verzeichnen: Die Zisterzienserkirche im schwedischen Alvastra (ab 1143) verarbeitet unmittelbar Eigenheiten – v. a. die Gewölbelösung – der Anlage im burgundischen Fontenay (ab 1139, |▶ 13|); der Franzose Villard de Honnecourt weiß in seinem sog. Skizzenbuch ( Themenblock · Der Baubetrieb, S. 182) von einer Ungarnreise zu berichten. In den nachfolgenden Jahrhunderten sollte sich dieser Transfer noch intensivieren. In der Tat kann von einer ‚Internationalisierung‘ von Kunst und Architektur gesprochen werden; ja, für bestimmte Phasen, nämlich die Kunst um 1400, hat man sogar den Begriff ‚Internationale Gotik‘ geprägt. Letztlich ist diese aber nur das Ergebnis entsprechender Phänomene, die bereits das gesamte 14. Jh. kennzeichneten. Ausschlaggebend dafür war die dichtere Vernetzung europäischer Machtzentren. Sie hatte ihre Ursache in Ereignissen wie der Verlagerung des Papsthofes von Rom nach Avignon |▶ 38| oder aber in Persönlichkeiten wie dem in Prag residierenden Kaiser Karl IV., der als Angehöriger eines aus Luxemburg stammenden Geschlechts ein enger Verwandter der französischen Könige war und der auch seine Erziehung am französischen Hof erfuhr. Kaum geringere Bedeutung besaß das westfranzösische Herrschergeschlecht der Anjou, unter dessen Kontrolle um 1300 so weit auseinanderliegende Königreiche wie Neapel und Ungarn gelangten |▶ 35|. Es verwundert demnach wenig, dass sich nun selbst bis tief in den Osten, bis ins heute rumänische Siebenbürgen oder sogar noch im ukrainischen Lemberg (spät)gotische Formen finden lassen. Gotische Architektur war damals also tatsächlich bis an die Grenzen der Ostkirche vorgedrungen. Bemerkenswert erscheint, dass sich selbst bei solchen am äußersten Rand Ostmitteleuropas entstandenen Bauten oft ein direkter Austausch mit den Zentren im Westen belegen lässt, wie das z. B. die ehem. Pfarrkirche St. Elisabeth im heute slowakischen Kaschau (1380 – 1440; □ 34) zeigt. Der die gesamte Stadtanlage dominierende Bau verrät erstaunlich gute Kenntnis aktueller Wiener Architektur – konkret jener des Stephansdoms, an dem sich sogar aus Kaschau stammende Steinmetzen nachweisen lassen |▶ 43|. Im frühen 15. Jh. waren es dann wiederum Kaschauer Werkleute, die an diversen Baustellen in Siebenbürgen tätig wurden. Anders als in der bildenden Kunst haben in der Architektur die genannten eng geknüpften Netze zu keinem einheitlichen Stil geführt. Im Gegenteil tritt nun – nach jahrzehntelanger Dominanz französischer gotischer Architektur – in Europa eine neue Diversität auf den Plan. Zum Teil hat sie mit neuen Bauaufgaben zu tun; zum Teil ist sie aber auch darin begründet, dass im 13. Jh. etablierte Formen und Lösungen nun oft in sehr eigenständiger
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□ 34 Kosˇice / Kaschau (Slowakei), ehem. Pfarrkirche St. Elisabeth (heute: Dom) und Kapelle St. Michael, 1378 – 1508
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Weise weiterentwickelt werden. Verbunden ist diese Vielfalt mit einer ganz eigenen Entwicklungsdynamik, die sich großteils schon aus den Planungs- und Kommunikationsmöglichkeiten der seit dem frühen 13. Jh. aufkommenden Planzeichungen ergab. Ein modern anmutender Grad der Abstraktion, ja, eine Verselbständigung der Planungsidee wird hier nun evident. Neu ist zudem, dass nicht mehr länger allein kirchliche Institutionen mit ihren Bauten in Erscheinung treten. Gleich große Bedeutung besitzen fortan Fürsten und Bürger, die nun verstärkt sowohl mit sakralen als auch mit zahlreichen profanen Bauprojekten, d.h. mit Rathäusern, Pfarrkirchen, Burgen und Schlössern ihren (teilweise neuen) Status dokumentieren. In der Tat ist europäische Architektur niemals zuvor unterschiedlicher gewesen. Weniger als in anderen Epochen will es deswegen gelingen, allgemein gültige Tendenzen und Entwicklungslinien herauszudestillieren, gerade bei einer überregionalen Perspektive: Lassen sich in Italien etwa mit dem Dogenpalast in Venedig (ab 1340) oder dem Mailänder Dom |▶ 44| auch im 14. Jh. einige Beispiele markant gotischer Architektur finden, so hielt man doch zumeist am Typus der frühchristlichen Basilika fest. Mit Bauten wie dem Florentiner Dom |▶ 32| gibt es aber zeitgleich durchaus auch zukunftsweisende Lösungen. Demgegenüber folgte man in Frankreich, im Bereich der heutigen Niederlande und Belgiens ebenso wie in Spanien und Portugal |▶ 49| – in den Details zeitgemäß adaptiert und verfeinert (vgl. z. B. in Frankreich die sog. Flamboyant-Gotik) – weiterhin zumeist den in Frankreich bis zur Mitte des 13. Jh.s etablierten Standards. Dass man sich vor Verallgemeinerungen hüten sollte, zeigen bereits die im 14. Jh. errichteten, in der Detailgestaltung sehr reduzierten Kirchen im damals noch eigenständigen Königreich Aragon, deren Wirkung ganz auf die schlichte Monumentalität ihrer Architektur ausgerichtet ist |▶ 36|. Eine noch umfassendere ‚Ausnahme‘ stellt die englische Architektur dar: So viele Verbindungen es noch im 11. / 12. Jh. zu normannischer Baukunst gegeben hatte |▶ 10, 16|, bildeten sich dort ab dem 13. Jh. bemerkenswert eigenständige Lösungen aus. Seit der Kathedrale von Lincoln (ab 1214; |▶ 22|) ist ein wesentliches Element dabei der kreative Umgang mit Gewölben. Im Laufe der Zeit kommt es hier zu immer komplexeren Figurationen, wie das die Chöre der Kathedralen von Bristol (ab 1298), Wells (ab 1333) und Gloucester (ab 1337) oder die Langhäuser jener von Winchester (1360 – 90) und Canterbury (ab 1379) sowie zahlreiche spätere Beispiele des 15. Jh.s |▶ 48| eindrucksvoll zeigen. Mit ihren jeweils Raumgrenzen – wie die Jocheinteilung oder auch den Übergang von Hochschiffswand zum Gewölbe – verschleifenden und aufhebenden Eigenschaften erinnern sie bereits an Architektur, die im Reich erst ab Mitte des 14. Jh.s v. a. mit Peter Parlers Arbeiten für den Prager Veitsdom (ab 1356; |▶ 41|) auftritt. Wie bei frühgotischer Architektur der 1. Hälfte des 12. Jh.s fällt auch bei spätgotischer Baukunst eine Aussage zu deren Anfängen nicht leicht, noch sind diese auf einen einzigen Bau einzuengen. Zwar gibt es, St-Denis vergleichbar, mit genanntem Veitsdom zumindest für die Architektur des Reiches ein ähnlich prominentes, in gewisser Weise maßstabsetzendes Projekt. Doch lassen sich damit erneut kaum alle Aspekte nachfolgender (spät) gotischer Architektur dieser Region erklären. Aufmerksamkeit verdienen deswegen auch die vorhergehenden ca. 75 Jahre, die zwischen dem bereits weit im Osten ausgeführten Projekt des Veitsdoms und den letzten hochgotischen (französischen) Großbauten liegen. Sie scheinen in der Architekturgeschichte weniger klar umrissen als andere Phasen mit-
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□ 35 Kaiserslautern, Stiftskirche St. Martin und St. Maria, Blick in das Langhaus von Westen, um 1320 / 25
telalterlicher Baukunst. Dazu mag allein beigetragen haben, dass viele Vorhaben im 14. Jh. immer noch mit der Vollendung bereits im 13. Jh. begonnener Kirchen verbunden waren – so etwa im Fall der Kathedrale von Auxerre (Langhaus ab 1309), des Kölner Doms oder der Lübecker Marienkirche –, die naturgemäß eher weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Fokussiert man an dieser Stelle einmal den Blick auf die Architektur im deutschsprachigen Raum, in dem sich damals auf dem europäischen Kontinent die vergleichsweise größten Entwicklungsschritte vollzogen, so ragen einige Einzelbauten prominent heraus: etwa die Südfassade der Oppenheimer Katharinenkirche (bis 1328) mit ihren inspirierten Maßwerkvariationen, die lichten Hallen der Soester Wiesenkirche (ab 1331) und der Esslinger Frauenkirche (ab 1335 / 40) sowie diverse Backsteinbauten |▶ 40| wie die Marienkirchen in Prenzlau (1320 f.) mit ihrem reichen Maßwerkgiebel oder das radikal reduzierte, monumentale Langhaus der Elisabethkirche in Breslau (Weihe 1357). Demgegenüber stärker als eine Gruppe wahrnehmbar sind eine Reihe weiterer zeitgleicher Bauten, die sich auffälligerweise ganz im Westen des Reiches, in jener Grenz- und Übergangszone zum französischen Königreich, konzentrieren und durch eine erstaunliche Innovationskraft auszeichnen: so die Zisterzienserkirche Salem (erste Altarweihen 1307; □ vgl. 2), die Antoniterkirche in Pont-à-Mousson (Weihe 1335) sowie die Stiftskirchen Jung-St. Peter in Straßburg (Weihe 1320), in St. Arnual (um 1320 / 30) oder in Niederhaslach (um 1320). Ihre Modernität beschränkt sich dabei nicht auf Details wie etwa den Verzicht auf Kapitelle; vielmehr zeichnen sich all diese Bauten durch recht unkonventionelle Aufrisslösungen und Pfeilerformen aus, die weit über das bis dahin Gängige hinausgehen. Solches trifft bereits für die beiden Stiftskirchen in Munster-en-Lorraine und in Kyllburg zu, die als Stiftungen des Erzbischofs von Trier, Heinrich von Finstingen, 1271 bzw. 1276 ins Werk gesetzt wurden. Dabei sind v. a. die aus der Wand geschnittenen Pfeiler in Munster (Weihe:
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□ 36 Aachen, Pfalzkapelle, Chorerweiterung des 14. Jh.s östlich der ursprünglichen Anlage Karls des Großen, 1355 – 1414
1293) mit ihrem geradezu spätgotisch komplizierten Grundriss bemerkenswert. In etwas einfacherer Form findet sich die dort in Erscheinung tretende direkte Weiterführung des Arkadenprofils in das tragende Element im Hallenlanghaus der Stiftskirche in Kaiserslautern (diese Lösung ist grundsätzlich bereits an Bauten des 12. Jh.s vorgeprägt, vgl. die Emporenöffnungen der Kathedrale von Tournai, □ 84). Auf sie ist schon deswegen einzugehen, weil sie noch einmal gut den Grad der damaligen Vernetzung (nun zwischen Ost und West) verdeutlicht. Ähnlich dem Neubau des Veitsdoms |▶ 41| scheint sich Kaiser Karl IV. nämlich für die Kirche des von ihm 1347 in Prag gestifteten Emmausklosters ein weiteres Mal innovativer Architektur aus dem Westen des Reiches – hier aus dem pfälzischen Kaiserslautern – bedient zu haben. Angesichts der Nähe zum Stammsitz seiner Familie, Luxemburg, und deren sowie Karls eigenen Verbindungen in der Region scheint dies eine durchaus nachvollziehbare Wahl. In der Tat weisen die beiden gut 600 km auseinanderliegenden Hallen mit Blick auf ihre schlichten abgefasten Pfeilerformen und hinsichtlich der gesamten Raumstruktur große Ähnlichkeiten auf. Demgegenüber zeigt ein etwas späterer prominenter Bau, die Chorerweiterung der Aachener Pfalzkapelle (ca. 1355; □ 36), nicht nur noch einmal eindrücklich die damalige Vielfalt der Architektur, sondern auch, wie sehr Tradition und bestimmte Ansprüche das Interesse an baukünstlerischer Innovation überlagern konnten. So ging es hier nicht etwa um den kompletten Ersatz der gut 500 Jahre älteren Kapelle Karls des Großen bzw. der Krönungskirche der deutschen Könige, sondern um deren partielle Erweiterung und Aktualisierung. Den zeitgenössischen Akzent setzte dabei kein Chor im eigentlichen Sinne.
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71 □ 37 Schwäbisch Gmünd, Pfarrkirche Heilig-Kreuz, Blick in den Hallenumgangs chor, ab 1351; Einwölbung 1491 – 97
Es handelt sich eher um eine zweite eigenständige Kapelle, bei der man wohl bewusst auf das entsprechende, immer noch wirksame Leitbild für diese Bauaufgabe zurückgriff |▶ 1| und monumentalisierte: die Ste-Chapelle (ab 1241; □ vgl. 103). Blieb der Aachener Chor angesichts der besonderen Vorgaben ein Einzelphänomen, so erfreute sich ein anderes Vorhaben der Jahrhundertmitte ausnehmend breiter Rezeption: der 1351 unter Heinrich Parler gemeinsam mit seinem Sohn Peter begonnene Chorneubau der Pfarrkirche Heilig-Kreuz in Schwäbisch Gmünd (□ 37). Innovativ war weniger deren Anlage als Hallenumgangschor (zuerst am Verdener Dom, ab 1273) als vielmehr, erstmals die Außenwand als 7 / 12-Polygon anzulegen, das von den Pfeilern markierte Innenpolygon aber über drei Seiten eines Sechsecks. Neu ist auch, im unteren Bereich zwischen den Strebepfeilern Umgangskapellen einzufügen, wozu man an dieser Stelle die Wand einfach nach außen setzte. Rezeption fand die Lösung nicht nur in Süddeutschland, sondern auch bis weit in den Norden, wie das u. a. St. Marien in Frankfurt a. d. Oder und St. Nikolai in Berlin zeigen (1360 / 80er Jahre). Ein genauerer Blick ist jedoch auf eine weitere Variante dieses Konzepts zu werfen: den 1361 – 79 ausgeführten dreischiffigen Hallenchor, mit dem man an der Nürnberger Pfarrkirche St. Sebald (□ 38) einen erheblich kleineren einschiffigen Chor des Urbaus (1230 / 40) ersetzte. Gut lässt sich an ihm die Wirkung der für Schwäbisch Gmünd beschriebenen Verringerung der Anzahl der inneren gegenüber den äußeren Polygonseiten studieren. Es sind nämlich dieser Kunstgriff und die so verringerte Pfeilerzahl, die den Raum merklich transparenter und heller werden lassen, als das bei einer konventionellen basilikalen Lösung der Fall ist. Bei St. Sebald reizte man diesen Effekt nun insofern zur Gänze aus, als es sich nicht nur um einen Hallenchor handelt, sondern die Fenster auch fast die gesam-
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72 □ 38 Nürnberg, Pfarrkirche St. Sebald, Innenansicht des Chores mit großteils noch originaler Ausstattung, 1361 – 79
te Höhe der Achsen einnehmen, indem man auf die von Gmünd her bekannten Kapelleneinbauten verzichtete. Zum lichten Aussehen tragen auch die überaus schlanken, aus einem oktogonalen Kern und vier Runddiensten komponierten Pfeiler bei, in die die Gewölberippen wieder kapitelllos hineinlaufen. In dieser Form scheinen sie von einem anderen süddeutschen Hallenbau, der Esslinger Frauenkirche (ab 1335 / 40), abgeleitet. Auf den Hallenchor von St. Sebald kam nur wenig später eine adäquate Antwort vom stadtinternen Rivalen, der Pfarrkirche St. Lorenz, deren Ostabschluss man unter Leitung von vier verschiedenen Architekten 1439 – 77 in ähnlicher Form erneuerte (□ 39). Trotz des größeren zeitlichen Abstands gibt es dabei bemerkenswerterweise sogar noch deutlichere Rückbezüge auf Schwäbisch Gmünd als das bei St. Sebald der Fall war. Zum einen finden sich nun wieder die zwischen die Strebepfeiler gesetzten Umgangskapellen, zum anderen tritt aber v. a. in adaptierter Form ein weiteres Charakteristikum des Baus auf: das kräftige, in regelmäßigen Abständen rhythmisch vorspringende Gesims. Diente es in Gmünd der formalen Trennung zweier Geschosse (□ vgl. 37), so wurde es in St. Lorenz in einen brüstungsbewehrten Laufgang umgedeutet. Dass es sich beim Chor von St. Lorenz um einen deutlich späteren Bau als jenem von St. Sebald handelt, zeigt ein Blick auf die Wölbung: Während sich in St. Sebald noch in klassischer Weise vier- bzw. dreiteilige, jedes Joch genau definierende Gewölbe finden, ist es in St. Lorenz ein all diese Grenzen aufhebendes Netzgewölbe. Dieses wie die generelle ‚Dynamisierung’ des Raumes, von der hier gerne in der kunsthistorischen Literatur gesprochen wird, war zur Erbauungszeit des St. Lorenzer Chores dank der entsprechenden von Peter Parler entworfenen Partien des Veitsdoms |▶ 41| bereits seit Jahrzehnten Standard. Zeittypische Unterschiede lassen sich deswegen hier wie in anderen Fällen eher im Detail, wie etwa den markant geschnittenen Pfeilern, finden: Auf einem sehr ungleichmäßigen
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□ 39 Nürnberg, Pfarrkirche St. Lorenz, Innenansicht des Chores mit zahlreichen originalen Ausstattungsstücken wie den Glasmalereien, dem Sakramentshaus (l. vor dem Pfeiler; Adam Kraft, 1496) und dem ‚Englischen Gruß‘ (M.; Veit Stoß, 1517/18), 1439 – 77
Grundriss errichtet, sind bei ihnen nur noch die unmittelbar gegenüberliegenden Seiten der jeweiligen Pfeilerpaare identisch. Am oberen Abschluss nehmen die Gewölberippen wiederum ansatzlos ihren Ausgang, wobei diese Bauglieder durch die generelle Asymmetrie ein fast baumartiges Erscheinungsbild erhalten. Auf ebenfalls seit Prag Standard gewordene Kabinettstücke wie hängende Schlusssteine und frei unter den Gewölben verlaufende sog. Luftrippen, verzichtete man jedoch in St. Lorenz. Die zahlreichen zeitgenössischen Beispiele – wie etwa die Marienkirchen in Pirna (ab 1502) und Ingolstadt (Kapellen mit Astwerkrippen, um 1520) – zeigen aber, welche Faszination von diesen Erfindungen ausgingen. Mit ihrer Fragilität und den oft vegetabilen Formen ließen sie gänzlich vergessen, dass es sich bei dem verwendeten Material eigentlich um Stein handelt. Derartige auffällige Rippenformen mussten nicht immer frei gearbeitet sein, sondern konnten als sog. Schlingrippen durchaus auch in ganzen Gewölbefigurationen auftreten. Solche lassen
Fürstenhöfe und Städte als Auftraggeber im Spätmittelalter
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□ 40 Tarascon, Burg, Ansicht von Südwesten, 1401 – 41
sich im 15. und 16. Jh. häufig in Süddeutschland und Böhmen finden, z. B. in Annaberg (ab 1499), in Kuttenberg (ab 1512) oder in der Augsburger Fuggerkapelle (1509 – 19). Dass dabei nicht nur gestalterische, sondern auch konstruktive Aspekte eine Rolle spielten, zeigt das elegant und spielend leicht gewaltige Weiten überspannende Schleifensterngewölbe des Prager Wladislawsaals (1493 – 1503; von Engelberg 2013, Abb. 55). Schon an diesem Beispiel zeigen sich die markanten Entwicklungen, die auch im Profanbau zu verzeichnen sind. Ein wichtiges Phänomen ist damals sicherlich die wahre Flut von Rathausprojekten, die in italienischen, flämischen |▶ 33, 34| und deutschen Städten (Stralsund, Köln, Braunschweig, Tangermünde) des 13. bis 15. Jh.s zu vermerken ist und die hinsichtlich Opulenz fürstlichen Bauten kaum nachstanden. Die Entwicklungen betreffen aber auch die letzteren selbst, fällt doch bei allen lokalen Unterschieden genau in diese Zeit der allmähliche Wandel von der an Wehraufgaben orientierten mittelalterlichen Burg zum frühneuzeitlichen Schloss, das allein der Repräsentation bzw. dem Vergnügen des Nutzers dient. Ein gutes Beispiel dafür ist die im südfranzösischen Tarascon (□ 40, 41) an der Rhône gelegene Burg der Grafen der Provence. 1401 – 49 unter verschiedenen Angehörigen des Hauses Anjou errichtet, setzt sie sich aus zwei Teilen zusammen: einer v. a. der Versorgung der Anlage dienenden Vorburg und der eigentlichen, durch einen Graben davon abgetrennten, dreigeschossigen, gut 50 m hohen Hauptburg. Sie ist eine aus vier Wohnflügeln zusammengefügte, am Pariser Louvre oder der Bastille (1370er Jahre) orientierte Kastellanlage, die sich auf unregelmäßigem Grundriss um einen Innenhof entwickelt, wobei die Ecken durch runde und eckige Türme Verstärkung erfahren. So unwirtlich-wehrhaft der über vier Treppenspindeln erschlossene, zur Landseite hin fast fensterlose Bau von außen auch wirken mag, so differenziert komfortabel fällt er im Inneren aus. Davon berichtet zumindest ein unter René d’Anjou (1409 – 80) entstandenes Inventar: In allen drei Geschossen im Westflügel finden sich jeweils große repräsentative Räume, von denen der untere, öffentlichste direkt vom Hof aus betreten werden kann (□ vgl. 41, Nr. 5, 10, 17). Über den Nordflügel erfolgt v. a. der Zugang zur Burg, während jene im Süden und Osten den privateren Gemächern der Bewohner vorbehalten sind. Eine Sonderfunktion hat der
II. Grundzüge der mittelalterlichen Architekturgeschichte
75 □ 41 Tarascon, Burg, Schematische Darstellung der Anlage von Norden, Grundrisse der verschiedenen Ebenen und Nutzung der Räume nach einem Inventar des späten 15. Jh.s: 1 Wirtschaftsgebäude der Vorburg mit Küchen und Vorratsräumen; 2 Hof der Vorburg; 3 Cour d’honneur/ Ehrenhof; 4 Küche und Backofen; 5 Festsaal; 6 untere Kapelle; 7 Grande galerie/ offene Halle; 8 Privatgemach; 9 Zugang zur Burg mit über Eck liegenden Ein- und Ausgängen sowie mit Wurfschacht im Gewölbe zur Bekämpfung eingedrungener Feinde von oben; 10 Prunkgemach/ ‚Salon‘ Renés;
1. Geschoss
11 – 12 Privatgemächer Renés, dabei 12 mit direkter Verbindung zur Unterkapelle; 13 Schlafzimmer Renés und seiner Gemahlin; 14 Chambre de
Erdgeschoss
parement/ Empfangssaal Renés und seiner Gemahlin; 15 – 16 Privatgemächer; 17 Empfangssaal; 18 Chambre du grand retrait; 19 Schreibzimmer Renés; 20 großes Schlafgemach Renés; 2. Geschoss
21 Schlafzimmer Marguerites de Savoie; 22 Empfangssaal Marguerites; 23 – 24 Privatgemächer; 25 Dampfbad Renés; 26 Privatgemach mit direkter Verbindung zur Oberkapelle; 27 Oberkapelle mit den beiden seitlichen Oratorien Renés bzw. seiner Gemahlin; 28 Schlafgemach; 29 Empfangssaal; 30 – 31 Privatgemächer; 8, 11, 15, 18, 23 u. 30 mit eigenen Aborten;
3. Geschoss
A – D vier Wendeltreppen, über die die Burg erschlossen wird.
76 □ 42 Meißen, Albrechtsburg (1471 – 1525), Großer Saal, ab 1471
etwas abgesetzte Nordostturm (Nr. 8), dem mit seinen stärkeren Mauern weiterhin die Aufgabe des Donjons als letztem Rückzugsort zufällt. Demgegenüber erweist sich der nicht weniger massiv wirkende Südostturm erstaunlicherweise als Teil einer zweigeschossigen Hofkapelle |▶ 25|. Bezeichnend ist jedoch, dass diese Anlage – trotz aller Bequemlichkeiten – niemals Hauptaufenthaltsort Renés wurde, der es weit zukunftsweisender vorzog, die Zeit auf seinen (unbefestigten) Landsitzen zu verbringen. Für den Übergang von der Burg zum Schloss ist Tarascon ein etwas späteres Beispiel aus dem deutschsprachigen Raum zur Seite zu stellen: die 1471 – 1525 unter dem Herzog von Sachsen errichtete Albrechtsburg in Meißen, eine der ersten schlossartigen Residenzen im Reich überhaupt. Schon die gegenüber Tarascon großzügige Durchfensterung macht das deutlich. Hoch über dem Elbtal gelegen, ist der mehrgeschossige Bau auf unregelmäßigem Grundriss errichtet, wobei die Innenraumaufteilung einem etwas anderen Schema als in Tarascon folgt: Hier sind im Hauptgeschoss des langgezogenen Kernbaus zwei große öffentlich zugängliche Säle (□ 42) untergebracht, denen an der Peripherie kleinere private Räume angelagert sind. In den darübergelegenen, kleinteiliger untergliederten Geschossen werden demgegenüber jeweils eine Kammer und eine Schlafstube zu einer Einheit zusammengefasst, was eine deutlich verschlossenere, privatere Nutzung des Bereichs erkennen lässt. Bahnbrechend ist die Anlage v. a. aus zwei Gründen. Zum einen wegen der überall auftretenden Gewölbe – dies bereits ein Indikator für den hohen Anspruch –, die jeweils in Backstein als expressive Zellengewölbe ausgeführt sind: eine im Weiteren sehr erfolgreiche Erfindung |▶ 40|, die vom verantwortlichen Architekten, Arnold von Westfalen, explizit für diesen Bau gemacht wurde. Noch zukunftsweisender ist zum anderen, gerade was den Schlossbau betrifft, die Erschließung der Anlage durch einen großen, teilweise freistehenden Wendelstein, der die gesamte Hoffassade dominiert: einen großzügigen, im Inneren aufwändig gestalteten Stiegenturm, mit dem die Annäherung an die Kernbereiche des Schlosses nun besser inszeniert werden konnte als mit den relativ schmalen, eher funktionalen Treppenspindeln in Tarascon. Dass damals prächtige Treppenanlagen, aber auch allgemein Komfort an Bedeutung gewannen, zeigen nicht zuletzt die im Spätmittelalter immer häufiger auftretenden Reiterstiegen: Mit ihnen konnte man nun tatsächlich reitend zu die entsprechenden Räumlichkeiten gelangen, wie das u. a. die Stiegen im Castello S. Giorgio in Mantua (ab 1395), in Amboise (ab 1500) oder zum Prager Wladislawsaal zeigen.
II. Grundzüge der mittelalterlichen Architekturgeschichte
III. Schlüsselwerke
Die Pfalzkapelle in Aachen Antikenrezeption und Spolienverwendung
N
ach dem Zusammenbruch des Römischen Reichs beginnt die europäische Architekturgeschichte – zumindest diejenige nördlich der Alpen und in dem mit diesem Band abgedeckten Zeitraum – mit einem wahren Paukenschlag: mit der schon 829 als capella bezeichneten, kontinuierlich als Stiftskirche genutzten Aachener Pfalzkapelle (□ 43; □ vgl. 36; Bayer 2011). Dieser Bau war für die Zeit bemerkenswert groß dimensioniert und übertraf mit einer Höhe und einem Durchmesser von über 30 m alles bisher in der Region Dagewesene. Zudem ist er gänzlich in (Bruch-)Stein ausgeführt und durchgängig gewölbt, was damals kaum weniger ungewöhnlich war. Mehr als anderswo kommen hier also bereits lange Zeit nicht mehr geübte Techniken zum Einsatz, und das – blickt man auf die in schwindelnder Höhe ausgeführte zentrale Wölbung von fast 15 m Durchmesser und das dafür notwendige (unsichtbare) ausgefeilte Eisenankersystem – auf einem durchaus erstaunlich hohen Niveau. Die Pfalzkapelle stellt einen der ganz frühen monumentalen nachantiken Zentralbauten des Kontinents dar, die sich noch erhalten haben: Der jüngsten dendro-
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chronologischen Datierung zufolge stammen die erhaltenen (Bau-)Hölzer aus dem Zeitraum 793 – 803 (Schaub 2010). Die Fertigstellung des Rohbaus erfolgte um 798, die Weihe der Kapelle am Dreikönigsfest 805 durch Papst Leo III. Mit Odo von Metz ist sogar der Name des Architekten inschriftlich überliefert: eine Würdigung, die in den nachfolgenden Jahrhunderten eher selten zu finden ist. Noch ungewöhnlicher wird er, wenn man sich ins Bewusstsein ruft, dass es sich bei diesem in den unteren Partien der Jungfrau Maria und in der oberen Ebene dem Salvator geweihten Sakralbau eigentlich um einen Teil einer fast vollständig verschwundenen, damals nördlich der Alpen kaum weniger einmaligen komplexen Anlage handelt: um die Kapelle der weitläufigen Residenz Kaiser Karls des Großen (□ vgl.13; Binding 1996), die dieser an einem bereits zur Römerzeit besiedelten Ort – einem Hofgut seines Vaters, des Frankenkönigs Pippin – hatte errichten lassen. Auch der Bereich um die Pfalzkapelle selbst umfasste ursprünglich weit mehr bzw. andere Gebäude als das heute der Fall ist: So waren ihr im Westen ein Atrium mit Säulengang vorgelagert und ihre
Die Pfalzkapelle in Aachen
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78 □ 43 Aachen, Pfalzkapelle, Schnitt und Grundriss der im Rohbau 798 fertiggestellten karolingischen Anlage, inkl. der Grundrisse der Erweiterungsbauten, 1356 – 1415
Seiten von kapellenartigen nach Süden bzw. Norden in kleinen Apsiden endenden Annexbauten flankiert, über deren genaue Nutzung wir nur wenig wissen. Letztlich ist die heute vor uns stehende Pfalzkapelle ein über 1000 Jahre immer wieder mehr oder weniger eingreifend umgestaltetes Gebäude. Die in einem solch langen Zeitraum erfolgten Veränderungen sind Ausweis eines permanenten, ungebrochenen Interesses an der Anlage – nicht zuletzt als einem wichtigen Wallfahrtsort –, die natürlich v. a. in der Person des hier dereinst residierenden und auch begrabenen Auftraggebers, Karls des Großen, seine Begründung findet. In der Tat stellte die Aachener Pfalzkapelle im Heiligen Römischen Reich, in dem sich anders als etwa im französischen Königreich mit Paris niemals dauerhaft eine zentrale Hauptstadt etablieren sollte, gemeinsam mit dem Frankfurter Dom (ab 1147 Ort fast aller Königswahlen) als Krönungsort
III. Schlüsselwerke
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der meisten deutschen Könige einen der wenigen dynastieübergreifenden Orte des Reiches dar. Sprechen dafür verschiedene Schenkungen späterer Könige und Kaiser (z. B. der Ambo Kaiser Heinrichs II., 1014), so kommt das sicherlich besonders eindrucksvoll an dem Mitte des 14. Jh.s ausgeführten gewaltigen Chorneubau (1356 – 1415; □ vgl. 36, 43) zum Ausdruck: ein Projekt, das das unzweideutige Vorbild, die Pariser Ste-Chapelle des 13. Jh.s |▶ 25|, noch einmal deutlich an Monumentalität und Transparenz übertrifft, wie das gerade der kaum an Kompliziertheit zu steigernde 7 / 14-Chorschluss zeigt. Wie in Paris bestand die Aufgabe erneut zu einem Gutteil in der Aufnahme und angemesse-
79 □ 44 Aachen, Pfalzkapelle, Innenansicht, Ende 8. Jh., Wandverkleidung frühes 20. Jh.
nen Präsentation des hier vereinigten Reliquienschatzes, nicht zuletzt derjenigen Karls des Großen selbst. Aber auch noch in nachmittelalterlichen Zeiten scheint dieser Bau nichts an Anziehungskraft verloren zu haben, wie das der Raub der antiken Säulen des Oktogons (□ 44) durch Napoleon und deren Verbringung nach Paris im späten 18. Jh. sowie die umfangreiche Restaurierung unter Kaiser Wilhelm II. im frühen 20. Jh. zeigen, die das heutige, den alten Zustand frei rekonstruierende Erscheinungsbild nachhaltig prägen: War bis dahin nur das einfache Mauerwerk des mittelalterlichen Baus erhalten, so wurde dieses nun mit Marmorverkleidungen und Mosaiken versehen. Wie ein gewaltiger Solitär markiert die Pfalzkapelle den Anfang einer sich fortan deutlich intensivierenden europäischen Bautätigkeit, die bald schon und erstmals seit langem wieder alle unterschiedlichen Gebiete des Kontinents mit einschließen sollte. Schnell zeigt sich, dass die Pfalzanlage und Kapelle mehr als die meisten der im weiteren in diesem Band vorgestellten Bauten Bezug auf Älteres nimmt. Bereits im einleitenden Kapitel zur Karolingerzeit ist ausführlich darauf hingewiesen worden, in welchem Umfang Karl der Große als 800 in Rom vom Papst zum ersten nachantiken Kaiser Gekrönter bemüht war, sich als Nachfolger der römischen Kaiser und als legitimer Herrscher über deren nun größerenteils wiederhergestellten Reich zu präsentieren. Dabei griff er sogar auf bis dahin lange Zeit nicht mehr angewandte oder zumindest nicht mehr nachweisbare Techniken wie den Bronzeguss zurück, wie das die verschiedenen in diesem Material ausgeführten Arbeiten an der Pfalzkapelle wie Tore, Gitter, Basen oder z. B. der Pinienzapfen zeigen. Darüber hinaus fanden ganz konkret antike Skulpturen (etwa die sog. Lupa, der Reliefsarkophag oder die bronzene Reiter-
statue) und Bauteile (sog. Spolien) in Gestalt der Marmorsäulen Wiederverwendung. In seiner um 820 verfassten „Vita Karoli Magni“ vermerkt Karls Biograph Einhard: ‚Da er die Säulen und den Marmor für die Kirchen anderswo nicht bekommen konnte, ließ er sie aus Rom und Ravenna herbeischaffen‘ (MGH, Scriptores Rerum Germanicarum 1911, S. 301). Papst Hadrian II. erlaubte 781 / 791 Karl dem Großen sogar explizit, Mosaik und Marmor aus dem Palast in Ravenna zu entnehmen; dass ihr Bestimmungsort Aachen war, darf vermutet werden (Binding 1998). Qualität und Materia lität der Bauteile folgten dabei sicherlich weniger ästhetischen Gesichtspunkten, sondern waren unzweifelhaft Ausdruck eines dezidierten Anspruchs, der mit den vor Ort in Aachen gegebenen Möglichkeiten aus verschiedenen Gründen kaum einzulösen war. Denn es sollte sich bei der Pfalzanlage um ein „in Teilstücken
Die Pfalzkapelle in Aachen
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transferiertes Rom“ handeln (Bandmann 1951, S. 145). Es ist deswegen umso bemerkenswerter, dass sich das für die Kapelle selbst gewählte Bauprogramm weit weniger klar auf die Antike zurückführen lässt. Es handelt sich um einen polygonalen Zentralbau, dessen Außenmauern ein Sechzehneck ausbilden, während im Inneren die Hochschiffswände auf einem Oktogon ruhen. Zwischen Außenwand und den inneren Arkaden vermittelt ein zweigeschossiger, kreuzgratgewölbter Umgang, der mittels Einfügung entsprechender dreieckiger Gewölbefelder gekonnt von der reicheren äußeren zur einfacheren inneren Polygonform überleitet. Eine deutliche Ost-West-Orientierung erhielt der Bau durch einen ehemals kleinen rechteckigen Chor, den man im 14. Jh. durch genannten Glasbau ersetzte und stark erweiterte, sowie durch den heute noch existierenden, von zwei Treppentürmen erschlossenen, turmartig aufragenden Westbau auf ebenfalls rechteckigem Grundriss. Der Aufriss ist dreigeschossig, wobei die Detailgliederung eher den Eindruck von Viergeschossigkeit erweckt. Die Wand ruht auf vergleichsweise massiven, abgewinkelten Pfeilern, über denen nach einer Kämpferplatte Segmentbogen ansetzen: eine Gliederung, die nach einem massiven Gesims im darüberliegenden Emporengeschoss noch einmal auftritt, wobei die Pfeiler hier nun hochaufschießende gestelzte Bogen tragen. In die jeweiligen Öffnungen eingefügt ist eine gitterartige Struktur, die – mehr ihrer Untergliederung denn der statischen Sicherheit dienend – in der unteren Hälfte drei kleine Arkaden und in der oberen, nach einer architravartigen Zone, zwei einfache Säulen aufweist, die dort recht unvermittelt an die abschließenden Bogen anstoßen. Es folgen die acht einfachen Obergadenfenster des tambourartig den Bau überragenden, von einem reichen achtteiligen Gewölbe abgeschlossenen Kernbereichs. Ohne dass der Bau dabei immer genaue Reproduktion gefunden hätte, scheint die Pfalz-
III. Schlüsselwerke
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kapelle der Ausgangspunkt des im Mittelalter ausnehmend beliebten und immer wieder variierten Typus der zweigeschossigen Palast- oder Herrscherkapelle gewesen zu sein. Dabei gibt es klare Hinweise auf die unterschiedliche Nutzung der beiden Geschosse, findet sich doch an prominenter Stelle an der Westseite des Emporengeschosses eine bemerkenswerte marmorne Thronanlage, auf der seit dem hohen Mittelalter der König nach der Krönungszeremonie Platz nahm. Dass dies auch ansonsten der dem Herrscher vorbehaltene Bereich war, ist kaum zu bezweifeln. So einzigartig die Pfalzkapelle mit ihrer Größe und Anlage damals nördlich der Alpen fraglos war, sollte man nicht übersehen, dass gerade die frühchristliche Architektur eine ganze Reihe von prägnanten monumentalen Zentralbauten aufweist. Zu nennen wären hier verschiedenste Anlagen aus dem 4. und 5. Jh., wie S. Lorenzo in Mailand (kurz vor 378), S. Costanza (ca. 350) und S. Stefano Rotondo (468 – 483) in Rom oder aber schließlich die Anastasis-Rotunde (um 336) der Jerusalemer Grabeskirche (vgl. □ 47; Krautheimer 41986). Es sind allerdings weniger diese tatsächlich antiken Bauten als vielmehr solche, die bis in das 6. Jh. im Byzantinischen Reich entstanden waren, zu denen die Aachener Pfalzkapelle deutlichere Bezüge aufweist. Bekanntermaßen gehörten zu diesem im ersten Jahrtausend auch Teile Italiens, nicht zuletzt das in Oberitalien an der Adria gelegene Ravenna. Hier findet sich mit S. Vitale (532 – 546; □ vgl. 18) auch der Bau, mit dem Aachen zweifelsohne die meisten Gemeinsamkeiten überhaupt besitzt: Der Grundriss der Außenmauer ist hier oktogonal, während die Pfeiler innen zwar ebenfalls auf einem solchen angeordnet sind, diese nun aber durch exedrenartig zurückschwingende Wandpartien miteinander verbunden werden. Aachen durchaus verwandt ist der zweigeschossige Aufriss mit Empore, ebenso die Dreierarkaden zwischen den Pfeilern. Anders als in Aachen sind sie nun aber nicht
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nur im Ober-, sondern auch im Erdgeschoss zu finden. Vergleichbar ist zudem das ehemals dem Bau vorgelagerte Atrium. Bemerkenswert erscheint bei einer derartigen direkten Verbindung – die ja angesichts des dokumentarisch überlieferten Bezugs von Teilen der Spolien aus Ravenna nicht unwahrscheinlich ist –, dass es sich bei S. Vitale nicht um die Kapelle einer Residenz, sondern um eine ‚normale‘ Kirche handelt. Gleiches gilt für die ebenfalls mit Aachen in Verbindung gebrachte Sergios-und-Bacchos-Kirche in Konstantinopel (527 – 536), zu
der allerdings noch mehr formale Unterschiede bestehen als zu S. Vitale in Ravenna. Mitunter ist deswegen auch vermutet worden, dass es weniger diese Sakralbauten waren, die Karl hatte zitiert wissen wollen: Vielmehr seien sie lediglich Abbilder zu heute nicht mehr erhaltenen, damals in Byzanz errichteten Bauten des kaiserlichen Palasts, die sich aus den Schriften jedoch nur sehr ungenau rekonstruieren lassen. Immerhin scheinen die Ähnlichkeiten über den runden Grundriss hinausgegangen zu sein (Krautheimer 1986, S. 77).
Das Erbe der Antike und die Anfänge christlicher Baukunst
B
ereits das Beispiel der Aachener Pfalzkapelle |▶ 1| macht deutlich, dass der Beginn der nachantiken Monumentalarchitektur keinen gänzlichen Neustart darstellte – und das trotz einer doch beachtlich langen Unterbrechung von einigen 100 Jahren, in denen nur in eingeschränktem Umfang großformatig gebaut wurde, zumindest im Vergleich zu den dereinst bewältigten Bauvolumina. In der Tat sollte vieles, was in den nachfolgenden Jahrhunderten im Mittelalter in Zusammenhang mit christlicher Architektur – gerade im Bereich der Sakralbaukunst – entstand, letztlich immer noch auf den Entwicklungen antiker und dabei v. a. römischer Architektur fußen.
Eines der verbreitetsten und frühesten Phänomene einer solchen Rezeption bzw. Übernahme ist die unmittelbare, physische Wiederverwendung von älteren Bauteilen, sog. Spolien – wie das ja auch in Aachen der Fall war |▶ 1, 9, 15| –, egal, ob es sich dabei nun um Säulenschäfte, Kapitelle, Gesimse oder andere bearbeitete Architekturelemente handelte. Die Wiederverwendung musste allerdings nicht immer einen solch inhalts- und beziehungsreichen Hintergrund aufweisen wie bei der Pfalzkapel-
le, sondern konnte auch recht simple Motive haben: zum einen schlicht fehlende eigene Kapazitäten, zum anderen die Zeitersparnis und schließlich die Wertschätzung der bildhauerischen Qualität oder des verwendeten, oft sehr kostbaren Materials der Stücke, das die Römer mitunter aus weit entlegenen Regionen importiert hatten. Auf lange Sicht sollten sich allerdings weniger direkte ‚substantielle‘ Übernahmen als erheblich wichtiger erweisen: nämlich die Adaption bestimmter Formerfindungen oder Architekturkonzepte, die weiterhin die Architektur des Abendlandes bestimmten. Das konnte technische Lösungen betreffen, etwa im Bereich der Wölbung; das konnte sich aber auch wieder auf Detailformen beziehen, die es das gesamte Mittelalter hindurch anhand verbliebener antiker Monumente zu studieren gab: Neben den zahlreichen antiken Überresten in Italien sind hier v. a. die römischen Stadt- und Triumphtore wie etwa in Reims, Orange oder Autun zu nennen, deren Architektur u. a. in Cluny III|▶ 12| und verwandten burgundischen Bauten des frühen 12. Jh.s Rezeption fanden (□ vgl. 24). Die grundsätzlich wichtigste Übernahme ist in diesem Zu-
Das Erbe der Antike und die Anfänge christlicher Baukunst
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□ 45 Martino Ferabosco: Rom, Alt-St. Peter, ca. 324 – 60, ab 1506 für Neubau abgerissen, Innenansicht; aus: „Libro de l’architettura di San Pietro nel Vaticano“, Rom 1620
sammenhang aber sicherlich jene, die das gesamte Mittelalter hindurch und noch darüber hinaus das Bild der abendländischen Sakralbaukunst bestimmte: der Typus der bereits in der griechischen Antike bekannten Basilika (von griechisch: basilike stoa, Königshalle). Für die Römer selbst stellte dieser Begriff ursprünglich nicht mehr als eine Bezeichnung für einen zentralen Versammlungsort dar. In unserem Zusammenhang ist damit jedoch jene zunächst in Verbindung mit verschiedensten profanen Bauvorhaben auftretende Lösung einer drei oder noch mehr Schiffe umfassenden, in der Höhe gestaffelten Anlage gemeint, bei der das von Obergadenfenstern beleuchtete Mittelschiff jeweils über die seitlichen, niedrigeren Bereiche hinausragt. Es konnte sich dabei ebenso um Markthallen handeln wie um Gerichtsgebäude, Empfangshallen etc., aber auch um Thronsäle. Die Metzer Benediktinerinnenkirche St-Pierre-aux-Nonnains ist ein gutes Beispiel dafür, wie man anfänglich derartige Profanbauten ganz unmittelbar und mit nur wenigen Umbaumaßnahmen einer nun sakralen Nutzung zuführte (hier im 7. Jh. Umnutzung eines Profangebäudes des 4. Jh.s). Nicht zuletzt die oft monumentalen frühchristlichen Basiliken in Rom – zu nennen sind v. a. die fünfschiffigen, von
III. Schlüsselwerke
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offenen Dachstühlen überfangenen Anlagen von Alt-St. Peter (Weihe 326; Länge: 122 m, Breite: 66 m, Querhaus: 90 m Länge; □ 45), S. Paolo fuori le mura (spätes 4. Jh.; heute Rekonstruktion des frühen 19. Jh.s) oder der Lateransbasilika (313 – 317) – ließen dies geradezu zur Standardlösung für die christliche Sakralbaukunst werden (Krautheimer 4 1986). Festgeschrieben waren mit ihnen auch weitere in der Folge bedeutungsvolle Eigenheiten wie das Querhaus, das vorgelagerte Atrium mit einer eigenen Vorhalle oder aber schließlich der spätere aufwändige Choranlagen vorwegnehmende Abschluss in Gestalt einer Apsis. Diese Lösung, eine Seite der Längsachse mit einer halbkreisförmigen, von einer Halbkuppel überwölbten Apsis abzuschließen, ist dabei antiker Palastarchitektur abgeschaut. Dort markiert und betont sie den Platz des Herrschers, während sie in Alt-St. Peter z. B. der Ort der Reliquien des Apostelfürsten Petrus im Apsisscheitel und des Hauptaltars am Apsisansatz war (vgl. v. Engelberg 2013, Abb. 87). Ein schlagendes Beispiel für diese Vermischung von ‚profan‘ und ‚sakral‘ ist die Anfang des 4. Jh.s für Kaiser Konstantin in Trier als Palasthalle errichtete Aula Nova (□ 46), die bezeichnenderweise im 19. Jh. – nach jahrhundertelanger Nutzung als
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Königspfalz und Bischofsresidenz – problemlos zu einem Sakralbau umgewidmet werden konnte. Bereits in dieser Frühphase des Christentums festgeschrieben war schließlich auch die Eigenheit, den TheChor einer Kirche nach Osten auszurichten ( menblock · Liturgie und Kirchenausstattung, S. 195), wobei hierfür – wie nicht zuletzt das gewestete AltSt. Peter selbst oder aber spätere doppelchörige Anlagen zeigen – eine ganze Reihe bedeutender Ausnahmen zu benennen sind. Aus schriftlichen Quellen wissen wir, dass es in den verschiedenen Regionen des Römischen Reiches spätestens im 3. Jh. christliche Kultgebäude – ‚Tempel der Christen‘ oder ‚Haus Gottes‘ genannt – gab, die ausschließlich dem Gottesdienst dienten. Die Situation gegen Ende des 3. Jh.s beschreibt Eusebius in seiner Kirchengeschichte: ‚Wer gar vermöchte zu schildern jene tausendköpfigen Versammlungen und die Mengen derer, die Stadt für Stadt zusammentraten, und die herrlichen Zusammenkünfte in den Bethäusern? Da infolge hiervon die alten Gebäude nicht mehr genügten, erbaute man in allen Städten neue und geräumige Kirchen.‘ (Schwarz 1989, S. 14.) Durch-
aus beabsichtigt wurde mit den in Eusebius’ Text wohl angesprochenen frühen basilikalen Anlagen der Fokus gänzlich anders gesetzt als bei den bis dahin üblichen baulichen Lösungen zur Verehrung einer Gottheit. Neben der recht einfachen Gewinnung von großen Raumeinheiten scheint für die Wahl des Typus B asilika auch der Umstand gewesen zu sein, dass er sozusagen ‚unbelastet‘ war, d. h. bis dahin noch keine religiöse Konnotierung besaß. Zwar gab es mit den antiken Tempeln natürlich auch schon zuvor sakral genutzte Einzelbauten, doch waren diese Gebäude eher als Behausung des jeweiligen Kultbildes gedacht, nicht aber für die gleichzeitige Versammlung der Gläubigen im Rahmen des K ultes; die eigentliche Verehrung der betreffenden Gottheit durch Opfergaben etc. fand hier in unmittelbarer Nähe im Freien statt. Entsprechend war auch die Wirkung des Tempels mit seinen klassischen Säulenordnungen und plastischem Giebelschmuck viel stärker nach außen gerichtet – ganz im Gegensatz zu dem ausnehmend bescheidenen Äußeren der frühchrist lichen Basiliken, deren Prunk sich erst im Inneren mit ihren Mosaikdekorationen, kostbaren Materialien etc. entfaltete.
□ 46 Trier, Palastaula, Ansicht von Norden, 305 – 12
Das Erbe der Antike und die Anfänge christlicher Baukunst
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Mit einem Bau wie Alt-St. Peter wurden noch weitere wichtige Erfindungen antiker Baukunst tradiert bzw. Vorgaben für die nachfolgende Baukunst gemacht. Dazu gehört die Verwendung der beiden Grundlösungen für Säulenstellungen oder anderer tragender Stützglieder wie Pfeiler: So sind in Alt-St. Peter (□ vgl. 45) die beiden äußeren Seitenschiffe durch Arkaden (Bogen, die auf Säulen o. Ä. ruhen) voneinander getrennt, das innere Seitenschiff vom Mittelschiff dagegen von – statisch weniger belastbaren – Kolonnaden (Säulen oder andere Stützglieder, die einen Architrav tragen; □ vgl. 5). Nicht minder folgenreich sollte natürlich die in Griechenland in unterschiedlichen Epochen erfolgte Erfindung der einzelnen Säulenordnungen sein, die erst der Römer Vitruv im 1. Jh. v. Chr. in die klare, für die nachfolgende europäische Architektur bis weit in das 19. Jh. gültige bzw. bedeutende Abfolge und Hierarchie fasste. Nach den griechischen Hauptstämmen bzw. einer Stadt werden sie ‚dorisch‘, ‚ionisch‘ und ‚korinthisch‘ (spätes 5. / frühes 4. Jh. v. Chr.) sowie – als der erst in römischer Architektur auftretenden Vermischung von ionisch und korinthisch – ‚komposit’ genannt (vgl. v. Engelberg 2013, S. 98 – 100). Von Bedeutung ist für das Mittelalter v. a. die korinthische Ordnung mit ihrem kelchförmigen, von Akanthusblättern verzierten Kapitell, dessen vier Ecken am oberen Abschluss durch vier Voluten Betonung finden. In mehr oder weniger verballhornter Form taucht es seit der Karolingerzeit und das ganze Mittelalter hindurch immer wieder auf – egal, ob bei romanischen Kapitellen sogar noch mit den die Ecken des Kalathos betonenden Voluten (vgl. die figuralen Kapitelle in den Kreuzgängen von Moissac, Arles etc.) oder aber in gotischen Versionen, bei denen oft das Akanthusblattwerk an Dominanz gewonnen hat. Zumeist lassen sich hier nur mehr vage Anklänge an die antiken Vorgänger finden. Dass diese bewusst oder unbewusst immer noch von Relevanz waren, zeigt nicht zuletzt der allgemeine Aufbau von Stützelementen, egal ob Säule, Pfeiler
III. Schlüsselwerke
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oder welcher anderen Art auch immer. All diese Elemente verfügen zumeist weiterhin über eine Basis, einen Schaft oder ein vergleichbares Element sowie ein – im Detail mitunter auch ganz andere Formen annehmendes – Kapitell (vgl. Korb- oder Würfelkapitelle in byzantinischer oder romanischer Baukunst). Ihm folgt als vermittelnde Zone zur auflagernden Last (Wand, Gewölbe) in der Regel ein Abakus: eine rechteckige Deckplatte, an deren Stelle seit der frühchristlich-byzantinischen Baukunst auch massivere Elemente, sog. Kämpfer, treten konnten. Zumeist handelt es sich bei ihnen um würfelähnliche Aufsätze, deren Gestaltung sie als verkümmerter Rest eines Gebälks zu erkennen geben. Einen derartigen Aufbau besitzen selbst solche nur mehr geringfügig an tatsächliche Säulen erinnernde Gebilde wie die langgestreckt dünnen Dienste gotischer Konstruktionen, die die mittelalterlichen Quellen im Übrigen nach wie vor als columnae – also als Säulen – bezeichnen. Den eigentlichen Ausgangspunkt für christliche Baukunst stellt die Amtszeit Kaiser Konstantins des Großen (gest. 337) dar, unter dem die christliche Religion nicht nur offiziell anerkannt wurde (Staatsreligion erst ab 381), sondern der auch eine ganze Fülle christlicher Großbauten in seinem Reich initiierte – zu einem Zeitpunkt, da kaum mehr als ein Drittel der römischen Bevölkerung dem Christentum zuzurechnen war. Zu ihnen gehören sowohl solche im Zentrum der Macht, in Rom, wie etwa der bereits angeführte Neubau von Alt-St. Peter, als auch solche, mit denen er besonders wichtige Stätten im Heiligen Land auszeichnen ließ. Als herausragende Beispiele zu nennen sind die Geburtskirche in Bethlehem (325 – 333, 560 – 603 durch einen Neubau ersetzt; |▶ 18| und die Grabeskirche in Jerusalem (324 – 353; □ 47), in der das Grab Christi ebenso wie der Ort seines Martyriums, Golgotha, Verehrung fanden (Krautheimer 41986). Gerade letztgenannter Bau erfuhr in verschiedener Form Rezeption, insbe-
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□ 47 Jerusalem, Grabeskirche, Grundriss,
sondere seine Anastasis-Rotunde, in deren Mitte sich das Grab Christi befindet und die eine der ganz frühen Vorformen des im Mittelalter dann so beliebten Umgangschores mit Radialkapellen darstellt. Schließlich konnten aber auch zu gänzlich anderen Zwecken errichtete antike Bauten nachträglich eine langandauernde Leitbildfunktion erhalten. Der bedeutendste Beleg hierfür ist das in der heutigen Form zwischen 118 und 125 unter Kaiser Hadrian als Tempel errichtete Pantheon in Rom (□ vgl. 10), der größte erhaltene antike Zentralbau auf kreisrundem Grundriss (Durchmesser und Höhe jew. ca. 43 m) mit einer einzigartig weit gespannten Wölbung. In christlicher Zeit, im frühen 7. Jh., wurde der Bau zu S. Maria ad Martyres (auch: S. Maria Rotonda) und damit zu einer der wichtigsten Marienkirchen der
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Stadt umgewidmet. Zwar konnte es sich angesichts der gewaltigen Dimensionen dabei jeweils kaum um eine wörtliche und maßstabsgetreue Übernahme handeln, doch muss sicherlich auffallen, dass im frühen und hohen Mittelalter eine beachtliche Zahl gerade an Marienkirchen nachweisbar ist, die als Zentralbauten ausgeführt wurden |▶ 21|. So mag selbst die in ihrer Zeit gänzlich ungewöhnliche Gestalt der um 1235 begonnenen gotischen Liebfrauenkirche in Trier (□ vgl. 33) noch auf solche Bezüge zurückführbar sein.
Die Klosterkirche Corvey Mythos ‚Westwerk‘
E
in zweiter bedeutender Bau, der sich neben Aachen aus der Karolingerzeit (8.–10. Jh.) erhalten hat, ist die im 9. Jh. entstandene Kirche der Benediktinerabtei Corvey. Das unweit eines wichtigen Weserübergangs bei Höxter gelegene Kloster bildete gemeinsam mit der Siedlung ein frühes Zentrum im gerade erst dem Karolingerreich einverleibten Sachsen. Angesichts des in den nachfolgenden Jahrhunderten gewandelten Raumbedarfs ist davon heute leider nicht mehr
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der gesamte, 840 begonnene und nach einem Brand 870 noch einmal von Grund auf neu errichtete Sakralbau erhalten, sondern nur noch der ab 873 ausgeführte Westabschluss (□ 48, 49). Zweifellos mehr als ein einfacher Turm, gibt er in seiner beeindruckenden Dimensionierung und Komplexität immer noch eine gute Vorstellung von karolingischer Baukunst. Die Auseinandersetzung mit ihm wäre allein schon aufgrund einer repräsentativen, goldgefassten
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Inschrift interessant, die sich auf einer großen Steinplatte – offensichtlich im Zweitversatz von einem anderen Klostergebäude übertragen – inmitten der Westfassade findet. Den Text eines liturgischen Stundengebets wiedergebend, heißt es in ihr: ‚Umgürte, o Herr, diese Stadt, und Deine Engel mögen ihre Mauern bewachen!‘ (CIVITATEM ISTAM / TU CIRCUMDA D[OMI]NE ET / ANGELI TUI CUSTO / DIANT MUROS EIUS). Ihre genaue Bedeutung ist umstritten: Grundsätzlich wäre es zwar möglich, die Aussagen direkt auf das Kloster als Bollwerk der karolingischen Landesherrschaft in der damaligen Grenzregion zu verstehen. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass es hier um eine eher abstrakte Interpretation des Klosters als Abbild des Himmlischen Jerusalems ( Themenblock · Liturgie und Kirchenausstattung, S. 195) ging. Nicht weniger interessant als die Inschrift ist die Frage, wie denn die monumentale Anlage, die hinsichtlich des Bauvolumens kaum hinter dem der zeitgleich ausgeführten eigentlichen Kirche zurückstand, ursprünglich genutzt wurde. Angesichts des letztlich doch fragmentarischen und damit reichlich Interpre-
tationsmöglichkeiten eröffnenden Erhaltungszustands ist eine eindeutige Beantwortung allerdings kaum mehr möglich. Zudem ist zu beachten, dass das heutige Erscheinungsbild zu Teilen auf Restaurierungen des 20. Jh.s beruht. Zur Erbauungszeit stellte Corvey eine der privilegiertesten und prominentesten Gründungen überhaupt dar. Als karolingischer Vorposten zur Kontrolle der gerade erst zugewonnenen Sachsenregion gedacht, geht sie auf zwei Cousins Karls des Großen zurück: auf Adalhard und Wala, die jeweils Abt des Mutterklosters im französischen Corbie gewesen waren und zugleich der Neugründung Corvey (von Nova Corbeia, dt. Neues Corbie) vorstanden (Adalhard: 781 – 814 u. 821 – 826 bzw. 822 – 826; Wala: 826 – 831). Sogar die ersten Mönche kamen aus Corbie. Das hinderte Corvey allerdings nicht daran – maßgeblich unterstützt von Kaiser Ludwig dem Frommen (reg. 813 – 840) und dessen Nachfolgern –, schnell die vollkommene Unabhängigkeit vom Mutterkloster anzustreben (Kat. Karolinger [2] 1999, S. 558). Auch erhielt Corvey bald das Privileg
□ 48 Corvey, Benediktinerabtei, Schnitte und Grundrisse des Westbaus, ab 873 (l.: von Osten; M.: Grundriss; r.: von Süden; unten: Grundriss des gesamten karolingischen Kirchenbaus)
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87 □ 49 Corvey, Benediktinerabtei, Innenansicht des Obergeschosses des Westbaus mit sog. ‚Kaiser empore‘, ab 873
einer Reichsabtei, unterstand also fortan dem direkten Schutz des Kaisers. Im Verbund mit bedeutenden Reliquienschenkungen stellte das die Basis für den rasanten Aufstieg zu einem geistigen, kulturellen wie wirtschaftlichen Mittelpunkt der Region dar. Ablesbar wird das etwa an der beachtlichen Zahl von Bischöfen, deren geistliche Karriere damals in Corvey begann, aber auch an der Bibliothek, die das Kloster zweifellos als einen der wichtigsten Mittler westfränkischer Kultur in den neuen sächsischen Gebieten ausweist. Der Westabschluss der Benediktinerkirche wirkt heute zunächst wie ein frühes Beispiel einer konventionellen Zweiturmfassade beachtlichen Ausmaßes: strukturiert von Fenstern und drei Portalöffnungen sowie einer etwas herausgezogenen Mittelachse, die kurz vor dem obersten Viertel in eine Verdachung ausläuft. Das ursprüngliche Erscheinungsbild war erheblich vielgestaltiger, erweisen sich doch die beiden Turmaufbauten und die beiden zwischen ihnen befindlichen Galeriegeschosse als spätere, erst im 12. Jh. entstandene Bauteile (Kat. Karolinger [2] 1999, S. 568). Demgegenüber hatte man anfänglich noch einen ungehinderten Blick auf einen großen zentralen Turm, der etwas nach Osten zurückgesetzt genau den Raum zwischen den damals deutlich niedrigeren Seitentürmen einnahm. Der Corveyer Westbau ist auf einem großzügig dimensionierten, quadratischen Grundriss errichtet. Den Grabungsbefunden zufolge schlossen sich ihm im Osten mit dem zweiten Neubau von 870 eine dreischiffige Basilika mit Querhaus (jeder Flügel mit einer kleinen Apsis) sowie ein langgestreckter Chor mit halbrunder Apsis an. Um ihn herum lief unterirdisch eine Außenkrypta |▶ 4|, die an der Nord- und der Südseite in zwei Gängen mit rechteckigem
Abschluss endete. In der Mitte, direkt hinter der Hauptapsis des Chores, bildete sie demgegenüber einen abgetrennten Raum mit kreuzförmigem Grundriss aus. Doch sogar über das Aussehen des Ursprungsbaus können relativ genaue Angaben gemacht werden: Den archäologischen Grabungen zufolge besaß er im Westen ein weit ausladendes Atrium ( □ vgl. 48), das einen frei stehenden Torbau – den Vorgänger des heutigen Westbaus – und als Abschluss auf der gegenüberliegenden Seite einen rechteckigen Chor aufwies. Ihm schloss sich eine Stollenkrypta an, die in einer kleinen, aber kostbar ausgestatteten doppelgeschossigen Achskapelle mit Apsis endete. Im heutigen Zustand gelangt man über eine in der Mitte des Westbaus befindliche Vorhalle
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in die zentrale Halle, die Quellen schon früh als „Krypta“ bezeichnen. Von unterschiedlich ausgeformten Pfeilern umstellt, ruhen die Kreuzgratgewölbe ihrer zentralen neun Joche (3 × 3) auf Säulen mit vereinfachten korinthischen Kapitellen und auffallend großer, gebälkartiger Kämpferzone. Offensichtlich versuchte man mit ihr, die starke Stelzung der Gewölbe etwas zu kaschieren. An der Nord- und Südseite wird dieser Bereich von einem Seitenschiff mit etwas größeren, ursprünglich flach gedeckten Jochen gerahmt. Demgegenüber stellt er an der Ostseite, wo er nun geschossübergreifend bis zum Dachstuhl reicht, eine vermittelnde Zone zwischen Westbau und anschließendem Langhaus dar: Mit einem großen Bogen öffnet er sich im Osten zum Mittelschiff, während an der Westseite die Wand auf allen Ebenen von großen Bogen durchbrochen ist. In den beiden Ecktürmen gelegene, vergleichsweise großzügige Treppen führen in das erste Obergeschoss der Turmanlage, dessen Grundrissgliederung dem des Erdgeschosses entspricht. Zumindest der zentrale Raum nimmt nun geschossübergreifend die gesamte Höhe des Mittelturmes ein. In der Tat mag er vor seiner Verkürzung bis in das oberste Geschoss hochgelaufen sein. Vielleicht gab es aber auch von Anfang an einen in der heutigen Form bereits tiefer ansetzenden Abschluss durch eine Holzdecke, so dass darüber ein letztlich funktionsloses Geschoss entstanden wäre. Seine Aufgabe hätte dann allein in der mit beiden Flankentürmen abgestimmten Außen- und Fernwirkung gelegen. Ein wenig an Aachen erinnernd, wird das unterste Geschoss des höhergelegenen Zen tralraums von einfachen, auf schlichten Pfeilern ruhenden Bogen gerahmt (□ vgl. 49). Demgegenüber treten in seinem Emporengeschoss vergleichsweise fein gearbeitete Biforien auf, die im 20. Jh. rekonstruiert wurden. Der Raum wird in allen zwei Geschossen zu drei Seiten durch umgangartige, ursprünglich durchgehend kreuzgratgewölbte Anräume gerahmt.
III. Schlüsselwerke
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Die Wirkung des Raumes muss erheblich reicher gewesen sein als heute: dank lebensgroßer figürlicher Stuckreliefs, die dem Befund nach zwischen den Arkaden ausgearbeitet waren, v. a. aber dank einer differenzierten farbigen Fassung. So waren die Pfeiler rot gestrichen, während die Biforien zusätzlich rahmende, aufgemalte Säulchen besaßen. Reich verziert mit verschiedenen Dekorformen, wie geometrischen Mustern, Bändern und Akan thusranken, präsentierten sich die von ihnen ‚getragenen‘ Bogen und Bogenfelder. Gleiches gilt für die Arkaden im ersten Obergeschoss. In der Tat zeigen Farbspuren, dass ursprünglich selbst die Grate der Gewölbe mit stilisierten Blattformen Hervorhebung erfuhren; partiell lassen sich sogar noch figürliche – und bemerkenswert unchristliche – Darstellungen finden, wie etwa im Westraum der Kampf des Odysseus mit dem Meeresungeheuer Skylla. Gern hat man die Nutzung dieses ungewöhn lichen, hochgelegenen, in spätmittelalterlichen Quellen im Übrigen als Johanniskapelle bezeichneten Raums in Zusammenhang mit Corveys Status einer Reichsabtei und der daraus resultierenden engen Verbindung zum König bzw. Kaiser sehen wollen. So sei er – dies die gängigste Interpretation – bei Besuchen dem Herrscher und seinem Hofstaat vorbehalten gewesen. Eine derartige Interpretation basierte v. a. auf der Aachener Hofkapelle, wo sich in grundsätzlich ähnlicher Weise ein von einer Empore gerahmter Zentralraum finden lässt. Wie dort wurde auf der Empore in Corvey ebenfalls der Thron des Herrschers vermutet. Damit besäße man auch eine schlüssige Erklärung für die allein hier anstelle der Biforien zu findende größere Bogenöffnung und einer ebensolchen auf der Westseite, hinter der sich nun eine Nische öffnet: der Grund für die herausgehobene Mittelachse an der Westfassade. Tatsächlich ist – dank der transparenten Bogenarchitektur an der Ostwand und des an dieser Stelle fehlenden Umgangs – ein freier Blick auf den Chor
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gegeben. Problemlos hätte also der dort sitzende Herrscher, ohne seine privilegierte Position verlassen zu müssen, am Geschehen im weiter östlich gelegenen, eigentlichen Kirchenbereich teilnehmen können. Leider gibt es auch für diese Erklärung, so stimmig sie erscheinen mag, keine Belege, insbesondere nicht in Zusammenhang mit Kaiserbesuchen. Ein bedenkenswerter ergänzender Aspekt erscheint im Übrigen, dass es sich ähnlich wie bei den großen Kaisersälen der barocken Reichsabteien (v. Engelberg 2013) auch beim Corveyer Westbau um eine Anlage handeln könnte, bei der es v. a. darum ging, die privilegierte, reichsunmittelbare Stellung des Klosters hervorzuheben, ungeachtet dessen, ob die Räumlichkeiten jemals von einem Kaiser in der vorgeschlagenen Weise genutzt wurden oder nicht (Suckale 1998, S. 33). Ein genaueres Eingehen auf die recht uneindeutige Befundlage ist an dieser Stelle insofern wichtig, als Corvey seit dem frühen 20. Jh. in der Forschung gerne als einzig erhaltenes Beispiel einer angeblich ehemals weit verbreiteten Lösung bzw. eines Bautypus angesehen wurde (Effmann / Fuchs 1929): des sog. „Westwerks“; ein – wie nicht selten in der Kunstgeschichte – ahistorischer Begriff (v. Schönfeld de Reyes 1999, S. 73). In Ermangelung erhaltener Beispiele wurde Corvey dabei als das Endstadium einer umfassenden Entwicklung interpretiert: Vorangegangen seien so wichtige Bauten wie die zerstörte Abteikirche im picardischen Centula (heute: St-Riquier; Weihe: 799), die anhand von Schriftquellen und einer späteren Zeichnung allerdings nur in Ansätzen rekonstruierbar ist, sowie der Westbau des karolingischen Vorgängers der Reimser Kathedrale (Kat. Karolinger [2] 1999, S. 568). Im näheren Umfeld von Corvey zog man demgegenüber den Westbau des Halberstädter Doms (ebenfalls 9. Jh.) zum Vergleich heran, als potentielle Nachfolger dann u. a. Werden und Minden. Die Interpretation derartiger Westbauten als exklusiv einem Herrscher – quasi in der Funktion
einer eigenständigen Hofkirche – vorbehaltene Kirchenräume wird heute eher als Fiktion angesehen (v. Schönfeld de Reyes 1999, S. 111). Alternative, allerdings ebenso wenig belegbare, Deutungsansätze sind, ihnen eine liturgische Sonderfunktion als Ort einer besonderen Salvator- oder Heiligenverehrung zuzuweisen oder sie als eine Art multifunktionale Ersatzanlage eines Westchors zu interpretieren (Kat. Karolinger [2] 1999, S. 570, 631 f.; Kat. Otto [2] 2001, S. 270; |▶ 4|). Nicht bis ins Letzte geklärt erscheint schließlich das Verhältnis solcher vermeintlichen ‚Westwerke‘ mit etwas späteren, teilweise kaum weniger gewaltigen Anlagen, die sich in unterschiedlichen Varianten zu Anfang des 2. Jahrtausends als Westabschluss u. a. am Paderborner Dom (um 1000), in Gernrode (□ vgl. 14), in Neuenheerse, in Freckenhorst (v. Schönfeld de Reyes 1999, S. 112) oder etwa am ottonischen Vorgängerbau der Metzer Kathedrale finden lassen, die ebenfalls oft mit dem Kircheninneren kommunizier(t)en. Wie in Jumièges (1040 – 67; □ vgl. 24) mag es sich dabei um Weiterentwicklungen des ursprünglichen Konzepts handeln, das – im Fall dieser normannischen Abteikirche – dann wenig später, vermittelt über Bauten wie Ste-Trinité in Caen |▶ 16|, allgemeine Verbreitung in der gotischen Architektur erfahren sollte (Stalley 1999, S. 52 f.), allerdings nun in Gestalt monumentaler, zumeist reich mit Skulptur ausgestatteter Westfassaden |▶ 30|. Allerdings bedarf auch diese Sichtweise im Detail noch stärkerer Differenzierung (v. Schönfeld de Reyes 1999). Kurz: Man hat es hier mit einem geradezu klassischen Fallbeispiel zu tun, dass griffige Lösungsmodelle, die die ältere Forschung entwickelt hatte und die sich im Laufe der Jahrzehnte immer mehr zu Tatsachen verfestigten, einer Überprüfung nur noch eingeschränkt standhalten, ohne dass es – v. a. in Anbetracht der schlechten Quellenlage – möglich wäre, ad hoc eindeutige Alternativen zu benennen (Krüger 2006).
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Das Lips-Kloster in Istanbul Die Kreuzkuppelkirche
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ie sieht – mehr oder weniger zeitgleich zu Aachen und Corvey – die Sakralarchitektur im Bereich der Ostkirche, d. h. in Byzanz, aus? Zwar unterschied sich der Sakralbau anfänglich nicht markant von den restlichen Gebieten des Römischen Reiches bzw. des Abendlandes, doch sollte sich im Laufe einer längeren Entwicklungsphase ein anderer Typ als Leitbild der orthodoxen Kirche herauskristallisieren: nicht mehr jener der longitudinalen Basilika, sondern jener der gänzlich anders strukturierten Kreuzkuppelkirche (Krautheimer 1965, S. 514, Nr. 3; Ousterhout 1999, S. 15 f.), die in viel stärkerem Maße Eigenschaften eines Zentralbaus aufweist. Die Frage nach den für ihn relevanten Vorbildern ist immer noch nicht abschließend geklärt; hier werden recht unterschiedliche Quellen ins Feld geführt, u. a. kleine kreuzförmige Kuppelkirchen, wie die Hosios David in Thessaloniki (5. Jh.), oder aber monumentale frühe Zentralbauten wie die Hagia Sophia (6. Jh.; □ vgl. 19), als deren verkleinerte Version man die späteren, bescheidener dimensionierten Kreuzkuppelkirchen ansehen wollte (Lange 1986). Außer Frage steht demgegenüber, dass der Typus in seiner Reinform spätestens im 9. Jh. vorlag. Das früheste erhaltene Beispiel einer Kreuzkuppelkirche im klassischen Sinne ist die Nordkirche des Lips-Klosters in Istanbul (□ 50; Brunow 1926, S. 217 – 236; Macridy 1964, Megaw 1964, Krautheimer 41986, S. 358 – 361). Als Stiftung eines hohen Beamten des byzantinischen Kaisers, des namensgebenden Konstantinos Lips, hatte man sie um 900 begonnen und um 907 geweiht. Zwischen 1288 und 1304 wurde im Auftrag Kaiserin Theodoras die Anlage im Süden durch eine zweite Kirche, die als
III. Schlüsselwerke
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Grablege diente, sowie durch eine gemeinsame Vorhalle erweitert (Mathews 1976, S. 322). Mit dieser frühen Datierung darf die in alternierenden Schichten aus Ziegel- und Haustein errichtete Nordkirche des Lips-Klosters geradezu als Schlüsselbau der byzantinischen Architektur gelten: Wie bei einer Kreuzkuppelkirche üblich, findet sich an zentraler Stelle der größte überwölbte Bereich. Seine Kuppelkonstruktion – einschließlich des frei über das restliche Dach aufragenden tambourartigen Aufbaus, in dem sie geborgen war – ruhte im Fall des Lips-Klosters ehemals auf vier Säulen. Heute sind diese durch große Bogen ersetzt, die die vier Ecken miteinander verspannen. Von ihm gehen nach allen vier Seiten etwa halb so große Räume aus, die jeweils von einer großen Tonne überfangen werden. Es handelt sich hier also gleichsam um die einfachste, die Urform der Kreuzkuppelkirche: mit nur einer zentralen Kuppel, tonnengewölbten Kreuzarmen und in deren Ecken vier separaten und zumeist niedrigeren Räume unter kleinen Kuppeln oder Kreuzgratgewölben, die durch große Scheidbogen stärker abgetrennt werden. Über ihnen hat man im Fall der Nordkirche des Lips-Klosters mitunter eigene tambourartige Aufbauten in der Art jener heutigen über der Vierungskuppel, nur etwas kleinerer Dimensionierung, rekonstruiert. Dieser beliebte, in Varianten immer wieder reproduzierte Typus konnte in später entstandenen Beispielen zu Anlagen von bis zu fünf Kuppeln – drei Kuppeln in jeder Achse des Kreuzes – weiterentwickelt werden (|▶ 8|; □ vgl. 60). An der Nord- und der Südseite waren bei der Nordkirche des Lips-Klosters diese Arme nach außen hin ehemals durch eine fast vollständig durchbrochene Front abgeschlos-
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sen: unten drei auf schmalen Säulen ruhende, hochaufragende Bogen, die im Obergeschoss einen einzigen gewaltiger Dimensionierung tragen, dessen Binnenfläche – in der Art der Aachener Pfalzkapelle – von zwei eingestellten Säulchen untergliedert wird. Angesichts späterer Zerstörungen und Veränderungen ist das ursprüngliche Aussehen des restlichen Baus nicht mehr ganz so einfach zu rekonstruieren. Das trifft v. a. auf den vorgelagerten dreijochigen Narthex im Westen mit der rekonstruierten Empore zu, der die gesamte Breite des Gebäudes einnimmt und an den Seiten durch einen oder aber zwei Türme flankiert wurde. Seinen Abschluss fand der Bau im Osten ursprünglich in fünf unterschiedlich dimensio nierten, an der Außenseite polygonal gebrochenen Apsiden. Sie bilden allerdings nicht im eigentlichen Sinne eine Einheit. Schon auf dem Grundriss machen die beiden äußersten, nur noch teilweise erhaltenen Apsiden den Eindruck eigenständiger Kirchen oder Kapellen, die im Übrigen ursprünglich keine weitere Fortsetzung nach Westen über den zentralen Kuppelbereich hinaus fanden. Demgegenüber kommunizieren die beiden inneren Räume – interessante Vierkonchenräume, die von einer nicht weniger bemerkenswerten Gewölbekonstruktion überfangen werden – jeweils durch eine seitliche Öffnung mit dem zentralen Chorbereich vor der Hauptapsis. Gleichwohl sind auch sie eher als eigenständige Räume zu lesen, sind sie doch nur über relativ kleine Öffnungen und nicht in ihrer gesamten Höhe mit den benachbarten Bereichen verbunden: Das Bema, d. h. den eigentlichen Altarraum, flankierend, handelt es sich hier in beiden Fällen um eine sog. Prothesis, die der Vorbereitung der Opfergaben diente. Lediglich an der Außenseite ergeben die verschieden dimensionierten Baukörper der einzelnen Apsiden eine imposante, einheitlich wirkende Gesamtansicht. Dabei sorgt der rhythmische Wechsel der Durchfensterung für eine deutliche Belebung der Fassade: Findet
□ 50 Istanbul, Fenari Isa Camii/Lips-Kloster, Rekon struktionszeichnung der ursprünglichen Außengestalt der Nordkirche, von Nordwesten
□ 51 Istanbul, Fenari Isa Camii/Lips-Kloster, Rekonstruktionsversuch des ursprünglichen Grundrisses der Nordkirche mit durchlaufender Mauer in den äußeren Achsen (hypothetisch), ca. 900 – 07
sich bei den mittleren Kapellen jeweils nur im Scheitel ein einfaches rundbogiges Fenster, so waren die Hauptapsis und die beiden äußersten Apsiden ehemals an allen drei Seiten durchbrochen und – zumindest im Fall der Hauptapsis – mit hochaufragenden Fenstern versehen. Aus der Beschreibung geht bereits hervor, dass sich bei einer Kreuzkuppelkirche anders als bei der gewölbten Basilika, in der eher eine Abfolge gleichartiger Raumeinheiten (Mittelschiffs- oder Seitenschiffsgewölbe) zu finden ist, stärker hierarchisch voneinander unterschiedene Raumteile ergeben (□ 51). Neu ist auch die Rolle der Vierung, die zwar wie bei der Basilika zunächst einmal einen herausgehobenen, größer dimensionierten Raumteil darstellt, doch bestimmt er bei der Kreuzkuppelkirche weit stärker die Größe der restlichen Anlage: So war das Überspannen einer zwi-
Das Lips-Kloster in Istanbul
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schen den vier Hauptpfeilern gelegenen Fläche aus statischen Gründen überhaupt nur bis zu einer bestimmten Weite möglich, ebenso wie die Grundfläche oft das Modul für den restlichen Aufbau einer Kirche darstellte |▶ 5|. Neben konstruktiven Vorteilen mag beim Tpyus der Kreuzkuppelkirche auch die symbolische Verbindung des in Gestalt der zentralen Kuppel wiedergegebenen Himmels und des – dank der Seitenarme – kreuzförmigen Grundrisses eine Rolle gespielt haben. Diese Lösung ermöglichte zudem die Präsentation eines Bildprogramms in streng hierarchisierter Weise. Das könnte auch einer der Gründe gewesen sein, weshalb sich dieser Typus nach 843 tatsächlich durchsetzte, d. h. nach dem Jahr, in dem der langandauernde Streit um die richtige Verwendung von Bildern zugunsten der Ikonodulen (Bildverehrer) und zu Ungunsten der Ikonoklasten (Bildzerstörer) geendet hatte. Bei den danach entstandenen Kreuzkuppelkirchen findet sich hinsichtlich der Ausstattung eine recht klare, die himmlische Hierarchie widerspiegelnde Gestaltung, die den lokalen und persönlichen Interessen und Traditionen folgende Abwandlungen und Ergänzungen er-
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möglichte. Ein gut erhaltenes Beispiel dafür ist das Bildprogramm der in der Nachfolge dieser byzantinischen Kirchen stehenden Kiewer Sophienkathedrale |▶ 5|: Dort trifft man in der wichtigsten, der Vierungskuppel, auf das Mosaik mit Jesus Christus als dem Pantokrator, dem allmächtigen Herrscher und endzeitlichen Richter. Getragen wird es im darunterliegenden Tambour von den zwölf Aposteln, die wiederum auf den eigentlichen Säulen der Heilsgeschichte, den vier Evangelisten ruhen, die in den vier daruntergelegenen Pendentifs zu finden sind: jenen in architektonischer Hinsicht der Überleitung vom Quadrat der Vierung in das Rund des Tambours dienenden Zonen. Das restliche Bildprogramm ist in diesem Bereich an den untergeordneten Partien weiteren auf Jesus bezogenen biblischen Gestalten und Szenen vorbehalten, ebenso den Brustbildern von Märtyrern. Demgegenüber ist im Presbyterium des Chores als weiterer ikonographischer Höhepunkt die Jungfrau Maria zu finden: Im Verständnis der Orthodoxie ist sie als ‚Tempel‘ der Menschwerdung Christi, der sinnlichen Verkörperung Gottes, die symboltragende Kraft des ganzen Kirchengebäudes (Faensen 1982, S. 40 f.).
Die Abteikirche St. Michael in Hildesheim Ottonischer Idealbau mit innovativen Lösungen
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n Reinheit und Gänze überlieferte Monumente ottonischer Architektur sind – ähnlich wie jene der Karolingerzeit – vergleichsweise selten. Selbst das in keiner Architekturgeschichte fehlende Paradebeispiel der Epoche, St. Michael in Hildesheim, verdankt sein heutiges, vermeintlich authentisches Aussehen zu einem Großteil den Wiederherstellungsarbeiten, die die schweren
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Schäden des Zweiten Weltkriegs notwendig gemacht hatten (□ 52, 53). Corvey vergleichbar resultierte auch hier manches erst aus der modernen Befundinterpretation. Engstens verbunden ist das ambitionierte Bauvorhaben mit dem aus sächsischem Hochadel stammenden Hildesheimer Bischofs Bernward (993 – 1022): St. Michael stellt einen ganz wesentlichen Bestandteil seiner Bemühungen
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dar, hier in den Stammlanden der damaligen Kaiser und als deren enger Vertrauter (u. a. Erzieher Ottos III. [996 – 1002]) gleichsam aus dem Nichts eine Stadt mit Rom ähnlichem Anspruch zu etablieren. Mit zahlreichen und sehr unterschiedlichen Stiftungen zeichnete er das im Aufbau begriffene neue Machtzentrum des Reiches aus. Neben ganz praktischen Maßnahmen, wie der Anlage einer Umwehrung der Domburg (um 1000) und mit der älteren Bischofskirche (spätes 9. Jh.), sind es v. a. die von ihm in Auftrag gegebenen, in ihrer Zeit oft einmaligen Artefakte, die Bernward als Stifter berühmt gemacht haben. Dazu gehören die ungewöhnlichen bronzenen Domtüren oder die aus dem gleichen Material gearbeitete sog. Christussäule. Gerade Letztere, die sich fraglos an antiken Triumphsäulen orientiert, belegt dabei gut, wie sehr man hier bemüht war, jeweils an römische Traditionen und Vorbilder anzuknüpfen. Die Hauptstiftung Bernwards ist jedoch die außerhalb der eigentlichen Bischofsstadt auf einem Hügel errichtete Benediktinerabtei St. Michael, die er zu seiner Grablege erkor. Mit den heute nicht mehr erhaltenen ersten Bauten der Abteikirchen in Memleben (um 979) und St. Maximin in Trier sowie dem Magdeburger Dom (950er Jahre) gehört St. Michael zu den größten ottonischen Kirchen überhaupt: Alle Anlagen sollten sich gegenüber früheren Bauwerken durch eine ganz neue Komplexität auszeichnen. Interessant ist an der Hildesheimer Kirche allein schon die Wahl des Kirchenpatrons, des hl. Michael, also jenes Erzengels, der seit 933 – dem durch König Heinrich I. unter seinem Feldzeichen errungenen Sieg über die Ungarn – zum Nationalpatron des Heiligen Römischen Reiches avanciert war (Suckale 1998, S. 41). Mit der Ausführung der Kirche dürfte bald nach ihrer Stiftung 996, wohl gegen 1001, begonnen worden sein. Die Weihe der Krypta erfolgte 1015, die Abschlussweihe, zu der auch schon die gesamte Ausstattung fertiggestellt gewesen sein dürfte,
□ 52 Hildesheim, Benediktinerabtei St. Michael, Aufriss und Grundriss der ottonischen Anlage, ca. 1001 – 33
1033. Die bemerkenswerteste Eigenheit von St. Michael sind die beiden Choranlagen, die den Bau in sehr unterschiedlicher Weise im Westen und im Osten abschließen. Ein Blick auf die Idealkirche des um 830 entstandenen St. Galler Klosterplans ( Themenblock · Klosterschema, S. 130) zeigt, dass es solche Lösungen durchaus schon zuvor gegeben hatte. Gleichwohl waren sie im 10. Jh. noch recht selten, zumal in einer im Detail derart andersartigen Ausformung, wie das bei St. Michael der Fall ist. So sind beiden Abschlüssen annähernd gleich dimensionierte Querhäuser vorgelagert, darin z. B. Memleben oder Magdeburg sehr ähnlich. Im Osten bildet dieses jedoch – erneut wie in Memleben – gemeinsam mit drei Apsiden einen Staffelchor, während die Lösung im Westen komplexer ausfällt. Hier trifft man nun auf einen einzigen, wesentlich größer dimensionierten Chor, der sofort seine ungleich höhere Bedeutung erkennen lässt: In der Tat war der Westchor – dies ein deutlicher Bezug auf St. Peter in Rom – der Hauptchor der Kirche.
Die Abteikirche St. Michael in Hildesheim
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Der Bereich des liturgischen Chores ist leicht erhöht, so dass unter ihm problemlos die eigentliche Neuheit der Kirche eingefügt werden konnte: eine mehrschiffige Hallenkrypta – eine der frühesten überhaupt. Genau genommen handelt es sich bei ihr eher um eine Art Unterkirche, liegt sie doch nicht wirklich unter der Erde. Selbstverständlich hatte es Krypten bereits zuvor gegeben. Wie in Corvey |▶ 2| zu sehen, handelte es sich dabei aber bis dahin um wesentlich kleinere, sog. Stollenkrypten, die gangartig angelegt unter oder hinter den Chören der Kirchen zu finden waren. In der Tat deutet sich hier ein Funktionswandel an. Entwicklungsgeschichtlich aus den frühchristlichen Katakomben herleitbar, dienten die anfänglichen Stollen- und Ringkrypten dazu, ein Heiligengrab zu bergen und den Gläubigen zugänglich zu machen. Es wird v. a. das zunehmende Interesse gewesen sein, Krypten als eigenständige Kapellen oder Bet- und Gottesdiensträume zu nutzen, die dann ab dem 9. Jh. zu der weit großzügigeren Lösung der Hallenkrypten führte. Die Lage unter dem wichtigsten liturgischen Bereich der Kirche, dem Chor, machte dabei zusammen mit der Funktion als Aufbewahrungsort von Reliquien, aber auch als Begräbnisstätte die besondere Bedeutung des Raumes deutlich (Kat. Otto 2001, S. 278). Genau das war im Übrigen auch eine der Aufgaben, die die Krypta von St. Michael besaß, ist es doch dieser Ort, den sich Bernward für seine letzte Ruhestätte auserkoren hatte. Die feinen Kreuzgratgewölbe der Krypta von St. Michael ruhen auf acht frei stehenden, stämmigen Säulen. Eingefasst wird der Raum von einem für die Zeit noch eher ungewöhnlichen Umgang, nun überfangen von einem Tonnengewölbe, dessen Scheitelhöhe doppelt so hoch ist wie jene der eigentlichen Krypta. Der Gang hat insofern besondere Bedeutung, als durch ein Tor im Chorscheitel über ihn auch der Zugang in die Kirche von dieser Seite erfolgte. Er erinnert noch deutlich an die erwähnten älteren Umgangs- oder Ringkrypten der Karolingerzeit,
III. Schlüsselwerke
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wie sie z. B. auch in Hildesheim am ersten, Mitte des 9. Jh.s entstandenen Dom zu finden waren. Als andere zeitgleiche Vergleichsbeispiele außerhalb des deutschen Sprachraums wären hier u. a. die entsprechenden Anlagen der Kathedralen von Auxerre und Saintes zu nennen. In ihrer sehr reduzierten architektonischen Gestaltung unterscheiden sich die Stützelemente der Krypta deutlich von den ansonsten in St. Michael verwendeten: Neben einigen wenigen, die als spätere Erneuerung eine aufwändige Dekoration aufweisen, sind das v. a. sehr schlichte kubische Würfelkapitelle; eine hier erstmals in Erscheinung tretende, im weiteren wegweisende Lösung, mit der in unübertroffen schlüssiger Weise peu à peu aus dem Rund des Säulenschaftes in die eckige Form des zu tragenden Arkadenbogens übergeführt wird. Die gratartige Hervorhebung der Kanten betont dies noch einmal besonders. Abgesehen von ihrer überzeugenden ästhetischen Gestaltung haben die Kapitelle der zwölf Langhaussäulen allerdings auch noch eine weiterreichende Bedeutung für das Kircheninnere, finden sich doch in ihrer Kämpferzone die Namen von Heiligen wiedergegeben, deren Reliquien in ihnen geborgen waren. Diese Kirche wurde also nicht nur symbolisch und allgemein, sondern im wahrsten Sinne des Wortes von den Aposteln und Märtyrern getragen: In besonders anschaulicher und eingängiger Weise sind jene geistigen Stützglieder der Kirche mit den ganz substantiellen, architektonischen – eben mit den Säulen des Baus – gleichgesetzt. Bemerkenswerterweise erfährt das Programm sogar noch Ergänzung durch Inschriften auf den Grundsteinen, die nun auf die Stämme Israels und – einmal mehr – die Apostel als dem Fundament der Kirche anspielen (Jäggi 2009). Dass es sich dabei nicht um ein singuläres Phänomen handelt, zeigen nicht zuletzt die entsprechenden überlieferten Beispiele der Kapitelle der Aachener Pfalzkapelle (□ vgl. 44) und des ottonischen Vorgängerbaus des
95 □ 53 Hildesheim, Benediktinerabtei St. Michael, Innenansicht nach O sten, ca. 1001 – 33
Magdeburger Doms (Knapp 2006, S. 212). Die mit Würfelkapitellen abgeschlossenen Säulen stellen nicht die einzige für das Langhaus verwendete Form dar. Dieses erfährt nämlich in ganz eigener Weise Rhythmisierung: Das System der frühchristlichen Säulenbasilika variierend, folgt im Langhaus von St. Michael jeweils auf zwei Rundsäulen ein auf quadratischem Grundriss errichteter Pfeiler. Zu dieser von der Literatur mit dem modernen Terminus „Sächsischer Stützenwechsel“ belegten Lösung dürfte es wohl aus statischen Gründen, d. h. zugunsten größerer Stabilität, gekommen sein. Weniger Wahrscheinlichkeit besitzt demgegenüber die mitunter geäußerte Idee, dass es sich hier um ein Zitat der Emporenarkaden der Aachener Pfalzkapelle handeln könnte (□ vgl. 44). Als tragende Einheit kenntlich gemacht werden die unterschiedlich gestalteten Stütz elemente in Hildesheim durch die auf einheitlicher Höhe angebrachten Kämpferplatten. Ein nun das gesamte Langhaus durchlaufendes, noch einfacheres Gesims etwa 1½ m über den Bogen stellt in diesem Zusammenhang eine weitere horizontale Untergliederung dar, mit der die Arkadenzone von der restlichen Hochschiffswand abgetrennt wird, über der eine Holzdecke den Abschluss des Raumes bildet. Strukturierung erfährt die Wand ansonsten
ausschließlich durch die Obergadenfenster; es darf aber vermutet werden, dass ursprünglich Malereien zusätzlich diese heute sehr kahl wirkende Wandfläche belebten. Von den Chören separiert wird das Langhaus zu beiden Seiten durch eine am Kreuzungspunkt mit dem Querhaus ausgebildete Vierung. Große Mauerbogen setzen diese von den angrenzenden Räumen ab. Auf perfekt quadratischem Grundriss angelegt, laufen sie nach oben in die den Außenbau dominierenden Vierungstürme aus. Sie bilden gleichsam die Grundeinheit, das Modul, für den Rest des Langhauses, entspricht ein derartiges Quadrat doch genau den Flächen, die sich im Langhaus zwischen die genannten Pfeiler einschreiben lassen. Seitlich angefügte Treppentürme ermöglichen an den Stirnseiten der Querhäuser schließlich den Zugang zu den Emporen, die in den über die Seitenschiffe hinausragenden Bereich der Transepte eingefügt sind. Hier handelt es sich möglicherweise erneut um ein Zitat der entsprechenden Anlagen, die an dieser Stelle auch in Rom in Alt-St. Peter (□ vgl. 45) vermutet werden. Dem vergleichsweise klaren inneren Erscheinungsbild von St. Michael steht ein überaus vielgestaltiger Außenbau mit einer kleinteilig-additiven Dachlandschaft gegenüber. An ihm kommen nun die beschriebenen Einzelelemen-
Die Abteikirche St. Michael in Hildesheim
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te, insbesondere die Türme, wesentlich stärker zur Geltung. Angesichts des heute hier unverputzten Mauerwerks müssen sofort die – trotz einer relativ kurzen Erbauungszeit – sehr unterschiedlichen Versatztechniken ins Auge stechen. So finden sich z. B. an den Treppentürmen der Querhäuser oder auch am Westchor sauber gearbeitete große Quader, die ihrerseits im Detail durchaus beachtliche Unterschiede aufweisen. Demgegenüber sind die restlichen Bereiche des ottonischen Mauerwerks qualitativ weniger anspruchsvoll und ohne erkennbares übergreifendes Ordnungssystem in Bruchstein ausgeführt. Solches fand im Übrigen auch im Inneren zumeist Verwendung, wo der größte Teil der Wand allerdings unter Putz liegt. Lediglich an den Langhaus- und den Vierungspfeilern gibt es Hinweise auf die Verwendung von Quadermauerwerk (Kat. Bernward [1], S. 374 – 376). Wie schon im Fall von Corvey, so sind auch in Zusammenhang mit St. Michael in jüngerer Zeit berechtigte Zweifel geäußert worden, ob es sich dabei wirklich um einen derart exemplarischen Bau einer bestimmten Epoche – hier jener der Ottonen – handelte, zu dem man ihn gern sti-
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lisiert hat. Für eine abschließende Beurteilung haben sich schlicht zu wenig Vergleichsbauten aus der Zeit erhalten; und selbst die etwas ältere Stiftskirche in Gernrode (□ vgl. 14) erscheint angesichts all ihrer Besonderheiten letztlich kaum für einen aussagekräftigen Vergleich geeignet. Auch ist der Hildesheimer Bau zu sehr mit einer herausragenden, hochambitionierten Persönlichkeit, Bernward von Hildesheim, verbunden, als dass man vermuten dürfte, es habe sich damals bei St. Michael um ein alltägliches Projekt gehandelt. Hinsichtlich der möglichen Besonderheit sollte man zudem nicht ganz außer Acht lassen, dass es letztlich wohl auch Bernwards bald schon eingetretene Heiligkeit gewesen ist, die zum relativ authentischen Erhalt dieses bemerkenswerten Bauwerks – sozusagen als eine Art Reliquie – beigetragen hat. Eine solche Relativierung ändert allerdings wenig am generellen Stellenwert von St. Michael: insbesondere nichts hinsichtlich des zukunftsweisenden Westchors der Kirche, mit dem sie zweifellos einen essentiellen Beitrag zur Entwicklung der Krypta in der abendländischen Architektur leistete.
Die Sophienkathedrale in Kiew Das Schema der orthodoxen Kirche
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inen der Bauten, die für die weitere erfolgreiche Ausbreitung des mit Anlagen wie dem Lips-Kloster im byzantinischen Konstantinopel (Istanbul) spätestens im 9. Jh. etablierten Typus der Kreuzkuppelkirche sorgten, stellt die knapp ein Jahrhundert später errichtete Sophienkathedrale in Kiew (ab ca. 1037) dar (□ 54). Weit im Nordosten Europas gelegen, wurde in dieser Region diesbezüglich Neues unternommen: Erst kurz zuvor, 988, war hier vom
III. Schlüsselwerke
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Fürsten von Kiew, Wladimir I., überhaupt das Christentum eingeführt und zugleich eine erste Kirche in Holzbauweise errichtet worden. Zwar ist anzunehmen, dass bereits er den imposanten Kathedralbau für den Metropoliten von Kiew, d. h. die führende kirchliche Institution seines Reiches, vorgesehen hatte, doch es war erst sein Sohn Jaroslaw, der um 1037 den Grundstein legte. Die Frage, wieso man sich nun an einem byzantinischen Kirchenmodell und nicht
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□ 54 Kiew, Sophienkathedrale, Außenansicht von Ost; spätere Dachaufbauten und Dekorformen beeinträchtigen heute das ursprüngliche Erscheinungsbild, ab ca. 1037
an der westkirchlichen Basilika orientierte, erklärt sich allein schon durch die geographische Lage, bei der aus damaliger Perspektive das eigentliche Machtzentrum das (1300 km) südlich gelegene Byzantinische Reich mit seiner Hauptstadt Konstantinopel war. Allerdings sind die Bezüge noch weit konkreterer Natur, ist doch Wladimirs Bekehrung zum Christentum in unmittelbarem Zusammenhang mit den sich intensivierenden Beziehungen Wladimirs zu Byzanz zu sehen, die in der Vermählung mit der Schwester des byzantinischen Kaisers Basileios II., Anna von Byzanz, kulminieren sollte. Wenig verwunderlich, dass angesichts dieser christlich-orthodoxen Ausrichtung natürlich auch – wenn auch erst eine Generation später – die entsprechenden Bauformen übernommen wurden. Die Sophienkathedrale sollte dann ihrerseits zum Prototyp schlechthin für den gesamten russischen Kirchenbau der nachfolgenden Jahrhunderte avancieren, so v. a. ihre Anlage als fünfschiffige Kreuzkuppelkirche. Dass hier in der Tat versucht wurde, ein Gegenstück zum staatskirchlichen Wahrzeichen des Byzantinischen Reichs zu schaffen, darauf
weist allein schon die Namensgleichheit zur Hagia Sophia (□ vgl. 21) hin, aber auch die alle bisherigen Maßstäbe der Region sprengende Größe des monumentalen Neubaus. Selbst die meisten der potentiell vorbildlichen byzantinischen Kirchen – nicht zuletzt die Nordkirche des Lips-Klosters (□ vgl. 50, 51) – stellte er in den Schatten. Bei der in Mischbauweise aus Hau- und Backstein errichteten Sophienkathedrale handelt es sich um eine Kreuzkuppelkirche (alle Angaben zum Bau im Weiteren nach: Faensen 1982, S. 33 – 40). Bei seinen Planungen, die ganz offensichtlich nicht nur die Schaffung eines riesigen Versammlungsplatzes, sondern auch die Hervorhebung von Jaroslaws Gottesgnadentum durch einen erhöhten Ehrenplatz zum Inhalt hatten, orientierte sich der verantwortliche Architekt an frühbyzantinischen Emporenkirchen, übertraf diese allerdings größenmäßig um ein Vielfaches (vgl. z. B. Lips-Kloster, Empore dort aber nur im Westen). Wir haben es hier mit einer gewaltigen, fast schon verwirrend vielteiligen Anlage zu tun, die sich gerade am Außenbau über zahlreiche Zwischenstufen
Die Sophienkathedrale in Kiew
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hinsichtlich Größe und Höhe allmählich zur Mitte hin steigert: eine Staffelung, die jene im Inneren mit den allmählich zunehmenden Scheitelhöhen spiegelt. Angesichts des nur dort gegebenen, auffallend umfänglichen Emporengeschosses lässt sich aus dem Komplex ein fünfschiffiger Kern herauslösen, der an der Nord-, West- und Südseite von äußeren, ursprünglich offenen Arkadengalerien gerahmt wird. Die gewaltigen, selbst die Seitenschiffe vollständig ausfüllenden Emporen von Sakralbauten dienten zweifellos der Platzvermehrung, aber auch der Separierung bzw. ‚Erhöhung‘ bestimmter Gruppen, ähnlich wie bei Nonnenemporen in hoch- und mittelalterlichen Stifts- und Klosterkirchen (|▶ 35|, □ vgl. 131). In diesem Fall erscheinen aber die höhergelegenen, separierten Bereiche vergleichbar, wie sie in Zusammenhang mit dem Problem des ‚Westwerks‘ bei westlichen Sakralbauten des 1. Jahrtausends diskutiert werden (|▶ 1, 2|, □ vgl. 43, 44). Anders als dort ist es allerdings in Kiew nicht nur eine Vermutung, dass die Emporen dem Herrscher – hier Jaroslaw – und seinem Gefolge vorbehalten waren. In diesem Zusammenhang erfuhr die bei den (potentiellen) westeuropäischen und byzantinischen Vergleichsbeispielen eng begrenzte Herrscherempore – bei den Kreuzkuppelkirchen ist sie üblicherweise auf den (in Kiew fehlenden) Narthex beschränkt – eine erhebliche Erweiterung. Angesichts der nun gegebenen Weitläufigkeit ist von der Existenz zahlreicher weiterer Altäre auf dieser Ebene auszugehen. Ähnlich wie bei den byzantinischen Vorbildern war das äußere Erscheinungsbild des Baus ursprünglich von zweistufigen, halbrund abschließenden Blendnischen verschiedener Größe geprägt, die arkadenförmig in Reihen angeordnet und auf die Bogen der Galerien und Fenster bezogen waren. Trotz der gewaltigen Grundfläche, der als Modul das in seinen Maßen mehrfach wiederholte Vierungsquadrat zugrunde liegt, ent-
III. Schlüsselwerke
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steht beim Betreten der Kathedrale allerdings weniger der Eindruck eines monumentalen Großbaus – man denke zum Vergleich etwa an den fast zeitgleichen Speyerer Dom (|▶ 6|, □ vgl. 56) im Westen. Es wirkt vielmehr die Abfolge von mit Wandmalereien aufwändig dekorierten Einzelräumen, die von den zahlreichen wuchtigen Kreuzkernpfeilern vergleichsweise stark voneinander abgetrennt werden. Einmal abgesehen von der Schaffung von Flächen für das opulente, in Fresko oder Mosaik ausgeführte Bildprogramm mag es deswegen vielleicht eher die Außenwirkung der Kathedrale gewesen sein, die man bei dieser Lösung im Blick hatte: Auf den Pfeilern ruhen nämlich nicht nur die Tonnengewölbe von Mittelschiff und Querhaus, sondern in den Jochen, die zwischen diesen beiden liegen, auch zwölf kleine Kuppeln sowie in der zentralen Vierung eine größere, über denen sich jeweils durchfensterte Tamboure erheben, deren geschwungene Helme erst jüngeren Datums sind. Bedingt durch das Emporengeschoss ragen die Gewölbe bei den kleineren Jochen natürlich erst über demselben auf, während im Erdgeschoss noch einfache Kuppeln zu finden sind. Neben ihrer Fernwirkung ist eine weitere Hauptaufgabe der Tamboure, für die ausreichende Beleuchtung des weitläufigen Innenraumes zu sorgen. Zugleich wurden durch diese Lichtregie die besonders wichtigen Partien wie die Vierung hervorgehoben. Selbst das etwas breitere Mittelschiff, mit den in Mosaik ausgeführten, für das Bildprogramm hierarchisch höchsten Darstellungen der Jungfrau Maria (Apsiskalotte) und des von den Aposteln getragenen Jesus Christus (in der zentralen Kuppel), fällt vergleichsweise bescheiden, fast schon kapellenartig aus (Höhe der bereits über den eigentlichen Bau hinausragenden Vierungskuppel: 29 m; Breite Mittelschiffsjoch: 7,60 m). Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass auch die Querhausarme lediglich in ihrem ersten Joch in voller Höhe
99 □ 55 Kiew, Sophienkathedrale, Schnitt und Grundriss, ab ca. 1037
des Gebäudes ausgebildet sind, bevor sie zum angrenzenden Joch (mit der Empore in beiden Geschossen) hin jeweils von drei hohen Rundbogen abgeschlossen werden (vgl. Abschluss Querhausarme Lips-Kloster). Bemerkenswert – zumindest aus der Perspektive des westlichen Kirchenbaus – ist schließlich auch die weitere Orientierung und Proportionierung des Raumes, erstreckt sich dieser doch insgesamt stärker in die Breite denn in die Tiefe. Wohl zur Sicherung des instabil gewordenen Urbaus wurde dessen bereits recht komplexe Anlage um 1100 an der Nord-, West- und Südseite mit einer weiteren eingeschossigen, von Strebebogen durchzogenen Galerie ummantelt (□ 55). Den gewonnenen Raum nutzte man auch für die Unterbringung zweier großzügiger Treppentürme. Der südliche von ihnen diente dabei als neuer, bequemer Aufgang zu den Emporen, während der nördliche die innere Verbindung zwischen dem Erd- und dem Obergeschoss bildete, wo um den zentralen Teil der Kathedrale die Metropolitenräume, die Kanzlei, die Schatzkammer, die Bibliothek, das Skriptorium und die Schule gelegen waren (Faensen 1982, S. 39).
Der Dom in Speyer Monumentalisierung der Formen
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ei allen Innovationen und Besonderheiten der vorangegangenen Bauten, stellt der Neubau des Speyerer Doms ein Vorhaben dar, das im 11. Jh. zu gänzlich neuen Dimensionen führte. In der Tat war er, als man ihn 1106 weitgehend vollendet hatte, die größte und v. a.
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höchste Bischofskirche des Abendlandes. Aber auch unter den restlichen Sakralbauten sollte – zumindest nördlich der Alpen und bis zu den gewaltigen gotischen Projekten des 12. und 13. Jh.s – lediglich die Benediktinerabtei im burgundischen Cluny (Cluny III, nach 1089; |▶ 12|,
Der Dom in Speyer
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100 □ vgl. 68) eine annähernd vergleichbare Größe
erreichen. Initiiert und gefördert wurde das außergewöhnliche Projekt maßgeblich durch Konrad II. (990 – 1039), den ersten Vertreter des den Ottonen auf dem Königsstuhl nachfolgenden Hauses der Salier. Ab 1024 König des Ostfrankenreichs (1026 von Italien; 1033 von Burgund) und 1027 schließlich Kaiser des Heiligen Römischen Reichs war es während seiner Regierungszeit, um 1025 / 30, dass man den Grundstein für den neuen Dom legte. Über den Vorgängerbau wissen wir nichts; es ist sogar unklar, ob er sich überhaupt schon an dieser Stelle befand (Kubach / Haas 1972, S. 110 ff.). Konrad II. stand mit diesem monumentalen Vorhaben in der Tradition seines unmittelbaren großen Vorgängers, des letzten ottonischen Kaisers Heinrich II. (gest. 1024), der 1007 nicht nur das Bistum Bamberg gegründet, sondern es auch mit einem Dom von gleichfalls beachtlicher Größe ausgestattet hatte. Im Unterschied dazu konzentrierte sich Konrads Bemühen nun jedoch auf die Hauptkirche eines bereits seit Römerzeiten bestehenden Bistums, das inmitten der Besitzungen seiner Familie lag. Bemerkenswert ist dabei, dass es – anders als es die Ehrfurcht gebietende Dimensionierung des Speyerer Doms zunächst erscheinen lassen mag – nicht gerade zu den bedeutendsten des Rheintals gehörte. Ganz im Gegenteil verfügte es im Vergleich zu den anderen Bistümern der Region über eher bescheidene finanzielle Ressourcen. So spricht viel dafür, dass es Konrad zwar auch um eine Aufwertung des Bistums Speyer ging, beim Domneubau letztlich jedoch diejenige seiner eigenen Person und im Weiteren seiner gesamten Dynastie eigentlich im Fokus stand. Tatsächlich sollten in den folgenden Jahren an diesem Ort zahlreiche Familienmitglieder ihre letzte Ruhe finden, darunter mit Heinrich III., IV. und V. die drei unmittelbar nachfolgenden Kaiser. Es scheint sogar, als habe sich der Bau allmählich zu so etwas wie einer ‚über-dynastischen‘, d. h. allgemeinen
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kaiserlichen bzw. königlichen Grablege entwickelt. Zumindest muss auffallen, dass hier mit Rudolf und Albrecht von Habsburg sowie mit Adolf von Nassau im 13. Jh. auch anderen Geschlechtern angehörende Herrscher begraben wurden. Die für die Zeit geradezu unglaublichen Massen benötigten Baumaterials – Holz wie Stein – wurden in sehr effizienter Weise über einen kleinen zum Kanal ausgebauten Flusslauf aus dem nahegelegenen Pfälzerwald nach Speyer geschafft. Trotz der damals ungewöhnlichen Größe und trotz einer nochmaligen erheblichen Verlängerung des Langhauses, die wohl unter Konrads Sohn, Kaiser Heinrich III., vorgenommen wurde, konnte so der erste Bau bereits 1061 vollendet und geweiht werden. Von der ersten Anlage kann man sich, bei allen späteren – noch zu besprechenden – Modifizierungen, innen wie außen immer noch eine recht gute Vorstellung machen: Dem Befund nach war der ansonsten holzgedeckte Dom im Osten anfänglich durch einen tonnengewölbten Chor mit gerundeter Apsis abgeschlossen, die nach außen allerdings rechteckig in Erscheinung trat. Die darin den damaligen Domen in Worms und Straßburg vergleichbare Abteikirche im nahe gelegenen Limburg an der Haardt (ab 1025; □ vgl. 21), eine weitere Stiftung Konrads II., vermag heute noch eine gewisse Vorstellung davon zu geben. Ein Blick auf diesen Bau ist zudem hilfreich für das Verständnis und die Einordnung des ursprünglichen Wandaufrisses des Speyerer Doms: In recht konventioneller Weise und ganz den römischen frühchristlichen Traditionen folgend, hat man es hier mit einer Säulenbasilika mit fortlaufenden Arkaden zu tun, auf denen über schlanken Säulen eine schlichte – einmal abgesehen von den Obergadenfenstern – ungegliederte Wand aufruht. Ganz anders nun die im Speyerer Dom gewählte Lösung (□ 56, 57): Denn selbst, wenn man an ihm ebenfalls eine derartige Gliederung zum Einsatz hätte bringen wollen, wäre das
101 □ 56 Speyer, Dom, Innenansicht nach Osten, ab 1025/30
wohl schon aus statischen Gründen angesichts der gewaltigen Höhe des Kirchenraumes – mit 33 m ist er nur 3 m niedriger als derjenige der gotischen Reimser Kathedrale (□ vgl. 98) des 13. Jh.s – nur schwerlich realisierbar gewesen. Ob das der Grund war oder ob es noch weitere gab, man entschied sich jedenfalls in Speyer dafür, das Langhaus als dreischiffige Pfeilerbasilika anzulegen, verbunden mit einer auffallend differenzierten Strukturierung und Reliefierung der Hochschiffswand. Mit dem gewählten System wird nicht nur erfolgreich die Massivität der Wände aufgelöst, sondern v. a. auch die verschiedenen Geschosse in überzeugender Weise zu einer Einheit verschmolzen. In gleichmäßigen Abstufungen entwickelt □ 57 Speyer, Dom, Aufrissschema der Hochschiffswand: ursprüngliche Version mit Flachdecke (r.), nach der Einwölbung ca. 1082 – 1106 (l.)
sich das Wandrelief. Dabei werden der Ebene, in der die Fenster und die glatte Wandfläche liegen, gleichsam in den zwei nachfolgenden Schichten unterschiedliche Blendbogensysteme appliziert: zunächst breite pilasterartige Elemente, die oben in einem Kämpfer enden, und schließlich, in der vordersten Schicht, schmalere, dafür aber plastisch hervortretende Halbsäulchen, die ihren Abschluss in einem Würfelkapitell mit hohem Kämpferaufsatz finden. So neu die Lösung in der damaligen Zeit in der Region war: Inspirationsquellen könn-
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ten durchaus römische Großbauten gewesen sein, wie etwa die im frühen 4. Jh. entstandene, für das Mittelalter bemerkenswert hohe Palastaula in Trier (sog. Konstantin-Basilika; □ vgl. 46), bei der der Außenbau – wenn auch wesentlich einfacher und nicht derartig vielschichtig – ebenfalls Blendbogen aufweist, die als Fensterrahmung die gesamte Fassadenhöhe einnehmen. In ähnlicher Weise lässt sich solches an der ursprünglichen Außengliederung von St. Pantaleon in Köln (Weihe 980) und der Damenstiftskirche Ste‑Gertrude-et-St‑Pierre in Nivelles (ab ca. 1020) finden. Weitgehend unverfälscht ist die Architektur des 1061 geweihten Urbaus bis heute im ersten überhaupt nutzbaren Bauteil des Doms ablesbar: in der unter Chor und Querhaus angelegten Hallenkrypta, in der Kaiser Konrad bereits 1039, also noch während der Bauzeit, seine letzte Ruhe finden sollte. Mit Blick auf die gewaltige Ausdehnung handelt es sich bei ihr eigentlich eher um eine Unterkirche – um eine Kirche für sich – als um eine Krypta im klassischen Sinne. Hier durchwandert man nun einen wahren Wald schlanker, von Würfelkapitellen abgeschlossenen Säulen. Stellen diese eine bereits von St. Michael in Hildesheim (□ vgl. 53) her bekannte Form dar, so tragen sie hier erstmals richtige Gurtbogen: Alternierend aus weißen und roten Sandsteinen gebildet, erfahren die einzelnen Joche dadurch eine deutlichere Absetzung. In noch größerer Dimensionierung finden sich derartige Gewölbe auch im oberirdischen Bereich, und zwar in den hier nun erstmals durchgängig kreuzgratgewölbten Seitenschiffen. Getragen werden die Gurtbogen dort von halbrunden Wandvorlagen, wie sie schon an der Hochschiffswand zu finden waren. Bereits kurze Zeit nach der Fertigstellung erfuhr der Bau zwischen ca. 1082 und ca. 1106 unter Konrads Enkel, Kaiser Heinrich IV., eine umfassende Modifizierung. Betroffen war v. a. der Chor- und Querhausbereich, der wohl zugunsten einer besseren Beleuchtung bis auf die
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unteren Partien der beiden alten Chorflankentürme abgerissen und erneuert wurde. Neu ist auch der gesamte Vierungsturm mit seinem reichen Gewölbe, bei dem vier Eckzwickel in Form von Trompen, also kleinen trichterförmigen Teilgewölben auf dreieckigem Grundriss |▶ 8|, aus dem Vierungsquadrat in das Achteck der eigentlichen Kuppel überleiten. Die am stärksten den Eindruck des Innenraums verändernde Maßnahme ist jedoch die nun durchgängige Einwölbung aller Partien. Angesichts der großen Schlichtheit der Kreuzgratgewölbe mag solches für den heutigen Betrachter nicht besonders bemerkenswert erscheinen. Gleichwohl stellen sie in ihrer Zeit eine beachtliche technische Leistung dar – gerade auch angesichts der gewaltigen Spannweite von gut 14 m –, die auf noch nicht allzu viele Vorbilder zurückgreifen konnte. In der Tat darf der Speyerer Dom als eines der ganz frühen monumentalen Beispiele für die durchgehende Verwendung von Gewölben gelten: Gewölbe wurden hier erstmals nicht mehr nur zur Auszeichnung eines besonders wichtigen Raumteils – z. B. des Sanktuariums –, sondern für ein gesamtes, komplexes Gebäude eingesetzt. Um das im alten Bestand überhaupt technisch möglich machen zu können, war eine gewisse Erhöhung des Urbaus zwingend erforderlich. Sie entspricht genau der Höhe der Zwerggalerie, die außen unterhalb der Dachtraufe das gesamte Gebäude umläuft. Ebenso galt es an bestimmten Stellen, noch einmal die Mauerdicke zu verstärken, um auf diese Weise den durch den Gewölbeeinbau erhöhten Druck- und Schubkräften standhalten zu können. Dazu darf auch eine Maßnahme gerechnet werden, die im Inneren zu einer vollkommen neuen Rhythmisierung des Raumes führte: Bei jeder zweiten Wandvorlage wurde nämlich nun die ursprüngliche Halbsäule durch einen weiteren, lisenenartigen Mauerstreifen sowie eine erneut in der vordersten Schicht applizierte Halbsäule ersetzt. Interessanterweise hielt man es im
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Gegensatz zu den entsprechenden Architekturgliedern der ersten Bauphase jetzt für notwendig, die gewaltige Dimensionierung der neu eingefügten Elemente auf halber Höhe durch einen großen Schaftring zu untergliedern. Ebenso muss der Ersatz der ursprünglichen einfachen Würfel- durch elaboriertere korinthische Kapitelle auffallen. Sie bilden nicht nur das Auflager für die Ecken der weitgespannten neuen Gewölbe, sondern auch für deren breite Gurtbogen, die die einzelnen Joche voneinander scheiden. Insgesamt entstand so ein sog. gebundenes System, das in der Folge zu der Standardlösung im romanischen Gewölbebau avancieren sollte: Idealerweise entspricht bei diesem jedes quadratische Mittelschiffsjoch der Grundfläche von vier ebenfalls quadratischen Seitenschiffsjochen. Angesichts der erst nachträglichen Ausführung ist das in Speyer allerdings noch nicht ganz perfekt ausgebildet. Bemerkenswert früh sind im Übrigen auch die beiden gewaltigen Kreuzrippengewölbe (ca. 1100 – 1110), die seit dem Umbau die beiden Querhausarme überspannten. Die mit der Umbaumaßnahme Einzug haltenden neuen antikischen Zierelemente scheinen oberitalienischen Bauten der Zeit abgeschaut. Mitunter ist sogar die unmittelbare Beteiligung lombardischer Kräfte erwogen worden. Ist das durch Quellen nicht zu belegen, so erscheint in Zusammenhang mit den Kapitellen besonders interessant, dass man die qualifizierten Bildhauer sehr überlegt einsetzte. Deutlich sind erste Sparmaßnahmen erkennbar, mit denen man den Neubau offensichtlich schneller und kostengünstiger fertigzustellen suchte: So wurden diese Elemente nur in den zugänglichen Partien komplett ausgearbeitet, während man sie in schwer einsehbaren oder entlegenen Regionen des Baus, wie etwa an der Innenseite der Zwerggalerie, einfach in Bosse stehen ließ. In seiner Monumentalität und mit seinen neuen Standards stellte der Speyerer Dom zweifellos das Leitbild für nachfolgende Vorha-
ben dar. Eindrucksvoll zeigen das die ebenfalls im Rheintal gelegenen Beispiele des Mainzer und des Wormser Domes. Gemeinsam mit ihnen und einigen anderen Bauten wird Speyer immer wieder gern mit dem etwas diffusen modernen Begriff ‚Kaiserdom‘ belegt. Über das Aussehen der betreffenden Anlagen ist damit allerdings wenig gesagt, handelt es sich doch bei Mainz und Worms im Gegensatz zu Speyer um zweichörige Anlagen: Dies war im Übrigen im Heiligen Römischen Reich bei Bischofskirchen – aufbauend auf älteren Modellen und weiter ausgestattet mit ein oder zwei Querhäusern sowie Chorflankentürmen – zweifellos eine besonders beliebte Lösung, wie das über die genannten Beispiele hinaus u. a. die Dome in Köln (karolingischer Vorgängerbau), Verdun, Mainz, Augsburg, Bamberg (□ vgl. 7) und Naumburg zeigen. Doch zurück zum Begriff Kaiserdom: Etwas mehr Sinn macht er, wenn man damit den Umstand fassen will, dass fast alle diese Bauten Förderung durch einzelne Kaiser des Heiligen Römischen Reiches erhielten oder gar deren Stiftungen darstellten (z. B.: Magdeburg und Otto I.; Bamberg und Heinrich II.), was jedoch schon bei Mainz nicht mehr zutrifft. Das gerade in der Anfangsphase auffallend intensive Engagement ist zweifelsohne damit zu erklären, dass die Kaiser noch bis zum Investiturstreit (Bischofs-)Kirchen als Eigenkirchen ansahen, mit denen sie ihre Machtbasis festigen konnten, ebenso wie die Mutterkirche eines Bistums als die privilegierteste Begräbnisstätte überhaupt galt, wie das einmal mehr die Dome in Magdeburg und Bamberg zeigen. Der Rückgang bzw. das Verschwinden derartigen Engagements in späteren Zeiten – zumindest auf vergleichbar hohem Niveau – ist dann wohl schlicht der Tatsache geschuldet, dass es in Europa seit dem 12. Jh. fast keine Bistümer zu gründen gab bzw. dass spätestens bis Ende des 14. Jh.s so gut wie alle der betreffenden Kirchen in monumentaler Weise erneuert worden waren.
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Der Dom von Modena Romanische Architektur in Oberitalien
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ine gute Vorstellung, wie Architektur zur Zeit des Umbaus des Speyerer Doms südlich der Alpen aussah, kann der Dom von Modena (ab 1099) liefern (□ 58, 59). Tatsächlich gibt es zwischen beiden Bauten sogar einige lockere Übereinstimmungen: so die jeweils weitläufige, kreuzgratgewölbte Hallenkrypta, die in Modena den gesamten Chor einnimmt, oder außen die Chorfront mit den Blendarkaden und der plastisch ausgearbeiteten Schattenzone der Zwerggalerie am oberen Abschluss der Wände. Gerade bei einer Außenansicht von Osten fällt jedoch schnell auf, um wie viel schlüssiger und homogener die strukturierenden Elemente in Modena zu einer Einheit verschmolzen sind, um wie viel mehr alles aus einem Guss erscheint als in Speyer – sicherlich auch bedingt durch die dortigen divergierenden Baukonzeptionen. Unübersehbar sind schließlich die gewaltigen Unterschiede hinsichtlich der Dimensionierung. Der heutige Dom ersetzt in Modena einen Vorgängerbau, der bereits im 4. Jh. – ganz frühchristlichen Gepflogenheiten folgend – außerhalb der eigentlichen römischen Stadt in einem Gräberfeld über der letzten Ruhestätte des hl. Germinianus, des Bischofs von Modena und späteren Stadtpatrons, errichtet worden war. Um dieses neue geistige Zentrum sollte sich in den nachfolgenden Jahrhunderten die mittelalterliche Stadt entwickeln. Den Grabungsbefunden zufolge handelte es sich bei der Kirche um eine etwas anders orientierte, kleinere, dafür aber fünfschiffige Basilika, die im Osten in fünf Apsiden endete. Bauökonomisch sinnvoll, legte man den neuen Chor etwas weiter östlich davon an, so dass die alte Kirche bis zum Abschluss der ersten Baukampagne nutzbar blieb (Cassanelli 1996).
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Die Quellenlage ist für den Dom von Modena ungewöhnlich gut: Weit ausführlicher als sonst ist man hier über das Baugeschehen informiert. Zu nennen sind zunächst einmal zwei an prominenter Stelle – am Chor und am Westportal des Doms – angebrachte Inschriften. Aus Letzterer ist z. B. bereits zu erfahren, dass die Arbeiten 1099 einsetzten und dass an dem Projekt nicht nur ein Architekt, sondern auch ein nicht minder bedeutender Bildhauer namens Wilhelmus tätig gewesen ist. Die meisten Details zum Baufortgang, einschließlich der Namen der daran Beteiligten, gehen dagegen aus einer zeitgenössischen Chronik hervor. Es wäre verfehlt, sie als eine Art Tatsachenbericht zu lesen, sind ihre Angaben doch oft alles andere als objektiv – allein schon deswegen, weil die Motivation für die Abfassung der Chronik nicht eigentlich das Baugeschehen ist, sondern – heute vielleicht weit weniger wichtig erscheinend – das damit verbundene Problem der Verlagerung der Gebeine des hl. Germinianus vom Alt- zum Neubau. Unzweideutig weist darauf bereits ihr Titel hin: „Relatio translationis corporis sancti Germiniani“. Das ist im Übrigen auch der Grund, weshalb Berichte nur für den Zeitraum von 1099 bis 1106, nicht aber bis zur Vollendung des gesamten Projekts vorliegen. Folgen wir den Angaben der Chronik: Demnach war das alte Gebäude baufällig geworden und habe zusammenzustürzen gedroht, weswegen man den Entschluss gefasst habe, es durch ein schöneres und größeres Gebäude zu ersetzen. Liest man andere vergleichbare Berichte, z. B. zu den französischen Neubauvorhaben des 12. und 13. Jh.s, so wird schnell deutlich, dass die Entscheidungsfindung nicht unbedingt tatsächlich so erfolgt sein muss. Vielmehr handelt
□ 58 Modena, Dom, Gesamtansicht von Südost, ab 1099
es sich hier eher um einen gern und überall angewandten Topos zur Rechtfertigung eines Neubaus, ganz gleichgültig in welchem Zustand sich das ältere Gebäude bei seinem Abriss wirklich befunden haben mag. Etwas interessanter und aussagekräftiger ist im Vergleich dazu der Hinweis der Chronik, dass das Vorhaben einmütig und mit Enthusiasmus nicht nur von den Klerikern, sondern auch von den Bürgern der Stadt in Angriff genommen worden sei (unito consilio non modo clericorum [...] sed et civium universarumque plebium prelatorum [...] una vox eademque voluntas). Deren Begeisterung soll von einer dritten Partei geteilt worden sein: der wichtigsten weltlichen Gewalt der Region, Mat hilde von Tuszien (ca. 1046 – 1115), die das Vorhaben ebenfalls umgehend unterstützt habe. Sie ist im Übrigen jene auf der Burg Canossa residierende Markgräfin, die während des Investiturstreits 1077 zwischen Papst Gregor VII. und Kaiser Heinrich IV. vermittelnd tätig geworden war. Dass demgegenüber in der Chronik kein Bischof genannt wird, hat wohl damit zu tun, dass die Entscheidung für den Neubau in eine mehrjährige Vakanz des Bischofs-
stuhls (1097 – 1100) fiel. Bemerkenswerterweise scheint in der Folge aber sowieso nur noch eine Gruppe von Relevanz gewesen zu sein: die Bürger. Angesichts der in Modena schon früh ausgeprägten Ansätze zu einem kommunalen Stadtregiment, die nach dem Tod der Markgräfin 1115 und bei allmählicher Zurückdrängung der bischöflichen Vorherrschaft zu einer immer größeren Selbständigkeit führten, ist das nicht weiter verwunderlich. Sie seien es gewesen, so weiß die Chronik zu berichten, die sich auf die Suche nach einem geeigneten Architekten gemacht hätten. Auch gingen im Weiteren auf ihre Ratsversammlungen die für den Dombau maßgeblichen Entscheidungen zurück. Aus einem möglicherweise anfänglichen Gemeinschaftsprojekt – insofern es überhaupt jemals ein solches gegeben hatte und es nicht nur einfach legendär ist – scheint also schnell ein ausschließlich bürgerliches geworden zu sein |▶ 30|. Hinsichtlich des konkreten Baufortgangs berichtet die Chronik, dass man dank göttlicher Fügung zunächst die für das Neubauvorhaben maßgebliche Person in Lanfrancus gefunden
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□ 59 Modena, Dom, Innenansicht nach Osten, ab 1099, Gewölbe im 15. Jh. nachträglich eingefügt
habe, ,einen bewundernswerten Künstler und außergewöhnlichen Architekten‘. Er sei der Entwerfer (designator) des Werkes gewesen und habe mit Weisheit und Kenntnis die Arbeiten auf den Weg gebracht. Auf seinen Rat hin und dank seiner Autorität hätten die Bürger von Modena und das ,ganze Volk‘ die Fundamente der Basilika in ihrer gesamten Breite und Länge am 23. Mai 1099 zu graben begonnen. Wundersamerweise sollen die Arbeiten bereits 18 Tage später fertiggestellt gewesen sein. Schon diese kaum der Realität entsprechende Angabe macht deutlich, dass derartige Quellen kritisch gelesen werden wollen. Auch würde sich bei einem Vergleich mit Texten zu anderen Neubauprojekten erneut zeigen, wie sehr man es hier mit für das Genre gängigen Topoi zu tun hat:
III. Schlüsselwerke
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insbesondere mit solchen, die erkennen lassen sollen, dass der Bau direkte göttliche Gunst erfahren habe. In Modena trifft man auf dieses Motiv noch ein weiteres Mal: Mit göttlicher Hilfe fand man nämlich nicht nur den Architekten, sondern auch – zudem genau passend zu Beginn der Ausführung des aufgehenden Mauerwerks – das benötigte Baumaterial. So sei man beim zufälligen Graben auf große Mengen Marmor gestoßen. Ruft man sich noch einmal den Umstand in Erinnerung, dass der Dom im 4. Jh. inmitten einer römischen Nekropole errichtet worden war, wo man zwangsläufig selbst beim oberflächlichsten Suchen schnell und einfach große Mengen römischer Marmorgrabplatten bester Material- und Verarbeitungsqualität und unterschiedlichster Provenienz finden musste, so erscheint der Vorgang allerdings weit weniger ungewöhnlich. Eindrücklich zeigt das Beispiel von Modena aber, dass die Wiederverwendung römischen Materials nicht immer unbedingt so bedeutungsschwer sein musste, wie das sicher für Aachen und Karl den Großen zutrifft |▶ 1|, wo sich der Bauherr auf diese Weise in die Nachfolge der römischen Kaiser zu stellen suchte. In Modena ging es vielmehr um das kostbare Material als solches, mit dem man nun zumindest das Äußere des – für die Region typischen – Backsteinbaus aufwändiger verkleiden und gestalten konnte. Nur wenige Funde wurden in der Art von Spolien behandelt und inszeniert, so einige Kapitelle oder die Löwen am Westportal. Wie stolz man aber grundsätzlich auf den Einsatz des hochwertigen römischen Fundmaterials war, zeigt allein schon seine explizite Erwähnung in der prominent an der Außenseite des Chorscheitels angebrachten Inschrift. Dass der Stein tatsächlich durchweg vor Ort gewonnen wurde, belegt im Übrigen ein städtischer Beschluss von 1167, mit dem man zugunsten des Neubaus eine Such- und Abbaugenehmigung für den Marmor unter Straßen und Plätzen inner- und außerhalb der Stadt erteilte.
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Wenig verwunderlich und bestätigt durch den Befund, begann man in Modena mit den Arbeiten in dem unmittelbar östlich des Vorgängerbaus gelegenen Chorbereich des Doms – einschließlich der Krypta, die zweifellos von Anfang an für die Aufnahme der Gebeine des Heiligen vorgesehen war. Interessanterweise folgte nach Fertigstellung dieses Bauteils und der unteren Partien des Chores der Ausbau des anderen Endes der Kirche – die Westfassade –, bevor dann im letzten Arbeitsschritt das Langhaus in Angriff genommen wurde. Resultat war ein zwar weit weniger monumentaler Bau als in Speyer, dafür aber einer, der hinsichtlich der Details und v. a. der Materialqualität ein mehr als gleichwertiges Projekt darstellte. Die Grundstuktur des Doms von Modena ist schnell beschrieben: Es handelt sich um eine dreischiffige, querhauslose Basilika – das heutige Querhaus ist erst um 1200 durch Umbauten entstanden – mit einem dreiteiligen Staffelchor, an dessen Nordseite als spätere Ergänzung eine für Italien typische separate Turmanlage, ein Campanile, zu finden ist. Das Äußere (□ vgl. 58) ist geprägt von den gleichmäßig die Seitenschiffswände strukturierenden Blendbogen, an deren oberen Ende sich als etwas plastischerer Akzent über einem Rundbogenfries eine Zwerggalerie findet, die pro Joch drei kleine Bogen aufweist. Die Gliederung der äußeren Hochschiffswand ist demgegenüber weit zurückhaltender. Lediglich einige schlichte Lisenen lassen sich hier finden, die recht un spektakulär die einzelnen Joche voneinander trennen. Insgesamt weist die Außenfassade ein ausnehmend lebendiges und präzise gearbeitetes Wandrelief auf, das jegliche Dicke und Schwere, die die Mauer ja eigentlich besitzt, vergessen lässt: ein überzeugendes Konzept, das – wie ein Blick auf den Dom von Ferrara zeigt – durchaus Nachfolge erfahren sollte. Das Innere des Doms (□ 59), in dem sich als originale Ausstattungsstücke heute noch der Ambo und der Lettner finden lassen, überfing
ursprünglich ein offener Dachstuhl. Interessant ist deswegen, dass auch schon vor dem nachträglichen Einbau der Gewölbe im 15. Jh. jeweils zwei Fensterachsen durch stärkere, aus verschiedenen Einzelelementen komponierte Pfeiler zu einem Joch zusammengefasst wurden. An der Mittelschiffsseite ist es eine die gesamte Hochschiffswand hochlaufende Halbsäule, hinter der eine zusätzliche rechteckige Rücklage zu finden ist. Zu den Seiten hin nehmen ähnlich gerundete Halbsäulen die einfachen Rundbogen der Arkaden auf. Auf der gegenüberliegenden Seite ruhen sie jeweils auf vergleichsweise zierlichen Säulen mit fein gearbeiteten römischen Spolienkapitellen. Darüber schließen sich relativ ungegliederte Wandflächen an, in die, entsprechend den Gliederungen des Laufgangs am Außenbau, drei von einem großen Rundbogen überfangene Bogen im Emporengeschoss – angesichts einer fehlenden Deckenkonstruktion handelt es sich um eine Scheinempore – sowie die schlichten rundbogigen Fenster des Obergadens eingeschnitten sind. Derartige Schlichtheit entspricht allerdings nicht der ursprünglichen Planung. Vielmehr hat man sich die gesamte Innenarchitektur verputzt und durch eine farbige Fassung stärker strukturiert vorzustellen: Die einzelnen akzentsetzenden Elemente wurden hierbei durch roten Anstrich gegenüber der restlichen, in Weiß gehaltenen Architektur hervorgehoben. Was wir heute sehen, ist also der erst dank späterer Purifizierungen wieder hervorgetretene Rohbauzustand des Kirchengebäudes. Mit dem Dom von Modena hat man ein weiteres Beispiel für die damals, d. h. um 1100, europaweit gegebenen Möglichkeiten zur Gestaltung der Hochschiffswand. In der Tat werden uns Eigenheiten, wie die Rhythmisierung des Raumes durch einen Stützenwechsel mit unterschiedlichen tragenden, teilweise die gesamte Wand hochlaufenden Elementen sowie dem restlichen beschriebenen Wandaufriss
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auch noch andernorts begegnen. Die Abteikirche im normannischen Jumièges (1040 – 1067; □ vgl. 24), an der genannter Stützenwechsel sehr früh auftritt, wäre hier ein Modena besonders verwandtes Beispiel. Dort scheint sogar die Gestaltung der Emporenöffnung nahezu identisch (vgl. Mailand, S. Ambrogio; Verona,
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S. Zeno). Muss die Frage hinsichtlich einer unmittelbaren Beeinflussung offenbleiben, so ist unbestritten, dass Jumièges in dieser Hinsicht – blickt man z. B. auf die Kathedrale von Durham – zumindest für die normannische Architektur stilbildend war.
S. Marco in Venedig Byzanz als Vorbild
S.
Marco ist ein weiteres eindrückliches Beispiel für die Bedeutung und den Einfluss von Byzanz bzw. der Ostkirche auf die mittelalterliche Architektur Westeuropas (□ 60, 61), in diesem Fall sogar ein noch größer dimensioniertes als die Aachener Pfalzkapelle Karls des Großen (□ vgl. 43, 44). So groß, dass ab 1807 S. Marco problemlos die Rolle eines Domes, d. h. der Kirche des Patriarchen von Venedig, übernehmen konnte, die bis dahin etwas abseits der Stadt gelegen hatte. Ursprünglich war der Bau allerdings nichts anderes als die Hauskapelle des unmittelbar südlich an ihn anschließenden Dogenpalastes – der Sitz des Stadtoberhauptes – und damit zugleich die erste Kirche des venezianischen Staates. Um die Motivation der Übernahmen byzantinischer Architektur verstehen zu können, ist einmal mehr die Kenntnis des historischen Kontexts von Bedeutung. Die Gründung Venedigs erfolgte für Italien vergleichsweise spät, erst im 5. Jh., in einer morastigen Lagune, also in einer für die Besiedlung nicht unbedingt besonders privilegierten Region. Anfänglich eine Provinz des Byzantinischen Reiches, stieg Venedig erst einige Jahrhunderte später, im 10. Jh., zu einer unabhängigen Republik auf, die dann allerdings immer stärker in Konkurrenz zu Konstantinopel treten sollte. Die
III. Schlüsselwerke
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erste Kirche des Dogenpalasts wurde 829 – 832 wohl noch als dreischiffige Säulenbasilika errichtet. Ihre vornehmste Aufgabe scheint die Aufnahme der Gebeine des Evangelisten Markus, des Stadtheiligen, gewesen zu sein, die venezianische Kaufleute der Legende nach kurz zuvor aus Alexandrien entführt hatten. Ein Brand machte dann Mitte des 11. Jh.s unter dem Dogen Domenico Contarini (1043 – 71) einen kompletten Neubau notwendig; eine Chronik nennt 1063 als das Jahr des Baubeginns (Zuliani 1996, S. 71). Spätestens fertiggestellt dürfte S. Marco 1094 gewesen sein, als man die Reliquien des Kirchen- und Stadtpatrons in die Krypta übertrug und zugleich den gesamten Bau weihte. In Ziegel ausgeführt, entstand hier aber nicht – wie damals in Norditalien eigentlich zu erwarten – eine Säulenbasilika, sondern ein Fünfkuppelbau auf kreuzförmigem Grundriss: eine sog. Kreuzkuppelkirche, in dieser Form eine interessante Mischung aus Zentral- und Longitudinalbau. Getragen von den vier größten Pfeilern der gesamten Konstruktion, ruht die Hauptkuppel über der zentralen Vierung bzw. auf den vier kurzen, zwischen ihnen gespannten Tonnengewölben. Ihr fügen sich in der Haupt-, d. h. in der Längsachse zwei ähnlich dimensionierte Kuppeln an, die Chor
109 □ 61 Venedig, S. Marco, Innenansicht, ca. 1063 – 94
□ 60 Venedig, S. Marco, Grundriss, ca. 1063 – 94
und Langhaus überwölben, während jene über den Querhausflügeln etwas kleiner ausfallen. Mit Ausnahme der Vierung sind alle Bereiche im Erdgeschoss dreischiffig, wobei Säulenarkaden die an die jeweiligen Seiten anschließenden Schiffe voneinander scheiden. Bei den beschriebenen Gewölbekonstruktionen, die mit den an ihrer Basis eingearbeiteten Fenstern für die Beleuchtung des Innenraums sorgen, handelt es sich um sog. Pendentifkuppeln: Zur Vermittlung zwischen dem quadratischen Joch, das sie überwölben, und dem eigenen runden Grundriss werden dabei Pendentifs – die in den Eckzwickeln zu findenden sphärischen Gewölbedreiecke – verwendet (vgl. die alternative, u. a. im Speyerer Dom auftretende Lösung eines Trompengewölbes, das sich demgegenüber besser zur Überleitung vom Quadrat zum Oktogon eignet; |▶ 6|). Betritt man S. Marco von Westen, so ist man zunächst einmal weniger von der Lichtfülle als vom Glanz der die gesamte Oberfläche bedeckenden, großteils in
S. Marco in Venedig
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Gold gearbeiteten Mosaiken überwältigt: Vom Umfang her mit die größten des Abendlandes, wurden sie in der heutigen Form großteils erst im späteren 12. und im 13. Jh. ausgeführt. Erhaltene Reste legen dabei nahe, dass die ursprüngliche Mosaikdekoration nicht ganz so üppig ausfiel, sondern sich eher auf Einzelfiguren beschränkte. Aachen vergleichbar erfolgte auch in Venedig die Übernahme der für die Region ungewöhnlichen, hier nun zweifelsfrei auf Byzanz zurückführbaren Bauformen kaum aus rein ästhetischen Gründen. Vielmehr war damit einmal mehr eine weitergehende Botschaft verbunden, nämlich Venedig zum neuen Konstantinopel zu stilisieren, jenem verbliebenen Konkurrenten, der damals allein noch der aufstrebenden Hafenstadt an der Adria die Vorherrschaft im Mittelmeer streitig machen konnte. Gleichwohl scheint man bei S. Marco nun nicht auf ein aktuelles Bauprojekt der östlichen Metropole zurückgegriffen zu haben. Ebenso wenig nahm man, was vielleicht besonders naheliegend gewesen wäre, die erste Kirche des byzantinischen Kaiserreichs zum Modell: die unter Kaiser Justinian I. (527 – 565) errichtete Hagia Sophia ( Themenblock · Antike, S. 81; □ 19). Es hat vielmehr den Anschein, dass für S. Marco eine andere, in ihrer justinianischen Form leider nicht mehr existierende Kirche vorbildlich war: die Apostelkirche (536 – 546), die den oströmischen Kaisern als Begräbnisstätte diente und – was für Venedig ausschlaggebend gewesen sein mag – die die Gebeine von drei anderen Aposteln (Andreas, Lukas, Timotheus) in sich barg. In der Tat lagern sich bei der Apostelkirche sehr ähnlich wie in S. Marco vier Kuppeln kreuzförmig um eine zentrale Hauptkuppel an; auf die Ähnlichkeit zu dieser Kirche hatte im Übrigen bereits eine lokale venezianische Quelle des 12. Jh.s hingewiesen (Zuliani 1996, S. 71). In manchen Details noch größere Nähe besteht allerdings zu einer Kirche, die – deutlich in der Nachfolge
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der Apostelkirche stehend – einmal mehr Kaiser Justinian über der Grabstätte eines weiteren Apostels hatte errichten lassen: die Johanneskirche in Ephesos, bei der sich Eigenheiten des Vorbilds, ähnlich wie schon bei S. Marco, lediglich leicht adaptiert wiederfinden. Offen ist, ob die Rezeption in Venedig nun auch mit der Anwerbung eines byzantinischen Architekten verbunden war – was lokale Legenden behaupten – oder ob es lediglich zur Übernahme der entsprechenden Konzepte durch Kräfte vor Ort kam (Zuliani 1996, S. 72). Diese bereits für sich gesehen bemerkenswerte Rezeption byzantinischer Architektur in Venedig besaß im Übrigen auch überregionale Bedeutung in der westeuropäischen Sakralbaukunst des Mittelalters, lässt sich doch seit dem ausgehenden 11. Jh. in Südwestfrankreich eine vergleichsweise reiche Rezeption des Typus der Kreuzkuppelkirche finden. Unter ihnen stellt die Kathedrale StFront in Périgueux (bis 1170) das monumentalste Beispiel dar. Eine schlüssige Erklärung für diese Verbindung steht noch aus. Wie beim Dom von Speyer wird auch das Bild von S. Marco zu wesentlichen Teilen von späteren Umbauten und Ergänzungen bestimmt. Der Startschuss dafür war der 1204 unter venezianischer Führung nach Konstantinopel ‚umgeleitete‘ Kreuzzug, der mit der Plünderung der Stadt endete: Nicht wenig von diesem Raubgut wurde unmittelbar zur Verschönerung der wichtigsten Kirche Venedigs, S. Marco, herangezogen. Damit nicht genug, erhielten damals deren bis dahin flachen Kuppeln außen hohe hölzerne Aufbauten, wodurch die Kirche überhaupt erst ihren heutigen exotischen Gesamteindruck gewann, ebenso wie man den Narthex im Norden und im Süden des Langhauses seitlich verlängerte. Auch erhielt die zunächst großteils backsteinsichtige, nur sparsam mit Marmor dekorierte Kirche in den nachfolgenden Jahrhunderten außen – teilweise auch innen – eine an Aufwand, Materialvielfalt und -kostbarkeit kaum mehr zu
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übertreffende Neuverkleidung von Wänden, Fußböden und Decken. Das Repertoire reicht hier von reich ausgearbeiteten Kapitellen über Säulenschäfte unterschiedlichster Materialien, wie Marmor, Alabaster, Jaspis, Serpentin oder Porphyr, bis hin zu den erwähnten, sehr byzantinisch anmutenden Mosaikflächen, mit deren Ausführung man allerdings bereits im 12. Jh. begonnen hatte. Ein Großteil der Materialien stammte direkt aus Konstantinopel, d. h. war dort geraubt worden. Die Kirche geriet damit gleichsam zu einem Architektur gewordenen Monument für Venedigs Triumph über den Rivalen im östlichen Mittelmeer, bekrönt von der berühmten, wiederum von dort stammenden Bronze-Quadriga am oberen Abschluss der Westfassade. Ähnlich wie schon bei Karl dem Großen und der Rezeption ravennatischer, ‚römischer‘ Architektur in seiner Pfalzkapelle einige Jahrhunderte zuvor, sollte nun mit all diesen Maßnahmen deutlich gemacht werden,
dass Venedig die größte See- und Handelsmacht am Mittelmeer, schlichtweg das ‚neue Konstantinopel‘ war. Bemerkenswert ist dabei, dass man sich nicht allein auf das bloße Zitieren der byzantinischen Quelle verließ, sondern gerade bei der Gestaltung der neuen Westfassade sich als Mittler zwischen Orient und Okzident par excellence erwies: In der Tat stellt diese eine ungewöhnliche Mischung von traditionellen, althergebrachten byzantinischen Eigenheiten und aktuellsten französischen Innovationen der Zeit dar. Dazu gehören nicht nur die reich ausgestalteten Stufenportale, an denen lediglich die damals in Frankreich üblichen Skulpturenprogramme fehlen, sondern auch die die Fassade bekrönenden Kielbogen und v. a. offenen Figurentabernakel, wobei Letztere sicherlich an entsprechende Lösungen der Kathedrale von Reims |▶ 23| erinnern müssen.
Der Dom von Pisa Konkurrenz zu Venedig
G
elegen auf der Westseite der italienischen Halbinsel, unweit der Arno-Mündung am Ligurischen Meer, war Pisa im Mittelalter nicht nur eine der größten europäischen Städte, sondern neben Genua, Amalfi und v. a. Venedig eine der großen, das Mittelmeer dominierenden Seefahrerrepubliken – ja, eine der bedeutendsten europäischen Mächte überhaupt. Entsprechend ausgeprägt war das Selbstbewusstsein, das nicht zuletzt in der Stilisierung Pisas zu einem zweiten Rom und seiner Bürger zu einer Art auserwähltem Volk aufscheint. Nach außen vertreten wurde der unabhängige Stadtstaat dabei von einer interessanten Mi-
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schung aus kirchlichen und bürgerlichen Repräsentanten: genauer gesagt vom in der Stadt residierenden Erzbischof und den Konsuln. Es verwundert deswegen kaum, dass ähnlich wie in Modena auch der Neubau des Pisaner Doms zu einem Gutteil ein städtisches Projekt darstellte (□ 62, 63). Es muss auffallen, dass die Grundsteinlegung für den Pisaner Dom 1063 genau übereinstimmt mit jener von S. Marco, der Hauptkirche Venedigs, des auf der anderen Seite der Halbinsel an der Adria gelegenen Rivalen (|▶ 8|, □ vgl. 60, 61). Kaum weniger erwähnenswert erscheint, dass das Projekt unmittelbar nach
Der Dom von Pisa
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□ 62 Pisa, Dom, Gesamtansicht des Campo Santo mit Baptisterium (l.; ab 1152), Dom (M.; ab 1063) und Campanile (r.; ab 1173)
einem erfolgreichen Feldzug einsetzte, der sich gegen einen anderen maßgeblichen Konkurrenten im Mittelmeerraum gerichtet hatte: gegen die Sarazenen auf Sizilien (Brucher 1987, S. 123 f f.). Eine an der Westfassade des Pisaner Domes angebrachte Inschrift erklärt in diesem Zusammenhang, dass die für seinen Neubau benötigten Mittel explizit aus jener Beute stammten, die man bei dem zu einer Art Kreuzzug stilisierten Unternehmen, an dem im Übrigen – wie betont wird – alle Schichten der Pisaner Bürgerschaft beteiligt gewesen seien, unter den islamischen Einwohnern Palermos gemacht habe (Kat. Staufer [1] 2010, S. 218). Mit dem Domprojekt wurde das Geld der Ungläubigen nun also gleichsam in bzw. zu einem christlichen Monumentalbau amelioriert. In Verbund mit der auffälligen Inschrift gerät der Dom damit zu Ausweis und Denkmal des wichtigen städtischen Sieges und verleiht so der – zumindest im westlichen Mittelmeer – gefestigten Vormachtstellung Pisas nachhaltig Ausdruck. Nicht unähnlich der Konstellation eines Triumphbogens, ging es bei dem Neubau also weniger um die Verherrlichung des in ihm
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residierenden Bischofs und seines Bistums, sondern vielmehr um eine solche der Macht und Bedeutung der ihn beherbergenden Stadt. Wie sehr in Pisa Bischof und Kommune zur Zeit des Domneubaus noch miteinander kommunizierende und agierende Partner waren, wird u. a. daran deutlich, dass Bischof Dagobert (1088 – 99) und der Rat es gemeinsam waren, die Ende des 11. Jh.s die Regulierung der Höhe der Turmhäuser der kommunalen Oberschicht festlegten (Kat. Staufer [1] 2010, S. 219). Die bereits in Modena und nun auch in Pisa aufscheinende bürgerliche Beteiligung oder Dominanz in Zusammenhang mit dem Neubau einer Bischofskirche ist in dieser Form typisch für Italien. Nördlich der Alpen lassen sich vergleichbare Tendenzen erst im Laufe des 13. Jh.s finden, als auch dort angesichts gewandelter Machtverhältnisse immer mehr Kommunen darangingen, den Bischof in außerhalb der Stadt gelegene Residenzen zu verdrängen. Mitunter konnte das ebenfalls mit der Übernahme der Leitung aktueller Bauvorhaben verbunden sein, wie das der Fall des Straßburger Münsters zeigt (|▶ 30|, □ vgl. 115). Davon einmal abgese-
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hen, waren aber natürlich bereits zuvor diese Großbauten innerhalb der Stadt – allein schon aus praktischen Gründen – nicht nur vom Bischof und dem Domkapitel genutzte Räume mit multifunktionalen Aufgaben. Legion sind die Belege, dass dort auch Versammlungen ganz weltlicher Natur bis hin zu Reichstagen u. Ä . stattfinden konnten. Gelegen ist der Dom von Pisa in der äußersten nordwestlichen Ecke der mittelalterlichen Stadt, anfänglich sogar noch außerhalb des ummauerten Bereichs. In seiner Zeit stellt er ein ähnlich ambitioniertes Großvorhaben dar wie S. Marco |▶ 8|, Alt-St. Peter oder Cluny III |▶ 12|. 1063 begonnen, war er 1118 bei der ersten überlieferten Weihe sicherlich noch nicht vollendet; vielmehr scheinen sich die Arbeiten bis in das frühe 13. Jh. hingezogen zu haben, wobei der Urplan unangetastet blieb. Anders als bei der Konkurrenz in Venedig spielte Byzanz für den Entwurf des Pisaner Doms keinerlei Rolle. Sein Neubau orientierte sich vielmehr an einem wesentlich gängigeren, seit dem frühen Christentum genutzten Modell, wie es etwa Alt-St. Peter ( Themenblock · Antike, S. 81; □ 45) verkörperte. Dieses war allerdings bereits zu allgemein verbreitet und deswegen zu unspezifisch, als dass man darin zwingend ein propäpstliches Statement sehen müsste (Hartmann-Virnich 2004, S. 139) – selbst wenn sich Pisa damals, d. h. während des Investiturstreits, tatsächlich auf der Papstseite finden lässt. Auch weist der Bau letztlich gegenüber Alt-St. Peter zu viele Unterschiede auf, sieht man einmal von den fraglosen Ähnlichkeiten beider Langhäuser ab, die jeweils als fünfschiffige Säulenbasilika gestaltet sind und oben von einer hölzernen Kassettendecke abgeschlossen werden. Ein erster Unterschied ist bereits die durchgängige Wölbung der Seitenschiffe, wie sie uns schon einige Jahre zuvor nördlich der Alpen in Speyer begegnet ist. Auch der Rest
des Baus weist mehr Unterschiede als Übereinstimmungen zu Alt-St. Peter und vergleichbaren Bauten auf: so der Ostabschluss mit den weit hervortretenden, dreischiffigen Querhausflügeln, die etwas niedriger als das Langhaus jeweils in einer Apsis enden, sowie die dahinter anschließenden Chorvorjoche, die die große Hauptapsis vorbereiten. In der Tat ist der Pisaner Dom damit der erste größere Sakralbau südlich der Alpen, den man auf einem ausgeprägt kreuzförmigen Grundriss errichtete. Am Kreuzungspunkt von Lang- und Querhaus lässt sich wieder eine ausgeschiedene Vierung |▶ 6| finden: Große Bogen trennen sie dabei vom Langhaus ab, während die Querhausflügel von ihr sogar in der ganzen Höhe geschieden sind. In diesem Bereich läuft die Hochschiffswand einfach weiter. Erst nach der an beiden Seiten in der Breite der zwei Seitenschiffe ausgebildeten Abtrennung öffnet sich das Mittelschiff des jeweiligen Querhausflügels in voller Höhe. Eine
□ 63 Pisa, Dom, Innensicht nach Südosten, ab 1063
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spätere Ergänzung stellt der alles überragende Vierungsturm dar, der v. a. am Außenbau Wirkung entfaltet. Ebenso neu ist die durchgängige Ausführung des Gebäudes mit recht kostbarem Baumaterial: mit in diesem Teil der Toskana anstehendem Marmor, dessen zwei Grundfarben Schwarzgrün und Weiß man geschickt für eine schichtweise Strukturierung der Hochschiffswände einsetzte, oder aber zur Akzentuierung, wie etwa bei den Zwickelflächen an den Arkaden, bei denen durchweg die dunkle Marmorsorte Verwendung fand. Deren Bogen stehen auf ausnehmend präzise gearbeiteten spätrömischen Spolien – sowohl, was die Kapitelle, als auch, was die Säulenschäfte betrifft, die jeweils aus sehr unterschiedlichem Material gearbeitet sind. Neu ist in Pisa zudem die generelle Gliederung der Hochschiffswand, die nun ein eigenes, jeweils zweischiffiges Emporengeschoss aufweist. Die dortigen Pfeiler, zwischen die Biforien mit reich verzierten Bogenfeldern eingespannt sind, finden durch ein auffälliges Streifenmuster, das aus der stärkeren Verwendung dunklen Steins resultiert, Akzentuierung. Ähnlich dem Dom von Modena und anderen oberitalienischen Sakralbauten der Zeit ist auch das Äußere des Pisaner Doms nahezu komplett mit Marmor verkleidet bzw. ausgeführt. Das Dekorationssystem fällt dabei gegenüber allen Vergleichsbeispielen etwas kleinteiliger aus: Die Innenraumgliederung mit Arkaden, Empore und Obergaden exakt spiegelnd, trennen hier Gebälke oder Gesimse deutlich drei Zonen voneinander. Konsequent und sehr durchdacht bringt der Architekt von unten nach oben in geradezu klassischer Weise die beiden seit der Antike ausgeprägten Tragesysteme zum Einsatz: So folgt der Blendarkatur eine Blendkolonnade und schließlich wiederum eine ebensolche, nun mit etwas reicheren Kapitellen ausgestattete Arkade. Ohne die gleiche Konsequenz wie im Innenraum arbeitet der Architekt einmal mehr mit dem Effekt der
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schichtweisen Präsentation des unterschiedlich gefärbten Materials. Bei den fensterlosen Achsen findet man zudem im oberen Abschluss der Flächen zwischen Pilastern und Säulchen der Arkaden bzw. Bogen in verschiedenfarbigem Marmor ausgeführte, eingetiefte Rhomben bzw. ebenso gearbeitete Tondi. Die Gliederung tritt grundsätzlich auch an den Querhausfronten und dem Ostabschluss auf. Dabei berücksichtigen die Apsiden der Ersteren nicht mehr ganz so konsequent die Geschosseinteilung, während Letztere auf Emporenniveau durch das Zurücksetzen der Mauer einen kleinen Säulengang erhält, dem im nächsten Geschoss, auf Höhe des Seitenschiffsdachs, eine Zwerggalerie folgt. Hier trifft man nun auf noch reichere Kosmatenarbeiten, die gemeinsam mit den anderen Dekorationssystemen – wie etwa der verschiedenfarbigen Bänderung – ihre Inspiration in islamischer Architektur gefunden haben mögen. Interessanterweise erfuhr das sehr spätantik-frühchristlich anmutende Pisaner Konzept kaum Rezeption. Hier scheinen die weniger von der Horizontale dominierten, demgegenüber geschossübergreifenden Lösungen, wie sie etwa zeitgleich am Dom von Modena (□ vgl. 58) auftreten, weit erfolgreicher gewesen zu sein. Ein für die Zeit recht ungewöhnlicher Aspekt des Pisaner Doms betrifft schließlich eine Inschrift, die sich heute gemeinsam mit dem zugehörigen Grabmal in Zweitversatz an der im 13. Jh. fertiggestellten Westfassade findet: Es handelt sich um jenes des zwischen 1104 und 1110 nachweisbaren Pisaner Dombaumeisters Busketus. Zusammen mit den Inschriften in Modena stellt es eines der ganz frühen noch erhaltenen Monumente dar, in denen auf so prominente Weise Künstler oder Architekten Verehrung erfahren. Ausführlich rühmt die Inschrift Busketus’ Fertigkeiten. Verglichen werden sie nicht nur mit jenen des Übervaters aller mittelalterlichen Architekten, Daedalus ( Themenblock · Der Architekt, S. 224; □ 96), son-
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dern – und das ist in diesem Zusammenhang sicherlich überraschend – auch noch mit jenen von Odysseus. Beide habe Busketus auf seine Weise übertroffen (,Mit seiner Klugheit richtete der schlaue [Odysseus] Schaden an, dieser hier [= Busketus] war mit seiner Klugheit nützlich. Dass das Labyrinth ein schwarzes Gebäude war, ist Dein Lob, Daedalus. Dagegen zeugen von Busketus seine hell strahlenden Kirchen. Unvergleichlich ist die Kirche aus schneeweißem Marmor, die ganz und gar dem Genie des Busketus entstammt.‘ (Kat. Staufer [1] 2010, S. 220, Anm. 52.) Noch heute bildet der Pisaner Dom mit einer Reihe weiterer Bauten ein beeindruckendes Ensemble (□ vgl. 62): Der berühmteste davon ist – allerdings weniger aus kunsthistorischen Gründen – natürlich der Campanile (ab 1173), besser bekannt als ‚Schiefer Turm von Pisa‘, mit seiner gänzlich von fortlaufenden Arkadenstrukturen aufgelösten Außenhaut. Ebenso bemerkenswert ist der etwas nordwestlich vorgelagerte Campo Santo, der als Golgatha nachgebildeter Begräbnisplatz gedacht war, und schließlich das ab 1152 unmittelbar westlich
des Domes errichtete Baptisterium. Wie hier exemplarisch zu sehen ist, legte man Baptisterien gerne als kompakte Zentralbauten auf rundem oder polygonalem Grundriss an. Bei ihrer Ausschmückung wurde zumeist nicht gespart (vgl. Florenz), lassen sich doch in vielen von ihnen, gerade im 12. bis 13. Jh., überreiche Dekorationen, oftmals in Mosaik ausgeführt, finden. Eine solche Taufkirche (griechisch baptisterion, also ‚Badebassin‘) direkt vor die Kirche zu stellen, ist gerade in Italien im Mittelalter eine sehr gängige Lösung. Zurückführbar ist sie auf den anfänglichen christlichen Brauch, die Taufe durch Eintauchen des gesamten Körpers zu vollziehen. Schon seit dem 4. Jh. lassen sich deswegen in der Nähe von Bischofskirchen eigenständige Kirchen oder Kapellen mit einem Wasserbassin finden. Grund für deren Separierung war dabei die mittelalterliche Vorstellung, dass es nur Getauften erlaubt sei, einen geweihten Sakralbau zu betreten. Dies war auch ein Grund dafür, in späteren Zeiten zumindest die Taufsteine – nun v. a. für die Neugeborenen – direkt hinter dem Eingang zu installieren.
|10| Die Kathedrale von Ely Leitbilder romanischer Architektur in England
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ie in mehreren Etappen entstandenen romanischen Partien der Kathedrale im südenglischen Ely können helfen, einen ersten Einblick in die Entwicklung englischer Architektur zu gewinnen – sie sind auch dafür aufschlussreich, inwiefern sich diese Bauformen in das restliche Bild der europäischen Architektur der Epoche einfügen oder aber – alternativ – in Kontinentaleuropa nicht existierende Besonderheiten aufweisen. Eine bereits im Mittelal-
ter überall anzutreffende, in England gleichwohl besonders ausgeprägte Eigenheit bestand darin, Bauten nicht in allen Fällen von Grund auf neu zu errichten, sondern es mitunter auch bei einer lediglich partiellen Erneuerung zu belassen, z. B. nur den wichtigsten Bauteil, den Chor, zu modernisieren – was in Ely in der Tat mit dem 1234 – 54 komplett erneuerten Ostabschluss (presbiterium nobilissimum; Kowa 1990, S. 115) und dem eindrucksvollen Vierungsturm
Die Kathedrale von Ely
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□ 64 Ely, Kathedrale, Langhaus der zweiten Bauphase, die südliche Hochschiffswand von Südwest, 1. Drittel 12. Jh.
des 14. Jh.s der Fall ist –, oder im Neubau sogar noch die unteren Partien eines Vorgängers weiterzuverwenden |▶ 19|. Mit den Arbeiten begann man in Ely in den 1080er Jahren unter Abt Simeon (1081-1093) im Chor- und Querhausbereich – ganz im Gleichklang mit der historischen Entwicklung, fiel doch dessen Fertigstellung Ende des 11. Jh.s mit der Erhebung Elys zum Bistum im Jahre 1108 zusammen (Fernie 2003); wie die meisten englischen Bistümer auch war Ely anfänglich eine Abtei gewesen. Der ursprüngliche Entwurf sah eine dreischiffige basilikale Kirche mit einem bemerkenswert langgestreckten, zwölfjochigen Langhaus vor, das von einer – heute aus dem 19. Jh. stammenden – Holzdecke überfangen war. Wie der Grabungsbefund zeigt, schloss sich ihm ein in fast gleicher Weise angelegtes Querhaus (in das östliche Seitenschiff
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lediglich Kapellen zwischen die Pfeiler eingebaut) und ein ebenfalls dreischiffiger Chor mit einer großen Apsis an (vgl. den Grundriss der Kathedrale von Winchester, 1079 – 9 3). Das hier v. a. interessierende, getreulich den Urplan reproduzierende Langhaus (□ 64) nahm man erst mit gewissem zeitlichem Abstand im ersten Drittel des 12. Jh.s in Angriff, bevor dann zwischen 1174 und 1189 der Bau des eindrücklichen Westabschlusses mit dem hochaufragenden Turm ( □ 65; integriert in eine Art Westquerhaus mit zwei im Osten angelagerten Kapellen: vgl. die identische Lösung in Bury St. Edmunds, nach 1081) den eigentlichen Schlusspunkt setzte. Die dem Turm vorgelagerte Galilaea ist erst eine spätere Hinzufügung (frühes 13. Jh.; |▶ 2). Ein Blick auf die heute noch am authentischsten erhaltenen Partien des romanischen Neubaus – im Inneren des Langhauses – erkennt schnell grundsätzliche Ähnlichkeiten zu den Wandgliederungen zeitgleicher oder früherer Bauten des europäischen Kontinents. Am nächsten steht ihr hierbei die knapp 20 Jahre ältere Abteikirche St-Etienne in Caen (|▶ 16|, □ vgl. 78): Wie dort ist der Aufriss der fein reliefierten Hochschiffswand von Ely dreiteilig mit Arkade, Empore und Obergaden. Den gesamten Raum durchläuft ein subtiler Rhythmus, sind doch die Langhauspfeiler im stetigen Wechsel einmal als recht wuchtige, vollrunde Elemente und einmal als fein abgestufte Bündelpfeiler ausgebildet, deren einzelnen Halb- und Viertelsäulen jeweils mit einer Abstufung des dreiteiligen Arkadenbogens übereinstimmen. In fast gleichartiger Ausprägung und Dimensionierung findet sich diese Gliederung auch im Emporengeschoss. Neu ist lediglich, hier nun – wie z. B. zeitgleich auch in Santiago de Compostela (|▶ 11|, □ vgl. 67) etc. zu finden – der Öffnung einen Zwillingsbogen einzustellen. Darüber schließt sich als dritte, wiederum fast gleich dimensionierte Zone der zweischichtige Obergaden an, der mittels eines schmalen Ganges
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ebenfalls begehbar ist. An der Seite der inneren Hochschiffswand finden sich hier – dem späteren Palladio-Motiv nicht unähnlich und getragen von zwei schmalen Säulchen – zwei kleine Bogen, die einen zentralen größeren und höheren rahmen: insgesamt also eine subtile Formsteigerung von unten nach oben, bei der der großen □ 65 Ely, Kathedrale, Westfassade, 1174 – 89
einbogigen Arkadenöffnung die feinere zweibogige in der Empore folgt, auf der schließlich die reichste und filigranste des Obergadens mit den drei Bogen sitzt. Schmale, die Geschossgrenzen markierende Gesimse und eine ähnlich feine, runde Wandvorlage, die an jeder Jochgrenze an der Front die gesamte Hochschiffswand durchläuft und an der sich die Gesimse verkröpfen, unterstützen das ausgewogene Verhältnis von
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Horizontale und Vertikale, eine in ihrer Komplexität durchaus bereits an spätere, gotische Bauten erinnernde Lösung, mit der konsequent die Schwere und Massivität der Wand aufgelöst wird. Der Grund für die angedeuteten Ähnlichkeiten zwischen Ely und anderen zeitgleich in der Normandie und in England entstandenen Bauten (vgl. Caen, St-Etienne; Winchester, Querhausarm; Ely, Quer- und Langhaus) ist in der Person Wilhelms des Eroberers zu suchen. Er war es, der in die Hauptbistümer seines 1066 eroberten neuen englischen Königreichs aus der Normandie kommende Geistliche einsetzte, unter denen ein umfassendes Neubauprogramm in Angriff genommen wurde, mit dem so gut wie alle Kathedralen und wichtigsten Abteien der Insel Erneuerung oder sogar erstmalige Anlage fanden. Als die herausragendsten Projekte, die man jeweils in für die Zeit hochmodernen Formen realisierte, sind hier nur die in den 1070er Jahren ausgeführten romanischen Vorgängerbauten der Kathedralen von Canterbury, Lincoln oder Winchester zu nennen. Letzteres ist im Übrigen zweifelsohne unter den englischen Vergleichsbeispielen der Ely in Grund- und Aufriss am engsten verwandte Bau. Verblüffend ist hierbei der geringe zeitliche Abstand zwischen den beiden so auffallend ähnlichen Projekten (Winchester ab 1079; Ely nach 1081). Die Rezeption kann sich also kaum auf die bereits stehende Anlage in Winchester – bei Fertigstellung im Übrigen einer der größten Sakralbauten des Abendlandes – beziehen. Eine Erklärung für die Verwandtschaft ist sicherlich, dass der in Ely verantwortliche Abt, Simeon, ausgerechnet Bruder jenes Bischofs von Winchester, Walkelin (1070 – 98), war, unter dem man dort das Neubauprojekt in Angriff genommen hatte (Fischer 2009, S. 327; Keynes 2003, S. 53); nicht zu lösen ist damit gleichwohl die Frage nach dem genauen Vermittlungsweg (Zeichnung?, Modell?). Den eigentlichen gestalterischen Höhepunkt der Kathedrale stellt der erst unter Bischof
III. Schlüsselwerke
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Geoffrey Ridel (1174 – 89) ausgeführte, deutlich an Bury St. Edmunds (nur Grundriss erhalten) orientierte Westabschluss (□ vgl. 65) dar: ein komplexes, vieltürmiges Gebilde, dem heute allerdings der Nordflügel fehlt. Charakteristisch sind die mit einem gewissen horror vacui zum Einsatz gebrachten Blendarkaturen und Dekorelemente, die kaum mehr einen Quadratmeter ungestaltet lassen und die die einzelnen Bestandteile der Anlage überhaupt erst zu einer Einheit verschmelzen. Dies ist eine bei normannischen Bauten in England recht häufig auftretende Lösung, für die sich aber zeitgleich u. a. auch in Südwestfrankreich Verwandtes finden ließe (vgl. z. B. Rioux, Nôtre-Dame, Ende 12. Jh.s). Besonders ins Auge springend ist der Dekorreichtum in Ely an den ehemals vier auf oktogonalem Grundriss errichteten Türmchen, mit denen die Ecken des querhausartigen Westabschlusses markiert sind. Jedes Geschoss wird hier mit einer immer neuen Blendbogen erfindung belebt (Details zeigen bereits erste Kenntnis gotischer Erfindungen: vgl. die Fenstergewände mit den Schaftringen und den dazwischen en délit versetzten Schäften), die die Mitte jeder Oktogonseite noch einmal durch eine halbrunde, alle Geschosse durchlaufende Wandvorlage betont. Mehr Formen sind auf solch engem Raum kaum noch vorstellbar. In den beiden seitlich anschließenden Achsen des Querhauses werden all diese Motive geschossweise genau übernommen und – bedingt durch die größere zur Verfügung stehende Wandfläche – um weitere Elemente, insbesondere um Fenster, ergänzt. Dort, wo nun aber wirklich schlichtes Mauerwerk auftritt, bereicherte man es umgehend durch eine à jour gearbeitete Diamantierung oder anderen Dekor. Deutlich zurückgenommen wirkt im Vergleich dazu die Gestaltung des zentralen Turms, an dem in der jeweiligen Ebene ähnliche strukturierende Elemente in Erscheinung treten, allerdings – einmal abgesehen von den nun deutlich an Zahl zunehmenden Fenstern und Schallöffnungen –
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nicht mehr in der bisherigen Dichte. Vielmehr wirkt er eher durch seine monumentale Großform: errichtet auf quadratischem Grundriss und mit markanten Eckbetonungen durch eine Austreppung der Wand um einige Meter. Gerade dieses Motiv verleiht dem Turm eine gewis-
se Wehrhaftigkeit, die weitere Betonung durch die an allen Bereichen auftretenden Zinnen findet. Das heutige oberste Geschoss mit dem von vier Türmchen umstellten oktogonalen Kern kam demgegenüber erst im 14. Jh. hinzu.
Die Kathedrale von Santiago de Compostela Das Problem mittelalterlicher Pilgerkirchen
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in Bau, der schon im Mittelalter auch weit über seine Region hinaus bekannt war – ja, sein musste –, ist sicherlich die Kathedrale im galicischen Santiago de Compostela (Mora 2011, Rüffer 2010): weniger wegen irgendwelcher architektonischen Besonderheiten, sondern weil diese im äußersten Nordwesten Spaniens gelegene Kirche damals für Abertausende von Pilgern den Endpunkt einer wochen- oder gar monatelangen beschwerlichen Reise darstellte. Hätte man noch vor 25 Jahren erklären müssen, dass diese an einer der populärsten Pilgerfahrten des Abendlandes teilnahmen, die sie schließlich zu den Gebeinen des hl. Apostels Jakobus d. Ä., des vermeintlichen Missionars der Iberischen Halbinsel, führte, so ist das nach dem erstaunlichen – jetzt nur noch eingeschränkt religiös motivierten – Aufschwung des sog. Jakobswegs gerade in den letzten Jahren kaum mehr notwendig. Im Mittelalter resultierte die große Beliebtheit der Pilgerfahrt weniger daraus, dass es sich bei Jakobus um einen über die Iberische Halbinsel hinaus besonders wichtigen Heiligen gehandelt hätte. Vielmehr war einer der Gründe, dass sie gleichsam den glücklichen Kompromiss darstellte zwischen der allzu einfachen nach Rom und der allzu aufwändigen und gefährlichen nach Jerusalem zu den heiligen Stätten. Anders als bei den beiden
letztgenannten, in der Bedeutung vergleichbaren Zielen führten die dauerhafte Popularität Santiago de Compostelas und der damit verbundene Geldfluss dazu, dass entlang der vier Hauptpilgerwege, die jeweils in Paris, Vézelay (□ vgl. 22), Le Puy und Arles ihren Ausgang nahmen und sich südlich der Pyrenäen zu einem einzigen zusammenschlossen, im 11. und 12. Jh. eine ganze Fülle von Sakralbauten und zugehörigen Skulpturenprogrammen entstanden. Ebenso wurden umfangreiche Maßnahmen zur allgemeinen Verbesserung der Infrastruktur getroffen, wie die Anlage von Brücken und Hospitälern, mit denen den Pilgern ihr Weg erleichtert werden sollte. Einen besonderen Glücksfall stellt es dar, dass in einem Teil des in Santiago de Compostela aufbewahrten sog. „Codex Calixtinus“ der 1. Hälfte des 12. Jh.s – einem für die Verehrung des hl. Jakobus zentralen Werk – eine Art Pilgerführer überliefert ist. In ihm werden nicht nur die Reliquien der einzelnen Kirchen entlang der Strecke beschrieben, sondern auch ihr Skulpturenschmuck ebenso wie deren Größe und Aussehen – ein bemerkenswertes Dokument, auf das noch zurückzukommen sein wird. Ihren historischen Ausgang nahm die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela mit der ‚Wiederentdeckung‘ der Gebeine des hl. Jako-
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bus im 9. Jh., in einem Bereich Spaniens, der im Gegensatz zur restlichen Iberischen Halbinsel niemals islamisch besetzt wurde und so die Jahrhunderte hindurch den christlichen Pilgern problemlos zugänglich blieb. Zur Aufnahme der Reliquien des hl. Jakobus errichtete man zunächst eine kleine einschiffige Kirche, die bereits der asturische König Alfons III. 872 durch einen größeren dreischiffigen Bau ersetzen ließ. Nicht zuletzt aufgrund der inzwischen stark gestiegenen Pilgerzahlen erfolgte um 1078 die Vergrößerung und Umgestaltung mit einem weiteren, den bis heute erhaltenen Neubau. Ein Blick auf ihren für die Zeit recht ungewöhnlichen Grundriss zeigt, dass eine der maßgeblichen Triebfedern des Entwurfs offensichtlich tatsächlich die Pilgerströme darstellten, die inzwischen zu ungekannter Größe angeschwollen waren (□ 66). Heute in die barocke Westfassade integriert, betritt man die Kirche durch eine Vorhalle und eine reich mit Skulpturenschmuck verzierte Portalanlage (sog. Pórtico de la Gloria des Meisters Mateo, vollendet 1188), die gemeinsam mit dem ersten Langhausjoch auf einer Unterkirche stehen, die den durch die Hanglage bedingten Niveauunterschied ausgleicht. Das Langhaus ist eine dreischiffige Emporenhalle von zehn Jochen Länge, dessen Mittelschiff tonnengewölbt ist, während die Seitenschiffe Kreuzgratgewölbe besitzen. Der Aufriss der Hochschiffswand ist zweiteilig, mit einer bereits gut zwei Drittel davon einnehmenden Arkadenzone und Empore (□ 67). Die Wand ruht auf eng gesetzten Bündelpfeilern (Jochtiefe: nur ca. 8 m): So sind einem alternierend quadratischen oder runden Kern Halbsäulen appliziert, auf denen an drei Seiten die Arkadenbogen sowie die Gurtbogen des Seitenschiffs ruhen. Demgegenüber läuft sie an der Hochschiffsseite geschossübergreifend bis zum Gewölbeansatz hoch, wo sie jeweils die Gurtbogen, die die einzelnen Joche markant voneinander
III. Schlüsselwerke
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absetzen, aufnimmt. Dabei durchschneidet die Halbsäule auch den kleinen, beide Geschosse trennenden Konsolfries. Die Gliederung der abschließenden Emporenzone entspricht – bei geringerer Höhe – genau jener im Arkadengeschoss, mit dem einzigen Unterschied, dass der Bogen eines jeden Joches nun von zwei kleineren, auf gekuppelten Säulen ruhenden Bogen untergliedert wird. Hinsichtlich Grund- und Aufriss ist das Langhaus vollkommen identisch mit dem nahezu gleich dimensionierten Querhaus, das sich lediglich durch die beiden, jeweils an der Ostseite ihrer Arme applizierten Apsiden unterscheidet. An seinen Stirnseiten finden sich nun zwei weitere Hauptzugänge der Kirche, von denen das noch originale Doppelportal im Süden, die im Jahr 1103 vollendete Puerta de las Platerías, wiederum reichen Skulpturenschmuck aufweist. Die bemerkenswerteste Eigenheit stellt aber schließlich der Chor der Pilgerkirche dar, trifft man hier doch – nimmt man einmal den Vorläufer in der Westkrypta von St. Michael in Hildesheim (|▶ 4|, □ vgl. 52) aus – erstmals bei unseren Schlüsselbauten auf einen einschiffigen Chorumgang und fünf Kranzkapellen mit rundem bzw. – bei der im Scheitel – quadratischem Grundriss: eine für die kommenden Jahrhunderte wegweisende Lösung, die v. a. in der französischen Kathedralgotik des 12. und 13. Jh.s reiche Rezeption finden sollte. □ 66 Santiago de Compostela, Kathedrale, Grundriss, ab ca. 1078
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Zahlreich sind also die Hinweise (vgl. die drei großen Portalanlagen im Westen und im Querhaus; Umgangschor), dass es bei der Konzeption der Kathedrale von Santiago de Compostela – für eine Pilgerkirche wenig verwunderlich – in der Tat wesentlich um ein möglichst reibungsloses ‚Durchschleusen‘ großer Menschenmassen durch den Kirchenraum ging. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die gänzlich gleichwertige Ausgestaltung von Lang- und Querhaus sowie die Eigenheit, dass ein Pilger den gesamten Kirchenraum durchgängig in einem vom Mittelschiff separierten Bereich umlaufen konnte – möglicherweise sogar auf zwei Ebenen, da das Emporengeschoss in dieser Beziehung vollkommen identisch dem Erdgeschoss gebildet war; allerdings fehlen entsprechende großformatige Treppenhäuser. Ermöglicht wird dieser unterbruchlose Umgang durch die Eigenheit, das direkt hinter den Querhausfassaden gelegene Joch genau in der Art der restlichen Hochschiffswand auszubilden. Auf diese Weise konnten nun in Santiago de Compostela die Pilgerströme geordnet zum zentralen Jakobsaltar im Sanktuarium und dem unter ihm befindlichen Grab des Heiligen (keine Krypta, sondern bemerkenswerterweise unzugänglich; ursprünglich wohl durch eine senkrechte Öffnung vom Chor aus sichtbar) hin- und wieder weggeführt bzw. um diesen herumgeleitet werden, ohne das Geschehen im jeweiligen Mittelschiff – im Chor natürlich das Feiern von Stundengebet und Messe – zu stören. Bei aller Bedeutung, die diese Lösung für das Funktionieren der Kathedrale von Santiago de Compostela besaß; ihrem Architekten gebührt nicht das Verdienst, den Umgangschor tatsächlich erfunden zu haben. Solches lässt sich in Vorformen bereits im 4. Jh. an den spätantiken dreischiffigen Basiliken nachweisen, die damals in Rom entlang der Ausfallstraßen – offensichtlich noch ohne christlichen Hintergrund (z. B. S. Agnese fuori le mura) – entstanden. Zielführender ist jedoch ein Vergleich mit der
□ 67 Santiago de Compostela, Kathedrale, die Hochschiffswand des südlichen Querhauses nach Nord osten, ab ca. 1078
bereits 335 unter Kaiser Konstantin geweihten Anastasis-Rotunde der Grabeskirche in Jerusalem (□ vgl. 47), einem noch bedeutenderen Pilgerziel der Christenheit, wo das Prinzip eines Säulenumgangs wirklich zur Leitung und Regulierung von Pilgerströmen genutzt wurde. Auch in Santiago nähergelegenen Zeiten sind derartige Lösungen nachweisbar, etwa für die Umgangschöre der Abteikirche in Stablo (Oststeile ca. 1021 – 46), von St. Maria im Kapitol in Köln (ab 1040), Battle Abbey (Sussex, vor 1070 – 94) oder St. Augustin’s Abbey in Canterbury (ab 1070 / 73). Es ist jedoch eine andere Gruppe von Bauten, mit denen Santiago letztlich wirklich in Verbindung steht. Bereits der eingangs genannte Codex, der sog. Pilgerführer, gibt hier erste Hinweise, heißt es dort doch explizit, dass die Kirche St-Martin in Tours ,nach dem Vorbild
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der Kirche des heiligen Jakob‘ (ad similitudinem scilicet ecclesie beati Jacobi ) errichtet worden sei (Herbers 1992, S. 19). Die suggerierte Priorität Santiagos, die wohl v. a. darauf abzielte, die Pilgerfahrt zu den Gebeinen des hl. Martin etwas abzuwerten, mag in diesem Fall zutreffen. Es ist heute nicht mehr nachprüfbar, fehlen doch bei der in der Französischen Revolution zerstörten Kirche St-Martin genauere Daten – angenommen wird ein Baubeginn um 1070 oder aber erst nach einem Brand 1096. Mit Blick auf weitere, dieser Gruppe zugehörige Bauten wird es allerdings schwierig, eine derartige Führerschaft Santiagos gänzlich kritiklos zu akzeptieren. In der Tat lässt sich – jeweils in der zweiten Hälfte des 11. Jh.s entstanden – in Frankreich eine beachtliche Gruppe sehr ähnlicher Bauten nachweisen. Zu nennen sind hier St-Martial in Limoges (seit 1030 Wallfahrt zum hl. Martialis; 1095 Weihe mindestens der Ostteile, zerstört), St-Sernin in Toulouse (beg. in den 1070er Jahren nahe der Grabstelle des ersten Bischofs von Toulouse, Weihe 1096) und Ste-Foy in Conques. Dabei hat man Letztere mitunter als den Urtyp für eine derartige Präsentation und Inszenierung von Reliquien ansehen wollen; allerdings ist ihre Datierung in die 1040 / 50er Jahre nicht unumstritten (Krüger 2002). Angesichts fehlender Daten für die Grundsteinlegungen erscheint eine abschließende Klärung heute kaum möglich. Auffällig ist lediglich die große Ähnlichkeit der gerne unter dem Begriff der ‚Pilgerkirchen‘ gefassten Bauten, deren ausnehmend verwandten Grund- wie Aufrisse die jeweilige Kenntnis der anderen Bauprojekte zwingend notwendig machen: In der Tat handelt es sich in allen Fällen um Emporenhallen mit Umgangschören und ausladendem dreischiffigem Querhaus, die auch in der Detailbildung der Hochschiffswand überaus ähnlich erscheinen (bis hin zu den gekuppelten Säulen im Emporengeschoss etc.). Ganz offensichtlich war hier also eine idealtypisch empfundene Lösung gefunden worden, die auch überregional als Modell dienen
III. Schlüsselwerke
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konnte, welches man nun an bemerkenswert weit auseinander gelegenen Orten nur leicht variiert reproduzierte. Daraus ist allerdings nicht unbedingt zu folgern – wie in jüngerer Zeit zu Recht bemerkt worden ist –, dass der eigentliche Grund für die Übernahme des Konzepts tatsächlich immer in der Inszenierung der Reliquien eines Heiligen liegt. Dazu sind die Entstehungs- und Nutzungskontexte zu unterschiedlich. Insbesondere lässt sich bei einigen Bauten eine solche Verehrung überhaupt nicht nachweisen, gerade auch bei den meisten unmittelbar nachfolgenden Bauten mit Umgangschören |▶ 12|, bei denen man die Lösung eher wegen des Vorzugs der Vermehrung von Altarstellen gewählt zu haben scheint. Gleiches gilt auch für die Wahl des Typus ‚Hallenempore‘, die ebenfalls nicht unbedingt immer der Bewältigung von Pilgermassen geschuldet sein musste. Vielmehr könnte dahinter auch schlicht eine Lösung stehen, die zum damaligen Zeitpunkt – vor der Entwicklung gotischer Strebesysteme, wie sie erst ein Jahrhundert später auf den Plan treten sollten – überhaupt eine vollständige Einwölbung von Bauten derartiger Dimensionierung möglich machte (vgl. Reims, St-Remi, 1. Hälfte 11. Jh.): In diesem Fall wären die Emporen allein – oder zumindest hauptsächlich – als Widerlager für die Schubkräfte der Gewölbe zu verstehen (Krüger 2002). Darauf mag in Santiago bereits die dortige, im Gegensatz zu den Seitenschiffen halbkreisförmige, tatsächlich an Strebebogen erinnernde Gewölbeführung hinweisen. Allerdings ist damit noch nicht die Eigenheit der Weiterführung des Quer- und Langhausaufrisses auch an den inneren Stirnseiten der Querhäuser erklärt, die das Umlaufen des jeweiligen Mittelschiffs ermöglichten: Sie wären dafür sicherlich nicht notwendig gewesen. Es scheint demnach durchaus unterschiedliche, sich teilweise überlappende Motivationen für die Anwendung dieses Gesamtkonzepts gegeben zu haben.
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Die Abteikirche von Cluny Liturgische Reform und ein maßstabsetzender Kirchenbau
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icht umsonst hat die Abteikirche St-Pierreet-St-Paul in Cluny in den vorangegangenen Darstellungen immer wieder Erwähnung gefunden (□ 68). Zweifelsohne ist sie eine der Referenzgrößen schlechthin für die Architektur des 11. und 12. Jh.s. Ihre Wichtigkeit mag man schon daran erkennen, dass sie als einzige Aufnahme in die 50 Beispielbauten gefunden hat, obwohl sie gar nicht mehr erhalten ist: Einmal abgesehen von dem traurigen Rest des Südflügels des großen Querhauses, den die Abbrucharbeiten im frühen 19. Jh. von dieser Anlage
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übrigließen, als man sie in nachrevolutionären Zeiten als günstigen Steinbruch missbrauchte. Trotz der nur in bescheidenem Umfang erhaltenen Originalsubstanz liefern historische Bildquellen, aber auch einige Nachfolgebauten genügend Anhaltspunkte für eine recht genaue Rekonstruktion der Anlage. □ 68 Pierre François Giffart: Cluny, Benediktinerabtei, 1088 – 1130, Ansicht von Norden und Grundriss des dritten Baus (Cluny III) mit später ergänzten Strebebogen, Radierung frühes 18. Jh.
Die Abteikirche von Cluny
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□ 69 Cluny, Benediktinerabtei, Rekonstruktion des Innenaufrisses nach Conant, 1088 – 1130
Mit dem 1088 begonnenen und 1130 geweihten monumentalen Neubau von Cluny entstand bereits die dritte Kirche der etwa 120 km südlich von Dijon am damaligen Ostrand des Königreichs Frankreich gelegenen Benediktinerabtei. Beeindruckend sind ihre Maße, die die Kirche in der Tat lange Zeit zur größten der Christenheit machten: Wurden die 30,5 m Scheitelhöhe der Mittelschiffsgewölbe (□ 69) bald schon von den französischen gotischen Kathedralen übertroffen, so bleibt ihre Gesamtlänge von 187 m – einschließlich der erst im 13. Jh. vollendeten Vorkirche im Westen (ohne diese: ca. 130 m) – einzigartig. Nicht weniger ungewöhnlich fiel die gesamte Klosteranlage aus, die zweifellos die größte war, die das Abendland je gesehen hatte. Einmalig reich war schließlich die Durchbildung der Architektur im Detail. Es liegen also genügend Hinweise dafür vor, dass man es bei Cluny III mit weit mehr als nur der Kirche eines ‚normalen‘ Benedik-
III. Schlüsselwerke
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tinerklosters zu tun hat: Tatsächlich ist sie die Mutterkirche des damals wichtigsten Reformzweiges des altehrwürdigen, vom hl. Benedikt im 6. Jh. gegründeten Ordens. In dieser Rolle agierte Cluny bereits seit dem späten 10. Jh. überaus erfolgreich. Befördert wurde dies u. a. durch eine privilegierte Stellung, die die Abtei schon 910 bei der Gründung durch Herzog Wilhelm den Frommen von Aquitanien einnahm, war sie doch von Anfang an keiner anderen geistlichen oder weltlichen Macht, sondern allein dem Papst unterstellt. Die ungewöhnliche Freiheit, die weiter durch das Machtvakuum gefördert wurde, das sich durch die Lage der Abtei im Grenzgebiet zwischen dem französischen Königreich und Heiligem Römischem Reich ergab, ermöglichte ihr innerhalb weniger Jahrzehnte den Aufstieg zu einer der wichtigsten religiösen Institutionen des Abendlandes überhaupt (Droste 2001, S. 31 ff.). Ihr Erfolg wird bereits bei einem Blick auf den in der zweiten Hälfte des 10. Jh.s errichteten Vorgängerbau, auf Cluny II, deutlich, der noch bedeutend kleiner ausfiel. Auf den Grundrissen der bis zu Beginn des 19. Jh.s erhaltenen Gesamtanlage wirkt er (als partiell dem neuen Kreuzgang assoziierte Kirche) nun geradezu kapellenartig winzig. Gleichwohl war auch ihre Architektur von weitergehender Bedeutung, folgten doch nicht wenige Benediktinerkirchen der Zeit ihrem Modell. Ein Grund dafür könnte natürlich die gegenüber dem dritten Neubau ‚normalere‘ und einfacher zu rezipierende Dimensionierung gewesen sein. Eigentlich ausschlaggebend war allerdings, dass Cluny genau in dieser Zeit, gegen Ende des 10. Jh.s seine Einflusssphäre deutlich auszudehnen vermochte und fortan selbst weit außerhalb Burgunds Priorate besaß, so dass seine Architektur auch überregional Einfluss gewinnen konnte. Über den Grundriss dieser 981 geweihten Kirche weiß man relativ genau Bescheid: Demnach wurde das dreischiffige, von sieben Arkaden getragene basilikale Langhaus, dem im Westen
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eine mehrschiffige Vorkirche – Narthex oder Galilaea genannt – vorgelagert war, nach Osten durch ein vergleichsweise schmales Querhaus abgeschlossen. Dieses ging über in einen reichen, aus insgesamt sieben Kapellen oder (Neben-)Chören entwickelten Staffelchor. Immer weiter zur Mitte hin abgetreppt, flankierten diese den zentralen und größten Hauptchor. Eine gewisse Vorstellung von der Anlage und dem Aussehen des aufgehenden Mauerwerks kann bis heute die Klosterkirche Hirsau geben (ab 1085), eine ebenfalls der Cluniazensischen Reform angehörende Abtei. Wie sah nun aber das 1088 unter Abt Hugo von Semur (1049 – 1109) begonnene, unvergleichlich größere Projekt von Cluny III aus, das Förderung durch solch prominente Persönlichkeiten wie die beiden Könige Alfons VI. von Kastilien und Heinrich I. von England erhielt? Offensichtlich ist, dass hier bei den Planungen einmal mehr Ideen frühchristlicher Bauten wie den zwei römischen Patriarchalbasiliken Alt-St. Peter (□ vgl. 45) oder S. Paolo fuori le mura mitschwangen. Angesichts des eigenen Patroziniums – so war die Abteikirche von Cluny selbst den beiden Apostelfürsten geweiht – besaß das durchaus Logik: Ähnlichkeiten lassen sich hier nicht nur hinsichtlich der allgemeinen Dimensionierung (jeweils ca. 130 – 140 m Länge, ca. 30 m Höhe), sondern auch bezüglich des durchgängig fünfschiffigen, basilikalen Langhauses finden, das im Fall von Cluny eine Länge von elf Jochen besitzt. In eine ganz andere Richtung weist dagegen die weitere Organisation des Gebäudes, v. a. der Ostabschluss mit zwei hintereinandergeschalteten, unterschiedlich dimensionierten Querhäusern: Bisher waren ja an einer Kirche zwei von ihnen – räumlich deutlich voneinander getrennt – ausschließlich an den gegenüberliegenden Enden derselben aufgetreten (|▶ 4|, □ vgl. 52). In der in Cluny vorliegenden Form, insbesondere mit ihren zahlreichen Umgangskapellen, sind hier zweifellos die Verbindun-
gen zur kurz zuvor, um 1075 begonnenen Pilgerkirche von Santiago de Compostela und zu anderen diesem Umkreis angehörende Kirchen wie z. B. Conques, Toulouse, Nevers |▶ 11| von Bedeutung. Nicht ganz außer Acht lassen sollte man, dass parallel dazu Vorläufer auch im Norden zu finden sind, die jedoch keinen direkten Einfluss auf Cluny III gehabt haben dürften, so etwa Stablo (nach 1021) oder St. Maria im Kapitol in Köln (ca. 1040 – 65). Beeindruckend muss v. a. die Außenwirkung der aus so vielen Einzelelementen komponierten Anlage von Cluny III gewesen sein: gerade der große Schlussakkord im Osten, mit den vier gewaltigen Türmen über den zwei Vierungen und über den Armen des großen westlichen Querhauses, aber auch mit seinen zahllosen, dem gesamten Ostabschluss applizierten Apsiden bzw. Kapellen. Kapellen scheinen in Cluny III überhaupt eine große Rolle gespielt zu haben, sind sie doch nicht nur am Chor, sondern auch jeweils an den Ost-, partiell auch an den Stirnseiten der Querhausarme zu finden. Ihnen ist noch die ganze Fülle von Altären im Langhaus hinzuzurechnen. Gemeinsam mit der beeindruckenden Gesamtarchitektur sind sie Folge der in den cluniacensischen Consuetudines festgelegten, ebenso reichen wie differenzierten Liturgie. Den Wahlspruch des Ordensgründers, des hl. Benedikt, Ora et labora sehr einseitig interpretierend, stellte die Liturgie in der Tat den eigentlichen Mittelpunkt im Leben dieser Mönche dar: Legendär ist die Vielzahl der dort abgehaltenen Messfeiern und Prozessionen ebenso wie das Höchstmaß an rezitierten Psalmengebeten (an Wintertagen bis zu 215, während der hl. Benedikt in seiner Regel maximal 37 forderte). Nicht umsonst war es genau dieser enorme Aufwand, ja Pomp, der bald schon prominente Kritik auf sich zog, so u. a. aus dem Munde des für eine andere Reformbewegung maßgeblichen Bernhard von Clairvaux |▶ 13|. Nicht weniger charakteristisch für Cluny ist schließlich das intensiv geübte und permanente Totengedenken. An die
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18 000 Namen sollen Mitte des 12. Jh.s in den Totenbüchern der Abtei verzeichnet gewesen sein – eine kaum mehr zu bewältigende Zahl. Sie stellt zweifelsohne auch einen der maßgeblichen Gründe für eine derart starke Vermehrung der Einzelkapellen und der dazugehörigen Altäre in Cluny III dar, an denen nun all die benötigten Seelmessen gelesen werden konnten. Die dafür wiederum erforderliche große Zahl an Mönchen zeichnete sich im Übrigen an der beachtlichen Größe des liturgischen Chores ab, der sich im Mittelschiff vom Chorrund bis in das erste Langhausjoch von Osten hinein erstreckte. Ambitioniert fiel auch der Innenaufriss der Kirche aus. Ein erster Hinweis darauf ist bereits die durchgängige Wölbung des Gebäudes. Gerade im Mittelschiff stellte die von großen Gurtbogen jochweise unterteilte Spitztonne, eine besonders stabile und in der Region übliche Lösung dar (□ vgl. 69, 70) sowie angesichts der Höhe von gut 30 m und einer Spannweite von 19 m eine technische Meisterleistung. Dass das Unterfangen damals nicht ganz unriskant war, zeigt der Teileinsturz der Gewölbe 1125. Demgegenüber scheinen die Seitenschiffe Kreuzgratgewölbe besessen zu haben. Der aus alten Zeichnungen, Nachfolgebauten und den Querhausresten zu rekonstruierende Innenaufriss besitzt sehr hohe, die unteren zwei Drittel der Mittelschiffswand einnehmende
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Arkaden, die auf sorgsam geschichteten, aus rechteckigen Rücklagen, kannelierten Pilastern und Halbsäulen komponierten Pfeilern ruhen. Darüber ist eine im Vergleich dazu recht bescheidene Triforium- und Obergadenzone zu finden. Nahezu identisch dimensioniert und strukturiert, bildeten beide mit ihren jeweils drei rundbogigen Öffnungen eine klar aufeinander bezogene Einheit, die lediglich durch ein markantes Gesims unterteilt wurde. Ein bemerkenswertes Element stellt im Triforium zwischen den einzelnen Öffnungen ein recht antikisch anmutender Pilaster dar: In getreuer Kopie römischer Architektur, die es ja in der Region bis heute in vielfältigen Beispielen zu bewundern gibt, weist es geradezu klassizistisch anmutende Kanneluren auf. Konkret abgeleitet scheint die Lösung von Anlagen wie dem römischen Stadttor in Autun, die eine ähnliche Kombination von Rundbögen und dazwischengesetzten Pilastern aufweisen. Diese verblüffend direkte und authentische Wiederbelebung antiker Bauformen lässt sich heute in noch größerer Dichte in der Kathedrale von Autun (1120 bis ca. 1146; □ vgl. 24) oder in der cluniazensischen Prioratskirche Paray-le-Monial (ca. 1090 – 1130) studieren. Beides sind in der Nachfolge von Cluny III stehende bzw., im Fall der Letzteren, ganz unmittelbar diesen Bau zitierende Anlagen.
Die Zisterzienserabtei Fontenay Idealanlage eines mittelalterlichen Klosters
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s verwundert wenig, dass die zunehmende Entfernung von den Idealen des Gründungsvaters der Benediktiner, des hl. Benedikt von Nursia, wie sie sich geradezu paradigmatisch in der Prachtentfaltung von Cluny III
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zeigte, Kritik auf den Plan rief. Es war Robert von Molesme, der kaum 100 km von dieser Abteikirche entfernt genau parallel zu deren monumentaler dritter Ausbauphase 1099 in Cîteaux einen Orden gründete: die nach jenem
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Ort benannten, sich dezidiert gegen all die Verfallserscheinungen wendenden Zisterzienser. Ihren eigentlichen Durchbruch verdankt die Reformbewegung einer anderen, bereits bei Cluny genannten Persönlichkeit: Bernhard von Clairvaux (1090 – 1153). Beispielhaft für sein Wirken sei hier nur die in diesem Zusammenhang v. a. wichtige „Apologia“ (1124) genannt. In dieser Streitschrift wandte er sich gegen den Bauluxus und die überreiche Ausstattung der Kirchen nicht nur der Cluniazenser, sondern der Benediktiner allgemein (,[...] die grenzenlose Höhe der Bethäuser, ihre übermäßige Länge und unnötige Breite, ihre kostspieligen Marmorarbeiten und die staunenerregenden Malereien‘). Ein Dorn im Auge waren ihm dabei v. a. die Kreuzgänge mit all den vielfältigen Darstellungen grotesker Wesen in den Kapitellen. Sie seien gänzlich nutzlos und lenkten lediglich von der Andacht und dem Meditieren über das Gesetz Gottes ab (Untermann 2001, S. 100 f.). Die Ablehnung jeglichen Luxus und die Sorge um den moralischen Verfall des Ordens hatte in der Tat nachhaltige Konsequenzen für die Architektur und die Klosteranlagen der Zisterzienser. Allen Versuchungen entging man bereits dadurch, dass für die Neuanlage eines Klosters bevorzugt unbesiedelte Gebiete weitab der Städte gewählt wurden, die es urbar zu machen galt (,Keines unserer Klöster ist in Städten, Kastellen oder Dörfern zu errichten, sondern an entlegenen Orten, fern vom Verkehr der Menschen.‘ Statuten von Cîteaux, um 1130 / 40; nach: Binding / Untermann 1985, S. 185). Der unter den Cluniazensern vernachlässigte labora-Aspekt der Lehre Benedikts erhielt hier nun also ganz neue Bedeutung. Für die Binnenkolonisation Europas sollten die Zisterzienser auf diese Weise eine entscheidende Rolle spielen. Auch die Anlagen der Klöster und v. a. der Kirchen des Ordens unterlagen einer strikten Regulierung. Eine der fast durchgängig befolgten, noch mit der Standortwahl
zusammenhängenden Vorgaben stellt deren Errichtung in einem Bachtal dar ( □ vgl. 72), durch die auf effiziente Weise bereits die Wasserversorgung, aber auch die Ableitung von Abwässern aus Werkstätten, Küche, Refektorium und Abortanlagen sichergestellt werden konnte. Hinsichtlich der eigentlichen Kirche schrieb man demgegenüber den Verzicht auf Turmbauten fest – für die Glocke musste ein einfacher Dachreiter genügen –, wie auch ihre restliche Architektur und Ausstattung ausnehmend reduziert auszufallen hatte (,Wir verbieten, dass in unseren Kirchen oder in irgendwelchen Räumen des Klosters Bilder und Skulpturen sind. Wir haben jedoch bemalte Kreuze aus Holz. Die Glasfenster sollen weiß und ohne Kreuze und Bilder sein.‘ Statuten von Cîteaux, um 1130 / 40; nach: Binding / Untermann 1985, S. 185). Besonders charakteristisch sind in diesem Zusammenhang die schlichten geraden Chorabschlüsse von Zisterzienserkirchen, ebenso wie die zumeist zurückhaltende Gliederung des Innenaufrisses. Die zahlreichen und im Laufe der Jahrzehnte immer wieder erneuerten bzw. erweiterten Verbote zeigen jedoch, dass es sich hier um Ideale handelt, an die sich nicht alle strikt hielten. Das trifft insbesondere für die späteren Phasen des Ordens zu, wie das v. a. diverse, vergleichsweise reiche Lösungen des 13. Jh.s zeigen (vgl. z. B. Royaumont, Altenberg): Hier vermochten sich nun die Wünsche der weltlichen Stifter stärker durchzusetzen als noch in den Anfängen des Ordens. Ein Blick auf das Mutterkloster aller Zisterzienser, auf Cîteaux, das in seiner zweiten Ausbauphase (1193 geweiht) einen runden Chorabschluss mit Umgang erhielt, zeigt, dass davon durchaus auch der Kern des Ordens betroffen war. Als besonders wichtig erweist sich in architekturgeschichtlicher Hinsicht die straffe Organisation des Ordens, der innerhalb kürzester Zeit in ganz Europa Verbreitung fand. Den vier von Cîtaux aus gegründeten Klöstern La Ferté, Pontigny, Clairvaux und Morimond
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wurden dabei jeweils bestimmte Regionen des Kontinents zugeordnet. So erfolgte die Ausbreitung des Ordens im deutschsprachigen Raum z. B. fast exklusiv über Tochtergründungen des letztgenannten Morimond, der sog. ‚Filiation von Morimond‘ (mit 261 zugehörigen Klöstern, davon 29 unmittelbare Tochterklöster). Trotz der teilweise sehr weiten Entfernung trafen die Äbte aller dem Orden angehörenden Klöster jedes Jahr im September in Cîtaux zum jährlichen Generalkapitel zusammen, das über die einheitliche Befolgung der Regel wachte, allgemeinverbindliche Vorschriften erließ und über Streitigkeiten in letzter Instanz entschied. Diese straffe zentralistische Organisation brachte es mit sich, dass nicht nur die Bauten des Ordens in der Tat ein – selbst überregional – erstaunlich einheitliches Aussehen besitzen, sondern über diesen Weg auch eine sehr frühe Verbreitung gotischer Formen weit außerhalb des französischsprachigen Bereichs erfolgte. Ein Beispiel von vielen – wenn auch ein besonders eindrucksvolles – ist die auf halbem Weg zwischen Würzburg und Bamberg gelegene Zisterzienserabtei Ebrach, an deren in der ersten Hälfte des 13. Jh.s entstandenen Kirche sich in den einzelnen Bauabschnitten die jeweils aktuellste und modernste Version einer Fensterrose französisch-gotischer Machart finden lässt: Die Mönche im fränkischen Ebrach bzw. der von ihnen verpflichtete Architekt besaßen ganz offensichtlich selbst über einen längeren Zeitraum genaues Wissen über die zeitgenössischen Architekturentwicklungen in Frankreich. Die in Burgund, ca. 60 km nordwestlich von Dijon gelegene Abtei Fontenay ist eines der besterhaltenen Beispiele für ein Zisterzienserkloster aus der Frühphase des Ordens (□ 70). Besondere Bedeutung besitzt sie sicherlich dadurch, dass sie 1118 noch von Bernhard von Clairvaux selbst gegründet wurde. Aus diesem Grund ist sie als die Verkörperung eines zisterziensischen Idealplans schlechthin anzusehen, insbesondere, was die Kirche anbetrifft. In der
III. Schlüsselwerke
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Literatur ist dafür der Begriff des „bernhardinischen Plans“ geprägt worden (Esser 1953), nach dem zumindest alle frühen Zisterzien serkirchen der Filiation von Clairvaux erbaut worden seien. Heute wird das etwas kritischer gesehen (Untermann 2001, S. 305 ff.). Wie man den von Fontenay verkörperten Typus mit einem schlichten kreuzförmigen Grundriss mit rechteckigem Sanktuarium und unmittelbar daran anschließenden rechteckigen Querhauskapellen nun auch immer bezeichnen und einordnen will, außer Frage steht, dass er in der Frühphase dieses Ordens über ganz Europa verteilt sehr häufig in Erscheinung tritt. Die 1139 – 47 errichtete Kirche der Abtei besitzt einen schlichten rechteckigen Chor, der zu beiden Seiten jeweils von zwei ebenso geformten Kapellen gerahmt ist, die dem relativ schmalen Querhaus an der Ostseite angefügt sind. Bemerkenswert ist die Lösung im dreischiffigen basilikalen Langhaus, das in der Art von Cluny von einer durchlaufenden, von Gurtbogen in acht Joche unterteilten Spitztonne überfangen wird. Ohne jegliche Obergaden- oder Triforiumzone ruht es ungewöhnlicherweise direkt auf den kreuzförmigen Pfeilern mit ihren halbrunden Vorlagen. Demgemäß erfolgt die Beleuchtung des Mittelschiffs v. a. durch die angelagerten Seitenschiffe, die ihrerseits von kleinen spitzbogigen Quertonnen überspannt werden, die auf den jochtrennenden Gurtbogen der Abseiten aufruhen (vgl. die Gewölbe in St-Philibert in Tournus, ca. 1060). Insgesamt stellt das eine recht unkonventionelle Alternative zu den damals bereits gängigen Kreuzgrat- oder Kreuzrippengewölben dar, der keine allzu große Nachfolge beschieden sein sollte, nicht zuletzt wegen der auf diese Weise nur recht geringen erreichbaren Gewölbehöhe und der eingeschränkten Beleuchtung des Kircheninneren. Angesichts der Nutzung als Stall und Magazin nach der Französischen Revolution fehlen heute in Fontenay alle weiteren Einbauten. Überlieferten Vergleichsbeispielen zufolge wird aber auch
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hier ehemals in der Mitte des Langhauses ein Lettner die östlichen vier Joche mit dem Chor und zugehörigem Chorgestühl der Mönche von den vier im Westen gelegenen der Konversen abgetrennt haben, also jenen Laienbrüdern, die ohne Priesterweihe, aber ebenfalls unter Ablegung eines Gelübdes für die praktische Arbeit und letztlich für das Funktonieren des Klosters zuständig waren. Jüngere Untersuchungen haben allerdings ergeben, dass die Trennung zwischen Konversen- und Mönchschor nicht ganz so strikt war (Untermann 2001, S. 266), wie man das früher allgemein annahm. Auch die Anlage des restlichen Klosters folgt einem Schema, das sich – mit gewissen Modifikationen – über ganz Europa verteilt bei den meisten Zisterzienserklöstern finden lässt, so z. B. in Maulbronn (□ vgl. 72). Man folgte dabei immer noch recht genau dem benediktinischen Klosterschema, wie es bereits im 9. Jh. mit dem St. Galler Plan ( Themenblock · Klosterschema, S. 130) in Erscheinung getreten war: Demnach schloss sich südlich der Kirche der Kreuzgang mit dem Brunnenhaus an – in Fontenay eine vergleichsweise umfängliche, vierjochige Anlage –, der den Mönchen vorbehalten war. Eine klassische und überaus praktische Eigenheit stellt hier das Dormitorium im Obergeschoss des südlich an das Querhaus anschließenden Gebäudeflügels dar, das den Mönchen einen angenehmen Zugang von ihrem Ruhelager direkt zum nächtlichen Chorgebet ermöglichte. Im Erdgeschoss dieses die Ostseite des Kreuzgangs flankierenden Flügels waren jeweils als zwei- bis dreischiffige Anlagen von Nord nach Süd der Kapitelsaal, der Mönchssaal, das Noviziat und die Mönchslatrine untergebracht. An der Westseite folgt das calefactorium (Wärmeraum) und dann rechtwinklig vom südlichen Kreuzgangflügel abgehend das Mönchsrefektorium. Ihm schloss sich die Küche an, die nicht nur die Mönche, sondern auch auf der anderen Seite die Konversen in deren eigenem Refektorium versorgten, das genau parallel zum
□ 70 Fontenay, Zisterzienserabtei, 1118 von Bernhard von Clairvaux gegründet, Innenansicht der Kloster kirche, 1139 – 47
entsprechenden Gebäude der Mönche lag. Genannter Bereich war von der eigentlichen Klausur abgetrennt und nur über die vom Langhaus abgehende Konversengasse bzw. direkt vom restlichen, öffentlich zugänglichen Kloster areal erreichbar. An der Nordseite konnte sich zwischen Konversenrefektorium und Kirche ein Vorratshaus anschließen. Nur noch partiell erhalten haben sich in Fontenay die weiteren, das autarke Leben in der Einöde überhaupt erst ermöglichenden Wirtschaftsgebäude, so etwa die südlich davon gelegene Schmiede. Hier traf man im Mittelalter auf eine Vielzahl verschiedenster Nutzbauten wie Kornspeicher, Scheunen, Mahl- und Walkmühlen, Bäckerei, Brauerei, Werkstätten, Ziegelei, Brennöfen und Pferdeställe. In seiner Komplexität vermag in diesem Zusammenhang die Klosteranlage im deutschen Maulbronn (□ vgl. 72) einen weit besseren Eindruck vermitteln, selbst wenn die einzelnen Gebäude dort oft erst aus dem späteren Mittelalter stammen.
Die Zisterzienserabtei Fontenay
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Die Benediktsregel und das benediktinische Klosterschema
B
ereits kurz nach dem ersten Auftreten und der Etablierung der christlichen Religion lassen sich Vorformen jenes Mönchtums nachweisen, das im Mittelalter in verschiedensten Variationen in allen Regionen Europas anzutreffen sein wird. Erheblichen Anteil sollten diese von der Außenwelt abgeschiedenen, ihr Leben gänzlich Gott widmenden klösterlichen Gemeinschaften an der Christianisierung, teilweise auch an der erstmaligen Besiedlung und Kultivierung bestimmter Teile des Kontinents haben (Binding / Untermann 1985). Frühe Beispiele dafür lassen sich in Italien und Frankreich schon im 4. Jh. finden, verbunden mit so bedeutenden Persönlichkeiten wie Martin von Tours (316 – 397), der 361 im französischen Ligugé das erste Kloster des Westens gründen sollte. Aber schon zuvor, im 3. Jh., ist in Ägypten, Kleinasien, Palästina und Syrien diesbezüglich eine blühende Kultur nachweisbar (zumeist noch als mauerumzogene Eremitensiedlungen). Auch wenn die antiken Religionen ebenso wenig wie das Judentum ein wirklich mönchisches Leben kannten, zeigt allein ein Blick auf das eremitische Leben Johannes’ des Täufers in der Wüste, dass die grundsätzliche Idee, sich zur Meditation und Konzentration auf Gott und den Glauben aus der Welt zurückzuziehen, nichts Neues war. Auch ist es – blickt man auf die anderen Weltreligionen – natürlich kein ausschließliches Phänomen des Christentums. Zwar war bereits das Leben dieser frühen klösterlichen Gemeinschaften nach Regeln organisiert, allerdings noch keinesfalls einheitlich. Eine genauere Normierung des klösterlichen Lebens (z. B. Festlegung der Fastenzeiten etc.) fehlte hier und war damals v. a. von der Persönlichkeit des jeweiligen Vorstehers abhängig. Das änderte sich erst unter Benedikt von Nursia (um 480 – 547), der ab ca. 530 die gleichnamige Regel verfasste (v. Balthasar 1948, S. 137 – 216), nach der fortan nicht nur die Angehörigen des im Westen das ganze Mittelalter
III. Schlüsselwerke
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dominierenden Benediktinerordens und seiner verschiedenen Reformbewegungen (Cluny, Zisterzienser) lebten, sondern die dort gemeinsam mit der Chorherrenregel des hl. Augustinus vom 8. bis zum 13. Jh. überhaupt die einzige Klosterregel darstellte. Zu nicht geringen Teilen ließ sich Benedikt in seinem Werk von existierenden monastischen Regelwerken und Schriften (so z. B. denjenigen von Johannes Cassianius von Marseille) inspirieren und führte diese nun zu einer einheitlichen, 73 Kapitel umfassenden Regel zusammen. Konkreter Anlass dafür scheint seine Gründung der Abtei Montecassino südlich von Rom im Jahre 529 gewesen zu sein. In der Tat ging es Benedikt vorderhand um die Organisation eines individuellen Klosters – egal ob in Montecassino oder anderswo –, nicht aber um die Gründung eines ganzen Ordens. Solches sollte in verschiedener Form und in zunehmendem Maße erst ab dem 10. Jh. erfolgen. Dass der Regel so langandauernd Erfolg beschieden war, basiert darauf, dass Benedikt in ihr zum einen Grundsätzliches ansprach und regelte, zum anderen in der Ausformulierung oft sehr offen blieb. Das ließ genügend Spielraum für individuelle Interpretation. Typisch hierfür ist z. B. in Kap. 40 Benedikts Erlaubnis, die jeweiligen Zeit- und Ortsverhältnisse zu berücksichtigen, solange der Geist der Regel gewahrt bleibe. Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings, dass damit zugleich Verfallserscheinungen von Anfang an Tür und Tor geöffnet waren. In seiner Regel betrachtet Benedikt die klösterliche Gemeinschaft als eine von übernatürlichem Geist getragene Familie, an deren Spitze – gleichsam als deren Vater – der Abt steht, der deswegen auch entsprechende Gewalten eingeräumt bekommt. In seinen weiteren Ausführungen macht Benedikt keinerlei Angaben zu den Bauten einer solchen idealen Klostergemeinschaft. In ihnen geht es eher um die Gelübde der Mönche (Verzicht auf Ehe und eigenen Besitz), um
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deren Verpflichtungen auf Gehorsam, Schweigsamkeit, Demut sowie um die im Winter und Sommer unterschiedliche Einteilung des Tages bzw. des nächtlichen Chorgebets. Allerdings lässt sich die Befolgung dieser Regeln nicht ohne Baulichkeiten denken. So fordert Benedikt z. B. in Kapitel 3, dass der Abt seine Mitbrüder regelmäßig zu Beratungen zusammenrufen solle: eigentlich ein deutlicher Hinweis auf einen Kapitelsaal, dessen Aufgaben anfänglich offensichtlich vom Refektorium übernommen wurden; separate Kapitelsäle lassen sich dagegen nicht vor der Mitte des 11. Jh.s finden (vgl. Cluny II). Ähnlich liegt der Fall für Kapitel 22 („Wie die Mönche schlafen sollen“) und der ganz unmittelbar daraus folgenden Anlage eines gemeinschaftlichen Dormitoriums. Kapitel 31 („Von den Eigenschaften, die der Cellerar besitzen soll“) legt die Existenz eines eigenen Wirtschaftsteils nahe, Kapitel 35 und 38 („Vom Wochendienst in der Küche / des Lesers“) die eines Refektoriums, Kapitel 36 („Von den kranken Brüdern“) die eines Hospitals, Kapitel 66 („Von den Pförtnern des Klosters“) endlich die eines von der Außenwelt abgeschlossenen Klosterbezirks. In seiner Regel geht Benedikt durchgängig von Laienmönchen aus, deren Leben von einem ausgewogenen Verhältnis von Beten und Arbeiten (ora et labora) bestimmt ist. Erst später machte die Zunahme des Priestertums unter den Mönchen und die damit verbundene Verschiebung zugunsten geistiger Arbeit die Schaffung einer ganz neuen Gruppe, der sog. Konversen oder Laienbrüder notwendig, denen nun vollständig die körperliche Arbeit im Kloster oblag. Kapitel 52 erwähnt schließlich ein Oratorium, also eine Kirche, ohne dass der Text wiederum präzise Angaben zu deren Anlage machen würde. Ebenso wenig wissen wir Genaueres über das Aussehen der ersten Klosteranlage Benedikts von Nursia in Montecassino, da sie bereits im Mittelalter mehrfache Zerstörung erfuhr. Erst in den beiden nachfolgenden Jahrhunderten scheint es zu einem vereinheitlichten Gebäude-
programm gekommen zu sein, das man gerne als benediktinisches Klosterschema bezeichnet. Das früheste bekannte Dokument ist diesbezüglich der berühmte St. Gallener Klosterplan von ca. 820 (□ 71; Jacobsen 1992), einer der ältesten Pläne, der sich in der westlichen Architektur aus dem Mittelalter überhaupt erhalten hat. Er ist möglicherweise das Produkt der Diskussion zwischen dem benediktinischen Reformer Benedikt von Aniane und den karolingischen Reichsäbten oder aber – so eine andere Deutung – eine Art Empfehlung, die die Abtei Reichenau jener in St. Gallen für das um 830 begonnene Neubauprojekt des Klosters habe zukommen lassen. Allerdings fällt auf, dass das, was wir von der gebauten Anlage wissen, nur wenig mit dem überlieferten Plan zu tun hat (Binding / Untermann 1985, S. 41). Einem recht rigiden rechtwinkligen Raster folgend, finden sich auf dem 0,77 m × 1,12 m großen, aus mehreren Einzelstücken zusammengefügten Pergament profane wie sakrale Bauten in drangvoller Enge nebeneinander gesetzt. Gerade diese wie die sehr schematische Anordnung müssen die Frage aufwerfen, ob es sich hier tatsächlich um eine unmittelbar auszuführende Planung handelt oder nicht doch eher um ein das große Format zur Gänze füllendes Idealkonzept. Das Zentrum des gesamten Plans bildet das um den Kreuzgang angelegte Klostergeviert. Nördlich von ihm findet sich die Kirche – eine doppelchörige Anlage mit Stollenkrypta im Osten und zwei Türmen im Westen, deren Inneres stark mit Schranken und Stufungen untergliedert bzw. reich mit einer Vielzahl von Altären ausgestattet ist. Hätte man sie damals wirklich ausgeführt, wäre die Kirche eine der größten ihrer Zeit gewesen. Die Ostseite des Kreuzgangs wird demgegenüber von Dormitorium (Schlafsaal) und darunterliegender Wärmestube eingenommen, die Südseite vom Refektorium (Speisesaal), die Westseite schließlich vom Vorratshaus mit Keller. Von der Außenwelt ist dieser gänzlich abgeschlossene Bereich lediglich über
Die Benediktsregel und das benediktinische Klosterschema
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den Sprechraum der Mönche zugänglich. Der zweite deutlich abzugrenzende Komplex liegt nördlich der Kirche mit den Gebäuden für die vornehmen Gäste, für die äußere Schule sowie für den Abt. Weit mehr als der in der Benediktsregel geforderte Vater der Mönche verfügt er in diesem Plan über einen w ahren Palast, was wohl mit der bereits im 9. Jh. ausgeprägten neuen hohen weltlichen Stellung der Klöster in der fränkischen Reichskirche zusammenhängt. Von der Abtswohnung gibt es einen direkten Zugang zur direkt neben der Apsis gelegenen Bibliothek, in der auch das Skriptorium untergebracht ist. Möglicher-
III. Schlüsselwerke
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weise stand dahinter die Absicht, diese Schätze des Klosters Gästen möglichst einfach und ohne die Verletzung der Klausur zugänglich zu machen. Einige Bild- und Textdokumente belegen jedoch, dass selbst dieser Bereich für Laien – zumindest im späteren Mittelalter – wohl weniger verschlossen war als man sich das gemeinhin vorstellt. Das zeigt u. a. die von König René d’Anjou in seinem „Livre de Tournois“ (ca. 1460, Avril 1986) ausgesprochene Empfehlung, vor einem Turnier die Ausstellung der Helme am besten in einem Kreuzgang stattfinden zu lassen. Östlich der Klausur befindet sich das
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□ 71 St. Gallen, Klosterplan als Idealplan einer
32 Wohnung des Pförtners; 33 Küche, Bäckerei und
Benediktinerabtei, um 820/30, Sankt Gallen,
Brauerei des Hauses für vornehme Gäste;
Stiftsbibliothek:
34 Gästehaus für vornehme Gäste;
1 Kirche; 2 Paulus-Altar oder -Memorie;
35 Wohnung des Vorstehers der Äußeren Schule;
3 Gallus-Sarkophag; 4 Altar der Hll. Maria und Gallus;
36 Äußere Schule; 37 Wohnung für durchreisende
5 Krytpaeingänge; 6 Ambo; 7 Kreuz-Altar;
Ordensbrüder; 38 doppelgeschossiges Abtshaus;
8 Altar der beiden Johannes (Bapt. u. Ev.);
39 Küche, Keller und Badhaus des Abtes;
9 Taufbecken; 10 Petrus-Altar oder -Memorie;
40 Aderlass-Haus; 41 Ärztehaus; 42 Garten für
11 Paradies; 12 Türme der Hll. Gabriel und Michael;
Heilkräuter; 43 Hospital mit Kreuzgang;
13 Schreibstube im EG, Bibliothek im OG;
44 Küche und Bad des Hospitals; 45 Doppelkapelle
14 Sakristei im EG, Kammer für die liturgischen
für Hospital und Noviziat; 46 Noviziat mit Kreuzgang;
Gewänder im OG; 15 Zubereitungsraum des heiligen
47 Küche und Bad des Noviziats; 48 Mönchsfried-
önche Brotes und Öles; 16 Wärmeraum der M
hof, zugleich Obstgarten; 49 Gemüsegarten;
(Kalefaktorium) im EG, Dormitorium im OG;
50 Gärtnerhaus; 51 Hühnerstall; 52 Haus der
17 Latrinen; 18 Bade- und Waschraum der Mönche;
Hühner- und Gänsewärter; 53 Gänsestall;
19 Kreuzgarten; 20 Kreuzgang; 21 Refektorium im EG,
54 Kornscheune; 55 Haupthaus der Werkleute;
Kleiderraum der Mönche im OG; 22 Küche der Mönche;
56 Nebenhaus der Werkleute; 57 Mühle;
23 Bäckerei und Brauerei der Mönche;
58 Stampfe; 59 Darre; 60 Küferei, Drechslerei und
24 Wein- und Bierkeller der Mönche im EG, Vorrats-
Getreidehaus der Brauer; 61 Pferde- und Ochsenstall
raum im OG; 25 Sprechraum der Mönche (Parlatorium);
mit Wärterunterkunft; 62 Kuhstall mit Kuhhirten-
26 Wohnung des Verwalters des Pilger- und Armen
Unterkunft; 63 Stall für die trächtigen Stuten und
hauses; 27 Zugangshalle zum Pilger- und Armenhaus;
Füllen mit Wärterunterkunft; 64 Schweinestall mit
28 Pilger- und Armenhaus; 29 Brauerei, Bäckerei und
Schweinehirten-Unterkunft; 65 Ziegenstall mit
Küche des Pilger- und Armenhauses;
Ziegenhirten-Unterkunft; 66 Schafstall mit Schaf
30 Eingangshalle zum Paradies; 31 Zugangshalle zum
hirten-Unterkunft; 67 unbekannt
Haus für vornehme Gäste und zur Äußeren Schule;
Ärztehaus, ihm benachbart ein Heilkräutergarten sowie das Hospital und das Noviziat, die gleichsam autonome Kleinklöster ausbilden. Beide besitzen nämlich jeweils einen eigenen Kreuzgang, in deren Mitte eine unter den beiden Einrichtungen aufgeteilte Doppelkapelle liegt. Mit ihren zwei Chören besitzt diese große Ähnlichkeit zum Grundriss der Hauptkirche. Die das gesamte südliche Drittel des Plans einnehmenden Anlagen dienen dann ausschließlich der Versorgung des Klosters: von einem als Obstgarten mitgenutzten Friedhof, Gemüse- und Kräutergärten über verschiedenste Stallungen, Scheunen
und Werkstätten bis hin zu einer Mühle. An der Ecke zwischen Kirche und Vorratsraum findet schließlich die Herberge für Pilger und einfache Leute Platz. In noch elaborierterer Weise treten derartige Wirtschaftsanlagen bei den Zisterziensern in Erscheinung, die angesichts ihrer Gründungen zumeist fernab besiedelten Gebiets noch viel stärker auf Selbstversorgung angewiesen waren (□ 72). Demgegenüber fehlen sie bei den ab dem 13. Jh. aufkommenden Bettel- bzw. Mendikantenorden, da deren Lebensgrundlage auf Almosensammlungen basierte, worauf ja schon ihr Name hinweist.
Die Benediktsregel und das benediktinische Klosterschema
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□ 72 Maulbronn, Zisterzienserabtei, Grundriss der gesamten Klosteranlage, 12. – 16. Jh.: 1 Klostertor; 2 Pförtnerhaus; 3 Wachhaus; 4 Apothekennebengebäude; 5 Vogtei (?); 6 innerer Torturm; 7 Dreifaltigkeitskapelle; 8 Frühmesserhaus; 9 Wagnerei; 10 Wohnung des Wagners und Abgang zum E lfinger Keller; 11 Klosterschmiede; 12 Ökonomiegebäude; 13 Marstall; 14 Haber kasten; 15 Haspel- oder Hexenturm; 16 Speicher; 17 Melkstall und Eichel boden; 18 Klostermühle; 19 Pfisterei und Wohnung des Pfistermeisters; 20 Mühlturm; 21 Kameralamt; 22 Torturm; 23 Heuhaus; 24 Fruchtkasten mit Kelter; 25 Klosterküferei; 25.1 Scheune; 26 Weingartmeisterei; 27 Klosterhofbrunnen; 28 Gesindehaus; 29 Speisemeisterei; 30 Klosterkirche; 31 Paradies; 32 Arkadengang; 33 Cellarium (Vorratskammer); 34 Ern; 35 Kreuzgang; 36 Querschiff; 37 Chor; 38 Armarium (Aufbewah-
küche; 48 Laienrefektorium; 49 großer Keller, im OG
rungsort der Bücher); 39 Kapitelsaal; 40 Ern; 41 Parla-
Dormitorium; 50 Abtshaus/Prälatur; 51 Herrenhaus;
torium (?)/Bibliothek (?); 42 Frateria (Brüdersaal);
51.1 Scheerbrunnen; 52 Jagdschloss (spätere
43 Treppe; 44 Kalefaktorium; 45 Herrenrefektorium;
Ergänzung); 53 Klosterspital, Pfründhaus; 54 sog.
46 Brunnenhaus, Lavatorium, Tonsorium; 47 Kloster-
Faustturm
III. Schlüsselwerke
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Die Kathedrale von Angoulême Frühe monumentale Fassadenlösungen
M
aßgeblicher Initiator der zwischen 1115 und 1136 ausgeführten Kathedrale im südwestfranzösischen Angoulême war der Überlieferung nach Bischof Girard II. (reg. 1101 – 36), während ihre Finanzierung zu einem Gutteil auf den Domkanoniker Itier Archambaud (gest. 1125), Spross einer lokalen Adelsfamilie, zurückgehen soll (Durliat 1982, S. 490). Gemeinsam mit der Kathedrale von Périgueux stellt der Bau mit seinen Kuppelgewölben ein gutes Beispiel dafür dar, wie
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in Westeuropa – vermittelt durch S. Marco (1063 – 94) in Venedig (|▶ 8|, □ vgl. 60, 61) – auch noch Mitte des 12. Jh.s byzantinische Bauformen Rezeption fanden. Stärker als Périgueux erweist sich dabei Angoulême (□ 73) als recht eigenständige Weiterentwicklung: eine schlichte einschiffige Anlage, deren Langhaus von drei sphärischen Kuppeln überfangen □ 73 Angoulême, Kathedrale, Innenansicht, ab 1115, Weihe 1128
Die Kathedrale von Angoulême
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wird. Eine nahezu identische Lösung findet sich in Fontevrault (1119 geweiht). Solche sind ursprünglich wohl auch – nun etwas anders dimensioniert – über der Vierung sowie bis heute über den Querhausarmen (hier jeweils mit eigenem Zwischengeschoss für die Fenster) zu finden (gewesen). Letztere weisen zur Vierung hin noch einmal ein tonnengewölbtes Vorjoch auf, das an der Ostseite über eine kleine Apsis verfügt. Außen sollten die Kuppelaufbauten über den Enden der Querhausflügel Teil eines Turmes werden, von dem man allerdings nur den auf der Nordseite realisierte. Der wiederum tonnengewölbte Chor mit vier angelagerten Radialkapellen stellt dagegen eine freie Rekonstruktion des 19. Jh.s dar. Bemerkenswert ist auch die im Vergleich zu Vorbildern wie u. a. S. Marco sehr eigenständige Wandgliederung, die in dieser Form damals in der Region öfters zu finden ist, so z. B. in Fontevrault. Die einzelnen Kuppeln lagern nun auf Wandpfeilern, die der eigentlichen Seitenschiffswand vorgestellt zu sein scheinen. Über einer mit Blendarkaden verzierten Sockelmauer wird ein Laufgang vor den Fenstern entlanggeführt, für den an den Wandvorlagen rechteckige Durchbrüche ausgebildet sind – eine Lösung, die mit großem Erfolg wenige Jahrzehnte später auch an gotischen Bauten zum Einsatz gebracht wurde, u. a. an St-Remi und der Kathedrale in Reims |▶ 23|. Die eigentliche Bedeutung von Angoulême besteht allerdings darin, ein sehr frühes Beispiel für die im Laufe des 12. Jh.s immer umfangreicher werdenden skulpturalen Programme an Sakralbauten zu sein: Diese mussten nicht mehr auf das oder die Portale derselben beschränkt bleiben, sondern konnten sich jetzt auch – nun stärker auf Fernwirkung berechnet – über die gesamte Westfassade ausbreiten (□ 74). Tatsächlich mutiert sie im Fall von Angoulême erstaunlich früh zu einer monumentalen Schauwand, zur größten bis dahin überhaupt in Frankreich entstandenen. Wenig
III. Schlüsselwerke
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verwunderlich ist also, dass sie im Weiteren beachtlichen Einfluss auf die Fassadengestaltung und die Skulptur gerade Westfrankreichs haben sollte, wie das nicht zuletzt die Beispiele der Kollegiatskirche Notre-Dame la Grande im benachbarten Poitiers (um 1150) oder der Prioratskirche St-Nicolas im noch näher gelegenen Civray (nach 1150) zeigen. Sieht man einmal von den bei frühen Kirchenbauten oft in Gestalt eines Atriums oder eines Narthex zu findenden Vorbauten ab |▶ 2|, sind mit komplexen dreidimensionalen Skulpturenprogrammen bereicherte Westfassaden im strengen Sinne ein Phänomen, das erst mit dem 11. Jh. greifbar wird. Der im Mittelalter noch nicht gebräuchliche, moderne Terminus ‚Fassade‘ leitet sich dabei vom lateinischen oder italienischen Begriff für ‚Gesicht‘ ab (facies bzw. faccia). Gut umschreibt er, dass es eben diese Partie – üblicherweise der Haupteingangsbereich – ist, die beim Besuch eines Gebäudes wie bei der Begegnung mit einem Menschen als Erstes sichtbar wird und Aufmerksamkeit erweckt. Die einer städtischen Öffentlichkeit zugewandte Westfassade besitzt dabei in hohem Grad repräsentative Funktionen: Sie will beeindrucken, zugleich oft auch mit einem Bildprogramm belehren, Glaubensinhalte affirmieren oder schlichtweg über das nachfolgende Innere des Baus, z. B. über dort verwahrte Reliquien bestimmter Heiliger, informieren. Im Fall von Angoulême scheint das Skulpturenprogramm nicht nur auf die Stadtbürger, sondern auch auf die Pilger abgestimmt gewesen zu sein, war die Stadt doch eine wichtige Station auf dem bereits erwähnten Jakobsweg nach Santiago de Compostela |▶ 11|. Schon die Redewendung ‚Der Fassade schöner Schein‘ weist darauf hin, dass dieser Teil eines Sakralbaus nicht unbedingt unmittelbare, ‚ehrliche‘ Auskunft über Aussehen und Dimensionierung des dahinter anschließenden Langhauses geben muss. Tatsächlich kann sie
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□ 74 Angoulême, Kathedrale, Westfassade, ca. 1128 – 36
Die Kathedrale von Angoulême
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dieses oft um ein Mehrfaches überragen, wie ja auch im vorliegenden Fall |▶ 30|. Das bereits besprochene Beispiel Corvey |▶ 2| und zahlreiche weitere |▶ 16| zeigen, dass monumentale Westbauten von beachtlicher Höhe und Breite, teilweise verbunden mit imposanten Turmbauten, damals grundsätzlich nichts Ungewöhnliches mehr waren. Neu und bemerkenswert ist in Angoulême vielmehr, dass hier bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine durchdachte und sensibel organisierte Gestaltung der gesamten Fassade vorliegt, die ein komplexes skulpturales Programm mit einschloss. Bei ihrer Analyse ist zu berücksichtigen, dass das letzte Geschoss, also die beiden Türme und der von ihnen flankierte Giebel, freie Erfindungen des 19. Jh.s darstellen. Alte Aufnahmen zeigen, dass die darunterliegenden Partien demgegenüber weitgehend original oder zumindest authentisch rekonstruiert sind: Die Grundstruktur geben fünf auf Halbsäulen ruhende Blendbogen vor, von denen die jeweils beiden äußeren, bis auf das Niveau der Dachtraufe hochlaufenden deutlich schmaler ausfallen. Im Erdgeschoss ist jedem von ihnen noch einmal ein kleinerer, portalartiger Bogen eingefügt. Die darüber anschließenden Wandflächen werden großteils mit kleiner dimensionierten Blendarkaden belebt, in denen einzelne als Hochrelief ausgeführte Figuren wiedergegeben sind. Dazwischen liegt die nun dank größerer Breite und Höhe betonte Mittelachse. In ihr findet sich nicht nur das (teilerneuerte) Hauptportal, sondern auch ein von verschiedenen figürlichen Darstellungen gerahmtes Obergadenfenster, dem sich ein deutlich über die restliche Gliederung hinausreichendes Bogenfeld anschließt. Nicht weiter verwunderlich angesichts einer derartigen, die gesamte Fassade dominierenden Position, trifft man hier auf den eigentlichen Höhepunkt des Bildprogramms: die von den Symbolen der vier Evangelisten (Adler, Engel, geflügelter Stier und Löwe) gerahmte Himmelfahrt Chris-
III. Schlüsselwerke
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ti, der in einer Mandorla gerade in den Himmel entschwebt, welcher über ihm durch einige stilisierte, von Engeln bevölkerte Wellenlinien angezeigt wird. Weitere in den Zwickelfeldern über dem Westfenster eingefügte Engel, die zu Christus aufblicken, lassen keinen Zweifel daran, dass Christus bereits die irdischen Sphären verlassen hat. In monumentaler und sehr anschaulicher Weise wird hier eine Textstelle der Apostelgeschichte (1,9), wiedergegeben, in der es heißt: „Als er das gesagt hatte, wurde er vor ihren Augen emporgehoben, und eine Wolke nahm ihn auf und entzog ihn ihren Blicken.“ Die beiden Engel stellen jene „zwei Männer in weißen Gewändern“ dar (1,10), die sich an die Apostel wenden und sagen: „Dieser Jesus […] wird ebenso wiederkommen […]“ (1,11). Die Himmelfahrt Christi als ikonographisches Hauptthema für ein Portal oder eine ganze Westfassade ist in der damaligen Zeit noch recht ungewöhnlich. Immerhin lässt die Mandorla – die auch bei Himmelfahrtsdarstellungen üblich ist – beim Betrachter Assoziationen zum eigentlichen Standardthema der Zeit, der Maiestas Domini (Christus als Weltenrichter in der Mandorla), zu, die ja auch explizit im Bibeltext Erwähnung findet. Klar hervorgehoben wird dieser Aspekt im Übrigen durch die exklusiv in diesem Kontext auftretenden vier Evangelistensymbole. Liest man das gesamte Programm, so zeigen sich deutlich die damaligen Schwierigkeiten, eine derart riesige Fläche mit einem Skulpturenprogramm zu füllen. So begegnen uns die Apostel – angesichts ihrer Zwölfzahl in diesem Zusammenhang ein überaus dankbares Thema – gleich zweimal, was mitunter als Zeichen für einen Planwechsel angesehen wurde: zunächst in einem auf die Tympana der Blendarkaden im Sockelgeschoss verteilten Apostelabschied (das letzte Treffen der Apostel, bevor sie auf die ganze Welt verteilt ihr Missionswerk beginnen) und dann noch einmal in den Bogen der darüberliegenden Zone, als Rahmung des
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Fensters und in den Nischen der seitlich daran anschließenden beiden Blendbogen. In der jeweils äußersten Bahn sind ein Verdammter und der Teufel zu finden, während die beiden Reiterfiguren in der untersten Zone Ergänzungen des 19. Jh.s darstellen. Hier verdeutlicht das Aufblicken zu Christus sowie das Auftreten einer weiblichen Figur – wohl Maria –, dass sie zu der eingangs beschriebenen Himmelfahrt gehören, welche in der zeitlichen Abfolge eigentlich früher anzusetzen wäre. Inkohärent bzw. unklar ist auch die Verteilung und Deutung der restlichen Figuren in den Bogenfeldern der nächsten Ebene, deren Blicke ebenfalls auf die Auffahrt gerichtet sind. Zumindest einer von ihnen müsste noch ein Apostel sein, lassen sich doch in den unteren Bogen nur elf von ihnen finden. Für den Rest gibt es allerdings keine eindeutige Einordnung und Identifikation. Möglicherweise sind sie als bereits den himmlischen Sphären angehörige Heilige zu identifizieren, die in erregten Bewegungen den Triumph des Heilands feiern. Gesichert ist solches zumindest für die in den Blendbogen der nächsten Zone auftretenden, von Medaillons gerahmten Halbfiguren mit Heiligenschein – weitere finden sich direkt unter der Himmelfahrt. Die gewissen Sprünge in dieser frühen monumentalen Skulpturenfassade machen es insgesamt schwierig, über die Identifizierung der Einzelfiguren hinaus die Bedeutung des Gesamtprogramms zu rekonstruieren: Allgemein geht es zweifelsohne um die monumentale Überhöhung des Gottessohns, dessen Werk auf Erden abgeschlossen ist, womit die Erbsünde der Menschheit Tilgung erfahren hat, und darum, dass nun seine Botschaft durch die Zeugen des irdischen Wirkens Jesu Christi – die Apostel – in die Welt hinausgetragen werden kann. Zugleich hat man es mit einer bemerkenswerten Kombination von Himmelfahrt und Parusie, mit der Ankündigung des Weltgerichts zu tun, welches ein weiteres Mal durch das Auftreten
der seitlichen Sünder Thematisierung findet. Wie in der Zeit üblich, wird also auch hier durch die ausführliche Darstellung des Jüngsten Gerichts auf himmlischen Lohn, aber auf der anderen Seite natürlich auch auf drohende Strafen in Form von Höllenqualen hingewiesen – demgegenüber ist bei solchen Programmen des frühen 12. Jh.s die Einbeziehung von Heiligen in größerem Umfang noch selten (vgl. aber: Cahors, Kathedrale). Deutlich scheint hier und an anderen Programmen der Zeit das Bemühen auf, den großteils illiteraten Betrachtern der Fassade in einer einfachen und klaren Bildsprache Glaubensinhalte zu vermitteln, die heilsgeschichtliche Sendung der Kirche zu verkünden, auf christliche Tugenden hinzuweisen und zugleich vor Lastern zu warnen. Schon in Angoulême stellt sich dabei ein formales Grundproblem beim Zusammenwirken von Architektur und Skulptur, das auch später an Fassaden auszumachen ist: dass Erstere eine Struktur vorgibt, die nicht immer gänzlich logisch mit einem schlüssig den Raum nutzenden ikonographischen Programm auszufüllen ist (vgl. Westfassade der Kathedrale von Reims, 2. Hälfte 13. Jh.). Schließlich wird an Angoulême ebenfalls deutlich, dass man die Ausführung solch monumentaler, mit Skulptur dekorierter Westfassaden eher als eigenständiges Teilprojekt eines Neubaus ansah, das man relativ unabhängig vom restlichen Vorhaben ausführte: Zumindest muss auffallen, dass an ihr noch bis ca. 1136 gearbeitet wurde, während für die Kirche selbst bereits eine Abschlussweihe für 1128 überliefert ist (Rupprecht 1975, S. 88). Der Grund für diese zeitliche Verzögerung ist zweifelsohne, dass all die bildhauerischen Arbeiten – egal ob figürlich oder ornamental –, die in Angoulême fast die gesamte Fassade bedecken, weit zeitaufwändiger waren als die bloße Bereitung von simplen, allein für die Aufrichtung der Architektur benötigten Steinen.
Die Kathedrale von Angoulême
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Der Dom von Monreale Byzantinische und islamische Einflüsse
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chon der Name ‚Monreale‘ (mons regalis, also königlicher Berg) gibt zu erkennen, dass es sich bei dieser Kirche um eine königliche Stiftung handelt (□ 75, 76). In der Tat war es König Wilhelm II. von Sizilien (1171 – 89), ein Normanne und Schwiegersohn des englischen Königs Heinrich II., der 1174 nur 8 km von seiner Residenzstadt Palermo entfernt eine Benediktinerabtei gründete. Ihre herausgehobene Stellung und Besonderheit zeichnete sich bereits darin ab, dass sie keiner anderen weltlichen oder geistlichen Macht als dem Papst unterstand. Das hatte mit Wilhelms offensichtlich von Anfang an vorhandener Absicht zu tun, sie zur Mutterkirche eines neuen Erzbistums zu machen, das kurze Zeit später auch tatsächlich gegründet wurde. Wie eng die Verbindung des Stifters zu seinem Projekt war, wird daran deutlich, dass für Wilhelm direkt neben der Kirche und dem Konvent ein Palast errichtet wurde – und dass er sich im Dom bestatten ließ, ganz so wie es einige Jahrzehnte zuvor sein Großvater Roger II. in seiner Gründung Cefalù getan hatte (Dittelbach 2003, S. 125 f.). Ebenso sollte Monreale fortan die Krönungskirche des Königs von Sizilien sein. Am Abhang des Monte Caputo gelegen und eingefasst von einer kleinen Stadt, die sich nach und nach um die Stiftung des schon mit 37 Jahren verstorbenen Wilhelm entwickelte, besitzt der Dom von Monreale innen wie außen eine bemerkenswert aufwändige Gestaltung. In eindrucksvoller Weise spiegelt er die Einflüsse, die auf diese Mittelmeerinsel einwirkten (Trizzino 1985). So konnte Sizilien mit seiner im Mittelalter zentralen Lage in idealer Weise als Drehscheibe zwischen den drei damals überhaupt bekannten, gemeinsam dieses
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Binnenmeer rahmenden Erdteilen (Europa, Afrika, Asien) fungieren bzw. – im konkreten Fall sicherlich wichtiger – als ebensolche zwischen dem Islam und dem noch einmal in Ost- und Westkirche zu unterteilenden Christentum. So gehörte die Insel zunächst zu Byzanz; für kurze Zeit war Syrakus zwischen 661 und 669 sogar Hauptstadt des Oströmischen Reiches. Im 9. Jh. wurde sie dann von den Arabern erobert, bevor Sizilien im 11. Jh. durch die Normannen schließlich wieder unter christliche Kontrolle gelangte. War es unter den Arabern zu einer regelrechten Neubesiedlung gekommen, so übernahmen die Normannen nun zumeist die etablierten Strukturen. Einmal abgesehen von den Angehörigen der Eliten, die großteils normannische Wurzeln hatten, änderte sich die Zusammensetzung der Bevölkerung nur unwesentlich. Ein wichtiges Kontinuitätskriterium war also gegeben, auch in architektonischer Hinsicht. Denn selbst, wenn sich aus den früheren Zeiten keinerlei Bauten erhalten haben, so ist doch mit Händen zu greifen, dass sie in den normannischen Bauprojekten des 12. Jh.s fortleben; zu andersartig fällt diese im Detail gegenüber dem sonst in Westeuropa Üblichen aus. Zahlreiche Beispiele können dafür angeführt werden, verfolgten doch die normannischen Herrscher im 1131 zum Königreich erhobenen Sizilien eine hochambitionierte Baupolitik. Erst mit dem Aussterben ihres Herrschergeschlechts sollte diese im ausgehenden 12. Jh. ein abruptes Ende finden. Offensichtlich ging es den neuen Herren tatsächlich weniger um bloße Okkupation, sondern vielmehr um einen sichtbaren Neuanfang und, damit verbunden, um die Ausbildung einer eigenen Identität der gerade erst begründe-
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□ 75 Monreale, Dom, Innenansicht, ab 1174
ten Dynastie. Es liegt damit ein sehr ähnlicher Fall vor wie bei den aus Westfrankreich stammenden Anjou, die ein Jahrhundert später die Herrschaft über das neu geformte Königreich Neapel erlangten. Bemerkenswerterweise sollten diese für ihre noch weit zahlreicheren Bauprojekte in recht unverfälschter Weise französische gotische Architektur zur Anwendung bringen, also einen bis dahin unbekannten Stil in das neue Territorium regelrecht importieren |▶ 35|. Gerade vor dem Hintergrund der im 11. Jh. von den Normannen bei der Eroberung Englands mitgebrachten, hochinnovativen eigenen Architektur |▶ 16, 10| könnte man solches nun auch für ihre Herrschaft in Sizilien erwarten – umso mehr, als die aus jenen normannischen Vorläufern entwickelte gotische Architektur in den 1170er Jahren in Eu-
ropa die modernste überhaupt war und – wie das Beispiel der Kathedrale von Canterbury (ab 1175) zeigt |▶ 19| – gerade damals erste prominente Rezeption überregionaler Art fand. Erstaunlicherweise zogen die Normannen nun aber im Fall von Sizilien zur gleichen Zeit eine ganz andere Lösung vor, nämlich, die Identität ihrer neuen Dynastie aus der Synthese verschiedenster auf Sizilien greifbarer Einflüsse zu generieren – eine Eigenheit, die sich im Übrigen auch in anderen Bereichen, wie etwa in der zeitgenössischen sizilianischen Dichtkunst, finden lässt. In einzigartiger Weise kam es hier nun zu einer weit stärkeren und v. a. gleichwertigeren Verschmelzung der unterschiedlichen bis dahin auf Sizilien in Erscheinung getretenen Kulturen, wie das in Europa damals kaum ein zweites Mal so zu finden
Der Dom von Monreale
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gewesen sein dürfte. Der Dom von Monreale stellt hierfür geradezu ein Idealbeispiel dar: Ja, als Synthese der vor Ort wirksamen Einflüsse ist er gleichsam die Summe, mit der man alles bisher Dagewesene sogar noch übertrumpfte. Der Bau besitzt ein langgestrecktes dreischiffiges Langhaus (□ vgl. 75), das ein offener Dachstuhl überfängt und dem sich im Osten
eine – eher an byzantinische Architektur erinnernde – ungewöhnlich kompakte Einheit von Querhaus und dreiteiligem Staffelchor anschließt. Durch die Überhöhung der Vierung erfährt dieser Bereich eine zentralisierende Umdeutung. Erstmals tritt hier eine interessante Verquickung von klassischem Longitudinalund Zentralraum in Erscheinung (zeitgleich:
□ 76 Monreale, Dom, Ansicht des Chores von Südost mit den deutlich an islamischer Architektur orientierten, ineinander verschränkten Blendbogen, ab 1174
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Palermo, Dom); angesichts unterschiedlicher Versatztechniken hat man mitunter sogar geschlossen, dass die beiden unterschiedlichen Bereiche der Kirche von verschieden geschulten Bautrupps ausgeführt worden seien (Dittelbacher 2001, S. 128). Neben dem an byzantinische Zentralräume erinnernden Ostabschluss waren es v. a. zwei Eigenheiten der Monrealer Domarchitektur, an denen man die unmittelbare Verbindung zu byzantinischer Baukunst festmachte: zum einen die Kapitelle mit ihren auffällig großen Kämpferzonen und zum anderen die das gesamte Innere bedeckenden, weitgehend originalen Mosaiken. Lassen sich derartige Zyklen bereits in den frühchristlichen Kirchen Roms und anderswo finden, so ist das Mosaik im 12. Jh. eine Technik, die insbesondere in Byzanz geübt wurde. Auf eine derartige Provenienz der ausführenden Kräfte weisen neben deutlichen ikonographischen Besonderheiten auch die zahlreichen griechischen Inschriften hin. Dieser mit 10 000 m2 zu den größten des Abendlandes zählende Mosaikenzyklus ist zugleich ein guter Indikator für den hohen Anspruch der Stiftung: allein schon wegen des enormen Materialwerts und der für die Ausführung in so kurzer Zeit benötigten, recht großen Werkstatt, aber auch wegen der mehrfachen selbstbewussten Darstellung des Stifters, Wilhelms II., in ihm. So ist er an prominenter Stelle an den Seiten des Chorbereichs zu sehen, wo er einmal von Jesus Christus gekrönt wird bzw. einmal der Jungfrau Maria den Dom überreicht. Letzteres ist in sehr ähnlicher Weise auch noch in der Kapitellskulptur des Kreuzganges wiederzufinden. Dieses Bemühen, im gesamten Gebäude immer wieder als Stifter ablesbar zu sein, teilt Wilhelm sicherlich mit Persönlichkeiten wie Abt Suger, der in seinem Neubauprojekt von St-Denis des frühen 12. Jh.s ja kaum weniger oft in Erscheinung tritt |▶ 17|. Davon abgesehen ist das Mosaikenensemble von Monreale ein gutes Beispiel dafür, wie unsinnig eine getrennte Analyse der unterschied-
lichen, in einem Sakralbau vereinten Gattungen ist: Schnell erweist sich nämlich das architektonische Konzept des Doms gänzlich auf diese überreiche, monumentale Innendekoration abgestimmt. In der Tat hätte man es ohne die Mosaiken mit einem recht kahlen, ja, öden Raum zu tun, lediglich belebt durch die wenigen Spolien der römischen Säulen und Kapitelle. Sogar die spärlichen strukturierenden Elemente wie die Betonung der Bogen und des markanten horizontalen Bandes unterhalb der Obergadenfenster würden fehlen, ebenso die Detaillierung der Kämpfer. Es liegt hier also ein gänzlich anderes, weit kostenaufwändigeres Gestaltungskonzept vor als etwa beim etwas älteren Pisaner Dom |▶ 9|, dessen Innenraumwirkung sich ja als bildlos, allein auf den Farbwechsel von grünem und weißem Marmor abgestellt erwiesen hatte. Der in Monreale im Inneren dominierende byzantinische Charakter kontrastiert stark mit der Außengestaltung des Doms (□ vgl. 76). Am markantesten ist in diesem Zusammenhang die Chorpartie, wo der Dreiapsidenschluss in drei verschiedenen Ebenen durch Blendbogen Strukturierung erfährt – jeweils große Rundbogenreihen, durch deren Verschränkung und Überschneidung Spitzbogen entstehen. In den sich so ergebenden, teilweise eingetieften Feldern treten Tondi und Bänder mit reichen, zweifarbigen Einlegearbeiten auf. In gleicher Weise sind die Bogen und Sockel der Arkaturen, aber auch die beiden gesimsartigen Elemente, die die Fassade in der Horizontalen gliedern, dekoriert: eine höchst verfeinerte, einen gewissen horror vacui nicht verleugnende Flächenkunst, die deutlich Dekorationssystemen islamischer Architektur abgeschaut ist. Vergleichsbeispiele sind v. a. im Bereich zeitgleicher oder etwas früherer westislamischer Bauprojekte des gesamten Mittelmeerraums – von der nordafrikanischen Küste bis nach Spanien – zu suchen. Angeführt seien hier nur die in ähnlicher Weise mit Blendbogen arbeitenden
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Wandverkleidungen an der Mezquita in Cór doba oder am Turm der Qubbat al-Barudiyin in Marrakesch (frühes 12. Jh.) – für die Kombination von Spitzbogen und als Intarsienarbeiten ausgeführten, reich dekorierten Tondi sei dagegen auf die al-Azhar-Moschee in Kairo (10. Jh.) verwiesen. Der wesentliche Unterschied besteht aber – zumindest was die Bogenformen angeht – darin, dass es sich bei den genannten Beispielen durchgängig um die für die islamische Baukunst typischen Hufeisenbogen handelt, mit denen natürlich kaum derartig perfekte Spitzbogen zu erhalten sind, wie sie in Monreale vorliegen. Gleichwohl sollte man Letztere nun keinesfalls als frühe gotische Einsprengsel missverstehen, lassen sich doch isolierte Spitzbogen in islamischer Architektur bereits Ende des ersten Jahrtausends, also lange vor ihrem Auftreten in christlicher Architektur, nachweisen. Ein Beispiel hierfür ist die im späten 9. Jh. erbaute Ibn-Tulun-Moschee in Kairo. Die Byzantinisches und Islamisches mit westchristlichen Traditionen vereinende Architektur des Doms von Monreale steht einer ganzen Reihe weiterer Bauprojekte vor, die unter den Normannen im 12. Jh. Ausführung fanden. Dazu gehören der Dom von Cefalù (ab 1131) oder jener in direkter Konkurrenz zu Monreale entstandene von Palermo (ab 1184; innen stark verändert), v. a. aber auch eine Fülle von beeindruckenden Palastbauten. Dabei wird nun im Fall des Doms in Palermo der gesamte Chorabschluss durch die Hinzufügung zweier seitlicher Türme zu einer gewaltigen Schaufassade, die man zweifellos als die eigentliche Hauptansichtsseite des Gebäudes bezeichnen darf. Stärker als in Monreale erinnern hier die reicher abgestuften Blendbogen, aber auch die bekrönenden Zinnen an den normannischen Palastbau der Zeit, so etwa an die noch einfacheren Wanddekorationen mit abgetreppten Blendbogen an der Cuba, der Zisa (Ungruh 2007) oder dem etwas älteren Palazzo Reale König Rogers II. (1095 – 1154; □ 77), alles Anlagen, die im Üb-
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rigen mehr mit islamischem denn christlichem Palastbau der Zeit zu tun haben (Qasr al-Msatta in Jordanien und Uhaidir im Irak, 8. Jh., sowie Asir in Algerien, 10. Jh.; Staacke 1991). Gerade Letzterer birgt ein weiteres, besonders aussagekräftiges Beispiel dafür, wie sehr in dieser neuen normannischen Architektur verschiedene Einflüsse ineinander aufgingen: Gemeint ist die 1143 geweihte Cappella Palatina, die in ihrer Grundanlage deutliche Übereinstimmungen zum Dom von Monreale aufweist (Kombination von dreischiffiger Basilika und einem überkuppelten Zentralraum als Presbyterium). In ihr finden sich nun nicht nur Mosaiken und Spolien, sondern auch unmittelbar aus dem islamischen Kulturkreis übernommene Schriftzüge, Holzschnitzereien und sogar – für christliche Baukunst sicherlich ungewöhnlich – Stalaktitengewölbe, die muqarnas, wie sie seit dem 10. Jh. typischerweise in islamischen Bauten gerade des Mittelmeerraums auftreten. Eine derartige Synthese verschiedener Kulturen in diesem und anderen Bauvorhaben ist bei Roger II. insofern besonders gut nachvollziehbar, als er sich während seiner Herrschaft in der ersten Hälfte des 12. Jh.s nicht mit dem gerade gewonnenen Sizilien begnügte, sondern mehr oder weniger erfolgreich versuchte, diese sogar auf die nordafrikanische Küste auszuweiten. Für mittelalterliche Verhältnisse geradezu unglaublich modern und weltoffen mutet sein Hof in Palermo an, an dem griechische wie arabische Gelehrte und Künstler wie selbstverständlich verkehrten und auch in ihren jeweiligen Sprachen agierten. Die genannten ‚multikulturell‘ beeinflussten Bauprojekte sind also nichts anderes als ein getreues Spiegelbild dieser lebendigen und ausnehmend weltläufigen Hofkultur nicht nur Rogers, sondern zweifelsohne auch noch seines Enkels, Wilhelms II. Abgerundet wird der Blick auf das komplexe Gebilde des Doms von Monreale – bei dem noch auf die großteils erhaltenen, nicht minder reich in vielfarbigem opus sectile gearbeiteten
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Fußböden hinzuweisen ist – schließlich mit einem anderen eigenständigen Bauteil, dem Kreuzgang, der sicherlich einer der schönsten und aufwändigsten seiner Zeit ist und dessen mit reichen farbigen Intarsienarbeiten verzierten Säulenschäfte einmal mehr von islamischer Architektur des Mittelmeerraums inspiriert zu sein scheinen (als mögliche Rezeption: Kreuzgänge von S. Paolo fuori le mura oder S. Giovanni in Laterano in Rom, frühes 13. Jh.). Kombiniert wurden sie nicht nur mit römischen Kapitellen, die man mit großem Aufwand wohl aus Nordafrika importiert hatte, sondern auch mit neuen. Für die Ausführung von deren Bildprogramm scheint es damals vor Ort noch nicht die benötigten Kräfte gegeben zu haben, weswegen – das als weitere Komponente des multikulturellen Gesamtprojekts – man sie ganz offensichtlich aus Norditalien importierte. Zumindest lassen sich zur dortigen Skulptur der Zeit die stärksten Bezüge finden. Einen derartigen Import stellen schließlich auch die großen Türen der Westfassade dar, deren Bronzeguss – eine vor Ort nicht geübte Technik – laut Inschrift von ,Bonanno, Bürger von Pisa‘ (Bonannus civis pisanus) 1185 ausgeführt worden war. Dabei wurde in diesem Fall sicherlich nicht der Künstler, sondern gleich sein fertiges Produkt von Pisa nach Monreale gebracht.
□ 77 Palermo, Cappella Palatina des Palazzo Reale, mit dem Stalaktitengewölbe (muqarnas) im Vordergrund, 1143 geweiht
Die Abteikirchen St-Etienne und Ste-Trinité Wegweisende Wölbungskonzepte
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inen wahren Markstein in der Entwicklungsgeschichte europäischer Architektur des Mittelalters stellen unter technologischen Gesichtspunkten zweifelsohne die beiden Abteikirchen St-Etienne (□ 78) und Ste-Trinité
(□ 79) im nordfranzösischen Caen dar. Ihre besondere Stellung zeigen bereits die dahinterstehenden, prominenten Stifter an, unter denen um 1060 / 65 die Bauten in Angriff genommen wurden: das normannische Herzogspaar, d. h.
Die Abteikirchen St-Etienne und Ste-Trinité
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□ 78 Caen, Benediktinerabtei St-Etienne, Innenansicht, ab 1060/65, Wölbung um 1120/25, Chorneubau um 1200
der in Zusammenhang mit Ely |▶ 10| genannte Wilhelm der Eroberer (1027 – 87) und Mathilde von Flandern (1031 – 83), die mit der Stiftung dieser beiden Männer- bzw. Frauenabteien, der Ummauerung der Stadt sowie der Anlage einer mächtigen Festung maßgeblich zur Erhöhung und letztlich zur Etablierung von Caen als Residenz beitrugen. Zugleich wurden beide Stiftungen gern als Ausdruck des Dankes für die letztendlich glücklich erfolgte Verbindung des Herzogspaares angesehen, die anfänglich angesichts zu großer verwandtschaftlicher Nähe sogar vom Papst untersagt worden war. Bereits
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in den 1070er Jahren, also nur kurze Zeit nach Wilhelms erfolgreicher Eroberung Englands, fertiggestellt, dienten beide Kirchen schließlich den durch den siegreichen Feldzug in königlichen Rang aufgestiegenen Stiftern als Grablegen. Gut wird an beiden Bauten ablesbar, wie zwei gleichzeitig an einem Ort ausgeführte Projekte einander in fruchtbarer Konkurrenz inspirieren und anspornen konnten: Beide besitzen einerseits deutliche allgemeine Übereinstimmungen, andererseits große Unterschiede im Detail. Ausgeführt in ausnehmend präziser Quaderbauweise verfügen die Abteikirchen, wie für diese Zeit in der Region typisch (vgl. Jumièges, □ vgl. 24; Mont-St-Michel), im Mittelschiff über gebündelte Arkadenpfeiler, denen Halbsäulen vorgelegt sind: bei St-Etienne dank flacher Rücklagen, die bei jedem zweiten Pfeiler anzutreffen sind, von rhythmisch wechselnder, bei Ste-Trinité von durchgängig gleicher Stärke. Beide Anlagen zeigen einen dreiteiligen Aufriss, der im Fall der Männerabtei allerdings über der Arkadenzone eine Empore und einen durch einen Laufgang ebenfalls begehbaren Obergaden aufweist. Dieser Aufrisstyp wird am Beispiel der eng verwandten Kathedrale von Ely |▶ 10| genauer analysiert. Demgegenüber tritt bei der Damenabtei an die Stelle der Empore ein Blendtriforium, wodurch die Anlage weit weniger monumental erscheint. Gerne als Höhepunkte der normannischen Romanik gepriesen, übten die beiden Abteikirchen in architekturhistorischer Hinsicht deutlichen Einfluss auf die zeitgenössische anglo-normannische Baukunst aus. Maßstabsetzend waren sie aber selbst für ambitionierte Bauprojekte im Umfeld der unmittelbaren Konkurrenz – des französischen Königs –, wie das nicht zuletzt die Gestaltung der Westfassade der Abteikirche St-Denis bei Paris (|▶ 17|, □ vgl. 26) zeigt. Es ist jedoch ein anderer Aspekt, der die beiden Abteikirchen in Caen für die mittelalterliche Architekturgeschichte so
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wichtig macht: einer, der nicht mehr unmittelbar mit den Urbauten Wilhelms und Mathildas zusammenhängt, sondern mit einer markanten Veränderung der Anlagen, die bereits wenige Jahre nach Fertigstellung, um 1120 – 25, erfolgte. Waren die Abteikirchen bis dahin jeweils in recht konventioneller Weise mit einer Holzdecke abgeschlossen, so wurde diese nun in beiden Fällen durch Steingewölbe ersetzt, was der alte Wandaufriss erstaunlich problemlos zuließ bzw. bereits bestens vorbereitet hatte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang weniger der allgemeine Umstand einer Wölbung als vielmehr deren technische Ausführung. So handelt es sich um ein ausnehmend frühes, durchgängiges Kreuzrippengewölbe: hinsichtlich Wölbetechnik im Weiteren das Maß der Dinge (Nußbaum / Lepsky 1999, S. 30 – 43). Man hat die beiden Bauten in Caen – gemeinsam mit einigen anderen – deswegen nicht zu Unrecht als wichtige Wegbereiter der Gotik angesehen; dies umso mehr, als der große französische Architekt und Erneuerer der gotischen Kathedralen in Frankreich im 19. Jh., Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc, gerade die neuartigen Gewölbe als das eigentlich ausschlaggebende Element, als das principe générateur, das die gotische Architektur maßgeblich bestimmt habe, bezeichnete (Viollet-le-Duc 1860 [4], S. 85). Was ist nun aber das Neue, das Wegweisende an dieser in den Abteikirchen in Caen jeweils nachträglich eingefügten Lösung? Steinwölbungen hatte es ja schon zuvor gegeben, insbesondere zur Auszeichnung bestimmter Partien eines Sakralbaus wie etwa des Chorbereichs. Mit ihren Kuppel-, Tonnen- oder Kreuzgratgewölben, die partiell noch auf bereits zu Römerzeiten existierende Techniken zurückgreifen, weisen die etwas früheren oder annähernd zeitgleichen Beispiele S. Marco, Cluny oder Speyer allerdings nicht wirklich zukunftsweisende Typen auf. Aus unterschiedlichen Gründen sind sie nicht annähernd so gut geeignet, einen komplexen Raum einheitlich zu überwölben,
□ 79 Caen, Benediktinerinnenabtei Ste-Trinité, Innenansicht, ab 1060/65, Wölbung um 1120/25
oder aber sie besitzen gegenüber dem Kreuzrippengewölbe eine weit geringere Stabilität: insbesondere, wenn diese – wie später zumeist der Fall – spitzbogig geführt sind. Prinzip der neuen Konstruktion ist es, die Stellen, an denen die einzelnen, zumeist kunstvoll gemauerten Gewölbesegmente aufeinandertreffen, in einer unterlegten Schicht durch separat geführte Rippen nicht nur optisch zu betonen, sondern auch in statischer Hinsicht zu verstärken. Wie entsprechende Ruinen gotischer Bauten zeigen, sind diese Rippen sogar gänzlich selbsttragende Konstruktionen, die man als Erstes versetzte, bevor man sich an die Ausführung
Die Abteikirchen St-Etienne und Ste-Trinité
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der eigentlichen Gewölbesegel machte. Mit dieser neuen Technik ließen sich nun problemlos und vergleichsweise kostengünstig Steingewölbe bisher ungeahnter Dimension erstellen. Ein noch früherer Vorläufer für diese Lösung – nun in einer etwas anderen Region angesiedelt – sind die entsprechenden, nach 1081 entstandenen Gewölbe des Speyerer Doms, wo sie allerdings noch auf die Querhausarme beschränkt blieben |▶ 6|. In Caen sind sie zwar auf den gesamten Kirchenraum ausgeweitet, doch bleibt erkennbar, dass man auch hier nicht das gesamte Potential dieser Konstruktion ausgereizt hatte: Deren spätere Leichtigkeit und Weite tritt nur in Ansätzen auf den Plan. Offensichtlich wird das frühe Entstehungsdatum im Übrigen auch an der Sechsteiligkeit der Gewölbe, d. h. die Unterteilung des Gewölbes durch Rippen in sechs einzelne Segmente; ein noch bis weit in die zweite Hälfte des 12. Jh.s für gotische Bauten gültiger Standard, zumindest in Frankreich. Typisch für die frühe Datierung sind schließlich die in Caen ebenso wie damals an anderen Gewölben im anglo-normannischen Raum gerne zum Einsatz gebrachten Verzierungen dieser Elemente, wie etwa das Zickzackmuster an den nur wenig früher errichteten Gewölben der Kathedrale im englischen Durham. Von Bedeutung sind auch die dortigen allmählichen Entwicklungsschritte und Verbesserungen der Gewölbetechnik im Laufe des Bauvorgangs (bis 1096 Chorseitenschiffe; bis 1104 der Chor; bis 1110 Querhaus; bis 1130 Langhaus). Auf experimentelle Weise und basierend auf den an verschiedenen Projekten gewonnenen Erkenntnissen wurden so in der ersten Hälfte des 12. Jh.s alle Komponenten des gotischen Rippengewölbes entwickelt. Bemerkenswert ist, dass die treibende Kraft für die weitere Verfeinerung dann nicht mehr der bisherige Innovationsmotor, die normannische Architektur, war, sondern die Bauprojekte eines Konkurrenten, des Königreichs Frankreich. Es sollten v. a. die im französischen Kronland in und um Paris im
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12. Jh. wie Pilze aus dem Boden sprießenden Neubauten sein, an denen es zu den nächsten, immer schneller aufeinander folgenden Entwicklungsschüben kam. Eher zufällig entspricht dabei die in St-Etienne erst im Verlauf zweier unabhängiger Bauphasen entstandene Lösung ziemlich genau jener späterer, ‚gotischer‘ Bauten einheitlicher Planung, weist doch bereits diese Kirche – bedingt durch den von Anfang an gegebenen Stützenwechsel – eine Rhythmisierung des Gesamtraums auf (vgl. z. B. Kathe drale von Laon; □ vgl. 27). Schon hier ruhen die weitergespannten Diagonalrippen auf größeren Wandvorlagen, die vergleichsweise bescheidenen Transversalrippen in der Mitte eines jeden Joches dagegen auf den kleiner dimensionierten. Erstaunlich schlüssig und sehr ‚gotisch‘ wirkend sind in Caen also bereits die Einzelelemente von Stütze und Last genau aufeinander abgestimmt. Einhergehend mit und durch diese bedingt, entstanden mit den ersten Kreuzrippengewölben zudem erste Vorformen von Strebewerk, das damals allerdings noch nicht offen zutage trat, sondern unter den Emporendächern verborgen blieb |▶ 11|. Eine beachtliche Anzahl von normannischen Bauten kann benannt werden, bei denen – als Viertel- oder Halbkreise ausgeführt – derartige Konstruktionen zu finden sind. Damit liegen um 1100 bereits die wesentlichen Kriterien vor, die nur wenige Jahrzehnte später zur Ausbildung der für die gotische Architektur so typischen Gliederbauweise führte, bei der in hocheffizienter Weise der Druck des Gewölbes bzw. des Dachstuhls auf bestimmte Punkte in einem Gebäude – nämlich jeweils auf den an den Wandvorlagen befindlichen Ecklagern der Kreuzgewölbe – konzentriert wurde. Das scheint von Anfang an weniger auf Berechnungen basiert zu haben denn auf praktischen Erfahrungen. Eines der ersten Beispiele gotischen Strebewerks im klassischen Sinne tritt dann allerdings wiederum nicht in der Normandie, sondern, nach landläufiger Meinung, an ganz anderer Stelle auf: nördlich von Paris in Beauvais
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an der Abteikirche St-Lucien (ca. 1090 – 1140; zerstört). Doch so innovativ und wegweisend wie die Lösung in St-Etienne in Caen dereinst gewesen sein mag: Offensichtlich fand man sie kaum ein Jahrhundert später schon nicht mehr an-
gemessen. Zumindest wurde der Chorbereich bereits um 1200 durch einen gotischen Neubau ersetzt (Noell 2000) – ein guter Indikator dafür, in welch rasantem Tempo sich Architektur im nachfolgenden Jahrhundert nördlich der Alpen veränderte.
|17| Die Abteikirche von St-Denis Grablege der Könige und technische Synthese
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erne stilisiert(e) die kunsthistorische Literatur den 1137 in Angriff genommenen Neubau von St-Denis – einer im Norden von Paris gelegenen Abteikirche – zum Gründungsbau der Gotik, dieses in mancherlei Hinsicht tatsächlich ‚neuen‘ Architekturstils, der mit ihm gleichsam ‚geboren‘ worden sei. Nicht unwesentlich hat zu einer solchen Sichtweise die Prominenz der Abtei beigetragen. So war sie u. a. Begräbnisort des legendären Apostels Galliens, des hl. Dionysius / St-Denis, zugleich seit dem 12. Jh. exklusive Grablege der Könige und schließlich Aufbewahrungsort der Kroninsignien. Schon auf diese Weise engstens mit den französischen Königen verbunden und in kirchenrechtlicher Hinsicht allein dem Papst unterstehend, stellte die Abtei die wichtigste derartige Institution des Königreichs Frankreich überhaupt dar. Gleich große Bedeutung besaß die dahinterstehende, bemerkenswert auskunftsfreudige Persönlichkeit, Abt Suger (1081 – 1151, Abt seit 1122). Im Kapitel zur Gotik (vgl. S. 56 f.) ist auf diese Aspekte bereits eingegangen worden, ebenso auf den wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund für eine derartige Hochschätzung, ja, Verehrung. Demnach soll der Fokus an dieser Stelle mehr auf den Bau selbst gelegt werden. Eigentlich hätte die Abteikirche St-Denis – und das ist sicherlich einmalig für einen der
hier versammelten ‚Schlüsselbauten‘ – nicht nur eine, sondern zwei separate Nummern verdient. Tatsächlich sollte diese Kirche gleich zweimal und in gänzlich unterschiedlichen, wichtigen Phasen der Entwicklung gotischer Architekturformen eine herausragende Rolle spielen (□ vgl. 80 – 82), einmal mit dem erwähnten Projekt Abt Sugers der 1130 / 40er Jahre und dann noch einmal mit der kaum 100 Jahre später, 1231, in Angriff genommenen zweiten gotischen Erneuerung (Bruzelius 1985). Mit ihr wurde nicht nur das bis dahin erhaltene karolingische Langhaus ersetzt, sondern – mit Ausnahme der Arkadenzone – bemerkenswerterweise auch der größte Teil des kaum 100 Jahre bestehenden Suger-Chores. Dies mag bereits ein erster Hinweis auf die statische Kühnheit des Vorgängerprojekts sein, möglicherweise war aber zur Mitte des 13. Jh.s – allen bis dahin dominierenden Traditionsgedanken zum Trotz – schlicht ein einheitliches modernes Erscheinungsbild der Abteikirche gewünscht. So wichtig die beiden Baukampagnen auch jeweils in ihrer Zeit waren, hat v. a. das im frühen 12. Jh. unter Suger durchgeführte Projekt in der kunsthistorischen Literatur Furore gemacht. Es derartig eng mit dessen Person zu verbinden, ist keine moderne Projektion, sondern erscheint dank zahlreicher entstehungs-
Die Abteikirche von St-Denis
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zeitlicher Dokumente mehr als gerechtfertigt: Suger selbst ist es, der sich in seiner Schrift „De consecratione“ zur eigentlich treibenden Kraft stilisiert, ebenso wie er bis heute – trotz eines stark dezimierten Originalbestands – gleich zweimal in den Glasfenstern als Stifter in Erscheinung tritt. Im ursprünglichen Zustand darf man dagegen geradezu von einer Omnipräsenz seiner Person in und an der Kirche sprechen. So scheint sich ein weiteres Bildnis Sugers ehemals auf einem Flügel des Mittelportals befunden zu haben, ebenso wie allein neun Inschriften überliefert sind, die ihn am Türsturz des Mittelportals, an verschiedenen Altären und Objekten der Ausstattung (teilweise unmittelbar als Stifter) nannten. Selbstbewusst hat er diese in aller Ausführlichkeit in seinem nur wenig späteren Rechenschaftsbericht „De administratione“ wiedergegeben (Suger / Panofsky 1978, S. 40 – 81; Maines 1986, S. 85 – 86; Binding 1995, S. 65). Bei aller Begeisterung für den gotischen Chor ist etwas in den Hintergrund getreten, dass der Ausgangspunkt für Sugers Erneuerungswerk eigentlich der neue Westbau war (□ vgl. 26), für den der Abt bereits 1125 zu sammeln begonnen hatte (Wyss 1996, S. 193): Mit ihm sollten die von den Reliquien angezogenen Besucherströme besser gelenkt werden als das mit der alten Anlage der Fall war. Obwohl der Westbau im Inneren grundsätzlich eine ähnlich differenzierte Gliederbauweise wie der Chor von St-Denis oder der wenig späteren Kathedrale von Sens (ab 1140) aufweist, wird er merkwürdigerweise immer wieder gerne als ,noch romanisch‘ tituliert – ein aufschlussreiches Beispiel dafür, wie schwer es in der Tat ist, einen klaren Trennstrich zwischen diesen beiden Stilepochen zu ziehen. Die gestalterische Nähe des Westabschlusses zu St-Etienne in Caen (ab 1060 / 5; |▶ 16|) als der Grablege der normannischen Herzöge und damit damals der Könige von England ist offensichtlich. Auch ohne diesen Aspekt dürfte aus damaliger Perspektive
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ein Blick auf St-Etienne mehr als angebracht gewesen sein, allein schon wegen der für die Zeit überaus innovativen und ungewöhnlichen Konstruktionen, mit denen man nur wenige Jahre zuvor (1120 / 25) diese normannische Abteikirche durchgehend gewölbt hatte. Nicht übersehen werden sollte allerdings – gerade wenn man die Ähnlichkeiten hinsichtlich der Zweiturmanlage inhaltlich ausdeuten will –, dass bereits der Vorgängerbau von St-Denis eine solche besaß. Im Übrigen handelte es sich bei Sugers Erneuerungsvorhaben bemerkenswerterweise gar nicht um einen kompletten Neubau (□ 80, 81), sondern eher um eine Erweiterung der 775 in Anwesenheit Karls des Großen geweihten Vorgängerkirche nach West und Ost: So ragt der frühgotische Chor weit über die alte halbkreisförmige Apsis von kaum mehr als 7 m Tiefe hinaus und birgt nun die gesamte ehemals dem Ostabschluss vorgelagerte Außenkrypta unter sich. Ähnliches geschah beim Westbau, der gemeinsam mit zwei Verbindungsjochen die alte Anlage an dieser Seite ebenfalls um gut 25 m verlängerte. Bereits Sugers – mit Ausnahme der Fundamente unrealisiert gebliebener – Plan war es allerdings, beide Neubauteile mit einer neuen Außenmauer zu verbinden, wobei das karolingische Langhaus so weit als möglich erhalten bleiben sollte (Suger / Panofsky 1978, S. 40-53). Dessen besondere Bedeutung bestand darin, dass es wie die restliche Kirche der Legende nach als von Jesus Christus selbst geweiht galt, der zu diesem Zweck noch einmal auf Erden erschienen sei. Zu seinem am 14. Juli 1140 begonnenen Chorprojekt und dessen Abstimmung auf den Vorgängerbau vermerkt Suger in „De consecratione“: ,[…] mit geometrischen und arithmetischen Hilfsmitteln [werde] die Mitte des alten Gewölbes der Kirche der Mitte der neuen Vergrößerung angeglichen und nicht weniger die Größe der alten Seitenschiffe der Größe der neuen angepasst [...], abgesehen von jener weitläufigen und gebilligten Erweiterung der
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□ 80 St-Denis, Benediktinerabtei, Grundriss: Westbau ab 1137, Chor ab 1140, zweite gotische Erneuerung ab 1231
Kapellen ringsum, durch die sich die ganze Kirche durch das wunderbare und ununterbrochene Licht der hellleuchtenden Gläser, das die Schönheit des Inneren durchwandert, im vollen Glanze zeigt.‘ (Deutsche Übersetzung nach: Binding / Speer 1995, S. 185.) So kurz die Passage zur v. a. interessierenden neuen Chorarchitektur von St-Denis auch sein mag – kaum prägnanter könnte man noch heute die Wirkung dieser bis dahin recht ungewöhnlichen Lösung des doppelten Chorumgangs der Abteikirche beschreiben. Anders als bei unmittelbar vergleichbaren Anlagen wie in Santiago de Compostela oder Cluny |▶ 11, 12| sind die jeweils von zwei Fenstern beleuchteten Kapellen in St-Denis keine voneinander abgetrennten Einheiten. Vielmehr bilden sie im Zusammenspiel in der Art einer ‚Spanischen Wand‘ ein vielfach geknicktes lichtdurchflutetes Raumkontinuum (Variationen dieser Lösung u. a. an den Kathedralen von Chartres und Ávila, beide 2. Hälfte 12. Jh.). Resultat ist eine fortlaufende Glaswand, die zum einen bestens die Rezeption der dort wiedergegebenen Bildprogramme erlaubt, zum anderen die eigentliche Dicke und Massivität der Wände gänzlich vergessen lässt. Wesentliches trägt zu deren Kaschierung im
Übrigen auch das ihnen vorgelegte Gespinst aus unterschiedlichst dimensionierten Diensten bei. Für die ausnehmend transparente Gesamtwirkung von Bedeutung ist schließlich die gleichermaßen filigrane Binnengestaltung des Chorumgangs, ruhen doch alle Bauteile auf bemerkenswert schlanken, en délit versetzten Säulenschäften. Der Grundriss weist zudem die subtile gestalterische Eigenheit auf, dass die Tiefe der Kapellen von Westen nach Osten allmählich zunimmt, die Fenster also entsprechend größer und heller werden. Bis heute und selbst vor dem Hintergrund zahlreicher späterer gotischer Lösungen vermag der Umgang von St-Denis immer noch zu beeindrucken. Insofern erscheint es selbst aus heutiger Perspektive nachvollziehbar, dass man sich im 13. Jh. bei der Erneuerung des Chores auf die oberen Partien beschränkte. Im unteren Bereich waren aber zumindest die offensichtlich allzu filigran geratenen Pfeiler des eigentlichen Chorpolygons durch massivere, nun in einzelnen Lagen aufgeschichtete zu ersetzen. Soweit sich das aus den Vorgaben der Arkadenzone rekonstruieren lässt, scheint die ursprüngliche, wohl bereits dreigeschossige Lösung der Hochschiffswand ebenfalls lichtvoll, aber weit weniger spektakulär als der Chorumgang gewesen zu sein. Zumeist wird von zwei Obergadenöffnungen in jedem Joch ausgegangen, zu denen ein vergleichsweise hohes Triforien- oder Emporengeschoss vermittelte. Ähnlich schlicht fiel
Die Abteikirche von St-Denis
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□ 81 St-Denis, Benediktinerabtei, Innenansicht des Chores Abt Sugers, 1140 – 44
ursprünglich die äußere Gestalt des Chores aus: Wenig ist hier von der inneren Transparenz zu spüren. Das Erscheinungsbild wird demgegenüber von recht massiven Mauern bestimmt, deren Wirkung man hier nun durch einen mehrschichtigen Aufbau der Wand etwas zu beleben suchte (vgl. das ähnliche Konzept am Chor des Magdeburger Doms, ab 1209). Ein Initialbau im strengen Sinne ist Sugers Chorprojekt nicht; vielmehr werden in ihm erstmals verschiedene, bis dahin unabhängig voneinander existierende technische und ästhetische Lösungen in eine markante Archi-
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tektursprache zusammengeführt: In ihrer Gesamterscheinung darf diese allerdings fraglos ‚neu‘ genannt werden. Konkret trifft man im Chorbau von St-Denis auf eher aus der normannischen Baukunst bekannte Rippengewölbe, derer man sich nun jedoch in deutlich größerem Umfang bediente, kombiniert mit Spitzbogen, wie sie zuvor v. a. in der burgundischen Architektur zu finden waren. Wichtig ist dabei, dass dieses mehr als anderes mit gotischer Baukunst assoziierte Element weniger eine gestalterisch denn eine konstruktiv begründete Lösung darstellt: Weit besser als bei
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den früheren Rundbogen vermag die spitzere Bogenführung nämlich den Druck der jeweiligen Auflast in das tragende Bauglied wie Mittelschiffs- oder Strebepfeiler weiterzuleiten. In der Tat entspricht diese der Parabel angenäherte Form bereits weitgehend dem tatsächlichen statischen Kräfteverlauf. Mehr als bei allen bis dahin entstandenen Vorläufern – insbesondere im anglo-normannischen Raum – kann man bei St-Denis von einer Gliederbauweise sprechen, bei der die wesentlichen statischen Belastungen auf einzelne tragende Elemente konzentriert sind. Dem Prinzip nach ähnliche zeitgleiche oder sogar etwas ältere Lösungen lassen sich bei St-Etienne in Beauvais, in St-Leu d’Esserent, in Morienval oder schließlich bei St-Martin des Champs in Paris (alle 1130 / 40er Jahre) finden. Dabei zeigt gerade letztgenanntes Beispiel mit seinem St-Denis vergleichbaren zweischiffigen Chorumgang – einschließlich der jeweils von zwei über Eck gestellten Fenstern beleuchteten Kapellen – bei einem Baubeginn bereits in den 1130er Jahren, dass an ganz anderer Stelle parallel mit derartigen Ideen und Konzepten experimentiert wurde. Doch bei allen Ähnlichkeiten: Hinsichtlich der Feingliedrigkeit erscheinen dieses wie die anderen genannten Beispiele letztlich nur eingeschränkt vergleichbar mit dem filigranen, lichtdurchfluteten Chorumgang von St-Denis. 100 Jahre später stellte die ab 1231 ins Werk gesetzte Erneuerung der oberen Partien und des Langhauses von St-Denis (□ 82) einen wesentlichen Schritt zu einer weiteren Verfeinerung gotischer Bauformen dar – hin zu dem, was man heute allgemein ‚Rayonnantgotik‘ nennt, mit der in der ersten Hälfte des 13. Jh.s ganz neue Standards für gotische Architektur Einzug hielten. Erneut ist auch dieses Bauvorhaben nicht isoliert zu sehen, sondern in diesem Fall in Zusammenhang mit der Neuinszenierung der Grabanlagen der bisher an diesem Ort bestatteten oder dorthin überführten Königs- und Königinnengräber, die unter Lud-
wig dem Heiligen (1214 – 70) eine einheitliche skulpturale Neuinszenierung erfuhren (Erlande-Brandenburg 1975). Neu ist bei diesem Projekt die nun tatsächlich vollständige Durchfensterung des Aufrisses. Technisch möglich wurde das durch die Verwendung von Pyramiden- und Flachdächern (am Langhaus bzw. Chor) statt der bis dahin üblichen Pultdächer über den Seitenschiffen bzw. dem Chorumgang, mit denen die Verschattung der Triforiumszone vermieden werden konnte. Eine Innovation stellt zudem die allgemeine Verfeinerung sowohl des Aufrisses als auch der Detailformen dar, ebenso das ausbalancierte Verhältnis von waag- und senkrechten Elementen (vgl. die sehr ähnliche, offensichtlich nur wenig spätere Lösung im Chor der Kathedrale von Troyes). Die Architektur unterscheidet zwar immer noch zwischen einzelnen Zonen, doch ist eine weniger klare Trennung zwischen den Arkaden und den darüber aufragenden Geschossen von Triforium und Obergaden, die eine geradezu graphisch feine, gitterartige Struktur aufweisen. In diesem Zusammenhang bedeutungsvoll ist die allgemeine Vermehrung und Verfeinerung der Dienste, die in der Summe zu einem subtil abgestuften Vor- und Zurückschwingen der Hochschiffswand führen. Zu Teilen erklärt sich diese Zunahme bereits mit den in dieser Kampagne erstmals durchgängig vierteilig ausgeführten Obergadenfenstern. Deren Detailbehandlung durchläuft im Übrigen von Bauabschnitt zu Bauabschnitt eine markante Entwicklung. Neu hinsichtlich des generellen Aufrisses ist schließlich auch, dass die Dienste jetzt ununterbrochen – d. h. ohne Ausbildung von Kapitellen – über mehrere Zonen laufen können. So nehmen z. B. jene der Mittelschiffsgewölbe direkt am Boden ihren Ausgang und formen gemeinsam mit den anderen Diensten der weiteren Rippen und Unterzüge einen – zumindest in der gotischen Architektur – neuen Pfeilertyp. Hatte man bis dahin üblicherweise runde
Die Abteikirche von St-Denis
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□ 82 St-Denis, Benediktinerabtei, Innenansicht der zweiten gotischen Erneuerung, ab 1231
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oder kantonierte Pfeiler verwendet, so sind es nun Bündelpfeiler: ein grundsätzlich bereits in romanischer Architektur zu findender Typus, wenn auch noch nicht in solch verfeinerter Art (Dienste bereits partiell durch Kehlen voneinander separiert). Zweifelsfreie Rezeption fanden diese Pfeiler in einigen direkten Nachfolgebauten von St-Denis II wie dem Langhaus des Straßburger Münsters (ab ca. 1245) oder St. Lorenz in Nürnberg (ausgehendes 13. Jh.). Demgegenüber fast noch wichtiger scheint allerdings zum einen die Übernahme der feingliedrigen Strukturierung der Hochschiffswand mittels verschiedenster Rundstabschichten, wie sie sich in besonders monumentaler Form z. B. beim Kölner Dom und der Metzer Kathedrale – beides Planungen der 1240er Jahre – finden lässt, zum anderen die mit ganz neuer Feinheit und Größe beeindruckenden Fensterrosen (Durchmesser: 11,60 m) der Querhausfassaden von St-Denis: Auch sie waren maßstabsetzend für Nachfolgendes.
Groß St. Martin in Köln Architekturmodelle im Reich
S
chon bevor 1248, also im Jahr der Weihe der Pariser Ste-Chapelle |▶ 25|, mit dem monumentalsten Sakralbau im deutschsprachigen Raum, dem Kölner Dom |▶ 26|, begonnen wurde, gab es in dieser damals größten Stadt des Heiligen Römischen Reiches eine bemerkenswert reiche und vielfältige Baukultur, die ihresgleichen suchte. Dafür sorgte allein schon die ungewöhnlich große Zahl verschiedener kirchlicher Institutionen und – damit verbunden – potentieller Auftraggeber: Fast ein Dutzend Chorherren- oder Damenstifte sowie zwei Benediktinerabteien lassen sich im Mittelalter
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in dieser bereits zu Römerzeiten gegründeten Stadt finden. Unter deren Bauten gibt es vielfältige und partiell auch sehr ungewöhnliche Grundrisslösungen, wie etwa die Beispiele von St. Maria im Kapitol und St. Gereon (□ vgl. 11) zeigen, im letzteren Fall interessanterweise sogar noch auf einen römischen Vorgängerbau zurückgehend. Die wichtigste Kirche und bis zum Domneubau die eigentliche Dominante der Stadtsilhouette Kölns ist wohl jene der Benediktinerabtei Groß St. Martin ( □ 83). Das Kloster war bereits Ende des 10. Jh.s (damals noch als
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Stift) gegründet, für seine Kirche zunächst ein dreischiffiges, römisches Lagerhaus umgenutzt worden. Nach dem Stadtbrand von 1150 ersetzte man diese durch einen 1172 geweihten Neubau. Ein erneuter Brand machte nach 1185 weitere Modifikationen notwendig, wozu im 13. Jh. auch der Umbau und die Einwölbung des Langhauses in frühgotischen Formen gehörte, die erst gegen 1230 / 40, d. h. unmittelbar vor dem Domneubau ihren Abschluss finden sollten. In dieser Hinsicht eine Art Übergangsprojekt, erscheint Groß St. Martin zugleich als ein besonders geeignetes Beispiel, um zu erhellen, welche Architektur denn 1248 durch diese damals im Heiligen Römischen Reich sicherlich als revolutionär empfundenen französisch-gotischen Bauformen des Kölner Doms ersetzt wurde. Blickt man auf den Grundriss von Groß St. Martin, so fällt auf, dass die Kirche für eine Benediktinerabtei erstaunlich bescheiden ausfällt: Einem vierjochigen basilikalen Langhaus mit einem breiten Mittel- und demgegen-
über bemerkenswert schmalen Seitenschiffen schließt sich im Osten ein sog. Dreikonchenchor oder auch Trikonchos an (□ vgl. 83). Diese Lösung, bei der um ein Vierungsquadrat an drei Seiten üblicherweise je gleich große runde oder polygonale Apsiden angelagert werden, wodurch sich ein kleeblattartiger Grundriss ergibt, ist in Köln und der Rheinregion recht häufig zu finden. Dreikonchenchöre gibt es in der christlichen Baukunst bereits sehr früh, wie etwa das Beispiel der aus dem frühen 5. Jh. stammenden, frühchristlichen Pilgerkirche in Cimitile bei Nola in Kampanien (ca. 20 km nordöstlich von Neapel) zeigt. Die große Popularität der Lösung in Köln und angrenzenden Regionen dürfte jedoch andere Wurzeln haben. Erstmals zu finden ist sie an der Benediktinerinnenkirche St. Maria im Kapitol, begonnen um 1040 unter Äbtissin Ida, der Schwester des Kölner Erzbischofs und Enkelin Kaiser Ottos II. Hier lässt sich die dahinterstehende Motivation für die in Köln damals noch neue Lösung relativ schlüssig rekonstruieren. Ganz offensichtlich war der Bau als monumentale Vergegenwärtigung der Geburtskirche Christi in der Reichsstadt gedacht. In der Tat weist der Grundriss von St. Maria im Kapitol (Weihe 1065) eine frappante Ähnlichkeit zu jener in Bethlehem auf, und zwar in der Form, wie sie dort seit ihrer Erneuerung im späten 5. Jh. aussah. Es gibt wenig Zweifel, dass sie als solche auch wahrgenommen und v. a. genutzt wurde, war es doch in dieser Marienkirche, wo der Erzbischof von Köln jeweils die erste Weihnachtsmesse feierte. Die an diesem Bau zu findende Lösung eines Dreikonchenchores mit nun durchgehendem Umgang fand allerdings nicht nur in Köln und Umgebung Nachfolge (vgl. Köln, St. Aposteln u. St. Andreas; Bonn, Münster; Neuss, St. Quirin; Roermond), □ 83 Köln, Benediktinerabtei Groß St. Martin, Innenansicht: erster Neubau von ca. 1150 – 72, umfangreiche Modifikationen nach Brand ab 1185, durchgehende Einwölbung in der 1. Hälfte des 13. Jh.s
Groß St. Martin in Köln
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sondern tritt u. a. auch bei den heute nicht mehr oder nur noch partiell existierenden Chören der Kathedralen von Cambrai und Tournai des frühen 12. Jh.s in Erscheinung. Die beiden Letztgenannten teilen im Übrigen auch die Eigenheit von Maria auf dem Kapitol, die einzelnen Konchen nicht direkt aneinanderstoßen zu lassen, wie das in Groß St. Martin der Fall ist. In weiteren Variationen tritt die Dreikonchen-Lösung im 13. Jh. auch noch in anderen Regionen in Erscheinung, wie das der Westchor des Mainzer Doms (Weihe 1239) und der Chor der Marburger Elisabethkirche (ab 1235) zeigen. Der Innenaufriss von Groß St. Martin ist vergleichsweise schnell beschrieben. In dem um 1220 verlängerten Langhaus, das ehemals von einer flachen Holzdecke abgeschlossen wurde, haben sich vom Ursprungsbau in originaler Form lediglich die Arkaden mit ihren schlichten Pfeilern auf quadratischem Grundriss und die von ihnen ausgehenden gleich einfachen, ungegliederten Bogen erhalten. Die darüber anschließenden Partien erscheinen dann bereits als Umgestaltungen des frühen 13. Jh.s (ca. 1220 / 40, also unmittelbar vor dem Domneubau) mit den jeweils drei Triforiumsöffnungen (zuvor nur ein Blendtriforium) in jedem Joch und dem über den Arkaden auf einer Konsole ansetzenden gotischen Dienstbündeln, auf denen die nachträglich eingefügten vierteiligen Kreuzrippengewölbe ruhen. Als originärer und authentisch überlieferter Architekturentwurf ist der Trikonchos in Groß St. Martin sicherlich der eigentlich entscheidende Bereich. Hier lässt sich nun auch ein wesentliches Charakteristikum dieser Architektur gut studieren: die ausnehmend plastische Modellierung großer geschlossener Wandflächen, die mit großem Raffinement in Kontrast gestellt werden zu demgegenüber fast schon fadendünn wirkenden Bauteilen, womit auf geistreiche Weise den raumbegrenzenden Mauern ihre realiter gegebene Schwere und Massivität genommen wird. Konkret findet sich
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dazu in den unteren Partien der Sockelzone jeder Konche eine zweifach abgestufte, recht massive Blendarkatur von fast 1 m Tiefe, deren vordere Bogenreihe auf differenziert und allein in unverputztem Werkstein gearbeiteten Säulen ruht. Diese Lösung erfährt nach einem Streifen ungegliederter Wand in der nächsten Zone eine nachgerade spektakuläre Verfeinerung: Hier springt das gesamte Mauerwerk um gut 1 m zurück und gibt so den Platz frei für einen Laufgang, der nun zwischen der nach wie vor recht massiven, von drei Fenstern untergliederten Außenschale und jeweils zwei dazu kontrastierenden stabdünnen, hochaufschießenden Säulchen (in den Achsen zwischen Fenstern; man beachte die gotischen Schaftringe) verläuft: Alle Gesetzmäßigkeiten der Statik scheinen außer Kraft gesetzt und noch heute fragt man sich unwillkürlich, wie diese frei stehenden zierlichen Architekturglieder all die darüber aufragenden Mauermassen der Apsiskalotte überhaupt tragen können. Die Lösung bestand wohl zum einen darin, einen Gutteil des Drucks bereits über die Außenmauern abzuleiten, zum anderen in der Verwendung extrem harten Trachyts – eines vulkanischen Erguss- und keines Schichtgesteins –, der auch noch höchsten statischen Belastungen standhält. Zwischen den gerundeten Partien der Konchen vermittelt in den Ecken jeweils ein Joch, das sich im Obergeschoss in der Art von Turmkapellen mit in drei Ebenen übereinandergestellten Doppelbögen und einem fächerartigen Loch zum Kircheninneren hin öffnet. In der Tat ragen am Außenbau über ihnen kleine Türme auf, doch findet sich hinter den beschriebenen Wandgliederungen jeweils nur ein Treppenhaus. In leichter Variation ist sie an gleicher Stelle im Übrigen auch auf der anderen Seite der Vierung zu finden. Für das bei Groß St. Martin bereits bemerkenswert stark ausgedünnte zweischalige Wandsystem, das nicht nur auf eine Belebung, sondern eine Dynamisierung der Mauerflächen
□ 84 Tournai, Kathedrale, Langhaus nach Osten, fertiggestellt bis 1171, im Hintergrund der gotische Chorneubau, 1242 – 55
abzielte, lassen sich im späten 12. und frühen 13. Jh. im Rhein-Maas-Gebiet zahlreiche Beispiele benennen. Ein besonders großes und eindrückliches sind in diesem Zusammenhang sicherlich die romanischen Partien der Kathedrale von Tournai (gotische Erneuerung des Chores, ca. 1242 – 55; □ 84). Aufschlussreich erscheint an ihnen insbesondere das bis 1171 fertiggestellte Langhaus, das mit seinem viergeschossigen Aufriss (Arkade, Empore, Triforium, Obergaden) und manchen Details bereits deutliche Kenntnis gotischer Architektur im südlich daran anschließenden Königreich Frankreich zeigt (vgl. z. B. die Kathedralen von Noyon und Laon, □ 27). Wie bei Groß St. Martin auch, ist deren Architektur aber letztlich ganz auf die plastische Modellierung der Wand in Gestalt verputzter Mauerflächen abgestellt und eben nicht auf deren Auflösung durch ein komplexes Dienstsystem, wie das zeitgleich in Frankreich der Fall ist. Resultat ist ein gleichwohl subtiles Wandrelief, mit dem es in überzeugen-
der Weise gelingt, die bereits beachtlich hohe Mittelschiffswand aufzubrechen. Fortlaufende Arkaden- und Emporenbögen strukturieren in geschickter Variation die Wand: Dem dreifach abgestuften Arkadenbogen, der auf einem entsprechend vielteiligen Bündelpfeiler ruht, folgen in der Empore achteckige Pfeiler, deren schräge Partien jeweils in die Schräge des darüber aufsitzenden Bogens weitergeführt sind. In kleinformatigerer Variation und nun in die Wand geblendet, tritt im Triforium dann noch einmal die Arkadengliederung in Erscheinung (die Obergadengestaltung offensichtlich erst aus späterer Zeit). Die virtuoseste und auch späteste Variante dieser so sehr auf die Wirkung der Mauermasse abzielenden Lösung, die zugleich auch wieder stärker zu Groß St. Martin zurückführt, ist schließlich das Chorfragment der zwischen 1202 und 1237 entstandenen Zisterzienserabtei Heisterbach. Dort erscheint der bereits in Köln ausgespielte Kontrast zwischen wuchtigem geschlossenem Mauerwerk
Groß St. Martin in Köln
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und spindeldürren tragenden, wiederum aus Vulkangestein (Andesit) gearbeiteten Architekturgliedern nun tatsächlich seine Vollendung gefunden zu haben. So überschaubar das Innere von Groß St. Martin war, so komplex und detailreich fällt demgegenüber der Außenbau aus (□ 85). Ein Blick auf den imposanten Turmbau legt nahe, dass ihre Rezeption in der Tat wohl stärker auf diese Perspektive hin abgestellt war (s. a. die Bedeutung der Turmbauten bei den schon genannten Vergleichsbeispielen, u. a. in Tournai). In anderer Proportionierung als im Inneren werden die Außenseiten der Konchen ebenfalls in zwei Ebenen von aus gleich breiten Bogen gebildeten Blendarkaden gegliedert, über denen sich am oberen Abschluss eine Zwerggalerie findet. In den Ecken bereits als rechteckiger Absatz vorbereitet, ragen darüber die – schon □ 85 Köln, Benediktinerabtei Groß St. Martin, Außenansicht von Süden vor den Kriegszerstörungen, nach 1185
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in Zusammenhang mit dem Innenraum – benannten vier, nun achteckigen Eck- bzw. Treppentürmchen auf, die den gewaltigen zentralen dreigeschossigen quadratischen Vierungsturm nicht nur flankieren, sondern auch erschließen. Zwischen ihm und den Kegeldächern der Konchen vermittelt ein Giebelfeld, in das bemerkenswerterweise jeweils eine große, von Vierpässen gerahmte Maßwerkrose geblendet ist – ein eindrucksvoller Beleg, dass man – so ‚romanisch‘ der Chorbereich von St. Martin auch wirken mag – bereits lange vor dem Domneubau Mitte des 13. Jh.s durchaus Kenntnis von französischen, gotischen Formerfindungen hatte. Auffällig ist schließlich, gerade mit Blick auf das geradezu puristisch schlichte Äußere
des Langhauses, wie der Chorbereich über und über mit verschiedensten Blendbogenreihen, Fenster- und Schallöffnungen strukturiert und dekoriert wird und sich so als die eigentliche Hauptansichtsseite des Baus zu erkennen gibt. Nur wenige Jahre nach Fertigstellung musste Groß St. Martin bereits seine dominierende Stellung in der Silhouette der Stadt wieder abgeben, und zwar an einen Bau ganz anderer Dimensionierung und Orientierung, der nun nicht mehr nur gotische Baukunst in einigen Details kannte und verwendete, sondern diese französische Architektur erstmals in bis dahin im Reich nicht dagewesener Reinheit rezipierte: den Kölner Dom |▶ 26|.
Der Chor der Kathedrale von Canterbury: Kultur- und Techniktransfer vom Kontinent
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ie schon bei der Kat hedrale von Ely |▶ 10| angedeutet, wurde die mittelalterliche Architektur der Britischen Inseln lange Zeit eher als Sonderphänomen angesehen, das zwar gewisse Beziehungen zum europäischen Festland aufweist, letztlich aber doch zu eigenständig ausfällt, als dass sich beides zu einer Einheit verbinden ließe. Die Ausführungen zu den verschiedenen im 11. Jh. in Caen entstandenen Bauten |▶ 16| hatten allerdings bereits gezeigt, wie eng der wechselseitige Austausch zwischen Kontinent und Insel letztlich phasenweise durch eine einheitliche Herrschaft – jene der Normannen – ausfallen konnte: Bis Anfang des 13. Jh.s blieb die Normandie Teil des englischen Königreichs, ebenso wie es Besitzungen gab, die bis vor die Tore von Paris
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reichten. Noch Heinrich II. (reg. 1154 – 89) aus dem französischen Hause der Plantagenets hielt sich eher auf dem französischen Festland als in England auf, ebenso wie auf der Insel unter den Führungsschichten Französisch noch lange Zeit nach der Eroberung durch die Normannen im Jahre 1066 die maßgebliche Sprache bleiben sollte (Draper 2000). Ein späteres Beispiel – die auf Peter Parler zurückgehenden Partien des Prager Veitsdoms |▶ 41| und ihre immer wieder festgestellte Nähe zu früheren englischen Maßwerkerfindungen des 14. Jh.s (Crossley 2004) – gibt schließlich Anlass, auch in die andere Richtung Kontinentaleuropa und England eventuell nicht ganz so hermetisch voneinander abgetrennt zu sehen (Engel 2008).
Der Chor der Kathedrale von Canterbury
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Mit der Kathedrale des wichtigsten englischen Erzbistums und Sitzes des Primas von England, Canterbury (□ 86, 87), kommen wir zu einem Beispiel, bei dem das – angesichts der ausgezeichneten Quellenlage – niemals in Frage gestellt worden ist (Kowa 1990, S. 76 – 86). Bemerkenswerterweise verpflichtete man dort nämlich für den nach einem verheerenden Brand notwendig gewordenen Neubau 1174 mit Wilhelm von Sens einen französischen Architekten – ein eindrucksvoller Fall und Beleg für die damals bereits überregionale Reputation französischer gotischer Architektur. Zugleich zeigt sich aber an diesem Beispiel, dass nicht an jedem beliebigen Ort Neuerungen der Baukunst einfach so, gleichsam aus dem Nichts, aufgenommen werden konnten. Vielmehr war dazu ein gewisser Wissenstransfer notwendig, ein Transfer, bei dem im vorliegenden Fall die
gotische Architektur sozusagen zu ihren Wurzeln zurückkehrte, waren es doch ein Jahrhundert zuvor gerade normannische Innovationen in der Wölbtechnik gewesen, die die ersten frühgotischen Bauten möglich gemacht hatten. Wie modern nun eben diese französische Architektur in den 1170er Jahren tatsächlich für einen Zeitgenossen auf der Insel war, zeigt die ausnehmend genaue Dokumentation des Neubaus durch einen Chronisten, Gervasius von Canterbury (Stubbs 1879, S. 1 – 29; deutsche Übersetzung in: Schröder 2000, S. 326 – 369): Ausführlich beschreibt dieser die Arbeiten, einschließlich der ihn offensichtlich v. a. beeindruckenden Maschinen und technischen Hilfsmittel wie Kräne und Winden (Schröder 2000). Doch nicht nur das technische Knowhow musste in diesen Fall importiert werden, sondern auch das Material: Da es in der Region
□ 86 Canterbury, Kathedrale, Außenansicht von Südosten, nach 1174
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161 □ 87 Canterbury, Kathedrale, Innenansicht des von Wilhelm von Sens konzipierten Chors, nach 1174
von Canterbury keine Steinvorkommen in geeigneter Qualität gab, hatte man diese mit großem Aufwand per Schiff und Pferdefuhrwerk von der anderen Seite des Ärmelkanals, aus der Region um Caen, herbeizuholen. In ungewöhnlich moderner Weise schreibt Gervasius über das Resultat: ,Die alten Teile des Chores wurden verwandelt in etwas Neues von edlerer Art. Die Unterschiede zwischen dem alten und dem neuen Bau seien nun aufgezählt. Die Pfeiler des alten und des neuen Baus sind ähnlich in Form und Dicke, aber unterscheiden sich in der Länge, denn die neuen Pfeiler wurden um beinahe 12 Fuß [ca. 3,5 m] verlängert. Die alten Kapitelle waren glatt, die neuen sind mit feinem Bildhauerwerk verziert. [...]. Ehemals waren die Bögen und alles andere Mauerwerk glatt behauen mit der Steinaxt und nicht mit dem Meißel. Aber nun findet sich überall angemessen Verzierung. Es gab zuvor keine Marmorsäulen, jetzt aber unzählige. Die Gewölbe
im Chorumgang waren eben, jetzt sind sie mit Bogenrippen und Schlusssteinen ausgestattet [...] die Jochrippen [...] gehen zusammen in einem Schlussstein, der in der Mitte eines Gewölbes sitzt, das auf vier Pfeilern ruht. Vorher gab es eine hölzerne Decke, verziert mit hervorragenden Gemälden, aber jetzt haben wir ein schön konstruiertes Gewölbe aus Stein und leichtem Tu f f.‘ (Kimpel / Suckale 1987, S. 53; Schröder 2000, S. 367.) Der Name Wilhelm von Sens lässt noch in anderer Hinsicht aufhorchen, weist er doch auf seine Herkunft aus jener unweit von Paris gelegenen Stadt hin, in der einer der wichtigsten französischen Erzbischöfe seinen Sitz hatte. Erst kurz zuvor war hier einer der bedeutenden frühgotischen Großbauten entstanden, die erzbischöfliche Kathedrale St-Etienne (1140 bis ca. 1168), deren Architektur in der Tat in manchen Details von Canterbury aufscheint. Die Verbindung mag nicht zuletzt dadurch gefördert
Der Chor der Kathedrale von C anterbury
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worden sein, dass genau während des dortigen Neubaus der damalige Erzbischof von Canterbury, Thomas Becket (reg. 1162 – 70), in Sens einige Zeit im Exil lebte. Für das in England damals noch recht ungewöhnliche Bauvorhaben ist dessen Person zudem in ganz anderer Hinsicht von Bedeutung: Thomas hatte 1170 den Märtyrertod noch im Vorgängerbau gefunden, der dann kurze Zeit später, 1174, wundersamerweise ausgerechnet ein Jahr nach Thomas’ Heiligsprechung, weitgehend abbrennen sollte. Selbst wenn es Gervasius in seiner Chronik wortreich bestreitet, dürfte es sich bei dieser Katastrophe kaum um einen Zufall gehandelt haben, sondern eher um eine geplante Tat, die den Weg für eine den Pilgerströmen geeignetere Anlage eröffnete. Aus der Chronik erfahren wir darüber hinaus, dass man nun nicht einfach irgendeinen Architekten, sondern eine – wenn man so will: internationale – Expertenkommission einberief, aus der schließlich Wilhelm von Sens siegreich hervorging. Bemerkenswert ist, dass dessen Vorschlag nicht auf einen kompletten Neubau hinauslief. Vielmehr wies er darauf hin, dass vom alten Kirchengebäude noch die unteren Umfassungsmauern und größere Teile der Arme des Ostquerhauses einschließlich der Türme durchaus wiederverwendbar seien. Ähnlich wie einige Jahrzehnte zuvor beim parallelen Gründungsbau französischer Gotik, St-Denis |▶ 17|, wurden nun also auch hier ältere mit gänzlich neuen Partien zu einer Einheit verschmolzen, wobei sie jetzt nicht nur einfach nebeneinander standen, sondern sogar unmittelbar aufeinander aufbauten. Im konkreten Fall waren diese zudem der Grund für die nur recht geringe Höhenentwicklung, die mit den Maßen der alten romanischen Kathedrale vorgegeben war. Durch die erhaltenen Reste sowie durch Grabungsbefunde wissen wir, dass der Brand eine aus sehr unterschiedlichen Baukörpern komponierte Kathedrale zerstört hatte (□ vgl. 86). Im
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Westen fand sich noch der erste monumentale Bau (basilikales Langhaus mit Querhaus und wohl fünfteiligem Staffelchor; |▶ 16), der in den 1070er Jahren, kurz nach der Eroberung Englands durch die Normannen, unter dem engen Vertrauten Wilhelms des Eroberers, Erzbischof Lanfrank (1070 – 89; zuvor ab 1063 erster Abt von St-Etienne in Caen), errichtet worden war. Dessen ursprünglicher Ostabschluss hatte bereits kurze Zeit später, ab 1096 unter Erzbischof Anselm (1093 – 1109) eine bedeutende Erweiterung durch einen fast noch einmal so großen Langchor mit zweitem Querhaus, Umgang und drei riesigen Umgangskapellen auf rechteckigem Grundriss (die beiden seitlichen mit eigener Apsis) erfahren. Unter diesem Bereich findet sich bis heute eine ähnlich weitläufige Krypta. Wiederum kaum mehr als ein halbes Jahrhundert später wurde der oberirdische Bau in diesem Bereich nicht nur unter Beibehaltung des alten Grundrisses inklusive älterer Bausubstanz (im unteren Bereich) durch einen gotischen Neubau ersetzt, sondern auch durch die sog. Trinity Chapel noch einmal deutlich nach Osten erweitert: ein angesichts der Rücksichtnahme auf die alten Chorumgangskapellen auf leicht hufeisenförmigem Grundriss errichteter, zweijochiger Bau mit 5 / 10-Polygon und Umgang. In dessen Scheitel findet sich die sog. Corona oder Becket’s Crown, eine fast perfekt runde Kapelle, die als dreigeschossige Anlage in ungewöhnlicher Weise genauso hoch aufragt wie das restliche Kirchenschiff, mit dem es grundsätzlich den Aufriss teilt. Lediglich die Detailgliederung ist reicher. Die einzigartige Gestalt der bemerkenswert aufwändigen Kapelle hat einen besonderen Grund: Fraglos sollte mit ihr unmittelbar an die Schädelkalotte Thomas Beckets erinnert werden, die man dem Heiligen bei seinem Martyrium abgeschlagen hatte und die hier nun in einem gesonderten Reliquiar Ausstellung fand. Beckets Körper konnte demgegenüber in einem separaten Schrein im Polygon der Trinity Chapel verehrt
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werden (seit 1220 aufgestellt; Maron 1920, S. 192; Hayes 2003). Und auch das Programm der Glasfenster, die den Umgang in ähnlicher Weise transparent gestalten wie jene beim fast vier Jahrzehnte älteren Umgang von St-Denis, nimmt deutlich Bezug auf den hier zu verehrenden Heiligen (Caviness 1977). Durch all die verschiedenen Bauabschnitte ergibt sich für die Kathedrale – gerade mit Blick auf die französischen Vergleichsbeispiele – nicht nur ein ausnehmend additives Erscheinungsbild, sondern auch eine ungewöhnliche Länge von 160 m. Bemerkenswert französisch ist bei diesem Gründungsbau englischer Gotik demgegenüber die Chorlösung, mit dem gerundeten, stark durchfensterten Abschluss – eine in England eher seltene Lösung, sollte sich dort doch der wohl aus der Zisterzienserarchitektur abgeleitete rechteckige Chorschluss zum eigentlichen Standard entwickeln. Die vergleichsweise große Nähe zu französischer Gotik zeigt sich in Canterbury dann auch bei der Gestaltung des aufgehenden Mauerwerks (□ vgl. 87). Deutlich enger als die nachfolgenden gotischen Bauten in England folgte man hier dem kontinentalen Vorbild; insbesondere werden die einzelnen Geschosse vertikal stärker miteinander verklammert als das sonst in England der Fall ist: So finden sich im Chorpolygon schlanke gekuppelte Säulen aus dunklem Purbeck-Marmor, über deren Kapitellen ein aus dem gleichen Material gearbeiteter, demgegenüber geradezu fadendünner Dienst aufragt, der den Gewölberippen zugeordnet ist. Über einem Gesims, das sich an all diesen Vorlagen verkröpft, folgt eine zweischichtig gearbeitete Triforiengliederung, in der sich die verschiedenen Dienste und Säulen gleichmäßig vor- und zurücktreppen (das Triforium in den weiter westlich gelegenen Partien zur Empore erweitert). Wie diese Zone, so ist auch der darüberliegende Obergaden dank eines Laufgangs, den die an der Außenseite der Wand gesetzten Fenster ermöglichen, begehbar. In den weiter westlich anschließenden Jochen
mit ihren sechsteiligen Gewölben ist diese Zone zweischichtig gearbeitet, darin dem Südquerhaus der Kathedrale von Noyon der 1160er Jahre oder St-Etienne in Caen und verwandten frühen normannischen Bauten ähnlich. An der Innenseite ist in jeder Achse eine Arkatur, die aus drei unterschiedlich dimensionierten Spitzbogen gebildet wird. In diesen Jochen ist das Vorbild der Senser Kathedrale direkter greifbar als bei der Gliederung des Polygons, wo sich hier nun gekuppelte Säulen und kräftigere Bündelpfeiler mit oktogonalem Kern abwechseln. Nicht nur dieser, in Sens allerdings die gesamte Kathedrale durchziehende, Rhythmuswechsel macht die generelle Verwandtschaft zu dem französischen Bau deutlich, sondern auch die Proportionierung des Aufrisses. Ausnehmend französisch im allgemeinen Sinne wirkt schließlich das weitgehende Fehlen von Dekorformen, die ja geradezu das Markenzeichen der älteren wie der späteren englischen Architektur darstellen |▶ 10|. Gemäß dem Entwurf Wilhelms von Sens wurden bis 1184 auch die restlichen Partien der gotischen Erneuerung des Chorbaus von Bischof Anselm ausgeführt, für die nun – nach einem schweren Unfall des Architekten, der 1178 bei Vorbereitungsarbeiten für die Gewölbe in die Tiefe gestürzt war und daraufhin nach Frankreich zurückkehren musste – ein englischer Architekt gleichen Namens (Will iam the Englishman) verantwortlich zeichnete (Druffner 1993). In starkem Kontrast stehen diese Partien zu jenen des späten 14. Jh.s, im sog. Perpendicular Style ausgeführten. Der dreiteilige Aufriss wurde hier zugunsten eines zweiteiligen mit hohen Arkaden und einem bescheidenen, kaum größer als das Triforium ausfallenden Obergaden ersetzt: anstelle der Rund- und recht einfachen Bündelpfeiler finden sich nun ebensolche mit komplizierten Profilierungen, die in nicht weniger raffinierten Tiercerongewölben enden, die die sechs- oder vierteiligen Gewölbe der Anfangsphase ersetzten.
Der Chor der Kathedrale von C anterbury
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Die Kathedrale von Bourges Gotische Alternativmodelle
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in latentes Problem bei der Auseinandersetzung mit mittelalterlicher Architektur ist, die tatsächlichen historischen Vorgänge zu vereinfachen und in diesem Sinne die Entwicklungslinien auf einige wenige Bauten zu verdichten, alternative Lösungen aber – gerade wenn sie in aus heutiger Perspektive provinziellen Gegenden entstanden sind – eher zu vernachlässigen oder gar ganz unter den Tisch fallen zu lassen. Angeführt werden kann in diesem Zusammenhang das lange Zeit propagierte und immer noch sehr gängige Modell der vermeintlich in einem Dreischritt Chartres – Reims – Amiens erfolgenden Entwicklung hochgotischer Architektur. Alternativen etwa im burgundischen Raum, wo es zu Beginn des 13. Jh.s mit der Kathedrale von Auxerre (ab 1215; □ vgl. 29) oder Notre-Dame in Dijon (um 1220) wahre Höhepunkte einer gänzlich anders gearteten gotischen Baukunst gibt, fanden dagegen in Überblickswerken, die ‚die‘ gotische Architektur als Ganzes zu beleuchten suchten, lange Zeit nur eingeschränkte Berücksichtigung. Das prominenteste und monumentalste Beispiel ist in diesem Zusammenhang zweifellos die erzbischöfliche Kathedrale von Bourges (□ 88, 89), im Berry, in Zentralfrankreich gelegen und Sitz des Primas von Aquitanien. In ihrem Anspruch und ihrer Größe ist diese Anlage sicherlich als Antwort auf ein genau zeitgleich begonnenes Projekt wie die Kathedrale von Chartres (ab 1194; □ vgl. 28) zu verstehen, dem Beispiel fortgeschrittener gotischer Architektur schlechthin. Ein exaktes Datum für den Baubeginn der Kathedrale von Bourges liegt zwar nicht vor, doch hat man zu Recht die 1195 erfolgte Stiftung einer beträchtlichen Summe durch Erz-
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bischof Henri de Sully (1183 – 99) damit in Verbindung gebracht. Die Bauarbeiten zogen sich – angesichts der gewaltigen Größe nicht weiter verwunderlich – bis in die 1250er Jahre hin, doch hielt man einmal mehr am Urentwurf fest, der nur in einigen Details Modifizierung erfuhr. Der damals ins Werk gesetzte Bau darf als eine der individuellsten Lösungen der Gotik bezeichnet werden. Das mag damit zusammenhängen, dass wir es hier bei Bourges mit einem Vorhaben zu tun haben, das im Gegensatz zu den bisher genannten Beispielen nicht im französischen Kernland lag, sondern in der südwestfranzösischen Peripherie des Königreichs, in einer Region, die man damals noch nicht gänzlich unter Kontrolle hatte. Das westlich angrenzende Aquitanien wurde z. B. erst 1453 endgültig dem französischen Königreich einverleibt. Zudem stellte Bourges den ersten gotischen Großbau der Region überhaupt dar. Es fällt schwer, die Kathedrale von Bourges als Genese von bzw. Mischung aus früheren Bauten zu erklären, vielmehr bricht der Entwurf in vielerlei Hinsicht mit bis dahin etablierten Standards gotischer Baukunst. Dass es aber auch hier letztlich darum ging, das eigene Prestige, den eigenen Anspruch des Erzbistums baulich angemessen zum Ausdruck zu bringen, wird schnell bei einem Blick auf den Vorgängerbau deutlich: Er war kaum halb so breit und lang und v. a. um ein Vielfaches niedriger als die gotische Kathedrale. Diese ist ein durchgängig fünfschiffiger, bemerkenswerterweise querhausloser Bau, der im Osten in einem zweischiffigen Umgang mit recht kleinen Radialkapellen endet. Eher ungewöhnlich für die Zeit ist die Überwölbung der nahezu perfekt quadratischen Mittelschiffsjoche mit
165 □ 88 Bourges, Kathe drale, Innenansicht, ab 1195
sechsteiligen Gewölben, was mit der gewaltigen Dimensionierung der einzelnen Joche zu tun haben dürfte. Bis dahin unerreicht war auch die Höhe des Baus, erlangt doch das Mittelschiff in allmählicher Staffelung über die zwei 9 bzw. 18 m hohen Seitenschiffe schließlich 38 m Scheitelhöhe. Auffallen müssen die vielen grundsätzlichen Ähnlichkeiten zu Notre- Dame in Paris (ab 1163), bis hin zu solchen Details wie den kleinen Kapellen, die deren Chor ursprünglich besessen zu haben scheint (vgl. Rekonstruktion nach Viollet-le-Duc in: Kimpel / Suckale 1985, S. 295). Erklärt ist damit
allerdings noch nicht die gerade beschriebene Staffelung des Kirchenbaus zur Mitte hin, da in Notre-Dame – bedingt durch das dort auftretende Emporengeschoss – die Höhe beider Seitenschiffe identisch ist. Hier scheint ein anderes, älteres, aber ähnlich ambitioniertes Vorbild wirksam gewesen zu sein: die Abteikirche von Cluny |▶ 12|, die damals offensichtlich immer noch als brauchbares Modell für eine fünfschiffige Anlage angesehen wurde, das es lediglich in moderne, gotische Formen zu übersetzen galt. Hinsichtlich der ebenfalls bemerkenswerten Eigenheit des Verzichts auf ein Querhaus
Die Kathedrale von Bourges
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□ 89 Bourges, Kathedrale, Außenansicht, ab 1195
mag man sich schließlich an der rangmäßig überaus vergleichbaren, aber erheblich älteren Kathedrale von Sens (ab 1140) orientiert haben. Im Inneren dominieren die fortlaufenden Reihen von hochaufragenden Mittelschiffspfeilern, die deutlich über die Hälfte der Hochschiffswand einnehmen und auf diese Weise den Blick freigeben auf die Wandgliederung des dahintergelegenen inneren Seitenschiffs. Bei den tragenden Elementen handelt es sich um Rundpfeiler, die gleichmäßig von acht runden Diensten übersponnen werden. Oberhalb einer auffallend schmalen Kapitellzone – derartiger Dekor fehlt sowieso weitgehend – stellen die Pfeiler eine der bemerkenswertesten Erfindungen des Bourgeser Kathedralarchitekten dar. Anders als etwa bei den ‚klassischen‘ Lösungen in Chartres oder Reims mit ihren kantonierten Pfeilern folgen nun nämlich keine kleiner dimensionierten Dienstbündel. Vielmehr wird der runde Pfeilerkern als Teilsegment den gesamten Aufriss bis zum
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Gewölbeansatz hochgeführt, wodurch die Innenraumgliederung stärker zu einer Einheit verschmilzt als das bisher der Fall war. Dazu trägt im Übrigen auch bei, dass der eigentlich jochtrennende Gurtbogen kaum mehr von den normalen Rippen zu unterscheiden ist. Je nachdem, ob diese Trageelemente nur die Querrippe oder aber den Gurtbogen und die Diagonalrippen aufzunehmen haben, wird das Pfeilersegment von drei oder aber in dichterer Folge von fünf Diensten umstellt. Das Triforium beleben unter einem weitgespannten Bogen vier unterschiedlich dimensionierte Einzelbögen, während im Obergaden drei Spitzbögen eine recht kompakte Mauerfläche tragen, in die ein Sechspass eingelassen ist. In den westlichen, späteren Jochen ist das stärker in Richtung eines tatsächlichen Maßwerkfensters abgewandelt. Diese Gliederung findet sich grundsätzlich auch im vergleichsweise schmalen inneren Seitenschiff, wobei dort alle drei Zonen die gleiche Höhe aufweisen und die Obergadenfenster nur noch zweiteilig sind. Im
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Zusammenspiel mit dem dann lediglich einzonigen äußeren Seitenschiffsjoch entsteht so ein ausnehmend vielgestaltiger Raumeindruck. Dabei kommt die gewaltige Dimensionierung der Kathedrale durch die hochaufschießenden, den Blick weniger als sonst begrenzenden und beeinträchtigenden Mittelschiffspfeiler deutlich besser zur Geltung als das sonst der Fall ist. Ein vergleichender Blick auf das Äußere der etwas jüngeren Kathedrale von Reims (□ vgl. 97) zeigt schließlich, wie sehr bei dem champagnesken Bau selbst dieser Teil Gestaltung erfahren hat. Hier findet man erneut Dekorformen wie die in die Zwickel eingesetzten Okuli der Obergadenfenster und über dem Triforium oder extra ausgearbeitete Blendbogen zu deren Seiten, während man Skulptur oder all die feinen Profilierungen, auf die man an dieser Stelle in Reims trifft, vergeblich suchen wird. Vielmehr dominiert das in dichter Folge gesetzte Strebewerk mit den steil nach unten laufenden Strebebögen das Erscheinungsbild der Bourgeser Kathedrale (□ vgl. 89). Auch das Bourgeser Konzept scheint durchaus Einfluss auf die nachfolgende gotische Architektur gehabt zu haben. Anders als beim Konkurrenzmodell Chartres geht es dabei weniger um die Übernahme architektonischer Detailformen – sie bleiben in der Tat einmalig für
Bourges – als vielmehr um eine solche struktureller Eigenheiten. Zu nennen ist hier etwa ihre fünfschiffige Grundanlage, die Vorbildcharakter für die Kathedralchöre im normannischen Coutances (1.V. 13. Jh.) und in Beauvais (1240er Jahre) oder aber für die Kathedrale von Le Mans (ab 1217) besessen haben dürfte (Michler 1980). In beiden Fällen findet sich diese Lösung allerdings mit Eigenheiten normannischer Baukunst bzw. dem von Chartres, Reims und Amiens vertretenen Schema überblendet. Eine noch engere Rezeption des Bourgeser Gesamtkonzepts mag demgegenüber die Kathedrale von Burgos in Kastilien (ab 1221) darstellen (Karge 1989). Dies zeigt, dass die Übernahmen französischer gotischer Architektur außerhalb Frankreichs nicht auf Modelle wie Reims beschränkt bleiben mussten. Die folgenreichste Erfindung der Bourgeser Architektur scheint allerdings die ungewöhnliche Lösung des segmenthaft in das Triforium und den Obergaden weitergeführten Rundpfeilers gewesen zu sein. Hierfür lässt sich eine reiche Nachfolge finden, von denen nur die Vierungspfeiler der Trierer Liebfrauenkirche (nach 1243; □ vgl. 33), das Langhaus der Kathedrale von Toul (ab Mitte 13. Jh.) und die Abteikirche in Remiremont (Weihe 1299) erwähnt seien.
S. Sepolcro in Segovia Zentralbau und Zentralbautendenzen
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indeutiger und leichter als bei anderen Kirchentypen lassen sich für Zentralbauten, die in der abendländischen Architektur in verschiedenster Ausprägung in Erscheinung treten (z. B. bei Baptisterien: vgl. Pisa, Parma, Florenz etc. oder noch früher in Marseille, Riez,
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Fréjus und Aix-en-Provence, 5. Jh. u. später), konkrete Vorbilder benennen, die sie jeweils mehr oder weniger authentisch zu kopieren bzw. denen sie Reverenz zu erweisen suchen. Mit der Aachener Pfalzkapelle ist gleich zu Anfang der hier präsentierten ‚Schlüsselbau-
S. Sepolcro in Segovia
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ten‘ |▶ 1| ein besonders monumentales Leitbild für diesen Typus vorgestellt worden, das, u. a. in der ersten Hälfte des 11. Jh.s, also über 200 Jahre nach ihrer Errichtung, gehäuft eine bis ins Detail gehende Reproduktion fand. Genannt seien nur die Damenstiftskirchen in Ottmarsheim (1020 / 30) und Essen. Der Rückbezug auf Aachen und Karl den Großen scheint hier also außer Frage zu stehen, ebenso wie bei der Pfalzkapelle (□ vgl. 43, 44) selbst – angesichts ihrer potentiellen ‚römischen‘ Vorbilder wie S. Vitale in Ravenna (Weihe 547; □ vgl. 18) oder vergleichbaren Bauten – die Inszenierung Karls als des legitimen Nachfolgers der römischen Kaiser im Fokus stand. Noch nicht allzu viel ist mit diesen ersten Beispielen hinsichtlich des Grundes für die ungewöhnliche Grundrisslösung des jeweiligen Vorbilds gesagt. Zentralbauten im Allgemeinen lassen sich ja mit den Kreuzkuppelkirchen |▶ 5, 8| und deren Vorläufern zumindest in der byzantinischen Architektur noch vergleichsweise häufiger finden – so bei der Ha□ 90 Vianden (Luxemburg), Burg kapelle, Grundriss und Schnitt, 1. Hälfte 13. Jh.
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gia Sophia (□ vgl. 19) u. a. Doch auch dort sind Monumentalbauten auf kreisrundem oder polygonalem Grundriss nicht eben zahlreich. Der Grund für ihre Seltenheit hier und im Westen liegt sicherlich in der gegenüber einer Basilika erheblich größeren Komplexität einer solchen Anlage. Häufiger ist diese Lösung in Zusammenhang mit kleinformatigen Kapellenbauten zu finden. Einmal mehr scheint hier – zumindest im Westen – Aachen eine gewisse Rolle gespielt zu haben. Deutlich wird das z. B. an der Doppelkapelle im luxemburgischen Vianden (1. Hälfte 13. Jh.; □ 90), die, auf polygonalem Grundriss errichtet, über zwei Geschosse verfügt: ein durch die Aachener Pfalzkapelle offensichtlich bereits früh etablierter Idealtypus für Palastkapellen, bei dem im Übrigen weniger der Zentralbau als die Zweigeschossigkeit das entscheidende Kriterium gewesen zu sein scheint (|▶ 25|, □ vgl. 104), ebenso die oft auftretende Eigenheit, die verschiedenen Ebenen der Kirche miteinander kommunizieren zu lassen. Geschah das in Aachen noch durch die Anlage der Empore, so in Vianden in demgegenüber deutlich reduzierter Form mit einer zentralen Öffnung im Gewölbe des Untergeschosses. Im darüberliegenden Geschoss wird diese noch einmal durch die Rahmung mit fein gearbeiteten Säulen, auf denen das komplexe Gewölbe des Umgangs ruht, betont. In sehr ähnlicher Weise lässt sich solches u. a. auch bei den Burgkapellen in Nürnberg und Landsberg / Sachsen-Anhalt (jeweils um 1200) oder bei der erzbischöflichen Privatkapelle St. Gotthard (Weihe 1137) im Mainzer Dombezirk finden. All diese im Detail sehr unterschiedlich aussehenden Bauten waren und sind überhaupt nur deswegen als Aachen-Zitate lesbar, weil der Begriff ‚Zentralbau‘ im Mittelalter ein sehr weit gefasster war und sowohl run-
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de als auch polygonale oder gar quadratische Grundrisse umfassen konnte. Eine derartige Gestaltungsvielfalt weisen auch die Nachfolger eines noch älteren und noch bedeutenderen Zentralbaus auf: des antiken Pantheons (nach 110; □ vgl. 10), das mit 43 m Spannweite lange Zeit eine der größten Kuppeln des Abendlandes überhaupt überspannte. Im nachantiken Rom zu S. Maria Rotonda, d. h. zur wichtigsten Marienkirche des Westens, umgewidmet, konnte das Pantheon im frühen Christentum problemlos weiter genutzt werden. Als ein besonders monumentales (potentielles) Beispiel der zahlreichen ihr nachfolgenden Rundbauten mit Marienpatrozinium sei hier nur die Trierer Liebfrauenkirche (□ vgl. 33) genannt: eine ab ca. 1235 unmittelbar südlich des dortigen Domes errichtete Stiftskirche, die einen basilikalen Vorgänger ersetzte und die als einziger dieser Zentralbauten an die Aachener Dimensionen heranreichte. Allerdings zeigt ein unmittelbarer Vergleich zwischen dem möglichen Vorbild des antiken Pantheons (einschiffiger Rundbau auf kreisrundem Grundriss mit in die Wand eingelassenen Nischen bzw. Kapellen) und der in der Nachfolge der Reimser Kathedrale (ab 1211; |▶ 23) stehenden Liebfrauenkirche (basilikale Anlage mit einem zentralen, höheren Bereich auf kreuzförmigem Grundriss und dazwischen eingefügten Kapellenbauten), wie vage auch hier die tatsächlichen Anknüpfungspunkte sind: Letztlich beschränk(t)en sie sich auf den jeweils mehr oder weniger zentralisierenden Grundriss. Dass derartige, nach heutigem Verständnis eher freie Zitate in ihrer Zeit tatsächlich so gelesen wurden, lässt sich anhand zahlreicher gut dokumentierter Beispiele aufzeigen. Zu ihnen gehört auch die vor den Toren der kastilischen Stadt Segovia gelegene Kirche S. Sepolchro ( □ 91 , 92 ), deren Weiheinschrift von 1208 ecclesia beati sepulcri lautet (erst später Umwandlung des Patroziniums in Vera Cruz), mit der wir zu einem dritten wichtigen Vorbild
für Zentralbauten kommen, der Jerusalemer Grabeskirche ( Themenblock · Antike, S. 81; □ 47). Genau genommen ist es nicht die gesamte Anlage, sondern die sog. Anastasis-Rotunde, die der Rundbau in Segovia in verkleinerter und abstrahierter Weise spiegeln sollte. Kaiser Konstantin hatte diese Rotunde im 4. Jh. errichten lassen. Im Verbund mit zahlreichen weiteren Stiftungen als Auszeichnung all jener Orte, die von besonderer Bedeutung für das Wirken und Leben Christi waren (vgl. Geburtskirche etc.). Dazu ließ Konstantin bei der Grabeskirche zunächst einen kleinen tabernakelartigen, das eigentliche Grab einfassenden Bau errichten, der dann seinerseits von einem großen Rundbau mit Umgang, besagter Rotunde, umschlossen wurde. Nachbildungen dieses Zentralbaus treten früh, bereits im ersten Jahrtausend, in Erscheinung. Zu nennen wären hier Kapellen zur Aufbewahrung von Passionsreliquien oder Kapellen auf Friedhöfen zur Bestätigung des mit dem Grab Christi verknüpften Auferstehungsversprechens. St. Michael in Fulda (820 / 822) ist dafür ein frühes Beispiel. Eindrucksvoll sind aber auch die entsprechenden Nachbildungen in Form von Rotunden im Chorscheitel, wie sie ehemals im Konstanzer Münster (10. Jh.) und in St-Bénigne in Dijon (1001 / 18) auftraten, oder schließlich ganz eigenständige Anlagen auf zumeist polygonalem Grundriss. Als prominente Beispiele können hier S. Sepolcro in Bologna bzw. Pisa (jew. Mitte des 12. Jh.s), die Matthiaskapelle in Kobern (um 1230 / 40), die ursprünglich das aus dem Heiligen Land mitgebrachte Haupt des hl. Matthias beherbergte, oder die Rotunde im Magdeburger Dom (Mitte 13. Jh.) genannt werden: alles Bauten, mit denen auch jenen eine Pilgerfahrt ermöglicht werden sollte, die sich die gefährliche und lang andauernde Reise nach Jerusalem nicht leisten konnten (Binding 1999). In besonderer Dichte treten Nachbildungen der Grabeskirche im Umfeld des Templerordens auf (Untermann 1989, S. 64); auch für
S. Sepolcro in Segovia
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Segovia ist ein derartiger Hintergrund vermutet worden. Alternativ dazu hat man erwogen, dass die Stifter Teilnehmer des erfolglosen vierten, 1200 – 04 durchgeführten Kreuzzuges gewesen seien. Für eine Verbindung zu den Templern gibt es in diesem Fall zwar keine Belege, sehr wohl aber für zwei Rundbauten, die um 1200 im unmittelbaren Umfeld von S. Sepolco errichtet wurden: für S. María de Eunate und die Heiliggrabkirche in Torres del Río. Direkt dem Papst unterstehend, waren die Templer als geistlicher Ritterorden 1120 in der Absicht gegründet worden, die Pilger, die nach dem erfolgreichen 1. Kreuzzug in großen Scharen nach Jerusalem strömten, zu schützen bzw. später der Verteidigung des Heiligen Landes zu dienen. Gleichzeitig entstand aber auch in den
□ 91 Segovia, S. Sepolcro/Vera Cruz, Grundriss und Schnitt, Weihe 1208
west- und mitteleuropäischen Ländern, wie z. B. in Frankreich, ein besonders dicht geknüpftes Netz von Templerhäusern, ebenso auf der Iberischen Halbinsel, wo dem Orden schnell eine wichtige Rolle bei der Reconquista, d. h. bei der Rückeroberung der von den Muslimen besetzten Gebiete, zukommen sollte. Gern setzte man die Templer zur Wiederbesiedlung und zum Schutz der wiedergewonnenen Grenzzonen oder anderer gefährdeter Bereiche ein – nicht zuletzt beim ‚Jakobsweg‘ nach Santiago de Compostela |▶ 11| im Norden Spaniens. Verbunden war damit nicht nur die Anlage von □ 92 Segovia, S. Sepolcro/Vera Cruz, Innenansicht mit dem zweigeschossigen Kernbau auf zwölfeckigem Grundriss, Weihe 1208
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Burgen und Siedlungen, sondern in zahlreichen Fällen auch die von runden oder polygonalen Kirchen und Kapellen mit Heilig-Grab-Patrozinium. Eindrücklich wurde damit noch einmal ein Rückverweis auf die ursprüngliche Herkunft und Intention des Ordens gegeben. Das eindrucksvollste und schönste Beispiel für einen derartigen Zentralbau ist sicherlich in Tomar zu finden, mit der bedeutendsten Templerburg Portugals (2. Hälfte 12. Jh., mit späteren Veränderungen). Zahlreiche weitere Beispiele für Rundbauten der Templer lassen sich u. a. in Metz, Laon, London sowie in vielen weiteren westeuropäischen Orten benennen. Wie sieht nun aber im Fall von S. Sepolcro in Segovia (□ vgl. 91, 92) die ‚Kopie‘ der Grabeskirche aus? Einmal mehr auffallend eigenständig: So hat man es nun nicht mehr mit einem großen überwölbten Zentralraum zu tun, um den ein vergleichsweise schmaler Umgang geführt wird, wie das in Jerusalem der Fall ist (der Eckturm in Segovia ist erst ein späterer Anbau). Die Vorgaben des Vorbildes geradezu umkehrend, rahmt der nun eingeschossige Umgang, in Jerusalem noch mit Empore, das Zentrum der Kirche und bedingt einen weitgehend abgeschlossenen zweigeschossigen Bereich.
Zudem ist der Grundriss von S. Sepolcro nur im Kernbereich rund, während die den Umgang begrenzende Außenseite zwölfeckig ausgebildet ist. Ebenso ergänzte man den Jerusalemer Grundplan im Osten um einen dreiteiligen Staffelchor (vgl. den fast identischen Grundriss der Stiftskirche in Wimpfen, nach 965; Michalski 1985, S. 4). An ihrer Innenseite ist die Außenwand in zwei Zonen durch Blendarkaden bzw. durch entsprechende Portalöffnungen untergliedert, wobei die Ecken jeweils mithilfe halbrunder Wandvorlagen Akzentuierung erfahren. Während das Untergeschoss in Segovia durch vier an den Hauptseiten des Umgangs angebrachte Portale zugänglich ist, war das Obergeschoss mit dem Altar ursprünglich nur von Westen über eine Treppenanlage im Umgang zu erreichen. Die auf den ersten Blick ungewöhnliche Untergliederung des zentralen Raumes ist zweifellos als Nachbildung des Heiligen Grabes zu verstehen, entspricht es doch sehr genau derartigen Anlagen in Charroux (Vierungsrotunde, 1017 / 18) und Augsburg (Untermann 1989, S. 74 f.). Ob damit tatsächlich auch noch auf das ebenfalls in der Grabeskirche verehrte Grab Adams angespielt wird (Sutter 1997), sei dahingestellt.
Die Kathedrale von Lincoln Neuartige Gewölbelösungen
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ird der bis 1174 fertiggestellte Kathedralchor von Canterbury allgemein als der Bau angesehen, mit dem in England die gotische Architektur Einzug hielt, so ist die Kathedrale von Lincoln (□ 93, 94) nach landläufiger Meinung einer der Bauten, mit denen die ‚eigentliche‘ englische Gotik – das Early English – einsetzt. Fast zeitgleich mit Chartres
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(ab 1194; □ vgl. 28) ausgeführt, erweist sich die Kathedrale von Lincoln nun merklich weiter von den französischen Ursprüngen entfernt. Hier zeigen sich die Besonderheiten englischer Sakralarchitektur markanter ausgeprägt als das noch bei der Kathedrale von Canterbury der Fall gewesen war (Kowa 1990, S. 86 – 95; Heslop 1986).
Die Kathedrale von Lincoln
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172 □ 93 Lincoln, Kathedrale, ab 1192, Innenansicht des um 1220 ausgeführten Langhauses
Die Baugeschichte der Kathedrale von Lincoln zerfällt in kaum weniger Einzelkampagnen als jene von Canterbury, gleichwohl ist das Ergebnis ein erheblich homogener wirkender Bau als dort. 1192 machte man sich an den Ersatz der zwischen 1073 und 1092 errichteten Vorgängeranlage. Ähnlich wie in Canterbury verfügte diese ebenfalls über ein lang gestrecktes Langhaus, an das sich ein schmales Querhaus und ein fünfteiliger Staffelchor anschlossen. Auch die weiteren Details zu Lincoln erscheinen vertraut, beauftragte man doch 1192 – nach der starken Beschädigung durch ein Erdbeben sieben Jahre zuvor – einen in den Quellen nobilis fabricae constructor genannten Gaufrido de Noiers (Kowa 1990, S. 88). Einmal mehr hat man hinter ihm einen französischen Baumeister vermutet, wofür es in diesem Fall allerdings keine eindeutigen Belege gibt. In mehreren Bauabschnitten sollte erneut ein komplexer Bau von beachtlicher Länge (ca.
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150 m) entstehen, der über zwei Querhäuser mit jeweils im Osten angelagerten Kapellen und einen diesmal rechteckigen Chorschluss verfügt. Angesichts der relativ bescheidenen Gewölbehöhe von kaum mehr als 25 m war auch hier kein aufwändiges Strebewerk notwendig. Die entsprechenden Stützsysteme beschränken sich in allen Bauabschnitten auf mehr oder weniger dicht in die Außenmauer gesetzte Strebepfeiler sowie kleine, unter den Seitenschiffsdächern verborgene bzw. knapp über diesen geführte Strebebogen. Von Gaufridos Projekt ist heute noch der nach dem damaligen, aus dem französischen Avallon stammende Bischof Hugo (reg. 1186 – 1200) Hugh’s Choir genannte Chor erhalten (jetzt die Partie zwischen den beiden Querhäusern), der deutliche Ähnlichkeiten zum wenig älteren Chorentwurf von Canterbury aufweist: Einmal mehr tritt in den Arkaden ein Stützenwechsel auf. Über ihnen ist
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eine an Canterbury erinnernde, nun aber noch differenziertere Triforienzone zu finden, der erneut eine zweischichtige Obergadenlösung folgt. Ebenfalls verwandt ist die hier und in der Folge auch für englische gotische Sakralbauten typische Verwendung von Purbeck-Marmor zur Hervorhebung bestimmter Bauglieder, über denen – auf eigenen Konsolen stehend – wiederum fast fadendünne Dienste ihren Ausgang nehmen. Bemerkenswerterweise tragen sie nun nicht vier- oder sechsteilige Gewölbe, sondern – angesichts ihrer Ausführung um 1203 (Nußbaum / Lepsky 1999, S. 183) der Zeit weit voraus – sog. ‚verrückte‘ Gewölbe: eine ganz ungewöhnliche, für England aber wegweisende Lösung. Gegenüber der konventionellen französischen, vierteiligen Lösung bestand die Neuheit darin, nicht nur funktionsbetonte Rippen auszubilden, sondern auch solche, die losgelöst von der Kappenkonstruktion ein kompliziertes Muster ergeben. Die Innovation zeigte sich dabei nicht nur in der fehlenden gestalterischen Differenzierung zwischen jochteilenden und die Binnenstruktur eines Gewölbes bildenden Rippen, sondern auch in der Anlage einer von Ost nach West den Scheitel aller Gewölbe durchlaufenden Rippe. Dieses dreiteilend, sind in jedem ihrer Joche zwei Schlusssteine zu finden, auf die nun jeweils von den gegenüberliegenden Ecken des Joches zwei Rippen zulaufen. Angesichts des unterschiedlichen
Auftreffwinkels ergibt sich dadurch nun nicht mehr ein durchgängiger Diagonalbogen wie in Frankreich, sondern ein rhombenförmiges Gewölbefeld. Ergänzt wird diese Figur durch jeweils eine Rippe, die von den beiden verbleibenden Eckpunkten ebenfalls auf einen der beiden Schlusssteine zuläuft und so die kaum mehr in Worte zu fassende unregelmäßige Gewölbedekoration vollendet. Man nennt diese Nebenrippen eines Gewölbes, die von der Ecke eines Joches zu einer Scheitel- oder Nebenrippe führen, Tierceron (der Bedeutung nach meint der französische Begriff eigentlich ‚Drittrippe‘). Eine ähnlich wegweisende Erfindung wie diese Gewölbeformen sind die ebenfalls erstmals im Hugh’s Choir auftretenden synkopisch versetzten, zweischichtigen Blendarkaden in den Seitenschiffen, die in der Folge gleichfalls zu einem Markenzeichen englischer Gotik gerieten. Die unter Gaufrido de Noiers ausgeführten Partien kamen nach Westen nicht über das zweite, große Querhaus hinaus, in dem die Joche in relativ konventioneller Weise von sechsteiligen Gewölben überfangen sind. Das sternförmige Vierungsgewölbe entstand demgegenüber
□ 94 Lincoln, Kathedrale, Grundriss der Gesamtanlage, 12./13. Jh.
Die Kathedrale von Lincoln
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174 □ 95 Lincoln, Kathedrale, Innenansicht des Chapter House von Westen, 1230/40er Jahre
erst nach dem Einsturz des Vierungsturms um 1237. Nach leicht adaptiertem Plan begannen um 1220 die Arbeiten am Langhaus (□ 94): Das Erscheinungsbild ist hier reicher, zugleich einheitlicher und organisierter als noch im Hugh’s Choir. In der Tat dürfte es kaum einen anderen englischen Bau geben, bei dem Wand und Gewölbe so ausgewogen abgestimmt, ihre Einzelelemente derart logisch aufeinander bezogen sind. So werden die auffallend weit gespannten Arkaden nun von (im Detail variierenden) Bündelpfeilern getragen, deren acht gleich große Dienste jeweils einem bestimmten Bogenelement der reich abgestuften Arkaden zugeordnet sind. Über ihnen schließt sich ein
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Triforium an, das angesichts der größeren Jochbreite zwei weiter gespannte, ebenfalls sehr reich profilierte Bogen untergliedern. In diese sind nun drei und nicht mehr nur zwei Bogen eingestellt, die jeweils zwei Vierpässe tragen. Über ihnen folgt wiederum die bekannte zweischichtige Obergadenlösung. Demgegenüber nehmen die ausnehmend dünnen Dienste des Gewölbes ihren Ausgang auf eigenen, über den Pfeilern ansetzenden Konsolen. Hinsichtlich des Gewölbes ließ sich der verantwortliche Architekt zweifellos von den Erfindungen seines Vorgängers Gaufrido inspirieren, die er jedoch in eine regularisierte, klarere Form umprägte: Unter Beibehaltung der durchlaufenden Scheitelrippe kehrte
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er grundsätzlich wieder zum konventionellen vierteiligen Kreuzrippengewölbe zurück, wobei er nun an allen vier Ecken des Joches den beiden Hauptrippen jeweils vier Tiercerons – im wahrsten Sinne des Wortes – zur Seite stellte. Im Ergebnis bildet sich eine Art vierzackiger Stern aus: die klassische Form eines Tiercerongewölbes (Nußbaum / Lepsky 1999, S. 183 f f.). Bemerkenswert erscheint bei diesem Entwurf mit seinem ausgewogenen Verhältnis von Horizontale und Vertikale, dass dank der geringen Dimensionierung der Dienstbündel und des gänzlichen Fehlens jochtrennender Zäsuren das Langhaus in der Tat als ein zusammenhängender, einheitlicher Großraum wirkt – fraglos eines der gelungensten Beispiele früher englischer Gotik. Wie schnell sich damals die Moden und Gewichtungen innerhalb der Architektur wandelten, zeigt schließlich der letzte Bauabschnitt der Kathedrale von Lincoln: der Angel Choir genannte Retrochor, den man als Ersatz für den bis dahin bestehenden, einfacheren Ostabschluss Gaufridos (den Grabungsbefunden nach eine deutlich kürzere Anlage auf trapezförmigem Grundriss, mit Umgang und Umgangskapellen) zwischen 1256 und 1280 durch eine reichere, nun rechteckig schließende Anlage ersetzte. Ohne den gestalterischen Witz und die Eigenständigkeit des Langhauses, handelt es sich bei ihr um eine überreich dekorierte, modernisierte Version desselben. Dabei fallen die fortschrittlicheren Detailformen auf, die sich zwar grundsätzlich an französischen Vorbildern orientieren, aber deutlich stilisierter sind. Bemerkenswert ist aber v. a. das erstmals feststellbare – wohl durch die gotischen Neubauten von Westminster Abbey und Alt-St. Paul’s geförderte – Interesse, dezidiert französische Formen, etwa in Gestalt von Maßwerkerfindungen (vgl. Blendarkaden am Sockel) und -fenster (v. a. das eindrucksvolle, riesige Fenster am Chorschluss) in die Lincolner Kathedralarchitektur einzuführen. Gerade mit Blick auf die großen
Fenster bildeten sie fortan den lichtvollen Höheund Schlusspunkt am Ostende der Kirche. Deren anderes Ende wurde demgegenüber von einer nicht minder bemerkenswerten Anlage markiert. Aufbauend auf die alte Westfassade des 11. Jh.s war hier im 13. Jh. eine gewaltige, an Figurennischen reiche Schirmwand entstanden, die die Ansätze der beiden hinter ihr aufragenden, gewaltigen Westtürme verbarg: eine Lösung, die u. a. wohl für die etwas spätere Westfassade am Nidarosdom im norwegischen Trondheim vorbildlich war. Das eigentliche, im 13. Jh. mit dem Neubau der Kathedrale von Lincoln entstandene Kleinod ist bisher noch nicht benannt worden: das nördlich von ihr, zeitlich wohl zwischen Langhaus und Angel Choir errichtete Chapter House (□ 95), der Versammlungsort von Domkapitel und Bischof. Unter diesen für die englische gotische Architektur so typischen Zentralbauten gehört das auf zehneckigem Grundriss errichtete Beispiel in Lincoln zu den bemerkenswertesten. Ähnlich wie in den Seitenschiffen des Langhauses finden sich auch hier über einem mit Blendbogen verzierten Sockel – zwei in jeder Achse – einfache Lanzettfenster. Angesichts der kleinen Steinbank, auf der die Bogen stehen, waren diese ursprünglich wohl als Sitznischen gedacht. Ihre in Purbeck-Marmor ausgeführten Dienste wechseln sich mit jenen etwas weiter vorspringenden der Gewölbe ab. Pro Vorlage nehmen fünf Rippen ihren Ausgang, die dann am Schlussstein einer nun ringförmig geführten Scheitelrippe bzw. an einem leicht davon abgerückten Schlussstein enden. Die zentrale, etwas anders profilierte Rippe, die an einer der Vorlagen ansetzt, läuft dabei als einzige direkt auf der anderen Seite des Schlusssteins bis zum Bündelpfeiler weiter. Haupt- und Nebenrippen bilden auf diese Weise über dem zentralen Stützelement, das ähnlich wie die Langhauspfeiler rundum mit nun kannelierten Vorlagen versehen ist, ein eindrucksvoll reiches und differenziertes Schirmgewölbe aus.
Die Kathedrale von Lincoln
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Die Kathedrale von Reims Krönungskirche und Klimax der Hochgotik
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ie Kathedrale von Reims, deren Grundstein den Quellen nach am 6. Mai 1211 gelegt wurde, stellt einen der wichtigsten und folgenreichsten Marksteine in der mittelalterlichen Architekturgeschichte des Abendlandes dar. Zugleich ist sie Monument deutsch-französischer Geschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart: Im Vorgänger der heutigen Kathedrale wurde Ende des 5. Jh.s der für die Geschichte beider Nationen wichtige Merowingerkönig Chlodwig I. getauft; im Ersten Weltkrieg beschädigte 1914 deutscher Beschuss ihre Architektur und Skulptur schwer; hier war es schließlich auch, wo sich nach mehreren Jahrhunderten blutiger deutsch-französischer Konflikte 1962 de Gaulle und Adenauer versöhnend die Hände reichten. Darüber hinaus ist die Reimser Kathedrale (Reinhardt 1963, Ravaux 1979, Kurmann 1987) ein lehrreiches Fallbeispiel für die Forschungsgeschichte zur gotischen Architektur allgemein. So hat man sich über Jahrzehnte hinweg v. a. mit dem in einer Zeichnung überlieferten Labyrinth (nach 1288) beschäftigt, das sich ehemals im Westteil des Langhauses befand (□ 96). Maßgeblicher Grund dafür waren die vier dort namentlich genannten, verantwortlichen Architekten ( Themenblock · Der Architekt, S. 224), denen man immer wieder von neuem und letztlich erfolglos bestimmte Partien des Baus zuzuweisen suchte. Zwar wird dieser Ansatz kaum noch verfolgt, gleichwohl sucht man bis heute vergeblich eine schlüssige, alle Probleme lösende Baugeschichte. Eine systematische bauarchäologische, alle Partien genauestens aufnehmende Untersuchung, die letztlich allein weiterhelfen könnte, fehlt immer noch. Sie wäre in Reims aber besonders wichtig, war doch diese inmitten der Champagne gelegene
III. Schlüsselwerke
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Kathedrale für weit mehr Bauten vorbildlich als das sonst der Fall ist. Mag die Stilisierung von St-Denis (ab 1137) zum Urbau aller gotischen Architektur aus heutiger Perspektive zu pointiert erscheinen, so ist die herausragende, vorbildgebende Rolle wohl schwer zu bestreiten, die nicht ganz ein Jahrhundert später die Mutterkirche des damals ganz am Ostrand des französischen Königreichs gelegenen Erzbistums Reims innehatte: Mit ihr war gotische Architektur zu Beginn des 13. Jh.s, nach kaum mehr als 75 Jahren rasanter Entwicklung, offensichtlich zu einem umfänglichen, aber in sich schlüssigen System ausgereift, das sich nicht mehr allein für die Rezeption innerhalb der damals von einem wahren Bauboom ergriffenen Île-deFrance und unmittelbar benachbarten Gebiete eignete. In der Tat lässt sich kaum ein weiterer Bau benennen, der hinsichtlich Architektur wie Skulptur derartige Rezeption gefunden hätte – und das nun erstmals auch weit über das französische Königreich hinaus. Bauten wie die damals im Heiligen Römischen Reich gelegenen Kathedralen von Toul (nicht vor 1230 / 35) und Metz (1240er Jahre), die Trierer Liebfrauenkirche (ab ca. 1235; □ vgl. 33) oder die Marburger Elisabethkirche (ab 1235) sind dafür eindrückliche Beispiele (Brachmann 1998 u. 2013), ebenso Westminster Abbey (ab 1245), die Oberkirche von Assisi (Weihe 1253) und viele andere Bauten mehr. Ihre Vielgestaltigkeit zeigt, dass es dabei weniger um die Reproduktion des zu diesem Zeitpunkt bereits geradezu standardisierten französischen Kathedralschemas (Doppelturmfassade; basilikales dreischiffiges Langhaus; Querhaus; Chor mit Umgang und Radialkapellen) ging. Vielmehr wurde Reims offensichtlich v. a. wegen seines neuen komple-
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xen, dabei aber ausnehmend flexibel einsetzbaren Architektursystems und Formenapparates geschätzt, das bzw. der sich auch für gänzlich andersartige Projekte verwenden ließ. Nicht weniger bemerkenswert und bedeutend ist die Rezeption der Reimser Skulptur, erneut in besonderem Maße auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches, wie das entsprechende, um die Mitte des 13. Jh.s auftretende Phänomene – um hier nur die prominentesten Beispiele zu nennen – an den Domen von Bamberg, Metz, Mainz und Naumburg zeigen. Die prägende Rolle, die Reims in der abendländischen Kunstgeschichte gespielt hat, kann kaum verwundern, stellte die Kathedrale doch in ihrer Zeit – bei allen anderen beeindruckenden Beispielen innerhalb der Entwicklung gotischer Baukunst – wohl das Projekt dar, das nicht nur zu den monumentalsten gehörte, sondern auch als gotisches Gesamtkunstwerk par excellence in fast einmaliger Weise Architektur und Skulptur zu einer Einheit verwob: eine Einheit, der noch die nur mehr in Resten erhaltene, weil v. a. im Ersten Weltkrieg zerstörte Glasmalerei und die fast gänzlich verlorene Innenausstattung hinzuzurechnen wären. Selbst die in dieser Hinsicht am ehesten vergleichbare Kathedrale von Chartres (ab 1194; □ vgl. 28) kann hier lediglich eingeschränkt mithalten: Nur in Reims findet sich Skulptur flächendeckend und von beeindruckender Qualität und Größe selbst in den entlegensten Bereichen des Außenbaus, so in den Tabernakeln des Strebewerks oder um die großen Fensteröffnungen der Westfassade und der Querhäuser (□ 97). Mehr als sonst kann man dabei wirklich von ‚Monumental skulptur‘ sprechen, erreichen doch einige dieser Figuren Höhen von vier Metern und mehr. Solch ambitioniertes Wirken ist Spiegelbild der hohen Reputation des Reimser Baus, die maßgeblich auf der genannten Taufe des Frankenkönigs Chlodwig (466 – 511) basierte. Diese und die der Legende nach wundersame Salbung mit direkt vom Himmel herabgeschick-
□ 96 Reims, Kathedrale, Grundriss des Zustands um 1722, mit Labyrinth, originaler Choranlage und Altarstellen, Grundsteinlegung 1211, Chorweihe 1241
tem Öl sollten Ausgangspunkt für das Privileg des Reimser Erzbischofs sein, an jenem Ort den französischen König nicht nur zu salben, sondern auch zu krönen. Gerade dieses galt es zu wahren, indem man dauerhafte Sorge für eine in ihrer Zeit angemessene rahmende Anlage trug – angemessen offensichtlich nicht nur hinsichtlich der Dimensionen, sondern auch hinsichtlich des Dekors. Ob dazu in ihrer Architektur wirklich Aspekte verschiedenster älterer normativer oder Referenz-Bauten zusammenfließen und diese bzw. deren Ansprüche ganz unmittelbar repräsentieren (Kunst / Schenkluhn 1988), bleibt ungewiss. Neuere Befunde – aufbauend auf dendrochronologischen Datierungen originaler, bis heute am Bau erhaltener Gerüsthölzer – haben ergeben, dass mit den tatsächlichen Bauarbeiten nicht erst 1211, sondern wohl bereits um 1207 begonnen wurde (Prache 2008). Für
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□ 97 Reims, Kathedrale, Außenansicht, vor den starken Zerstörungen im Ersten Weltkrieg, Grundsteinlegung 1211
das Verständnis von Reimser Architektur und Skulptur ändern diese vier Jahre Differenz nur wenig. Gleichwohl ist der Befund ein gutes Beispiel dafür, wie kritisch und v. a. nicht auf unsere heutigen Bedürfnisse bezogen überlieferte Quellen zu lesen sind. Denn in der Tat muss das in den zeitgenössischen „Annales Remenses“ genannte Jahr 1211 nicht unbedingt den tatsächlichen Beginn von Arbeiten benennen. Vielmehr kann es ebenso gut – wie sich an zahlreichen Beispielen belegen lässt – mit der Anwesenheit einer prominenten Persönlichkeit oder bestimmten bedeutungsvollen Ereignissen zusammenhängen, wie das wohl in Reims der Fall ist: Kaum Zufall dürfte es nämlich sein, dass dort die Grundsteinlegung ausgerechnet am ersten Jahrestag der Zerstörung des Vorgängerbaus erfolgte. Der Überlieferung nach war dieses Unglück 1210 in Zusammenhang mit einem verheerenden Großbrand geschehen, bei dem nicht nur die Kathedrale, sondern auch große Teile der Stadt vernichtet oder
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aber beschädigt wurden. Man darf annehmen, dass – für die Kathedrale gesprochen – die Verantwortlichen über dieses Ereignis nicht ganz unerfreut waren, ersparte doch ein solcher unerwarteter ‚warmer Abriss‘ – also das mehr oder weniger absichtliche Niederbrennen eines Gebäudes, für das es im Übrigen in anderen Fällen durchaus quellenmäßige Belege gibt – viel Arbeit. Allerdings scheinen, wie den nachfolgenden Quellen zu entnehmen ist, immer noch große Teile der Kathedrale nutzbar gewesen zu sein, was zudem nahe legt, dass eine bloße Wiederherstellung explizit nicht gewünscht war. Eindrücklich zeigt das Beispiel damit, unter welchem enormen Druck die verschiedenen konkurrierenden französischen Bistümer und Erzbistümer damals standen, ihren Status innerhalb der Hierarchie auch in baulicher Weise angemessen zum Ausdruck zu bringen. Dass Reims als französische Krönungskirche davon in der Tat in besonderem Maße betroffen war, wird bereits an dem wohl
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einmaligen Fall ablesbar, dass – bezeichnenderweise – eine der frühesten gotischen Kathedralen Frankreichs nach kaum mehr als 70 Jahren durch einen Neubau zu ersetzen war, der in seiner neuesten Standards folgenden Monumentalität alle Konkurrenten übertrumpfte. Von dem unter Erzbischof Samson de Mauvoisin (reg. 1140 – 61) entstandenen Vorgängerbau kennen wir leider nur den Grundriss. Den Grabungsbefunden zufolge besaß er bereits viele Eigenheiten der heutigen Kathedrale, so die Doppelturmfassade mit reichem Skulpturenschmuck, das dreischiffige Langhaus und das Querhaus mit anschließendem Chor mit Umgang und Radialkapellen. Allerdings handelte es sich damals – ähnlich wie in St-Denis – noch gar nicht um einen kompletten Neubau. Vielmehr beschränkte man sich zunächst einmal auf die Erneuerung des West- und Ostabschlusses der Vorgängerkirche, während das karolingische Langhaus erhalten blieb. Möglicherweise geschah das erneut aus Traditionsgründen, sollte doch in ihm die für Reims so wichtige Taufe des zum Christentum konvertierten Frankenkönigs Chlodwig stattgefunden haben – ein konservierendes Vorgehen, das sich – wenn auch anders begründet – in ähnlicher Weise in St-Remi in Reims finden lässt. Bei dem zweiten gotischen Projekt musste man zu Anfang des 13. Jh.s Sorge tragen, dass durch die Bauarbeiten und zwischenzeitliche Unbenutzbarkeit größerer Raumteile der alten bzw. der neuen Kirche nicht das Krönungsprivileg gefährdet wurde. Dies scheint gelungen zu sein, erfolgte doch 1223 und 1226 die Krönung gleich zweier französischer Könige inmitten des erst partiell fertiggestellten Baus. Gleichwohl beachtlich ist die kurze Zeit, die man für die Vollendung der wichtigsten Partien der Kathedrale benötigte: In der Tat berichten die Quellen von einem erstaunlich frühen Einzug des Reimser Domkapitels in den neuen Chor am 7. September 1241. Die auf den ersten Blick große Homogenität des Baus täuscht ein wenig darüber hinweg,
dass an der Kathedrale – zumindest in Zusammenhang mit dem Westabschluss und den westlichsten Langhausjochen – noch bis ins spätere 13. Jh. hinein gebaut wurde, dabei immer weiterhin akkurat den Jahrzehnte zurückliegenden ersten Bauplan befolgend – ein Phänomen, das man für die mittelalterliche Architektur mit dem Begriff der ‚Werkkonformität‘ zu fassen versucht hat (Wolff 1974). Allerdings scheint auch das heutige, so einheitliche Bild erst das Ergebnis gewisser, gerade in der Anfangsphase vorgenommener Modifikationen zu sein, von denen v. a. das Strebewerk betroffen war. Die entsprechenden Zeichnungen im sog. Skizzenbuch des Villard de Honnecourt zeigen hier eine markante Differenz zu den heutigen Chorstrebepfeilern. Bleiben in diesem Zusammenhang immer noch Fragen offen, so ist in jüngerer Zeit auf erstaunlich einfache Weise eine solche hinsichtlich des Bauverlaufs und der Datierung bestimmter Partien beantwortet worden. In der Tat muss es verwundern, dass erst in den 1980er Jahren darauf hingewiesen wurde (zuerst ohne Resonanz Bunjes 1938, S. 134), dass in der genannten mittelalterlichen Quelle mit dem Begriff ‚Chor‘ sicherlich nicht der moderne architekturgeschichtlich definierte gemeint ist – d. h. der Bereich östlich des Querhauses –, sondern der liturgische Chor (Kimpel / Suckale 1985, Kur mann 1985), also jene von der Öffentlichkeit durch Chorschranken und Lettner abgegrenzten Joche, die Bischof und Domkapitel vorbehalten waren und wo deren Chorgestühl stand. Ein Blick auf alte Grundrisse (□ vgl. 96), aber auch auf den heute durch ein Gitter abgeschrankten Bereich zeigt, dass er im Fall der Reimser Kathe drale bis in das zweite Langhausjoch hineinreichte. Angesichts formaler und bautechnischer Übereinstimmungen (en-délit-Technik; Formen der standardisierten Elemente, Themenblock · Der Baubetrieb, S. 182) und angesichts einer sehr deutlichen Baufuge in diesem Bereich ist daraus zu Recht gefolgert worden, dass die Kathedrale 1241 mit Ausnahme des Westabschlusses be-
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reits vollendet war. Unklarheit besteht demgegenüber immer noch, wann man mit der Ausführung der bedeutenden Westfassade begann. Es spricht allerdings einiges dafür, dass dies nicht vor der zweiten Hälfte der 1250er Jahre der Fall war (Ravaux 1979). Fraglos verdankt das heutige Aussehen der Reimser Kathedrale (□ 98), gerade was das Innere angeht – einmal abgesehen von der ebenfalls in vielem verwandten Kathedrale von Soissons (ab ca. 1190; dort allerdings noch nicht die markanten kantonierten Pfeiler) –, viel der Architektur der knapp 20 Jahre älteren, 1211 noch mitten im Bau befindlichen Kathedrale von Chartres (ab 1194; □ vgl. 28). Doch wirkt Reims demgegenüber wesentlich regularisierter, ja standardisierter und dadurch manchmal auch etwas nüchtern. Ebenso gibt es viele weitere Eigenheiten, die nicht über Chartres zu erklären sind, die die Reimser Architektur aber erst zu derjenigen werden ließen, die – wie eingangs angeführt – nun ganz neue Rezeptionsmöglichkeiten eröffnete. Eine dieser wegweisenden Innovationen stellt die erstmals durchgängige Verwendung von Maßwerkfenstern dar (einzeln sind sie bereits zuvor an anderen Bauten zu finden). Waren die bisherigen Öffnungen gänzlich unstrukturiert oder aber mit recht schwerfälligem, grobem Plattenmaßwerk gefüllt (in Form ‚gelochter‘ Steinplatten; vgl. Chartres), so finden sich hier nun aus demgegenüber vergleichsweise filigranen Steinstegen geformte Elemente, die die Binnenstruktur eines solchen Fensters bilden, im konkreten Fall zweibahnige Fenster, die einen als Sechspass ausgebildeten Okulus tragen. Der heutige Bau (□ vgl. 96, 98) verfügt über ein dreischiffiges, basilikales Langhaus von neun Jochen Länge, wobei das westlichste als Bestandteil der Westfassade bereits einige gestalterische Besonderheiten aufweist. Im Osten schließt sich ein ebenfalls dreischiffiges Querhaus an, das in den nun fünfschiffigen Chor überleitet. Eineinhalb Vorjochen folgt im
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Mittelschiff das Chorpolygon mit 7 / 10-Schluss, dessen Rippen bereits dem anschließenden Halbjoch zugehören. Gerahmt wird das Polygon von einem Umgang mit fünf Kranzkapellen, die wiederum über 7 / 10-Schlüsse verfügen. Ein eigenes Vorjoch hebt die Achskapelle deutlich als die bedeutendste unter ihnen hervor. In der Tat fand sich hier ehemals ein der Jungfrau Maria, der Patronin der Kirche, geweihter Altar, gerahmt von jenen der zwei wichtigsten Lokalheiligen, den heiligen Bischöfen Remigius und Nicasius, deren Altäre sich in der südlich bzw. nördlich nächsten Kapelle anschlossen. In geradezu klassischer Ausformung folgt der dreiteilige Innenaufriss, dessen einzelne Zonen durch markante Gesimse getrennt werden, dem sog. A-B-A-Schema: Das heißt, die Höhe der Arkade entspricht genau der des Obergadens, wobei die beiden Zonen, die das nicht durchfensterte Triforium voneinander trennt, grundsätzlich auch die gleichen Fenstergliederungen aufweisen, wenn auch etwas unterschiedlich dimensioniert. Wer allerdings schon einmal in der Reimser Kathe drale gestanden hat, wird wissen, dass das vom menschlichen Auge nicht unbedingt so wahrgenommen wird: Hier dominieren deutlich die hoch aufragenden Arkaden, während die Obergadenfenster durch die perspektivische Verkürzung und die weit heruntergezogenen Gewölbesegel der vergleichsweise schmalen Joche deutlich zurücktreten. Auf kantonierten Pfeilern – d. h. einem von vier runden Diensten umstellten runden Pfeilerkern – ruhen mehrteilige Dienstbündel, deren Einzelbestandteile konsequent bestimmten lastenden Baugliedern zugeordnet sind. So ‚trägt‘ – zumindest optisch – der vorderste alte Dienst den Gurtbogen, der nachfolgende mittlere die Diagonalrippe des Gewölbes und der ‚junge‘, kleinste Dienst den Schildbogen. Dieser Dienst leitet über zu dem Rundstab, der erst auf Höhe der Fenster beginnend Teil der beschriebenen Gliederung derselben ist. Bemerkenswerterweise
181 □ 98 Reims, Kathedrale, Innenansicht nach esten, GrundsteinW legung 1211
werden alle diese en délit versetzten Rundstäbe durch ein kaum wahrnehmbares, schichtweise mit der dahinterliegenden Wand versetztes, stabartiges Element voneinander abgesetzt, das sich auch in vielen der Nachfolgebauten finden lässt (Trier, Toul). Gerade mit Blick auf ältere gotische Bauten ist all das von einer geradezu atemberaubend schnörkellosen Konsequenz und Stringenz, die man in dieser Weise in Chartres (□ vgl. 28) noch vergeblich sucht. Bei aller grundsätzlichen Ähnlichkeit gibt es hier doch noch erheblich mehr Variation. Anders als im Obergaden sind in Reims die Fenster in den Seitenschiffen an die Außensei-
te der Sockelmauer gerückt, so dass vor ihnen ein Laufgang geführt werden kann, der an den Strebepfeilern einen Durchgang von markanter Gestalt ausformt. Es ist dies ein Element, das bei fast allen nachfolgenden, Reims rezipierenden Bauten zu finden sein wird. Die Idee als solche ist allerdings bereits einige Jahrzehnte älter. Dazu genügt ein Blick auf die Scheitelkapelle des Chores von St-Remi in Reims (ab 1165), der im Übrigen zu Teilen auch Pate für den Grundriss des Chores der Kathedrale gestanden zu haben scheint. Das vergleichsweise schlichte, v. a. auf die Wirkung der gewaltigen Dimensionen der Ar-
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chitektur bauende Innere – die Reimser Kathedrale war mit 36 m Scheitelhöhe eine der höchsten ihrer Zeit – kontrastiert mit ihrem aufwändig dekorierten Außenbau: Hier verschwindet die Hochschiffswand nahezu vollständig hinter der dicht gesetzten Reihe Strebepfeiler (□ vgl. 97). Weit mehr sind sie als eine rein technische Notwendigkeit, Widerlager der jeweils zwei Strebebogen zu sein, die den Druck des Dachstuhls und der Gewölbe von der Hochschiffswand ableiten. Gerade im Vergleich zum schlichten, ‚aufgeräumten‘ Inneren weisen sie nun geradezu reiche, mit Blendarkaturen und verschiedenen Profilen belebte Sockel auf, über denen nicht minder aufwändig gestaltete Tabernakel aufragen: Um die gesamte Kirche herum sind in sie aberwitzig riesige Engel eingestellt, die die Kirche nun tatsächlich und besonders anschaulich zu einem monumentalen Himmlischen Jerusalem auf Erden werden lassen. Wie schon in Chartres blieb auch in Reims der restliche Skulpturenschmuck nicht auf die drei Portale der westlichen Doppelturmfassade beschränkt, sondern breitete sich über die Querhausfronten aus – und das, obwohl diese gar nicht öffentlich zugänglich waren. Interessanterweise geht die für den Innenbau beschriebene Stringenz des architekto-
nischen Entwurfes Hand in Hand mit einer nicht weniger konsequenten und effizienten Bautechnik, was bereits in hohem Maße Standardisierung und Vorfertigung von Bauteilen implizierte (vgl. Einleitung und Themenblock · Der Baubetrieb, S. 182). Am bekanntesten und bereits von Zeitgenossen wahrgenommen (vgl. das Skizzenbuch des Villard de Honnecourt) ist dieses Phänomen an den kantonierten Pfeilern, die mit einem durchdachten Normsteinsystem ausgeführt wurden. Doch auch große Teile der Querhaustürme und v. a. der Strebepfeiler sind mit standardisierten Einzelelementen ausgeführt. Dabei ist – dies ein eindrückliches Indiz für den hohen Grad der Standardisierung – oft nicht nur der Grundriss der Steine, sondern, mit Blick auf die Türme, auch noch deren Höhe festgelegt. Jede Lage ist genauestens genormt und identisch mit der nachfolgenden. Daraus resultiert natürlich eine ganz neue Art der Vorplanbarkeit, die ein derartiges, hochkomplexes Bauvorhaben in bis dahin ungeahnter Schnelligkeit durchführbar machte. Das in kaum mehr als 20 Jahren ausgeführte Langhaus der Kathedrale von Amiens – eines der größten, die jemals realisiert wurden – ist dafür ein besonders eindrucksvolles Beispiel.
Der mittelalterliche Baubetrieb und seine Organisation
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in umfassendes, detailgenaues Bild der mittelalterlichen Bauorganisation in nur wenigen Absätzen zu entwerfen, ist nahezu unmöglich: Dazu sind die Unterschiede in regionaler wie zeitlicher Hinsicht zu groß – was für eine Region zu einer bestimmten Zeit zutrifft, kann sich bereits wenig später oder an einem anderen Ort in Europa gänzlich anders darstellen. Kaum mehr in Frage steht heute allerdings, dass es in hohem Maße solche ganz
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handfesten, irdischen Aspekte waren, die maßgeblich über das Aussehen eines mittelalterlichen Baus bestimmten und nicht allein eine wie auch immer geartete theologische oder kosmologische Symbolhaftigkeit. Ebenso wenig zutreffen dürfte in diesem Zusammenhang die Interpretation gerade der gotischen Kathedralen als in der Art eines kollektiven Glaubensakts ausgeführte Großprojekte, an dem die Gläubigen aktiv, gleichsam wie an ei-
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nem Gottesdienst teilgenommen hätten. Ursprung für diese populäre Sichtweise waren insbesondere die für das 12. Jh. in Frankreich überlieferten ‚Karrendienste‘. So berichtet 1145 Abt Haimo von StPierre-sur-Dives, wie sich in Nachahmung der wohl v. a. vorbildlichen Chartreser Verhältnisse auch in der Normandie selbst Mitglieder höchster sozialer Schichten wie Zugtiere vor den Karren gespannt und beim Transport von für den Bau benötigten Gütern mitgeholfen hätten (Kimpel / Suckale 1985, S. 72 f.). Dieses Phänomen ist jedoch nur relativ kurz belegbar, wie überhaupt die Frage nach der Effizienz solcher unqualifizierter Unterstützung zu stellen ist: Sicherlich konnten derartige Kräfte für einfache Arbeiten wie Abbruch und Transport (ergänzend) gut eingesetzt werden. Anders sieht es bei in technischer Hinsicht so komplexen Gebilden wie den hochgotischen (französischen) Kathedralen aus, deren teilweise beachtliche Steingrößen – dazu noch in großer Höhe versetzt – von Haus aus kompliziertere, nicht mehr von jedermann bedienbare Hebewerkzeuge notwendig machten. Überhaupt konnten die in diesem Band vorgestellten Großprojekte, in welchem Jahrhundert auch immer entstanden, jeweils nur in engster Zusammenarbeit und unter Abstimmung sehr verschiedener spezialisierter Handwerke – vom Zimmermann und Schmied (für Werkzeuge, Eisenanker, Windeisen, Armierungsklammern am Bau etc.; Lüpnitz 2011, S. 104 f f.,158 – 173) über den Steinmetz bis zum Glasmaler – realisiert werden. Regional wie zeitlich, aber auch hinsichtlich der entsprechenden Ausführungsphase des Vorhabens waren sie dabei von recht unterschiedlicher Bedeutung. Spätestens seit dem 13. Jh. finden sich in Verbindung mit den gotischen Großprojekten all diese Handwerke unter dem Dach der sog. Bauhütte zusammengefasst: Nicht umsonst sollte jener vereinigende Charakter gotische Kathedralen geradezu zum Idealbeispiel für das Phänomen ‚Gesamtkunstwerk‘ werden lassen, das sich im frühen 20. Jh. letztlich auch das –
zweifellos nicht zufällig sehr ähnlich klingende – ‚Bauhaus‘ zum Vorbild nahm. Wie ausdifferenziert der mittelalterliche Baubetrieb in der Tat war, zeigen anschaulich manche Darstellungen des Turmbaus zu Babel, die sich ganz offensichtlich an den zeitgenössischen Zuständen orientieren (Binding 1978). Das gilt auch für eine solche aus dem süddeutschen Raum stammende des 14. Jh.s (□ 99). Anhand seines feinen, teilweise mit Pelz veredelten Gewandes und seiner kostbaren Kopfbedeckung ist dort rechts unten die in der Hierarchie am höchsten stehende Persönlichkeit zu erkennen: der Auftraggeber, König Nimrod, der einer anderen Figur, die an prominenter Stelle mit einem Winkel direkt vor dem Turmbau steht, seine Befehle oder Vorstellungen mitzuteilen scheint. Die Umsetzung der Planungen und Kontrolle der Arbeit obliegt allerdings nicht ihm, sondern der im Vordergrund sitzenden Figur – dem Polier, der auch in Themenblock · Der Abwesenheit des Architekten ( Architekt, S. 224) dessen Pläne ‚zum Sprechen bringt‘ (frz. parler; |▶ 41|). Dazu passend, hält er das Richtscheit nun auch nicht mehr nur attributhaft, sondern nutzt es praktisch zur Kontrolle der Produkte des rechts von ihm mit seiner Hacke Steine bereitenden Steinmetzen. Zur Bauaufgabe eines (Wehr-)Turms passend, scheint es sich um BossenThemenblock · Steinmaterial, quader zu handeln ( S. 238). Eine ähnliche Delegierung der ursprünglichen Aufgaben des Architekten ist in der Funktion des hier nicht dargestellten appareilleur (apparator) zu sehen, der nach den Vorstellungen des Architekten Pläne und v. a. Schablonen für die von den Steinmetzen zu fertigenden Einzelformen zu zeichnen hatte. Links des Poliers ist in der Miniatur ein Arbeiter mit der Bereitung des für den Versatz benötigten Mörtels beschäftigt, der sogleich von zwei Helfern über Leitern nach oben getragen wird. Der Transport der schwereren Steine zu ihrem Bestimmungsort erfolgt dagegen durch zwei in ihrer Technik akkurat wiedergegebene Krananlagen mit unterschiedlichen Befestigungsarten mittels Zange
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und Seil. Die Planung derartiger, überhaupt erst solche Großbauten ermöglichender Maschinen gehörte ebenfalls zum Aufgabenbereich des Architekten (vgl. Gervasius von Canterbury |▶19| und das Skizzenbuch Villard de Honnecourts; schon beim Bau des Modeneser Doms [ab 1099] werden diver sis operis machinae erwähnt). Die Miniatur ist ein gutes Spiegelbild eines sich um ca. 1200 stark wandelnden Bauprozesses: Wurde bis dahin vieles ad hoc, d. h. beim Ausstecken des Grundrisses auf dem Bauplatz mit Seilen und Pfählen und selbst noch beim Versatz der Mauern entschieden und Pläne modifiziert, so änderte sich das schlagartig mit der Einführung der mobilen Planzeichnung im Themenblock · Der Archiverkleinerten Maßstab ( tekt, S. 224). Bereits im 13. Jh. konzipierte Varianten ein und desselben Projekts (z. B. Straßburger Ris-
se, |▶ 30|) zeigen, dass man das neue Medium zugleich dazu nutzte, kostengünstig Planungsalternativen durchzuspielen. Mit vorbereitenden Skizzen und statischen Vorberechnungen moderner Art hatte all das gleichwohl noch wenig zu tun. Solches lässt sich erst im 15. Jh. nachweisen. Einen besonders wichtigen Beteiligten eines mittelalterlichen Bauprojekts zeigt die Miniatur allerdings nicht. Das hat wohl damit zu tun, dass er nicht eigentlich auf der Baustelle in Erscheinung tritt: der Verwalter der Bauhütte, der rein administrative ma gister fabricae / operis, dessen Rolle lange Zeit mit der des Architekten verwechselt wurde. Das bildete auch den Ausgangspunkt für die langlebige Legende, dass Letztere damals v. a. dem gehobenen Klerus entsprungen seien. In der Tat waren es meistens Geistliche, denen – dem Domkapitel und dem Bischof als den Bauherren rechenschaftspflichtig (vgl. Prag, Troyes, Gerona, Avignon etc.) – die Organisation und die Finanzen der Bauhütte oblagen (Binding 1999). Die rechtlich eigenständige Bauverwaltung war im Fall eines Domneubaus zumeist dem Kapitel angegliedert. Es zeichnete verantwortlich für die Baufinanzen und die Personalabteilung, also auch für die Verpflichtung der für den architektonischen Entwurf Verantwortlichen. Nur wenige von ihnen verfügten über eine eigenständige finanzielle Absicherung wie Grundbesitz. Üblicher war das Einwerben von Geldern durch (päpstlich abgesegnete) Sündenablässe, Sonderabgaben auf Kirchenämter, Nutzung der Gelder vakanter Domherrenstellen, Seelsorgeversprechen und zahlreiche andere Formen der Sammlung, deren Erfolg natürlich nicht immer garantiert war.
□ 99 Turmbau zu Babel, um 1340/50, Umzeichnung einer Miniatur aus der Weltchronik des Rudolf von Ems, Zentralbibliothek Zürich
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Nimmt man noch die Frage der MaterialbeschafThemenblock · Steinmaterial, S. 238), fung hinzu ( so wird klar, dass der Aufbau eines solchen, in vielerlei Hinsicht komplexen Apparates einige Vorbereitungszeit in Anspruch nahm. Insofern fällt eine genaue Festlegung des eigentlichen Beginns des Bauvorhabens – und damit letztlich der Datierung des Entwurfes – schwer: Ist dafür erst die Grundsteinlegung relevant oder ist er doch schon einige Jahre früher anzusetzen? Als Beispiel mögen hier die überlieferten Daten der Metzer Abteikirche St-Vincent (□ vgl. 4) dienen, für die es bereits vor dem Beginn der Arbeiten am 8. Mai 1248 zahlreiche mit dem Bau verbundene Daten gibt: nämlich 1242 solche zum Erwerb von Wäldern, womit wohl Sorge für das bald benötigte Bauholz für Gerüste, den Dachstuhl und (Hebe-)Maschinen getragen wurde, und in den Jahren 1243 – 45 solche zur Ansiedlung von Zimmerleuten und Steinmetzen in der Nähe der zukünftigen Baustelle für Vorbereitungsarbeiten (Brachmann 1998). Bevor hier wie anderswo mit der tatsächlichen Ausführung des Neubaus begonnen werden konnte, waren allerdings umfangreiche Abrissarbeiten notwendig, insofern das nicht schon irgendeine (Brand-)Katastrophe erledigt hatte. Wo der Vorgängerbau noch bestand, versuchte man ihn zumeist so lange wie möglich weiter zu nutzen. Oft wurde dieser geradezu durch den größeren Neubau ummantelt. Es gibt aber auch Beispiele, bei denen man die Grundrissdisposition des Vorgängers einfach beibehielt und sich so die aufwändigen Fundamentarbeiten ersparte. In den meisten Fällen kam es im Weiteren zu einem jochweise von Ost nach West vorrückenden Bauverlauf: von den wichtigsten zu den unwichtigeren Partien, also vom Chor zum Langhaus. Die örtliche Topographie oder andere lokale Faktoren führten jedoch immer wieder zu Ausnahmen und Sonderlösungen. Aus dem Bereich gotischer Architektur ist hier die Kathedrale von Amiens zu nennen, die man ausgerechnet im Westen begann – eine Anomalie, die dem Umstand geschuldet ist,
dass der beachtlichen Erweiterung des Baus nach Osten anfänglich eine weitere Kirche im Wege stand. Andere Fälle zeigen, dass manchmal sogar eine Langhausseite vor der anderen entstehen konnte. Ebenso scheint mitunter gar kein kompletter Neubau gewünscht gewesen zu sein, sondern lediglich die Erneuerung des liturgisch wichtigsten Teils, des Chores, in moderneren und prächtigeren Formen (vgl. Le Mans, Tournai, Schulpforta, Nürnberg und □ 8, 37, 38). Bis ins hohe Mittelalter gingen Detailplanung sowie Produktion und Versatz des Baumaterials, die allen vorbereitenden Maßnahmen nachfolgten, mehr oder weniger Hand in Hand. Zumindest in den Regionen nördlich der Alpen hatte das einen Bau stopp während der frostgefährdeten Wintermonate zur Folge. In dieser Zeit war ein richtiges Abbinden des Mörtels nicht gesichert und auch ansonsten die Witterung für Bauarbeiten kaum geeignet. Aufschlussreich hierfür ist bereits der stereotype alljährliche Vermerk in Gervasius von Canterburys Bericht zu den Arbeiten an der dortigen Kathedrale |▶ 19|: ,als die winterlichen Regenfälle einsetzten, wurde die Arbeit unterbrochen‘. Gegen Ende des 12. Jh.s kam es allerdings im Königreich Frankreich zu einer geradezu revolutionären Neuerung, die den Bauprozess nachhaltig beschleunigen sollte: die eng mit der Einführung der Planzeichnung verbundene Vorfertigung von Bauelementen Themenblock · Der Architekt, S. 224). Dazu wurden ( beheizbare Räumlichkeiten errichtet, die letztlich auch den Ursprung des Begriffs ‚Bauhütte‘ darstellen. In ihnen fanden nun die Steinmetze ideale Bedingungen für die Vorproduktion der für den Sommer benötigten Einzelelemente. Spätestens seit dem Bau der Kathedrale von Char tres (ab 1194) wissen wir von der Verwendung von Schablonen für bestimmte Bauglieder (Kimpel 1983). Die Kathedrale von Amiens mit ihrer Fertigstellung in kaum mehr als 40 Jahren ist für diese zu-
Der mittelalterliche Baubetrieb und seine Organisation
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186 St-Vincent (Ostseite) Übersicht der verwendeten standardisierten Bauteile Freipfeiler
Wandvorlagen
Chorflankentürme An den Freipfeilern und Wandvorlagen in allen Höhen (gleiches System in der Burgkapelle St. Katharina in Oberhomburg)
Blattfries und profiliertes Gesims wie an der inneren Hochschiffswand und an der Außenseite der Seitenschiffe, Lagen 26 und 27
An den Freipfeilern und Wandvorlagen in allen Höhen An den Freipfeilern in zwei verschiedenen Größen bis zum Arkadenansatz; in den darüberliegenden Schichten das System in Kombination mit anderen Profilen weitergeführt
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Glockengeschoss
An den Wandvorlagen in zwei verschiedenen Größen bis zum Blendbogenansatz; in den darüberliegenden Schichten das System in Kombination mit anderen Profilen weitergeführt Gurtbogen in allen Bereichen und Arkadenbogen Schildbogen in allen Bereichen
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Diagonalrippe in allen Bereichen Blendbogen in der Sockelzone von St‑Vincent; in leicht abgeänderter Form an den Triforienöffnungen von St. Martin verwendet
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28 17 16
Untergeschoss
Zweiteiliges Abschlussgesims: Innen über der Arkadenzone, außen an der Traufe der Seitenschiffe der Hochschiffswand und der Chorflankentürme Chorflankentürme, Normstein A: In zwei leicht variierenden Ausführungen im Untergeschoss und im Glockengeschoss
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Chorflankentürme, Normstein B: In zwei leicht variierenden Ausführungen im Untergeschoss und im Glockengeschoss
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Chorflankentürme, Normstein C: In drei leicht variierenden Ausführungen im Untergeschoss und im Glockengeschoss
□ 100 Metz, St-Vincent, Abteikirche, Versatzschema 17
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und Katalog der verwendeten standardisierten Bauelemente, Beginn der Vorarbeiten 1242/43,
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2 Im Gegensatz zu den Freipfeilern wurden die Wandvorlagen nicht immer mit der Riegellage begonnen
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III. Schlüsselwerke
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Grundsteinlegung 1248, Vollendung ca. 1254
nehmende Durchrationalisierung des Baubetriebs ein besonders eindrückliches Beispiel. Einen Schlusspunkt derartiger Maßnahmen stellt die Kirche der Metzer Benediktinerabtei St-Vincent dar (□ 100, □ vgl. 4), die mit kaum mehr als einer Handvoll von Normprofilen und nun jeweils genau gleich hohen Normsteinen (jew. 42 cm; solches bereits an den Reimser Querhaustürmen, ebenso z. B. an den Außenmauern des Kreuzgangs der Kathedrale von Burgos, 2. Hälfte 13. Jh.) in gerade einmal sechs Jahren ausgeführt wurde. In vollendeter Form kam bei ihr die sog. Stapelbauweise zur Anwendung: Nur noch das Skelettsystem der tragenden Wanddienste wurde in Werkstein gearbeitet, die statisch kaum belastete Mauer dazwischen dagegen mit Bruchstein ausgefacht.
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Burg und Donjon von Coucy Idealtypische französische Wehrarchitektur
B
ei allen grundsätzlichen Ähnlichkeiten in Anlage und Konzeption konnte Burgenarchitektur einer Epoche in den verschiedenen europäischen Regionen durchaus sehr unterschiedlich ausfallen. Das zeigt bereits ein kurzer vergleichender Blick auf Marburg (|▶ 28|, □ vgl. 111) und eine der gewaltigsten Burganlagen, die im Mittelalter in Europa überhaupt entstanden sind: jene im nordfranzösischen Coucy (□ 101). Deutlich anderen Leitbildern und offensichtlich viel stärker als Marburg einer übergeordneten, strikten Planung folgend, wurde hier zwischen 1225 und 1242 mit einer hochmodernen Burg eine ältere Anlage ersetzt (alle Angaben nach: Mesqui 1988, S. 134 – 159; Mesqui 1990, Corvisier 2009). Trotz ihrer starken Zerstörung durch deutsche Truppen im Ersten Weltkrieg ist sie bis heute ein bemerkenswertes Beispiel für den hohen Standard, der damals im Königreich Frankreich nicht nur in der Kirchen-, sondern auch in der Festungsarchitektur existierte. Eine ganze Reihe von ähnlich beeindruckenden wehrtechnischen Anlagen haben sich aus dieser Zeit erhalten, so etwa die vom französischen König um 1230 zur gewaltigen Grenzfestung ausgebaute Burg in Angers. Coucy in vielerlei Aspekten am ähnlichsten ist allerdings eine nicht minder monumentale Burg im heutigen Syrien, der in zwei Ausbauphasen im späten 12. und frühen 13. Jh. errichtete Crac des Chevaliers. In eindrucksvoller Weise belegt er den Export von gestalterischen und architektonischen Ideen selbst in weit entfernte, mitunter sogar außereuropäische Regionen. In diesem Fall begründet durch die Kreuzfahrer oder genauer gesagt den Johanniterorden, der sie im Nahen Osten in strategisch wichtiger Lage erbauen ließ.
Ähnlich wie Marburg hat auch das ambitionierte Projekt von Coucy einen konkreten historischen bzw. politischen Hintergrund. Eng verbunden ist es mit der Person Enguerrands III. (ca. 1180 – 1243), Sire de Coucy, und dessen hochgesteckten Ambitionen. Angesichts der Größe des Vorhabens mag es verwundern, dass wir es hier noch nicht einmal mit einem Herzog oder Grafen zu tun haben. Immerhin entstammte Enguerrand aber einem mit dem französischen Königshaus direkt verwandten Geschlecht, ebenso wie er ein enger Vertrauter König Ludwigs VIII. war. Nach dem frühzeitigen Tod seines Gönners 1226 entwickelte sich Enguerrands königsnahe Haltung allerdings in das genaue Gegenteil. Gerade der ambitionierte planmäßige fortifikatorische Ausbau seiner Herrschaft, welcher in Coucy zweifellos einen Höhepunkt fand, erscheint hier geradezu wie ein Konkurrenzprojekt zu den entsprechenden Vorhaben des französischen Königs. Als die wichtigsten, etwas älteren, bereits unter König Philippe Auguste (geb. 1165, reg. 1180 – 1223) ausgeführten sind hier der Neubau der Pariser Stadtmauer sowie jener des Louvre (ca. 1190 – 1200) zu nennen. Wie die im gleichnamigen Museum bis heute zugänglichen archäologischen Überreste zeigen, handelte es sich um eine mit zahlreichen Rundtürmen bewehrte Burg auf quadratischem Grundriss, in deren Mitte ein gewaltiger Donjon stand. Sie darf als die eigentliche Inspirationsquelle für die Anlage in Coucy angesehen werden. Auch wenn die Burg in Coucy kaum weniger als Aufenthaltsort des Bauherrn diente als in Marburg, kommt in diesem Fall der Aspekt der Wehrarchitektur stärker zum Ausdruck. Erhält Marburg seine Wehrhaftigkeit in großen Teilen
Burg und Donjon von Coucy
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□ 101 Coucy, Grundriss der gesamten Burg- und Stadtanlage, 1225 – 42: A) Befestigte Stadtanlage; 1 nachmittelalter liches Bollwerk; 2 Porte de Laon; 3 Tour Truande; 4 Tour Mangard; 5 Porte de Chauny; 6 Porte de Soissons; 7 Tour du Parc l’Hermitte; 8 Kirche St-Sauveur; 9 Rathaus; B) Vorburg; 10 Porte Maître Odon; 11 – 13 Türme der Burganlage; 14 Kirche der Burganlage; 15 Küchen; 16 großer Graben; C) Burg; 17 Burgtor; 18 Donjon; 19 Graben des Donjon; 20 – 21 Türme der Burg; 22 Ausfalltor; 23 – 24 Türme der Burg; 25 sog. ‚Salle des Preux‘; 26 Große Vorhalle unter der Burgkapelle; 27 Corps de logis, sog. ‚Salle de Preuses‘; 28 Grandes galeries; 29 Küchen
bereits durch die exponierte Lage auf einem Felsrücken, so sind dafür im Fall des in erheblich flacherem Terrain gelegenen Coucy die mächtigen Mauern und wuchtigen Rundtürme verantwortlich. Deren trutziger Eindruck wird noch verstärkt durch die leicht geböschte – also schräge – Sockelzone, die den Türmen einen etwas breiteren, trutzigen Unterbau verleiht. In ganz praktischer Hinsicht sollten damit eine allzu leichte Unterminierung verhindert und Geschosse besser abgewiesen werden. Zugleich ist die Anlage in Coucy erheblich weitläufiger. Sie umfasst nicht nur eine in identischer Weise umwallte Stadt, sondern – zwischen dieser und der eigentlichen, unerheblich höher gelegenen Burg – auch eine Vorburg, die sog. basse cour, eine stärker umwehrte Freifläche, die im
III. Schlüsselwerke
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Verteidigungsfall zur Aufnahme der Bevölke rung aus dem Umland gedacht war. Breite Gräben trennen die Vorburg seitlich von den beiden genannten, benachbarten Bereichen ab. Zur Hauptburg hin stellt dabei der riesige, von einem Wall und einem Graben noch einmal extra geschützte Donjon (□ 102), der mit seinem Grundriss jeweils zur Hälfte in beiden von ihnen liegt, das vermittelnde Element dar. Hinsichtlich seiner Dimensionierung und Ausstattung bildet er den Kern der gesamten Anlage, die – der Topographie folgend – ein unregelmäßiges Trapez beschreibt. Auf den ersten Blick dem Bergfried einer Burg im deutschsprachigen Raum ähnlich, unterscheidet sich der Donjon von diesem durch die Eigenheit, nicht nur im Verteidigungsfall, sondern dauerhaft
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Wohnzwecken zu dienen. Entsprechend größer fällt auch die Dimensionierung, entsprechend feiner die Ausführung dieses Teils der Burg aus: Durchaus vergleichbar anderen französischen Donjons der Zeit (vgl. Gisors, Dourdan), besitzt er bei einem Durchmesser von 31 m und einer Höhe von 55 m drei Geschosse, die über eine Wendeltreppe miteinander kommunizieren. Bis zur Zerstörung 1917 verfügten alle drei jeweils über ein fein ausgearbeitetes, zwölfteiliges Rippengewölbe, das zugleich den Fußboden des nachfolgenden Geschosses ausbildete. Zwar gab es solche auch schon in den vier Ecktürmen (Durchmesser 18 – 20 m), allerdings in wesentlich einfacheren Formen. Die Komplexität und Dimensionierung sowie zusätzlichen Dekorformen im Donjon machten dagegen deutlich, dass es dort um eine höherrangige Bauaufgabe ging: nicht mehr um reine Wehrarchitektur, sondern um gestalteten und v. a. beheizbaren Wohnraum. Im Inneren weist der außen ausnehmend schlichte Donjon eine bemerkenswerte Differenzierung und Hierarchisierung der einzelnen Geschosse auf. Besitzt das erste noch in zwei Ebenen ausgeführte kleinere Blendarkaturen, so finden sich im zweiten Geschoss, in dem ein großer Kamin nachgewiesen werden kann, bereits wesentlich elegantere, hochaufragende. Im letzten, dem zweifellos prächtigsten, wird die bis dahin meterdicke Wand des Turmes fast vollständig aufgebrochen von einer demgegenüber nahezu transparent wirkenden, frei gearbeiteten Bogenarchitektur, bei der nun jede Nische im rückwärtigen Bereich durch einen Gang mit der benachbarten verbunden ist. Angesichts der geringen Anzahl von Fensteröffnungen dürfte die Wohnlichkeit nach heutigen Maßstäben nicht allzu groß gewesen sein. Dass hier Wohn- und Wehrzwecke in einer Architektur Vereinigung fanden, zeigt schließlich das abschließende Freigeschoss, das in der Art eines
Wehrganges rundum mit Schießscharten ausgestattet war, sowie die besondere Sicherung am unteren Ende des Donjons, wo er durch einen eigenen Wall und Graben geschützt war. Sind all dies bereits deutliche Unterschiede zum Fallbeispiel Marburg und anderen Burganlagen außerhalb des Königreichs Frankreich, so gibt es mit französischer Wehrarchitektur noch eine markante weitere Abweichung. Analog zu den damaligen Kirchenprojekten im Königreich ist nämlich auch in der Burgenarchitektur eine erhebliche Steigerung der Baueffizienz feststellbar, die so gewaltige Anlagen wie Coucy überhaupt erst relativ kostengünstig und in erstaunlich kurzer Zeit ausführbar machte. Blickt man z. B. auf die Außenmauern des Marburger Schlosses, so sind sie größtenteils aus recht unregelmäßigem und kleinteiligem Bruchstein ausgeführt. Demgegenüber ist bei englischen Burgen – wie etwa dem auf französischem Bo-
□ 102 Coucy, Donjon, 1225 – 42, Querschnitt und vier Horizontalschnitte nach einer Planvorlage von 1879
Burg und Donjon von Coucy
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den für den englischen König Richard Löwenherz seit 1196 ausgeführten Château-Gaillard – zumeist sauber bearbeiteter, aber weiterhin sehr kleinformatiger Haustein anzutreffen. Vor diesem Hintergrund ist die damalige technische Überlegenheit und Innovationskraft französischer Sakral- wie Wehrarchitektur geradezu mit Händen zu greifen (Themenblock · Der Baubetrieb, S. 182). Unter König Philippe Auguste und nachfolgenden Zeiten profitierte man offenbar auch hier wie in der Kirchenbaukunst von den allgemeinen technischen Innovationen. Verbunden ist es mit dem Einsatz ganz neuer und auch sehr großer Maschinen. Sicher nicht zufällig finden sie im 12. Jh. bewundernde Erwähnung in Gervasius von Canterburys Beschreibung des Neubaus der Kathedrale von Canterbury |▶ 19|, der unter der Leitung des Franzosen Wilhelm von Sens erfolgte. Zwar werden die im Text erwähnten Krananlagen, die für den Engländer offensichtlich etwas ganz Neues darstellten, in Canterbury ausschließlich zum Be- und Entladen von Schiffen genutzt. Derartige Hebemaschinen scheinen aber sehr bald auch für die Ausführung französischer Steinarchitektur wichtig geworden zu sein. So
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lässt sich bereits um 1180 bei den oberen Partien der Kathedralen in Laon und Paris feststellen, dass die Steinformate dort erheblich größer ausfallen als zuvor. Beim traditionellen Einsatz kleinformatigerer Steine benötigte man derartige Maschinen natürlich noch nicht; hier war der unmittelbare Einsatz menschlicher Muskelkraft gefragt. Das hatte Konsequenzen für die Kosten, mussten doch bei dieser Bauweise weit mehr Arbeitskräfte eingesetzt und bezahlt werden. Deutlich schlägt sich das auch in den sehr unterschiedlichen, bei französischen bzw. englischen Projekten aufgewendeten Summen nieder: So kosteten 2,5 km der neuen Pariser Stadtmauer – einschließlich zahlreicher Tore und Türme – Ende des 12. Jh.s nicht mehr als 8775, das zeitgleiche Château-Gaillard des englischen Königs dagegen geradezu unermessliche 220 000 turonische Pfund. Bemerkenswert ist, dass man in Frankreich diese gegenüber dem Konkurrenten deutlich größere Effizienz nun nicht nur einfach zur simplen Kostenersparnis nutzte, sondern die gewonnenen Mittel sogleich für eine quantitative Überbietung des Rivalen einsetzte (Kimpel / Suckale 1985, S. 221).
Die Ste-Chapelle in Paris Maßstabsetzender Kapellenbau der Gotik
„D
ie ausgesuchten Farben der Malereien, die kostbare Vergoldung der Bildwerke, die zierliche Durchsichtigkeit der rötlich schimmernden Fenster, die überaus schönen Altarverkleidungen, die wundertätigen Kräfte der heiligen Reliquien, die Zier der Schreine, die durch ihre Edelsteine funkeln, verleihen diesem Haus des Gebetes eine solche Übersteigerung des Schmuckes, dass man beim Betreten glaubt, zum Himmel emporgerissen zu sein
III. Schlüsselwerke
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und in einen der schönsten Räume des Paradieses einzutreten.“ (Kimpel / Suckale 1985, S. 404.) Nicht eben häufig finden sich solch detaillierte mittelalterliche Beschreibungen eines Gebäudes wie für die am 26. April 1248 der Jungfrau Maria geweihte Pariser Ste-Chapelle (□ 103, 104). Der Theologe Jean de Jandun hat sie 1323, also bereits einige Zeit nach ihrer Errichtung, im Zusammenhang eines Vergleichs der beiden Städte Senlis und Paris verfasst. Sie
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□ 103 Paris, Ste-Chapelle, Innenansicht der oberen Kapelle, 1241 – 45, Weihe 1248
gewährt einen bemerkenswerten Einblick in die zeitgenössische Wahrnehmung des Baus. Zunächst muss auffallen, dass im Fokus nicht die Architektur steht, sondern die Ausstattung sowie – und das ist das eigentlich Erstaunliche – deren ästhetische bzw. emotionale Wirkung. Jandun war nicht der erste und einzige Bewunderer dieses imposanten Baus: Noch etwas topisch, auf Ovid anspielend schreibt Papst Innozenz IV. 1244 in einer Bulle, dass hier ,die
Kunstfertigkeit das Material übertreffe‘ (opere superante materiam), während Heinrich III. (1207 – 72), König von England, sogar explizit gewünscht haben soll, die Pariser Kapelle auf einen Wagen zu stellen und nach London zu bringen (Klein 1998, S. 95). Dass dies mehr als nur eine Legende ist, sondern die Architektur der Ste-Chapelle in der Tat ganz unmittelbar auf den Britischen Inseln wahrgenommen wurde, zeigt ein zentraler Bau des englischen
Die Ste-Chapelle in Paris
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Königtums, Westminster Abbey (ab 1245), die königliche Grablege: Deutlich übernehmen die eigentümlichen Fenster ihres Chortriforiums Formen der Pariser Kapelle. Beleg für den erstaunlichen Erfolg der Ste-Chapelle sind zudem eine Reihe kompletter, mehr oder weniger authentischer ‚Kopien‘ ihrer Anlage. Bis hinein in das 15. Jh. entstanden sie v. a. im unmittelbaren Umfeld des französischen Königs. Die sogar gleich benannte Ste-Chapelle im königlichen Schloss Vincennes (ab 1380; |▶ 37) bei Paris oder die entsprechende, Ende des 14. Jh.s errichtete (inzwischen zerstörte) Anlage für den Herzog von Berry in Bourges sind dafür die bedeutendsten Beispiele. Dass ihre Wirkkraft nicht auf das französische Königreich beschränkt war, beweist die in der zweiten Hälfte des 14. Jh.s vorgenommene, monumentale Chorerweiterung der Aachener Pfalzkapelle (□ vgl. 36), die Krönungskirche des Heiligen Römischen Reiches. Als verkleinerte und reduzierte Variante der Ste-Chapelle gibt der Chor der in die Metzer Kathedrale integrierten Stiftskirche Notre-Dame-la-Ronde (um 1250) schließlich einen deutlichen Hinweis darauf, dass das Zitat besagten Baus nicht immer inhaltsgebunden sein musste, sondern auch schlicht der Wertschätzung seiner spektakulären Architektur geschuldet sein konnte. In recht modern anmutender Weise wurde hier also Architektur allein wegen ihrer gestalterischen Qualitäten übernommen (Brachmann 1998, S. 44 f.). Die ausnehmend vielfältige und zudem lang andauernde Rezeption hat allerdings nur partiell mit der maßstabsetzenden Architektur der Ste-Chapelle zu tun. Zu einem Gutteil ist sie wohl in dem Umstand begründet, dass in derartig filigraner und kostbarer architektonischer Hülle ursprünglich – und bis zu seiner Zerstörung in der Französischen Revolution – ein nicht minder kostbarer Kirchenschatz geborgen wurde (Kat. Ste-Chapelle 2001, Leniaud / Perrot 2007). Denn selbst, wenn die Ste-Chapelle inmitten des alten Königspalasts auf der von
III. Schlüsselwerke
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der Seine umflossenen Île de la Cité liegt, war ihre eigentliche Aufgabe nicht die einer Hofkapelle des französischen Königs, existierte eine solche doch bereits zuvor. Ausgangspunkt für ihren Bau ist vielmehr der Erwerb zahlreicher Reliquien durch Ludwig IX., den Heiligen (geb. 1214, reg. 1226 – 70), unter dessen lang andauernder Regentschaft Frankreich endgültig zur wichtigsten politischen und ökonomischen Macht auf dem europäischen Kontinent avancierte. Bestehend aus zumeist aus Byzanz und dem Mittleren Osten kommenden Objekten, gehörte zu diesem zwischen 1235 und 1247 zusammengeführten Schatz (□ vgl. 106) eine der wichtigsten Reliquien der Christenheit überhaupt, die Dornenkrone Christi; bekanntermaßen eine der wenigen Reliquien, mit denen durch das anhaftende Blut der Leib Christi nach seiner Himmelfahrt physisch auf Erden erhalten geblieben war. 1239 hatte sie Ludwig IX. von dem in finanzielle Nöte geratenen Kaiser von Konstantinopel, Balduin II. von Courtenay, seinem Cousin, erworben – eine Trophäe, der sich bereits 1241 ein beachtlich großes Stück des Kreuzes Christi hinzugesellen sollte. Dies stellte für den königlichen Auftraggeber ohne Frage den eigentlichen Kern des Projekts dar. Die Ausgaben lassen daran keinen Zweifel: Betrugen die Kosten der Kapelle 40 000 Pfund, so diejenigen für die wichtigste in ihr verehrte Reliquie, die Dornenkrone, und den für sie angefertigten Schrein fast das Sechsfache, hatte der König doch für diesen 100 000 Pfund und für die Dornenkrone 135 000 Pfund aufzubringen (Kimpel / Suckale 1985, S. 401). Dabei ist zu berücksichtigen, dass sie zudem nur eine von zahlreichen weiteren, insbesondere Passions-Reliquien war. Im direkten Vergleich mit anderen Bauvorhaben dieser Art und Zeit stellte die Ste-Chapelle dennoch ein recht kostspieliges Unterfangen dar. Denn bei dem Bemühen, einen der bedeutendsten Reliquienschätze – wenn nicht gar den bedeutendsten – der Christenheit
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angemessen zu präsentieren und damit die entsprechenden europäischen Konkurrenten, wie etwa den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches zu übertrumpfen, wählte man eine Lösung, die weit über das hinausgeht, was man üblicherweise unter den Terminus ‚Kapelle‘ fassen würde. Trifft er vielleicht noch für seine Grundfläche zu (ca. 35 m × 12 m), so ist die Höhe des zweigeschossigen Baus (□ vgl. 104) mit seinen gut 27 m Gesamthöhe (ohne das moderne Dach) dafür eher ungewöhnlich. In der doppelgeschossigen und einschiffigen Anlage folgt die Ste-Chapelle sicherlich grundsätzlich der Anlage französischer Bischofskapellen, wie diejenige in Reims (um 1220). Das ihnen allen übergeordnete Vorbild ist jedoch der Typus der doppelgeschossigen Palastkapelle mit zwei unterschiedlich genutzten bzw. unterschiedlichen Gruppen zugänglichen Ebenen, wie er im Abendland in prominenter Weise und sehr früh durch die Aachener Pfalzkapelle |▶ 1, 21| eingeführt worden war. Wie sehr die Ste-Chapelle nun in ihrer Zeit Maßstäbe sprengte, mag bereits ein kurzer Blick auf die nur wenig ältere, ebenfalls hochoriginelle königliche Schlosskapelle von St-Germain-enLaye zeigen: ein Bau von deutlich bescheidenerer oder besser ‚normalerer‘ Dimensionierung, dessen Entwurf aus der zweiten Hälfte der 1230er Jahre dem Umfeld des Architekten der hochgotischen Erneuerung von St-Denis (ab 1231; □ vgl. 82) entstammte. Im Vergleich zu ihr wirkt die Ste-Chapelle mit der niedrigen Unterkapelle (6,60 m) und der darüber aufragenden, knapp dreimal so hohen Oberkapelle (ca. 20,5 m) in der Tat geradezu wie ein aus Triforium und Obergaden gebildeter Ausschnitt zeitgenössischer Kathedralarchitektur. Dazu trägt natürlich auch die kaum mehr zu steigernde Durchfensterung des Gebäudes bei: Macht die Unterkapelle gerade am Außenbau noch den Eindruck eines massiven Sockels, der nur im oberen Drittel von eigentümlichen sphärischen Dreiecken mit eingelegten Sechspässen durchbrochen wird (vgl.
□ 104 Paris, Ste-Chapelle, Schnitt durch die gesamte Anlage, 1241 – 45
Westminster Abbey), so ist in der Oberkapelle (□ vgl. 103) die Ausdünnung in der Tat kaum mehr zu steigern. Hier scheinen die Wände nun gänzlich in farbig funkelnde Glasbahnen aufgelöst, lediglich alle vier Meter – die Jochbreite – in recht dezenter Weise von filigranen Dienstbündeln, die von Rundstäben von gerade einmal 25 cm Durchmesser gebildet werden, unterbrochen. Gleichwohl sollte man die – auch symbolische – Bedeutung dieser tragenden Elemente in der Gesamtkonzeption nicht unterschätzen: Sicherlich nicht zufällig sind sie jeweils mit Darstellungen der zwölf Apostel ausgezeichnet, darin sehr verwandt älteren Bauten wie der gut 100 Jahre zuvor entstandenen Kapelle des normannischen Königspalastes in Palermo |▶ 15|. Zweifellos verweisen die zwölf Apostel an die-
Die Ste-Chapelle in Paris
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ser Stelle in der Symbolik des mittelalterlichen Kirchenbaus allgemein auf das Himmlische Jerusalem |▶ 23|. Dass diese in der Apokalypse beschriebene, endzeitliche Stadt aus Gold und Edelsteinen in der Ste-Chapelle stärker gemeint war als sonst, zeigen die für die Innendekoration der Kapelle verwendeten Materialien: nicht nur die reiche Vergoldung, sondern auch die mit Glasflüssen und Email arbeitenden Verzierungen und Darstellungen in den Sockelzonen der beiden Geschosse. Ursprünglich war die Ste-Chapelle in beiden Geschossen über eine im Westen vorgelagerte, heute stark erneuerte bzw. rekonstruierte Vorhalle zugänglich. Ihr Unterbau ist – wohl bedingt durch die bei dieser Höhe nicht mit einem einzigen Gewölbe zu überspannende Breite – dreischiffig, wobei von den Säulen zarte, aus verschiedenen Maßwerkformen gebildete Strebebogen zu den Wänden vermitteln. Die Oberkapelle ist dagegen ein einschiffiger, erneut vierjochiger Raum, der im Westen von einer großen Maßwerkrose (heute eine Erneuerung des 15. Jh.s) abgeschlossen wird, im Osten von einem reichen 7 / 12-Polygon. Hier steht die (rekonstruierte) Tribüne zur Präsentation der Reliquien. An den Seiten finden sich vierteilige Fenster (Couronnement mit zwei Vierpässen, die einen Sechspass tragen), die auf einer Sockelzone ruhen, die mit ihren Blendarkaden (jeweils zwei offene Dreipässe, die einen Vierpass tragen) tatsächlich eine triforiumsähnliche Gliederung besitzen. Als eine etwas markantere Form weisen die Polygonfenster demgegenüber im Couronnement gestapelte Dreipässe auf, wie sie kurz zuvor, in den 1230er Jahren, erstmals an der Chorscheitelkapelle der Kathedrale von Amiens in Erscheinung treten. Im Zusammenspiel mit weiteren gestalterischen und bautechnischen Eigenheiten hat man daraus abzuleiten versucht, dieses Werk dem dafür in Amiens verantwortlichen Architekten, Robert de Lu zarches, zuzuschreiben (Kimpel / Suckale 1985, S. 402). Andere Argumentationen favorisieren
III. Schlüsselwerke
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eine Verbindung mit Pierre de Montreuil, dem Architekten des Südquerhauses von Paris Notre- Dame. Weder das eine noch das andere lässt sich allerdings durch Quellen weiter erhärten. Dass der Entwerfer des Baus einer der führenden Architekten seiner Zeit gewesen sein muss, steht dabei außer Frage. Eine bis heute beeindruckende, entmaterialisierte Glasarchitektur, eine wahre cage de verre, wie der französische Ausdruck für dieses Mitte des 13. Jh.s auftretende Phänomen lautet, war hier nach seinen Plänen entstanden. So transparent, so übernatürlich wie der Bau auch wirken mag, so basiert dies zu einem Gutteil auf dem klugen und genau kalkulierten Einsatz eines überaus irdischen Baustoffs, der im 13. Jh. mit den komplexer, zugleich immer höher und transparenter werdenden Großbauten zunehmend an Bedeutung gewann: des geschmiedeten Eisens. In der Tat stellten Kosten für Eisen und Schmiedearbeiten in dieser Zeit allmählich die größten eines derartigen Projekts überhaupt dar – nicht mehr die für Glas und schon gar nicht für Stein (u. a. Chapelot 1985). In gotischer Baukunst hatte Eisen von Anfang an Verwendung gefunden, so etwa in Form von Klammern, um zwei Bauglieder oder Steine besser miteinander verzahnen zu können (vgl. z. B. die en-délit-Bautechnik) oder aber – ab dem Zeitpunkt, als die Fensteröffnungen immer größer wurden – als entsprechende Aufhängung für die Glasfenster. Weit darüber hinausgehend, weist nun die Ste-Chapelle in mehreren Ebenen horizontal umlaufende Ringanker, also miteinander verbundene Eisenstangen, auf: im Mauerwerk der Fenstersohlbänke, auf halber Höhe der Fenster, auf Kapitellhöhe, auf Höhe der Gewölbescheitel – und zu dem Zuganker über den Gurtbogen (Kimpel / Suckale 1985, S. 401; |▶ 30). Diese bilden überhaupt erst die statisch notwendige Verstrebung und Verbindung zwischen den Wandvorlagen, ohne die die gesamte Kon struktion unweigerlich zusammenbrechen würde. Solche sind z. B. auch bei noch filigra-
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neren und monumentaleren Lösungen wie der Chorobergaden des Kölner Doms (vor ca. 1285; □ vgl. 108) und der deutlich in der Nachfolge der Ste-Chapelle stehenden neuen Chorlösung an der Aachener Pfalzkapelle (ab 1355; □ vgl. 36) zu finden. Dass die wohl um 1241 begonnene Kirche bereits 1245 im Rohbau fertiggestellt war, dann aber erst 1248 geweiht wurde, hat zweifellos damit zu tun, dass man die drei Jahre für die reiche Ausstattung benötigte, insbesondere für die Glasfenster. Es mag zutreffen, dass damals bereits die Hochzeit umfassender, in Glas ausgeführter Bildprogramme vorüber war – und es einen Trend hin zu einer transparenteren helleren Verglasung mit einigen wenigen Farb akzenten gab. Gleichwohl lässt sich das normalerweise in dieser Dimensionierung nur in Obergadenfenstern zu findende Programm dank der größeren Nähe weit besser als sonst
studieren. Dies ist in der Tat lohnend, erweist sich doch das relativ authentisch erhaltene Programm als eng auf den wichtigsten Aspekt der Kapelle – die Aufbewahrung und Präsentation des Reliquienschatzes, insbesondere der Dornenkrone Christi – abgestimmt. Bestens bedient es die drei relevanten, im Bau vereinigten Aspekte – nämlich zugleich überdimensionaler Reliquienschrein, Pilgerstätte, aber auch eine der königlichen Hofkapellen zu sein: So finden sich in der nördlichen, dem Alten Testament gewidmeten Fensterwand zahlreiche Krönungsszenen, während auf der südlichen Seite die Überführung der Dornenkrone gezeigt ist, ebenso die Zeremonie, in der der französische König dem Volk die Dornenkrone weist. An zentraler Stelle trifft man schließlich auf die Passion Christi – mit einer der frühesten monumentalen Darstellungen der Dornenkrönung überhaupt (Leniaud / Perrot 2007).
Liturgie und Kirchenausstattung
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er mittelalterliche Kirchenraum, wie er sich dem Besucher des 21. Jh.s präsentiert, vermittelt nur mehr einen schwachen Abglanz von dem, was dereinst seine medien- und funktionsübergreifende Ausstattung im Mittelalter bereithielt. Das beginnt bereits mit der heute zumeist fehlenden, ursprünglich die Architektur weit stärker differenzierenden farbigen Fassung (□ 105). Ein gut erhaltenes Beispiel ist St-Barnard in Romans-sur-Isère vom Anfang des 14. Jh.s, bei dem Formen wie Materialqualitäten in augentrügerischer Weise imitiert und um ein umfangreiches Bildprogramm ergänzt werden (□ 106). Noch schmerzlicher ist in vielen Fällen allerdings der Verlust der originalen mobilen Ausstattung. Bei graduellen Unterschieden sind davon prinzipiell alle Kunstregionen Europas betroffen. In Mitteleuropa waren es oft die Auswirkungen der Reformation,
die an vielen Orten zur partiellen oder vollständigen Ausräumung der Bildwerke führten. Allerdings geschah das nicht ganz so flächendeckend und einheitlich, wie man meinen könnte, haben sich doch gerade in einigen protestantisch genutzten Kirchen originale Ensembles in besonders reiner Form erhalten (vgl. Naumburg, Halberstadt). Die massiven Veränderungen der Ausstattung in katholischen Gebieten sind demgegenüber nicht zuletzt auf die Beschlüsse des Tridentiner Konzils im 16. Jh. zurückführbar, die u. a. den Grund für die Beseitigung der Lettner darstellten. Von Bedeutung waren aber auch neuen Moden folgende Modernisierungsschübe, die man dann gerade im 19. und 20. Jh. durch purifizierenden Rückbau wieder zu eliminieren suchte. In Frankreich leistete schließlich die Französische Revolution in vielen Regionen das Ihre.
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Spektakel, das dezidierten inhaltlich-thematischen Schwerpunkten unterlag, dabei jeweils immer dem Festkalender des liturgischen Jahres folgend (Suckale 1999, Kosch 1998). So dienen der damit verbundenen differenzierten Prachtentfaltung nicht allein die allgegenwärtigen Bilder – egal, ob als bemalte Retabel, Glasmalereien, als Skulptur oder in textiler Form als Tapisserien oder mit Bildstickereien versehene Messgewänder –, sondern gleichermaßen Sprache und Musik, Glockenklang, olfaktorische Reize (insbes. Weihrauch) und Bewegung im Raum.
□ 105 Romans-sur-Isère, St-Barnard, originale Farbfassung und Wandmalereien des 14. Jh.s., u. a. mit der Ausgestaltung des Chores als ‚Himmlischem Jerusalem‘
Trotz des heute zumeist recht kahlen, auf die Architektur fokussierten Eindrucks vermögen zumindest einige Bauten immer noch eine gewisse Vorstellung vom weit vielgestaltigeren mittelalterlichen Erscheinungsbild zu vermitteln. Die Nürnberger Pfarrkirchen St. Lorenz und St. Sebald (Weiland 2006) sowie der Halberstädter oder der Regensburger Dom sind hier als besonders gut erhaltene Beispiele zu nennen, ebenso die Marburger Elisabethkirche oder die Zisterzienserkirche in Doberan. Noch heute wird an ihnen nachvollziehbar, wie die bereits mit der Architektur angelegte Unterscheidung und Hierarchisierung der verschiedenen Bereiche eines Sakralbaus und seiner Funktionen auch in einer alle künstlerische Gattungen umfassenden Ausstattung zum Ausdruck kamen. Zugespitzt formuliert, erschlossen sich der mittelalterliche Kirchenraum und die in ihm erinnerten Geschehnisse und Heilsbotschaften in einem multimedialen
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Die nach Osten ausgerichtete räumliche Struktur mittelalterlicher Kirchenräume mit dem dort gelegenen Hauptaltar findet ihre christliche Begründung in der Vorstellung, nach der Christus mit der Sonne aufsteigend zum Jüngsten Gericht erscheinen wird. Entsprechend wenden sich der Zelebrant am Altar und die Gläubigen zum Gebet und zur Feier der Eucharistie als dem Kern mittelalterlichen Messgeschehens nach Osten. Ebenso sind Grabstellen im Kirchenraum (ein für Nicht-Geistliche anfänglich sehr restriktiv gehandhabtes, zumeist nur Stiftern vorbehaltenes Privileg) idealerweise so platziert, dass die Verstorbenen im Moment ihrer Auferstehung den Heiland schauen können. Diese zwei Kernfunktionen einer mittelalterlichen Kirche, als Ort der Eucharistie und – in eingeschränkterem Maße – als bevorzugte Begräbnisstätte finden ihre Verknüpfung in den in jedem Altar geborgenen Reliquien der Heiligen. Weit darüber hinausgehend besaßen die hier besprochenen Kirchen je nach Anspruch mehr oder weniger reiche und bedeutende Reliquienschätze, die zu bestimmten Zeiten auch ausgestellt wurden. In manchen Fällen, wie bei der Ste-Chapelle, waren sie sogar der eigentliche Anlass für die Entstehung eines Gebäudes |▶25|. Ebenso wissen wir, dass mitunter die Reliquiensammlung – geborgen in einem gänzlich unspektakulären, aber gut gesicherten Schrank – anstelle eines Retabels auf dem
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Hochaltar Aufstellung fand, wie das für den Halberstädter Dom belegt ist. In der Eucharistie und allen anderen Messfeiern an den im Kirchenraum auftretenden Altären verbinden sich stets die Memoria – das Gedenken – an den Kreuzestod Christi und die Hoffnung auf Auferstehung und ewiges Leben (Röm. 6,4). Im Sinne der Jenseitsvorsorge kam es, zumal im Spätmittelalter, zu zahlreichen Neustiftungen von Altären und Messfeiern, die entsprechend mit liturgischem Altargerät – den vasa sacra (z. B. Kelch und Patene) und non sacra (z. B. Leuchter) – sowie der textilen Bekleidung des Altars und der Zelebranten, also Priester, Diakon und Subdiakon, ausgestattet waren (immer noch grundlegend: Braun [1907] 1964, 1924, 1932). Die Vielfalt der Altäre im Kirchenraum, insbesondere im Langhaus, den Seitenschiffen und – insofern vorhanden – in den Nebenapsiden oder im Chorumgang impliziert eine gewisse Hierarchie (Kroesen 2010). Zentrum des Kirchenraums war der Hochaltar, der heute in architekturgeschichtlicher Terminologie simplifizierend als Chor bezeichnet wird. Genauer differenzierend sollte man dafür besser den in mittelalterlichen Quellen zu findenden Begriff Presbyterium oder Sanktuarium gebrauchen (vgl. u. a.: Michler 1984, Abb. 4b; 10). Die Bezeichnung Chor leitet sich demgegenüber von einer bestimmten Funktion des östlichen Bereichs eines Kirchenraums ab: dem Chorgebet einer Gemeinschaft von Geistlichen, seien es Ordens- oder Weltgeistliche, wie sie etwa die Kapitel von Domkirchen mit dem Bischof bildeten (Moraht-Fromm 2003). Wie ein Blick auf überlieferte Innenraumaufteilungen verschiedener mittelalterlicher Kirchen zeigt, musste der (liturgische)
Chor nicht unbedingt – der architekturhistorischen Verwendung des Begriffs folgend – am Querhaus enden, sondern konnte sich bis in dieses, ja, sogar bis weit in das Langhaus hinein erstrecken (so z. B. in Cluny, Reims, Barcelona, in zahlreichen Zisterzienserkirchen etc.; □ vgl. 68, 94, 133). Das Chorgebet ereignete sich im seitlich angebrachten Chorgestühl. Vielfach lag zwischen diesem das Grab des Stifters der Kirche (als frühes Beispiel etwa jenes Kaiser Ottos des Großen im Chor des Magdeburger Doms; □ vgl. 32), für dessen ewige Memoria auf diese Weise Sorge getragen wurde. Seine Entsprechung fand die beschränkte und abgestufte Sichtbar- und Zugänglichkeit des Allerheiligsten – d. h. des Hochaltars und gegebenenfalls des Sakramentshauses als Aufbewahrungsort der Hostie –, die im Chor während der Fastenzeit durch ein zwischen dem Bereich des Chorgestühls und des Sanktuariums aufgehängtes Tuch (velum) gegeben war, den Rest des Jahres noch auf ganz andere Weise. Weniger stark die einzelnen Raumeinheiten voneinander abgrenzend, konnte es
□ 106 Weisung der Reliquien der Pariser Ste-Chapelle: Miniatur aus dem heute zerstörten BenediktionaleMissale des Herzogs von Bedford, ursprünglich um 1430, hier Kopie von 1837, Paris, Musée de Cluny, CL 22847, fol. 81v
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sich dabei anfänglich um niedrigere Schranken, eine sog. schola cantorum, handeln, wie sie z. B. auf dem St. Gallener Klosterplan (□ vgl. 71) oder aber bis heute u. a. in S. Clemente oder St. Maria in Cosmedin in Rom zu sehen ist. So war der Chor zu den Seiten durch Chorschranken (vgl. Halberstadt, Unser Lieben Frauen; Paris, Notre-Dame; Köln, Dom, □ vgl. 108), zum Quer- bzw. Langhaus aber durch einen oft mit einem Skulpturenprogramm geschmückten Lettner von dem allgemein zugänglichen Kirchenraum abgegrenzt (vgl. Modena, Naumburg, Magdeburg, Halberstadt, Brou; □ 59, 165). Als in der Regel begehbare architektonische Binnenkonstruktion stellte er eine liturgische Bühne dar, auf der sich z. B. der Sängerchor einfand oder von dem aus zum Langhaus hin dem Volk Evangelien und Episteln verlesen wurden. Durch einen oder mehrere Durchgänge konnte der Konvent zudem nicht nur zum Chorgebet ein- und ausziehen. Vielmehr waren sie auch Bestandteil der bzw. zwingende Notwendigkeit für die sich auf den gesamten Kirchenraum ausdehnenden liturgischen Handlungen und darüber hinausgehende Prozessionen (Jung 2013). Die letztgenannten Kirchen mit ihren ebenfalls originalen reichen Cosmatenarbeiten zeigen zudem eindrücklich, welche Rolle die heute zumeist nicht mehr erhaltenen Fußböden mit ihrer aufwändigen Gestaltung spielten. Innerhalb der Kirche konnten sie bereits klar erkennbar Hauptachsen, Prozessionswege, besonders wichtige Orte innerhalb der Kirche etc. vorgeben bzw. betonen |▶ 8, 15|: Porphyrtondi definieren hier Gehrichtungen, Stand- oder Sitzpositionen, die so die im Raum befindlichen Personen in den Ablauf des Zeremoniells und damit letztlich in die Gesamtarchitektur einbanden. Der eigentliche Altar des zumeist mit dem Langhaus identischen Laienraums war der Hl.-KreuzAltar, der in der Regel unmittelbar vor dem Lettner stand. Mit dem Rücken zum Volk zelebrierte hier der Priester die Messe, wobei ein entsprechendes
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Bildprogramm auf dem Retabel die Realpräsenz Christi in den gewandelten Substanzen Brot und Wein üblicherweise noch einmal verdeutlichte. In besonders eindeutiger Form geschieht das z. B. am Retabel des Magdeburger Domlettners (1445 – 51), wo Engel das aus den Wundmalen des Gekreuzigten strömende Blut in Kelchen auffangen. Eine vergleichbare Visualisierung tritt nicht nur in den Bildprogrammen auf den genutzten vasa sacra (Kelch und Patene) oder in den liturgischen Büchern (z. B. mit dem Kanonbild im Messbuch / Missale) auf, sondern auch auf der liturgischen Gewandung des Zelebranten. Insbesondere im Spätmittelalter herrschen hier stark eucharistisch ausgerichtete Kreuzigungsdarstellungen vor. Die von den Gläubigen allein im Zuge der Elevation wahrzunehmenden Substanzen Brot und Wein, nun gewandelt zu Leib und Blut Christi, finden auf diese Weise eine historische Rückbindung an das biblische Geschehen. Für den Laien leisten diese Bilder aber auch eine Visualisierung der liturgischen Handlung und damit in der Gesamtheit eine permanente Verstärkung jener rational letztlich schwer nachvollziehbaren Glaubensinhalte. So legt es Ende des 13. Jh. auch das „Rationale divinorum officiorum“ (,Der geistliche Sinn der göttlichen Liturgie‘) des Wilhelm Durandus (um 1230 – 96; Bischof von Mende) dar: eine Ende des 13. Jh.s verfasste Kompilation der verschiedenen allegorischen Ausdeutungen des Kirchenraums, seiner Ausstattung und der liturgischen Handlungen (Durandus / Barthold 2012). Besondere Ausgestaltung erfuhren die Hochfeste, insbesondere Ostern. Waren der Hochaltar ebenso wie die anderen Altarstellen im Kirchenraum, aber auch einzelne Skulpturen z. B. an den Langhauspfeilern im Zuge der Fastenzeit mit Velen verhüllt, so entfernte man diese am Gründonnerstag. Die Abnahme des Fastentuches vor dem Hochaltar bzw. vor dem gesamten Sanktuarium oder gar Chor wurde als das in der Bibel beim Tod Christi
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überlieferte Zerreißen des Tempelvorhangs (Mt 27,51; Mk 15,38; Lk 23,45) gedeutet. Einer authentischen Verbildlichung des Passionsgeschehens dienen zudem die im Laufe der Jahrhunderte immer differenzierter werdenden liturgischen Spiele, die sich in der Karwoche auf den gesamten Kirchenraum erstrecken und teils mobile Bildausstattung einbeziehen. Beginnend mit der Palmsonntagsprozession, bei der vielfach ein Palmesel – also ein auf dem Esel reitender Christus – mitgeführt wurde, bis hin zu spielerischen Inszenierungen der Auferstehung, der Deponierung der hölzernen Figur eines Gekreuzigten oder auch nur eines Kreuzes in einem festmontierten oder aus Tüchern erbauten Grab Christi (vgl. Wienhausen), das oft in der Krypta zu finden war. Doch nicht nur im Verlauf des Temporale (des Teils des Missale/ Messbuchs bzw. Liber Ordinarius mit den Gedenktagen des heilsgeschichtlichen Handelns Christi) als dem nach den Hochfesten strukturierten Kirchenjahr wurde der gesamte Kirchenraum in das liturgische Geschehen einbezogen. Abgesehen von den je nach Ausstattung zu bestimmten Zeiten gefeierten Messen an den Nebenaltären, zog im Rahmen von Stationsgottesdiensten mitunter auch der gesamte Konvent zu einzelnen Altären, um hier den entsprechenden, im Verlauf des Sanctorale (des Teils des Missale mit den Gedenktagen der Heiligen) vorgegebenen Heiligen zu verehren. Diese zeitliche Dimension des Kirchenjahres fand symbolisch-allegorischen Ausdruck auch in den liturgischen Farben. Während man die Freudenfeste Weihnachten und Ostern in der Regel in Weiß beging, wurde an Karfreitag Rot angelegt, ebenso wie man dem Gedenken an Märtyrer(innen) in dieser liturgischen Farbe Ausdruck verlieh. Für derartige Farbenregeln lassen sich allerdings lediglich Tendenzen ausmachen: Sie fanden in den verschiedenen Kirchen sehr unterschiedliche Handhabung und waren nicht zuletzt oft vom Vorhandenen abhängig (Kroos 1981).
Liturgisch betrachtet, dienen nicht nur die performativen Handlungen im Kirchenraum, sondern auch die auszeichnenden Elemente wie Kerzen und Weihrauch, ebenso die Bilder auf unterschiedlichen Bildträgern – von den vasa sacra, den Paramenten (den in der Liturgie verwendeten Textilien) bis hin zum Bildschmuck auf dem Altar – einer omnipräsenten gattungs- und medienübergreifenden Verstärkung von Glaubensinhalten. Dabei wurde zwischen der beweglichen, d. h. nur zu bestimmten Anlässen hervorgeholten schmückenden Ausstattung (ornamenta) und den Bildern durchaus unterschieden. Tatsächlich gab es neben den stets sichtbaren, z. B. den oft auch mit figürlichen Darstellungen versehenen Glasfenstern (nicht selten abgestimmt auf die entsprechenden benachbarten Altarstellen, vgl. Halberstädter Dom), eine ganze Reihe von Bildern, die permanent im Kirchenraum zu sehen waren. Die Rolle der Bilder ist damit eine überaus differenzierte. Gerade die erzählenden Bildzyklen haben eine dezidiert didaktische Funktion, andererseits gibt es eine ganze Reihe von Andachtsbildern wie etwa die Bilder des Schmerzensmanns und der ihren toten Sohn betrauernden Gottesmutter, die Pietà, die zugleich die Erinnerung an das Messopfer wachrufen sollen. Diese bereits beschriebene Funktion im Sinne einer Repräsentation der kultischen Handlungen findet ihren Ursprung in der Auffassung, nach der die gewandelte Hostie und der gewandelte Wein selbst ein Bild des real gegenwärtigen Christus seien. Im Sinne des damit verbundenen Heilsversprechens schließt sich die gesamte Bildlichkeit, die reale wie auch die Architektur des Kirchenraums, in seiner allegorischen Auslegung zu einem Gesamtbild zusammen. Nicht zuletzt mit den Aposteln als deren Säulen (1 Pet 2,5) und Christus als Schlussstein (1 Pet 2,7) ist das materielle Kirchengebäude mitsamt seiner reichen Ausstattung auf diese Weise schließlich stets auch ein Abbild der großen geistigen Kirche (Sauer 1964) ebenso wie eine Anspielung auf das Himmlische Jerusalem (Off 21,11 – 15).
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Der Kölner Dom Französische Rayonnantgotik im Reich
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ach weit verbreiteter Sichtweise finden all die Entwicklungen und Eigenheiten, die für französische gotische Architektur benannt werden können, ihren Abschluss, ja, ihre Summe in dem nach den Plänen eines Meisters Gerhard ausgeführten Neubau des Kölner Doms (□ 107, 108), für den am 15. August 1248, also an Mariä Himmelfahrt, Erzbischof Konrad von Hochstaden (1261 in der Scheitelkapelle begraben) den Grundstein legte. Ob man derartigen Einschätzungen nun folgen will oder nicht: Außer Frage steht, dass bei dem Vorhaben Ideen französischer Gotik in einer Konsequenz zuende gedacht wurden, wie das in dieser Form in Frankreich schwerlich zu finden sein wird. Das hat nun allerdings weniger mit einer vermeintlichen Überlegenheit der Kölner Architektur zu tun, sondern damit, dass zu diesem Zeitpunkt – sieht man von einigen wenigen Kathedralen im Südwesten ab (v. a. das zeitgleich begonnene Clermont-Ferrand) – die betreffenden Projekte im französischen Kernland bereits im Bau oder aber seit längerem fertiggestellt waren. Dass sie unabdingbare Voraussetzungen für den Kölner Dom darstellten, steht außer Frage. Insbe□ 107 Köln, Dom, Grundriss, Grundsteinlegung 1248
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sondere ohne den in den 1230er Jahren begonnenen Chor der Kathedrale von Amiens (Bau der Westfassade und des Langhauses bereits ab 1220) wäre die Kölner Architektur sicherlich kaum denkbar. Das ist umso bemerkenswerter, wenn man nicht nur weiß, dass eine solch eindeutige Rezeption im deutschsprachigen Raum recht einmalig geblieben ist, sondern auch, dass dieser monumentale gotische Neubau in Köln eine aus der Karolingerzeit stammende zweichörige Anlage (beg. um 800) ersetzte, die – wie St. Michael in Hildesheim – mit zwei Querhäusern versehen war. Wie in der Einleitung dargelegt, ist der enge Frankreichbezug nicht immer so gesehen worden: Noch bis Mitte des 19. Jh.s konnten der Kölner Dom und seine gotischen Bauformen als Inbegriff deutscher Architektur, ja, des ‚Deutschen‘ schlechthin gelten; ein Monument aus vergangenen, vermeintlich geeinten und deswegen größeren Zeiten. Fraglos wurde das in den sich gerade erst von den Napoleonischen Kriegen erholenden deutschen Regionen gerne als identitätsstiftende Idee aufgenommen. Karl Friedrich Schinkel (1781 – 1841), hoch gepriesener Baumeister des preußischen Königs, dessen Reich seit 1822 die Rheinlande und damit Köln angehörten, war es denn auch, der zur Erinnerung dieses ersten markanten nachmittelalterlichen Gemeinschaftswerks – die Befreiung von der französischen Okkupation – den gewaltigen ‚Befreiungsdom‘ (1819) am heutigen Potsdamer Platz am westlichen Stadteingang von Berlin plante – bezeichnenderweise ein monumentaler, (neo-)
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□ 108 Köln, Dom, Innenansicht des Chors (mit originalen Chorschranken), Versatz der Fenster ab 1304, Chorweihe 1322
gotischer Bau, der jedoch der Sparsamkeit des preußischen Königs zum Opfer fiel und nicht mehr als eine interessante Architekturphantasie geblieben ist. Ausgeführt wurde lediglich das gusseiserne Nationaldenkmal für die Siege in den Befreiungskriegen (1821) auf dem Kreuzberg im Berliner Viktoriapark, nun in
Form einer gewaltigen gotischen Fiale. Zum eigentlichen Denkmal nicht nur des Sieges über Napoleon, sondern auch der zunehmenden und 1871 dann tatsächlich vollzogenen Einung der deutschen Nation geriet demgegenüber immer mehr die Vollendung des im Mittelalter Fragment gebliebenen Kölner Doms: Aus allen
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Gebieten des Reiches wurde zwischen 1842 und 1880 über mehrere Jahrzehnte Geld oder Baumaterial geschickt oder auf andere Weise die Fertigstellung dieses Baus unterstützt. Bis dahin hatten von ihm lediglich der Chor und Teile des Querhauses gestanden, während vom Langhaus nur kleinere Partien in den unteren Bereichen fertiggestellt sowie an der Westfassade der Südturm etwas höher gediehen waren. Dass der Kölner Dom bis zur vorläufigen Einstellung der Arbeiten im 16. Jh. größtenteils unvollendet geblieben ist, liegt zu nicht geringen Teilen daran, dass man es hier mit einem Bauvorhaben gänzlich neuer Dimensionen zu tun hat (s. a. die kaum weniger weit gediehenen Arbeiten an der fast zeitgleichen Kathedrale von Beauvais), das seine französischen Vorbilder in vielen Belangen übertraf. An erster Stelle wären hier sicherlich die gewaltigen Türme der Westfassade zu nennen, die mit ca. 160 m zur Zeit ihrer Planung andere ambitionierte Fassadenprojekte (□ vgl. 120; dagegen z. B. dasjenige der Reimser Kathedrale mit ca. 80 m Höhe) um fast das Doppelte überragten. Aber auch die nun durchgängige Fünfschiffigkeit und die bei Baubeginn nur noch von der Kathedrale von Beauvais (48 m) übertroffene Scheitelhöhe der Mittelschiffsgewölbe waren maßstabsetzend. Bemerkenswerterweise steht nun also, wenn man so will, der ‚gotischste‘ aller gotischen Dome nicht in Frankreich, sondern auf deutschem Boden; alles scheint hier hinsichtlich Dimensionierung und Detaillierung bis zum Letzten ausgereizt. Hinter der monumentalen, alles bisher Dagewesene übertreffenden Doppelturmfassade von zwei Jochen Tiefe (die innen auf Pfeilern von über 6 m Durchmesser steht) findet sich ein fünfjochiges, fünfschiffiges basilikales Langhaus, an das ein dreischiffiges Querhaus und ein dreijochiger Chor mit 7 / 12-Schluss, Umgang und sieben Radialkapellen anschließt. Alles ist auf das Maximum hin ausgelegt, so auch die Umwandlung der Steinwände in Fensterflächen: Den etwa gleich
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hohen Obergaden- und Arkadenzonen ist ein vergleichsweise niedriges, nun sogar ebenfalls durchfenstertes Triforium zwischengeschaltet. Möglich wurde das durch eine andere Dachkonstruktion als dem zumeist üblichen Pultdach über den Seitenschiffen. Neben dem latenten Anspruch des Erzbischofs von Köln, der wichtigste unter jenen des Heiligen Römischen Reiches zu sein – was er zwar faktisch, nicht aber nominell war – , scheinen der wesentliche Ausgangspunkt für dieses im Heiligen Römischen Reich in Größe und Form einmalige Bauprojekt zweifellos die Reliquien der Heiligen Drei Könige gewesen zu sein: Erst 1164 waren sie durch den Kanzler Friedrichs I., Erzbischof Rainald von Dassel, nach Köln übertragen worden, der sie zuvor aus der bei der Einnahme Mailands gemachten Beute des Kaisers erhalten hatte. Schnell zogen die Reliquien, die anfänglich wohl inmitten des Mittelschiffs vor dem östlichen Marienchor ausgestellt waren, große Pilgermassen an, die kaum mehr von dem alten, viel kleineren Dom bewältigt werden konnten. Und in der Tat erweist sich die gewählte Lösung eng auf dieses Problem hin abgestimmt. In der für Santiago de Compostela |▶ 11| bereits beschriebenen Weise führt der geräumige Umgangschor die Massen seit der Nachkriegszeit um die Reliquien bzw. um das eindrucksvoll große Reliquiar (1191 – ca. 1220) im Chorscheitel herum. Bis um 1800 war dieses in der Achskapelle des Chorumgangs aufgestellt (Lauer 2006), wodurch es in noch effektiverer Weise den Pilgern dauerhaft präsent war, ohne dass Letztere die Geschehnisse im Chor in irgendeiner Weise beeinträchtigten. Die gewaltigen Dimensionen des Baus bringen es mit sich, dass selbst die mittelalterlichen Partien teilweise mehr als ein Jahrhundert auseinander liegen. Angesichts der Tatsache, dass man dabei den Urplan des 13. Jh.s niemals aufgab, sondern nur im Detail modifizierte – an der Westfassade noch bis in das 15. Jh. hinein –, fällt das heute allerdings kaum auf. Das betrifft
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bereits den in diesem Zusammenhang sicher wichtigsten und authentischsten Bauteil, den Chor, wo sich, bei aller Einheitlichkeit, Arkadengeschoss und darüber liegende Partien bei genauerem Hinsehen als in zwei verschiedenen Kampagnen ausgeführt erweisen: Bis 1265 hatte man Umgang und Kapellenkranz bis zu den Gewölben fertiggestellt, während die – offensichtlich erst nach einer gewissen Pause folgende – Ausführung des Triforiums und des Obergadens einschließlich der Fenster sowie v. a. des dazugehörigen, aufwändigen und komplizierten Strebewerks am Außenbau bis spätestens zur Chorweihe 1322 vollendet waren (Versatz der Fenster 1304 – 11). Zu diesem Zeitpunkt hatte man sich bereits der Ausführung der weiter westlich gelegenen Partien zugewandt, wofür Ende des 13. Jh.s (um 1280?; um 1300?) ein riesiger auf Pergament ausgeführter Plan („Plan F“; □ vgl. 120) von 4,12 m Höhe und 1 m Breite für die nicht minder monumentale Westfassade erstellt wurde: ein frühes und v. a. das größte noch erhaltene Monument für diese bereits an moderne Verfahren erinnernde Planungsweise. Wie der ausnehmend gute Erhaltungszustand und fehlende Gebrauchsspuren zeigen, handelt es sich wohl eher um einen Schauriss als um einen für die Ausführung benutzten Plan ( Themenblock · Der Baubetrieb, S. 182; Steinmann 2003). Die Architektur der Kathedrale von Amiens, die in vielem als das eigentliche Vorbild des Kölner Doms greifbar ist – bis hin zu Details wie den gestapelten Dreipässen im Fenstermaßwerk der Umgangskapellen –, erscheint in dessen Chorarchitektur nicht nur weiter stark verschlankt, sondern auch um Eigenheiten des zweiten, 1231 begonnenen gotischen Neubauprojekts von St-Denis (□ vgl. 82) bereichert. Das betrifft v. a. die hier durchgängig verwendeten Bündelpfeiler statt der für Amiens üblichen kantonierten Pfeiler. Durch die Vermehrung der Dienste (der normale Mittelschiffspfeiler weist nun nicht mehr nur vier Dienste, sondern bei einem leicht elliptischen Gesamtgrundriss
zwölf von ihnen auf) gelingt es in ausnehmend überzeugender Weise, jedem lastenden Element – d. h. vom Teilprofil des Arkadenbogens bis zu den einzelnen Gewölberippen – jeweils ein tragendes zuzuordnen. In Amiens waren oft noch mehrere von ihnen auf einem einzigen Kapitell zusammengefasst. Damit und durch die Verwendung verschiedener Dienstformate ergibt sich im Umgang und dessen Kapellen ein im Vergleich zu Amiens weit sanfter und gleichmäßiger an- und abschwellendes Wandrelief von höchster Raffinesse. Das betrifft v. a. den subtilen Übergang und das Verschmelzen der Dienstsysteme der gewölbetragenden Wandvorlagen und der Fenstergewände, wobei ihre Dimensionierung jeweils genau der Bedeutung des einzelnen Bauglieds folgt. Insgesamt führt all das zu einem sehr homogenen Gesamtbild. Weitere Steigerung erfährt dies insofern, als viele der vertikalen Elemente, also die Dienste, über mehrere Geschosse laufen und so die verschiedenen Ebenen noch stärker zu einer Einheit verspannt werden: Jede horizontale Separierung, wie sie ja z. B. für die englische Architektur der Zeit so typisch ist, entfällt. Am auffälligsten sind hier sicherlich die drei vordersten Dienste der Bündelpfeiler, die ununterbrochen vom Sockel bis zum Gewölbe hochlaufen, wo sie jeweils eine Diagonalrippe und den zentralen Gurtbogen aufnehmen. Ein weiteres Kriterium der Kölner Architektur ist schließlich die Durchbrechung der Wand bis zum Extrem: Hier bleiben wirklich nur noch minimale in Stein gearbeitete Restflächen des mit Blick auf die gewaltige Dimensionierung des Baus geradezu zierlichen Grundgerüsts. Dazu gehört auch – mit Ausnahme des Chorpolygons – die durchgängige Verwendung vierteiliger Fenster sowohl in den Seitenschiffen als auch im Obergaden. So vollendet ‚französisch‘ das Ergebnis auch aussehen mag, bemerkenswerterweise scheint nur die ‚Oberfläche‘, also das Gesamt erscheinungsbild französisch, nicht aber die Bautechnik und -ausführung. Hier finden sich
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nicht die etwa für die Kathedrale von Amiens damals so typischen Formen der Standardisierung und Vorfertigung. Ganz im Gegenteil scheinen nun – zumindest anfänglich – lokale Kräfte weiterhin den Gewohnheiten der älteren Kölner Architektur gefolgt zu sein (Kimpel 1979 / 1980), was sich aber offensichtlich spätestens mit dem zweiten Bauabschnitt, dem Chorobergaden, änderte (Lüpnitz 2011, S. 273). Dass diese höhergelegenen Partien erst etwas später, im ausgehenden 13. Jh., zur Ausführung kamen (Weihe 1322), wird lediglich durch die nun aufwändigeren und feineren Maßwerkerfindungen ablesbar: So finden sich in den älteren Seitenschiffsfenstern jeweils zwei kleine Fünfpässe, die einen großen tragen. Weit komplizierter ist demgegenüber die Lösung im Obergaden: Diesem System grundsätzlich folgend, werden die Pässe der kleinen Fünfpässe nun aus offenen Dreipässen gebil-
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det, während an die Stelle des abschließenden großen Fünfpasses ein filigraner Vierpass mit eingelegten Dreipässen tritt. In Variation tritt diese Form beim großen bekrönenden offenen Vierpass auf, wo die Dreipässe in die einzelnen Pässe eingelegt sind – eine Form, die v. a. charakteristisch werden sollte für die weiteren Ausbauphasen des Doms. All das verschwindet am Chor allerdings geradezu hinter einem ganzen Wald von fialenbekrönten Strebepfeilern und -bogen, die zum fast gänzlich mit Blendmaßwerk dekorierten, doppelten Strebesystem gehören und gemeinsam mit den über den Fenstern aufragenden Wimpergen, die auch dem Windschutz des Dachansatzes dienen, den reichen und kleinteiligen Gesamteindruck des Außenbaus des Chores ergeben: Über 500 Jahre später sollte diese Partie die Inspirationsquelle für Schinkels Befreiungsdenkmal auf dem Kreuzberg werden.
Die Prager Altneu-Synagoge Etablierte Architekturformen in neuem (Glaubens-)Kontext
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ergleichsweise weit im Osten gelegen, kommt Prag als Hauptstadt des böhmischen Königreichs in architekturhistorischer Hinsicht erst ab dem 13. Jh. größere Bedeutung zu: Unter dem aus dem Hause der Prˇemysliden stammenden König Ottokar II. (1253 – 78) und seinen unmittelbaren Nachfolgern lassen sich damals nicht nur in Prag, sondern auch im restlichen Herrschaftsgebiet des böhmischen Königs in erstaunlicher Dichte und Qualität Bauten finden, die profunde Kenntnis französischer, gotischer Architektur aufweisen (Kuthan 1996). Allein die Teilung Europas nach 1945 in
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‚Ost‘ und ‚West‘ ist der Grund dafür, dass etwa so originelle Anlagen wie die Kapelle der Königsburg von Bösig / Bezdeˇz (ab 1270er Jahre), die deutlich entsprechende französische und im Reich gelegene Bauten der Zeit reflektiert und in erstaunlich eigenständiger Weise verarbeitet, bisher nicht breitere Aufmerksamkeit geweckt haben. Neben den unter König Ottokar II. vorgenommenen Erweiterungsarbeiten am Prager Agneskloster, das damals sowohl Klarissen als auch Franziskaner beherbergte |▶ 35|, und verschiedenen anderen Sakralbauten in Golden-
205 □ 109 Prag, Altneu- Synagoge, Innenansicht, 1250/60er Jahre
kron (Zlatá Koruna), Hohenfuhrt (Vyšši Brod) oder Kolín ist eines der besterhaltenen Beispiele hochgotischer Architektur im Böhmen des ausgehenden 13. Jh.s die sog. Altneu-Synagoge in Prag (□ 109). Angesichts der deutschen Besetzung Böhmens und Mährens zwischen 1939 und 1945 ist das nicht selbstverständlich. Und tatsächlich blieb dieses kostbare Bauwerk auch nur deswegen erhalten, weil hier von den Nationalsozialisten ein ,Museum der ausgelöschten jüdischen Rasse‘ geplant war. Allein durch diesen – ungewollt – glücklichen Umstand ist das Kleinod eines jüdischen Kultbaus des Mittelalters auf uns gekommen: eine der ältesten authentisch erhaltenen Synagogen Europas überhaupt; demgegenüber stellt z. B. jene – ursprünglich noch ältere – in Worms (1174 / 5) nach ihrer weitgehenden Zerstörung in der Reichspogromnacht von 1938 leider nur mehr eine moderne Rekonstruktion dar. Viele dieser
jüdischen Kultbauten sind allerdings schon früher, im Mittelalter, bei – verschieden motivierten – Pogromen untergegangen. Genannt seien hier nur die jeweils Mitte des 14. Jh.s in den fränkischen Städten Nürnberg, Würzburg und Bamberg vernichteten Synagogen. Bemerkenswerterweise beließ man es dabei nicht bei deren bloßen Zerstörung, sondern ersetzte die Bauten – überaus zeichenhaft – durch Marienkirchen. Prominente Beispiele dafür sind die Nürnberger Frauenkirche (1352 – 62), eine Stiftung Kaiser Karls IV., oder die etwas später, ab 1377 ausgeführte Marienkapelle in Würzburg: Einem gängigen mittelalterlichen Bildprogramm folgend (vgl. etwa die im 13. Jh. einander gegenübergestellten Skulpturen von Ecclesia / Kirche und Synagoge an den Domen von Reims, Straßburg, Bamberg und Magdeburg) wurde hier nun die normalerweise als Personifikation wiedergegebene, heilsgeschichtlich
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überholte Synagoge – als Ausdruck des Alten Bundes Gottes mit den Menschen – also auch in baulicher Form durch Maria ersetzt, in der man die Verkörperung des Neuen Bundes mit Gott und damit auch die Personifikation der Kirche schlechthin sah – ein eindrückliches Beispiel dafür, wie zeichenhaft Architektur im Mittelalter gelesen werden konnte. Die heute aus den genannten Gründen lückenhafte Überlieferung mittelalterlicher Synagogen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie ehemals natürlich einen substantiellen Bestandteil abendländischer Kultur und Architektur darstellten. In fast allen größeren Städten Europas gab es jüdische Gemeinden, für die zahlreiche Bauten von teilweise erstaunlicher Qualität erstellt wurden. Prag soll nun zum einen als Fallbeispiel für die räumliche Organisation eines Kultraums jüdischen Ritus, also eines anderen als dem christlichen Glaubenskontext entstammenden Baus dienen, wobei sicherlich die Frage, ob es hier ähnlich wie bei christlichen Sakralbauten sich wiederholende Eigenheiten gibt, von besonderem Interesse ist. Zum anderen ist aber auch das Verhältnis zur jeweils zeitgleichen christlichen Baukultur zu beleuchten, die Frage nach der Andersartigkeit bzw. der Rezeption derselben zu stellen. Die Besonderheit von Bauvorhaben der jüdischen Bevölkerung beginnt bereits mit der Wahl des Bauplatzes, war man hier doch in ganz eigener Weise von Wohl und Wehe des Herrschers abhängig als im Fall eines Kirchenneubaus. Nicht, dass es nicht auch dort Restriktionen gegeben hätte, doch sie waren für den Bau einer Synagoge von anderer Qualität. Das beginnt bereits mit dem Umstand, dass sich Juden nicht als Einzelpersonen in einem beliebigen Teil der Stadt ansiedeln konnten, sondern dies konzentriert in einem bestimmten ihnen zugewiesenen Bereich zu tun hatten. Unter Ottokar II. sahen sich die Juden in Prag einem ihnen vergleichsweise freundlich gesinnten König gegenüber, der sie 1254 unter seinen per-
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sönlichen Schutz stellte – ein positives Klima, das sich zweifellos auch vorteilhaft für das nur wenig später realisierte Projekt einer neuen Synagoge erweisen sollte, die schon bald das neue Zentrum des jüdischen Ghettos in Prag darstellte. Soweit die erhaltenen oder überlieferten Bauten hier überhaupt eine abschließende Einschätzung zulassen, scheint es ein klar definiertes Konzept, nach dem Synagogen in Europa angelegt worden sind, nicht gegeben zu haben. Auch wird natürlich die Größe der jeweiligen Gemeinde immer eine gewisse Rolle gespielt haben. Dass das Resultat dabei gewaltige, hinsichtlich der Größe christlichen Kirchen kaum nachstehende Bauten sein konnten, zeigen die beiden Synagogen in einem der jüdischen Zentren Europas, im spanischen Toledo: der große einschiffige Saalbau von El Tránsito (um 1366) und die fünfschiffige Staffelhalle beachtlichen Ausmaßes der heute unter dem Patrozinium von S. María la Blanca als Kirche bzw. Museum weitergenutzten zweiten Synagoge (nach 1180 mit späteren Veränderungen) oder die in der Anlage sehr ähnliche in Segovia (wiederum im 14. Jh. errichtet; 1419 in eine Corpus-Christi-Kirche umgewandelt; Ende des 19. Jh.s abgebrannt). Mit der etwas älteren Anlage in Prag haben all diese Bauten allerdings nur wenig gemein. Bereits hier zeigt sich, dass – wie bei aller anderen mittelalterlichen Architektur auch – die lokalen Traditionen und Eigenheiten das eigentlich ausschlaggebende Moment darstellten. So weisen die beiden Synagogen in Toledo z. B. ganz selbstverständlich Charakteristika maurischer Architektur und Dekorationskunst (u. a. Hufeisenbogen) auf, während sich die Prager Synagoge problemlos an andere gotische Bauvorhaben der Zeit, wie etwa die Erweiterung des Agnesklosters anschließen lässt. Generell repräsentiert der im Vergleich zu den spanischen Beispielen deutlich bescheidenere Prager Bau einen Typus, der sich damals auch noch an anderen Orten des Reiches nachweisen lässt: so
207 □ 110 Friedberg, Mikwe, Schnitt, Grundriss. Eingangsportal und Steinmetzzeichen, ca. 1260
Die Prager Altneu-Synagoge
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bereits an der Wormser Synagoge (ab 1175), an der etwas später entstandenen von Regensburg (1. Viertel 13. Jh.; 1519 zerstört; vgl. die Radierung Albrecht Altdorfers) und Krakau (15. Jh.; im 16. Jh. wohl nach altem Vorbild erneuert), ohne dass er wirklich als ein auch für andere Synagogen gültiger Typus benannt werden könnte. Dazu lassen sich damals zu viele davon abweichende Lösungen finden, wie etwa der im 11. Jh. entstandene längsrechteckige Saalbau der zerstörten mittelalterlichen Kölner Synagoge (1. Bau um 1000, 2. Bauphase um 1096). In der Grunddisposition entfernt an einen Kapitelsaal eines Klosters erinnernd, handelt es sich bei der Prager Synagoge, deren Außenbau im Übrigen kaum an Einfachheit zu übertreffen ist, im Inneren um einen zweischiffigen, dreijochigen und eingeschossigen Saalbau auf längsrechteckigem Grundriss, dessen Gewölbe auf zwei zentralen Stützen ruhen. Jene stellen eine bemerkenswerte Erweiterung von vierteiligen Gewölben dar, indem sie jeweils zu den Längsseiten des Baus eine eigene kurze Rippe ausbilden. Einen statischen Grund gibt es dafür nicht; ganz offensichtlich stand hier ausschließlich eine gewisse Bereicherung des Gewölbes im Vordergrund. Angesichts der Kahlheit der nur von einfachen spitzbogigen Fenstern gegliederten Wand sind sie gemeinsam mit den zentralen Stützen in der Tat der einzige architektonische Dekor der Anlage. Es handelt sich bei ihnen um schlanke achteckige Pfeiler, an deren oberem Ende interessanterweise kein Kapitell im klassischen Sinne zu finden ist. Vielmehr ist hier an jeder Seite des Pfeilers eine teilweise blattverzierte Konsole ausgebildet, die jeweils eine der fein profilierten Rippen des Gewölbes aufnimmt und diese auf solche Weise noch einmal besonders als individuelle Bauglieder auszeichnet und hervorhebt (ein noch recht uneleganter Vorläufer dieser Lösung ist in den Pfeilern im Kapitelsaal der Zisterzienserabtei Bebenhausen aus dem 1. Viertel des 13. Jh.s zu sehen). Diese Eigenheit fehlt am anderen Ende, an der Wand: Dort werden die
III. Schlüsselwerke
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einzelnen Rippen jeweils auf einer Konsole zusammengeführt, wobei jene, die einen der Gurtbogen tragen, zusätzlich einen auf halber Höhe der Wand ansetzenden Dienst erhalten, wodurch die Abgrenzung der einzelnen Joche dezente Akzentuierung erfährt. Eine solche Hierarchisierung fehlt bemerkenswerterweise im Gewölbe, weisen dort doch alle Rippen eine identische Profilierung auf. Anders als ein christlicher Sakralbau ist in mittelalterlichen Synagogen das kultische Zentrum, an dem die ansonsten in einer Nische an der Ostwand untergebrachte Tora verlesen wird, üblicherweise nicht nach einer bestimmten Seite hin ausgerichtet. Vielmehr findet sich dieser Bima oder Almemor genannte Ort in der Mitte des Gebäudes. Geradezu idealtypisch konnte sie im Fall der Prager Synagoge – durch ein späteres Gitter vom Rest des Raumes abgetrennt – zwischen die zwei schlanken Pfeiler eingefügt werden, während die Gläubigen zu allen Seiten um sie herum standen. Der Kultraum der Synagoge ist im Mittelalter aber nicht die einzige mit dem Judentum verbundene Bauaufgabe. Vielmehr haben sich einige besonders eindrucksvolle Anlagen in Zusammenhang mit den Bädern überliefert, die aus rituellen Gründen benötigt wurden: den sogenannten Mikwes (□ 110). Grund für die teilweise recht komplexen Bauten war die Forderung, dass diese Ritualbäder über ‚bewegtes Wasser‘ zu verfügen hätten, was sich innerhalb eines städtischen Kontexts am einfachsten mit Grundwasser lösen ließ. Derartige Mikwes haben sich heute u. a. noch in Speyer (um 1100), Worms, Köln (beide um 1170 / 75) und Andernach (14. Jh.?) erhalten. Das eindrucksvollste und monumentalste Beispiel ist hier dasjenige im hessischen Friedberg von ca. 1260. Gemäß einer Inschrift wurde das Ritualbad von einem aus dem Rheinland zugewanderten Juden, Isaac Coblenz, finanziert und ging nach Ausweis der Steinmetzzeichen auf Kräfte zurück, die zeitgleich am Chor der
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örtlichen Pfarrkirche tätig waren (Roth 1949, S. 26). Entstanden ist ein imposantes Bauwerk, wurde hier doch gleichsam eine ganze Turmbzw. Treppenanlage im Boden versenkt: Um in Friedberg an Grundwasser zu kommen, war es nämlich notwendig, einen 25 m tiefen Schacht von 5,50 m × 5,50 m Grundfläche in die Tiefe
zu treiben. An den Wänden wurde danach eine beeindruckend leichte Treppenkonstruktion eingebracht, deren Läufe von weitgespannten Halbbogen überfangen sind, die an der Innenseite an Ecken jeweils auf fein ausgearbeiteten schlanken Säulchen mit Blattkapitellen ruhen.
Das Marburger Schloss Höhenburg und Residenz
H
och über Marburg auf einem Bergrücken thronend, findet sich das ab ca. 1260 an der Stelle einer älteren Anlage entstandene Schloss des Landgrafen von Hessen (□ 111), Gebieter über eine damals gerade erst aus einer Abspaltung der Landgrafschaft von Thüringen hervorgegangenen Herrschaft (zur Baugeschichte und den Vorgängerbauten: Meiborg / Roth 1992, S. 48; Großmann 2010, S. 67; Heinemeyer 1992, S. 39). Trotz aller Veränderungen und Ergänzungen darf es immer noch als eine der besterhaltenen und komplexesten Höhenburgen der Zeit im deutschsprachigen Raum gelten. Außergewöhnlich ist zudem die Qualität der architektonischen Details, die – für einen derartigen Wohn- und Wehrbau nicht selbstverständlich – in mancher Partie nur wenig hinter der Architektur der etwas älteren Elisabethkirche zurückstehen, also jenem 1235 begonnenen, eigentlichen Hauptwerk der Gotik in Marburg und einem der frühesten Beispiele der Rezeption französischer, gotischer Architektur auf dem Boden des Heiligen Römischen Reiches überhaupt. Zu Ehren der kurz zuvor (1231) verstorbenen hl. Elisabeth, einer hochverehrten heiligen Angehörigen seiner Familie, hatte es der Landgraf damals in auf die Reimser Kathedrale |▶ 23| zurückführbaren Formen errichten lassen. Man hat es in
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Marburg damals also mit zwei verschiedenartigen, dabei aber grundsätzlich klar aufeinander abgestimmten Baumaßnahmen innerhalb einer Stadt zu tun, mit denen die Landgrafen nicht nur ihre landesherrliche Macht, sondern – mit Blick auf die Grablege der hl. Elisabeth in der gleichnamigen Kirche – auch die Heiligkeit, die Besonderheit dieses Geschlechts herauszuheben suchten (ungeachtet der Tatsache, dass es sich bei Elisabeth lediglich um ein angeheiratetes Familienmitglied handelte). Diese Baumaßnahmen erfolgten in einer wichtigen Umbruchphase: Das Geschlecht der seit dem 12. Jh. mit der Landgrafenwürde ausgezeichneten, auch in Hessen begüterten Ludowinger war 1247 ausgestorben, woraufhin die Tochter der genannten hl. Elisabeth, Sophie von Brabant, von Marburg aus die Erbfolge ihres Sohnes in der nun selbständigen Landgrafschaft Hessen durchsetzte. Fortan und noch bis 1311 sollte die bevorzugte Residenz der Landgrafen Marburg sein. Überdeutlich manifestiert sich dessen plötzlicher Bedeutungszuwachs in dem genau damals ins Werk gesetzten Neubau der Burganlage. Burgen dienen v. a. der Kontrolle eines Territoriums (Biller 1993). Um als solche bezeichnet werden zu können, bedarf ein Wohnzwecken dienendes Gebäude einer gewissen Befesti-
Das Marburger Schloss
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□ 111 Marburg, Schloss, Gesamtansicht der ab ca. 1260 neu errichteten Anlage von Süden: der ‚Landgrafenbau‘ mit der 1288 geweihten Burgkapelle; westlich anschließend der ‚Frauenbau‘; dahinter sichtbar das Dach des Nordflügels mit dem ‚Rittersaal‘ (vollendet ca. 1296); rechts im Osten abgesetzt der 1493 – 97 ausgeführte ‚Wilhelmsbau‘
gung. Gerade im frühen Mittelalter konnte diese noch recht simpel aus einer hölzernen Palisade oder sogar einfach nur aus einem hohen Zaun oder gar einer dichten Hecke bestehen. Klassischerweise handelt es sich jedoch um eine – bei aufwändigeren Burgen oft auch turmbewehrte – Steinmauer mit einem vorgelagerten Graben. Wie die heute noch erhaltenen Bauten zeigen, waren diese zivil bzw. militärisch genutzten Anlagen in deutlich größerem Maße Veränderungen unterworfen als etwa Sakralbauten. Gewandelte Ansprüche an den Komfort, an die repräsentative Selbstdarstellung, aber auch die rasante Entwicklung der Waffentechnik machten ständige Umbauten und Erweiterungen notwendig. Das ist auch bei der Burg
III. Schlüsselwerke
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in Marburg der Fall, wo dies Ende des 15. Jh.s in recht eingreifender und nachhaltiger Weise erfolgte. So konnten über die Jahrhunderte die anfänglich oft aus nicht mehr als ein oder zwei Gebäuden bestehenden, befestigten Anlagen zu immer komplexeren, teilweise auch recht verschachtelten Gebilden (vgl. z. B. Burg Eltz) heranwachsen, denen mitunter eine übergeordnete Planung abgeht (Großmann 2010, S. 58 ff.). In Größe und Aufwand der Bedeutung und Stellung des Bauherrn angepasst, dienten Burgen zum einen als zeitweiser oder ständiger Wohnsitz. Zum anderen verkörperte diese Bautypologie natürlich per se den individuellen territorialen Machtanspruch, wie das gerade die maßstabsetzende Burgenbau-Politik der
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Staufer im 12. und 13. Jh. eindrucksvoll vor Augen führt. Es lassen sich zwar einige allgemeine Konstanten bei der Anlage einer Burg finden, doch existieren im Detail durchaus beachtliche Unterschiede, allein schon angesichts des topographischen Unterschieds, ob die Burg im Flachland oder aber auf einem Höhenrücken lag. Ebenso gibt es zeitliche Unterschiede: Während die Burgen bis in das 12. Jh. hinein zumeist karg und wenig wohnlich waren, was neben ihrer oft nur temporären Nutzung auch auf das damals allgemein wärmere Klima zurückzuführen ist, wurde ihre Ausstattung fortan aufwändiger. Das betraf v. a. die zu festen Residenzen ausgebauten Pfalzburgen des Kaisers oder anderer Fürsten des Reiches, die sich gerne in unmittelbarer Nähe von Städten entwickelten und deutlich von den bescheidenen Burgen einfacher Herrschaftssitze, von Vögten oder etwa von Zollstationen, zu unterscheiden sind. Insbesondere besaßen Burgen üblicherweise einen recht umfänglichen eigenen Wohntrakt, den sog. Palas, der auch einen oder sogar mehrere aufwändig gestaltete Säle in sich barg. Der Mitte des 12. Jh.s entstandene, im 13. Jh. noch um ein Geschoss aufgestockte Palas der Wartburg – die ältere Hauptresidenz der Landgrafen von Thüringen und damit gleichsam der Vorgänger des Marburger Schlosses – ist dafür ein besonders schönes und gut erhaltenes Beispiel (Badstübner 2001, S. 9 f.). Als idealtypischer Vertreter einer hochmittelalterlichen Burg im deutschsprachigen Raum wies diese Anlage wie auch die in Marburg in ihrem Kernbereich einen hohen und wehrhaften Wohnturm auf, den im deutschen Burgenbau im 12. Jh. allmählich Standard werdenden Bergfried, im Französischen auch Donjon genannt (dort allerdings nicht nur als Fluchtturm, sondern auch mit richtiger Wohnfunktion; □ vgl. 102). Er gewährte Überblick, Schutz und sollte abschrecken. In Marburg ist er heute in dem südlichen Abschluss des neuen Westflügels, des in den 1480er Jah-
ren errichteten sog. Frauenbaus, aufgegangen. Weiter östlich schloss sich an ihn der Südflügel oder sog. Landgrafenbau an, dem ehemaligen landgräflichen Wohnbau (um 1250 oder spätestens um 1270 / 80; Großmann 2004, S. 110), mit Resten eines romanischen Palas und vielfältigen Um- und Erweiterungsbauten aus dem späten 13. und 15. Jh. Unverfälscht erhalten ist dagegen der architektonische Höhepunkt des Flügels: die sein Ostende markierende aufwändige, in ihrer Zweigeschossigkeit, mehr aber noch in ihrer umfassenden Durchfensterung deutlich an der Ste-Chapelle und anderen Palastkapellen orientierten, 1288 geweihten Kapelle (für den unteren Teil allerdings keine unmittelbare Kapellenfunktion nachgewiesen). Bemerkenswert ist allein schon ihr zentralisierender Grundriss: An ein mittleres querrechteckiges Kreuzrippengewölbe schließen sich im Osten und Westen symmetrisch Gewölbe mit einem 5 / 8-Schluss an, im Norden und Süden trapezförmig ausgearbeitete Nischen (Michler 1974, S. 81). Hinsichtlich der Gesamtkonzeption und Erfindung der Detailformen darf der Bau ebenso wie in Bezug auf die Feinheit der Ausführung zweifellos zu den Spitzenleistungen gotischer Architektur des 13. Jh.s im Heiligen Römischen Reich gerechnet werden. Dass man dies auch überregional wahrnahm, mag die deutlich an diesem Bau bzw. diesem Konzept orientierte Burg und Kapelle im böhmischen Bösig zeigen. Übertroffen wird er nur noch von einem gewaltigen, in dieser Form und Monumentalität in einer mittelalterlichen Burganlage nicht unbedingt zu erwartenden Raum, der in dem kurze Zeit später, nach jüngsten dendrochronologischen Untersuchungen um 1296 entstandenen Nordflügel – dem größten eigenständigen Baukörper der Anlage – zu finden ist: der sog. Rittersaal (□ 112), ein beeindruckender, das gesamte Obergeschoss einnehmender, zweischiffiger Saal (482 m2); einer der größten profanen Innenräume der deutschen Gotik überhaupt, der möglicherweise von ähn-
Das Marburger Schloss
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□ 112 Marburg, Schloss, sog. Rittersaal im Nordflügel, mit 482 m2 einer der größten profan genutzten Räume seiner Zeit, fertiggestellt um 1296
lichen Anlagen des französischen Burgenbaus beeinflusst war. Ein konkretes Vorbild könnte der entsprechende, allerdings einschiffige Saalbau der Burg im luxemburgischen Vianden sein (Großmann 2004, S. 112). Exquisit, selbst höchsten Ansprüchen genügend, ist in Marburg die Architektur dieses hochgotischen Raumes: vier oktogonale Pfeiler, aus denen im oberen Drittel an allen acht Ecken ansatzlos die geschärften Rundstäbe der identisch ausgebildeten Diagonalrippen und Gurtbogen des elegant weit gespannten Gewölbes ihren Ausgang nehmen. An den Wänden werden sie von kaum weniger präzise gearbeiteten Konsolen aufgenommen. In den einzelnen Jochen sorgen an den Längsseiten große Fenster für die Beleuchtung des Raumes: Sie besitzen eine vierteilige Binnengliederung, gebildet aus zwei zweibah-
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nigen Öffnungen, die jeweils von einem Vierpass abgeschlossen werden und auf denen wiederum ein einfacher großer Okulus ruht. Im unteren Drittel lassen sich an ihnen die für den gesamten europäischen Burgenbau so typischen Sitznischen finden. Hinsichtlich der Nutzung dieses zumindest für den deutschsprachigen Raum eher ungewöhnlichen Saals gibt es leider keine Quellen, sondern nur Vermutungen, wie jene, dass sich hier die Landgrafen mit ihren Gefolgsleuten versammelten. In dieser Weise wurde ebenfalls der Erker in der Mitte einer der Längsseiten interpretiert, in dem man gern den Ort des Thrones des Landgrafen sehen wollte (Klotz 1998, S. 354). Schließlich muss auch die bemerkenswerte zeitliche Koinzidenz zur Erhebung des Bauherrn, Heinrichs, in den Reichsfürstenstand auffallen (Großmann 2004, S. 111). Dessen ungeachtet sind Qualität und Anspruch der Architektur von Kapelle und Saalbau ein deutlicher Indikator dafür, dass es im 13. Jh. beim Neubau des Marburger Schlosses um mehr als um eine zeitgemäße Burg ging, sondern hier die Anlage einer dem Rang des Fürsten angemessenen Residenz im Fokus stand; darin ist sie nicht unähnlich dem, was in der zweiten Hälfte des 12. Jh.s der Herzog von Sachsen, Heinrich der Löwe (ca. 1129 – 90), in seiner Residenz in Braunschweig getan hatte. Stellen alle weiteren Bauten der Anlage spätere Ergänzungen dar – gerade des 15. Jh.s, als das Schloss noch einmal umfassend erweitert und umgewandelt wurde –, so ist eine heute noch partiell ablesbare, für Burgen der Zeit typische Eigenheit die in Marburg dem eigentlichen Kernbereich westlich vorgelagerte Vorburg (nur noch schwer rekonstruierbar), wo nicht zuletzt die Nutzbauten für Gesinde, Wirtschaft und Vieh sowie Küche untergebracht waren. Zudem verband ursprünglich eine Mauer die Burg direkt mit der im Tal gelegenen Stadt, ebenso wie die Anlage von einer weiteren vorgelagerten, turmbewehrten Mauer geschützt wurde.
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Die Predigerkirche in Erfurt Bettelorden und Reduktionsgotik
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it der Pfarrkirche S. María del Mar (□ vgl. 132) wird einige Nummern später ein Sakralbau benannt werden, bei dem im frühen 14. Jh. Reduktion weniger einen Bescheidenheitsgestus denn ein bewusst gewähltes Stilmittel – gleichsam ein frühes less is more – darstellte. Dieser katalanischen Kirche ist die etwas früher (gemäß dendrochronologischer Datierung des Dachstuhls) 1272 / 73 im Chorbereich vollendete und zwischen 1360 und den 1430er Jahren in mehreren Kampagnen stark erweiterte Predigerkirche in Erfurt (□ 113; Dehio-Thüringen 1998, S. 337; Pelizaeus 2004) zur Seite zu stellen. Sie ist Vertreterin einer großen Gruppe mittelalterlicher Sakralbauten, die in ähnlich zurückgenommener Weise, allerdings mit etwas anderer Motivation, weitgehend dekorlos errichtet wurden. Bereits das Äußere des auffällig langgestreckten, dabei nicht allzu hohen Baus (Gewölbehöhe ca. 20 m) demonstriert mit der schlichten Westfassade sowie dem Fehlen von großen Türmen – es gibt lediglich einen kleineren, funktionalen Glockenturm seitlich des Chores – und einem Querhaus Bescheidenheit. Der ehemals südlich von ihr 1278 / 79 fertiggestellte Kreuzgang zeigt umgehend, dass es sich hier nicht wie bei S. María del Mar um eine Pfarrkirche, sondern um einen Sakralbau einer mönchischen, in vita communis lebenden Gemeinschaft handeln muss. Mit den benediktinischen Abteikirchen |▶ 11, 16, 18| hat die Erfurter Kirche angesichts ihrer zurückgenommenen Architektur jedoch ebenfalls nur wenig gemein. Vielmehr ist sie mit einem erst im Jahrhundert ihrer Erbauung aufkommenden Phänomen bzw. Orden verbunden, zu dessen vornehmsten Aufgaben die Predigt gehörte, wie das nicht nur der heu-
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te allgemein übliche Name der Kirche, sondern auch jener des Ordens selbst verdeutlicht: Ordo fratrum Praedicatorum, im Deutschen allgemein Dominikaner genannt, die sich in Erfurt 1229 niedergelassen hatten. 1216 vom hl. Dominikus (1170 – 1221) gegründet, sind sie nach den Franziskanern (1209 / 10 vorläufig, 1223 endgültig durch den Papst approbiert) der zweite sog. Bettel- oder Mendikantenorden. Anders als die bisherigen verschiedenen Spielarten und Reformen des Ur-Mönchsordens, der Benediktiner, sind sie beide eng verbunden mit einer Armutsbewegung, die im 13. Jh. ganz Europa überzog und wesentlich mit der Faszination für Franz von Assisi (1181 / 82 – 1226) – einem der charismatischsten, bereits zwei Jahre nach seinem Tod kanonisierten Heiligen der westlichen Christenheit – zu tun hatte. Neben den Franziskanern und Dominikanern sind ihnen die um die Mitte des 13. Jh.s gegründeten Augustiner(eremiten) und Karmeliter sowie die jeweiligen weiblichen Ableger der Orden zuzuordnen |▶ 35|. Für sie alle charakteristisch sind die Besitzlosigkeit des Klosters, das Bestreiten des Lebensunterhalts aus eigener Arbeit sowie aus Almosen. Dies ist natürlich auch der Grund für die Bezeichnung ‚Bettelorden‘, in baulicher Hinsicht dagegen für das weitgehende Fehlen von Wirtschaftsgebäuden bei ihren Klosteranlagen. Die unmittelbare Verbundenheit mit den Stadtbürgern, das Primat der Seelsorge, die pragmatische und ‚erdennahe‘ Vermittlung und Aufrechterhaltung des Glaubens gerade durch die Franziskaner und Dominikaner zeigte sich nicht zuletzt darin, dass mit ihnen die Messe in der jeweiligen Landessprache zelebriert wurde und nicht mehr in Latein, das zu diesem Zeitpunkt den Wenigsten
Die Predigerkirche in Erfurt
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□ 113 Erfurt, Predigerkirche, Innenansicht (mit originalem Lettner): Vollendung des Chores 1272/73, Erweiterung der Anlage in mehreren Kampagnen zwischen 1360 und ca. 1440
noch verständlich war. Dem folgend, waren die Ordensprovinzen nicht nach administrativen Territorien, wie etwa Bistumsgrenzen, sondern nach Sprachgrenzen orientiert. Die herausgehobene Bedeutung der Seelsorge schloss bei allen von ihnen eine andere Ansiedlung als in den damals stark wachsenden bzw. gewachsenen Städten Europas weitgehend aus. Oft wurden dazu in diesen bis dahin unbesiedelte Restflächen genutzt. Deswegen errichtete man Bettelordenskirchen öfters an der Peripherie, in unmittelbarer Nähe der Stadtmauer oder
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auf infolge anderer unattraktiver Faktoren frei gebliebenen Flächen. Dies mag auch in Erfurt der Fall gewesen sein, wo sich die Kloster der Dominikaner und der hier bereits 1225 gegründeten Franziskaner – kaum mehr als 100 m voneinander entfernt – an zwei Ufergrundstücken nördlich und südlich der Gera gegenüberstehen: Möglicherweise hatte es sich um angesichts der Flussnähe schwierig zu bebauendes Gelände gehandelt. Wie sehr die Orden in den prosperierenden Städten ein Defizit beseitigten (die Dominikaner zumeist eher auf die Führungs-, die Franziskaner stärker auf die ärmeren Schichten der Bürgerschaft fokussiert), zeigt ihr rasanter Aufschwung, den sie im 13. und 14. Jh. nehmen sollten. Die Anfänge ihrer Etablierung scheinen dabei zunächst ein gewisses Improvisationsvermögen verlangt zu haben, während später ihr atemberaubender Erfolg innerhalb kürzester Zeit immer noch größere Neubauten notwendig machte. Beides lässt sich gut an Erfurter Beispielen, die innerhalb des deutschsprachigen Raums zu den frühesten Gründungen der beiden Mendikantenorden überhaupt gehören, belegen. So berichten zeitgenössische Quellen, dass sich die ersten Franziskaner 1225 zunächst einmal in einem damals ungenutzten Hospital niedergelassen hätten, bevor ihnen einige Jahre später von Bürgerseite das genannte Grundstück zugewiesen und ihr Neubau finanziert worden sei (Binding /U ntermann 1985, S. 336 – 339). Ebenso wissen wir bei der Predigerkirche, dass angesichts des stark gewachsenen Raumbedarfs ab ca. 1265 ein noch nicht einmal drei Jahrzehnte zuvor, d. h. 1238, geweihter Vorgängerbau in monumentaler Weise ersetzt wurde. Ähnlich wie schon bei den Zisterziensern weisen auch die Ordensregeln der Franziskaner und der Dominikaner Bestimmungen auf, die jeglichem Bauluxus Einhalt gebieten sollten. Dass es hier in der Tat grundsätzlich sehr ähnliche Auffassungen gab, zeigt allein schon
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die auffallende Nähe der Grundrisse früher italienischer Bettelordenskirchen zu solchen der Zisterzienser. Konkret sind bei den Franziskanern erstmals 1260 diesbezügliche Angaben zu finden: jene, dass die Kirchen mit Ausnahme des Altarbereichs ungewölbt zu sein hätten – und weiter: ,Weil aber Erlesenheit und der Überfluss direkt der Armut entgegenstehen, ordnen wir an, dass die Erlesenheit der Gebäude an Malereien, Tabernakeln, Fenstern und Säulen und dergleichen, ebenso das Übermäßige an Länge, Breite und Höhe möglichst streng vermieden werden [...].‘ Die bereits 1228 verfassten Constitutiones der Dominikaner enthalten hinsichtlich der Wölbung ähnliche Angaben, ebenso zur Turmlosigkeit und zur Kirchenhöhe, die 30 Fuß nicht überschreiten sollte (Binding / Untermann 1985, S. 331 – 336). Wie schon die erste Kurzbeschreibung der Erfurter Predigerkirche gezeigt hat, folgten die reali-
sierten Bauten nur teilweise solchen Beschränkungen. Ebenso bemerkenswert ist jedoch, dass das – zumindest relative – Streben nach Bescheidenheit bei den Dominikanern und Franziskanern letztlich zu erstaunlich ähnlich aussehenden Kirchen führte. Eindrucksvoll demonstrierte dies ehemals das kaum zu unterscheidende Äußere der betreffenden Anlagen in Erfurt (□ 114). Nach den starken Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg an der Franziskaner- oder Barfüßerkirche (deren Neubau ab 1291 wohl als Reaktion auf die benachbarte Predigerkirche), kann man sich in Erfurt nur noch in Letzterer ein authentisches Bild vom Inneren einer Bettelordenskirche machen. Es handelt sich bei ihr um eine homogen wirkende dreischiffige Basilika von eindrucksvollen 15 Jochen Länge, die im Osten in einem recht simplen, einschiffigen 5 / 8-Chorpolygon endet: eine eher seltene
□ 114 Erfurt, Barfüßerkirche, Außenansicht von Südost vor der weitgehenden Zerstörung im Zweiten Weltkrieg, ab 1291
Die Predigerkirche in Erfurt
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Lösung, wurde doch als Ostabschluss zumeist ein mehrjochiger einschiffiger Langchor bevorzugt, der den Mönchen vorbehalten war. Nur im Chorpolygon finden sich in der Erfurter Kirche schmale hochaufragende Fenster, deren Maßwerk mit den gestapelten (nach innen geöffneten) Dreipässen für eine Fertigstellung bis 1272 durchaus grundsätzliche Kenntnis prominenter gotischer Anlagen wie der Ste-Chapelle (bis 1245; |▶ 25) und deren Nachfolgebauten aufweist. In Variationen bleibt der Dreipass ein bestimmendes Motiv der ersten Kampagne, die die ersten fünf östlichen Joche umfasste und – mit Blick auf den noch existierenden Lettner – identisch ist mit dem vom Laienraum abgegrenzten Mönchschor. Die Hochschiffswand ruht auf schlichten, langgestreckten oktogonalen Pfeilern, die von einer schmalen Kapitellzone mit einfachem Blattwerk abgeschlossen wird. Ähnlich reduziert fallen die zweifach gekehlten Arkadenbogen aus. Die Einfachheit des Systems wird noch durch die fehlende Verzahnung von lastenden und tragenden Elementen, also von Gewölben und Pfeilern betont: So findet sich in den Arkadenzwickeln jeweils eine Konsole und darüber ein Runddienst, von dem die Rippen des Gurt- und der Diagonalbogen ihren Ausgang nehmen. Da eine Differenzierung zwischen beiden fehlt – beide sind jeweils einfache, gekehlte Rippen –, entfällt die jochweise Unterteilung des Kirchenschiffs weitgehend. Abgeschlossen wird die Hochschiffswand von kleinen zweiteiligen Maßwerkfenstern. In vereinfachter Form wiederholt sich das System in den auffallend hohen Seitenschiffen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Gewölbe nun direkt auf den Konsolen aufsitzen und dass die Fenster dreiteilig und damit erheblich größer ausfallen. Unter Verwendung eines in der deutschen Forschungsliteratur bereits in der 1. Hälfte des 20. Jh.s geprägten Begriffs spricht man hier – nun allerdings nicht nur die Bettelordenskirchen, sondern auch die erstaunlich große Anzahl vergleichbarer Phä-
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nomene des späten 13. und frühen 14. Jh.s mit einbeziehend – von ‚Reduktionsgotik‘, die in der Summe zu einer ‚neuen Klarheit‘ in der gotischen Architektur geführt habe (Gross 1948, S. 38 – 50). In für eine Bettelordenskirche ganz typischer Weise handelt es sich – trotz aller oberflächlichen Konformität – bei der Erfurter Predigerkirche um eine gemäß den geänderten Raumbedürfnissen peu à peu gewachsene Anlage. Dieses allmähliche, angepasste Wachstum konnte so aussehen, dass eine anfänglich lediglich einschiffige Kirche zunächst nur ein einziges Seitenschiff erhielt, um erst später zu einer dreischiffigen Anlage erweitert zu werden. Besonders häufig lässt sich das für Franziskanerkirchen nachweisen (vgl.: Salzwedel, Münster i. W.; Beispiele des 13. Jh.s für nur ein Seitenschiff u. a.: Höxter, Andernach, Metz, Visby; Schenkluhn 2000, S. 136). Noch üblicher war die jochweise Erweiterung nach Westen, wie das bei der Predigerkirche bis in das 15. Jh. hinein geschah. Einmal mehr auf die Bedürfnisse der Stifter und Spender, in diesem Fall zumeist der Bürger, zurückgehend, wurde auch bei den Dominikanern und Franziskanern bald schon von den verordneten Bescheidenheitsgeboten abgewichen (so bereits S. Francesco in Assisi, die vom Papst geförderte Grabeskirche des heiligen Ordensgründers; vgl. Einleitung). Beispiele verschiedener französischer und italienischer Bettelordenskirchen partiell kathedralhafter Größe und Gestaltung (vgl. z. B. Franziskanerkirche S. Maria Gloriosa dei Frari in Venedig, ab ca. 1340; Dominikanerkirche Ste-Madeleine in St-Maximin-la-Ste-Baume, ab 1295) oder mit Chorumgängen (vgl. u. a. die Franziskanerkirchen Ste-Madeleine in Paris und S. Lorenzo Maggiore in Neapel, ab 1266, sowie die Dominikanerkirche in Metz, um 1250; Schenkluhn 2000, S. 70) belegen, dass es sich dabei in späteren Zeiten um keinen Einzelfall handelt.
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Das Straßburger Münster Die Westfassade als Bauaufgabe
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ehr als andere Bauten der Zeit ist das Straßburger Münster von Planwechseln geprägt, die seine über mehrere Jahrhunderte dauernde Errichtung begleiteten. Gerade im Vergleich mit dem Kölner Dom, der trotz mehrhundertjähriger Bauzeit heute noch wie aus einem Guss wirkt, muss die eher schrittweise, die einzelnen Planungsstadien überdenkende und revidierende Vorgehensweise in Straßburg auffallen: Nach einem recht massiven, der Romanik zuzurechnenden Chor (ab ca. 1200) folgte um 1225 der Ausbau des Querhauses, das Kenntnisse französischer frühgotischer Architektur und Skulptur zeigt. Dieser Einfluss intensiviert sich deutlich in den 1240er Jahren mit dem Bau des Langhauses, der Straßburg nun ganz auf Höhe der zeitgenössischen Architekturentwicklungen zeigt: mit den vierteiligen Fenstern, mit unzweideutig an St-Denis (zweite gotische Erneuerung, ab 1231, □ vgl. 82) gemahnenden Bündelpfeilern und einer filigranen Auflösung der Hochschiffswände in verschiedenste Rundstabschichten. Dass dabei keine ähnlich schwindelerregenden Gewölbehöhen wie bei den französischen Vergleichsbauten erreicht wurden, verhinderten allein die Vorgaben des romanischen Chores und Querhauses. Gemeinsam mit der Kathedrale im benachbarten lothringischen Metz (Langhaus, 1240er Jahre) und dem Kölner Dom (Chor ab 1248) erweist sich das Straßburger Münster als einer jener Sakralbauten, die im zweiten Viertel des 13. Jh.s am Westrand des Heiligen Römischen Reiches in reinster Form zeitgenössische französische gotische Architektur des sog. style rayonnant rezipierten. Zweifellos hätte sein Langhaus mit den Bündelpfeilern und dem gänzlich
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transparenten dreiteiligen Aufriss (inkl. durchfenstertem Triforium) so auch an einer der Kathedralen im Königreich Frankreich errichtet worden sein können. Es zeigt sich, dass die Verfügbarkeit von Modellen, Ideen und Formen zu diesem Zeitpunkt bereits eine andere war als noch im vorhergehenden Jahrhundert, ermöglichte und vereinfachte doch das immer mehr an Bedeutung gewinnende Entwurfsmedium der Planzeichnung ( Themenblock · Der Architekt, Themenblock · Der Baubetrieb, S. 182 ) den S. 224; Austausch unter Architekten oder zwischen den Baustellen in einer bis dahin kaum gekannten Weise. Das ist zugleich der Grund, weshalb es nun andererseits deutlich schwieriger wird, die Abhängigkeiten zwischen einzelnen Bauprojekten klar zu definieren: weniger hinsichtlich der damals – zumindest im Reich – v. a. wirksamen allgemeinen Leitbilder der Kathedralen von Reims und Amiens sowie der zweiten gotischen Erneuerung von St-Denis als vielmehr hinsichtlich der Bezüge unter den Rezipienten. Unzweideutig weisen nämlich die genannten drei hochgotischen Bischofskirchen des Heiligen Römischen Reiches untereinander Ähnlichkeiten z. B. bezüglich der (vierteiligen) Fenster und im Aufriss auf. Daraus aber jeweils eine aufeinander aufbauende, unmittelbare Abhängigkeit und zeitliche Abfolge herauslesen zu wollen, wäre wohl verfehlt. Wie ein Blick z. B. auf die Kathedralen von Beauvais oder Clermont-Ferrand zeigt, teilen sie nämlich diese Eigenheiten auch mit zeitgleichen französischen Bauten; es scheint sich hier also eher um ein Zeitphänomen denn um eine jeweils direkte Beeinflussung und Abhängigkeit untereinander zu handeln. Den eigentlichen Höhe- und Endpunkt der allmählichen Entwicklungen am Straßburger
Das Straßburger Münster
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218 □ 115 Straßburg, Münster, Westfassade als von mehreren Architekten- und Bildhauergenerationen geformtes Gesamtkunstwerk: Baubeginn 1277, 1365 bis auf die Höhe der heutigen Plattform ausgeführt. Davon ausgenommen das oberste Geschoss der Mittelachse, dieses erst in den 1380er Jahren eingefügt; ab 1399 Freigeschosse des Nordturms von Ulrich von Ensingen, der durchbrochene Turmhelm (1429 – 39) von Johannes Hültz
III. Schlüsselwerke
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Neubauvorhaben stellt seine wahrlich spektakuläre Westfassade dar (□ 115, 116). Bis heute ist sie die eigentliche Dominante der Stadt, erhebt sie sich wie ein massiver Riegel hochhausgleich über Straßburg. In der Tat erscheint sie auf den ersten Blick wie eine überdimensionierte Ausgabe früherer, deutlich bescheidenerer Turmfassaden, wie sie sich im deutschsprachigen Raum z. B. noch an der Berliner Nikolaikirche oder am Braunschweiger und Havelberger Dom (12. / 13. Jh.) erhalten haben. Noch zutreffender ist aber wohl der Verweis auf die Kathedrale von Angoulême |▶ 14| mit ihrer ähnlich riegelartigen, das dahinterliegende Langhaus bei weitem überragenden Schaufassade. Wie dort erkennt man nämlich beim Nähertreten auch in Straßburg, dass es sich hier nicht nur einfach um eine monumentale, auf Fernwirkung abzielende Großform handelt, sondern die Hauptansichtsseiten in nun atemberaubender Feinheit ausgearbeitet sind; eine geradezu flirrende, fadendünne, als eigene Ebene frei dem gemauerten Fassadenkern vorgelegte Maßwerkschicht von hoher Komplexität, das sog. ‚Harfenmaßwerk‘, findet sich hier angelegt. Mit ihm werden nicht nur geschickt die Massivität des Kerns kaschiert, sondern auch die verschiedenen, durch die vier Strebepfeiler und zwei markante Horizontalgesimse voneinander getrennten Felder der Fassaden – drei in die Breite und drei in die Höhe –, die sich um die zentrale Maßwerkrose anordnen, zu einer Einheit verwoben. So schlüssig die Gestaltung der Fassade bei einer ersten Kurzbeschreibung auch erscheinen mag: Die stilistischen Unterschiede zwischen den beiden unteren und dem oberen Geschoss machen schnell deutlich, dass sie alles andere als aus einem Guss ist, und das nicht nur wegen des deutlich späteren Turm aufbaus an der Nordwestecke. Ähnlich wie das Langhaus erweist sich auch die Fassade als Produkt eines lang andauernden, von mehreren Planänderungen geprägten Entwicklungsprozesses, an dem zwischen
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dem ausgehenden 13. und dem späten 15. Jh. ein gutes Dutzend unterschiedlicher Architekten beteiligt war. Hinsichtlich des Aussehens der jeweiligen Planung gebliebenen Vorhaben ist man nicht allein auf Spekulationen angewiesen, hat sich doch in Straßburg zu einem relativ frühen Zeitpunkt und in ungewöhnlichem Umfang Planmaterial erhalten. Der erste damit in Verbindung zu bringende Plan – der um 1260, also bereits in der Zeit des Langhausbaus, entstandene Riss A (□ 116 links) –, der ausschnitthaft lediglich die rechte untere Hälfte der Fassade wiedergibt, fällt vergleichsweise bescheiden aus: Vollkommen ist er noch von der mehr oder weniger authentischen Spiegelung des Innenaufrisses (mit Arkaden, Triforium und Obergaden) dominiert, wobei die Proportionierung allerdings nicht exakt damit übereinstimmt. Das verwendete Maßwerk folgt ganz den Rayonnant-Formen, die das etwas ältere Langhaus kennzeichnen. Ebenso erscheinen die einzelnen Achsen hier im Vergleich zu
□ 116 Straßburg, Riss A (l.), um 1260; Riss B (r.), Wiedergabe der gesamten Fassade nach Bezold-Dehio (der originale Riss umfasst nur die linke Hälfte), Original von ca. 1275
Das Straßburger Münster
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den späteren Entwürfen recht deutlich durch die Strebepfeiler voneinander getrennt. All das ändert sich grundlegend mit dem auch in anderer Hinsicht Dimensionen sprengenden zweiten Entwurf zu diesem Vorhaben, dem um 1275 entstandenen sog. Riss B (□ vgl. 116 rechts). Spätestens hier wird evident, dass es um mehr ging als um die Lösung des einfachen Problems eines Westabschlusses einer Kirche. Vielmehr sollte damit ein Machtsymbol bisher ungekannter Dimension erstehen. Dass man nun mit einem derartigen Ehrgeiz an das Projekt ging, hängt mit einer geänderten Auftraggeberschaft zusammen: Bereits 1262 hatten die Straßburger – wie so manche andere europäische Bürgerschaft auch – ihren bisherigen Herrn, den Bischof, aus der Stadt vertrieben und sich die Verfügungsgewalt über das Münster angeeignet. Das neue, ab 1277 umgesetzte Fassadenprojekt erscheint demnach als ein gänzlich städtisches. Riss B zeigt die linke Hälfte einer Doppelturm anlage, die an französischen Vorbildern orientiert ist. An erster Stelle zu nennen wären hier sicherlich die Westfassade der Reimser Kathedrale oder der dortigen Abteikirche St-Nicaise. Wenn auch nur noch sehr zurückhaltend, so wird auch bei Riss B in den unteren Partien der Fassade der Aufriss des dahinterliegenden Langhauses ablesbar. Nur in den beiden Seiten achsen wachsen dann darüber die Türme frei auf. Während sie – sich allmählich zum Oktogon verjüngend – ihren oberen Abschluss in einem geradezu tabernakelartigen Aufbau finden, war in der Achse über der zentralen Rose lediglich eine filigrane Maßwerkgalerie vorgesehen. 1277 begann man nach diesem Plan mit der Ausführung der Westfassade, ein in seiner Zeit kaum weniger ambitioniertes gotisches Großprojekt auf Reichsboden als es etwas rheinabwärts der damals ebenfalls noch im Bau befindliche Chor des Kölner Domes darstellte. Trotz der genannten allgemeinen Verwandtschaft zu entsprechenden französi-
III. Schlüsselwerke
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schen Beispielen gibt es auch einige markante Unterschiede: Insgesamt fällt die Fassade (□ vgl. 115) nämlich demgegenüber deutlich flacher und filigraner aus. Ihre kostbaren, oft mit komplizierten Profilen arbeitenden Formen, das ‚Papierdünne‘, fast an die Preziosität von Goldschmiedekunst Erinnernde ihrer Architektur hat seinen Ausgangspunkt in der Gestaltung zweier eigentlich ‚untergeordneter‘ Fassaden: jener am Querhaus von Paris’ Notre- Dame, für dessen Nordseite ab ca. 1245 Jean de Chelles und ab 1258 Pierre de Montreuil für die Südseite verantwortlich zeichneten. Hinsichtlich des sicher virtuosesten Aspekts der Straßburger Westfassade bezog der planende Architekt seine Inspiration allerdings noch von einem anderen, ebenfalls eng mit der Pariser Architektur verbundenen Bau: von St-Urbain (□ vgl. 31), der 1262 von Papst Urban IV. an der Stelle seines Elternhauses in Troyes errichteten Stiftskirche, auf deren spektakulär filigrane Außenarchitektur sich – nun ins Monumentale gesteigert – die durchgängige Zwei‑, an einigen Stellen sogar Dreischichtigkeit der Straßburger Fassade zurückführen lässt. Besonders offensichtlich wird die Rücknahme von Plastizität zugunsten von Feinheit in Straßburg bei den drei großen Portalen. Sie sind nun nicht wie in Amiens, Reims oder anderen französischen Bauten als tiefe Trichter ausgebildet, sondern erscheinen fast schon wie in die Fläche geblendet, wodurch die drei Portale stärker als eine Einheit wirken. Dazu trägt auch das im Erdgeschoss durchlaufende System wimpergbekrönter Spitzbogen bei, das die Portale untereinander verbindet, deren reichste und plastischste Version sie gleichsam darstellen. Dass beides vom Entwerfer in der Tat als Einheit angesehen wurde, kommt zudem durch jeweils zwischen ihnen aufragenden Tabernakeln zum Ausdruck: ein Motiv, das über den Portalgiebeln zu noch schlankeren, kaum weniger hohen Fialen mutiert. Beides dient zugleich der geschickten
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Vermittlung zu den angrenzenden Ebenen, insbesondere in der zentralen Achse, wo die Fialen in den sicherlich atemberaubendsten Teil der hinsichtlich Monumentalität wie Feinheit kaum mehr zu steigernden Fassade überleiten: zur riesigen 16-blättrigen Fensterrose von 21 m Durchmesser. In einer zweiten Ebene werden deren rahmende Zwickelflächen in den Ecken von fast noch filigraner gearbeiteten Maßwerkschleiern gefüllt, die endgültig
vergessen lassen, dass es sich hier eigentlich um Steinarchitektur handelt. Technisch möglich wurde die schwebend leicht wirkende Architektur, wie schon bei der Ste-Chapelle |▶ 25|, nur durch den geradezu inflationären Einsatz eines anderen, durchaus sehr ‚substantiellen‘ Baustoffs, des Eisens, das an dieser Fassade – sichtbar und unsichtbar – in Form von Ankern und Klammern tausendfach zum Einsatz kam.
Die Kathedrale von Narbonne: Die Weiterentwicklung des ‚klassischen‘ gotischen Kathedralkonzepts
G
erne lässt man Darstellungen zu gotischer Architektur in Frankreich mit dem Tod König Ludwigs IX. (1270) oder sogar schon etwas früher enden. Damals habe die Innovationskraft jener neuen Architektursprache deutlich nachgelassen, so nur eine von vielen ähnlich lautenden Aussagen. In der Tat hat man dieser Phase gotischer Architektur letztlich weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt als den eineinhalb Jahrhunderten davor. Es kann deswegen kaum verwundern, dass die Kathedrale St-Just in Narbonne, Mutterkirche des ältesten Erzbistums des Languedoc, bis heute nicht den Sprung in den kunsthistorischen Kanon geschafft hat (□ 117, 118). Und das, obwohl sie mit ihren 41 m hohen Mittelschiffsgewölben – nur knapp hinter Amiens (42 m) – zu den größten Kathedralen überhaupt gehört und sie, da zwischen 1272 und 1332 errichtet, eigentlich eine ideale Brücke zwischen den zwei Stilphasen sein könnte, die man sich angewöhnt hat Hoch- und Spätgotik zu nennen. Man mag einwenden, dass die Kathedrale von Narbonne im
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Mittelalter ja kaum über den Chor hinausgekommen ist. Allerdings unterscheidet sie sich darin ja nicht sonderlich von anderen, weit prominenteren Bauten, wie das bereits ein kurzer Blick auf den Kölner Dom zeigt. Interessant ist die Kathedrale von Narbonne allein schon deswegen, weil wir aus einer Quelle des frühen 14. Jh.s erfahren, dass es explizites Anliegen der Auftraggeber – des Domkapitels und des Erzbischofs – gewesen sei, mit dem Neubauprojekt die ,edlen und großartig gearbeiteten Kirchen‘ im französischen Königreich zu imitieren („imitare ecclesiae nobiles“; Freigang 1992, S. 11). Sicherlich nicht ganz zufällig geschah das ausgerechnet ein Jahr nach der Inbesitznahme des Languedoc durch den französischen König 1271. Der generelle Entschluss für einen Neubau scheint allerdings nicht ganz so spontan gefasst worden zu sein, wie ein Ablass Papst Urbans IV. zu dessen Gunsten von 1266 zeigt. Bemerkenswert wäre der Bau schließlich aber auch schon wegen seines Äußeren, zeigt er doch – ähnlich wie
Die Kathedrale von Narbonne
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fast eineinhalb Jahrhunderte zuvor Abt Sugers St-Denis – noch einmal eindrucksvoll, dass weiterhin auch Sakralbauten im ganz praktischen Sinne militärisch verteidigungsfähige Objekte darstellen konnten. Denn das gesamte Strebewerk des Narbonneser Chores besitzt ein ausnehmend wehrhaftes Aussehen: mit seinen kleinen Türmchen, zwischen denen Bogen verlaufen, die in der Art zinnenbekrönter Wehrgänge ausgebildet sind. Sosehr es die genannte Quelle des mittleren 14. Jh.s betont, der gotische Neubau der Kathe drale von Narbonne, mit dem man einen wesentlich kleineren Vorgänger ersetzte, lässt sich nur schwer und unter Brüchen in die entsprechende Architektur der sog. Rayonnantgotik Frankreichs – also jene voll ausgereiften gotischen Bauformen um die Mitte des 13. Jh.s – einfügen. Nach derartig überreichen und zugleich gewaltigen Projekten wie den in den 1240er Jahren begonnenen Kathedralen von Beauvais ( □ vgl. 25), Clermont-Ferrand, Metz und Köln, oder auch solchen filigranen, virtuos-verspielten Preziosen wie St-Urbain in Troyes (ab 1262; □ vgl. 31) macht Narbonne in der Tat einen aufgeräumten, ja geradezu kahlen Eindruck: Anders als z. B. bei der fast gleichzeitig begonnenen Kathedrale im weiter nördlich gelegenen Limoges (ab 1263) gelten hier offensichtlich etwas andere Leitbilder als für Bauten, die in der Chartres-Reims-Amiens- bzw. St-Denis-Nachfolge standen, mit ihren kantonierten oder Bündelpfeilern und mittels verschiedenster Rundstabschichten strukturierten Hochschiffswänden. Mit Narbonne hatte nun die Masse, ja, die Massivität der Wand und die Wirkung der Großform als ganz eigener Wert wieder in die Architektur zurückgefunden. Sie ist darin dem fast 75 Jahre älteren Bourgeser Kathedralprojekt (□ vgl. 88) nicht unähnlich. Vergleichbar erscheinen beide schon angesichts ihrer großen Individualität, die sich jeweils nur partiell an frühere gotische Architektur anschließen lässt: ein Bruch, der zumindest
III. Schlüsselwerke
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im Fall von Narbonne zu Teilen mit fehlender Kontinuität erklärt werden könnte, lag doch mit Beauvais (beg. in den 1240er Jahren) der Beginn des letzten großen Rayonnantprojekts auf französischem Boden schon über ein Vierteljahrhundert zurück. Wie in Bourges scheint für die ungewöhnliche Lösung in Narbonne aber v. a. die Ferne vom französischen Kernland das eigentlich ausschlaggebende Moment gewesen zu sein. Sie mag den Druck, bestimmten Traditionen folgen zu müssen, etwas gelockert und eine individuellere Lösung ermöglicht haben. Wie auch immer, bemerkenswert ist zweifellos, dass hier in der ‚Peripherie‘ nicht einfach blind die Pariser und französische Architektur allgemein rezipiert wurde, sondern man im Detail mit eigenen neuen Ideen zur Weiterentwicklung gotischer Architektur beitrug. Allerdings wäre ohne die angeführten älteren Bauten, bei aller Individualität, natürlich auch die Kathedrale von Narbonne nicht denkbar. Das wird besonders deutlich bei der – allgemeinem Standard gotischer Bauten entsprechenden – Chorlösung mit Umgang und Radialkapellen. Eine offensichtlich auf die Kathedrale von Clermont-Ferrand (ab 1248) zurückgehende Eigenheit ist es demgegenüber, die beiden □ 117 Narbonne, Kathedrale, Grundriss der bis 1332 vollendeten Partien
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äußersten Seitenschiffe eines fünfschiffigen Chores in Einzelkapellen mit polygonalem Schluss auszubilden. Gänzlich neu ist in Narbonne die Gestaltung der Detailformen. Schon in der ersten Bauphase, die sich auf den Kapellenkranz beschränkte (um 1290 fertiggestellt; die Maßwerke wurden später ergänzt), findet sich an den Wandpfeilern eine bemerkenswert fortschrittliche Lösung, die in mancher Hinsicht bereits auf spätgotische Architektur vorausweist: Nur unterbrochen durch eine ausnehmend schmale, von zwei schaftringartigen Gebilden abgesetzte Kapitellzone werden die Profile der Gewölberippen über die Wandvorlage weitergeführt und auf diese additive Weise der Grundriss der Bündelpfeiler geschaffen. Am etwas später ausgeführten Inneren, aber wohl dem Urplan angehörenden Chorpolygon (bis 1310; einschließlich der Triforiumsinnenwand) ist diese Idee interessanterweise mit einer weit weniger filigranen Form – nämlich mit für die Zeit und einen Kathedralbau eher ungewöhnlichen simplen, voluminösen Rundpfeilern – kombiniert. Grundsätzlich der älteren Lösung in Bourges nicht unähnlich, werden ihnen in teilweise recht weiten Abständen nun keine Dienste, sondern die entsprechenden Rippenprofile ‚appliziert‘. Die Scheidbogen der Arkaden sind dabei mitunter sogar direkt in die runde Pfeilerform ‚gesteckt‘: Das lastende Element wird also unter Verzicht eines Kapitells unvermittelt in das tragende Element übergeleitet. Mit Blick z. B. auf die seitlichen Vorhallen von St-Urbain in Troyes (ab 1262; □ vgl. 31) stellt das damals keine ganz neue Idee mehr dar. Die Kathedrale von Narbonne aber ist jener Bau, in dem diese für die weitere gotische Architektur wichtige Innovation zum ersten Mal konsequent für die Gestaltung eines gesamten Innenraumes genutzt wurde. Weiterhin getreulich dem ursprünglichen Entwurf bildet auch in der nachfolgenden Bauphase das Arkadengeschoss mit dem restlichen Wandaufriss eine schlüssige Einheit. Erneut
□ 118 Narbonne, Kathedrale, Innenansicht des Chors, 1272 – 1332
sehr ähnlich wie in der Kathedrale von Clermont-Ferrand werden in Narbonne Triforium und Obergadenfenster zu einer Einheit verschmolzen, indem die Rundstäbe der Letzteren bis hinunter auf jenes Gesims geführt sind, das beide Zonen von den Arkaden scheidet. Einmal mehr Clermont-Ferrand gleichend, erfahren die einzelnen Triforienöffnungen Betonung durch eine eigens aufgelegte Rundstabschicht, die die Zone gegenüber den Fenstern etwas hervortreten lässt. Zwischen den einzelnen Obergadenfenstern, die mit feinteiligem, bereits deutlich
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auf das 14. Jh. hinweisendem Maßwerk ausgestattet sind, finden sich auffallend große glatte Wandflächen, die lediglich durch aufgelegte Dienstbündel etwas Belebung erfahren. Wie bei früheren gotischen Bauten sind diese nach wie vor den Gewölben zugeordnet – doch wie wenig haben die geradezu spindeldürren Gebilde mit den vollrunden Diensten älterer Bauten gemein. Mehr noch als diese ist das Narbonneser Gliederungssystem nun in der Tat gänzlich zeichenhaft zu verstehen. Die mehrmalige Erwähnung von Clermont- Ferrand muss auffallen. Und tatsächlich wird für beide Kathedralen ein Jean Deschamps als planender Architekt genannt. In Clermont-Ferrand kennen wir seinen Namen und seine Tätigkeit aufgrund der Grabplatte des Architekten ( Themenblock · Der Architekt, S. 224), während in Narbonne überliefert ist, dass am 28. November 1286 eine Person dieses Namens zum leitenden Baumeister ernannt worden sei. Ebenso kann man annehmen, dass er nicht nur an der
Kathedrale tätig war, sondern auch für die Ausführung des neuen erzbischöflichen Palastes verantwortlich zeichnete. Es ist früher versucht worden, um diesen Namen ein umfassendes Œuvre mit verschiedenen Kathedralen des Südens zu rekonstruieren, einschließlich jener von Rodez, Toulouse und Limoges. Berechtigterweise ist daran Kritik geübt worden. Gleichwohl ist immer noch nicht abschließend geklärt, ob es sich dabei tatsächlich um eine einzige Person, mehrere gleichnamige Angehörige derselben Sippe oder aber nur um eine rein zufällige Namensähnlichkeit handelt. Dazu muss man wissen, dass dieser Name ungefähr so spezifisch ist wie heute im Deutschen ‚Hans Müller‘. Ob der Entwurf der erzbischöflichen Kathe drale von Narbonne ein Spätwerk des Architekten der Kathedrale von Clermont-Ferrand ist oder nicht, dieser Bau wird uns jedenfalls Mitte des 14. Jh.s überraschenderweise an einem ganz anderen Ort in Europa, nämlich in Prag, wieder begegnen |▶ 41|.
Der Architekt und seine soziale Stellung
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ie Bezeichnung ‚Architekt‘, die bereits in der Antike für den berufsmäßigen und sozial hochgestellten Entwerfer eines Bauwerks stand, tritt im Mittelalter lange Zeit gemeinsam mit anderen, recht uneinheitlichen Benennungen auf: In großer Vielfalt und mitunter sehr unpräzise ist in den zeitgenössischen Quellen von magister (Meister), magister la thomorum (Meister der Steinmetze) oder magister lapicidae (Steinmetzmeister) die Rede, alternativ in Frankreich von maître de l’ouvrage (Werkmeister) oder maître de maçon (Steinmetzmeister), im deutschsprachigen Raum (ab dem 14. Jh.) auch von werkmestere (Bürger / Klein 2009 / 2010). Andererseits kennen natürlich bereits mittelalterliche Quellen den Begriff architectus (vgl. Speyerer Dom,
III. Schlüsselwerke
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11. Jh.) oder alternativ schlicht den des artifex (Kunstfertigen) oder aedificator (Erbauer; Modena, 11. Jh.: mirabilis artifex, mirificus aedificator). Zwar zeigt gerade die häufige Verwechslung der Rolle des planenden Entwerfers mit jener des rein administrativen magister fabricae / operis ( Themenblock · Der Baubetrieb, S. 182), wie sinnvoll eine genaue Differenzierung der Begrifflichkeiten ist. Gleichwohl soll angesichts einer fehlenden einheitlichen mittelalterlichen Terminologie und der Einfachheit halber im Folgenden weiterhin der etablierte, allgemeine Begriff ‚Architekt‘ Verwendung finden. Gemeinsam mit sechs weiteren recht praktischen Tätigkeitsfeldern wie Handel, Medizin oder Garten-
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und Ackerbau wird die Architektur im Mittelalter den artes mechanicae zugerechnet, wenn auch als eine eng mit der Geometrie – einer der sieben artes liberales, also der Freien Künste – verbundenen. Angesichts einer solch pragmatischen Sichtweise mag es nicht verwundern, dass für diese Epoche der Architekturgeschichte theoretische Traktate fehlen – einmal abgesehen von den sehr späten, eher wie Entwurfsanleitungen zu lesenden „Büchlein von der Fialen Gerechtigkeit“ (1486) des Regensburger Dombaumeisters Matthäus Roritzer oder dem „Fialenbüchlein“ von Hans Schmuttermeyer (beide gedruckt), die immerhin interessante Einblicke in die spätmittelalterliche Entwurfstechnik geben (Coenen 1990). Gleichwohl heißt das nicht, dass man sich für Architekturtheorie gar nicht interessiert hätte: Vitruvs „De architectura libri decem“ (22 – 14 v. Chr.) sind ja letztlich nur dank der im Mittelalter in erstaunlich großer Zahl angefertigten Kopien auf uns gekommen. Dabei zeigt sich anhand der in ihnen abgehandelten Themen (Ausbildung des Architekten; verschiedenste Bauaufgaben; Städtebau; Wasserleitungen; Entwurf von Maschinen oder Gerüstkonstruktionen für den Bau etc.), dass die Aufgaben des mittelalterlichen Architekten sich letztlich nicht allzu sehr von jenen des antiken unterschieden (vgl. das Themenspektrum im sog. Skizzenbuch des Villard de Honnecourt). Ähnlich wie in der Antike sind anfänglich auch im Mittelalter von den Architekten kaum mehr als deren Namen bekannt, oft sogar nur deren nichtssagende Vornamen. Grundlegend ändert sich das – bei allen regionalen Unterschieden – erst mit dem 13. Jh. Bedingt ist das zum einen durch Änderungen in der Bauplanung und -leitung, die den Architekten bereits stärker zu dem machten, was man heute darunter versteht, verbunden mit einem deutlichen Anstieg des sozialen Status. Zum anderen hat es aber mit der verbesserten Quellenlage zu tun, die nun auch Kenntnisse über Verträge, Besitz und
selbst über gewisse Aspekte des Privatlebens zulässt. Wie die Beispiele der Dome von Modena und Pisa |▶ 7, 9| zeigen, gibt es zumindest südlich der Alpen bereits seit dem 11. Jh. an prominenter Stelle angebrachte, auf Architekten bezogene Inschriften. Ausführlich wird in ihnen das Werk des – allerdings nur mit seinem Vornamen genannten – Planenden gerühmt. Über die Persönlichkeit selbst, ihre jeweilige Herkunft etc. erfahren wir jedoch recht wenig. Die früheste vergleichbare Bauinschrift nördlich der Alpen ist wohl diejenige des an der Aachener Pfalzkapelle genannten Odo von Metz, allerdings in enger Verbindung mit dem prominenten Stifter, Karl dem Großen, oder 1209 der an St. Quirin in Neuss für die Grundsteinlegung benannte Meister Wolbero. Einer der wenigen Architekten im deutschsprachigen Raum, über den bereits Mitte des 13. Jh.s genauere Informationen vorliegen, ist Magister Gerardus. Dem Nekrolog des Kölner Klosters St. Pantaleon zufolge war er der initiator nove fabrice ma ioris ecclesie, d. h. des ab 1248 ins Werk gesetzten Kölner Doms |▶ 26|. In einer ebensolchen Quelle taucht Gerardus dann mit großer Wahrscheinlichkeit ein weiteres Mal im Benediktinerkloster in Mönchengladbach auf, nun als lapicida de summo. Es scheinen eher die großen planerischen Leistungen dieses Steinmetzen und Leiters der Kölner Kirchenfabrik (magistro Gerardo lapicide rectori fabrice ipsius ecclesie) gewesen zu sein und weniger die Leitung des laufenden Bauprojekts, für die er 1257 – also gerade einmal neun Jahre nach der Grundsteinlegung des Doms – großzügige Belohnung erhielt: eine vom Domkapitel gewährte günstige Erbpacht für ein Grundstück, auf dem der Architekt zuvor ein Haus zu seiner eigenen Nutzung errichtet hatte – gemeinsam mit weiteren, die ihm in Köln gehörten; ein guter Beleg für dessen hohe soziale Stellung. Gerardus erweist sich damit als Zeitgenosse jener Architektenpersönlichkeiten, die seit Anfang
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des 13. Jh.s im Kernland der Gotik, in Frankreich, konturierter in Erscheinung treten. Dass es gerade hier zuerst zu einer gesellschaftlichen Aufwertung des Berufs kam, erscheint nur folgerichtig, wurden doch in diesen Regionen mit Abstand die meisten Bauprojekte realisiert und zugleich die größten Innovationssprünge vollzogen. Ein erster Beleg dafür, dass damit auch auf anderer Ebene neue Standards Einzug hielten, ist das Grabmal Jean Deschamps’ in der Kathedrale von Clermont (Kimpel / Suckale 1985, S. 456, 501). Ebenfalls ein Begräbnis in einem von ihm selbst entworfenen Bau erhielt der 1267 verstorbene Architekt Pierre de Montreuil, der in der Marienkapelle der Pariser Abteikirche St-Germaindes-Prés neben dem für die Kapellenstiftung verantwortlichen Abt beigesetzt wurde. In beiden Fällen bedeutete das damals für Laien ein nicht selbstverständliches Privileg, das im Weiteren allerdings viele von Pierres Berufsgenossen teilen sollten. Als Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins des Berufsstandes lassen sich ab der zweiten Hälfte des 13. Jh.s in Frankreich – vergleichbar dem fast zeitgleich in Italien auftretenden Phänomen des ‚Künstlerlobs‘ (Claussen 1981) – zahlreiche Dokumente der Selbstinszenierung von Architekten finden. Sie wirken auf den ersten Blick geradezu wie eigenhändige Signaturen und Datierungen ihrer Arbeiten, um sich dann aber als Phänomene zu erweisen, die erst auf ihre Nachfolger des späteren 13. Jh.s zurückgehen. Solches trifft schon auf eine Mitte des Jahrhunderts am Amienser Südquerhausportal ausgearbeitete Inschrift zu, die das Jahr der Grundsteinlegung mit dem Namen des damals wohl nicht mehr lebenden ersten Architekten der Kathedrale, Robert de Luzarches, verbindet (vgl. auch die Inschrift zu Erwin von Steinbach am Straßburger Münster, |▶ 30|). Das zweifellos prominenteste Beispiel ist jedoch die nach 1258 entstandene Inschrift am Südquerhaus von Notre-Dame in Paris (10 m Länge, 8 cm Höhe). Wiederum von seinem Nachfolger, dem bereits
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genannten Pierre de Montreuil, initiiert, wird in ihr Jean de Chelles, der Entwerfer des ab ca. 1245 ausgeführten Nordquerhauses, auch als derjenige erwähnt, der das Südquerhaus begann. Als besonders eigenwillige und bemerkenswerte Phänomene des gestiegenen Selbstbewusstseins bzw. des Ansehens von Architekten sind sicherlich die 1288 bzw. zwischen 1287 und 1311 in die Fußböden der Kathedralen von Amiens und Reims eingearbeiteten Labyrinthe anzusehen (□ vgl. 96). In beiden Fällen wurden sie von den jeweils letzten Baumeistern der Neubauprojekte initiiert. Dasjenige in Amiens wies in der Mitte eine Gedenkinschrift auf, die das Jahr der Grundsteinlegung, 1220, gemeinsam mit dem Namen des damals amtierenden Bischofs, Evrard de Fouilloy (1211 – 22), bzw. des französischen Königs nannte. Besondere Sorgfalt wurde auf die drei verantwortlichen Baumeister Robert de Luzarches und Thomas bzw. Regnault de Cormont sowie auf deren exakte zeitliche Abfolge gelegt. Ähnlich fiel das Labyrinth in Reims aus, dessen achteckiger Irrgang sich nun an den Diagonalseiten zu kleineren, wiederum achteckigen Seitenfeldern erweiterte. In ihnen waren die vier aufeinander folgenden Architekten Bernard de Soissons, Jean d’Orbais, Jean le Loup und Gaucher de Reims mit ihren Amtsdaten und den von ihnen ausgeführten Bauabschnitten wiedergegeben. Mit großer Wahrscheinlichkeit fand sich in ihrer Mitte der zur Grundsteinlegung amtierende Erzbischof, Aubri de Humbert (1207 – 18). Bemerkenswert ist, dass die Kirchenmänner die Architekten überhaupt in dieser Weise gewähren ließen: Denn selbst wenn in Amiens und Reims die (Erz-)Bischöfe ebenfalls dargestellt waren, hatten derartige Labyrinthe keinerlei religiösen Hintergrund. Den alleinigen Schlüssel zur Bedeutung der erstaunlichen Monumente liefern die für sie im Französischen gebräuchlichen Bezeichnungen dédale oder maison Dédalus (Haus des Daidalos). Demnach sind sie als Hommage an den mythischen Daidalos, den genialen Baumeister, Erfinder und Techniker der Antike zu verstehen – wenn man so will, an den Urahnen
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der Architekten, der in Knossos auf Kreta für König Minos das Labyrinth als Gefängnis des Minotaurus errichtet hatte (vgl. die Inschriften am Dom in Pisa, an S. Martino in Lucca [11.–12. Jh.] und an der ab 1171 ausgeführten Mailänder Porta Romana, hier: Hoc opus Anselmvs Dedalvs alter; Claussen 1981). Eine ungewöhnlich gut dokumentierte Persönlichkeit, an der sich die dramatische Veränderung des Architektenstandes im 13. Jh. bestens ablesen lässt, ist genannter Pierre de Montreuil, cementari us (Maurer) de Sancto Dyonisio (1247) bzw. magis ter operum beatae Mariae Parisiensis (1265). Dass Pierre aus seiner Tätigkeit beachtlichen finanziellen Gewinn schlug und mit diesem auch wirtschaftete bzw. sich weitere Einnahmequellen verschaffte, belegen der Besitz und Verkauf von Grundstücken in Paris und im weiteren Umland. Er ist darin u. a. dem 1260 verstorbenen John of Gloucester, dem Baumeister des englischen Königs, verwandt. Besonders interessant muss in diesem Zusammenhang zweifellos Pierre de Montreuils Besitz eines Steinbruchs bei Conflans erscheinen, von dem vermutet werden darf, dass er ihn direkt mit seinen Architekturentwürfen ‚vermarktete‘. Dass eine solche Form zusätzlicher Einkünfte durchaus häufiger und auch nicht nur in Frankreich zu finden ist, zeigt das Beispiel Hans Krumenauers. 1405 belehnt ihn Herzog Johann III. von Straubing-Holland mit einem Steinbruch in Kapfelberg bei Regensburg: in eben jenem Jahr, in dem Krumenauer zum Dombaumeister im 100 km donauabwärts gelegenen Passau ernannt wurde, wo dann genau dieses Material zur Anwendung kam.
des-Prés, die ihn als doctor lathomorum, d. h. als ‚Professor der Steinmetze‘ bezeichnete und diesen Berufsstand damit in geradezu akademische Sphären erhob (Kimpel 1989). Das früheste erhaltene Beispiel (□ 119), das uns einen Architekten in derartiger Weise bildlich präsentiert, ist die Grabplatte von Hugues Libergier (gest. 1263): gemäß der Inschrift der für die Westfassade und das
Bemerkenswert war aber auch die Inschrift auf Pierre de Montreuils Grabmal in St-Germain□ 119 Grabstein von Hugues Libergier (gest. 1263), von 1229 – 63 Architekt der Reimser Abteikirche St-Nicaise. Seine Grabplatte befand sich ehemals ebendort, heute ist sie in der Reimser Kathedrale.
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Langhaus der Reimser Abteikirche St-Nicaise Verantwortliche (Auftragserteilung 1229, Baubeginn 1231). Seine elegante Tracht gibt ihn in der Tat als einem intellektuellen Beruf zugehörig zu erkennen, am wahrscheinlichsten jenem eines Notars. Außer Frage steht, dass Architekten spätestens damals, wohl aber schon zuvor, Spitzenverdiener waren, zumindest, wenn sie zu den führenden Kräften ihrer
Zunft und nicht zum Gros der aus dem Kontext des Steinmetzhandwerks entstammenden Bauhandwerker gehörten, die mit weniger anspruchsvollen Aufgaben wie einfachem Häuserbau betraut waren. Hugues Libergiers filigrane Werkzeuge – u. a. ein Handzirkel und ein Richtscheit – sind ein deutlicher Hinweis auf den damals bereits erreichten hohen Abstraktionsgrad seiner Tätigkeit. Ehemals eher einem handwerklichen, praktisch geprägten Milieu zugehörend, waren Architekten spätestens mit dem 13. Jh. zu hochspezialisierten Experten avanciert, was eng mit den neuen durch maßstäblich verkleinerte Planzeichnungen ermöglichten Themenblock · Arbeitsmethoden zusammenhing ( Der Baubetrieb, S. 182). Der um 1230 (?) entstandene Reimser Palimpsest, das Skizzenbuch des Villard de Honnecourt (ca. 1230 – 40), die Risse der Straßburger Westfassade (ca. 1250 / 55) oder der Plan F der Westfassade des Kölner Doms (um 1280 / 1300; □ 120) sind dafür verschiedenartige frühe Beispiele. All dies ersetzte die ältere Planung im Maßstab 1 : 1, bei der man zuvor u. a. mit Messlatten und großen Bodenzirkeln einzelne Partien des Projekts auf einem mit Gips bedeckten Reißboden in Originalgröße festgehalten hatte. Dass sich dieser Berufsstand nun tatsächlich nicht mehr die Hände schmutzig zu machen brauchte, bringen beredt Libergiers Handschuhe zum Ausdruck – eine Entwicklung, an der sich im Übrigen sogleich die zeitgenössische Kritik entzündete (Kimpel / Suckale 1985, S. 227). Trotz dieser gegenüber früheren Perioden geradezu revolutionären Neuerungen arbeitete man in bestimmten Bauphasen nach wie vor im Maßstab 1 : 1. Davon künden die auch im 13. Jh. weiterhin zu findenden Reißböden, auf denen über in Realgröße aufgerissenen Zeichnungen die für den Versatz bestimmten, zumeist sehr komplizierten Elemente wie Maßwerkfenster, Strebebogen etc. vorab ausgelegt wurden, um so □ 120 Köln, Dom, Plan F der Westfassade, 1280/1300
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deren Passgenauigkeit zu testen (vgl. York, Clermont, Narbonne; □ vgl. 126). Die neue, gegenüber früher stärker vorausplanende Vorgehensweise hatte auch in anderer Hinsicht Folgen: Musste der Baumeister bis dahin ständig vor Ort sein, um die Arbeiten zu beaufsichtigen, so konnte er nun in der Art eines Architekten unserer Tage die wesentlichen Planungen bereits vorab im verkleinerten Maßstab zu Papier – bzw. besser: zu Pergament – bringen. Das neue zweidimensionale Planungsmedium förderte zugleich die Verkomplizierung und Verfeinerung der Entwürfe, ebenso wie jetzt diese Ideen in nicht gekannter Weise Verbreitung finden konnten. Dem Architekten gewährte der neue Arbeitsprozess letztlich eine geradezu Themenblock · Der Baubetrieb, moderne Mobilität ( S. 182), da er nun zur gleichen Zeit für mehrere, auch weit auseinander gelegene Projekte tätig sein konnte. Ein gutes Beispiel dafür ist Gautier de Varinfroy: Sein Vertrag mit dem Kapitel von Meaux (1253) enthält erstmals einen bemerkenswerten Passus, der ihm parallel dazu das Arbeiten an der Kathedrale im normannischen Evreux erlaubt. Gautiers Fall zeigt zudem, wie wenig gesichert damals von einem Personalstil eines einzelnen Architekten auszugehen ist. Gäbe es die Schriftquellen nicht, ließen sich die von Gautier an beiden Bauten ausgeführten Arbeiten in der Tat kaum auf ein und denselben Entwerfer zurückführen (Kurmann / von Winterfeld 1977). Solche Mehrfachverpflichtungen nehmen im 14. Jh. zu, ja, werden – zumindest was die Spitzenkräfte anbetrifft – geradezu zum Normalfall. Jacques de Fauran und seine Tätigkeit an den Kathedralen in Narbonne und Girona wäre hier ein erstes Beispiel. Letztlich lassen die beschriebenen Veränderungen das Bild des Architekten deutlich tiefenschärfer werden, erfahren wir doch z. B. schon bei Gautier oder dem lothringischen Architekten Pierre Perrat (gest. 1400) sehr viel mehr über Absenz- und
Kündigungsregelungen, die Bezahlung in Geld wie Naturalien, ebenso über die Erstattung der Reisekosten inkl. der Versorgung der für die Reisen benötigten Transporttiere. Im 15. und 16. Jh. wird dann nicht nur die Kenntnis der Architektennamen geradezu eine Selbstverständlichkeit (z. B. in den Listen von Steinmetzbruderschaften). In sehr moderner Weise liegen nun auch Bewerbungs-, Empfehlungs- und Anforderungsschreiben der Architekten vor, mit denen sich ein recht klares Bild hinsichtlich ihrer Selbsteinschätzung oder ihrer Beurteilung durch Dritte gewinnen lässt. Ebenso sind aus Briefen etc. endlich zuverlässige Angaben über das gesamte Betätigungsfeld eines damaligen Architekten zu erhalten. Die Standardformulare, die für derartige Bewerbungsschreiben erstmals im 15. Jh. nachweisbar sind, belegen zudem, wie weit verbreitet solche damals schon waren (Bischoff 2009). Auch uns heute wohlvertraute Phänomene wie die Unterbreitung von Dumpingpreisen lassen sich in diesem Zusammenhang finden, in gleicher Weise Referenzlisten von Bauten, mit denen der Architekt gegenüber dem potentiellen neuen Auftraggeber seine fachliche Kompetenz und seinen Erfolg zu dokumentieren suchte. Die Initiative konnte natürlich auch von Letzterem selbst ausgehen. So wissen wir, dass die Mailänder Dombauhütte 1391 den Steinmetzen und Bildhauer Johann von Fernach beauftragte, im süddeutschen Raum nach einem geeigneten Werkmeister für das Mailänder Bauvorhaben Ausschau zu halten. Ebenso lassen sich damals schon wahre Netzwerke nachweisen: Gemeint ist damit weniger die Weitervermittlung ehemaliger Mitarbeiter an andere Baustellen als vielmehr das zunehmende Auftreten ganzer Familienclans, die über Generationen hinweg das Bauwesen einer Region dominierten. Prominente Beispiele dafür sind die Parler im 14. / 15. Jh., die aus Mecheln stammenden Keldermans im 15. / 16. Jh. oder schließlich die im 15. Jh. im süddeutschen Raum tätigen Baumeisterdynastien der Ensinger, Böblinger, Eseler und Roritzer.
Der Architekt und seine soziale Stellung
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Der Dom von Florenz Ehrgeiz der Stadtkommune
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ie bisher vorgestellten gotischen Bauten mögen – bei aller Lösungsvielfalt im Detail – eine recht stringente, bruchlos erscheinende Genese gotischer Baukunst nördlich der Alpen suggerieren, für deren erfolgreiche weitere Ausbreitung auch in Richtung Süden auf den ersten Blick der Mailänder Dom (|▶ 44|, □ vgl. 151) als Beleg dienen könnte. Dass dieser recht getreue Rezipient allerdings eher die Ausnahme denn die Regel darstellt, zeigt bereits das Beispiel des etwas älteren Florentiner Doms S. Maria del Fiore (□ 121, 122). Deutlich weist seine Architektur generelle Kenntnis derselben auf, so z. B. die Strebepfeiler, Kreuzrippengewölbe, Dreiecksgiebel über den Fenstern und ebenfalls die anderen damals und etwas früher in Florenz entstandenen Sakralbauten, die nun aber zu etwas ganz Neuem, Eigenständigem umgedeutet worden war: Anstatt der damals immer komplizierter und detailreicher werdenden Gestaltung, wie sie typisch ist für tatsächlich gotische Sakralbaukunst, findet sich hier nun ein ausnehmend reduzierter, fast schon minimalistisch zu nennender Raum, der auf gänzlich andere, d. h. großformatigere Effekte setzte. Großen Prunk entfaltet der Dom allerdings am Außenbau, wo seine Backsteinarchitektur nach einem kleinteiligen Dekorationssystem, das v. a. durch Bänder und rechteckige Felder gebildet wird, mit regionalem weißem, grünem und dunkelrotem Marmor verkleidet ist (partiell erst im 19. Jh. ausgeführt, vgl. z. B. Westfassade). Kräftigere strukturierende Elemente in dieser bemerkenswert flächigen Binnengliederung stellen lediglich die vier dezent vortretenden Strebepfeiler an den Langhausseiten und die Blendarkaden am Chor dar.
III. Schlüsselwerke
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Wie ambitioniert auch das Vorhaben der neuen Bischofskirche in Florenz im 14. Jh. war, zeigt bereits ein Blick auf den Vorgängerbau des 11. Jh.s, den er ersetzte. Grabungen zufolge handelte es sich um eine im Vergleich zum Neubau geradezu winzige Anlage, kaum länger als zwei Drittel des Langhauses und mit einem fünfteiligen Staffelchor ausgestattet, dessen äußere Kapellen querhausartig über die Flucht der eigentlichen Kirche hinausragten – das 38 m breite neue Langhaus ummantelt ihn fast perfekt. Ganz anders demgegenüber der Neubau, der bereits hinsichtlich seines Bauvolumens um ein Vielfaches größer ausfiel. Man hat es hier allerdings nicht mit einem Projekt aus einem Guss zu tun. Vielmehr entwickelte es sich erst im Laufe der Jahrzehnte zu dem heute zu sehenden Ergebnis weiter. Viel sagt es über den steilen Aufstieg aus, den Florenz um 1300 aufgrund seines wirtschaftlichen Erfolges nahm. Wie schon bei früheren Beispielen in Italien |▶ 7| ist das Vorhaben wiederum nicht eigentlich ein bischöfliches – der Bischof tritt in keiner der Quellen als Bauherr auf –, sondern eines der Kommune (dazu passend das ungewöhnliche Fehlen eines das Domkapitel und den Bischof klar abgrenzenden Chores), insbesondere der reichen Tuchhändler- und Wollweberzünfte (Braunfels 1964, S. 67; vgl. dazu auch die Aussage einer Quelle von 1367, der Dom sei ,zu Ehren und Lob Gottes und der Jungfrau Maria sowie zu Ehren der Gemeinschaft und der Bürger von Florenz und zur Zier der vorgenannten Stadt‘– ad honorem et laudem Dei et beatis Virginis Mariae, et ad honorem communis et populi Florentini, et ad decorem iamdicte civitatis Florentine – errichtet worden (nach: Kreytenberg 1974, S. 76). Zweifellos ist
231 □ 121 Florenz, Dom, Innenansicht, Bau beginn um 1296, nach Unterbrechung Weiterbau ab 1357 nach veränderten Plänen
es gemeinsam zu sehen mit der fast zeitgleich erfolgenden Auszeichnung des politischen Zen trums der Stadt, dem damals ebenfalls ins Werk gesetzten Neubau des Palazzo della Signoria, dem man hier nun jene des sakralen Mittelpunkts zur Seite stellen wollte. Wie schon beim Rathausbau war dabei die Konkurrenzsituation zwischen Florenz und Siena – den beiden wichtigsten Handelsmetropolen der Toskana – eine der weiteren wesentlichen Triebfedern |▶ 33|. Wie dort ist auch im Fall der beiden Dombauprojekte der Unterschied zwischen Florenz und Siena beträchtlich: So errichtete man in Siena von den 1240er bis in die 1270er Jahre einen für italienische Verhältnisse teilweise recht ‚französisch‘ anmutenden, gotischen Dom. Der Kreuzungspunkt von basilikalem Langhaus, dem dreischiffigen Chor und dem ebenfalls drei-
schiffigen Querhaus wird von einer ungewöhnlichen, nämlich als unregelmäßiges Sechseck ausformulierten Vierung eingenommen. Über ihr erhebt sich ein – bemerkenswerterweise in den Obergadenbereich integrierter und nicht frei aufragender – Tambour auf zwölfeckigem Grundriss, welcher die abschließende große Kuppel trägt. In der Anlage durchaus älteren Bauten wie dem Pisaner Dom |▶ 9| vergleichbar, entwickelt er v. a. am Außenbau große Wirkung. Diese in den älteren Beispielen eigentlich nur als Auszeichnung für den Kreuzungspunkt für Lang- und Querhaus gedachte Kuppelkonstruktion bekommt nun mit dem Florentiner Entwurf eine ganz neue, bereits in andere Zeiten vorausweisende Bedeutung. Bis es dazu kommen konnte, war allerdings ein gewisser Vorlauf notwendig. Den Quellen
Der Dom von Florenz
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□ 122 Florenz, Dom, Außenansicht: Langhaus ab 1296 bzw. 1357 – 78, Campanile 1334 – 50, Chor ab 1386, Kuppel 1421 – 36
nach begann man in Florenz mit dem Domneubau bereits um 1296, nach Plänen des berühmten Bildhauers und Architekten Arnolfo di Cambio (zur Baugeschichte: Kreytenberg 1974). Bis zu seinem Tod um 1302 konnte der Stadtund Dombaumeister Teile der Fassade, die im 16. Jh. bereits wieder abgerissen wurden, sowie drei Fensterachsen der Seitenschiffswände auf halber Höhe fertigstellen. Erst 1331 wurden die Arbeiten nach veränderten Plänen und in der Verantwortung des Magistrats wieder aufgenommen, maßgeblich finanziert von der Wollweberzunft (Di Cagno 1994, S. 46 – 48). Sichtbarstes Zeichen ist hier die bemerkenswerte Verpflichtung nicht etwa eines Architekten, sondern des berühmten Malers Giotto (gest. 1337) zum Dombaumeister, nach dessen Plänen man dann zwischen 1334 und 1350 den Campanile errichtete (□ vgl. 122). Eine Kopie seines Entwurfs befindet sich heute in der Sie-
III. Schlüsselwerke
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neser Domopera. (Dieser Entwurf wird ähnlich den nordalpinen Turmaufbauten noch von einem großen, spitzen Steinhelm über einem oktogonalen Geschoss bekrönt.) Die heute stehenden Partien gehen demgegenüber auf eine 1357 von Francesco Talenti durchgeführte Umplanung von Langhaus und Chor zurück. Gerade Letzterer sollte gegenüber der Urplanung dank der damals gefundenen Lösung eine ganz neue Bedeutung und Gewichtung erhalten. Aber auch das bis 1378 fertiggestellte Langhaus erfuhr eine nachhaltige und in dieser Form bis dahin einmalige Umgestaltung (□ vgl. 121): Hier finden sich nun nicht in der üblichen Weise dicht gesetzte Pfeiler. Vielmehr wird das immerhin trotz 80 m Länge nur vierjochige Mittelschiff von riesigen, annähernd quadratischen Kreuzrippengewölben (Grundfläche: 20 m × 20 m!) mit einer schwindelerregenden Höhe von gut 45 m (vgl. Kölner Dom:
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46 m) überfangen, denen in den Seitenschiffen ebenso gewölbte, nun aber wesentlich schmalere Joche antworten. Weist diese Wölbung deutlich auf die Kenntnis französischer gotischer Architektur hin, so haben die hier ansonsten auftretenden Formen wenig mit dieser zu tun. Der zweiteilige Aufriss, der aus einer sehr hohen Arkadenzone und einem um mehr als die Hälfte niedrigeren Obergaden mit einem einfachen, großen Okulus als Fensteröffnung besteht, ruht auf gewaltigen Pfeilern. Deren rechteckiger Grundriss scheint additiv aus den über ihnen aufragenden pilasterartigen Wandvorlagen zusammengesetzt, welche jeweils den großen jochteilenden Gurtbogen zugeordnet sind. Oder anders herum ausgedrückt: Die unteren Freipfeiler sind in der darüberliegenden Zone in die Wand geblendet. So weisen Pfeiler wie Wandvorlagen nicht nur die gleiche Höhe, sondern auch die gleichen kräftigen Sockel und breiten Kapitellzonen auf. Ohne dezidiertes Interesse, die gesamte Hochschiffswand als Einheit zu präsentieren, wird diese Zone von dem nachfolgenden Obergaden durch ein weit auskragendes, auf Konsolen ruhendes Gesims abgetrennt, das fast schon Assoziationen an einen Wehrgang weckt (vgl. die möglicherweise ebenfalls mit Arnolfo di Cambio verbundene, ab 1295 ausgeführte Franziskanerkirche S. Croce in Florenz). Durch die heute stark reduzierte Innenausstattung wirkt der Raum sicherlich noch wuchtiger und monumentaler als das ursprünglich der Fall war. Im östlich daran anschließenden, 1386 begonnenen Chorbereich wird Arnolfo di Cambios älterer Plan nun ins Monumentale gesteigert (□ vgl. 122). Hier findet man eine Art überdimensionierten Dreikonchenchor, gebildet aus einem achteckigen zentralen Kuppelraum von über 90 m Höhe (mit beleuchtetem Tambour), an dessen drei frei stehenden Seiten sich jeweils eine monumentale, über fünf Seiten eines Achtecks gebildete Konche anschließt. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusam-
menhang, dass man vor Ausführung dieses in mancherlei Hinsicht recht ungewöhnlichen Chorprojekts die Bürgerschaft explizit aufforderte, ihre Meinung zu äußern (Di Cagno 1994, S. 46 – 48). Ähnlich wie bei einem Chorumgang sind in die Polygone zahlreiche Kapellen auf quadratischem Grundriss eingelassen. Zudem findet sich in den beiden Zwickeln zwischen ihnen jeweils ein als Sakristei genutzter Raum, der v. a. am Außenbau als eigenständiger Baukörper in Erscheinung tritt. Die die Kapellen begrenzenden, ausnehmend dicken Mauern machen deutlich, dass diese Partie ähnlich wie die gewaltigen Wandpfeiler auf der Westseite insbesondere als massive Basis für die Kuppelkonstruktion diente. Umfasst bereits der Unterbau ein riesiges Bauvolumen, das allein schon einer Kathedrale würdig gewesen wäre, so erhebt sich über ihm ein fast noch einmal so hoher Tambour mit einer gewaltigen Kuppel – angesichts der bis zu 45 m Durchmesser die größte, die bis dahin im Mittelalter errichtet worden war. Mit der Ausführung des in statischer Hinsicht besonders kühnen Bauteils betrat man in der Tat Neuland. Erst dem Bildhauer, Architekten und Ingenieur Filippo Brunelleschi (1377 – 1446), der sich 1418 in einem ausgeschriebenen Wettbewerb u. a. gegen Lorenzo Ghiberti durchzusetzen vermochte und ab 1421 Governatore della Cupola Maggiore war, gelang es in einer ingenieurtechnischen Meisterleistung, die erheblichen Probleme von Statik und praktisch-logistischer Umsetzung mit Hilfe einer zweischaligen Kuppelkonstruktion zu lösen. Bis heute sind sie und der Campanile unangefochtene Dominanten innerhalb der Stadt, die zusammen mit dem ähnlich hoch aufragenden Turm des Palazzo della Signoria von der Macht und Bedeutung dieser mittelalterlichen Handelsmetropole – und eben nicht des nominell hinter diesem Bau stehenden Bischofs – künden. Geweiht wurde der bis auf wenige Kleinigkeiten fertiggestellte Dom am 25. März 1436.
Der Dom von Florenz
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Der Palazzo della Signoria in Florenz und der Palazzo pubblico in Siena Konkurrenzen im Bauen
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ngesichts zunehmender Selbständigkeit und Macht des Bürgertums bekam die Bauaufgabe ‚Rathaus‘ in den europäischen Städten im Laufe des Mittelalters eine immer größere Bedeutung: Das Rathaus als Gebäudetyp diente nicht nur als rein funktionaler Ort, wo sich der Rat versammeln konnte, sondern auch für die Selbstdarstellung des Gemeinwesens. Hier erwuchsen nun gänzlich neue gestalterische Möglichkeiten, die zu nachgerade palastartigen Lösungen führen konnten |▶ 34|. Den Begriff ‚Palast‘ im Titel trägt explizit auch ein frühes und besonders eindrückliches Beispiel dieser Bauaufgabe, das sich südlich der Alpen finden lässt: der in Florenz – dieser reichen norditalienischen Handelsstadt und Heimat der Medici – zwischen 1299 und 1319 ausgeführte Palazzo della Signoria (heute: Palazzo Vecchio; Planungen ab 1285; □ 123), d. h. der Palast der die Stadt und die Republik führenden Regierung (Pau 1969). Er bildete den Auftakt für die repräsentative Ausgestaltung der Piazza della Signoria, die in den nachfolgenden Jahrzehnten dank weiterer Bauten, u. a. der Loggia dei Lanzi (ab 1376) und dem Tribunale della Mercanzia (1359) und monumentaler Skulpturen (vgl. Michelangelos ‚David‘), zum ideellen und städtebaulichen (politischen) Zentrum der Florentiner Bürgerschaft aufgewertet werden sollte. Was man nun zu sehen bekommt, erinnert allerdings zunächst einmal kaum an einen Palazzo im Sinne eines repräsentativen, komfortablen Palastes als vielmehr an eine abweisende, trutzige Burganlage. Aus der Florentiner Geschichte wissen wir, dass dies weniger eine gestalterische Idee des Architekten darstellt, sondern – angesichts
III. Schlüsselwerke
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der immer wieder aufflammenden Unruhen, ja heftigen Kämpfe zwischen den damals um die Macht in der Stadt streitenden Fraktionen – ganz handfeste Gründe hatte. Mit welchen architektonischen Mitteln entsteht nun aber dieser eher abweisende, wehrhafte Charakter des Gebäudes? Auf den ersten Blick auffälligstes Element ist in diesem Zusammenhang natürlich der obere Abschluss des auf längsrechteckigem Grundriss errichteten, dreigeschossigen Gebäudes: ein über Konsolen auskragendes Freigeschoss mit Wehrgang und bekrönenden Zinnen. Damit nicht genug, findet sich an der Hauptfront zum Platz – die gesamte Stadt überragend und dominierend – ein etwas aus der Achse gerückter, insgesamt 94 m hoher Aussichtsturm, der einen tabernakelartigen Aufsatz zur Aufnahme einer Glocke besitzt. Seine Anlage beginnt bereits auf dem Bodenniveau, so dass an der Fassade in seiner Achse nur Blendfenster zu finden sind. Auffällig und geradezu festungsartig abweisend ist aber auch die restliche Fassadengestaltung: Einmal abgesehen von den zwei lediglich bescheiden dimensionierten Hauptzugängen und einigen sehr hochgelegenen kleinen Fenstern ist der größte Teil des Erdgeschosses fast gänzlich geschlossen. Das ändert sich erst in den beiden anschließenden Geschossen, wo jeweils über einem schmalen Gesims eine fortlaufende Reihe zweiteiliger Fenster versetzt und zusammengefasst ist. Dort findet sich auch erstmals so etwas wie ‚architektonischer Schmuck‘: Unter einem kunstvoll gearbeiteten, aus verschieden dimensionierten Keilsteinen gebildeten Bogen, der in der Stadt
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geradezu zum Prototyp dieser Lösung an späteren Bauten werden sollte, strukturieren hier jeweils zwei marmorne Dreipassbogen die eigentlichen Fensteröffnungen. Recht deutlich folgt der Palast in seiner Grundanlage sowie in Details dem etwas älteren Palazzo dei Prio□ 123 Florenz, Palazzo della Signoria, Außenansicht von Westen, 1299 – 1319
ri (1208 – 54 / 57) im nahe gelegenen Volterra, dem Palazzo Pretorio in Prato (1238 – 49) und schließlich dem Florentiner Palazzo del Bargello (1255 – 61, 1280 – 1346). Maßgeblich für das wehrhafte Erscheinungsbild des Palazzo della Signoria ist allerdings bereits das verwendete Material: durchgängig roh behauene Quader aus den unweit von Florenz gelegenen Sandsteinbrüchen. Auffällig ist
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die sehr unterschiedliche Bearbeitung der in langen, durchlaufenden Lagen versetzten Steine: Scharfkantige, bruchraue wechseln sich mit grob abgespitzten Blöcken ab; neben flach gewölbten Bossen (2 – 3 cm) gibt es auch bis zu 10 cm aus der Wand hervortretende Buckel. Ebenso variieren die Höhe und die Quaderlängen. Insgesamt ergibt sich ein kontrastreiches Erscheinungsbild: eine durchgehende Rustizierung oder ‚Rustika‘ (vom bereits von den Römern genutzten Begriff opus rusticum – bäurisches / grobes Werk), wie der eigentliche terminus technicus für eine derartige Gestaltung einer Fassade lautet. Man verwendet dafür auch den Begriff „Bossenmauerwerk“: Unter Bosse (von mittelhochdeutsch bozen – schlagen bzw. von französisch bosse – Buckel, Beule) versteht man eine nur roh zugerichtete und daher bucklig gebliebene Oberfläche eines Steinquaders. Eigentlich handelt es sich dabei um einen Zwischenschritt auf dem Weg vom gebrochenen Stein mit unregelmäßigen Umrissen zur perfekten kubischen Form eines komplett ausgearbeiteten Hausteins ( Themenblock · Steinmaterial, S. 238). Im Mittelalter wurden diese einerseits gröberen, andererseits zeitsparenden und deswegen auch kostengünstigeren Buckelquader gerade im 12. und 13. Jh. gerne für Wehr- und Burgenbauten verwendet (z. B.: Stadttore in Esslingen; Burgen im Elsass und im gesamten südlichen deutschen Sprachraum). Schon die Römer hatten sie bei einfacheren Bauten zum Einsatz gebracht. Auch in Florenz selbst waren sie bereits zuvor verwendet worden: bis dahin aber nur an Turmsockeln, nicht aber für eine ganze Fassade (Eckert 2000). Die Rustika sollte dann allerdings im nachfolgenden Jahrhundert in der italienischen Renaissancearchitektur einen ungeahnten Aufschwung nehmen, wie das nicht zuletzt die beiden Florentiner Palazzi Medici-Riccardi (ab 1444) und Pitti (nach 1458) zeigen. In der Innenraumaufteilung folgt der Palazzo della Signoria älteren lokalen Vorbildern wie – einmal mehr – dem Palazzo del Bargello
III. Schlüsselwerke
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oder dem Palazzo di S. Giorgio in Genua: Dementsprechend findet sich auch hier an einer der Schmalseiten (im Norden) in allen drei Geschossen jeweils ein großer, die gesamte Breite einnehmender Saal, während der anschließende, größere Teil (in Florenz die südlichen zwei Drittel) um einen Innenhof angelegt ist, durch den zudem die Beleuchtung der Innenräume verbessert wird. Die in der Toskana Ende des 13., Anfang des 14. Jh.s gegebene politische und wirtschaftliche Konstellation zeigt einmal mehr, wie sehr Konkurrenzverhältnisse durchaus auch in architekturgeschichtlicher Hinsicht produktiv sein konnten: Ganz offensichtlich war nämlich mit dem Bau des Florentiner Palazzo della Signoria nicht nur aufgrund örtlicher Bedürfnisse begonnen worden; vielmehr scheint es sich dabei um eine ganz unmittelbare Reaktion auf den fast zeitgleich ausgeführten Palazzo pubblico (ab 1297) in Siena (□ 124), dem ärgsten Konkurrenten der Florentiner in der Region, zu handeln. Auf diese Konkurrenz war ja bereits in Zusammenhang mit dem Florentiner Dom |▶ 32| hingewiesen worden. An der großzügigen Piazza del Campo – wiederum dem Hauptplatz der Stadt – gelegen, fallen im heutigen Zustand eher Unterschiede denn Parallelen zwischen den beiden rivalisierenden Anlagen auf, handelt es sich doch beim Sieneser Bau um einen breitgelagerten, in allen Etagen stark durchbrochenen Backsteinbau. Lediglich die abschließenden Zinnen erscheinen vertraut und geben einen ersten Hinweis, dass beide Bauten anfänglich vielleicht doch etwas mehr Gemeinsamkeiten aufwiesen als es heute den Anschein hat. Das beginnt bereits mit der ursprünglichen Proportionierung des Sieneser Rathauses, denn zunächst wurde hier ebenfalls ein eher schmales, hochaufragendes Gebäude von vier Geschossen und vier Achsen errichtet. Sein Erscheinungsbild war jedoch nicht ganz so abweisend wie das des Florentiner Konkurrenten. Dessen Gestaltungsprinzipien geradezu ver-
237 □ 124 Siena, Palazzo pubblico, Außenansicht von Westen, ab 1297
kehrend, dominieren hier nun nicht geschlossene Wandflächen, sondern die zahlreichen recht breiten Öffnungen: im Erdgeschoss die Spitzbogen einer ursprünglich offenen, in Travertin gearbeiteten Loggia, dreiteilige Fenster (Triforien) in den restlichen Geschossen. Die wenig späteren seitlichen Erweiterungsbauten und der die Anlage flankierende, alles überragende Torre del Mangia verstärken den transparenten, großzügigen Charakter des Baus. Bemerkenswert ist auch in Siena, dass der Bau wie sein Konkurrent in Florenz städtebaulich eingefügt und berücksichtigt wurde, gab es doch bereits ab 1280, also noch vor Baubeginn, strenge Auf-
lagen für die den Platz umstehenden Bauten, um solchermaßen dessen einheitliches Erscheinungsbild nicht zu beeinträchtigen. Von fast noch größerer Bedeutung ist im Fall des Sieneser Palazzo pubblico jedoch dessen Innenausstattung, die sich weit umfänglicher als in Florenz erhalten hat: Hier unterstrichen die berühmten Fresken Simone Martinis (Maestà mit der monumentalen Darstellung einer thronenden Madonna, der Patronin der Stadt, 1315) und Ambrogio Lorenzettis („Allegorie der Guten und der Schlechten Regierung“, 1337 – 39) die Autonomie und das Selbstverständnis dieses Gemeinwesens.
Der Palazzo della Signoria in Florenz und der Palazzo pubblico in Siena
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Gewinnung, Bearbeitung und Versatz des Steinmaterials
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iest man die Ausführungen Abt Sugers zum Neubau von St-Denis |▶ 17|, so versteht man schnell, dass es erst einmal ein ganz substantielles Problem zu lösen galt, bevor man überhaupt an den Beginn der Arbeiten denken konnte: das Auffinden eines Steinbruchs (alternativ einer TonThemenblock · Backsteinarchitektur, S. 274), grube, der in ausreichender Qualität und Umfang das benötigte Baumaterial liefern konnte, noch dazu – zur Vermeidung unnötiger Transportkosten – möglichst nah der zukünftigen Baustelle. Eingehend berichtet Suger in seinem „Libellus de consecratione“ (1144 – 51) darüber, auch über anfängliche, ganz anders gelagerte und nicht unriskante Bemühungen: ,Als wir nämlich bei der Ausführung von solcherlei Arbeiten v. a. um das Übereinkommen und den Zusammenhalt des alten [karolingischen Langhauses] und des neuen Werks besorgt waren und beim Überlegen, Umherschauen und Nachforschen in verschiedenen Gegenden entfernter Gebiete keine finden konnten, von woher wir marmorne oder marmornen gleichwertige Säulen erhalten könnten, blieb uns [...] allein übrig, sie aus der Stadt Rom – wir hatten sie nämlich im Palast des Diokletian und in anderen Thermen oft wunderbar gesehen – über das Mittelmeer mit sicherer Flotte und weiter über das englische Meer und durch die windungsreiche Biegung des Seine-Flusse unter großem Aufwand [...] zu bekommen. Und viele Jahre lang haben wir uns oftmals durch Nachdenken und Fragen gequält, als plötzlich die großzügige Freigebigkeit des Allmächtigen sich zu unseren Mühen herabließ und [...] durch das Verdienst der heiligen Märtyrer angemessene und ganz vorzügliche Säulen offenbarte. [...] Der Ort freilich des wunderbaren Steinbruchs, der bei der [ca. 30 km entfernten] Burg Pontoise im Grenzgebiet unserer Ländereien an ein tiefes, nicht von der Natur, sondern durch menschlichen Fleiß ausgehöhltes Tal grenzte, bot den Brechern von Mühlsteinen von alters her ihren
III. Schlüsselwerke
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Erwerb, und – so glauben wir – er bewahrte, während er bisher nichts Besonderes hervorbrachte, den Beginn so erheblicher Brauchbarkeit für einen so großen und göttlichen Bau, gleichsam als Erstlingsgaben für Gott und die heiligen Märtyrer.‘ (Speer / Binding 2000, S. 210 – 215.) In Sugers ausführlichem Text deutet sich zugleich an, dass weniger die Materialbeschaffung als solche ein Problem darstellte, sondern v. a. die benötigte Qualität: Kleinformatiger, unregelmäßiger Bruchstein, wie man ihn bei einfachen Kirchen oder auch als Füllmauerwerk das gesamte Mittelalter hindurch verwendete, wäre wohl problemlos im direkten Umfeld von St-Denis zu finden gewesen, nicht aber solcher für die Herstellung von Säulen oder gar Skulptur. Für sie benötigte man große Steine weit feinerer Qualität und homogener Struktur: gerade für die statisch besonders beanspruchten monolithen Säulen, die en délit, also gegen ihre natürliche geologische Bettung senkrecht aufgestellt werden. Für das richtige Material nahm man hier immer wieder auch weite Transportwege in Kauf, wie das nicht nur Sugers Text, sondern z. B. auch die 7 m langen und 13 t schweren Säulen belegen, die man für den Mainzer Dom mit dem Schiff aus dem 100 km entfernten Miltenberg holte. Sieht man einmal von den damit oft verbundenen Bedeutungsansprüchen ab |▶ 1|, so scheint die hohe statische Belastbarkeit in der Tat einen weiteren, nicht unwesentlichen Faktor für die anfänglich so beliebte Wiederverwendung antiken Marmormaterials gewesen zu sein. Beim Abbau des Steinmaterials, der ober- wie unterirdisch (Letzteres z. B. in Paris oder Aubigny) erfolgen konnte, profitierte man von der schon angeführten natürlichen Bankung, zumindest wenn es sich um Kalk- oder Sandstein handelte: also von den horizontalen geologischen Lagen (□ 125), die
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□ 125 Steinbruch von Mereuil (Yonne): Die historische Aufnahme um 1900 – also vor Einsatz von schweren Maschinen und Sprengungen – vermag noch eine gute Vorstellung von den ursprünglichen Mühen der Gewinnung des benötigten Steinmaterials zu liefern. Deutlich erkennbar sind im Hintergrund die horizontalen geologischen Schichtungen, die man sich hier wie anderswo beim Abbau des Natursteins zunutze machte.
angesichts der dabei auftretenden waagrechten Fugen letztendlich die maximale Größe der Blöcke vorgaben. Ein noch gut erhaltenes Beispiel eines mittelalterlichen Steinbruchs ist u. a. in Kapfelberg bei Regensburg gegeben, woher die Steine für den dortigen Domneubau stammen. Etwas anders stellt sich der Fall bei gänzlich homogenem Material wie Marmor (Italien), Lavagestein (Clermont, Kathedrale) oder auch Jaumont-Kalkstein (Metz, St-Vincent; □ vgl. 100) dar, bei dem eine derartige natürliche Begrenzung nicht existierte. Zumindest in den beiden letztgenannten Fällen scheint man das im 13. Jh. zum Anlass genommen zu haben, nicht nur hinsichtlich der Grundfläche, sondern auch der Höhe immer gleiche Steine herauszubrechen bzw. sogar herauszusägen und so einen perfekt vorausplanbaren Bau mit exaktem Fugenplan zu konzipieren. Gegenüber der normalerweise variierenden Größe der versetzten Steinlagen, die jeweils zeitaufwändige individuelle Anpassungen notwendig machten, bedeutete das einen erheblichen Vorteil. Trotz aller Bemühungen ließ es sich nicht immer vermeiden, dass die Steinbrüche letztlich doch ei-
nige Kilometer entfernt von der Baustelle lagen und für den Transport erst einmal eine entsprechende Infrastruktur anzulegen war. Im Idealfall konnte er über den Wasserweg erfolgen; oft war aber der Transport über Land mit Karren unumgänglich. Was das bedeutete, mögen die in Wien im 15. Jh. in den Rechnungen des Kirchenmeisteramts für St. Stephan aufscheinenden Stückzahlen bzw. die damit identischen Fuhren zeigen, die wohl hauptsächlich für den Bau des Südturms |▶ 43| aus den Steinbrüchen der Dombauhütte im gut 40 km – in diesem Zusammenhang wohl gut zwei Tagesreisen – entfernten Leithagebirge nach Wien gelangten (1415: 732; 1416: 629; 1417: 896; 1426: 963; 1427: 947; 1430: 761; Uhlirz 1902). Bevor man nun zum Versatz schreiten konnte, bedurfte der gebrochene Stein noch einer eingehenden Bearbeitung, bei der die Transformation von einem unregelmäßig geformten Rohling zu einem Quader mit perfekt rechtwinkligen Kanten erfolgte (Kat. Regensburg 1989). Dazu waren eine ganze Reihe von zeitaufwändigen Zwischenschritten und die Anwendung sehr unterschiedlicher Geräte not-
Gewinnung, Bearbeitung und Versatz des Steinmaterials
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b) Werkzeug der ersten A rbeitsschritte
c) Absprengung einer Bezugskante
a) Werkstattbetrieb
d) Ziehen des Randschlages
e) Bestimmung des vierten Eckpunktes
f) Grobes Arbeiten mit Spitzeisen
g) Feineres Arbeiten mit Zweispitz
h) Überarbeiten im „Stich“
i) Feines Überarbeiten mit der „Pille“
III. Schlüsselwerke
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j) Fertiger Quader
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wendig (□ 126). Die Arbeiten beginnen mit dem Absprengen einer ersten geradlinigen Bezugskante aus dem rohen Block mit einem Sprengeisen. Ihm folgt das Ziehen eines Randschlages – eines ca. 2 – 3 cm breiten Randstreifens –, mit dem nach und nach die vier rechtwinklig aneinanderstoßenden Kanten einer Seite des Steins bzw. der Quaderfläche definiert werden. Die zwischen den Randschlägen verbleibende erhabene Fläche bezeichnet man als Bosse, die in weiteren Arbeitsgängen abzuarbeiten und zu glätten ist. Bei einfacheren Bauten insbesondere im Bereich der Wehrarchitektur beließ man diese gerne aus Gründen der Zeitersparnis, aber auch wegen des trutzigeren Erscheinungsbildes |▶ 32|. Nach dem ersten groben Abspitzen folgt ein feineres Abarbeiten der Bosse mit dem sog. Zweispitz, dem sich das Überarbeiten der rauen Oberfläche ‚im Stich‘ anschließt. Dazu wird der Block gekippt aufgestellt, so dass mit dem schräg auftreffenden Schlag der beidhändig geführten Zahnfläche verhältnismäßig viel Material
mitgenommen werden kann. In vielen Fällen war das bereits der letzte Arbeitsschritt. Wollte man eine noch gleichmäßigere Oberfläche gewinnen, so galt es den Stein mit einer etwas feineren Zahnfläche zu ‚pillen‘, wodurch sich eine für gotische Bauten typische Oberflächenstruktur ergibt. Üblicherweise erfuhr nur die nach Versatz sichtbare Fläche des Steins diese aufwändige Bearbeitung. Ansonsten war wichtig, dass glatte Lager- und Stoßfugen (die Horizontal- bzw. Vertikalfuge) einen sauberen Anschluss zu den in gleicher Weise bereiteten Nachbarsteinen ermöglichten. Nach hinten beließ man die Blöcke dagegen meist roh: nicht nur aus Gründen der Zeitersparnis, sondern auch zugunsten einer besseren Verzahnung mit dem Füllmauerwerk. Weit mehr Zeit und v. a. technisches, partiell auch künstlerisches Können war demgegenüber bei der Anfertigung komplizierterer Werkstücke wie Profile und Gesimse etc. oder aber Kapitelle notwendig. Konnten Erstere noch durch Schablonen bestimmt und kontrolliert werden,
□ 126 Verschiedene Schritte der Steinbearbeitung zur Herstellung eines versatzfähigen Hausteinquaders nach Aravidis/Schuller: a) Rekonstruktion des Werkstattbetriebs im Bereich des Atriums der romanischen Vorgängerkirche anlässlich des Neubaus des Regensburger Doms, 2. Hälfte des 13. Jh.s: erste fertiggestellte gotische Partien im Hintergrund; über einem Planriss, der 1 : 1 auf einem Holzboden ausgeführt ist, werden Einzelteile eines Fensters zur Probe ausgelegt; die Türme des Vorgängerbaus dienen als Krananlage; b) Werkzeug der ersten Arbeitsschritte: Stichel zum Anreißen, Schlageisen, Winkel, Knüpfel (Holz, l.), Schlegel (r.), Winkel; c) Erster Arbeitsvorgang: Absprengungen einer geradlinigen Bezugskante mit dem Sprengeisen aus dem Rohblock; d) Ziehen des Randschlages; ca. 2 – 3 cm breiter Streifen, zum Festlegen der Quaderkanten. Ein zweiter Randschlag folgt rechtwinklig dazu und legt somit die erste Quaderebene fest. Werkzeuge: Schlageisen und Holzknüpfel; e) ‚Versehen‘ zweier Randschläge, um den vierten Eckpunkt der ersten Quaderfläche zu bestimmen; f) Zwischen den Randschlägen bleibt eine erhöhte Fläche stehen: die ‚Bosse‘. Grobes Abarbeiten mit Spitzeisen und Schlegel als Hauwerkzeug, oben Arbeitsvorgang, unten Werkzeug und Spuren auf der Steinoberfläche; g) Nach grobem Abspitzen feineres Abarbeiten der Bosse mit Zweispitz, senkrecht geschlagen mit beiden Händen; h) Überarbeiten der rauen Oberfläche im ‚Stich‘. Der Block ist schief aufgebänkt, der schräge, beidhändige Schlag mit der Zahnfläche nimmt verhältnismäßig viel Material weg; kann Endflächenzustand bleiben; i) Feines Überarbeiten der Oberfläche mit der ‚Pille‘, einer etwas feineren Zahnfläche. Schlagrichtung senkrecht zur Steinoberfläche mit wenig Krafteinsatz. Oberfläche mit feiner Strukturierung durch die Zahnspuren; für Sichtflächen; j) Fertiger Quader. Besonders eben und glatt die Sichtseite. Lager und Stoßfugen nur an der Vorderkante sorgfältig bearbeitet. Nach hinten immer gröber. Rückseite oft völlig unbearbeitet
Gewinnung, Bearbeitung und Versatz des Steinmaterials
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so war für Letztere – zumindest bei ansprechender Qualität – oft bereits bildhauerisches Können und künstlerische Phantasie gefordert. Das ist der Grund, sie z. B. an nicht einsehbaren Stellen mitunter gar nicht erst richtig auszuarbeiten (vgl. Zwerggalerie des Speyerer Doms) oder aber die Kapitellzone auf ein Minimum zu beschränken (vgl. verschiedene Sakralbauten des 13. Jh.s), da es sich hier um einen erheblichen Zeit- und damit letztlich auch Kostenfaktor handelte. Mit den Aspekten von Kostenabrechnung stehen im Übrigen auch die oft – und in sehr unterschiedlicher Deutlichkeit – zu findenden Steinmetzzeichen (□ vgl. 110) in Verbindung, wurden die Kräfte doch nach der Stückzahl und nicht nach ihrer Arbeitszeit bezahlt. Alternativ konnten sie Zeichen einer erfolgten Qualitätskontrolle sein. Gerade hier gibt es zeitlich wie regional große Unterschiede zu berücksichtigen. Jedenfalls sind die Steinmetzzeichen nicht zu verwechseln mit Versatzmarken, die jedes Bauteil genau lokalisierbar machten (vgl. Reims, Westportale, |▶ 23|). Ebenfalls zu beachten ist, dass das Auftreten identischer Zeichen an verschiedenen Orten – wie gerade früher gerne angenommen – kaum zwingend auf ein und denselben Steinmetzen bezogen werden kann. Dazu sind sie in ihrer Anlage aus zumeist geometrischen Formen oder Strichen zu einfach und allgemein gültig. Die beschriebene Detailbearbeitung erfolgte normalerweise direkt an der Baustelle. Es gibt aber auch Hinweise darauf, dass die entsprechenden Arbeiten – wohl v. a. zur Gewichtsersparnis – in späteren Zeiten mitunter bereits in den Steinbrüchen selbst erfolgten. In diesem Zusammenhang scheint es sogar zu einem überregionalen Handel mit Architekturelementen gekommen zu sein, die nun gar nicht mehr an ein bestimmtes Projekt gebunden sein mussten, sondern sozusagen als ‚Konfektionsware‘ geliefert wurden. Ein besonders eindrückliches und großflächiges Beispiel ist hier Venedig, wo man im 14. Jh. für den Hausbau durch-
III. Schlüsselwerke
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weg identische Fenstermaßwerkelemente verbaute, die zuvor in Serienfertigung auf der anderen Seite der Adria in den istrischen Steinbrüchen vorproduziert worden waren. Ähnliches lässt sich bereits im späteren 13. Jh. u. a. im Hennegau (Belgien) nachweisen. Hier wissen wir von der Bestellung fertiger Bauelemente, die für eine Abtei im fast 80 km entfernten Brügge bestimmt waren. Versetzt wurden die auf diese Weise gewonnenen oder erworbenen Elemente üblicherweise mit einem fetten Kalkmörtel. Waren die Arbeiten in Bodennähe noch recht simpel, so wurden sie mit jedem Meter gewonnener Höhe zwangsläufig komplizierter, da sie entsprechender Gerüste bedurften. In Zeiten ausgefeilter Gewölbebauten stellte sich hier als besonders kritisch der Moment dar, wenn beim Einsetzen von Bögen und Gewölben zusätzliche Horizontalkräfte auftraten. Ihnen suchte man mit temporär eingezogenen hölzernen Zugankern zu begegnen. Für die zumeist aus leichterem Steinmaterial oder gar Ziegeln gemauerten Gewölbe wurden erst ganz zum Schluss mobile Lehrgerüste verwendet. Neben der klassischen Verbindung durch Mörtel spielte in diesem Zusammenhang von Anfang an auch Eisen – in Gestalt von Klammern und Ankern – eine Rolle (so bereits in Aachen, |▶1|). Mit den gotischen Bauten sollte dieses Material dann eine geradezu elementare Bedeutung erhalten, konnten doch die auf ein Minimum reduzierten steinernen Elemente, die dort überhaupt noch in den riesigen Fensterflächen verblieben waren, nur durch umfängliche Eisenkonstruktionen stabilisiert werden. Ebenso verband man z. B. die einzelnen en-délit-Schäfte der Wandvorlagen durch Eisendübel untereinander bzw. mit der Wand; die etwas größeren Dübellöcher wurden anschließend mit Blei ausgegossen. Doch schon zuvor waren zur Gewinnung einer festeren Wandstruktur selbst bei simpleren Bauten nicht selten die einzelnen Blöcke zusätzlich mit Eisenklammern zusammengefügt worden.
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|34| Die Tuchhalle in Brügge und das Rathaus in Löwen: Bürgerlich-städtische Repräsentationskultur nördlich der Alpen
A
uch nördlich der Alpen sind es Rathäuser, die seit dem späten 12. Jh. die zunehmende Autonomie von Städten zum Ausdruck bringen. Besonders bemerkenswerte und aufwändige Beispiele lassen sich in diesem Zusammenhang im heutigen Belgien finden. Das kann kaum überraschen, existierte doch in den dortigen Handelszentren früher als anderswo und durchaus vergleichbar mit Italien eine hochkomplexe Stadtkultur, die eine intensive Selbstdarstellung implizierte: So wie sich der feudale oder geistlich-weltliche Landesherr in seinem Residenzschloss oder Palast architektonisch manifestierte, so schufen die inzwischen erstarkten Stadtgemeinden nun ebenfalls bauliche Symbole ihrer Macht. Hinsichtlich Reichtum und Dimensionierung standen solche Bauten den bis dahin das Stadtbild dominierenden Kirchen in nichts nach. An den flämischen Beispielen wird zugleich eine bemerkenswerte Entwicklung dieser kommunalen Bauaufgabe offenbar. Anfänglich handelte es sich nämlich gar nicht um explizite Rathaus-, sondern um multifunktionale Bauten: Tuchhallen, im Deutschen mitunter auch (im Singular) ‚Gewandhaus‘ genannt. Man sollte allerdings besser den allgemeineren Begriff ‚Kaufhaus‘ oder ‚Handelshalle‘ verwenden, wissen wir doch z. B. hinsichtlich des betreffenden Gebäudes in Brügge, dass in ihm nicht nur Tuch, sondern auch gänzlich andere Waren, wie z. B. Gewürze, gehandelt bzw. gelagert wurden (□ 127; Ganshof 1962; Stabel 2006, S. 88 f.). Auf einer Grundfläche von 84 m × 45 m um einen zentralen Innenhof angelegt, wurde der vierflüglige Bau in Brügge gemeinsam mit dem
Turmbau im letzten Viertel des 13. Jh.s nach einem für 1280 überlieferten Brand ausgeführt (zur weit nach Osten reichenden Rezeption dieser Anlagen vgl. z. B. das Rat- / Kaufhaus in Toru´n /Thorn in Westpreußen, Ende 13. – Ende 14. Jh.). An der Hauptfassade zum größten Marktplatz der Stadt stellt sich die Tuchhalle als zweieinhalbgeschossiger Backsteinbau dar: eine Gliederung, die im Inneren ausschließlich durch entsprechende Holzkonstruktionen ausgebildet ist (Schröder 1914, S. 27). In Haustein gearbeitete Arkaden bilden rundum ein ausnehmend offenes Erdgeschoss. Akzente setzen die jeweils in der Mitte auftretenden großen Durchfahrten, die an allen vier Seiten den Zugang zum Innenhof gewähren. Im ersten Obergeschoss finden sich demgegenüber in etwas größeren Abständen spitzbogige Maßwerkfenster, über denen die rechteckigen Fenster des Mezzaningeschosses aufsitzen. Dass die Hauptfassade trotz all dieser architektonischen Feinheiten und Durchbrechung insgesamt einen recht wehrhaften Eindruck macht, liegt an dem abschließenden Zinnenkranz und den etwas höher aufragenden Ecktürmchen. Ob mit ihnen wirklich dieser zentrale Bau der Brügger Bürgerschaft hätte verteidigt werden können, darf bezweifelt werden – nicht zuletzt, da derartige fortifikatorische Formen an den anderen drei Fassaden fehlen. An der Marktseite ragt aus dem Unterbau trutzig der nun in großformatigerem, stabilerem Hau- und Bruchstein errichtete, geradezu aberwitzig hohe Turm von 83 m Höhe auf. Einen ersten, reich gegliederten oberen Abschluss erfährt er in einem auskragenden,
Die Tuchhalle in Brügge und das Rathaus in Löwen
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□ 127 Brügge, Tuchhalle, Außenansicht, nach 1280, Turmaufstockungen Ende des 14. und 15. Jh.s
III. Schlüsselwerke
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zinnenbekrönten Aufsatz, dessen Ecken wiederum von runden Ecktürmchen markiert werden. Bei etwas anderer Proportionierung findet sich diese Gliederung grundsätzlich noch einmal in der anschließenden mittleren Partie des Turmes. Die hier an allen Seiten auftretenden beiden Schallöffnungen gehen im Übrigen erst auf die Einbringung des städtischen Geläuts (1394 – 95) zurück. Der schließlich alle Maßstäbe und Proportionen sprengende abschließende oktogonale Aufsatz wurde 1482 – 8 6 ausgeführt. Er mag Indikator dafür sein, wie massiv der Turm des 13. Jh.s – noch aus ganz anderen, nämlich den benannten fortifikatorischen Gründen – angelegt worden war, so dass man ihm ein Jahrhundert später problemlos diese Mehrlast aufsetzen konnte. Ähnlich wie bei den angeführten norditalienischen Beispielen in Florenz und Siena |▶ 33| kann er nur partiell funktional erklärt werden: Vordergründig diente er zweifellos der Kontrolle des Umlands und der Stadt, ebenso der Anbringung der städtischen Warn- und Signalglocken, mit denen auch das städtische Leben strukturierende Zeitangaben vermittelt werden konnten. Es steht allerdings außer Frage, dass der Turm zugleich ein Statussymbol der Stadt war: ein Symbol der Stärke des für den Bau Verantwortlichen, darin unmittelbar vergleichbar den norditalienischen Geschlechtertürmen, mit denen sich jeweils die führenden Familien einer Stadt präsentierten (□ vgl. 6 und Bologna; als nordalpines Beispiel: Regensburg). Bei einem derartigen, von der städtischen Kommune selbst errichteten Turm, wie er besonders häufig in den großen flämischen und nordfranzösischen Handelszentren zu finden ist (z. B. in Gent, Ypern, Tournai, Amiens), spricht man von einem Belfried (französisch: beffroi): In deutlicher Analogie zum Bergfried als dem besonders befestigten Kern einer Burg (vgl. auch die Namensähnlichkeit im Althochdeutschen, wo ein solcher Stadtturm als berg-frithu bezeichnet wird) bildet der ebenfalls wehrhaft
ausgebaute Belfried nun – in symbolischer wie in ganz realer Weise – das Zentrum einer Stadt und ihrer Bürgerschaft. In ihm versammelten sich die Schöffen; hier befand sich das städtische Archiv; von hier konnten die Stadt und das Umland überwacht werden. Er ist damit das Symbol städtischer Freiheit und Selbständigkeit schlechthin. Zahlreiche Beispiele lassen sich für diesen Bautypus benennen (auf ihn z. B. wohl auch der Kölner Ratsturm [1407 – 14] zurückgehend), doch sind sie oft – wie eben in Brügge – gerne mit für den Handel genutzten Hallen verbunden. Ähnlich zeitgleichen und späteren Beispielen im deutschsprachigen Raum wie in Dortmund (um 1240) oder Braunschweig (14. Jh.), war dabei das obere Stockwerk (oder zumindest Teile davon) der kommunalen Selbstverwaltung vorbehalten. Es bietet sich an, im direkten Anschluss an die Brügger Tuchhallen dasjenige Gebäude in die Betrachtung einzubeziehen, welches dort Ende des 14. Jh.s die ausschließliche Rathausfunktion übernehmen sollte (□ 128). Interessanterweise ist der um 1380 begonnene Bau, der in Flandern das früheste spätgotische Beispiel seiner Art darstellt, etwas abseits der bislang die Bürgerschaft repräsentierenden Tuchhallen und des Belfrieds errichtet. Man hat dies mit Bedacht getan, handelt es sich doch genau um den Standort der Burg der bisherigen Stadtherren – der Grafen von Flandern –, die sich zu diesem Zeitpunkt endgültig aus der Stadt zurückgezogen hatten. Bis heute ist noch deren im Kern aus dem 12. Jh. stammende zweigeschossige Palastkapelle, die Heiligblutkapelle, erhalten. Vergleicht man das neue Brügger Rathaus mit seinem Vorgänger am Hauptmarkt, so wirkt es geradezu filigran, ja verspielt: Zwar gibt es immer noch das abschließende Wehrgang- und Zinnenmotiv, ebenso die frei aufragenden Ecktürmchen, die durch solche in der Mitte ergänzt werden. Noch weniger als bei den Tuchhallen möchte man aber annehmen, dass der Bau damit wirklich hätte verteidigt werden
Die Tuchhalle in Brügge und das Rathaus in Löwen
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□ 128 Brügge, Rathaus, Außenansicht des Neubaus (ab 1380) und der älteren Heiligblutkapelle (r.) der ehem. Burg der Grafen von Flandern (im Kern Mitte des 12. Jh.s mit späteren Modifizierungen; links Erweiterung des 16. Jh.s)
können. Auch macht nun die restliche Fassade alles andere als einen wehrhaften Eindruck. Diese Motive besitzen tatsächlich nur noch symbolischen Wert bzw. folgen der Tradition jener Bauaufgabe. Die restlichen Formen erweisen sich demgegenüber der Sakralarchitektur entlehnt: In der Art großer Kirchenfenster finden sich hier Öffnungen, die – die eigentlich zweigeschossige Gliederung verschleiernd – die gesamte Fassade durchzulaufen scheinen. Neu sind auch die andersartigen Proportionen, hat man es hier doch nicht mehr mit einem breitgelagerten, sondern einem hochaufragenden Bau zu tun. Diesbezüglich und hinsichtlich seiner Einteilung in ein niedrigeres Erdgeschoss und einen hohen, das gesamte Obergeschoss einnehmenden Versammlungsraum, wie sie an den blinden Fensterfeldern im unteren Drittel abzulesen ist, weckt er Assoziationen an eine zweigeschossige Palastkapelle |▶ 25|. Getrennt werden die Fenster von schmalen, reich verzierten Mauerstreifen. Von Baldachinen überfangen ist an ihnen die
komplette Reihe flandrischer Grafen gezeigt: Wie schon mit der Wahl des Standortes wollte man damit offensichtlich die Bürgerschaft als legitimen Nachfolger dieser früheren adligen Stadtherren herausstellen. Ein derartiges extrovertiertes, öffentliches Bildprogramm, das sich zweifellos an der entsprechenden Außengestaltung von Sakralbauten orientiert, steht in deutlichem Kontrast zu den entsprechenden Anlagen südlich der Alpen, bei denen solche Programme eher im Inneren zu finden sind. Der recht frühe Brügger Rathausbau sollte sich als maßstabsetzend für nachfolgende Projekte der Region erweisen. Eines der reichsten und aufwändigsten Beispiele dafür ist das Stadhuis – so die niederländische Bezeichnung für ,Rathaus‘ – in Löwen / Leuven (1448 – 63; □ 129). Mit ihm sind in der Tat alle für Brügge benannten Gestaltungsideen konsequent zu Ende gedacht. Ähnlich ist bereits seine Proportionierung: erneut ein relativ schmaler hochaufragender Bau auf längsrechteckigem Grundriss, der in seiner Gesamterscheinung
III. Schlüsselwerke
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nun geradezu wie ein kleines, Stein gewordenes Schatzkästlein wirkt. Dazu trägt neben der überreichen Ornamentierung v. a. das ebenfalls vom Brügger Rathaus inspirierte, demgegenüber allerdings wahrlich überbordende Skulpturenprogramm bei, mit dem die Mauerflächen zwischen den Fensterachsen ausgefüllt sind. War das Programm schon in Brügge nur mit Mühe auf einen Blick zu dechiffrieren, so ist es nun in Löwen – angesichts der Ornament- und Detailfülle – nahezu unmöglich, die Botschaft der bis in große Höhen über mehrere Etagen verteilten Skulpturen (im 19. Jh. nach Befund erneuert) herauszulesen: Präsentiert werden
demnach in der untersten Reihe bedeutende Persönlichkeiten der Stadtgeschichte, in der zweiten Reihe Heilige, in der dritten schließlich verschiedene Grafen von Löwen und Herzöge von Brabant (wohl wie in Brügge wegen deren Rolle als ehemalige Stadtherren). Ergänzung findet das Bildprogramm durch biblische Szenen an den Konsolen, die sich v. a. mit dem Thema Schuld und Buße beschäftigen. Bei der Außengestaltung des Löwener Rathauses ist ein gewisser horror vacui nicht von der Hand zu weisen: Keine Handbreit der Fassade bleibt ohne Zierrat; selbst das hohe Satteldach überzog man noch mit einer Fülle
□ 129 Leuven / Löwen, Rathaus, Außenansicht, 1440 – 63
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kleiner Gauben. Angesichts derartig kleinteiliger Pracht ist immer wieder der Vergleich zu zeitgenössischer Mikroarchitektur, insbesondere zu Reliquiaren gezogen worden, ohne dass jedoch ein konkretes Beispiel benennbar wäre. Von Brügge abweichend ist in Löwen allerdings der Umgang mit den Fenstern, wird hier doch nun eher die Horizontale denn die Vertikale be-
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tont: Die Geschosseinteilung genau widerspiegelnd, haben wir es in Löwen mit drei identischen Fensterbändern zu tun, die jeweils durch eine schmale Brüstungszone voneinander getrennt werden. Dies wie auch die Betonung der Ecken durch recht massive Rundtürmchen scheint eher dem Brüsseler Rathaus (ab 1402) abgeschaut.
S. Chiara in Neapel Besonderheiten eines Frauenklosters
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it dem Doppelkloster, d. h. mit dem gemeinsam von Franziskanern und Klarissen genutzten Kloster S. Chiara, das von Robert d’Anjou, dem König von Neapel (reg. 1309 – 43), und seiner Gemahlin Sancia von Mallorca 1310 in ihrer Residenzstadt Neapel gegründet und 1340 in Anwesenheit der königlichen Familie geweiht wurde, lassen sich gleich mehrere Aspekte mittelalterlicher Architekturgeschichte beleuchten (□ 130, 131). Zum einen hat man es hier mit einer jener Ausnahmen zu tun, bei denen angesichts eines prominenten Stifters regulierende Bauordnungen eines Bettelordens außer Kraft gesetzt wurden. Zum anderen ist es ein Beispiel für ein in Europa im Mittelalter weit verbreitetes Phänomen: jenem, Sorge für das eigene Seelenheil und das der Familie zu tragen, ebenso in politischer Hinsicht für die eigene Dynastie eine repräsentative Grablege zu etablieren |▶ 16, 17, 47, 49, 50| und damit die noch junge Herrschaft der Anjou über das Königreich Neapel und Jerusalem (seit 1266) zu festigen. Der letzte und in diesem Fall wichtigste Aspekt ist allerdings, dass es sich hier erstmals – zumindest zur Hälfte – um ein Frauenkloster handelt, nämlich das Kloster des weiblichen Ablegers der Franziskaner, der
III. Schlüsselwerke
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Klarissen. Lange Zeit haben Frauen-spezifische Phänomene innerhalb der Architekturgeschichte kaum oder gar keine Rolle gespielt. So gibt es zwar zahlreiche Publikationen zu mittelalterlicher Ordensbaukunst allgemein, allerdings waren erst jüngere Arbeiten explizit den Besonderheiten von durch weibliche Orden genutzten Bauten gewidmet (Jäggi 2006, Mohn 2006). Die Bedeutung dieser Studien zeigt sich allein schon in dem Umstand, dass die geschlechtsspezifischen Übereinstimmungen in diesem Zusammenhang erstaunlicherweise wichtiger sind als jene, die aus der jeweiligen Ordenszugehörigkeit resultieren. Zu tun hat das mit den nur eingeschränkten Rechten, die Frauen im Mittelalter in der Kirche besaßen. Insbesondere fehlte ihnen jenes essentielle, die Messe zu zelebrieren: ein Ausschluss, der eine Nonne des Benediktiner-, des Zisterzienser- oder des Franziskanerordens in gleicher Weise betraf wie das Mitglied eines Damenstifts. Zwar waren – viel häufiger als heute angenommen wird – Frauen bereits seit dem Frühmittelalter an liturgischen Handlungen beteiligt. So konnten Nonnen dem Priester Wasser und Wein reichen, sich um den angemessenen Unterhalt der Altäre sorgen, von deren Reinigung bis zur Bereitstellung der Li-
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□ 130 Neapel, Klarissen- und Franziskanerkloster S. Chiara, Gesamtansicht des Doppelklosters, 1310 – 40
turgiegeräte zu Festtagen. Wie bis heute in der katholischen Kirche waren sie aber kategorisch vom Priesteramt ausgeschlossen; insbesondere war ihnen jeglicher Umgang mit der geweihten Hostie untersagt (Jäggi 2006, S. 253 – 254). Insofern mussten weibliche Klostergemeinschaften für das Zelebrieren der Messe nolens volens auf männliche Unterstützung zurückgreifen – im konkreten Fall auf ihre Ordensbrüder, die Franziskanermönche. Dieser Umstand ist fraglos ein essentieller Grund auch für die Anlage eines Doppelklosters am ehemaligen Stadtrand von Neapel (□ vgl. 130). Mit Blick auf Bettelordensklöster darf es mit der kaum mehr zu steigernden Anzahl von anfänglich 50 Klarissen-Nonnen und 10 Franziskaner-Mönchen (Schenkluhn 2000, S. 100), mit der zweifellos das Maximum an Prestige und Seelenheil für die dort Begrabenen gesichert werden sollte. Das trifft auch auf die Kirche selbst zu (□ vgl. 131), die zwar – einem Bettelorden angemessener Bescheidenheit folgend – lediglich einen geraden Chorabschluss und eine Holzbalkendecke und keine Gewölbe aufweist und auch ansonsten an Schlicht- und Kahlheit kaum zu übertreffen ist. Doch die
Maße des riesigen rechteckigen Baus sind im Mittelalter für eine Saalkirche mit ca. 100 m Länge, 33 m Breite (inkl. Seitenkapellen) und 40 m Höhe einzigartig. Die hochgesteckten Ambitionen der Stiftung kommen schließlich auch in der Wahl ausgerechnet der Franziskaner und Klarissen zum Ausdruck. Zweifellos hatte sie unmittelbar mit der Familie der ursprünglich aus Westfrankreich stammenden Anjou zu tun, war doch Roberts Bruder – Louis d’Anjou (1274 – 97), Franziskaner und Erzbischof von Toulouse – ein bedeutender, 1317 – also kurz nach dem Baubeginn des neapolitanischen Klosters! – kanonisierter Ordensheiliger. Ursprünglich unter dem Patrozinium S. Corpus Domini oder Hostia Sacra entstand hier außerhalb des alten Stadtzentrums von Neapel in bemerkenswert kurzer Zeit zwischen 1310 bis 1328 eine der größten Klosterkirchen und -anlagen des Abendlandes. Wie der kleinere Klosterbezirk der Franziskaner unmittelbar an der Südseite der Kirche und das demgegenüber im Osten befindliche, um einen ungefähr dreimal so großen Kreuzgang angeschlossene Klarissenkloster zeigen, lag das Schwergewicht der Stiftung auf dem weiblichen Ordensteil (die
S. Chiara in Neapel
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□ 131 Neapel, Klarissen- und Franziskanerkloster S. Chiara, Innenansicht der Kirche, 1310 – 40
heute erhaltenen Bauten stammen überwiegend aus dem 18. Jh., entsprechen in ihren Ausmaßen jedoch den mittelalterlichen (Michalsky 2000, S. 126). Nördlich davon fügt sich ihm der gewaltige Kirchenbau an. Abgeschlossen wird dieser im Osten von dem monumentalen, fast die gesamte Höhe des Kirchenschiffs einnehmenden Grabmal des Stifters, Roberts des Weisen, das für die Franziskaner wie die Klarissen einen unzweideutigen Fixpunkt bei ihren Fürbittgebeten darstellte. Flankiert wurde Roberts Grab ehemals auf der rechten Seite von jenem Karls von Kalabrien, dem früh verstorbenen Kronprinzen, und zur Linken von jenem Marias von Durazzo, der möglichen Thronfolgerin. Strukturierung und Bereicherung erhält der
III. Schlüsselwerke
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restliche einschiffige Saalbau lediglich durch die im unteren Drittel in Erscheinung tretenden und am deutlichsten Vorbilder französischer Gotik reflektierenden Seitenkapellen und den darüberliegenden Emporen. In Ersteren waren – architektonisch und liturgisch stark untergeordnet – wichtige Hofbeamte der Anjou beerdigt (Freigang 2001, S. 50), während die Emporen in Frauenklöstern klassischerweise den Nonnen vorbehaltene Bereiche darstellten. Trotzdem ist der Teil, den man in Neapel letztlich tatsächlich als Nonnenchor bezeichnen kann, erstaunlich klein und heute kaum als solcher wahrnehmbar: Nicht der bereits beschriebene riesige, im Zweiten Weltkrieg stark zerstörte Kirchenraum war es, sondern der hinter dem Chorbereich befindliche, davon vollkommen abgeschottete kapellenartige Bereich – mitunter als Retrochor bezeichnet (Jäggi 2006, S. 214) –, den man den Nonnen zugedacht hatte, in der Grundfläche kaum mehr als eine Verdoppelung des Franziskanerchores. Mit ihren Ordensbrüdern waren sie lediglich durch eine Öffnung und über das eigentliche Zentrum der gesamten Anlage, das ehemals monumentale, heute durch Kriegsschäden stark dezimierte Grabmal des Stifters, König Roberts des Weisen, verbunden. In Doppelung der Darstellung auf der Seite der Franziskanerkirche fand sich seine Effigie auch noch einmal in der Klarissenkirche wiedergegeben. So waren die Gräber der Stifter in die Gebete beider Gemeinschaften eingeschlossen, in deren räumlichem Fokus sie jeweils standen. Dazu gehörten natürlich auch entsprechende Messen, wie sie von Königin Sancia verfügt worden waren und die dem Haus Anjou zu gelten hatten (Michalsky 2000, S. 138, 148 – 150). Die erwähnte Öffnung in der Wand, die offensichtlich auch zum Reichen der Hostie genutzt wurde (Jäggi 2006, S. 188), ermöglichte lediglich einem begrenzten Teil des Nonnenkonvents eine direkte Teilnahme an der Messe, während die meisten von ihnen sie lediglich hören, nicht aber sehen konnten. Woll-
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te sich dieser Teil der Gemeinschaft nicht auf ein akustisches Erlebnis beschränken, war es möglich, das Visuelle über die – großteils nicht mehr erhaltenen – Malereien an den Wänden des Nonnenchors zu kompensieren. Immerhin ist für den Nonnenchor in S. Chiara eine Ausmalung Giottos (ca. 1328 – 33) überliefert, von der sich noch Reste an der Chorwand erhalten haben (Schenkluhn 2000, S. 101). Diese so sehr auf die Grabmäler der Stifter abgestellte Lösung ist für eine von Nonnen oder Stiftsdamen genutzte Kirche eher ungewöhnlich. Die das ganze Mittelalter hindurch üblichere und weniger stark trennende ist demgegenüber die Einrichtung einer Empore im allgemein zugänglichen Kirchenraum ( □ vgl.14): Diese enthobenen, erhöhten Bereiche ermöglichten
den Nonnen in der Tat auf recht einfache Weise zu sehen, ohne gesehen zu werden. Besonders beliebt war deren Anlage entweder am Westabschluss der Kirche oder aber im Querhaus. Das scheint anfänglich auch in Neapel – mit Blick auf die Emporen über den Seitenkapellen – vorgesehen gewesen zu sein. Offensichtlich ist es dann aber zu einer markanten Umplanung gekommen, bei der man erst das ursprünglich ausschließlich geplante Klarissenkloster mit einem solchen der Franziskaner kombinierte. Für eine Planänderung spricht auch das große Fenster, das ursprünglich als Chorfenster, jedoch kaum als verbindendes Element zwischen Mönchsund Nonnenchor gedacht gewesen sein dürfte (Michalsky 2000, S. 129 – 131).
S. María del Mar in Barcelona Reduktion als Stilmittel
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n unterschiedlicher Ausprägung hatten schon die Kathedrale von Narbonne |▶ 31| und der Florentiner Dom |▶ 32| gezeigt, dass an der Wende vom 13. zum 14. Jh. Lösungen auf den Plan traten, welche die in den vorangegangenen Jahrzehnten in Frankreich etablierten Standards gotischer Baukunst in andere Bahnen lenkten. Aus heutiger Warte könnten diese neue Akzente setzenden Entwürfe geradezu als Gegenbewegung gesehen werden zur spätestens mit dem zweiten Neubau von St-Denis (ab 1231; □ vgl. 82) zunehmenden Verfeinerung der Detailformen und der Auflösung der Hochschiffswände in immer weitere Rundstabschichten bzw. größere Fensteröffnungen. Hinsichtlich Feinheit bei gleichzeitiger größtmöglicher Monumentalität hatte man spätestens mit den Kathedralen von Beauvais, Metz
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und Köln ( □ vgl.108 ) in den 1240er Jahren eine erste Grenze erreicht. Natürlich wurden auch noch danach vergleichbare, weiterhin dem französischen Kathedralschema folgende Projekte (dreischiffige Basilika mit Querhaus, Umgang und Umgangskapellen, dreiteiligem Aufriss) realisiert, wie das u. a. in Frankreich die Kathedralen von Limoges (ab 1272), Orléans (ab 1287) und Evreux (ab 1300) oder aber die Abteikirche St-Ouen in Rouen (ab 1318) zeigen; ja, in den Niederlanden einschließlich des heutigen Nordfrankreich und Belgien behielt es in den reichen Bürgerstädten als Leitbild für deren ambitionierte Pfarrkirchen sogar das gesamte Mittelalter hindurch Gültigkeit (vgl. u. a.: St. Rombaut in Mecheln (ab 1342); Liebfrauenkirche in Antwerpen (ab 1352); Sint Jans in ’s-Hertogenbosch (ab ca. 1375); St. Peter in
S. María del Mar in Barcelona
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252 □ 132 Barcelona, Pfarrkirche S. María del Mar, Innenansicht, 1328 – 83
Leuven (ab 1400); Liebfrauenkirche in Breda (1468 – 1509). Angesichts ihrer vermeintlich fehlenden Eigenständigkeit haben all diese Bauten bisher leider nur ungenügend Würdigung erfahren (ein Überblick bei: Kurmann 1998). Es muss allerdings in der Tat auffallen, dass grob gesprochen um 1300 auch bei Großbauten immer häufiger ein Zug hin zur Reduktion, hin zur Konzentration auf die alleinige Wirkung gewaltiger Raummassen feststellbar wird. Dass das nicht immer so weit gehen musste wie im Fall des Florentiner Doms |▶ 32|, bei dessen Langhaus nur noch Details die Wurzeln seiner (gotischen) Architektur erkennen lassen, zeigt das Beispiel der zwischen 1328 und 1383 ausgeführten Pfarrkirche S. María del Mar im katalanischen Barcelona (□ 132): damals Hauptstadt des Königreichs Aragón, eine der
III. Schlüsselwerke
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wichtigsten und reichsten Seefahrernationen des Mittelmeers. Deren Prosperität kam bereits beim ersten monumentalen Neubau gotischen Stils der Stadt zum Ausdruck: bei der 1298 begonnenen Kathedrale (□ 133). Stärker und reiner als in S. María del Mar ist bei ihr noch das französische Vorbild greifbar, insbesondere die Verwendung eines differenzierten Dienstsystems wie es am deutlichsten an den geradezu aberwitzig hohen, schlanken Bündelpfeilern in Erscheinung tritt. Bei allen grundsätzlichen Ähnlichkeiten hinsichtlich Auf- wie Grundriss zwischen S. María del Mar und der Kathedrale fehlen derartige Details in der kaum weniger monumentalen Pfarrkirche demgegenüber weitgehend. Zweifellos könnte man sie auf den ersten Blick schlicht als verkleinerte und in den Formen reduzierte Version der Bischofskir-
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che einordnen (vgl. insbes. das fehlende Querhaus) und darin einen schlagenden Beleg für das Phänomen unterschiedlicher Anspruchsniveaus und ihrer Ausformulierung in der Architektur sehen. Das ist in diesem Fall jedoch nicht die ganze Wahrheit, steht doch S. María del Mar – die Kirche der sozialen Eliten, d. h. der Seefahrer und Kaufleute, der katalanischen Stadt – hinsichtlich ihrer Dimensionierung nur unwesentlich hinter der des älteren und vermeintlich wichtigeren Baus des Bischofs zurück; in manchem übertrifft sie diesen sogar. Mit Blick auf das Gesamtkonzept erscheint die Reduktion der Detailformen bei S. María del Mar wahrlich weniger als Bescheidenheitsgestus denn als Kunstgriff, mit dem die eindrucksvolle Größe des Raumes noch überwältigender zur Wirkung kommt. Dass dies die eigentliche Absicht war, zeigen bereits die neuen, unglaublichen Spannweiten der nun quadratischen Mittelschiffsjoche mit ihren ca. 14 m × 14 m Seitenlänge, die jene der Kathedrale (ca. 12 m × 9 m) bei weitem übertrafen: Problemlos könnte man darin zwei Joche der Kathedrale von Reims einfügen. Auffallend ist zudem der geometrische Schematismus, der im gesamten Entwurf ablesbar ist: So sind die Abseiten genau halb so tief wie das Mittelschiff, die Kämpferhöhe genau auf der Hälfte der Gesamthöhe. Alles erscheint aus den einfachsten geometrischen Formen von Quadrat und Achteck gebildet. Ähnlich der Kathedrale von Barcelona handelt es sich bei der mit bemerkenswert kleinformatigen Steinen errichteten Kirche S. María del Mar um eine dreischiffige Basilika mit einem nun vierjochigen Langhaus und einem mit prächtigem 7 / 14-Schluss und vorgelagertem Halbjoch ausgestatteten Chor, der von einem Umgang eingefasst wird. In bekannter Weise ist daran ein Kranz von insgesamt neun Umgangskapellen mit polygonalem Abschluss
angefügt. Nun auf annähernd quadratischem Grundriss ausgeführt, finden die Kapellen seitlich des gesamten Langhauses Fortsetzung: eine Eigenheit, die schon bei den Kathedralen von Clermont-Ferrand (1248) und Narbonne (ab 1272; |▶ 31), aber auch in jener von Albi (ab 1282) begegnet, bei dieser in Kombination mit einer gewaltigen Saalkirche. Die beschriebenen weitgespannten Joche stehen in Barcelona auf bemerkenswert überlängten, schlichten oktogonalen Pfeilern, die an ihrem oberen Abschluss eine vergleichsweise schmale, aus Einzelkapitellen zusammengesetzte Zone aufweisen. Recht akkurat ist jedes von ihnen einem
□ 133 Barcelona, Kathedrale, Innenansicht des Chores mit Lettner und Chorgestühl, ab 1298
S. María del Mar in Barcelona
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bestimmten Bogen der Wölbung zugeordnet. Der Aufriss ist zweiteilig, wobei – ähnlich wie u. a. schon beim Mailänder Dom (□ vgl. 151) – nur noch im obersten Fünftel Platz für einen kleinen Obergaden bleibt, in dem man auf kleine mit Maßwerk gefüllte Okuli trifft. Die Beleuchtung des Innenraumes erfolgt demgegenüber hauptsächlich über die Seitenschiffswände: Hier finden sich im unteren Bereich drei Seitenkapellen, die jeweils zweibahnige Maßwerkfenster beleuchten. Getrennt werden sie von Strebepfeilern, deren Stirn mit einer polygonalen Wandvorlage bereichert ist. An jeder dritten von ihnen nimmt über dem Kapitell eine weitere, den Seitenschiffsgewölben zugeordnete Vorlage ihren Ausgang. Der Rest der Seitenschiffswand bleibt auffällig ungegliedert, einmal abgesehen von dem dezenten Gesims, das das Feld unmittelbar unter dem Schildbogen abgrenzt. In ihm ist ein weiteres, diesmal etwas breiteres, vierbahniges Fenster zu finden. Schon die Kürze der Beschreibung macht die generelle Schlichtheit der Architektur von S. María del Mar deutlich. Komplizierte, raffiniert geschnittene Profile oder Pfeilergrundrisse wird man hier auf jeden Fall vergebens suchen. So eigenständig und radikal der Entwurf von S. María del Mar ausfällt: Es wäre verfehlt, nun andere vergleichbar gestaltete Bauten der Zeit und Region um ihn zu scharen und ihr Aussehen als spezifische Handschrift eines bestimmten Architekten zu interpretieren. Denn der Planende, der aus Barcelona stammende Berenguer de Montagut, ist kurz zuvor, ab 1322, an der Kollegiatskirche von Manresa nachweisbar (Freigang 1992, S. 163), die zwar gewisse Ähnlichkeiten besitzt, letztlich aber eine gänzlich andere Lösung darstellt. Die dank der weitgespannten Joche verringerte Zahl an Pfeilern trägt deutlich zur allgemeinen Transparenz und Klarheit des Innenraums bei. Gerade ein Vergleich mit dem über zwei Jahrhunderte älteren Speyerer Dom (□ vgl. 56) ist hier erhellend: Er liegt zwar in ei-
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ner ganz anderen Region Europas, gleichwohl besitzt er mit dem quadratischen Grundriss der Mittelschiffsgewölbe in formaler Hinsicht – aber natürlich ausschließlich in dieser – große Ähnlichkeiten zu S. María del Mar. Angesichts der dank des sog. gebundenen Systems fehlenden Einheitlichkeit der Jochtiefen von Seitenund Mittelschiffsjochen (auf ein Mittelschiffsjoch kommen zwei des Seitenschiffs) und der damit verbundenen größeren Zahl von Pfeilern werden in Speyer beide Raumeinheiten erheblich stärker voneinander getrennt. Querblicke durch die gesamte Kirche, die den Bau in seiner Gesamtheit, d. h. nicht nur in der Längen-, sondern auch in seiner Breitenerstreckung, für das menschliche Auge erfahrbar machen, sind hier noch nicht möglich. Demgegenüber wird solches in Barcelona noch weiter durch den fast hallenartigen Charakter der Kirche unterstützt, sind doch ihre Seitenschiffe unwesentlich niedriger als jene des Hauptschiffes. Die hinsichtlich ihrer Wölbung ausnehmend kühne Architektur von S. María del Mar sollte letztlich nur noch von einem einzigen anderen Bau der Region übertroffen werden: der Kathedrale von Girona (ab 1312), deren 23 m breites Langhaus man im 15. Jh. mit gewaltigen vierteiligen Gewölben – den größten gotischen Kreuzrippengewölben überhaupt – überspannte, und das bei einer Scheitelhöhe von 34 m. Es ist dies eine einzigartige ingenieurtechnische Leistung, die noch einmal nachhaltig die Wölbkunst als eine der hervorstechenden Qualitäten der katalanischen gotischen Architektur herausstreicht. Als weitere Belegbeispiele wären dafür darüber hinaus u. a. zu benennen: die in ihrer Anlage S. María del Mar eng verbundene Kathedrale von Palma de Mallorca (ab ca. 1306) mit einer Mittelschiffshöhe von 44 m – eine der höchsten des Abendlandes (Seitenschiffe immerhin noch 30 m) – oder auch der Saló del Tinell des Palau Real in Barcelona (1359 – 62) mit seinen über 33 m weit gespannten Transversalbogen (Freigang 1992).
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Das schlichte innere Erscheinungsbild wird am Außenbau noch gesteigert. Offensichtlich hat man diesem keine allzu große Bedeutung beigemessen, verständlich angesichts des Umstands, dass ein Großteil der Kirche im eng bebauten Häusermeer des Viertels verschwindet. Dort, wo sie sichtbar wird, trifft man auf einen blockhaft schlichten Bau: eine in dichter Folge von den Maßwerkfenstern der Seitenkapellen durchbrochene, ansonsten gänzlich glatte, undekorierte Wand im Arkadengeschoss, die im zurückspringenden Bereich des Obergadens im Langhausbereich lediglich durch vier auf Höhe der Mittelschiffspfeiler und am Chor etwas dichter gesetzte, massive Strebepfeiler
untergliedert wird. Gemeinsam mit den im Inneren die Seitenkapellen trennenden, am Außenbau unsichtbaren Pfeilern bilden sie das notwendige statische Grundgerüst des Gebäudes aus, das überhaupt erst die lichte und leichte Lösung im Inneren ermöglicht. Weitere Steigerung erfährt das ausnehmend reduzierte Erscheinungsbild des Außenbaus im Übrigen noch dadurch, dass man – ermöglicht durch ein regenarmes Klima – auf einen Dachaufbau im eigentlichen Sinne verzichtete. Wie öfters in Spanien und südlichen Ländern übernehmen die Funktion der Wasserabweisung die stärker verputzten Oberseiten der Mittel- und Seitenschiffsgewölbe.
Das Schloss von Vincennes Vorgeschichte des neuzeitlichen Schlosses
D
as etwa sechs Kilometer vor den Toren des mittelalterlichen Paris gelegene und für den französischen König in relativ kurzer Zeit zwischen ca. 1361 und 1380 errichtete Schloss in Vincennes – in seiner Zeit eine der größten Anlagen dieser Art in Europa – ist ein ungewöhnlich gut erhaltenes und aufschlussreiches Beispiel, um die allmähliche Entwicklung von der mittelalterlichen Burg zum (früh-)neuzeitlichen Schloss zu verstehen (□ 134; Mesqui 1988, S. 332 f.). Deutlich sind hier noch Traditionen älterer französischer Wehrarchitektur greifbar, wie sie am Beispiel von Coucy |▶ 24| vorgestellt worden sind. Zugleich weisen aber einige Eigenheiten des Vorhabens auf Zukünftiges, mehr auf Repräsentation und Komfort Ausgerichtetes voraus. Die weitläufige, bereits die Ausmaße einer kleinen Stadt besitzende Anlage entstand inmitten des königlichen Jagdgebietes und umschloss ursprünglich ein im
12. und 13. Jh. tatsächlich zu diesem Zweck errichtetes Schloss, das Château du Bois-de-Vincennes. Die Funktion sollte fortan eine ganz andere sein. So ging es dem königlichen Auftraggeber darum, neben dem Komplex auf der Île de la Cité und neben dem Louvre eine neue Residenz(-Stadt) vor den Toren der Stadt zu etablieren – durchaus vergleichbar der späteren, im 17. Jh. erfolgten Verlagerung des Hofes nach Versailles –, um sich so gegebenenfalls allen Gefahren der nicht immer leicht zu kontrollierenden Metropole Paris entziehen zu können (vgl. die Unruhen 1357 – 58). Treffend spricht Christine de Pisan, die Biographin Karls V., von einer ville fermée, die der König in Vincennes habe errichten lassen. In der Tat wurde es in der Folge die meistgenutzte Residenz des französischen Königs nach jener auf der Île de la Cité (eine Zusammenfassung der wichtigsten Daten und Fakten in: Mesqui 1988, S. 332 – 361;
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Chapelot 2001). Wichtig ist aber auch, was Christine de Pisan zudem berichtet, heißt es doch bei ihr im kompletten Wortlaut (in deutscher Übersetzung): ,Er hatte die Absicht, eine befestigte Stadt zu errichten, und dort würde die Wohnung mehrerer Herren, Ritter und anderer geliebter Personen in Gestalt schöner Herrenhäuser bereitgestellt und jedem gewährte er dort eine Rente auf Lebenszeit, angemessen seiner Person.‘ (Christine de Pisan / Solente 1997, Bd. II, S. 40.) Die Bauarbeiten an dieser gewaltigen Anlage, in der problemlos die 700 – 800 Angehörigen, die der Hof Ende des 14. Jh.s besaß (Chapelot 2001, S. 28), untergebracht werden konnten, erfolgten maßgeblich unter König Karl V. Er konnte dabei auf gewisse, bereits 1337 ausgeführte Vorarbeiten seines Großvaters Philipp VI. aufbauen (Chapelot 2001, S. 46). Es handelt sich um eine Mischung aus herkömmlicher Donjon-Burg und kastellartiger Anlage, die ganz offensichtlich Ideen einer Planstadt verfolgte. Die regelmäßige, auf längsrechteckigem Grundriss von 334 m Länge und 175 m Breite errichtete Anlage wird hinter einem breiten Graben von hohen Mauern und einer Vielzahl ehemals hochaufragender Türme von ca. 40 m Höhe ein-
gefasst. Derjenige in der Mitte einer jeden Seite ist dabei jeweils etwas größer als Toranlage ausgebildet. Einer von ihnen hat sich komplett erhalten, die sog. Tour du Village, die an der Nordseite zur Straße nach Paris hinausführt (wie die Reste zeigen, ehemals mit einem ausführlichen Bildprogramm ausgestattet). An der Westseite findet sich an dieser Stelle ein gewaltiger, ex tra umwallter und durch einen eigenen Graben geschützter Bereich, der ursprünglich über zwei Brücken von außen und innen erreichbar war. In seiner Mitte ragt nun der ca. 50 m hohe Donjon auf, der hinsichtlich Dimensionierung und Positionierung das unangefochtene Zentrum der gesamten Anlage darstellt (□ 135). Allem Anschein nach ist er auch der Ausgangspunkt des Neubauprojekts. Seine genaue Entstehungszeit ist umstritten. Die einen sehen ihn noch unter Johann dem Guten (gest. 1364) vollendet (Chapelot 2001, S. 51), während ihn andere für ein Werk König Karls V. halten (Albrecht 1986, S. 34). Eine Lösung dieser Frage mag darin liegen, dass Karl als Kronprinz bereits zwischen 1356 und 1360, also während der englischen Gefangenschaft seines Vaters, die Regierungsgeschäfte führte und zu dieser Zeit auch bereits maßgeblich beim Neubau der Schlossanlage in
□ 134 Jacques Androuet Ducerceau d. Ä.: Vincennes, Gesamtansicht der Schlossanlage von 1576, 1361 – 80
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□ 135 Vincennes, Isometrie des Donjons, nach 1361: 1 Küche; 2 Salle du Conseil; 3 Zimmer des Königs; 4 Treppe des Königs; 5 Pforte zur kleinen Wendeltreppe; 6 Pforte zum südöstlichen Eckturm, der auf dieser Ebene als Garderobe dient; 7 Pforte zum nordöstlichen Eckturm, in dem die Aufbewahrungstruhen des Königs untergebracht sind; 8 Latrine des Zimmers des Königs; 9 Tür zum Studierzimmer des Königs; 10 Oratorium; 11 Kapelle; 12 Raum unbekannter Nutzung; 13 als Unterkunft und für militärische Zwecke genutztes Stockwerk; 14 –15 Zwischengeschosse; 16 Terrasse; 17 Wachturm; 18 östliche Toranlage; 19 Holzbrücke als einziger direkter Zugang zum Donjon; 20 Uhrenturm mit Glocke; 21 unbedeckter Wehrgang; 22 aufgesetztes Ecktürmchen; 23 – 24 vom König außerhalb des Kernturms genutzte Räumlichkeiten; 25 Kapelle; 26 Wirtschaftsgebäude (communs); 27 Verteidigungsturm des Westzugangs; 28 steinerne Zugangsbrücke; 29 hölzerne Zugbrücke; 30 Graben; 31 Aquädukt; 32 Umwallung der Burg; 33 Ausfalltor; 34 Graben der gesamten Stadtanlage
Erscheinung treten konnte. Dass diese wirklich als eine neue Residenz, ja gleichsam als adäquater Ersatz für jene auf der Île de la Cité beabsichtigt war, zeigt schließlich die um 1379 begonnene Kapelle, die – dem Grundriss des älteren Jagdschlosses folgend – leicht schräg innerhalb der Anlage des 14. Jh.s steht. Als einziges erhalten gebliebenes bauzeitliches Gebäude
im Inneren des so aufwändig umfriedeten Bereichs trägt sie einen bezeichnenden Titel: den einer Ste-Chapelle (Heinrichs-Schreiber 1997). Tatsächlich ist der fünfjochige, fast gänzlich durchfensterte Bau als modernes Pendant der in den 1240er Jahren im Stadtzentrum entstandenen gleichnamigen Kapelle gedacht, sogar die Eigenheit der an der Nordseite ebenfalls
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in Kapellenform errichteten kleinen Sakristei ist beibehalten. Die beiden Oratorien für König und Königin seitlich des östlichen Abschlusses sind demgegenüber eine Neuerung, ebenso der Verzicht auf die Zweigeschossigkeit der vorbildlichen Kapelle des 13. Jh.s. Insgesamt hat Vincennes (□ vgl. 134) nur noch wenig mit einer klassischen Burganlage zu tun. Am ehesten mag einem noch eine Planstadt wie das ab 1248 im Auftrag des französischen Königs Ludwig IX., des Heiligen (reg. 1226 – 70), ausgeführte Aigues-Mortes (Ringmauer ab 1272 bis Ende des 13. Jh.s) in Südfrankreich in den Sinn kommen. Dort findet sich eine ähnlich regelmäßige Struktur auf längsrechteckigem Grundriss, mit einer vergleichbaren exakt symmetrischen Verteilung von Turm- und Torbauten. Doch gerade bei diesen zeigt ein genauerer Blick die großen Unterschiede zwischen den beiden Plananlagen des 13. bzw. des 14. Jh.s: Wenig haben die mehrere Stockwerke über die Stadtmauer aufragenden bis zu siebengeschossigen Türme in Vincennes mit solchen in Aigues-Mortes oder anderen entsprechenden Anlagen des 13. Jh.s, wie etwa Coucy oder Angers, zu tun. Gerade die reiche Durchbildung der Fassaden u. a. mit Strebepfeilern und die starke Durchbrechung mit Fenstern, die Existenz repräsentativer beheizbarer und gewölbter Räume sowie schließlich die schiere Größe (Grundriss wie Höhe betreffend; schon ein Chronist des späten 14. Jh.s bemerkte: un chastel a onze grosses tours hault comme clochiers, Chapelot 2001, S. 76) machen deutlich, dass sie in Vincennes kaum mehr reinen Verteidigungszwecken dienen. Stattdessen handelt es sich ungewöhnlicherweise um eine ganze Abfolge von Donjons: Wohntürme, die dazu gedacht waren, während des Aufenthalts des Königs den führenden Mitgliedern seines Hofes als Unterkunft zu dienen (Chapelot 2001, S. 80 – 82; Lorentz / Sandron 2006, S. 95). Intention des Königs war also, die – über Pensionen von ihm ausgehaltenen – Vertrauten in seiner
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Nähe und damit unter ständiger Kontrolle zu haben (Albrecht 1986, S. 36). Es werden eben diese Turmbauten gemeint gewesen sein, wenn Christine de Pisan von den manoirs (Herrenhäusern) spricht, die der König in Vincennes seinen Gefolgsleuten errichten habe lassen (vgl. auch den Titel Tour d’Anjou, der zumindest für einen von ihnen überliefert ist und allgemein als Hinweis für eine Nutzung durch den Herzog von Anjou gesehen wird). Ob diese Idee auch realiter funktionierte, berichten uns die Quellen leider nicht. Lediglich die beiden kleineren, die an der östlichen Längsseite zwischen Eck- und zentralem Torturm zu finden sind, sind demgegenüber Wehrtürme im klassischen Sinne. Der aufwändigste und die gesamte Anlage dominierende Bau ist zweifellos der ‚eigentliche‘, ehemals zinnenbekrönte Donjon an der Westseite ( □ vgl. 135 ). Bereits unter König Philipp VI. waren für ihn um 1340 die Fundamente gelegt worden (Lorentz / Sandron 2006, S. 94). Hinter einem separaten breiten Graben wird er noch einmal von einer eigenen Wallanlage von 55 m × 55 m geschützt, die auf einer steilen gemauerten Böschung steht. Nach einer über das Wasser führenden Brücke gibt eine zweitürmige Toranlage den Weg zum Innenhof frei, den der allein vom König genutzte Donjon zum größten Teil einnimmt. Ansonsten fanden sich hier einige weniger wehrhafte, dafür aber für die Hofhaltung unabdingbare Bauten und Räumlichkeiten. Das unterste Geschoss des Donjons ist mit einer über 3 m dicken Mauer gänzlich geschlossen. Zugang zu ihm erhält man allein über eine in der Toranlage verborgene Treppe. Sie führt hinauf zu einer kleinen Zugbrücke, die dann direkt in das erste Obergeschoss des Donjons leitet. Ähnlich den Stadttoren, von denen noch die Rede sein wird |▶ 42, 46|, erhalten die Ecken der rahmenden zinnenbekrönten Wehranlage durch aufgesetzte Türmchen, die als Ausguck dienten, noch einmal besondere Betonung.
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Weit komplexer in seinem Aufbau, als das etwa 150 Jahre früher an jenem in Coucy der Fall war, besitzt er einen Grundriss, der einem kantonierten Pfeiler nicht unähnlich ist. Deswegen, aber auch wegen seiner in der Tat partiell sehr vergleichbaren Innenaufteilung hat man ihn immer wieder in die Nähe des Pariser Tour du Temple (13. Jh.) gerückt, der allerdings eine etwas andere Proportionierung aufweist (Albrecht 1986; □ vgl. 156 links außen). Grundsätzlich ähnlich ist jedoch die Aufteilung in einen zentralen Turmkern auf quadratischem Grundriss von nun 16 m × 16 m, der an den vier Ecken von – gegenüber der älteren genannten Turmanlage – vergleichsweise großen Türmen eingefasst wird. Partiell sind die Treppen in sie integriert, aber auch kleine, beheizbare Privaträume, v. a. an der Nordwestseite, wo dem Donjon zu diesem Zweck auf rechteckigem Grundriss ein Annexbau angefügt ist. In ihm finden sich in den drei mittleren Hauptebenen z. B. die Latrine und das königliche Studierzimmer untergebracht, im gegenüberliegenden Rundturm der Nordostecke dagegen die Kapelle und direkt mit ihr verbunden das königliche Oratorium; das Türmchen in der Südwestecke dient schließlich als Garderobe des Königs. Der zentrale, bis zu 8 m hohe Raum wird in den einzelnen Ebenen auf recht unterschiedliche Weise jeweils von vier quadratischen Kreuzrippengewölben überfangen. In den drei mittleren, nahezu identischen Geschossen sitzen sie jeweils auf einer reich gestalteten zentralen Mittelstütze auf. Der unterste von ihnen (erstes Obergeschoss) mag noch ein öffentlich zugänglicher Aufenthaltsbereich des Hausherrn, des französischen Königs, gewesen sein. In der Literatur wird er demgemäß mitunter auch als Salle du Conseil bezeichnet. Von dort erreicht man das möglicherweise eher privat genutzte dritte Geschoss über die breite Treppe im Südostturm, während von dort nur noch eine schmale in das Mauerwerk eingelassene Wendeltreppe in das vierte Geschoss hinaufführt. Die tatsächliche Nutzung lässt sich
heute nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Gesichert ist nur, dass hier nicht die Königin und die Kinder des Paares untergebracht waren, da diese bei Aufenthalten in Vincennes jeweils im alten Jagdschloss logierten. Die daran anschließenden zwei letzten Geschosse, die immer noch sehr aufwändig gestaltet sind, scheinen dann gänzlich Verteidigungszwecken gewidmet gewesen zu sein. Das wenig repräsentative unterste, gänzlich unbeleuchtete Geschoss diente dagegen als Speicher und Küche (alle Angaben nach: Lorentz / Sandron 2006, S. 94 f.; Chapelot 2001, S. 51 – 63). Mit seiner Dimensionierung, aber auch mit der markanten Verbesserung des Komforts und der Erhöhung des gestalterischen Aufwands, der nun den Wohn- über den Verteidigungsaspekt stellte, verkörpert Vincennes gleichermaßen den Höhe- wie Endpunkt der Entwicklungsgeschichte des Donjons. Aus dem mittelalterlichen Wehrbau hervorgegangen, beginnt es hier allmählich schwerzufallen, uneingeschränkt von einer Burg zu sprechen (Prinz / Kecks 1994, S. 38). Typisch ist in Vincennes dabei z. B., die vier eigentlich auf Verteidigungszwecke zurückgehenden runden Ecktürmchen umzudeuten und sie nun als effiziente Lösung zu verwenden, um einem zentralen Raum mehrere kleinere beizuordnen. Zugleich weisen die ihn in Vincennes mit der gesamten Wehrmauer rahmenden Türme mit ihrer Nutzung durch hochrangige Mitglieder des Hofes bereits auf entsprechende Pavillonsysteme weit späterer neuzeitlicher Residenzen hin (vgl. auch die etagenweise angeordneten Appartements inklusive Oratorien). Ganz konkret wirkt das regularisierte System von Vincennes mit seinem Donjon im Übrigen selbst im fast eineinhalb Jahrhunderte späteren Schlossbau von Chambord weiter, dessen Corps de Logis immer noch auf quadratischem Grundriss mit vier runden Turmbauten ausgeführt ist (v. Engelberg 2013, S. 126 – 130).
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Der Papstpalast in Avignon Das päpstliche Zeremoniell
B
ereits kurz vor dem französischen Königsschloss in Vincennes war im 14. Jh. der Neubau eines anderen maßstabsetzenden Residenzbaus in Angriff genommen worden: derjenige des Papstpalasts in Avignon (□ 136, 137). Bis heute stellt er eine der gewaltigsten Anlagen seiner Art und Zeit dar, größtenteils ausgeführt in zwei Baukampagnen während der Amtszeiten der Päpste Benedikt XII. (1334 – 42) und Clemens VI. (1342 – 52). Der ältere Palastteil ist dabei um den nördlichen, kleineren Innenhof angelegt, an dessen Südostecke sich ein frei stehender Flügel anschließt (Palais Vieux). In
ihm waren u. a. die Privatgemächer des Papstes untergebracht. Zusammen mit der Erweiterung der jüngeren Bauphase bildet er nun eine Seite des zweiten, etwas größeren südlichen Innenhofes aus. Gemeinsam mit der Errichtung in mehreren Bauabschnitten mögen v. a. die recht unterschiedlichen Strukturen der Höfe des höchsten geistlichen Würdenträgers und des französischen Königs der Grund dafür gewesen sein, dass in Avignon kein vergleichbar klar strukturierter, auf ein bestimmtes Zentrum hin ausgerichteter Komplex vorliegt wie in Vincennes.
□ 136 Avignon, Papstpalast, Gesamtaufnahme der in zwei Baukampagnen unter den Päpsten Benedikt XII. (1334 – 42) und Clemens VI. (1342 – 52) sowie ihren Nachfolgern entstandenen Anlage von Nordwesten
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□ 137 Avignon, Papstpalast, Grundriss, 1334 – 70
Der Papstpalast in Avignon
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Vielmehr trifft man hier auf eine kleinteilig gegliederte, im Inneren geradezu verwirrende Anlage, gebildet aus vielen einzelnen Baukörpern verschiedenartigster Dimensionierung. Die Intentionen der beiden Auftraggeber scheinen letztlich auch recht unterschiedlich gewesen zu sein, handelt es sich doch bei Avignon noch weit mehr um eine nach und nach gewachsene Burg. Tatsächlich macht die gesamte Anlage – von welcher Seite man sich ihr auch nähert – einen ausnehmend trutzigen, abweisenden Eindruck. Dazu tragen wesentlich die aus der zeitgenössischen südfranzösischen Wehrarchitektur übernommenen Blendarkaden bei, die fast das gesamte recht verschlossene Äußere des Palasts strukturieren. Mehr als bloße Gliederung, weisen sie in ihrem Scheitel Wurfschächte (sog. mâchicoulis) auf, die eine Bekämpfung des Feindes von oben ermöglichen. Akzente setzen mehrere hoch aufragende, geradezu donjonhaft wirkende Türme an den Ecken und nicht zuletzt die beiden kleinen Türmchen, die den Haupteingang an der Westseite markieren. Größere Fenster treten in derartiger Verteidigungsarchitektur lediglich in dem etwas jüngeren, unter Clemens VI. entstandenen Bauabschnitt in Erscheinung, der mit einer gewissen Umdeutung des Charakters der Anlage verbunden war. Unterschiede zwischen den beiden Baukampagnen werden ansonsten v. a. im Innern offensichtlich: Weisen die älteren, unter Papst Benedikt entstandenen Räume fast durchgängig Holzdecken auf – Tonnen oder flache Balkenkonstruktionen –, so sind die der jüngeren zumeist gewölbt. Zugeschrieben werden sie Jean de Louvres, den man gern als einen aus Paris kommenden Architekt identifizierte, während für den früheren Palais Vieux in den Quellen ein Pierre Poisson aus dem südfranzösischen Mirepoix bei Carcassonne in den Quellen genannt wird. Was den Papstpalast so bemerkenswert macht, ist nicht nur seine schiere Größe, sondern v. a. die ungewöhnliche historische Situation, die zu seinem Bau führte, nämlich die
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durch verschiedene Faktoren bedingte Verlagerung der Residenz des Oberhaupts der Kirche von Rom nach Avignon, nach damaliger Sichtweise in das Grenzgebiet zwischen französischem Königreich und Heiligem Römischem Reich. Bereits seit 1274 Herr über die nahe gelegene Grafschaft Venaissin, sollte dieser Besitz 1305 für den Papst, nun in Person von Clemens V., einer der Gründe sein, im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Kaiser und angesichts der unsicheren Lage in Rom sowie maßgeblich unterstützt vom französischen König Philipp IV. Avignon als neue Residenz zu wählen. Dies verfestigte sich unter dem nachfolgenden Johannes XXII., dem vormaligen Bischof von Avignon, der seinen Bischofs- nun als provisorischen Papstpalast umnutzte. Es war dann allerdings erst Benedikt XII., der diese Interimslösung ab 1334 durch einen monumentalen Neubau ersetzte. Dass der Papst seinen Palast nicht aus gänzlich ungefährdeter Position errichten konnte, zeigt bereits der beschriebene wehrhafte Charakter der Anlage, aber auch – als noch großformatigere Sicherungsmaßnahme – die in nicht minder großer Eile errichtete, ebenfalls gewaltige Stadtmauer. Zu Beginn des 14. Jh.s stand man also nicht nur vor dem Problem, einen der bedeutendsten europäischen Höfe binnen kürzester Zeit translozieren zu müssen, sondern auch ein neues Machtzentrum, eine neue Hauptstadt zu etablieren, die sich mit London, Paris, Barcelona oder Neapel zu messen hatte. Demnach hätte eine Analyse des Papstpalasts also eigentlich auch die restlichen Strukturen dieser Stadt einzubeziehen, d. h. auch die damals fast durchgängig erneuerten oder neu errichteten Kirchen, in gleicher Weise die Palaisbauten hochrangiger Mitglieder des päpstlichen Hofes, insbesondere der Kardinäle (vgl. die Residenz von Kardinal Arnaud de Via, ab 1335 als neuer Bischofspalast weitergenutzt), die ebenfalls aus Rom übergesiedelt waren. Avignon wurde aber nicht nur neues geistiges Zentrum (vgl. z. B. die 1303
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vom Papst gegründete Universität), sondern auch ein solches in ganz weltlicher Hinsicht: Zweifellos veränderte ihr rasantes Wachstum die Strukturen, zog die Stadt doch eine Fülle von Kaufleuten und anderen Weltlichen an, die man für das Funktionieren des Hofes benötigte, nicht zuletzt Künstler. Gerade Letztere sind im Übrigen ein beeindruckendes Beispiel mittelalterlichen Kulturtransfers, beauftragte der Papst doch nicht etwa irgendwelche lokale Kräfte, sondern engagierte damals die führenden italie nischen Maler Simone Martini und Matteo Giovanetti, deren Aufenthalt in Avignon von 1335 bis 1344 bzw. von 1336 bis 1368 verbürgt ist. Angesichts der beschriebenen historischen Situation hatte man sich in Avignon nun keinerlei Beschränkungen zu unterwerfen und konnte den Palast so anlegen, wie man ihn für das Oberhaupt der christlichen Kirche für angemessen hielt: als ideale architektonische Folie für das päpstliche Zeremoniell (Kerscher 2002, Freigang 1998). Definiert man das Zentrum der Palastanlage als den Ort, an dem die persönlichen Gemächer des Hausherrn zu finden sind, so tritt er für den Besucher in Avignon weit weniger offensichtlich in Erscheinung als in Vincennes mit dem zentralen, frei stehenden Donjon: Eingefasst von niedrigeren Bauten sind sie in Avignon in dem Turm des heutigen Ostflügels des südlichen Innenhofes untergebracht (Papst- oder Engelsturm). Diesem großen Raum auf quadratischem Grundriss unmittelbar angegliedert befand sich im ersten Obergeschoss – als der maßgeblich vom Papst privat genutzten Ebene – an der Nordseite ursprünglich ein Arbeitszimmer und ein kleiner privater Speiseraum (heute zerstört) sowie die zwischen beiden gelegene Paramentenkammer. In ihr schliefen nicht nur zwei Wachen, sondern wurden auch die Kurialen eingekleidet und für diese und andere hochgestellte Persönlichkeiten Empfänge veranstaltet. Ebenso war er Ort für geheime Beratungen. Er fungierte damit als Mittler zwischen privatem und öffentlichem Be-
reich, der nördlich mit dem großen Speisesaal (Grand Tinel) folgte, und fungierte bei Privat audienzen des Papstes als veritable anticamera (Kerscher 2002, S. 123 – 125). Die restlichen um den Innenhof hinter der Loggia aufgereihten Räume hatten dann stärker öffentlichen Aufgaben zu dienen: der sog. Konklaveflügel im Süden, die Räume für das päpstliche Gefolge im Westen und die Papstkapelle im Norden. In der äußersten Nordostecke findet sich etwas herausgerückt der sog. Trouillasturm mit den Vorratsräumen und der Waffenkammer. Südlich schloss sich daran in beiden Stockwerken eine Küche an, über die im Erdgeschoss das große Konsistorium (Tagungsort der Kurie) versorgt wurde, oder im Obergeschoss der genannte große Speisesaal (in beiden Geschossen mit angebauter Kapelle an der Ostseite). In vertikaler Richtung hatte der Papst im Engelsturm demgegenüber direkten Zugang zu der unter seinen Gemächern liegenden Schatzkammer und Bibliothek, die über eine eigene Treppe erreichbar waren. Diese ausgewiesene, das komplexe höfische Zeremoniell des Papsthofes spiegelnde Differenzierung von privaten zu immer stärker öffentlichen Räumen war ungewöhnlich in dieser Zeit. Als Vorbild dafür sind Schlossanlagen in Katalonien, v. a. der königliche Palast Almudaina in Palma de Mallorca benannt worden. Zumindest für den französischen Schlossbau ein Novum sind auch die Loggien im Innenhof, zu denen eine flache, für einen zeremoniellen Einzug gut nutzbare Freitreppe führt. Unter Clemens VI. wird das Raumprogramm für den Papst noch differenzierter und repräsentativer: Nun schließt sich unmittelbar südlich der sog. Garderobenturm an (darin das päpstliche Arbeitszimmer, die aufgrund ihrer Landschaftsmalereien berühmte Chambre du Cerf), noch weiter südlich der neue Flügel mit der gewaltigen Privatkapelle im Obergeschoss und der nicht minder beeindruckenden Audienzhalle im Erdgeschoss. Im Obergeschoss konnte der Papst von einem an der Nordseite gelegenen
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Vorraum mit dem großen Innenhof kommunizieren. Durch das größte Fenster des Palastes überhaupt (sog. Ablassfenster) war es möglich, der dort versammelten Menge Ablässe zu verkünden oder Segen zu spenden. Einmal mehr ist für diese Kombination von Zeremonialtreppe, Loggia und Hofkapelle das entwickelte Hofzeremoniell des mallorquinischen Königshofs als Inspirationsquelle vermutet worden. Doch auch der Palast selbst sollte bald schon vorbildlich werden: Seit Ende des 14. Jh.s bestimmt er die Raumabfolgen von Kardinalsresidenzen in Italien und nach der Rückkehr des Papstes nach Rom selbst noch den Ausbau des Vatikans. Sieht man einmal von der geräumigen einschiffigen Papstkapelle mit ihren beeindruckend weit über 16 m gespannten Gewölben oder dem darunter im Erdgeschoss gelegenen zweischiffigen Audienzsaal mit seinen ebenfalls ansprechenden architektonischen Detailformen ab, so fallen die Räume des Palastes heute recht unspektakulär aus: Große geschlossene, ja, kahle Wandflächen ohne weitere architektonische Gliederung dominieren das Bild. Zum einen hat das sicherlich damit zu tun, dass das gewaltige Vorhaben innerhalb kürzester Zeit zu erstellen war – die erste Bauphase umfasste ja kaum mehr als sieben Jahre –, man also schon deswegen auf (zeit-)aufwändig ausgearbeiteten Architekturdekor verzichten musste. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass der Eindruck, den man heute gewinnt, natürlich nur eingeschränkt der ursprüngliche ist, besichtigt man doch gleichsam den Rohbau des Palasts. Wie einige Spuren immer noch zeigen, erfolgte die Innengestaltung – möglicherweise stärker italienischen Gewohnheiten folgend, eventuell aber auch einfach der schnelleren Realisierbarkeit wegen – hauptsächlich durch das etwas weniger haltbare Medium der Wandmalerei. Man stelle sich z. B. die zeitgleichen Räume von Kaiser Karls IV. Burg Karlstein ohne Fresken und Inkrustationen vor: Sie hätten wohl eine ähnlich bescheidene Wirkung.
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Dabei konnten die Wandmalereien tatsächlich bildliche szenische Darstellungen umfassen, wie das in der Kapelle St-Jean und im sog. Hirschzimmer im Garderobenturm (1343) der Fall ist, oder aber stärker dekorativer Natur sein, wie im zeitgleichen Schlafgemach des Papstes. Hier und an anderer Stelle zeigt sich, dass es zwar vordergründig um die Dekoration und Untergliederung großer Wandflächen ging, dass dabei aber v. a. auch kostbare Materialien suggeriert werden sollten. Im Sockel der beiden großen Säle sind das z. B. mehrfarbige Marmorinkrustationen (teilweise noch ablesbar), wie sie gerade in Spanien und Italien im Mittelalter im Profanbau zu finden sind. Wie jüngste Rekonstruktionen zeigen, sollen im Grand Tinel darüber – täuschend echt – hochaufragende, perspektivisch verkürzte steinerne Arkaturen gemalt gewesen sein, hinter denen die Imitation einer kostbaren, reich gemusterten purpurfarbenen Wandbespannung zu sehen war (vgl. auch die Fresken im Konklave saal; Kerscher 2002, S. 191). Überfangen wurde der Raum ehemals von einer (heute rekonstruierten) hölzernen Spitztonne, an der mit silbernen Sternen auf blauem Grund gleichsam das Himmelszelt wiedergegeben war. Einen weiteren, im heutigen Zustand fehlenden Aspekt thematisieren bereits die Wandmalereien im päpstlichen Schlafgemach und im Chambre de Parement: Gemalt finden sich dort mehr oder weniger kostbare farbige textile Wandbehänge, die veristisch an einigen Haken fixiert scheinen und entsprechende Falten ausbilden. Es sind dies dauerhafte Vertreter mobiler Ausstattungstücke, die in großem Umfang existierten: In der Tat lässt sich in den Quellen eine Fülle derartiger Wandbehänge finden. Aus den Dokumenten ist partiell sogar zu rekonstruieren, dass sie nach einer klaren Ordnung in bestimmten Räumen und zu bestimmten Anlässen angebracht wurden (Vingtain 1997). Die Pracht muss demzufolge gewaltig gewesen sein.
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Die Alhambra in Granada Höfische Architektur im islamischen Kontext
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eben den gewaltigen Palästen des christlichen Abendlandes lohnt ein vergleichender Blick auf eine Anlage, die sich im Mittelalter zwar ebenfalls in Europa befand, die nun aber mit einem ganz anderen Kulturkreis verbunden ist: die im 13. und 14. Jh. in mehreren Bauphasen von den muslimischen Nasriden-Herrschern errichtete Alhambra im spanischen Granada (□ 138, 139), die dort eine bereits seit dem 9. Jh. in mehreren Phasen gewachsene Anlage ersetzte (Rosser-Owen 2010, S. 48 – 75; Dodds 1992, S. 127 – 172; Fernández-Puertas 1997). Ein Vergleich ist schon deswegen lohnend, weil erst auf diese Weise deutlich wird, auf wie viel Komfort damals bei den weiter östlich gelegenen Residenzen verzichtet wurde. Deren Wehr- oder Burgcharakter tritt gerade gegenüber diesem zeitgleichen muslimischen Vorhaben umso deutlicher hervor. Dem eigentlichen Residenzbau ist allerdings die ingenieurtechnische Meisterleistung voranzustellen, die ihn und v. a. seine Gartenpracht überhaupt erst ermöglichten, war doch in dieser immer schon extrem heißen und trockenen Region Europas die Wasserversorgung ein drängendes Problem. Wasser ist in der Alhambra allerdings – wie der Besucher bis heute dankbar wahrnehmen wird – weit mehr, nämlich ein ganz wesentliches Gestaltungselement. Egal, ob es sich dabei um Wasserbassins oder Springbrunnen in den verschiedenen Innenhöfen handelt, um kleine in den Boden eingelassene Rinnsale, die in vielen der Räume zu finden sind, oder aber im Garten um kleine Wasserströme, die in den Handläufen auf den Mauern der Treppenanlagen herunterfließen (vgl. die Escalera del Agua des Palacio del Generalife): all dies frühe und besonders intelli-
gente Vorformen von Air Conditioning, mit denen man schon damals der erbarmungslosen Hitze Andalusiens zu begegnen suchte. Möglich machte die Anlage derartiger Wasserspiele, die man im zeitgenössischen Burgen- und Schlossbau des christlichen Europas vergeblich suchen wird – zumindest in solcher Dichte und Vielfalt –, allein die nahe gelegene Sierra Nevada, auf deren bis zu 3500 m hohen Gipfeln selbst noch im Sommer Schneefelder zu finden sind, die ganzjährig den Fluss Darro mit Wasser versorgen. 6 km flussaufwärts von Granada wird dieses durch ein aufwändiges Kanalsystem (Acequia del Sultán) direkt zur Alhambra geführt, wo das Wasser eine ganze Reihe von Bädern speist und v. a. die gesamte Palastanlage und ihre Gärten in eine wahre grünende und blühende Oase verwandelt. Ähnlich wie bei Vincennes handelt es sich auch bei der Alhambra nicht im eigentlichen Sinne um eine Burg oder ein Schloss, sondern um eine ganze Palaststadt: in diesem Fall diejenige des letzten islamischen Sultanats auf iberischem Boden, der Nasriden-Dynastie von Granada (reg. 1232 – 1492). Auf einer Anhöhe gelegen und eingefasst von einer turmreichen Mauer (einige der Türme im Übrigen ähnlich wie in Vincennes |▶ 37] als Paläste genutzt; vgl. z. B. die Torre de las Infantas, Ende 14. Jh.) findet sich hier, ausgebreitet auf einer Länge von fast 1 km, ein ausnehmend komplexes Gebilde, dessen Einzelgebäude in einer Mischbauweise aus verputztem Ziegel- und Naturstein, mitunter aber auch als reine Ziegelbauten errichtet sind. Ehemals jeweils durch Mauern und Tore als eigene Einheit abgeriegelt, nimmt das schmale westlichste Fünftel der Anlage eine Wachburg, die Alcazaba, ein, die zwei öst-
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□ 138 Granada, Alhambra, Gesamtansicht der in mehreren Etappen v. a. im 14. Jh. errichteten Palastanlage von Norden: im Osten flankiert von einer Stadtanlage (Medina), im Westen von einer Burg (Alcazaba); im Hintergrund die schneebedeckte Sierra Nevada, davor in der rechten Bildhälfte der später integrierte Palast Kaiser Karls V. (ab 1537) und die Kirche S. María de la Alhambra, 1581 – 1618
lichsten Fünftel eine wahre Stadt (Medina) mit Moscheen, Friedhof, Bädern und Werkstätten von Handwerkern, die hier durchaus ein autonomes Leben möglich machten, auch wenn die Alhambra immer eng verbunden war mit dem vor ihr im Tal liegenden Granada, der Hauptstadt des Nasriden-Reiches. Zur Palaststadt gehörte schließlich auch noch der etwas im Nord osten gelegene selbständige Sommerpalast Generalife (13. / 14. Jh.). Die zentralen zwei Fünftel der Alhambra sind von verschiedenen Palästen eingerahmt (□ vgl. 138, 139). Trotz zahlreicher Ergänzungen und Veränderungen während des 13. und 14. Jh.s und der Zerstörung mehrerer Nasriden-Paläste nach der Eroberung Granadas 1492 durch König Ferdinand von Aragón ist – anders als bei den beiden vorgenannten Partien – immer noch viel von der originalen Architektur des 14. Jh.s und deren dekorativem Programm erhalten. Dies verdankt sich der Weiternutzung durch die neuen christlichen Hausherren, die solchen Komfort, aber auch ihre Exotik zu schätzen wussten. Tatsächlich stellt die Alhambra damit das besterhaltene Beispiel islamischer Palastarchitektur des Mittelalters
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überhaupt dar – nicht nur auf der Iberischen Halbinsel. Wie angedeutet, zeichnet sich die Alhambra durch ein geradezu einmaliges Zusammenspiel von Architektur und Landschaft – in Gestalt von Menschenhand geformter Natur, des Gartens – aus. Bis dahin im christlichen Abendland noch gänzlich unbekannt, ergeben sich auf diese Weise atemberaubende Ausblicke, jeweils gerahmt von den zahlreichen Palastbauten und Türmen der gesamten Anlage und ihrem alles bestimmenden lehmfarbenen, rötlichen Grundton, der auf den Verputz der Einzelbauten zurückgeht (daher auch der Name al-hamra, ‚rote Burg‘). Ursprünglich bildeten sechs verschiedene königliche Paläste den Kern der Alhambra. Zu ihnen gelangte man, nachdem man entweder durch die Alcazaba, die Wachburg im Westen, oder aber im Süden durch die Puerta de la Justicia und die Puerta del Vino die Gesamtanlage betreten hatte. Von dem zwischen Alcazaba und den Palästen befindlichen Vorplatz näherte man sich deren Innerem von Westen über mehrere Höfe (großteils zerstört). Von den heute noch bestehenden, zumeist aus dem 14. Jh. stammenden besitzt die zusammen-
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hängende Anlage des Comares-Palasts und des Palasts der Löwen sicherlich die größte Bedeutung. Beide Paläste sind das Werk v. a. zweier Sultane: Yusufs I. (reg. 1333 – 54) und seines Sohns Muhammed V. (reg. 1354 – 59, 1362 – 91). Angelegt sind sie jeweils um einen Innenhof, in dem Wasserspiele und aufwändige dekorative Programme ein einzigartig reiches Gesamtbild ergeben (Ruggles 2000, S. 163 – 208). Bereits während der Regierungszeit Ismails I. (1314 – 25) begonnen – im Kern haben sich noch Reste der überformten Anlage erhalten – und 1370 unter Muhammed V. vollendet, entstanden unter Yusuf I. die größten und wichtigsten Partien des um den Myrtenhof angelegten Comares-Palasts. In der nördlichen Hälfte seines Westflügels findet sich an der Außenseite zunächst die Sala Mexuar, eine Audienzhalle, über die der Besucher das eigentliche Innere der Palastanlage betrat und von der aus auch die Staatsgeschäfte geleitet wurden, und parallel dazu der Hof des Cuarto Dorado, an dessen Nordende der gleichnamige als Thron
saal des Sultans genutzte Raum anschließt. Die Nordseite des Hofes nimmt demgegenüber – nach einer Säulenhalle und der Sala de la Barca – der auf quadratischem Grundriss errichtete Torre de Comares mit dem Saal der Gesandten (mitunter auch ‚Thronsaal‘ genannt) ein, den die Nasriden für Staatsempfänge nutzten. Abgeschlossen wird der hohe Raum von einer gewölbten Holzdecke, die überreich mit zahllosen aus zu Sternmustern angeordneten Holz- und anderen Teilchen dekoriert ist. Kaum mehr in Worte zu fassen sind die Dekorationsformen, die in leichter Reliefform die gesamten in Stuckplatten gearbeiteten Innenwände überspinnen. Interessanterweise ist die Architektur des Baus nun aber nicht allein auf die überbordende Innenraumwirkung abgestellt. Vielmehr kommuniziert er im Erdgeschoss über Öffnungen (jeweils drei an den drei frei stehenden Seiten) mit der Gartenanlage außen: auf diese
□ 139 Granada, Alhambra, Grundriss des Palastbezirks, 14. Jh. 1 Kleiner Eingangshof; 2 Erster Hof; 3 Ruinen einer Moschee; 4 Machuca-Hof; 5 Betsaal; 6 Saal des Mechuar; 7 Hof des Cuarto Dorado; 8 Cuarto Dorado; 9 Myrtenhof; 10 Sala de la Barca; 11 Saal der Gesandten; 12 Bad; 13 Turm des Peinador de la Reina; 14 Daraxa; 15 Löwenhof; 16 Sala de los Mocárabes; 17 Saal der Könige; 18 Saal der Zwei Schwestern; 19 Mirador de la Daraxa; 20 Saal der Abencerragen; 21 rawdah; 22 Kapelle des Palasts Kaiser Karls V.
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268 □ 140 Granada, Alhambra, Blick in den Löwenhof, um 1370
Weise gerahmt, kann man sie aus dem kühlen Halbdunkel des Inneren betrachten und genießen, ohne der Hitze ausgesetzt zu sein. Die Ostseite des Myrtenhofes wird in der nördlichen Hälfte von einer Badeanlage eingenommen, bevor sich weiter südlich der Komplex der mit dem Löwenhof verbundenen Gebäude anschließt. Diesen Bereich hat man gerne als den privateren angesehen, der den Wohnzwecken des Sultans gedient habe. Der Bau geht auf Muhammed V. zurück, der ihn interessanterweise erst in seiner zweiten Amtszeit, nach seinem zwischenzeitlichen Exil in Fès, hatte errichten lassen. Gerade dieses Detail bietet nun eine sehr andere Interpretation des Palastkomplexes an: ihn nämlich eher als Architektur gewordenes Monument für Muhammeds tri-
III. Schlüsselwerke
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umphalen Rückkehr auf den Thron zu deuten (bemerkenswert sind die formalen Ähnlichkeiten zur Madrasa in Fès). Die einmal mehr sehr niedrigen, nur ein Erdgeschoss aufweisenden Gebäude sind vom zentralen Löwenhof (□ 140) durch einen rundum laufenden Säulengang abgetrennt. Mit dem namensgebenden Brunnen in der Mitte, dessen Schale von zwölf wasserspendenden Löwen getragen wird (diese im Übrigen ein gutes Beispiel dafür, dass auch in islamischer Sakral- wie Profanarchitektur des Mittelalters skulpturaler Schmuck denkbar war), ist die Anlage streng symmetrisch aufgebaut. Kreuzförmig nehmen hier zu allen vier Seiten kleine, von Platten gefasste Kanäle ihren Ausgang. An den Schmalseiten laufen sie jeweils unter einem frei stehenden kleinen Pavil-
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lon aus, die ein wenig an Brunnenhäuser christlicher Kreuzgänge erinnern (an der Ostseite dahinter der sog. Saal der Könige / der Justiz anschließend, mit gemalten Szenen des Hoflebens in den Gewölben). An den Längsseiten führen sie demgegenüber unter einem breiteren, die Mitte des Hofes betonenden Bogen bis hinein in die angrenzenden Gebäude, nun etwas größerer Dimensionierung, wo sie wie bei den beiden Pavillons in einem runden Bassin enden: auf der Südseite im Saal der Abencerragen und auf der Nordseite im Saal der zwei Schwestern. Mit ihren hochkomplexen, die Pracht des Saals der Gesandten noch steigernden Gewölbelösungen sind sie sicherlich ein weiterer Höhepunkt der Palastanlage: Partiell eingefügt in die den eigentlichen Bau überragenden Laternen, über die auch die Beleuchtung dieser Räume erfolgt, finden sich hier aus einer Unzahl von spitzbogigen Einzelelementen gebildete, in Gips oder weichem Stein gearbeitete Stalaktitengewölbe, sog. muqarnas (□ vgl. 77, Cappella Palatina in Palermo), die eine für islamische Baukunst typische Technik und Gestaltungsform ist (auch die anderen Räume sind in dieser Art überwölbt). Sie stellen einen spektakulären Abschluss der beiden ansonsten relativ kleinformatigen Räume dar. Das schon an sich überreiche Erscheinungsbild wird im Saal der Abencerragen insofern noch gesteigert, als die Grundform der Laterne bereits selbst ein achtzackiger Stern ist. Bemerkenswert ist auch der hinter dem Saal der zwei Schwestern stehende Daraxa-Turm: ein Aussichtsturm, dessen Funktion aber weniger eine militärische war, als vielmehr der Betrachtung der ihn umgebenden Gartenanlage diente. Auch ansonsten herrscht hinsichtlich Dekoration in den Palästen der Alhambra kein Mangel. Hier finden sich Marmorsäulen mit reich verzierten Kapitellen, kostbare Fußböden und Wandverkleidungen mit komplizierten bunten Fliesenmosaiken, gebildet aus einer Vielzahl kleiner buntglasierter Einzelteile: ebenso die
beschriebenen Decken mit aufwändig modelliertem und bemaltem Stuck sowie nicht weniger virtuos ausgearbeitetem Schnitzwerk, das in dieser Qualität nur noch selten in der islamischen Baukunst anzutreffen ist. Ein letztes, wichtiges Gestaltungselement stellen schließlich die überall auftretenden Inschriften und Gedichte dar, verfasst von drei nasridischen Wesiren, von denen Ibn Zamrak (gest. 1393) der berühmteste ist. Die Texte beziehen sich dabei jeweils auf die Architektur. Manchmal beschreiben sie den Raum, manchmal dessen Funktion; in manchen Fällen scheint das Gebäude sogar selbst zum Besucher zu sprechen, aber immer betonen sie die Macht, Souveränität und Frömmigkeit des Nasriden-Herrschers. Lange Zeit als eine nach innen gewandte Schöpfung der letzten islamischen Dynastie auf iberischem Boden, als eine letzte hochraffinierte, elegante künstlerische Äußerung einer bedrängten Gesellschaft interpretiert, hat sich die Sichtweise auf die Alhambra inzwischen etwas geändert. Insbesondere werden heute viele ihrer Eigenheiten als aus der Tradition des mittelalterlichen islamischen Palastbaus abgeleitet verstanden: Die hoch entwickelten Formen können dabei problemlos aus der früheren Almohaden-Architektur Nordafrikas und der Iberischen Halbinsel abgeleitet werden. Weit über ihre große Bedeutung für die islamische Architekturgeschichte hinaus ist die Alhambra in der Tat ein herausragendes Beispiel der Weltarchitektur, das in ungewöhnlich anschaulicher Weise Auskunft über die komplexen künstlerischen und sozio-politischen Verbindungen gibt, die im hohen und späten Mittelalter zwischen dem christlichen Europa und den islamisch kontrollierten Regionen des Mittelmeerraums bestanden – zwischen dem nasridischen Granada und seinen Nachbarn im Norden und Süden und seiner engen Verbindung zum christlichen Europa als auch zu den islamischen Ländern. Der Austausch und das Wechselspiel zwischen Granada und den
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Nachbarregionen, das hinsichtlich Künstler und künstlerischer Ausdruckformen gegeben ist, wird besonders deutlich, wenn man sich die architektonischen Parallelprojekte der Alhambra ansieht: so z. B. die genannte Madrasa im merinidischen Fès, wo Muhammed V. sein Exil verbracht hatte, oder – etwas näher an Granada – der Palast Pedros I. von Kastilien in Sevilla oder der Klarissenkonvent in Tordesillas in Kastilien-León, die deutlich von der politischen Allianz zwischen Muhammed V. und Pedro Zeugnis geben (Dodds / Balbale / Menocal 2008). Verbindungen mit weiter entfernten Kulturen der Zeit zeigen sich in einer Eigenheit, die die Nasriden mit der mongolischen Ilkhaniden-Dynastie im Iran teilt, nämlich die Wandfläche mit aufwändig modelliertem und geschnittenem Stuck sowie mit farbig glasierten Fliesen zu bedecken. In gleicher Weise ist durchaus auch eine Auseinandersetzung mit gotischer Kunst festzustellen, etwa in der bemalten Lederverkleidung der Decke im Saal der Könige /der Justiz an der östlichen Schmalseite des Löwenho-
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fes: Zweifellos von christlichen (italienischen?) Künstlern ausgeführt, sind dort Jungfrauen zu sehen, die von Türmen aus muslimische und christliche Ritter beim Turnier und beim Schachspiel beobachten. Die Alhambra besitzt aber noch in ganz anderer, zukunftsweisenderer Form Bedeutung: Die im 19. Jh. begonnene Restaurierung hatte nämlich durchaus auch Einfluss auf die zeitgenössische romantische Kunst, sowohl für Maler oder Dichter als auch für Architekten. Unter ihnen war es Owen Jones, dessen Publikation und Ausstellung im Crystal Palace in London die Alhambra überhaupt erst in das öffentliche Bewusstsein brachte. Die Werke der Nasriden standen in Europa fortan für islamische Kunst und Architektur schlechthin. Fasziniert von der Exotik des Orients wurden damals Bauformen und Gestaltung der Alhambra in ganz Europa und in Amerika als ‚maurischer‘ Stil adaptiert und in verschiedensten Projekten neu interpretiert (Rosser-Owen 2010, S. 108 – 145). GA
Die Marienkirche von Danzig Bürgerliches Bauen in einer Handelsstadt
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on der Nordsee bis zur Ostsee zieht sich eine lange Reihe reicher Handelsstädte, zu deren kommunaler Repräsentation neben den bedeutsamen profanen Bauten selbstverständlich die großen Pfarrkirchen gehörten – beides oft in Backstein ausgeführt. Die mitunter gewaltigen Türme der Kirchen sollten das flache Land, die Häfen und die See dominieren, ihre Baumasse die dicht gedrängten Bürgerhäuser überragen. Dazu wählte man z. B. bei Unserer Lieben Frau in Antwerpen (beg. 1352) eine deutlich auf französische Kathedralarchitek-
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tur zurückgehende Lösung mit Umgangschor und Radialkapellen, Querhaus, einem basilikalen, dreischiffigen Langhaus und einer Zweiturmfassade: ein gängiges Schema kirchlicher Großbauten, das den städtischen Bauherren als Inbegriff des Repräsentativen galt. Zudem bot es auch für bürgerliche Nutzer und Besucher vielfältige Möglichkeiten, individuelle Jenseitsvorsorge und Gebetsgedenken (memoria) zu installieren, was verbunden war mit der Anlage von Grabmälern, der Stiftung von Altären samt zugehörigen Messen, Altargerät und liturgi-
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schen Textilien usw. Ähnlich ‚französische‘ Bauten wurden mit der Lübecker Marienkirche oder der Stralsunder Nikolaikirche errichtet (nach 1260 und 1280 bzw. nach 1276); andern orts setzte man auf wuchtige Einzeltürme im Westen: so bei Liebfrauen (ab 1320) und St. Salvator (nach 1275) in Brügge oder den beiden Liebfrauenkirchen in Wismar und in Stralsund (spätes 14. / 15. Jh.). Die Danziger Marienkirche, die Hauptpfarrkirche einer der größten und v. a. reichsten europäischen Handelsstädte, gehört ebenfalls in diese Reihe (□ 141, 142). Ihr Anspruch und ihre Nutzung entsprechen denen anderer großer Pfarrkirchen mittelalterlicher Städte. Gleichwohl eröffnet die heutige Marienkirche gegenüber den ‚Konkurrentinnen‘ gänzlich neue Dimensionen – und dies nicht nur wegen ihrer schieren Größe, die mit 105 m Länge und 66 m Breite (Gewölbehöhe: 30 m) in der Tat beachtlich ist. Über das Aussehen des 1271 erstmals erwähnten, durch Herzog Swantopolk II. gestifteten Vorgängers, der wohl noch an anderer Stelle lag, ist nichts bekannt. Die Voraussetzungen für die heutige Marienkirche wurde demgegenüber 1342 durch eine Verordnung des Hochmeisters des Deutschen Ordens, des damaligen Stadtherrn, geschaffen, in denen er festlegte, dass innerhalb des Stadtgefüges ein entsprechend großer Bauplatz freizuhalten sei. Interessanterweise gleichzeitig mit dem Neubau der Stadtmauer begann man am 28. März 1343, d. h. zu ihrem Patrozinium passend am Fest Mariä Verkündigung (Drost 1963, S. 13 – 17, 43; Hermann 2007, S. 5), mit dem Bau der heutigen Kirche. Das sich über gut eineinhalb Jahrhunderte hinziehende Vorhaben ist ein weiteres gutes Beispiel dafür, wie an mittelalterlichen Sa kralbauten immer wieder Erneuerungen und Veränderungen vorgenommen wurden, und zwar unter teilweise recht umfassender Weiterverwendung der älteren Substanz. Angesichts der guten Quellenlage wissen wir in Danzig
□ 141 Danzig, Marienkirche, Innenansicht: noch mit der originalen Ausstattung vor den Kriegszerstörungen, ab 1343, bei mehreren Planänderungen und Modifikationen fertiggestellt bis 1498
in fast allen Details, wer wann für welche der verschiedenen Einzelschritte verantwortlich zeichnete (vgl. Drost 1963): So wurde der Bau zunächst in schneller Folge von Ost nach West in basilikaler Form errichtet (bereits 1363 Eingangshalle in Nutzung). Seine Architektur wies deutliche Ähnlichkeiten zur Kirche der nahe gelegenen Zisterzienserabtei Pelplin auf (gegründet 1276, damals wohl auch Baubeginn der Kirche mit für das europäische Festland sehr frühen Sterngewölben), wo die auf achteckigem Grundriss errichteten Arkadenpfeiler segmentartig an der Hochschiffswand weitergeführt sind (vgl. das grundsätzlich verwandte Prinzip bei der Kathedrale von Bourges |▶ 20] oder aber, noch näher stehend, bei italienischen Backsteinkirchen wie z. B. S. Francesco in Bologna, 1236 – 56). Ob aus dieser Übereinstimmung im Detail auch zwingend zu schließen ist, dass die Danziger wie die Pelpliner
Die Marienkirche von Danzig
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□ 142 Danzig, Marienkirche, Außenansicht, 1343 –1498
Kirche von Anfang an über einen – ja gerade bei Zisterzienserkirchen beliebten |▶ 13| – flachen Chorschluss verfügten, sei dahingestellt. Angesichts der letztlich gefundenen Lösung ist das zumindest nicht unwahrscheinlich. Auf der Ebene der Stadtpfarrkirchen wäre sie damit einem anderen bedeutenden Backsteinbau der Zeit sehr ähnlich: St. Maria Magdalena (1342 – 62) im schlesischen Breslau, eine ebenfalls hohe, querhauslose Basilika mit geradem Chorschluss. Von der 1343 begonnenen Danziger Anlage stehen heute nur noch die beiden unteren Turmgeschosse einschließlich der seitlich anstoßenden Kapellen sowie die unteren Partien der Mittelschiffspfeiler. Sie bildeten die Vorgabe für die hochaufragenden wuchtigen Achteckpfeiler mit ihren kleinen, die Ecken betonenden Rundstäben, die heute das Raumbild dominieren (Gruber 1929, 1952; Drost 1963, 35 f.). Bereits kaum 20 Jahre nach seiner Fertigstellung kam es nämlich zu einer markanten Umplanung und Vergrößerung des Neubaus. 1379 schloss die Stadt dazu mit dem Maurermeister Heinrich Ungeradin, der zugleich verantwort-
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lich für die Ausführung des Neuen Rathauses war (Drost 1963, S. 51), einen Vertrag über die Errichtung eines neuen und gegenüber dem Vorgänger zweifellos weit aufwändigeren Chores. Dazu nutzte man das gesamte noch verbliebene Grundstück, einschließlich eines Friedhofs, und nahm beim neuen Chorgrundriss sogar einige Unregelmäßigkeiten in Kauf. Hinsichtlich des Aufrisses wurde nun zu einer völlig anderen Struktur gegriffen: So sind Chor und Querhaus (eines der frühesten an einer größeren Kirche des Ostseeraums) jeweils als einander durchkreuzende dreischiffige Hallen angelegt, wofür als Vorbild mitunter die Zisterzienserkirche Neuenkamp bei Stralsund (gegr. 1231) benannt wird (Bürger 2007). Geschickt rückte man die Außenwand der Schiffe bis auf Höhe der äußeren Strebepfeiler-Stirn (vgl. das ähnliche Konzept bereits am Chor der Heiligkreuzkirche in Schwäbisch Gmünd (□ vgl. 37), ab 1351), wodurch zum einen innen raumhohe Seitenkapellen entstehen, die von reichen Bürgern und Bruderschaften für Stiftungen genutzt werden konnten, zum anderen außen jene glatten Wandflächen, die der Marienkirche
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ihr blockhaft-nüchternes und damit letztlich monumentales Aussehen verleihen und sie zur unangefochtenen Stadtkrone Danzigs werden lassen. In den ursprünglich noch farblich homogenisierten und mit einem weißen Fugennetz gegliederten Backsteinflächen wirken die Fenster geradezu wie eingeschnitten: Auf eine differenziertere gestalterische Hervorhebung der Öffnungen wurde weitgehend verzichtet. In überraschender Parallele mit ihrem ebenfalls aus Backstein errichteten Schwesterbau, der Münchner Frauenkirche (ab 1468), zeigt die Marienkirche in Danzig damit die monumentalen Möglichkeiten des Backsteinbaus in einer besonders reinen, gleichsam abstrakten, weil weitgehend schmucklosen Form auf. Dazu verzichtete man hier nun sogar auf die auch an der Ostsee sonst üblichen gewaltigen Dachflächen. Stattdessen erhält die Hauptkirche der Stadt durch die niedrigeren, in den nördlichen Niederlanden beliebten Paralleldächer, durch Giebel und Ecktürmchen sowie die geraden Schlüsse von Chor und Querhaus eher die Anmutung einer Burg. Diese Holz und damit Gewicht sparende Dachlösung mag ihren Grund aber auch schlicht in der beachtlichen Größe und Höhe dieser Hallenkirche haben. Es ist anzunehmen, dass das zweite Neubaukonzept des 14. Jh.s von Anfang an auch die Umgestaltung des Langhauses beinhaltete. Zur Vereinheitlichung des Raumeindrucks machte man sich allerdings erst ganz am Schluss, zwischen 1484 und 1498, daran. Dazu wurde – im Norden vor dem Süden – zunächst eine neue Außenmauer angelegt, bevor man die Wände über den alten Mittelschiffsarkaden herausschlug, die Pfeiler nach oben verlängerte und so letztlich auch hier eine Halle erhielt. Auch die Bauarbeiten des Chores wurden von einigen Unterbrechungen und Baumeisterwechseln geprägt. Bis Mitte des 15. Jh.s waren die betreffenden Arbeiten innen und außen – einschließlich der nun reicher gegliederten Giebel über dem Nord- und dem Südquerhaus mit
all ihren Fialen und Türmchen – weitgehend abgeschlossen. Obwohl immer noch die Gewölbe fehlten, beschloss man 1452 zunächst den bestehenden Turm bereits beachtlicher Größe nochmals um einige Geschosse aufzustocken –bemerkenswerterweise genau zu der Zeit, als die mächtige Stadt die Burg ihres bisherigen Herrn, des Deutschen Ordens, zerstörte (vgl. die ähnliche Situation in Brügge im 14. Jh.; |▶ 34), als Zeichen gewachsenen städtischen Selbstbewusstseins. Zwischen 1498 und 1502 ging man schließlich daran, die Kirche in einem Zug zu wölben. Jetzt erst kam es zu dem bis heute wirksamen Kontrast zwischen der monumental-schlichten Gesamtanlage und den ausnehmend kleinteiligen und komplexen Gewölben. Wie die Quellen berichten, muss das mit großem logistischem Aufwand in der – angesichts des bewältigten Volumens – fast unvorstellbar kurzen Zeit von vier Jahren geschehen sein: kleinteilige Sterngewölbe im Mittelschiff, Netzgewölbe in den Querhausjochen und Zellengewölbe in jenen der Seitenschiffe. Besonders interessant sind Letztere: Soweit wir wissen eine Erfindung des wohl aus Leipzig stammenden Arnold von Westfalen, die sich so erstmals um 1471 am Meißner Residenzneubau nachweisen lassen. Von dort sollten sie ihren Siegeszug im gesamten mittleren und nördlichen deutschsprachigen Raum antreten, von Böhmen und Mähren bis an die Ostsee. Schon hier fanden ausschließlich Ziegel Verwendung, die bei dieser Wölbtechnik ohne unterstützende Rippen aus Haustein gemauert sind. Das hatte nicht nur eine gewisse Aufgaben- und Bedeutungsverschiebung zwischen Maurern und Steinmetzen zur Folge, sondern auch – angesichts der insgesamt starken Vereinfachung des Bauprozesses – eine rasante Zunahme der Baugeschwindigkeit: Eine raffinierte Mauertechnik ermöglichte es nämlich nun, durch Knickung versteifte Gewölbekappen auf ähnliche Weise freihändig zu mauern, wie das zuvor nur die
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Netz- und Sterngewölbe mit ihren steinernen Gewölberippen als tragendem Gerüst zugelassen hatten. Demgegenüber werden jetzt die sich an den Graten spitzwinklig treffenden, hochkant gestellten Ziegel statt auf die Rippen unmittelbar auf die Lehrbogen aufgesetzt. Aufgrund der durch die Faltungen erzielten Versteifung der Gewölbeschale besitzen diese Zellenwölbungen große Tragfähigkeit. Gern nahm man dafür den Nachteil eines deutlich erhöhten Materialbedarfs in Kauf, der sich durch die gegenüber konventionellen Konstruktionen vielfach gebrochene und zerklüftete Gewölbeoberfläche zwangsläufig ergab (Bischoff 2004). Die auf die evangelische Zeit der Marienkirche zurückgehende weiße Fassung der Kirche übergießt heute alles mit gleichmäßiger Hel-
le – doch zeigen einige freigelegte Fragmente, dass der Kirchenraum ursprünglich farbig gefasst war, sicher auch die Netzgewölbe des Mittelschiffs und die Zellengewölbe in den Seitenschiffen (als gut erhaltene Beispiele einer solchen Fassung: Stralsund, St. Nikolai; Stargard, St. Maria, um 1400). Überliefert ist in der Marienkirche dagegen noch großteils die mobile Ausstattung, die – ähnlich den Nürnberger Pfarrkirchen (□ vgl. 8, 38, 39) – bis heute eine recht authentische Vorstellung vom Inneren einer Pfarrkirche in solch einer reichen Handelsstadt vermittelt: Die Vielzahl der Altarretabel, Heiligenstatuen, Grablegen und Wandbilder bot einen ebenso verwirrenden wie überwältigenden Anblick. MH
Zur Geschichte des Backsteinbaus
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ereits vor 10 000 Jahren wurden im Vorderen Orient getrocknete Lehmsteine als Baumaterial verwendet. Es dauerte allerdings noch bis ins 6. Jh. vor Chr., bevor mit den reich verzierten Prunkbauten der Hauptstadt des Babylonischen Reichs gebrannter Ziegel Einzug in die Architektur hielt. Seine frühesten Zeugnisse sind in Europa Dachziegel, von deren römischer Bezeichnung tegula auch der deutsche Begriff ‚Ziegel‘ abgeleitet ist. Während man diese mittels Holzmodel formte, wurde zur Gewinnung von Mauerziegeln anfänglich und noch bis in das Mittelalter hinein Lehm flach auf dem Boden ausgeschlagen, in Platten geschnitten und nach dem Trocknen schließlich gebrannt. Die Länge, die sich an der doppelten Breite dieser sehr flachen Ziegel orientierte, entsprach etwa dem Maß von anderthalb Fuß (ca. 0,45 cm) und übertraf damit bei weitem die heute üblichen Formate. Dem Material waren insofern immer Grenzen gesetzt, als der gleichmäßige Brand eines Steines überhaupt nur
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bis zu einer bestimmten Größe möglich ist, welche deutlich unter derjenigen für Haustein üblichen liegt. Nicht nur wegen der anfangs oft landesherrlichen Besitzrechte an den Tonvorkommen, sondern auch wegen des für die Herstellung in großem Umfang benötigten Heizmaterials (Holz, Torf) und technischen Know-hows – für die Konstruktion des Brennofens, dessen Beschickung für einen optimalen gleichmäßigen Brand sowie die Herstellung von Formsteinen und -stücken – blieb das Material in nachantiker Zeit anfänglich oft ‚gehobenen‘ Bauaufgaben vorbehalten. Das sollte sich im späteren Mittelalter nachhaltig ändern (zum Thema allgemein: Badstübner / Albrecht 2001, Badstübner / Schumann 2003; Staehl 1937). Größere Verbreitung fand die Ziegelherstellung in Europa erstmals zur Römerzeit: Zunächst eher ein Ersatzmaterial, das man mit Haustein verblendete oder verputzte, wurde der Ziegel in der Spätantike
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bereits zu gestalterischen Zwecken genutzt. Bemerkenswert ist der Variationsreichtum von Mauerverbänden aus Naturstein mit Ziegeldurchschuss, Backsteingewänden und Ziegelfriesen. Anfang des 9. Jh.s berichtet Einhard, Kleriker und Biograph Kaiser Karls des Großen, erstmals in nachantiken Zeiten über die Herstellung von Backsteinen in einem offenen Holzkasten (vgl. die ältere Dachziegelproduktion). Ebensolche Backsteine ließ Einhard für seine Stiftung im hessischen Steinbach bei Michelstadt / Odw. (823 – 827) fertigen, wo sie hauptsächlich im Kern- und nicht im Sichtmauerwerk der Kirche Verwendung fanden. Scheint man in diesen Gebieten Europas das Material erst wieder bzw. neu entdeckt zu haben, so war es in anderen – partiell ehemals römisch besetzten – Regionen offensichtlich immer präsent geblieben oder durch andere Kulturen importiert worden |▶ 39, 3, 5|. Hier lässt sich mit der Wallfahrtskirche St-Sernin in Toulouse |▶ 11| im 11. Jh. auch im Westen bereits ein früher Monumentalbau finden, der gänzlich mit Backsteinplatten spätantiker Produktionstechnik errichtet wurde: ein erster Markstein einer langandauernden lokalen Backsteintradition. Nach verschiedenen bedeutenden nachantiken Bauprojekten, die man in Oberitalien in Backstein ausgeführt hatte, ist kurz nach Mitte des 12. Jh.s auch nördlich der Alpen eine zunehmende Verwendung des Materials feststellbar. Bemerkenswerterweise ging sie oft mit der Rezeption architektonischer Details italienischer Bauten einher. Mit fast dem gesamten Nord- und Ostseeraum, Mitteldeutschland und Schlesien handelt es sich dabei größtenteils um Regionen, in denen Ton reichlich zur Verfügung stand, während Naturstein eher Mangelware war. In einigen Gebieten Sachsens, Thüringens und Bayerns, die über ausreichende Bruch- oder sogar Hausteinvorkommen verfügten, muss dagegen von einer bewussten Materialwahl ausgegangen werden. Dabei spielte nicht zuletzt die rote Färbung des Backsteins eine wichtige Rol-
le. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang die oft nachweisbare originale Farbfassung, bei der man die Backsteinbauten mit einer einheitlichen roten Schlemme versah, auf die mit weißer Farbe das Fugennetz des tatsächlichen Mauerverbandes nachgezeichnet wurde. Wie in anderen europäischen Regionen traten auch in Oberitalien früh, um 1100, mit Holzformen gefertigte Mauerziegel handlicheren Formats auf. Gleichbleibend entsprachen sie nun etwa der Länge eines Fußes, womit sie gleichsam zum Modul für die restlichen Gebäudemaße wurden. Die Maßhaltigkeit von Mauerverbänden nahm zu, was nicht zuletzt auch die Ausführung aufwändiger Dekorationssysteme erleichterte. Mit Hilfe seriell vorgefertigter Formsteine entstanden Rundstäbe, Rundbogenfriese, Konsolen, Gesimse und Kapitelle. Ebenso wurden die Muster, die aus einem entsprechenden systematischen Einsatz von Bindern (der mit der Schmalseite in der Mauerflucht liegende, in die Mauer ‚einbindende‘ Stein) und Läufern (der mit der Längsseite in der Mauerflucht liegende Stein) resultierten, bereits früh zur Belebung der Mauerflächen eingesetzt. Gerne machte man sich dabei auch die beim Brand entstehenden Farbschwankungen zur Hervorhebung bzw. für die Zierverbände zunutze, fallen doch z. B. bei größerer Hitzezufuhr Backsteine allgemein härter und v. a. dunkler aus |▶ 46|. Mit der Normierung der Ziegelgrößen kam es nun nördlich der Alpen zu genau geplanten, regelmäßigen Versatzschemata, bei denen sich in verschiedensten Variationen in einer Lage Binder und Läufer abwechseln (sog. Wechselverbände; □ 143). Dabei wies die äußere Mauerschale bei den frühen Backsteinverbänden mit einem Wechsel von zwei Läufern auf einen Binder relativ wenige Binder auf, während sich seit dem 14. Jh. immer mehr der sog. gotische Verband mit einem dauernden Wechsel von Läufer und Binder durchsetzte. Im späten
Zur Geschichte des Backsteinbaus
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15. Jh. fanden schließlich – von Holland ausgehend – im ganzen nördlichen Mitteleuropa schneller ausführbare Mauerverbände Verwendung mit nun durchgehenden Läufer- und Binderlagen. Jeweils geprägt von seinen spezifischen Materialeigenschaften, besaß Backsteinarchitektur immer Teilhabe am zeitgenössischen Architekturdiskurs, egal, ob hinsichtlich der Auf- und Grundrisslösungen, der Detailformen oder aber schließlich des zeittypischen Wettstreits um immer höhere Turmbauten. Der Turm der Landshuter Martinskirche (beg. 1385) ist hierfür das monumentalste Beispiel. Mit der seit dem 14. Jh. deutlich gestiegenen Verfügbarkeit des Baumaterials hatte es allerdings zugleich immer mehr an Exklusivität verloren. Kaum verwunderlich, dass die farbigen Raumfassungen von Backsteinbauten inzwischen gerne teureren Sand- und Kalkstein oder sogar Marmor imitierten. DS □ 143 Typische Versatzschemata im mittelalterlichen Backsteinbau
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Der Prager Veitsdom Scharnier zur Spätgotik
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ach der ersten Blütezeit unter König Ottokar II. (reg. 1253 – 78), unter dem es in Böhmen zu einer regen, deutlich an westlichen Maßstäben orientierten Bautätigkeit gekommen war |▶ 27|, sollte eine noch bedeutendere Epoche kaum ein Jahrhundert später in Verbindung mit einem anderen Herrscherhaus folgen: den Luxemburgern. Schon der Name zeigt, dass man es hier mit einer ganz neuen Qualität von Westorientierung zu tun hat, stammte dieses Geschlecht doch in der Tat aus dem
III. Schlüsselwerke
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gleichnamigen westeuropäischen Land. Doch damit nicht genug, es gab sogar unmittelbare verwandtschaftliche Beziehungen zum französischen Königshaus. Als nun Karl IV., König von Böhmen (1347 – 78) und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (König ab 1346; Kaiser ab 1355 – 78), Mitte des 14. Jh.s daranging, Prag als Hauptstadt Böhmens und des gesamten Reichs auszubauen, lag die Übernahme der Herrschaft durch seine Familie in dieser Region gerade einmal eine Generation zurück. Erst
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durch die Heirat seines Vaters, Johanns des Blinden (reg. 1310 – 46; aufgrund seiner Erblindung hatte er bereits 1341 die Administration des Königreichs an Karl IV. übertragen), mit der Tochter des letzten böhmischen Königs war die Regentschaft der Familie zugefallen. Seinem Vater Johann – einem Sohn Kaiser Heinrichs VI. von Luxemburg – gleich, erfuhr Karl seine Erziehung am Pariser Hof. Wie sehr das zu dessen Horizontbildung beitrug, belegen nachdrücklich die Stiftungen des Kaisers, insbesondere sein zentrales Vorhaben, der gotische Neubau des inmitten der Prager Hofburg, des Hradschin, gelegenen Veitsdoms (□ 144, 145; Baumüller 1994, Schurr 2003). Das gewaltige, die bescheidene Zweichoranlage der Vorgängerkirche weit übertreffende Bauprojekt hatte mehrere Funktionen zu erfüllen. Zunächst einmal sollte es in angemessener Weise die vom böhmischen König betriebene und 1344 – nicht zufällig im Jahr der Grundsteinlegung – tatsächlich erfolgte Aufwertung des Bistums Prag zum Erzbistum verdeutlichen. Zugleich war der Dom aber auch weiterhin Krönungskirche und Grablege der böhmischen Könige. Karl kam in diesem Zusammenhang das Privileg eines Stifters zu, wurde er doch an überaus prominenter Stelle, inmitten des Chores, beigesetzt. Eine weitere damit in Verbindung stehende Maßnahme stellte die Neuinszenierung von Karls Vorgängern in den Chorumgangskapellen dar, wo diese aufwändige, mit Liegefiguren – sog. Gisants – ausgestattete Grabmäler erhielten. Innerhalb des Kirchenraumes sollten sie den teilweise schon seit Jahrhunderten Verstorbenen eine ganz neue Präsenz verleihen. Auch die vier zentralen Schutzheiligen des böhmischen Königreichs erfuhren Aufwertung, fanden sie doch – in diesem Fall allerdings ohne Skulpturenschmuck – nun ein neues Begräbnis an den Enden eines imaginären Kreuzes. Wohl kaum Zufall ist es, dass an dessen Kreuzungspunkt das Grab Karls IV. lag. Zweifellos folgte der Kaiser mit
□ 144 Prag, Veitsdom, Grundriss der im Mittelalter unter Matthias von Arras und Peter Parler vollendeten Partien, 1344 – 52, nach Planwechsel ab 1356 – 99
dieser Neuinszenierung einem ihm aus Paris, genauer gesagt aus St-Denis, geläufigen Programm |▶ 17|. Dort hatte im 13. Jh. – ebenfalls begleitet von einem gotischen Neubau – der französische König Ludwig IX. (reg. 1226 – 70) eine vergleichbare, in dieser Systematik damals gänzlich ungewöhnliche Neuordnung der königlichen Grablege vornehmen lassen: eine eindrückliche Demonstration der Tradition und Legitimation des französischen Königtums, die in dieser Form in ganz Europa Schule machen sollte (vgl. aber auch den ersten Plan für den gotischen Kölner Dom, in dem Hauptreliquien und erzbischöfliche Grablegen ebenfalls ein imaginäres Kreuz gebildet hätten). Wie sieht nun aber in Prag die architektonische Lösung all der genannten Aufgaben aus? Wie konnte man insbesondere Mitte des 14. Jh.s in angemessener Weise den Anspruch und die Würde eines neu geschaffenen Erzbistums präsentieren? Tatsächlich war es zu diesem Zeitpunkt einmal mehr nicht ganz einfach,
Der Prager Veitsdom
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278 □ 145 Prag, Veitsdom, Innenansicht des Chors: die unteren Partien 1344 – 52; bis 1369 Wölbung des Chorseitenschiffs, 1385 Weihe des Chores, 1390er Jahre Beginn der Arbeiten am Langhaus und am Südturm
dafür ein adäquates Leitbild zu finden, hatte doch – zumindest nördlich der Alpen – die entsprechende gotische Erneuerung der meisten Kathedralen bereits in den vorangegangenen zwei Jahrhunderten ihren Abschluss gefunden. Angeboten hätte sich sicherlich zunächst einmal, das Modell der französischen Krönungskirche Reims (□ vgl. 96 – 98) zur Anwendung zu bringen. Und tatsächlich griff man in Prag bei dem Fragment gebliebenen und erst im 20. Jh. vollendeten Vorhaben auf das damals schon vergleichsweise konservative französische Kathedralkonzept mit Chorumgang und Radialkapellen sowie dreiteiligem Aufriss zurück. Eines der wichtigsten Leitbilder bzw. das Konkurrenzprojekt scheint allerdings weniger Reims dargestellt zu haben, als vielmehr – zu-
III. Schlüsselwerke
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mindest für den Bereich des Heiligen Römischen Reichs gesprochen – der einzige Dom, der dort das genannte französische System bis dahin in Reinheit übernommen hatte, nämlich die Mutterkirche des wichtigsten und mächtigsten Erzbistums auf diesem Territorium überhaupt, der 1248 begonnene und im Chorbereich bis 1322 geweihte Kölner Dom (weitere Beispiele für eine mehr oder weniger authentische Übernahme des französischen Kathedralkonzepts bei einer Bischofskirche im Heiligen Römischen Reiches sind Magdeburg, ab 1209, sowie der Ostchor des Augsburger Doms, 1356 – 1431). Gleichwohl ist der Kölner Dom nicht der einzige Einfluss nehmende Bau (Freigang 1998). Mit der Planung und Ausführung wurde in Prag nun nicht ein lokaler oder aus einer an-
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deren Region des Heiligen Römischen Reiches kommender Architekt beauftragt. Vielmehr erfolgte die Wahl erneut überregional |▶ 19|, verpflichtete man doch 1344 einen aus dem nordfranzösischen Arras stammenden Baumeister, der zuvor für den Papsthof in Avignon tätig gewesen war, also für jenen Hof, dem mit Papst Clemens VI. (reg. 1342 – 52) ausgerechnet Karls ehemaliger Erzieher aus Pariser Zeiten vorstand. Bemerkenswert ist dabei nicht allein die Verbindung als solche, sondern auch, dass sich die beiden unterschiedlichen Generationen angehörenden Persönlichkeiten einer durchaus sehr vergleichbaren Aufgabe gegenübergestellt sahen, nämlich jeweils mehr oder weniger aus dem Nichts für eine der wichtigsten Mächte Europas in Böhmen bzw. in Südfrankreich eine neue, diesem Anspruch gemäße Residenz zu etablieren |▶ 38|. Die Verpflichtung eines französischen Architekten stellte in Böhmen im Übrigen keine vollkommene Neuheit dar, hatte doch schon 1333 der Prager Bischof für den Bau der Elbbrücke – wenn auch nur für ein Jahr – Guillaume d’Avignon, also bereits damals einen aus der Papststadt stammenden Architekten, nach Roudnice / Raudnitz geholt (Swoboda 1969, S. 87). Blickt man von Osten auf den sich auftürmenden Chor des Prager Veitsdoms – gemeinsam mit dem gewaltigen Südturm die einzige tatsächlich im Mittelalter realisierte Partie –, so ist der Eindruck tatsächlich ein dem Kölner Dom verwandter: Vor allem das kaum mehr durchschaubare doppelte Strebesystem mit all seinen krabben- und maßwerkverzierten Bogen und Strebepfeilern erscheinen sehr vergleichbar. Die Details lassen den Veitsdom allerdings als deutlich später errichtet erkennen, insbesondere was die Durchbildung der aufwändigen Dekorationen mit Blendmaßwerk betrifft. Dass hier aber nicht tatsächlich – gleichsam in einer leicht aktualisierten Version – einfach der Kölner Dom reproduziert wurde, macht ein Blick auf den Grundriss deutlich. Auffallen
müssen hier v. a. die dem ältesten Baubestand angehörenden, jeweils in einem Polygon endenden Kapellen, die an den Langchorseiten jene des Umgangs fortsetzen (□ vgl. 144), eine Lösung, wie sie für die 1272 begonnene erzbischöfliche Kathedrale von Narbonne (□ vgl. 17) benannt worden ist. Andere südfranzösische Bischofskirchen wie Clermont-Ferrand, Rodez oder Toulouse wären ihr noch hinzuzufügen. Eine solche Ähnlichkeit macht v. a. im Fall von Narbonne und dem in dieser Hinsicht etwas jüngeren Toulouse (Erzbistum seit 1317) durchaus Sinn, stellen doch beide die letzten vor Prag realisierten Projekte dieser besonderen Bauaufgabe auf französischem Boden dar. Ebenso passen sie natürlich bestens in den südfranzösischen Kontext, dem ja Matthias von Arras den Quellen nach bei seiner Verpflichtung nach Prag entstammte. Dass es tatsächlich diese Architektur war, an der er sich orientierte, zeigen dann nicht nur erstaunlich ähnliche Maße, wie die annähernd gleiche Jochbreite in Narbonne und Prag sowie ihre jeweils fast quadratischen Seitenschiffsjoche, sondern auch die Detailformen. Charakteristisch ist für diesen Bereich v. a. die fehlende Trennung von Stütze und Last: So werden z. B. die Birnstäbe der Gewölberippen der Umgangskapellen in der für Narbonne bereits beschriebenen Weise fast ohne Unterbrechung mit dem gleichen Profil in die vertikale, tragende Wandvorlage weitergeführt, so dass sich durch die Addition all dieser meist geschärften Einzelelemente sehr kompliziert profilierte Pfeilerformen mit einem mitunter etwas spröden Gesamteindruck ergeben. Angesichts seines frühen Todes im Jahre 1352 gedieh Matthias’ Werk nicht über die unteren Partien des Chorumgangs hinaus. Die Position des Franzosen nahm nach kurzer Pause 1356 ein demgegenüber geradezu blutjunger und bis dahin noch nicht in Erscheinung getretener Architekt ein: der damals gerade einmal 23 Jahre alte Peter Parler. Bis zu seinem Tod 1399 sollte er die folgenden Jahrzehnte ausschließlich mit
Der Prager Veitsdom
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den Arbeiten am Veitsdom und mit den Planungen für andere kaiserliche Projekte beschäftigt sein. Wie die Inschrift unter seinem berühmten Porträt im Prager Veitsdom zu berichten weiß, war er Sohn des aus Köln gebürtigen Architekten Heinrich Parler, der seit 1351 den Neubau der Heiligkreuzkirche in Schwäbisch Gmünd (□ vgl. 37) leitete. Doch auch ohne diese Information wäre allein schon anhand seines Familienamens ableitbar gewesen, dass Peter Parler einer eng mit dem Bauwesen verbundenen Familie entstammen musste: Unzweifelhaft lässt sich der Name Parler auf das französische parler für ‚sprechen‘ zurückführen, das später – in entsprechenden Zusammenhängen – zu dem Wort ‚Polier‘ verballhornt wurde, also zu dem Titel jener Persönlichkeit, die im Fall der Abwesenheit des Architekten dessen Pläne auf der Baustelle ‚zum Sprechen‘ bringt. Da in der genannten Inschrift am Veitsdom explizit die Rede davon ist, dass Kaiser Karl IV. Peter Parler aus Schwäbisch Gmünd herbeigeholt habe, besteht kaum Zweifel, dass er zuvor an dem Bauprojekt seines Vaters mitgearbeitet hatte, ohne dass genauer zu bestimmen wäre, in welchem Maße. Von dort wechselte Peter Parler im Übrigen nicht unbedingt als ‚Jungstar‘ – wie man das heute wohl nennen würde – zum prestigeträchtigen Domprojekt nach Prag. Vielmehr gehörte er, bei neutraler Betrachtung der Quellen, einer Gruppe von kaisernahen Bürgern der schwäbischen Stadt an, die damals Gleiches taten und kurze Zeit später ebenfalls im Umfeld des kaiserlichen Hofes zu finden sein sollten (Moraw 2004, S. 22). Bemerkenswert erscheint nun, dass der in der Literatur zumeist als der Innovator schlechthin, als der gleichsam personifizierte ‚Erfinder‘ der Spätgotik in Erscheinung tretende Peter Parler in dem von ihm geleiteten Bauabschnitt die für die Zeit durchaus modernen Profile seines Vorgängers durch vergleichsweise traditionelle Formen ersetzte (□ vgl. 145): zumindest im unteren Bereich, wo er auf Bündelpfeiler zu-
III. Schlüsselwerke
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rückgriff, die wie bei jenen der Rayonnantgotik aus einfachen runden Diensten und jeweils sie trennende Kehlen komponiert sind. Auch besitzen sie nun wieder in sehr traditioneller Weise Kapitelle. Nicht weniger bemerkenswert ist – egal, ob es nun der Eigenwilligkeit und Durchsetzungskraft des noch jungen Architekten Peter Parler oder aber der Flexibilität des Auftraggebers, also des Prager Erzbischofs und des Domkapitels, verdankt wird –, dass man im Gegensatz etwa zu Köln und anderen hochgotischen Bauten in Prag das Konformitätsprinzip außer Acht und inmitten des Chors einen deutlichen Planwechsel zuließ. Er fällt insofern nicht ganz so schwer ins Gewicht, als man es in erster Linie mit einer horizontalen Fuge zu tun hat, kommt doch Parlers wegweisend neue Architektur eigentlich erst im Triforium und Obergaden zum Tragen (1369: Wölbung der Chorseitenschiffe; 1374: Arbeiten an Triforium und Obergaden des Chores; 1385: Weihe des Hochchores; ab 1392: Langhaus; ab 1396 Südturm). An erster Stelle ist dabei sicherlich die Aufhebung von Raumgrenzen zu nennen: Parler geht hier noch weiter als das in Vorformen bereits für die im 13. Jh. errichtete Kathedrale von Lincoln |▶ 22| und vergleichbaren englischen Bauten zu sehen ist. Deswegen hat man sogar eine Lehrzeit Parlers in England vermutet, was allerdings durch Quellen nicht zu belegen ist. Auch wird bei einem direkten Vergleich schnell deutlich, dass es zwischen beiden Bauten nicht wirklich direkte Anknüpfungspunkte gibt. In einer weit dekorloseren Form geht es Parler nun nämlich sowohl um eine Verschleifung im Bereich der Gewölbe als auch an der Hochschiffswand. Gerade sie modelliert er in bis dahin unbekannter Weise plastisch durch. So trifft man nun im vollständig durchfensterten Triforium nicht mehr nur auf eine simple fortlaufende Bogenreihe, sondern auf eine reiche, die Ansätze der Säulchen der Arkatur kaschierende Maßwerkbalustrade, was das Zurückspringen der Triforienebene gegen-
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über der Arkadenwand um gut einen Meter ermöglicht. Hier trifft man im Übrigen auch auf ein anderes, überaus bemerkenswertes Phänomen in Peter Parlers Entwurf, diesmal in Bezug auf die skulpturale Ausstattung: auf die bereits erwähnte Folge von (idealisierten) Porträtbüsten aller am Kathedralneubau Beteiligten, d. h. sowohl des Kaisers und seines Hofes als auch des Klerus sowie der beiden Architekten ( Themenblock · Der Architekt, S. 224), einschließlich der bereits erwähnten Inschriften. In der darüberliegenden Zone hat das zurückgesetzte Triforium zur Konsequenz, dass die Sohlbank des anschließenden Obergadenfensters nicht mehr gerade durchläuft, sondern an den Seiten eines jeden Jochs bis zur Front der Wandvorlage vorspringt. Dadurch ergibt sich an der Hochschiffswand insgesamt ein bewegtes Zickzack, ein Vor- und Zurückschwingen der Wand. Dieser Effekt wird noch dadurch verstärkt, dass in der betreffenden Bahn der großen sechsteiligen Fenster jeweils in gleicher Weise ein kleines bogen- und fialenbekröntes Einzelfenster ausgestellt ist. Als Vorläufer für diese bemerkenswerte Wandmodellierung wird immer wieder gern die spornartige Verkröpfung des Geschossgesimses im Schwäbisch Gmünder Chor (□ vgl. 37) benannt. Allerdings sieht man bei einem direkten Vergleich schnell, dass es sich hier nur um ein sehr mittelbares Vorbild handeln kann. Insbesondere ist die Lösung in der Heiligkreuzkirche nicht mit einem solch komplexen Wandaufbau verbunden wie in Prag. Auch Parlers Gestaltung des Couronnements der Obergadenfenster eröffnete neue Dimensionen mit ihren sehr individuellen, raffiniert geschnittenen Maßwerklösungen, die von sphärischen über Fischblasen bis hin zu anderen organischen Formen reichen. Fast noch wegweisender für das, was man gemeinhin und etwas unscharf Spätgotik nennt, ist allerdings die den Raum vereinheitlichende Gewölbelösung, die Parler anstelle der von Matthias
von Arras vorgesehenen konventionellen, vierteiligen Gewölbe setzte. Ohne trennende Gurtbogen verschmelzen hier jochübergreifende Diagonalrippen zu verschieden dimensionierten Rautenformen, die in der Summe ein ganz neuartiges Netzgewölbe ausbilden. Exakter beschrieben handelt es sich pro Joch um eine Art Verdoppelung der jeweiligen Kreuzrippen (deswegen zwei Schlusssteine pro Joch), wobei jede Rippe nur noch an einer Seite direkt an der Wandvorlage ansetzt, während sie auf der anderen Seite in einer Art Stummelrippe – eben das, was von dem einstmaligen Gurtbogen übrig geblieben ist – endet. Ähnlich kompliziert vielteilig erscheint das sternförmige Gewölbe des Chorschlusses. Resultat ist eine den gesamten Chorbereich durchlaufende halbrunde Längstonne, in die an den Fenstern im Vergleich zur konventionellen Lösung niedrigere Stichkappen dezent einschneiden. Welche Entwicklung mit dieser Mitte des 14. Jh.s zumindest in Kontinentaleuropa einmaligen Lösung ihren Ausgang nahm, zeigt im Übrigen eindrucksvoll der an Virtuosität und Größe kaum mehr zu übertreffende Wladislawsaal, der nur wenige Meter entfernt, ebenfalls auf dem Hradschin, eineinhalb Jahrhunderte später von 1493 bis 1503 von Benedikt Ried ausgeführt wurde (v. Engelberg 2013, S. 123). Fast noch spektakulärer, wenn auch vor der Öffentlichkeit verborgen, erscheint Parlers Konstruktion des ‚hängenden Schlusssteins‘ oder ‚Abhänglings‘, der auf der Nordseite in der zweijochigen Sakristei (bis 1362) zu finden ist. Es handelt sich dabei um ein zapfenförmiges, herabhängendes Element, das durch ein integriertes Eisen seinen Halt am eigentlichen Schlussstein oben erhält und auf dem nun strahlenförmig frei im Raum stehende Rippen zum eigentlich tragenden Gewölbe zurückgeführt sind, eine Lösung, die ihren Ausgang in der heute zerstörten Katharinenkapelle (1. Hälfte 14. Jh.) am Straßburger Münster genommen zu haben scheint (Recht 1980, S. 106; Recht
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1974, S. 54 – 56). In Variation findet sich das Arbeiten mit solchen Luftrippen in der Vorhalle des Südportals, an der eine für die geringe Größe des Raumes gewollt komplizierte, auf dem Dreistrahlgewölbe aufbauende Lösung auftritt. In nicht minder virtuoser Weise hatte Parler sie im Übrigen auch schon als Leitmotiv des Gewölbes im östlichen Sakristeijoch eingesetzt. All diese beschriebenen zukunftsweisenden, überraschend vielfältigen Erfindungen kontrastieren mit anderen – auf den heutigen Betrachter geradezu irritierend altertümlich wirkenden – Lösungen: Dazu gehört das in altehrwürdiger Weise als Mosaik ausgeführte Bildprogramm am Südportal oder aber die in ihrer Innenraumwirkung stark auf die Verkleidung mit Halbedelsteinen abgestellte Wenzelskapelle (Weihe 1367) – ebenfalls auf der Südseite –, die erst auf den zweiten Blick anhand der Architekturdetails erkennen lässt, dass es sich hierbei immer noch um die gleiche Planung und Bauphase handelt (vgl. bzgl. der Gestaltung die ebenfalls auf Karl IV. zurückgehende Anlage von Burg Karlstein, ab 1348). Hier ging es dem Auftraggeber ganz offensichtlich um etwas anderes: nicht um die modernste Lösung, sondern um das Evozieren von Anciennität, von Altehrwürdigkeit des böhmischen
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Königtums, die nicht zuletzt durch die Verwendung besonders kostbarer Baumaterialien unterstützt wurde. Berechtigterweise sind die neuen, von Peter Parler für den Prager Veitsdom gefundenen Lösungen als wesentliche Schritte zu einer – zumindest im deutschsprachigen Raum – ganz neuen Maximen folgenden spätgotischen Architektur benannt worden. Dabei gilt aber zu beachten, dass auch hier vieles bereits in Vorstufen vorlag, was von Parler allerdings zu einem neuartigen Gesamtkonzept zusammengeführt wurde (vgl. S. 68): durchaus vergleichbar mit dem Fall des anderen von der Forschung zum maßgeblichen Innovationsbau der Frühzeit gotischer Architektur stilisierten St-Denis |▶ 17|. Trotzdem kann mit Fug und Recht für den Veitsdom weiterhin die in der Überschrift angeklungene Scharnierstellung in Anspruch genommen werden, und zwar allein deswegen, weil man ihn zwar noch nach dem klassischen Konzept französischer Kathedralen begonnen hatte, seine Architektur dann aber durch den jungen Parler eine vollkommene, zukunftsweisende Neuinterpretation erfuhr – eine besondere Leistung dessen, was man heute ‚Bauen im Bestand‘ nennen würde.
Die Prager Karlsbrücke Mittelalterliche Ingenieurbaukunst
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andels- und Verkehrswege nachhaltig vereinfachend und verkürzend, stellen steinerne Brücken als sichere Übergänge über Flüsse oder andere Hindernisse eine zentrale Bauaufgabe in der abendländischen Architektur dar. Hatten diese auf den ersten Blick stark ingenieurtechnisch bestimmten Anlagen zur
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Römerzeit eine erste Blüte erfahren (vgl. z. B. die Steinbrücken von Córdoba und Alcántara oder die Mischkonstruktion aus Stein und Holz in Trier; ebenso Aquädukte wie der Pont du Gard), so fristete der Brückenbau für den Rest des ersten Jahrtausends eher ein Schattendasein: Zum einen blieben die römischen Anlagen
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□ 146 Prag, Karlsbrücke, ab 1357
noch lange Zeit nutzbar, zum anderen konnte ein Fluss natürlich auch mittels einer Fähre oder durch eine Furt über- bzw. durchquert werden, wenn auch in etwas weniger sicherer Weise. Die große Bedeutung der letztgenannten Lösung im frühen Mittelalter kommt dabei gerade in den Namen zahlreicher europäischer Städte zum Ausdruck (Frankfurt, Ochsenfurt, Erfurt, Hereford, Bedford etc.). Bei Neuanlagen beschränkte man sich dagegen zunächst auf hölzerne Konstruktionen (so auch bei der für Karl den Großen überlieferten Erneuerung der römischen Rheinbrücke bei Mainz), die natürlich kaum die gleiche Stabilität und Haltbarkeit wie Steinbogenbrücken aufweisen konnten. Blickt man etwa auf den deutschsprachigen Raum, so sind derartige massive Anlagen größeren Ausmaßes erst wieder im 12. Jh. zu finden, wie das z. B. die ‚Steinerne Brücke‘ in Regensburg (1135 – 46) und die nicht mehr erhaltenen entsprechenden Beispiele in Würzburg (ab 1133) und in Prag (ab 1171) zeigen (Frankreich: Beaugency, 12. Jh.). Wie teuer sie in Bau und Unterhalt waren, belegen dabei unzweideutig die in ganz Europa nachweisbaren Brückenzölle. Dass Brücken durchaus mehr sein konnten als reine Nutzarchitektur, soll ein Blick auf jene Konstruktion zeigen, die nur knapp 200 Jahre später, nach Hochwasserschäden, in Prag die genannte romanische Brücke ersetzte: die
ab 1357 auf Geheiß des böhmischen Königs Karl IV. und zugleich Kaiser des Heiligen Römischen Reiches |▶ 41| ausgeführte Karlsbrücke (□146, 147; Fehr 1944). Sie ist ein bis heute beeindruckendes Bauwerk, das hinsichtlich seiner Dimensionen den nur einige Meter weiter flussabwärts parallel zu ihm geführten Vorgänger, die sog. Judithbrücke, deutlich übertreffen sollte. Bei bemerkenswerten 10 m Breite und auf hoch aufragenden Pfeilern ruhend, die zur Abweisung des Flusswassers mit mächtigen keilförmigen Vorlagen verstärkt sind, überspannt die Brücke auf einer Länge von über einem halben Kilometer mit 16 tonnengewölbten Bogen die Moldau. Hinzu kommen noch die Rampen an beiden Flussseiten, die den Nutzer vom eigentlichen Uferniveau bei moderater Steigung auf die – bedingt durch die großen Rundbogen – weit höher gelegene Brücke führen. Auch wenn der eigentlichen Brücke, die zu den größten erhaltenen des Mittelalters gehört, jegliche weitere architektonische Dekoration fehlt (das Skulpturenprogramm stammt erst aus dem frühen 18. Jh.) – sie also ausschließlich durch ihre Konstruktion wirkt –, ist die Karlsbrücke im Kontext der Regentschaft Kaiser Karls IV. weit mehr als nur ein rein verkehrstechnisches Bauwerk, mit dem die Infrastruktur eines Siedlungsraumes verbessert werden sollte. Sie stellt die einzige direkte Verbindung zwischen den damals unabhängigen Städten auf der Ostseite
Die Prager Karlsbrücke
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der Moldau (Staré Meˇsto und Nové Meˇsto), der Bürgerstadt, und der Westseite (Malá Strana), der eigentlichen Residenzstadt mit dem über ihr aufragenden Hradschin und dem Veitsdom, dar. Überdies ist sie Teil eines weit umfassenderen Bauprogramms, dem der Neubau des Prager Veitsdoms |▶ 41| ebenso zuzurechnen ist wie eine Fülle weiterer, teilweise von Karl IV. gestifteter Kirchen (vgl. Einleitung). Absicht war es, mit diesem die Hauptstadt des böhmischen Königreichs baulich zum neuen Zentrum des gesamten Heiligen Römischen Reiches, dem er als Kaiser ja vorstand, aufzuwerten. Insofern verwundert es nicht, dass wir in der begleitenden Inschrift zum bereits genannten Bildnis des zweiten Architekten des Veitsdoms |▶ 41|, Peter Parlers, im dortigen Triforium erfahren, dass er nicht nur für den Dombau verantwortlich gewesen sei, sondern auch den Bau der Moldaubrücke geleitet habe (rexit pontem multavie). Dass auf ihn auch der eigentliche Plan zurückging, ist immer wieder angezweifelt worden, insbesondere, da die Grundsteinlegung fast unmittelbar nach seiner Übersiedlung nach Prag erfolgte, also nicht besonders viel Zeit für Planung und Vorbereitung geblieben wäre. Auch hat man sich zu Recht den Kopf über die Aufgabenverteilung zwischen ihm und einem in den Quellen als magister pontis genannten Otto (Otlin) zerbrochen. Möglicherweise hatte Parler die Leitung des Projekts tatsächlich erst später von diesem übernommen, wie dies immer wieder vermutet wurde. Außer Frage steht allerdings, dass Peter Parler den Entwurf für den markanten Torturm auf der Altstädter Seite lieferte (die Toranlage auf der Westseite erst aus dem 15. Jh. nach dem Vorbild des Altstädter Torturms), der Funktion und Gestalt nach einem Stadttor vergleichbar. Eine Brücke auf diese Weise fortifikatorisch abzusichern, war damals nichts Neues mehr, wie das die entsprechenden Anlagen z. B. in Regensburg oder Cahors (ab 1308) zeigen. Bemerkenswert ist jedoch der Umfang der Gestaltung des Alt-
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städter Turmes: nicht nur durch Blendbogen und zahlreiche andere architektonische Detailformen, die heute zumindest noch die gesamte Ostseite strukturieren, sondern auch durch das dieser Gliederung eingeschriebene Bild- und Zeichenprogramm (als ein früher, bescheidener Vorläufer vgl. das Bildprogramm des 1240 im Auftrag Kaiser Friedrichs II. errichteten Brückentores von Capua in Apulien). Geschickt nutzte man diese – in verkehrstechnischer Hinsicht – Engstelle, um mit dem Programm auf den Nutzer der Brücke einzuwirken, mit ihm zu kommunizieren. Im unteren Teil des Turms, direkt über der Durchfahrt, sind die Wappen der von Karl IV. regierten Länder wiedergegeben. Im ersten Geschoss folgt dann – als eigentliches Zentrum des Programms – unter einem großen offenen Dreipass in der Mitte der auf einem kleinen Brückenmodell (interessanterweise mit einer etwas weiteren und flacheren Bogenführung als im Original) stehende hl. Veit. Als einer der Nationalheiligen Böhmens, dem ja auch der erzbischöfliche Dom geweiht war, wird Veit auf diese Weise zugleich als Beschützer der Brücke präsentiert. Flankiert ist er von Karl IV. und dessen Sohn Wenzel IV., jeweils mit Bügelkronen des Kaisers bzw. des deutsch-römischen Königs dargestellt. Unter Flügelhelmen sind zwischen ihnen die Wappen des Königreichs Böhmen (Löwe) und des Heiligen Römischen Reichs (Reichsadler) gezeigt, die jeweils auch noch einmal an den Konsolen der die Figuren überfangenden Baldachine auftreten. Zur Linken verweist der Adler mit dem Schachbrettmuster auf das wichtigste Teilgebiet des Königreichs Böhmen – auf die Markgrafschaft Mähren –, während zur Rechten Karls das Wappen mit den Türmen den durch das Tor Schreitenden darauf hinweist, auf welchem Grund der Brückenturm steht: auf dem der Prager Altstadt. Überfangen wird das Programm im Scheitel durch den Prˇemysliden-Adler, das Wappen jenes Geschlechts, über das Karl IV. seinen Anspruch auf den böhmischen Königsthron de-
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finierte, war doch seine Mutter als Tochter des letzten Königs aus dem Geschlecht der Prˇemysliden dessen legitime Erbin. Im zweiten, rundum von einer Blendarkatur untergliederten Geschoss, das nach oben von einem Zinnenkranz abgeschlossen wird, ist das Programm wieder exklusiv auf böhmische Aspekte fokussiert, finden sich hier doch zwei weitere Schutzheilige des Landes, St. Adalbert und St. Sigismund, wiedergegeben (eine späte Rezeption des Programms evtl. beim 1425 vom bayerischen Herzog Ernst finanzierten Bayertor in Landsberg am Lech). Auf der im 17. Jh. beschädigten Westseite antwortete ursprünglich eine Marienfigur zwischen den knienden Darstellungen Karls IV. und seiner Gemahlin Elisabeth von Pommern (Crossley / Opacˇi´c 2006, S. 206). Die in gemalter wie skulptierter Form am gesamten Turm zu findenden Liebesknoten, die einen Eisvogel rahmen – die persönliche Devise Wenzels –, mag Hinweis darauf sein, dass das Bildprogramm zumindest zu Teilen erst nach Karls Tod fertiggestellt wurde. Bemerkenswert erscheint schließlich auch der für die eigentliche Durchfahrt gewählte Aufwand, wo sich – für einen Profan- bzw. Wehrbau recht ungewöhnlich – en miniature ein ähnlich kompliziertes Netzgewölbe findet wie im weiter östlich auf dem Hradschin gelegenen Chor des Veitsdoms. Für das Programm und all den genannten architektonischen Aufwand ausschlaggebend war sicherlich nicht nur seine Funktion als alltäglicher Zugang zur eigentlichen Residenzstadt, sondern auch, Bestandteil des Krönungsweges des böhmischen Königs zu sein. Ist die Karlsbrücke damit ein Beispiel für ein herausragendes verkehrstechnisches Bauwerk, das man mit seiner Toranlage in der Art eines Stadttores als Kommunikationsfläche innerhalb der Stadt nutzte, so wurde diese zwangsläufige Engführung des Verkehrs,
die mit einer Brücke selbst ohne Tor verbunden ist, auch in weniger repräsentativer und propagandistischer Weise genutzt: In der Tat scheint es, dass nicht wenige mittelalterliche Brücken – dabei oft bescheidener in Holz ausgeführt – ein ganz anderes Konzept verfolgten. Der hölzerne Vorgängerbauten ersetzende Florentiner Ponte Vecchio (ab 1333; □ 148; Brown 1994, S. 30) und die Krämerbrücke in Erfurt (ab 1325) sind dafür bis heute prominente Beispiele. In beiden Fällen wird nun nicht die Über-
□ 147 Prag, Karlsbrücke, östlicher Brückenturm von Osten, 1370/80er Jahre
Die Prager Karlsbrücke
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□ 148 Florenz, Ponte Vecchio von Westen, ca. 1333 – 45
querung eines Flusslaufs inszeniert; vielmehr bewegt man sich jeweils in einer recht engen Gasse, gerahmt von Läden, worauf ja bereits der Name der Erfurter Brücke hinweist (dort schon die Vorgänger seit dem 8. Jh. mit Buden). Dass es sich hier nicht um zwei kuriose Ausnahmen handelt, sondern man innerhalb dicht bebauter Stadträume – insofern das technisch möglich war – solche Möglichkeiten für die Erweiterung von Wohnraum oder Verkaufsflächen nutzte, zeigen u. a. die mittelalterlichen Brücken in Paris. Sie sind heute allerdings nur noch in Bildzeugnissen überliefert, wie etwa der Grand-Pont, der in einem von Jean Fouquet ausgeführten Stundenbuch (ca. 1452 – 60) abgebildete hölzerne Pont St-Michel (ab 1379) oder der in gleicher Bauweise anfangs des 15. Jh.s errichtete Pont Notre-Dame. Ausnahmslos wurden sie zu beiden Seiten von Ladenbauten gerahmt, die die Stadt teilweise direkt vermietete oder ihr aber zumindest zusätzliche Steuereinnahmen einbrachten (Lorentz / Sandron 2006, S. 21 – 25). Dass das ein durchaus einträgliches Geschäft war, belegt der nach einem Hochwasser notwendig gewordene Neubau des Pont Notre-Dame im frühen 15. Jh., bei dem man ganz selbstverständlich das alte Konzept der flankierenden Ladenbauten bei der neuen, steinernen Konstruktion beibehielt. Von Florenz
III. Schlüsselwerke
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wissen wir, dass die Nutzung der Brücke noch von ganz anderer, stärker mit der Lage mitten im Fluss zusammenhängender Art sein konnte: Sind in Zusammenhang mit Brückenbauten verständlicherweise oft Mühlen zu finden (vgl. z. B. Regensburg), so waren es im Fall des Ponte Vecchio anfänglich die geruchsintensiven Gewerbe der Schlachter und Gerber, die sich dort ansiedelten, um auf diese Weise ihre Abfälle direkt in den Arno ableiten zu können. Erst im späten 16. Jh. ersetzte man sie per Dekret durch das feinere Gewerbe der Goldschmiede. Ähnlich motiviert wie bei den Gerbern ist im Übrigen auch die Ansiedlung von Hospitälern in Fluss- und oft auch in Brückennähe (vgl. z. B. Paris, Nürnberg, Pont-à-Mousson). Doch ging es hier nicht nur um die Entsorgung von Abfällen, sondern auch darum, an solch exponierten Stellen gängiger Reiserouten Aufnahmemöglichkeiten für erkrankte Pilger vorzuhalten (Jetter 1966, S. 29; Jetter 1986, S. 47 – 49). Damit nicht genug, kann der Ponte Vecchio im Vergleich mit der fast zeitgleichen Karlsbrücke schließlich auch noch helfen, einen ganz anderen Aspekt zu beleuchten: die damals – Mitte des 14. Jh.s – offensichtlich bereits gegebenen, sehr verschiedenartigen ingenieurtechnischen Lösungen für die Überbrückung eines Hindernisses. Ist es in Prag oder bei der Erfur-
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ter Krämerbrücke noch die klassische Abfolge vergleichsweise hoch aufragender Rundbogen, die auf massiven Pfeilern im Flussbett lagern, so finden wir in Florenz – was die eigentliche Brücke betrifft – eine wesentlich leichter, geradezu modern wirkende Lösung. Als eines der frühesten Beispiele dieser Art überbrücken hier drei leicht unterschiedlich dimensionierte Segmentbogen (der mittlere ist höher und weiter als die beiden seitlichen), die jeweils ungefähr die eineinhalbfache Spannweite der Prager Bogen besitzen (Florenz: max. 30 m; Prag: max. 23,5 m), mit großer Eleganz den Fluss – zweifellos eine ingenieurtechnische Meisterleistung, die im 14. Jh. ihresgleichen suchte
(zeitgleich entstanden sind die vier Segmentbogen der Brücke St-Bénézet in Avignon, eine um 1345 ausgeführte Erneuerung der Rundbogenbrücke des 13. Jh.s). Durch die flachere Bogenführung hat die Florentiner Konstruktion zudem den entscheidenden Vorteil, dass das Brückenniveau über dem Fluss erheblich niedriger ausfällt (evtl. auch ermöglicht durch den allgemein niedrigeren Wasserstand des Arnos gegenüber der Moldau). Auf diese Weise können zu beiden Seiten die Auffahrtsrampen, die in Prag und vergleichbaren Konstruktionen normalerweise lange vor dem eigentlichen Flusslauf ansetzen, wesentlich einfacher in den Stadtraum eingefügt werden.
Der Wiener Stephansdom Hallenkirche mit spektakulärem Turmbau
D
as recht homogene Erscheinungsbild des Wiener Stephansdoms (□ 149) täuscht darüber hinweg, dass es sich um ein ähnlich komplexes, über mehrere Jahrhunderte gewachsenes Gebilde handelt wie etwa das Straßburger Münster. Heute ist der Stephansdom eine Bischofskirche; anfänglich war er aber nicht mehr als eine Pfarrkirche, die zwar in enger Verbindung mit dem in Wien residierenden Hof der Erzherzöge von Österreich stand, die aber eigentlich zu einer ebenso wohlhabenden wie ehrgeizigen Bürgerstadt am Ostrand des Heiligen Römischen Reiches gehörte. Insofern überrascht es wenig, dass der ca. 1220 – 63 errichtete, bereits recht ambitionierte Vorgängerbau kaum 40 Jahre nach seiner Fertigstellung 1304 – 40 einen neuen Ostabschluss erhalten sollte. Hinsichtlich des Grundrisses möglicherweise an dem donauaufwärts gelegenen Regensburger Dom (Chor ca. 1273 – 1310) orientiert, handelt es sich
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um einen Staffelchor. Anders als in Regensburg setzt er sich in Wien allerdings aus drei annähernd gleich dimensionierten, über fünf Seiten eines Achtecks geschlossenen Apsiden zusammen. Ein noch gravierenderer Unterschied zwischen den beiden Anlagen besteht darin, dass es sich beim Wiener Chorneubau um eine Halle handelt, also um einen in diesem Band bisher noch nicht erläuterten Kirchentypus. Seit der ersten Hälfte des 13. Jh.s stellte er v. a. im deutschsprachigen Raum eine Alternative zur klassischen Basilika mit ihren höheren Mittelund niedrigeren Seitenschiffen dar. Unabhängig von der jeweiligen Dimensionierung sind die Hauptcharakteristika jeder Halle dagegen die mehr oder weniger gleich hohen Kirchenschiffe sowie – und das ist wichtig – der fehlende Obergaden. Bei einer sog. Staffelhalle (□ 150), wie sie am Stephansdom vorliegt, ist das Mittelschiff zwar nach wie vor höher als die Seiten-
Der Wiener Stephansdom
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□ 149 Wien, Stephansdom, Ansicht von Südwesten: Südturm unter mehreren Planänderungen von Mitte des 14. Jh.s bis 1433 ausgeführt; Westtürme 1. Hälfte 13. Jh.
III. Schlüsselwerke
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schiffe, weist aber eben keine eigenen Fenster auf. Die Beleuchtung des Kircheninneren erfolgt demnach ausschließlich durch die Öffnungen in den Seitenschiffen. Anders als man erwarten könnte, bedeutet das nicht unbedingt Einbußen hinsichtlich der Helligkeit – ganz im Gegenteil, ergibt sich doch auf diese Weise eine fortlaufende Reihe hoher und oft auch großformatiger Seitenschiffsfenster, die das Gebäude weit einheitlicher beleuchten als das bei einer Basilika der Fall ist. In voller Ausprägung lässt sich die Halle für einen großformatigen Sakralbau im deutschsprachigen Raum erstmals bei einer der frühesten Rezeptionen französischer gotischer Architektur im Heiligen Römischen Reich überhaupt finden, nämlich bei der 1235 begonnenen Marburger Elisabethkirche. Hinsichtlich der Dimensionierung gehört der Stephansdom in seiner heutigen Form, d. h. nach Abschluss der Langhauserneuerung in Hallenform, zu den größten Vertretern dieses Typus. Hallen sind im Übrigen bereits am Außenbau relativ leicht erkennbar, weisen sie doch angesichts der nicht vorhandenen Abstufung zwischen Mittelund Seitenschiff sowie der in der Konsequenz fehlenden Obergadenfenster üblicherweise ein einheitliches, alle Schiffe unter sich vereinendes Dach auf. Jenes von St. Stephan gehört zu den größten jemals im Mittelalter verwirklichten Konstruktionen dieser Art. Wohl um ihre Mächtigkeit etwas abzumildern, aber auch um dem Wind am Dachansatz nicht zu viel Angriffsfläche zu bieten, finden sich über der Traufzone rundum gesetzte riesenhafte, von Maßwerk gegliederte Wimpergbauten. Die Beziehung zwischen dieser Pfarrkirche und den vor Ort residierenden Landesherren, den Erzherzögen von Österreich (schon im Vorgängerbau gab es für sie eine Empore in der Westanlage), sollte sich im Laufe des 14. Jh.s deutlich intensivieren. Ähnlich wie kurz zuvor bei Karl IV. und dem Prager Veitsdom, erkor auch der Habsburger Rudolf IV. (reg. 1358 – 65) diesen mit Abstand wichtigsten Sakralbau sei-
ner Residenzstadt zur Grablege, ebenso wie er sich maßgeblich für die Einrichtung eines eigenen Bistums Wien mit St. Stephan als dessen Mutterkirche engagierte, wozu auch 1363 die Einrichtung eines Stiftes ebendort gehörte. Allerdings sollte es in diesem Fall noch ein Jahrhundert dauern, bis dem Ansinnen Erfolg beschieden war. Gleichwohl ist es essentiell für das Verständnis all der vorgenommenen kostenintensiven Umbau- und Erweiterungsmaßnahmen, die bezeichnenderweise in der zweiten Hälfte des 15. Jh.s fast zeitgleich mit der Erhebung Wiens zum Bistum ihren Abschluss fanden. Es ging also offensichtlich von Anfang an um die Errichtung eines Gebäudes, das eines Bischofs würdig war. Bemerkenswert und geradezu einzigartig am ambitionierten Wiener Bauvorhaben ist, dass sich bei ihm nicht nur – wie schon im Fall von Köln und Straßburg – für das Gesamtprojekt Planmaterial erhalten hat. Vielmehr gibt es auch solches zu verschiedensten Details, wodurch sehr genaue Rückschlüsse auf einzelne Entwurfsschritte und überhaupt auf den Einsatz derartigen auf Pergament oder Papier ausgeführten Planmaterials in einer mittelalterlichen Bauhütte gezogen werden können. Der bis heute in Wien erhaltene Bestand ist dabei der größte überhaupt noch existierende. Ja, seine annähernd 300 Blatt mit ihren ca. 440 Einzelzeichnungen stellen fast schon ein Fünftel des weltweit überlieferten Materials dar. Dass es dabei eher um Planung, Diskussion und Entscheidungsfindung denn Ausführung ging, zeigt bereits der gute Erhaltungszustand der Blätter. Auffallend ist zudem, dass in den Beständen auch eine Reihe von nicht direkt mit Wien zu verbindenden Rissen überliefert sind. Das macht wahrscheinlich, dass sie in bestimmten Fällen offensichtlich auch zu den Bewerbungsunterlagen eines Architekten gehörten, der auf diese Weise dem potentiellen Auftraggeber schon einmal sein entwerferisches Können demonstrieren konnte. Das trifft sicherlich für ein
Der Wiener Stephansdom
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290 □ 150 Wien, Stephansdom, südliches Seitenschiff der Staffelhalle, Blick nach Westen, ca. 1430 – 74
entsprechendes 1359 dokumentiertes Verfahren zu, bei dem verschiedene Baumeister ihre jeweiligen Projekte für den Weiterbau des Stephansdoms vorlegten. Gemeinsam mit jenem für den Mailänder Dom von 1389 |▶ 44| handelt es sich hier um einen der frühesten derartigen Wettbewerbe überhaupt. Dass die Wiener Dombauhütte im deutschen Sprachraum großes Renommee besaß, kommt übrigens nicht zuletzt in der Ordnung des Regensburger Hüttentags zum Ausdruck, der 1459 unter Leitung der Straßburger und der Wiener Dombaumeister, Dotzinger und Spenning, stattfand (Kronberger 2011). Die für den gotischen Neubau des Wiener Stephansdoms benannten hochgesteckten Zie-
III. Schlüsselwerke
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le scheinen noch einmal besonders deutlich in dem dafür gewählten Leitbild auf. Angesichts der fast identischen Ausgangslage und dem übereinstimmenden Anspruchsprofil konnte dafür in der zweiten Hälfte des 14. Jh.s eigentlich nur ein Bau herangezogen werden, zumindest im Heiligen Römischen Reich: der Prager Veitsdom |▶ 41|. Dies gilt umso mehr, wenn man so enge verwandtschaftliche Beziehungen zu Kaiser Karl IV. besaß wie der maßgebliche Stifter, Rudolf IV., der mit Karls Tochter Katharina von Böhmen verheiratet war. Insofern ist es nur konsequent, wenn es auch in architektonischer Hinsicht signifikante Übereinstimmungen zwischen dem Veits- und dem Stephans-
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dom gibt (Böker 2008). Am auffälligsten sind hier sicherlich die merkwürdigen seitlichen Türme, die angesichts ihrer gewaltigen Dimensionen fast wie Querhäuser wirken und auf diese Weise im fünften Joch die Grenze zwischen Chor und Langhaus markieren. Dies stellt zweifellos eine Reminiszenz des ganz anders, nämlich durch die Prager Topographie begründeten Hauptturms des Veitsdoms dar, der sich dort an vergleichbarer Stelle der im Tal gelegenen Stadt zuwendet. Eine Reihe von Indizien erhärten den Befund: die Gestalt der Portalvorhallen mit ihren drei spitzbogigen Öffnungen, das Netzgewölbe im Langhaus oder aber die mit Prag ganz unmittelbar verwandten hängenden Schlusssteine, die als ingenieurtechnische Kabinettsstücke wie in der Prager Sakristei die Gewölbe der beiden Kapellen, die den Türmen im Norden wie im Süden vorgelagert sind, bereichern. Die bis heute beeindruckendsten und spektakulärsten Bauteile des Wiener Stephansdoms sind jedoch seine beiden Türme, auch wenn letztlich nur der Mitte des 14. Jh.s begonnene im Süden (□ vgl. 149) in Gänze realisiert wurde (zum spätgotischen Turmbau u. a.: Nußbaum 1985, S. 192 – 204). Als dieser um 1433 schließlich vollendet war, stellte er damals und auch noch für geraume Zeit gemeinsam mit dem 1437 fertiggestellten Straßburger Turm (dieser je-
doch nicht von Grund auf frei entwickelt |▶ 30], sondern erst auf einem älteren, demgegenüber recht massiven Fassadenblock aufsitzend) eines der höchsten Gebäude nicht nur des Abendlandes dar. Angesichts seiner Formenvielfalt ist er ein kaum im Detail zu beschreibendes, von großen Wimpergen geprägtes Gebilde, das sich nach oben hin stockwerksweise von einem quadratischen zu einem oktogonalen Grundriss hin verjüngt, um schließlich in einem fast schon nadelartig dünnen, durchbrochenen Turmhelm zu enden. Insgesamt 136 m wurden auf diese Weise erreicht – dabei Steinmassen verschlingend, mit denen man bereits einen Großteil der eigentlichen Kirche hätte errichten können ( Themenblock · Steinmaterial, S. 239 ). Auch hier zeigt das überlieferte Planmaterial, dass der heutige Turm nicht von Anfang an so geplant war, sondern das Produkt eines letztlich fast 100 Jahre andauernden, von verschiedenen Architekten begleiteten Entwicklungsprozesses darstellte (vgl. auch die zahlreichen, bis zu 5 m großen Risse für den Planung gebliebenen Nordturm). Vollendet war damit etwas, was in Köln |▶ 26| – als dem hinsichtlich der Dimensionierung vergleichbarsten Vorhaben – mit dem gewaltigen Riss F lange Zeit Architekturphantasie bleiben und erst im 19. Jh. seine tatsächliche Realisierung finden sollte.
Der Mailänder Dom Frühe internationale Expertenrunden
A
uch wenn in der Literatur v. a. der Mailänder Erzbischof und Gian Galeazzo Visconti, der spätere erste Herzog von Mailand |▶ 47|, als Initiatoren für den 1386 – 87 ins Werk gesetzten Neubau der Mutterkirche des
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Erzbistums Mailand genannt werden, scheint die eigentlich treibende Kraft die Bürgerschaft der Stadt gewesen zu sein (□ 151). Außer Frage steht demgegenüber, dass der Mailänder Dom (bis 1409 Vollendung der Ostteile, 1450 – 1572
Der Mailänder Dom
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292 □ 151 Mailand, Dom, Innenansicht, Ostteile ab 1386/87 – 1409, Langhaus 1450 – 1572
des Langhauses) dasjenige italienische Bauprojekt ist, das am unmittelbarsten vergleichbar jenen nördlich der Alpen erscheint – selbst wenn man in Betracht zieht, dass große Teile des besonders gotisch wirkenden Außenbaus erst ein Produkt des 19. Jh.s sind. Zugleich war der Mailänder Dom bis zum Neubau von St. Peter in Rom der größte Sakralbau auf der Apenninen-Halbinsel überhaupt. Die hochgesteckten Ambitionen scheinen bereits im durchgängig fünfschiffigen, achtjochigen Langhaus auf, das zudem eine bemerkenswerte, nur von wenigen Kathedralen des Nordens erreichte Gewölbehöhe von fast 47 m aufweist.
III. Schlüsselwerke
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Der Grundriss als solcher ließe sich allerdings grundsätzlich bereits aus der italienischen Architektur herleiten: z. B. das Langhaus, das man auch wie das einer frühchristlichen Basilika lesen könnte, in die man durchgängig vierteilige Gewölbe französischer Machart eingefügt hat. Nach einem dreischiffigen Querhaus, das vergleichbar dem Dom von Piacenza (ab 1133) jeweils in einer polygonalen Apsis endet, schließt sich der Chor an, der wie bei französischen Kathedralen üblich von einem Umgang eingefasst wird. Fehlen hier schon die eigentlich zu diesem Modell gehörenden Kranzkapellen, so stellt auch der Aufriss vor diesem Hinter-
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grund eine Neuheit dar: Hier nehmen im Mittelwie in den Seitenschiffen hoch aufschießende Arkaden bereits fast 5 / 6 der Höhe der Hochschiffswand ein, so dass nur noch Platz für relativ niedrige Obergadenfenster, aber nicht mehr für ein Triforium bleibt. In technischer Hinsicht wurde das möglich durch die Verwendung von steinernen Flachdächern am Außenbau. Dabei ist bemerkenswert, dass man zumindest dort – zwischen all dem Gewirr der reich verzierten Strebesysteme – offensichtlich die Illusion eines dreiteiligen Aufrisses zu erhalten suchte: Über den Obergadenfenstern findet sich nämlich eine weitere Fensterzone, welche kurioserweise und recht einmalig der Beleuchtung des Dachraumes über den Gewölben dient. Angesichts der vergleichsweise kleinen Fenster in diesem Bereich obliegt die Beleuchtung den weit größeren, nun geschosshohen Seitenschiffsfenstern sowie den drei gewaltigen Öffnungen am Chorumgang: Doch auch diese vermögen nicht ganz die Düsternis des Innenraumes aufzuheben. Der Raumeindruck ist dem der Ende des 12. Jh.s begonnenen Kathedrale von Bourges (□ vgl. 88) nicht unähnlich, zu der auch die Pfeiler gewisse Bezüge erkennen lassen, selbst wenn die Profilierung im Detail natürlich ihrer zwei Jahrhunderte späteren Entstehung geschuldet ist. Wie dort ruht die Hochschiffswand auf Pfeilern, deren Kern von zahlreichen Birnstabdiensten, die jeweils zur Mitte hin eine Nase aufweisen, umstellt werden, ohne einen Bündelpfeiler im eigentlichen Sinn auszubilden. Deutlich wird die grundsätzliche Bekanntheit des älteren Bourgeser Modells dann weiter oben, wo die Pfeiler als Segment in der Hochschiffswand weiterlaufen. Neu ist dabei, dass die Zone unmittelbar nach den Kapitellen – wohl um die gewaltige Höhe der tragenden Elemente etwas zu kaschieren bzw. zu beleben – eine ganz neuartige Struktur erhält, in der in Nischen zahlreiche Figuren Aufstellung finden. Trotz der genannten generellen Übereinstimmungen mit der Kathedrale von Bourges
sollte man aber nicht außer Acht lassen, dass diese Eigenheiten evtl. durch einen ihrer Ableger nach Mailand vermittelt wurden. Ebenso lässt sich manches sehr gut aus lokalen Traditionen oder solchen des Mittelmeerraums ableiten: So gibt es z. B. mit der Kathedrale von Barcelona (beg. 1298; □ vgl. 33) hinsichtlich der Proportionierung des Aufrisses durchaus einen zeitlich und in manchen Details näher stehenden Vergleichsbau (allerdings dort noch mit kombinierter Obergaden- und Triforienzone wie in Bourges). Mit der radikalen Reduzierung auf ein kleines Obergadenfenster erinnert das Mailänder Projekt dagegen eher an ältere Vorhaben wie die Florentiner Dominikanerkirche S. Maria Novella (ab 1246) oder die Pfarrkirche S. María del Mar (beg. 1329; |▶ 32|), wiederum in Barcelona. Wie man aus Quellen weiß, kam es am Mailänder Dom gleich zu Beginn zu einem markanten Planwechsel. Mit ihm erst erfolgte die Abwendung von der etablierten lokalen Lösung einer Ausführung gemäß den Traditionen des lombardischen Backsteinbaus. Stattdessen wandte man sich nun einer in der Region ungewöhnlich reinen Hausteinkonstruktion zu, ausgeführt in gotischen Formen des Nordens: ein Wechsel, der nicht ohne Widerspruch blieb und zu reichlich Diskussionen führte. Die Probleme und Bedenken, die diese in Mailand noch unbekannten Bauformen in Verbund mit der Komplexität und den gewaltigen Dimensionen des Domes mit sich brachten – erinnert sei nur an seine ungewöhnlichen Mittelschiffsgewölbe –, führten schließlich zur Einberufung mehrerer Expertenrunden. Im ganz modernen Sinne dürfen sie ‚international‘ genannt werden. Deren gut dokumentierte Diskussionen (veröffentlicht in: Nava 1854, Cantu 1877 – 83) geben bis heute einen erstaunlich detaillierten Einblick nicht nur in das aktuelle Baugeschehen um den Mailänder Dom, sondern auch in die allgemeine zeitgenössische Architekturdebatte. Von besonderem Interesse ist dabei die bemerkens-
Der Mailänder Dom
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wert unterschiedliche Perspektive südlich und nördlich der Alpen (Freigang 2008). Den Quellen nach umfassten die – mehrsprachigen – Expertenkommissionen nicht nur Architekten: So wurden im Laufe der Zeit aus dem heutigen Italien verschiedene Mitglieder der italienischen Baumeisterfamilie da Campione sowie der Mathematiker (!) Gabriele Stornaloco zu Rate gezogen, aus Frankreich Nicolas de Bon aventure und später der Maler (!) Jean Mignot. Aus dem deutschsprachigen Raum berief man dagegen einen Johann von Freiburg, Ulrich von Ensingen (1350 – 1412), der im 14. Jh. in Süddeutschland durch verschiedene Turmbauprojekte hervorgetreten war (vgl. Ulm, Straßburg |▶ 30|), sowie zwei Mitglieder der Parler-Sippe, von der schon in Zusammenhang mit dem Prager Veitsdom die Rede gewesen war |▶ 41|. Wie bereits erwähnt, ist auch für Mailand nicht immer klar, ob es sich bei den dort genannten Hans und Heinrich wirklich um Nachkommen des berühmten Peter Parler handelt oder der Name lediglich deren Berufsbezeichnung darstellt. Ein grundsätzliches Problem der von diesen bemerkenswert unterschiedlichen Persönlichkeiten im 14. Jh. geführten Diskussion war wiederum die gewisse Vorbildlosigkeit eines derartig gewaltig dimensionierten Großbaus zur damaligen Zeit, gab es doch – sieht man einmal vom Prager Veitsdom ab – kaum aktuelle Großprojekte, die man zum unmittelbaren Vergleich hätte heranziehen können: gerade was die Aufrisslösung im Verbund mit der Fünfschiffigkeit betraf. Die Debatte der Kommission kreiste nicht allein um Planungsprobleme; vielmehr geriet sie schnell zu einer allgemeinen Kontroverse zwischen ‚Ingenieur-‘ und ‚Kunst-Architektur‘. Argumentiert und diskutiert wurde dabei nicht nur mit Worten, sondern offensichtlich in erheblichem Umfang auch mit – heute leider lediglich rudimentär erhaltenem – Planmaterial. Die Quellen legen dabei nahe, dass wirklich jeder Schritt, jedes Detail zuvor in diesem zweidimensionalen Medium Erörterung gefunden
III. Schlüsselwerke
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hatte. Den Kernpunkt der Diskussion stellte der Aufriss dar, insbesondere die genaue Proportion von Höhe zu Breite, die in der schließlich gefundenen Lösung – für eine gotische Kathedrale recht ungewöhnlich – annähernd 1 : 1 beträgt: ein Verhältnis, zu dem es weniger aus statischen Gründen denn aus solchen einer mathematisch exakten, ausgewogenen Proportionierung und damit verbundenen transzendenten Harmonievorstellungen gekommen war. Kontrovers waren die Ansichten darüber, ob ein Aufrisssystem nach einem aus der Quadratur oder der Triangulatur abgeleiteten Modulsystem zu entwickeln sei. In den sog. Einwänden und Rechtfertigungen (dubia et responsiones) wurden die auf diesem sehr formelhaften Regelsystem aufbauenden Lösungsmöglichkeiten intensiv erörtert. So vermochte sich Heinrich Parler, der zunächst ein hoch aufragendes Mittelschiff vorgeschlagen hatte, wie man es von gotischen Bauten nördlich der Alpen wie Köln oder Ulm her kannte, nicht gegen die Italiener durchzusetzen, die aus den genannten Gründen demgegenüber einen breiter gelagerten Bau wünschten. Schon Heinrich, der die Kommission nach der Ablehnung unter Protest verließ, wies auf die großen statischen Probleme einer solchen Variante hin. In der Tat wusste 1400 der stark von der Vorstellungswelt französischer gotischer Kathedralbaukunst geprägte Jean Mignot von 54 Mängeln zu berichten, die bei der unmittelbar bevorstehenden Einwölbung des ‚italienischen‘ Projekts zwangsläufig zum Einsturz des Gewölbes führen würden. Wenig beeindruckt zeigten sich von derartigen technischen Einwänden allerdings seine lombardischen Kollegen, die demgegenüber auf einer ganz anderen, nämlich auf einer künstlerischen Ebene argumentierten, forderten sie doch, das französische System aktuellen ästhetischen Vorstellungen anzupassen. Bemerkenswert vertraut mit französischer Architektur diskutierten sie in diesem Zusammenhang z. B. die Fehler eines anderen fünfschiffigen Baus, Notre-Dame in Paris, ins-
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besondere deren mangelhafte Beleuchtung, die man nun u. a. dank einer anderen ‚ausgewogeneren‘, klassisch-antiken Proportionierung beseitigen wollte: konkret mit einem Entwurf des Mathematikers Stornaloco, dessen Aufrissschema auf dem pythagoräischen Konzept gleichschenkliger Dreiecke aufbaute, das lediglich den bereits ausgeführten Partien anzupassen war. Eine korrekte Proportionierung, d. h. die Anwendung der richtigen Maße, sollte nach damaliger Vorstellung zudem zwangsläufig zu einem auch in struktureller Hinsicht korrekten Bau führen. Recht selbstbewusst glaubte man die statischen Probleme, die aus dem für einen gotischen Bau bis dahin unbekannten Konzept resultieren würden, mit der eigenen Bauerfahrung lösen zu können; verwiesen wurde insbesondere auf die stärkere Belastbarkeit des lokalen Marmors im Vergleich zum französischen Kalkstein. Seinen Höhepunkt sollte der Streit schließlich in dem berühmt gewordenen, die Problematik in einem einzigen Satz verdichtenden Ausspruch Mignots ars sine scientia nihil est
(,Kunst ist nichts ohne Wissenschaft‘) finden – d. h., in seiner Sicht stellte die beste technische Lösung zugleich die beste gestalterische dar –, dem auf italienischer Seite recht trocken mit dem genau andersherum gewichteten Statement scientia sine arte nihil est (,Wissenschaft ist nichts ohne Kunstfertigkeit‘) gekontert wurde. In beiden Fällen handelt es sich – mit Blick auf das gesamte Architekturgeschehen der Zeit – um alles andere als allgemein gültige und genau definierte Kategorien. Ebenso zeigt die diskutierte Lösungsbreite, dass es damals noch nicht im eigentlichen Sinne fundiertes, theoretisches Wissen über die Anlage eines derart großen Baus gab. Es existierten immer noch keine mathematisch-systematischen Berechnungen, ebenso wie manches, von Anfang an bestehende Problem erst während der laufenden Arbeiten einer Lösung zugeführt wurde (Ackermann 1949). Vieles beruhte weiterhin auf Erfahrungswerten, die von Architekt zu Architekt, von Region zu Region durchaus erheblich variieren konnten.
Das Esslinger Rathaus Aspekte mittelalterlicher Holzarchitektur
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inen wesentlichen Bestandteil mittelalterlicher Baukunst stellt die Holzarchitektur dar. Von Bedeutung ist sie natürlich nicht nur bei bestimmten, lokal begrenzten Sonderformen, wie den gänzlich aus Holz errichteten skandinavischen Stabkirchen (z. B. Borgund, Norwegen, Ende 12. Jh.), oder gerade beim frühen Sakralbau mit den oft aufwändig bemalten hölzernen Decken (z. B. Zillis, Schweiz, ca. 1109 – 14; St. Michael, Hildesheim, 13. Jh.; Dädesjö, Schweden, 2. Hälfte 13. Jh.; Dom von Monreale, Mitte 12. Jh., |▶ 15|). Verschiede-
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ne gotische Holzgewölbe in den Niederlanden (Atzbach 2007), in England (z. B. York, Kathedrale und Chapter House, 14. Jh.; Ely, Vierungsgewölbe der Kathedrale, bis 1340; London, Hammerbalken-Gewölbe in der Westminster Hall, 1395 / 96) oder in Italien (vgl. Padua, Palazzo della Ragione, nach 1420) zeigen vielmehr, dass man das Material später durchaus auch zu komplexeren Lösungen heranzog. Von größerem Interesse sind hier allerdings die gewaltigen und konstruktiv eigenständigeren Dachwerke der Kathedralen, die oft ganze Wäl-
Das Esslinger Rathaus
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296 □ 152 Bourges, Kathedrale, originaler Dachstuhl des 13. Jh.s
der verschlangen. Eines der größten erhaltenen Beispiele findet sich in Bourges |▶ 20; □ 152). Ingenieurtechnische Meisterleistungen wurden aber auch an anderen sakralen wie profanenen Großbauten vollbracht. Dies gilt insbesondere für Speicherbauten oder aber Brücken |▶ 42|. Ein spätes noch erhaltenes Beispiel einer monumentalen Holzbrücke ist Andrea Palladios Brücke in Bassano del Grappa (ab 1569). Als Konstrukteure von Baugeräten, wie z. B. Krananlagen oder von Waffentechnik – zumindest vor Einführung der Feuerwaffen – nahmen Zimmerleute im Mittelalter eine wichtige Rolle ein, ebenso der Holzbau als solcher, an dessen Stelle dann, genau besehen, in der Moderne zu Teilen die Eisenarchitektur treten sollte. Die umfangmäßig bedeutendste Form mittelalterlicher Holzarchitektur stellt der Fachwerkbau dar, d. h. die Errichtung eines Gebäudes in Skelettbauweise mit einer tragenden hölzernen Grundkonstruktion (Verbindung der Einzel elemente jeweils durch dicke Holzzapfen, Blatt oder Schwalbenschwanz), deren Gefache (freie Felder zwischen der Holzkonstruktion) mit Staken, Ruten, Stroh und Lehm oder auch mit
III. Schlüsselwerke
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Back- und Bruchstein gefüllt werden. Gerne nutzte man sie als einfachste, effektivste und deswegen billigste Möglichkeit, ein dauerhaftes und stabiles Gebäude schnell zu errichten (als Einführungen dazu: Binding / Mainzer /W iedenau 1984, Großmann 1986; Klöckner 1978). Mitunter fehlten in den betreffenden Regionen aber auch schlicht für den Hausbau brauchbare Natursteinvorkommen, so dass selbst stattliche Bürgerhäuser in dieser Technik ausgeführt wurden. Man denke nur an solche bis heute von Fachwerk geprägte mittelalterlich-frühneuzeitliche Stadtanlagen wie in Troyes, Rouen oder York, ganz zu schweigen von deutschen Städten wie Hildesheim, Goslar, Marburg, Alsfeld, Michelstadt usw.; und selbst die größten europäischen Metropolen London und Paris bestanden im Mittelalter hauptsächlich aus Fachwerkbauten. Diese besonders in den (laub-)waldreichen Gebieten nördlich der Alpen gern zum Einsatz gebrachte Bauweise ist allerdings zugleich der Grund dafür, dass mancherorts nur mehr recht wenig Substanz aus dieser Epoche erhalten ist: Die auf diese Weise errichteten Gebäude konn-
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ten natürlich wesentlich leichter und vollständiger innerstädtischen Feuersbrünsten zum Opfer fallen als Steinkonstruktionen. Auch erfolgte hier der allgemeine Verfall z. B. durch Feuchtigkeitsschäden erheblich schneller und nachhaltiger. Schon Vitruv, der antike Architekturtheoretiker, thematisierte dieses Problem in seinen „Zehn Büchern über Architektur“ (1. Jh. v. Chr.), wenn er meint: ,Fachwerk, wünschte ich, wäre nie erfunden. Soviel Vorteil es nämlich durch die Schnelligkeit seiner Ausführung [...] bringt, umso größer und allgemeiner ist der Nachteil, den es bringt, weil es bereit ist zu brennen wie Fackeln [...]. Auch macht das unter Verputz liegende Fachwerk durch die senkrechten und querliegenden Balken am Verputz Risse.‘ (II.7, Vitruv / Fensterbusch 1964, S. 200.) Trotz all dieser Anfälligkeit sind an verschiedenen Orten in Europa immer noch vergleichsweise frühe Beispiele bürgerlicher Fachwerkhäuser überliefert. So haben sich aus dem 13. bzw. 14. Jh. datierende Bauten z. B. in Quedlinburg, Limburg, Alsfeld oder Esslingen erhalten (Lohrum 2001, Großmann 1979; Großmann 1986, S. 96 – 101), allerdings oft nur noch fragmentarisch und im Verborgenen, d. h. nicht mehr unbedingt mit ihrer Fassade. An ihnen und anderen überlieferten frühen Bauten lässt sich gut eine allgemeine Entwicklung ablesen von recht einfachen, rein statisch begründeten Lösungen hin zu immer komplexeren, fein ausgearbeiteten, die dann in der Tat dazu gedacht waren, die Fachwerkkonstruktion zu zeigen und unverputzt zu bleiben. Weit entfernt davon eine rein funktionale Lösung zu sein, mit der – folgt man den Ausführungen Vitruvs – lediglich versucht wurde, kostengünstig Steinarchitektur zu imitieren, gibt es gerade im Spätmittelalter eine große Zahl durchaus repräsentativ gestalteter, monumentaler Fachwerkbauten.
Ein herausragendes Beispiel dafür stellt das nach 1422 errichtete Esslinger Rathaus dar (□ 153, 154): ursprünglich ein multifunktionaler Bau, der Kauf-, Steuer-, Rat-, Tanz- und Lagerhaus in einem war. Das eigentliche Rathaus stand damals und bis zu seiner Zerstörung im 18. Jh. noch an anderer Stelle (die weiteren Angaben nach: Lempp 1926, Rohrberg 1975). Dabei machen die in Esslingen verwendeten Mengen Holz und dessen Qualität – Tanne und an statisch besonders beanspruchten Stellen Eiche – deutlich, dass es hier vorderhand nicht wirklich um ‚billiges‘ Bauen ging. Das an den Längsseiten eng umstellte, zweigeschossige Gebäude mit seiner fast ebenso hohen, zur Lagerung von Gütern genutzten dreigeschossigen Dachanlage (deswegen ursprünglich
□ 153 Esslingen, Rathaus, Ansicht von Südwesten, ab 1422
Das Esslinger Rathaus
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298 □ 154 Esslingen, Rathaus, Große Halle im Erdgeschoss, ab 1422
an der Ostseite ein großer Dachaufbau mit einem Aufzug) ist auf einer Grundfläche von ca. 36 m × 15 m errichtet. Eigenheit des Esslinger Rathauses und des Fachwerkbaus allgemein sind die geschossweise auftretenden Auskragungen. Nur dank dieser Bautechnik ausführbar, kann mit ihr auf jeder Etage die größtmögliche Nutzfläche ausgebildet werden. Dass diese, den eigentlichen Grundriss des Gebäudes stark erweiternde Maßnahme im Mittelalter von den Bauherren gerne auch einmal zu weit getrieben wurde, zeigen Erlasse in verschiedenen Städten, in denen die Größe eines derartigen Überstandes genauestens festgelegt wurde. Abgesehen von der nördlichen Giebelfront zum Hauptmarkt, der erst eine Veränderung des späten 16. Jh.s darstellt, wird der Außenbau des Esslinger Rathauses von einer straff verstrebten, fest gefügten Holzkonstruktion geprägt: von den Balkenköpfen der Decken der jeweiligen Etage und darauf stehend die in allen Geschossen in gleichmäßigen Abständen gesetzten, X-förmigen Trageelemente, ‚Stehender Mann‘ oder auch ‚Schwäbisches Weible‘ genannt. Die Konstruktion ist hier also zugleich die Gestaltung des Baus, die ‚Zweckform‘ identisch mit der ‚Kunstform‘. In technischer
III. Schlüsselwerke
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Hinsicht handelt es sich um dicke Ständer (die senkrechten Elemente), die mittels Kopf- und Fußbänder (die zwei schrägen Streben am oberen und unteren Ende des Ständers) jeweils unten in die Schwelle und oben in die Oberschwelle oder den Rähm (ein jeweils horizontal verlaufender Balken) eingebunden sind. Dank ihrer partiell doppelten Ausführung, insbesondere an den statisch wichtigen Stellen der Hauptachsen und der Ecken, erhält die Kon struktion in Verbund mit den horizontal verlaufenden Querverbindungen – den sog. Riegeln – große Festigkeit. In die Felder zwischen dieser Konstruktion sind im ersten Obergeschoss jeweils Fenster eingefügt, im Erdgeschoss – etwas weniger systematisch – spitzbogige Zugänge. Diese haben sicherlich mit der ursprünglichen Nutzung des dahinter liegenden Raumes als Kaufhalle mit den Verkaufsständen der Bäcker und Metzger zu tun, die ihre Waren zuvor im Freien feilgeboten hatten (□ 154). Eine Reihe von mächtigen eichenen Säulen, die mit ihren nach allen Seiten auskragenden doppelten Kopfbändern geradezu baumartig wirken, unterteilt ihn in zwei weit gespannte Schiffe: In dieser Dimensionierung wäre das in Steinarchitektur – insbesondere mit Gewölben – wohl nicht ganz so einfach zu erstellen gewesen. Die
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Eichensäulen stimmen in ihrer Position genau mit den wichtigsten tragenden Elementen des Außenbaus überein, mit denen sie im Übrigen auch über Riegel verspannt sind. Gemeinsam mit dem auf ihnen lagernden doppelten Unterzug haben die Säulen die gesamte Innenlast des Baus zu tragen. Im ersten Obergeschoss, das ehemals über eine zweiläufige Freitreppe an der Westseite erreichbar war, befanden sich demgegenüber im Norden ursprünglich zwei Stuben, von denen zumindest eine der städtischen Finanzverwaltung vorbehalten war. Südlich schloss sich daran nach der Treppenvorhalle ein großer, bis heute erhaltener Saal an, der Versammlungs- und Repräsentationszwecken der Esslinger Bürgerschaft diente. Darauf weist nicht nur die imposante Größe, sondern auch die größere Feinheit der architektonischen De-
tails hin, einschließlich des erhaltenen Skulpturenprogramms an den Bogen der Mittelsäulen: neben Christus der Kaiser und das ihn wählende Kurfürstenkollegium. Unzweifelhaft sollte mit ihnen auf die Eigenheit Esslingens angespielt werden, als Freie Reichsstadt direkt dem Kaiser zu unterstehen und damit über eine vergleichsweise große Unabhängigkeit zu verfügen (vgl. die späteren Kaisersäle in Abteien des 17. und 18. Jh.s). Dass es sich bei diesem Esslinger Bau in der Region tatsächlich um eine wegweisend neue Konstruktion handelte, belegt eindrücklich die nur wenig spätere Rezeption beim Rathausbau im benachbarten Markgröningen (ab ca. 1440), der im Übrigen anfänglich ein ähnlich multifunktionales Nutzungskonzept besaß wie sein Vorbild.
Das Uenglinger Tor in Stendal Die Zeichenhaftigkeit von Wehrbauten
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ast mehr noch als mittelalterliche Sakralbauten sind bis heute Wehranlagen dieser Zeit touristische Ziele von großer Anziehungskraft, insbesondere, wenn sie sich mehr oder weniger vollständig erhalten haben. Über ganz Europa verteilt, sind sie an Orten wie Visby (Schweden), Rothenburg, Verona (Italien), Carcassonne (Frankreich) oder Ávila (Spanien) Ausgangspunkt und Bestandteil einer romantisch-verklärenden Wahrnehmung der jeweiligen Städte im Detail und des Mittelalters im Ganzen – oft verbunden mit ‚Mittelaltermärkten‘ oder ‚Ritterspielen‘, die gleichsam in ‚Zeitreisen‘ dieses Ambiente noch authentischer wirken lassen sollen. Im Mittelalter ist ein derartiges aus Mauer, Wehrtürmen und Toranlagen bestehendes En-
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semble dagegen v. a. Ausweis einer ‚richtigen‘ Stadt. Mit ihr setzte sie sich vom Umland unmissverständlich ab; mit ihr konnte sie regulieren, wer sie betrat bzw. verließ: natürlich auch im Sinne einer erfolgreichen Verteidigung gegen ihre Feinde. Zugleich war eine derartige Befestigung reale wie symbolische Grenze zwischen dem von Menschenhand geformten und dominierten Kulturraum der Stadt und dem deutlich weniger kontrollierten und gestalteten Naturraum vor den Toren. Sie markiert damit nicht nur einen sicheren, geschützten Bereich, sondern auch – angesichts des darin geltenden Stadtrechts – einen eigenen Rechtsraum, in dem zumindest nominell Freiheit und Gleichheit eines jeden Bürgers festgeschrieben waren (Bader / Dilcher 1999, S. 426 ff.). Gerade das Bei-
Das Uenglinger Tor in Stendal
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300
□ 155 Breslau (Bressla), Darstellung in Hartmann Schedels „Liber chronicarum“ (Weltchronik), gedruckt von Anton Koberger, Nürnberg 1493, fol. 233v – 234r
spiel der Vielzahl europäischer Bischofs- und Residenzstädte mit ihren fürstlichen und geistlichen Stadtherren, mit denen sich die Bürgerschaft jeweils auseinanderzusetzen hatte, zeigt aber, dass die tatsächliche Situation hier wesentlich komplexer war – dass durchaus auch innerhalb einer Stadt Abhängigkeiten bestehen konnten. Beispiele sind die vieltürmigen herrschaftlichen Kastelle der entsprechenden fürstlichen Stadtherren in Pavia, Ferrara oder Mantua (jeweils 2. Hälfte 14. Jh.). Doch wer auch immer letztlich die Kontrolle über eine Stadt hatte: Wehranlagen und gerade die zugehörigen Türme sind in allen Fällen das Ausdrucksmittel par excellence, um die eigene Macht und das eigene Selbstbewusstsein zu präsentieren. Ihr diesbezüglicher Stellenwert kommt z. B. in den verschiedenen schematisierten Stadtansichten der gedruckten „Schedelschen Weltchronik“ (Nürnberg, 1493) deutlich zum Ausdruck, bei denen sich die Darstellungen – neben anderen Turmbauten, etwa der Kirchen – v. a. auf die maßstäblich übertriebenen, turmreichen Stadtbefestigungen und deren Tore fokussieren (□ 155). Wie zahlreiche mittelalterliche Stadtsiegel zeigen, sind derar-
III. Schlüsselwerke
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tige Anlagen in noch verkürzterer Form das Signet schlechthin für das Phänomen ‚Stadt‘. Diese Gleichsetzung von Stadt und Stadttor bzw. -mauer konnte dabei mit dem Bild des Himmlischen Jerusalem in der Johannes-Apokalypse auf ein prominentes Vorbild zurückgreifen, dessen Beschreibung sich ebenfalls auf die Wehranlagen konzentriert: eine wie Jaspis glänzende Mauer, die auf zwölf Grundsteinen mit den Namen der zwölf Apostel errichtet ist und von zwölf Toren untergliedert wird (O f f. 21,11 – 21; Borger 1974). Die in der Apokalypse die verschiedenen Stämme Israels symbolisierenden Toranlagen haben auch innerhalb der realen, mittelalterlichen Wehranlagen eine besondere Stellung: Als hoch aufragende Marken in der Landschaft gaben sie dem Reisenden Orientierung, ebenso wie von dort aus das Umland kontrolliert werden konnte. Es war der Ort der Zollzahlungen; hier fand der lebensnotwendige Austausch mit dem Umland statt, hier wurde der Besucherund Warenstrom überwacht. In diesem Sinne sind die Tore ähnlich der Fassade einer Kirche und ihren Portalen Mediatoren zwischen zwei Bereichen. Es ist wenig verwunderlich, dass
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auch dort oft Bildprogramme zu finden sind, mit denen auf die Passierenden eingewirkt wurde. In besonders aufwändigen Fällen handelt es sich dabei um dreidimensionale figurale Darstellungen. Beispiele dafür sind etwa die freie, monumentale Umsetzung des Stadtsiegels am Trierer Neutor (nach 1142) mit der lebensgroßen Darstellung Christi zwischen den beiden Stadtheiligen, Petrus und Eucharius, und der (im Original lateinischen) Inschrift ,Der Herr segne die Stadt Trier und ihre Bevölkerung‘ (Ronig 2005) sowie das Baseler Spalentor (ca. 1398) mit monumentaler Madonna und zwei Propheten |▶ 42|. Zumeist handelt es sich aber um skulptierte oder gemalte Wappenprogramme. Seltener sind so komplexe Anlagen wie etwa das 1250 errichtete Tor St-Nicolas der nordfranzösischen Stadt Arras, an der eine Gedenktafel angebracht war, die an die für das Königreich Frankreich zentrale Schlacht von Bouvines (1214) erinnerte, deren Austragungsort der Reisende auf diesem Weg nach einigen Kilometern passierte (Duby 1973, S. 240). Nimmt man einmal die schon dargelegte Kontrollfunktion etwas zurück und hebt demgegenüber stärker einen positiven Aspekt hervor, so kommt Toren innerhalb einer Befestigungsanlage zugleich im ganz realen Sinne die Funktion einer Türschwelle zu, an der man seinen Gast in Empfang nimmt (grundlegend: Lampen 2009, S. 18 – 20). Dazu nur zwei besonders gut belegte Beispiele aus dem Leben Karls IV.: So zog der Kaiser 1356 bei seinem Besuch in Metz nicht direkt in die Reichsstadt ein, sondern wurde vom Bischof, dem gesamten Metzer Klerus sowie der Führung der Bürgerschaft vor den Toren der Stadt erwartet, wo man ihm einen aufwändigen Adventus (lateinisch für ‚Ankunft‘, ‚herrscherlicher Einzug‘) bereitete. Nach Übergabe der Schlüssel, die den Kaiser als den eigentlichen Herrn der Reichsstadt zu erkennen gab, ritt Karl baldachinbekrönt in diese ein, begleitet nicht nur von geistlichen Gesängen, sondern auch von allen Heiligen,
die die Stadt aufzubieten hatte, repräsentiert durch deren in Reliquiaren mitgeführte sterbliche Überreste (Hergemöller 1989). 21 Jahre später, 1377, bei seinem Besuch in Paris, war Karls Position zwar eine etwas andere. Das änderte allerdings nur wenig am allgemeinen Prozedere: Auch hier wurde er wieder vor den Toren der Stadt empfangen – diesmal vom König von Frankreich, seinem Neffen Karl V., und dessen Gefolge. Das in den „Grandes Chroniques de France“ (illuminiert von Jean Fouquet, ca. 1455 – 60; □ 156) auf der entsprechenden Miniatur wiedergegebene Skulpturenprogramm des Stadttores mit den heiligen Pariser Märtyrern Dionysius, Rusticus und Eleutherius lässt dabei sofort erkennen, wo die Szene stattfindet, während das von einer Krone überfangene Wappen mit den fleurs de lys verdeutlicht, dass es sich hier um die Residenzstadt des Königs von Frankreich handelt. All diese Ausführungen sind der Analyse eines der prächtigsten erhaltenen Torbauten des europäischen Mittelalters insofern voranzustellen, als bei ihm die Quellen in dieser Hinsicht nicht ganz so üppig sprudeln. Die Rede ist vom Uenglinger Tor (□ 157), das ehemals die nordwestliche Ecke der Befestigung Stendals markierte. Die Stadt war im Mittelalter eine der reichsten der Mark Brandenburg und zudem seit 1359 – gemeinsam mit Salzwedel – wichtigstes altmärkisches Mitglied der Hanse. Für das Verständnis der überaus aufwändigen und reichen Gestaltung des Stendaler Stadttores ist das ein nicht unerhebliches historisches Detail. Denn für Uenglingen – ein winziges Dörfchen, auf das man nach Verlassen der Stadt in Richtung Nordwesten als Erstes trifft – dürfte all dieser Aufwand kaum betrieben worden sein. In der Tat müsste man die Anlage eigentlich eher ‚Lübecker‘ oder ‚Rostocker Tor‘ nennen, denn diese Seestädte bzw. sie und all die anderen nördlich von Stendal gelegenen Hansestädte, die man über die beiden am Uenglinger Tor ihren Ausgang nehmenden Straßen erreicht
Das Uenglinger Tor in Stendal
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□ 156 J. Fouquet: Der französische König Karl V. empfängt im Januar 1378 Kaiser Karl IV. an der Pariser Porte du Temple; Darstellung in den „Grandes Chroniques“, ca. 1460, Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms Fr 6465, fol. 444
(Salzwedel – Lüneburg – Hamburg – Lübeck; Pritzwalk – Rostock), sind zweifellos die eigentlichen Adressaten der ungewöhnlichen Anlage. Sie stellt im Übrigen keine singuläre, um 1450 / 60 ausgeführte Baumaßnahme dar. Vielmehr ist sie Bestandteil eines wahren Neubaubooms in einer Phase besonderer wirtschaftlicher Blüte Stendals in der ersten Hälfte des 15. Jh.s (Götze 1929, S. 259 f.). In ihr wurden nicht nur die zahlreichen Kirchen der Stadt (sog. Dom, 1423 – 50; Petrikirche, um 1450; Marienkirche, um 1470) erneuert oder gänzlich neu gebaut, sondern auch das Rathaus (um 1450 / 60) sowie die insgesamt vier Tore der Stadtbefestigung (erhalten das Tangermünder Tor als wohl zeitgleiche verkleinerte Variante des Uenglinger Tores). Über Stendal hinaus gesehen, sind sie Bestandteil einer Großregion, die sich durch eine in Backstein ausgeführte Wehrarchitektur
III. Schlüsselwerke
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höchster Qualität und Originalität auszeichnet. Zahlreiche Beispiele ideen- und variantenreich konzipierter (Tor-)Türme in der Mark Brandenburg, Mecklenburg und Pommern – von Choj na / Königsberg i. d. Neumark, über Brandenburg (dort u. a. der Mühltorturm laut Inschrift von Nikolaus Craft aus Stettin erbaut), Neubrandenburg, Friedland, Templin, Prenzlau, Grimme bis zu den verschiedenen Hansestädten an der Ostsee – zeugen bis heute davon (Trost 1959). Hinsichtlich Monumentalität und Detailvielfalt kann es allerdings keiner dieser Bauten mit dem Uenglinger Tor aufnehmen. Hatte man anfänglich Stadttore, den römischen Vorbildern folgend, v. a. als von zwei Rundtürmen flankierte Durchlässe konzipiert, so sollte sich bald der Typus des Einzelturms mit integrierter Durchfahrt durchsetzen, wie ihn auch das Uenglinger Tor repräsentiert. Dieses ist kein vollkommener Neubau, sondern verwendet zumindest im untersten Geschoss Reste des aus granitenen Feldsteinen errichteten Vorgängerbaus des 13. Jh.s. Beim darüber aufragenden Neubau des 15. Jh.s handelt es sich um eine Kombination der zwei für einen Turm hauptsächlich verwendeten Grundformen: ein dreigeschossiger Turm auf quadratischem Grundriss (mit den beheizbaren Wächterräumen), dem ein etwas kleinerer zweigeschossiger, runder Turm aufgesetzt ist. Dahinter mag die Absicht stehen, insgesamt ein möglichst reiches Erscheinungsbild zu gewinnen. Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings, dass der Architekt auf diese Weise geschickt die allzu eintönige, plump-monumentale Form eines durchgehenden kubischen Blocks vermied und dank des Rücksprungs zugleich in intelligenter Weise auf zwei Ebenen (den jeweils zinnenbekrönten Abschlüssen der beiden Turmteile) Platz für das Verteidigungspersonal gewann. Abgeschlossen wurde der Turm ehemals wohl mit einem steinernen Spitzhelm, durch den er eine stattliche Gesamthöhe von etwa 30 m erreichte. Der heutige abschließende Zinnen-
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kranz ist eine – dem Original entsprechende – Rekonstruktion des 19. Jh.s. Geschickt werden am Uenglinger Tor Akzente gesetzt, Einzelelemente miteinander verschränkt, zugleich aber auch Übergänge kaschiert. Formal machen die dreimal in Erscheinung tretenden, schräggestellten (heute leeren) Wappenkartuschen im Zusammenspiel mit den markanten Friesen aus reliefierten Terrakottaplatten (oberer Abschluss über Erdgeschoss und zweitem Obergeschoss) und / bzw. den Dreipassfriesen (Abschluss am zweiten Geschoss und am zweiten Geschoss des Rundturms) deutlich, aus welchen Grundelementen man sich den Turm komponiert zu denken hat: aus dem Erdgeschoss mit der Durchfahrt sowie den jeweils zwei Geschossen des sich daran anschließenden rechteckigen bzw. des runden Turmteils. Als vermittelnde Zone zwischen den beiden oberen Partien tritt über dem zweiten Obergeschoss der zinnenbekrönte Wehrgang in Erscheinung, dessen Ecken durch kleine Rundtürmchen Betonung erfahren. Von Stockwerk zu Stockwerk immer weiter auskragend, nehmen Letztere bereits im ersten Geschoss ihren Ausgang. Gemeinsam mit dem Wehrgang überspielen die Türmchen, die ganz offensichtlich keine praktische Funktion besitzen, geschickt den Rücksprung zwischen eckigem und rundem Turmteil, dessen Ansatz durch diesen Kunstgriff im Verborgenen bleibt. Reich ist die Binnengliederung der einzelnen Flächen: Grundsätzlich lebt die Architektur vom Kontrast der in Backstein ausgeführten Partien zu den geputzten, möglicherweise ehemals farbig gefassten Feldern, wie sie v. a. in den oberen Partien des Rechteckturmes und als Horizontalgliederung auftreten. Doch auch im Mauerwerk sind Unterschiede feststellbar: Während der untere Teil im sog. märkischen Verband gemauert ist (auf zwei Läufer folgt ein Binder), findet sich im oberen, runden Turmteil ein sog. gotischer Verband (ständiger Wechsel von Läufer und Binder). Damit nicht genug,
□ 157 Stendal, Uenglinger Tor, ca. 1450/60
trifft man hier auf ein weiteres für diese Architektur typisches Stilmittel (vgl. die Tore in Tangermünde und Werben): So ist z. B. im unteren runden Geschoss der Binder jeweils aus einem etwas anderen, dunkleren Material – härter gebrannte, gesinterte Ziegel, die vielleicht auch noch eine leichte Glasur erhalten haben –, wodurch sich in der Summe eine markante, schrä-
Das Uenglinger Tor in Stendal
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ge Bänderung ergibt. In ähnlicher Art finden auch die Ansätze der Ecktürmchen Betonung, hier partiell in Zick-Zack-Form ausgebildet. Ein letztes gestalterisches Detail stellt schließlich die Betonung der Mittelachse dar: im ersten Geschoss durch ein Zwillingsfenster, an dessen Stelle im Nachfolgenden eine von mehreren Bogen überfangene, überwölbte Nische tritt, die ganz offensichtlich für eine Skulptur vorgesehen war. Ebenso subtil wie konsequent setzt die Gliederung des anschließenden Wehrganges und das oberste Geschoss des Rundturmes diese Betonung der Mittelachse fort. Angesichts eines solch ausgeprägten Repräsentationsbedürfnisses verwundert es kaum, dass die unmittelbaren Inspirationsquellen des
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Stendaler Stadttores weniger im Bereich dieser Bauaufgabe zu finden sind. Am verwandtesten erscheinen demgegenüber Türme, die sich in Zusammenhang mit Rathäusern oder anderen innerstädtischen Bauten finden lassen. Das schlagendste Beispiel ist hier der 1280 errichtete, nachträglich aufgestockte Belfried der Tuchhalle in Brügge (□ vgl. 127), damals eine der wichtigsten Handelsstädte Europas, von wo auch Stendal sein Tuch für den Zwischenhandel bezog. Bemerkenswert und sehr typisch für eine mittelalterliche Stadt ist im Übrigen schließlich das direkte Umfeld des Tores mit dem vor ihm, unmittelbar außerhalb der Stadt gelegenen Gertraudenhospital (Gründung 1370).
Die Kartause S. María de Miraflores Eine spätmittelalterliche Klosteranlage
M
it Fontenay und Maulbronn (□ vgl. 72) sind Idealbeispiele einer hochmittelalterlichen Klosteranlage – in diesem Fall zisterziensischer Prägung – vorgestellt worden. Ihnen folgt nun mit der in unmittelbarer Nähe von Burgos gelegenen Kartause S. María de Miraflores eine solche aus spätmittelalterlicher Zeit (□ 158, 159). 1442 hatten sie König Juan II. von Kastilien (1406 – 54) und seine Gemahlin Isabella von Portugal (1428 – 96) als ihre Grablege gegründet. Die Bauarbeiten scheinen sich einige Jahrzehnte hingezogen zu haben; die Realisierung des für die Stiftung eigentlich wichtigsten Elements, des Grabmals der beiden Stifter, erfolgte sogar erst in den 1490er Jahren. Unter den Kartäuserklöstern gehört die privilegierte Stiftung zu den eher späten Gründungen. Es trotzdem an dieser Stelle vorzustellen, hat v. a. mit seinem besonders guten Erhaltungs-
III. Schlüsselwerke
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zustand zu tun, der in seltener Klarheit und Authentizität bis heute die Ideen dieses Ordens nachvollziehbar macht. Der Orden der Kartäuser entstand fast zeitgleich mit den Zisterziensern, zu denen im Übrigen große Ähnlichkeiten in der Ordensstruktur bestehen (z. B. jährliches Generalkapitel; |▶ 12), verfolgte allerdings gänzlich andere Ideale. Die Kartäuser gehen auf den hl. Bruno von Köln (1032 – 1101) zurück, der 1084 gemeinsam mit sechs Begleitern nördlich von Grenoble in der Bergwildnis der Chartreuse, einem voralpinen Gebirgsmassiv – noch ohne die Absicht, einen eigenen Orden zu etablieren –, ein erstes Kloster gründete: die im 17. Jh. nach Zerstörungen in den Religionskriegen größtenteils erneuerte Grande Chartreuse, das Mutterkloster des Kartäuserordens. Ist es in der Ortswahl abseits jeglicher menschlichen Besiedlung durchaus
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den zeitgleich aufkommenden Zisterziensern vergleichbar, so stellt die Kombination der Idee einer klösterlichen Gemeinschaft mit – diesem Gedanken eigentlich widersprechend – jener des Eremitentums gegenüber den Benediktinern einen neuen Aspekt dar: Bruno wollte den Mönchen im Kloster ein Einsiedlerleben ermöglichen und auf diese Weise deren Verlangen nach Meditation in vollkommener Einsamkeit so weit als möglich befriedigen (Braunfels 1969, S. 153). Könnte man meinen, dass genannter Aspekt – ähnlich wie bei den zeitgleichen Zisterziensern – ausschließlich zur Anlage der Kartausen in Einöden, fernab menschlicher Siedlungen, geführt hätte, so gibt es tatsächlich zahlreiche Ausnahmen davon. Zumindest im Spätmittelalter sind sie in allen erdenklichen Kontexten zu finden, selbst innerhalb von Städten (vgl. Kartausen in: Köln, 1334 gegr., Kirche erhalten; Nürnberg, 1380 gegr., als Teil des Germanischen Nationalmuseums großteils erhalten). Kartausen waren üblicherweise mit 12 Mönchen und einem Prior besetzt. Diese symbolhaft auf die Gemeinschaft der 12 Jünger und Jesus Christus anspielende Zahl konnte bei großen Stiftungen auch als Doppelkartause auf 24 oder noch mehr Mönche erweitert werden, wobei die bedeutungsvolle Zwölfzahl grundsätzlich beibehalten blieb. Erneut den Zisterziensern vergleichbar ist die Existenz von sog. Konversen, also Laienmönchen, die sich um das Funktionieren des täglichen Lebens und die Versorgung der gerade anfänglich v. a. in unbesiedelten Regionen auftretenden Klöster zu kümmern hatten. Wie der dem Kloster vorstehende, als Einziger von der strengen Abgeschlossenheit ausgenommene Prior waren sie ebenfalls in öffentlicher zugänglichen, dem eigentlichen Klausurbereich vorgelagerten Gebäuden untergebracht, wo sie jeweils ihre eigene Zelle besaßen. Dort fanden sich auch alle benötigten Wirtschaftsgebäude. In den ersten beiden Jahrhunderten nach der Gründung sollte den Kar-
täusern weit weniger Erfolg und Zulauf beschieden sein als den Zisterziensern. Zwar wurden 1133 die sechs Jahre zuvor verfassten, 80 Kapitel umfassenden „Consuetudines Cartusiae“, die u. a. auch das strenge, nur an Sonn- und Feiertagen und beim wöchentlichen Spaziergang aufgehobene Schweigegebot festschrieben, vom Papst als Regel approbiert. Es dauerte jedoch noch bis 1170, bevor die Kartäuser als Orden anerkannt waren. In der Folge breiteten auch sie sich über fast ganz Europa aus. Bis 1200 existierten gerade einmal knapp 40 Kartausen. Das sollte sich erst in den nachfolgenden Jahrhunderten ändern – bemerkenswerterweise in einer Zeit, in der parallel dazu für die Zisterzienser bereits ein gewisser Niedergang eintrat. Eine gewandelte Spiritualität, aber auch die unvergleichliche Strenge des Ordens, ließ die Kartäuser nun eine ganz neue Attraktivität gewinnen. Gerade an der Wende vom 14. zum 15. Jh. ist ein wahrer Gründungsboom auszumachen, der die Zahl der Kartausen europaweit schlagartig auf 200 anwachsen ließ. Sehr oft sind die Gründungen gerade dieser Phase mit der Aufnahme der Grablege eines Stifters verbunden. War Laien ein Begräbnis innerhalb der Klosterkirche zunächst untersagt, so lockerten die Kartäuser bereits 1174 diese Vorgaben zugunsten von Stiftern, bevor sie dann 1276 sogar einem noch größeren Kreis die Bestattung in einer Kartause erlaubten (Zadnikar 1983, S. 77). Die wichtigste und in diesem Zusammenhang wohl auch maßstabsetzende Anlage, die Anregung für zahlreiche spätere Gründungen lieferte, ist die 1385 vom Herzog von Burgund in Champmol, unweit seiner Hauptstadt Dijon, gestiftete Kartause. Mit der zugehörigen Stiftungsurkunde haben wir hier auch ein aussagekräftiges Dokument hinsichtlich der Motivation des Herzogs, heißt es dort doch recht eindeutig: ,Für das Seelenheil gibt es nichts Besseres als die Gebete der frommen Mönche, die aus Liebe zu Gott freiwillig Armut erwählen und alle Nichtigkeiten und
Die Kartause S. María de Miraflores
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Freuden der Welt fliehen.‘ Da die Kartäuser unablässig Tag und Nacht für das Heil der Seelen und für die gedeihliche Entwicklung des öffentlichen Wohles und der Fürsten beteten, wolle der Herzog aus seinen Mitteln für 24 Mönche, 5 Laienbrüder und ihren Prior diese Kartause gründen (Braunfels 1969, S. 163). Es darf demnach gefolgert werden, dass bei der Anlage von Champmol als Doppelkartause nicht so sehr Prestigegründe, sondern die auf diese Weise verdoppelte ‚Gebetskraft‘ der Mönche, die Aufrechterhaltung eines ununterbrochenen Messdienstes, im Vordergrund stand. Angesichts der damals gültigen Vorstellung, dass die Seelen der Verstorbenen so lange vom Fegefeuer verschont blieben, wie für sie Messen gelesen würden bzw. für sie gebetet würde, erscheint das nur konsequent |▶ 12|. Angesichts der beschriebenen, sehr individuellen Vorgaben erstaunt es wenig, dass sich der in der Cartuja de Miraflores idealtypisch gespiegelte Grundriss einer Kartause markant von jenem eines ‚normalen‘ Klosters unter-
III. Schlüsselwerke
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scheidet: Gegenüber diesem haben wir es hier eigentlich mit zwei Klöstern zu tun, mit denen man versuchte, die in der Regel der Kartäuser aufscheinenden unterschiedlichen, ja, sich eigentlich widersprechenden Aspekte von Einsamkeit und Gemeinschaft zu vereinigen. Es scheint, als gingen diese markanten Anlagen bereits auf die Zeit der Abfassung der genannten „Consuetudines“ zurück. Erstmals tritt das Konzept mit dem 1132 geweihten zweiten Neubau des Mutterklosters La Grande Chartreuse auf den Plan: zu genau eben jener Zeit, als parallel dazu die Zisterzienser ihrerseits mit dem Neubau von Clairvaux einen Idealtyp für ihren Orden entwickelten. Interessanterweise wies dabei bereits ein Besucher, Petrus Venerabilis, Abt von Cluny, im frühen 12. Jh. auf die große Ähnlichkeit der Kartäuseranlagen zu den alten ägyptischen Klöstern hin (more antiquo Aegyptiorum monachorum). Unzweifelhaft spielt er auf die entsprechenden frühen Gemeinschaften von Eremiten an, wie sie sich schon zu Zeiten des hl. Antonius finden lassen,
307 □ 158 Burgos, Kartäuserkloster S. María de Miraflores, ca. 1454 – 84: Ansicht und Grundriss der Gesamtanlage; A) Hauptzugang zu Kirche und Kloster; B) Hof; C) Mönchschor; D) Lettner; E) Kirche der Laienmönche; F) Grabmal des kastilischen Königspaares; G) Sakristei; H) angebaute Nebenkapellen; I) Kleiner Kreuzgang; J) Kapitelsaal; K) u. L) Kapellen; M) Refektorium; N) Küche; O) Zugang zur Klausur; P) Zellen des Priors; Q) Großer Kreuzgang; R) u. S) Kreuz bzw. Brunnen auf dem vom Großen Kreuzgang gerahmten Friedhof; T) Zellen der Mönche mit abgegrenztem Garten im rückwärtigen Teil; U) Kreuzgang der Laienbrüder; V) Zellen der Laienbrüder
oder aber auf die etwas späteren Eremitensiedlungen, wie sie durch Pachomius und Basilius im 4. Jh. organisiert worden waren. Bei solchen Ordensgemeinschaften lebten die Mönche auf einem ummauerten Gelände, in Einzelzellen voneinander abgesondert, also tatsächlich in der Art von Eremiten. Andererseits feierten sie die Liturgie zusammen, ebenso wie sie einem gemeinsamen Abt (abbas) unterstanden (Zadnikar 1983, S. 68). Auffällig ist in der Cartuja de Miraflores (□ vgl. 158) und anderen Kartausen zunächst einmal die Existenz von zwei Kreuzgängen sehr unterschiedlicher Dimensionierung: ein ausnehmend kleiner (claustrum minus), in altbekannter Weise in unmittelbarer Nähe der Kirche und ein um ein Vielfaches größerer (claustrum maius), der südlich daran anschließt. Gut geben ihre Dimensionierung Aufschluss über die Gewichtung zwischen gemeinschaftlichem und eremitischem Leben der Kartäusermönche. Denn die bekannten Gemeinschaftsbauten eines Klosters wie Refektorium, Kapitelsaal
und Bibliothek, die auch hier im unmittelbaren Umfeld der Kirche ausgebildet sind, werden nur an Sonn- und Festtagen genutzt; tatsächlich diente der kleine Kreuzgang so letztlich nur als Kommunikationsgang zwischen den wenigen und kleinen Gemeinschaftsräumen. Nicht viel anders steht es um den gemeinschaftlich besuchten Kirchenbau, in dem man sich lediglich zur täglichen Messe, der Matutin und der Vesper, versammelte (Zadnikar 1983, S. 154). Zumeist handelt es sich um bescheidene einschiffige Anlagen, in denen durch einen Lettner der Bereich der Mönche von jenem der Konversen geschieden war. Ähnlich wie bei den Zisterziensern lassen sich bei diesen großteils recht bescheidenen Anlagen immer wieder markante, auf die Prestigewünsche des Stifters zurückgehende Abweichungen finden (vgl. insbes. unten die Ausführungen zur Certosa di Pavia). In der in direkter Verbindung zum Gründungsbau des sog. isabellinischen Stils – dem Hieronymitenkloster El Parral in Segovia – ste-
Die Kartause S. María de Miraflores
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□ 159 Burgos, Kirche des Kartäuserklosters S. María de Miraflores, Innenansicht, ca. 1454 – 84, Stiftergrabmal 1493 vollendet, Hochaltar 1496 – 99
henden und auf den offensichtlich deutschstämmigen Architekten Hans von Köln (‚Juan de Colonia‘) zurückgehenden Cartuja de Miraflores fällt v. a. der Formenreichtum der Gewölbe der ansonsten in architektonischer Hinsicht recht kahlen Kirche (□ vgl. 159) auf. Auf reich verzierten Konsolen ruhend, finden sich einmal im Langhaus fünf fein gearbeitete mehrteilige Sterngewölbe, wie sie für diese
III. Schlüsselwerke
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Zeit typisch sind, und einmal der einzigartige, an Komplexität kaum mehr zu steigernde 9 / 18-Chorschluss, der gemeinsam mit dem zugehörigen kleinen Vorjoch noch einmal besonders reich dekorierte Rippen aufweist. Hier, inmitten des Mönchschores und unmittelbar vor dem Hochaltar, liegt auch das extravagant gearbeitete Stiftergrabmal (1493) auf sternförmigem Grundriss, über und über mit Skulptu-
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renschmuck versehen. Ergänzung findet das Programm durch ein entsprechendes Grabmal des früh verstorbenen Sohnes der Stifter, Alfonso (gest. 1468). Alle drei sind in ewiger Andacht gezeigt, nehmen also als Effigien nicht nur ständig am Chorgebet der Mönche teil, sondern beten auch permanent für ihr eigenes Seelenheil bzw. motivieren mit ihrer Orantenhaltung die Mönche, ihnen darin nachzufolgen. Sie tun das im Angesicht eines nicht weniger opulenten Altares (1496 – 99), nach spanischen Gepflogenheiten eine riesige Schauwand, die fast den gesamten Chorschluss ausfüllt. Wie das Grabmal handelt es sich um ein Werk des damals in Kastilien führenden Bildhauers Gil de Siloé (gest. um 1501). Der kleine Kreuzgang ist zugleich Mittler zwischen Kirche und großem Kreuzgang, an den er unmittelbar anschließt. In der Mitte als riesiger Klosterfriedhof genutzt, sind ihm ringsum für die 12 bzw. 24 Mönche Einzelzellen angelagert. Zumindest in der Gründungszeit des Ordens bildet dies noch ein absolutes Novum, das seine Ursache natürlich im besonderen Charakter der Kartäuserregel hat. Bereits ein kurzer Blick auf den Plan zeigt, dass es sich hier um mehr als um die üblichen Mönchszellen handelt. Vielmehr finden sich dort gut organisierte und durchdachte kleine Häuser, die nicht nur Platz für das Leben und Meditieren, sondern auch für die körperliche Arbeit des Mönches schufen. Kern dieser Behausung stellte ein beheizter Raum dar, in dem auch die vier jedem Mönch gestatteten Möbelstücke – ein Bett, eine Bank, ein Tisch und ein Büchergestell – standen. Ein rückwärtig anschließender, von einer hohen Mauer gerahmter Garten sorgte für eine gewisse Autonomie hinsichtlich der Versorgung. Gleichwohl erhielten die Mönche ihr Essen üblicherweise mittels einer speziell konzipierten, in den großen Kreuzgang für jede Zelle eingebauten Durchreiche, die jegliche Kommunikation mit dem Verteilenden unmöglich machte. Im Re-
fektorium wurde dagegen nur an den hohen Festtagen gemeinsam gespeist. Möchte man angesichts des gerade Dargelegten vom großen Kreuzgang als einem absolut von der Öffentlichkeit abgeschotteten Bereich ausgehen, so wird man beim Studium von Quellen eines Besseren belehrt: Zum Beispiel wissen wir, dass es einen großen Besucherstrom zum heute als ‚Mosesbrunnen‘ bezeichneten Kreuz inmitten des großen Kreuzgangs von Champmol gab, ja, dass der Herzog sogar zeitweise versuchte, hier eine Pilgerfahrt zu initiieren, wie das entsprechende Ablässe belegen (Smith 1985). Insgesamt finden sich bei den verschiedenen Kartausen – nicht zuletzt bedingt durch die Topographie eines jeden individuellen Bauplatzes – im Detail zahlreiche Variationen zu der gerade beschriebenen Lösung. Eine sehr häufig zu findende Eigenheit ist dabei, den Kreuzgang im Inneren direkt mit dem Lettner zu verbinden und weiterzuführen (vgl. Clermont und Nürnberg). Wie monumental ein Kartäuserkloster aber auch ausfallen und wie weit es sich von den ursprünglichen Idealen wegbewegen konnte, zeigt abschließend die 1395 von Gian Galeazzo Visconti (1351 – 1402; |▶ 44|) unweit von Pavia in Oberitalien gegründete Kartause (Certosa di Pavia): Das betrifft weniger die Klosteranlage, die als Doppelkloster für 24 Mönche konzipiert ist, sondern die monumentale Kirche, die in ihrer gesamten Anlage (dreischiffig mit angelagerten Seitenkapellen, Querhaus, Vierungsturm, Staffelchor), den Dimensionen, aber auch dem Formenreichtum eher an eine Kathedrale denn an eine Kartäuserkirche erinnert. Auch hier hat das mit dem Anspruch des Stifters zu tun, der der Kirche erneut die Rolle der Grablege seiner Dynastie zudachte. Kein Zufall dürfte es dabei sein, dass die Stiftung wie zuvor in Champmol in unmittelbarem Zusammenhang mit einer markanten Rangerhöhung des Auftraggebers steht: in diesem Fall vom Herrn zum Herzog von Mailand im Jahre 1395.
Die Kartause S. María de Miraflores
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King’s College Chapel in Cambridge Der Perpendicular Style
A
ufbauend auf Erfindungen wie die crazy vaults der Kathedrale von Lincoln (frühes 13. Jh.; □ vgl. 94) und ähnliche Phänomene, entwickelten sich in England in der Folge immer verspieltere Gewölbeformen. Dies ging einher mit einem allgemein komplexer werdenden Formenvokabular, das sich durch aufwändige, von Blendmaßwerk oder Mustern gebildete Oberflächendekorationen, aber auch durch kaum weniger reich dekorierte Gewölberippen auszeichnete. Unverändert beibehalten wurde demgegenüber der bis dahin etablierte englische Kirchen- oder Kathedraltypus. Die zwischen ca. 1240 und 1330 auffällige Dekorationsfreude in der englischen Architektur war es auch, die in modernen Zeiten dieser Phase englischer Gotik zu ihrem Namen, nämlich Decorated Style, verhalf (klassischerweise beginnend mit Westminster Abbey und mit Bauten wie dem Chor der Kathedrale von Wells [beg. 1333] endend). Auch die dem Decorated nachfolgende Phase, der Perpendicular Style (englisch für: ‚rechtwinklig‘, ‚senkrecht‘; Harvey 1978), ist letztlich nichts anderes als eine Spielart davon. Charakteristisch sind für sie von dünngratigem (Blend-)Maßwerk gebildete rechtwinklig gerasterte Fenster- und Wandflächen, die ins nachgerade Monumentale gesteigert werden. Dank verbesserter Bautechnik ging dies einher mit der nun stärker an den Urvorbildern der französischen Rayonnantgotik und der damit verbundenen Idee einer cage de verre |▶ 25, 26| orientierten, nahezu kompletten Durchfensterung der Wände, die den betreffenden Bauten einen ausnehmend transluziden Charakter verlieh. Als prominente, monumentale Beispiele hierfür wären die Langhäuser der Kathedralen von Canterbury (ab 1375) und
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Winchester (ab 1394) oder aber der atemberaubende Chor von Gloucester (ca. 1337 – 60) zu nennen. In Vollkommenheit ließ sich die Idee maximaler Durchfensterung allerdings weit besser in etwas kleinformatigeren Bauten realisieren. Nach der gegen Ende des 14. Jh.s in England weitgehend abgeschlossenen Erneuerung fast aller wichtigen Kathedralen und anderer sakralen Großbauten sollten es in der Tat sie sein, die das Bild der Baukunst des nachfolgenden 15. und des frühen 16. Jh.s dominierten. Die Gebäude und insbesondere die Kapellen einiger damals gerade erst neu eingerichteter Colleges in den bereits seit dem 13. Jh. bestehenden Universitäten von Oxford und Cambridge sind dafür besonders schöne Beispiele. Von Bedeutung war hier zunächst das New College, das William of Wykeham (ca. 1320 – 1404), Bischof von Winchester und Kanzler von England, 1379 in Oxford gegründet hatte. Für dieses errichtete man ein neues, um einen Innenhof angelegtes College-Gebäude, von dem ein Flügel durch eine eigene Kapelle gebildet wurde (vgl. Kowa 1990, Abb. 210). Das war eine Neuheit, hatte man doch dafür bei den älteren Colleges noch auf bestehende Pfarrkirchen zurückgegriffen. Damit waren Standards gesetzt, denen einige Jahrzehnte später auch König Heinrich VI. (1422 – 71) folgte, als er 1441 das King’s College an der Universität von Cambridge gründete (Woodman 1986, S. 23). Nach ersten bescheideneren Planungen erwarb er bereits 1443 zusätzliches Bauland und vergrößerte das College erheblich. Zu ihm gehörte auch der 1448 begonnene Neubau der heutigen Kapelle (□160, 161; Woodman 1986, S. 24, 38), ein gewaltiger, auf rechteckigem Grundriss errichteter und fast vollständig durchfensterter
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□ 160 Cambridge, King’s College Chapel, Außenansicht, 1448 – 1515
einschiffiger Raum von 87 m Länge und beachtlichen 28 m Höhe, untergliedert von zwölf gleichartigen Jochen. Jeweils das letzte von ihnen ausnehmend, wird es in der Sockelzone zu beiden Seiten von kleinen Seitenkapellen flankiert. Über diesen ragen riesige, die gesamte Breite zwischen den Strebepfeilern einnehmende Fenster mit ihrem typischen langgezogenen, rechteckigen perpendicular-Maßwerk auf. Bemerkenswert ist auch die fehlende eindeutige Ausrichtung des außen als mächtiger, durchgängiger Kubus in Erscheinung tretenden Baus. Fände sich an der Westseite unter dem großen, fast die gesamte Fassade ausfüllenden Fenster (wiederum identisch mit dem Ostabschluss) nicht das Hauptportal, der Chor könnte sowohl hier als auch an der Ostseite zu finden sein. Deutlich wird das erst durch die Ausstattung im Inneren: Heute von einem Lettner abgetrennt, liegen der Hauptaltar und das Gestühl in den zuerst fertiggestellten sechs östlichen Jochen. Nur hier tritt eine hohe geschlossene Sockelmauer in Erscheinung, die den direkten Zugang zu den angelagerten Sei-
tenkapellen unmöglich macht. Diese sind von den Westjochen bzw. durch eine Tür im Chor erreichbar, wobei man, um in die einzelnen Kapellen zu gelangen, in umständlicher Weise oft eine ganze Reihe vorgelagerter Kapellen zu durchschreiten hat. Die geschlossene kubische, gleichförmige Erscheinung wird noch dadurch gefördert, dass das Dach an den Seiten gar nicht oder kaum in Erscheinung tritt, sondern von einer vergleichsweise hohen Blendmauer verborgen wird. Lediglich die darüber aufragenden Fialen der Strebepfeiler durchbrechen dieses System etwas, ebenso die vier Türmchen, welche die Ecken markieren. Mit ihren Treppen gewähren sie zugleich den Zugang zum Dachgeschoss: Sie mögen aber auch statische Gründe haben und der Eckverstärkung des filigranen Baus dienen. Auch wenn man es angesichts ihrer Homogenität heute kaum glauben möchte: Die King’s College Chapel ist das Werk von vier verschiedenen Architekten, mit zahlreichen Unterbrechungen ausgeführt in fast sechs Jahrzehnten; angesichts der relativ späten Entstehung sind
King’s College Chapel in Cambridge
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ihre Namen und ihre Tätigkeiten am Bau gut überliefert. Die ungünstige politische und finanzielle Situation (etwa die Einkerkerung des Stifters Heinrichs VI. zwischen 1461 und 1470) hatte dazu geführt, dass man unter dem ersten Architekten Reginald von Ely bis zum Tod des Stifters 1471 lediglich den Sockelbereich fertiggestellt hatte, in den östlichsten vier Jochen immerhin schon die untere Hälfte des Aufrisses einschließlich dreier Seitenkapellen sowie schließlich die ersten zwei Drittel der Westfassade. Das heißt, auch wenn sich der Bau dann noch jahrzehntelang hinzog, so war er doch bereits zu diesem Zeitpunkt grundsätzlich festgelegt. Einen Einfluss der jüngeren Architektur der Kathedrale von Ely wollte man nicht nur angesichts des Namen des Architekten vermuten: Auch manche Eigenheiten der frühen Partien der Kapelle in Cambridge weisen darauf hin, wie etwa die Liernengewölbe der besagten östlichen Seitenkapellen, die genau so auch in Ely auftreten (Kowa 1990, S. 265). Der Innenaufriss lässt allerdings – abstrahiert man einmal die angesichts der langen Bauzeit eingetretenen Modifikationen – von einer solchen Nähe wenig erkennen. Hier finden sich eher deutliche Anklänge an Bauten der ersten, bereits einige Jahrzehnte älteren Generation des Perpendicular Style: Hinsichtlich des generellen Wandaufbaus, des einfachen rechteckigen Grundrisses (mit vier Ecktürmchen) sowie der Proportionierung in Zusammenhang mit einer Kapelle wird immer wieder die (zerstörte) St. Stephen Chapel (ca. 1292 – 1334) am Westminster Palace (Wood man 1986, S. 186; Kowa 1990, S. 171 – 177) angeführt. Allerdings resultiert ihre am Außenbau ablesbare Proportionierung mit kleineren unteren und größeren oberen Fenstern aus der deutlich der Ste-Chapelle folgenden Anlage mit Unter- und Oberkapelle; Seitenkapellen in der Art wie in Cambridge fehlen dagegen. Manche Detailformen, v. a. aber das aus (Blend-)Maßwerk gebildete generelle Rastersystem, das die verschiedenen Zonen (Seitenkapellen [zumindest
III. Schlüsselwerke
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in den vier Westjochen]; Fenster; Zwickelflächen über diesen) überspinnt und zu einer Einheit verschmelzen lässt, erinnert sicherlich an den Chor von Gloucester oder das Langhaus von Canterbury (beide Mitte und 2. Hälfte 14. Jh.), um hier nur zwei frühe Beispiele dieser sehr homogenen englischen Stilphase herauszugreifen. Bemerkenswert ist auch die dezente bildliche Ausgestaltung des Baus, mit den Kronen in den Fenstergewänden der fünf westlichen Joche bzw. den großen von einem Greif und einem Windspiel gehaltenen und ebenfalls bekrönten Wappen Heinrichs VII. über den Seitenkapellen. Wie schon unter den Kronen an den Fenstergewänden finden sich seitlich davon zwei von Heinrich VII. (1485 – 1509) kombinierte Bilddevisen: die Rose für das Haus Tudor und das Fallgatter (portcullis) für das Haus Beaufort, dem Heinrich mütterlicherseits entstammte. Unmissverständlich wird mit diesem Zeichenprogramm dem Besucher verdeutlicht, wer der Bauherr dieser Kapelle war: ein englischer König, der zu beiden genannten Geschlechtern verwandtschaftliche Beziehungen aufwies. Könnte man nun glauben, damit einen ersten eindeutigen terminus ad quem zu besitzen, zu dem zumindest die Dekoration angebracht bzw. – partiell sogar – die betreffenden Partien ausgeführt worden waren, so sprechen die überlieferten Daten eine andere Sprache. Wir wissen nämlich, dass zunächst unter Heinrichs Vorgänger, Edward IV., zwei unterschiedliche Architekten (John Woolryche, Simon Clark) die Außenmauern der ersten fünf östlichen Joche zur Gänze, jene der anschließenden zwei Joche zum allergrößten Teil fertigstellten. Damals sollen noch Holzgewölbe vorgesehen gewesen sein (Woodman 1986, S. 99). Das spektakuläre steinerne Fächergewölbe stammt demgegenüber erst aus der letzten, angesichts politischer Wirren noch einmal über 20 Jahre später, zwischen 1508 und 1515 unter König Heinrich VIII. (1509 – 47) ausgeführten Bauphase (Architekt: John Wastell), mit der die Kapelle endlich ihre
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□ 161 Cambridge, King’s College Chapel, Innenansicht, 1448 – 1515
Vollendung erfuhr. Die Finanzierung wurde dabei durch eine entsprechende testamentarische Verfügung König Heinrichs VII. sichergestellt (Kowa 1990, S. 265). Die unter Heinrich VIII. 1512 – 13 realisierten Fächergewölbe (Woodman 1986, S. 166 – 169), die den fast 13 m breiten Raum in kühner Weise fast horizontal überspannen, stellen in
ingenieurtechnischer Hinsicht sicherlich den eigentlichen Glanzpunkt der Kapelle dar. Vorformen dafür finden sich bereits um 1360 / 70 im Kreuzgang von Gloucester. Der tatsächliche Ausgangspunkt dafür scheinen allerdings die für Lincoln beschriebenen Tierceron-Gewölbe (1. Hälfte 13. Jh.; □ 93) gewesen zu sein, deren Grundstruktur man nun erheblich durch
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Maßwerkformen bereicherte, so dass stärker als bisher Wand und Gewölbe zu einer Einheit verschmelzen. Wie dort nehmen von den Wandvorlagen palmettenartig Rippen ihren Ausgang, wobei die seitlichen Verbindungsrippen hier kreisförmig geführt sind. Resultat ist ein klar strukturiertes, feinmaschiges Gebilde, das geradezu den Eindruck dreidimensional verzogener Fensterrosen entstehen lässt. Die eigentliche Grundform ist jedoch vielleicht besser als eine Serie halbierter umgedrehter sphärischer Kegel zu beschreiben, die oben horizontal abgeschnitten sind und im Gewölbescheitel zusammentreffen. In statischer Hinsicht wird das gegenseitige Abstützen von Kräftelinien ausgenutzt. So übernehmen die in der Mitte der halbierten Trichter jeweils von Wand zu Wand geführten Gurtbogen die Funktion von Widerlagern. In den zwischen den Bogen liegenden Feldern ist die angestammte Trennung zwischen Rippe und Gewölbesegel aufgehoben. Die Gewölbe sind hier nach einem kom-
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plizierten System einheitlich mit ineinander verzahnten Steinplatten ausgeführt, die ein in der Mitte angebrachter Schlussstein verspannt. Die Lastabtragung der Gewölbekappen verläuft also nicht mehr über eine Skelettkonstruktion, sondern ganzflächig. Die Wölbung der King’s College Chapel sollte nur den Ausgangspunkt für eine ganze Reihe kaum weniger spektakulärer, spätgotischer Lösungen in England bilden; genannt seien nur die Kapelle Heinrichs VII. in Westminster Abbey mit ihren berühmten hängenden Schlusssteinen (1502 – 09) oder das Gewölbe der St. George’s Chapel von Windsor Castle (frühes 16. Jh.; Kapelle ab 1476). Trotz einer auch hier bald einsetzenden Standardisierung waren sie im Vergleich zu einfachen Rippenkonstruktionen um ein Vielfaches (12 Pfund gegenüber 20 Pfund) teurer (Nußbaum / Lepsky 1999, S. 210) – sicher auch, weil nun das Gewölbe durchgängig aus exakt bearbeitetem und dekoriertem Haustein bestand.
Die Klosterkirche Batalha Grablege und Schlachtengedenken
G
emeinsam mit den vorangegangenen zwei Schlüsselbauten |▶ 47, 48| ist die portugiesische Klosterkirche Batalha ein gutes Beispiel für die Spielarten spätgotischer Architektur in den verschiedenen europäischen Regionen (□ 162, 163). Zwar wird dabei das obere Zeitlimit des Bandes – d. h. ‚1500‘ – nun nicht nur erreicht, sondern partiell bereits überschritten, doch zeigen gerade diese Fälle, wie sehr nördlich der Alpen einerseits die Detailformen zwar allgemein immer moderner werden (z. B. Maßwerk, Profile, Dekor), mitunter auch schon Renaissance-Einflüsse erkennen lassen. Ande-
III. Schlüsselwerke
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rerseits erweisen sich die mit ihnen verbundenen Großstrukturen, d. h. Grund- und Aufrisse dieser und vergleichbarer spätgotischer Kirchen, mit Blick auf die vorangegangenen Jahrhunderte als kaum gewandelt: Problemlos könn(t)en sie immer noch ‚mittelalterlich‘ genannt werden. Schon der Name Batalha des etwa 100 km nördlich von Lissabon gelegenen Ortes bzw. der Titel ‚Mosteiro Santa Maria da Vitória‘ gibt unmittelbaren Aufschluss über die Bestimmung bzw. den Grund für die Existenz der Anlage: Ersteres bedeutet auf Portugiesisch
315 □ 162 Batalha, Dominikanerkirche und -kloster, Grundriss, 1388 – 1438, die Capelas imperfeitas hinter dem Chor partiell erst 1. Hälfte 16. Jh.
nichts anderes als ‚Schlacht‘, Letzteres ‚Kloster der Jungfrau Maria vom Siege‘. Wie bei einer ganzen Reihe anderer europäischer Sakralbauten des Mittelalters diente er also der Kommemoration einer Schlacht, wobei es sich in den betreffenden Fällen sowohl um den tatsächlichen Ort des Geschehnisses als auch nur um die Einlösung eines damit verbundenen Gelübdes handeln konnte (vgl. z. B.: Kirchenstiftungen der Anjou im 14. Jh. im Königreich Neapel; Dominikanerinnenkloster Tulln (Österreich), 1280; Franziskaner- und Klarissenkloster Königsfelden (Schweiz), 1308; in Verbindung mit einem Gelübde beim frz. König Ludwig XI. und Notre-Dame in Cléry, 2. Hälfte 15. Jh.). Letzteres traf auf Batalha zu: In Erfüllung seines Versprechens vor der siegreichen Schlacht von Aljubarrota (1385) – einem un-
weit von Batalha gelegenen Ort – gegen die übermächtigen Kastilier, mit der die Unabhängigkeit des Königreichs Portugal festgeschrieben wurde, hatte König João I. (1385 – 1433) 1388 an dieser Stelle ein Dominikanerkloster errichten lassen. Wie schon bei einigen der vorangegangenen Beispiele |▶ 35, 47|, war auch hier der ebenso hochstehende wie ambitionierte Stifter der eigentliche Grund dafür, dass in Batalha in den folgenden Jahren trotz aller restriktiven Ordensregeln ein für die Dominikaner ausnehmend prächtiger Bau monumentalen Ausmaßes entstand, charakterisiert durch ein langgezogenes dreischiffig-basilikales Langhaus (Länge: 80 m; Breite: 22 m; Höhe: 32,5 m), dessen Joche jeweils von vierteiligen Gewölben mit ebenfalls durch Rippen betonten Längs- und Querscheiteln überfangen sind.
Die Klosterkirche Batalha
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316 □ 163 Batalha, Dominikanerkirche, Blick in das Gewölbe des königlichen Mausoleums, die Capela do Fundador, beg. 1426
Es wird von einem schmalen Querhaus abgeschlossen, an dessen Ostseite ein fünfteiliger Staffelchor (Chor und angelagerte vier Kapellen jeweils mit eigenem Joch und polygonaler Apsis) folgt. Die zweiteilige Hochschiffswand ruht auf schlanken, hochaufragenden Bündelpfeilern, die fast drei Viertel der gesamten Höhe einnehmen. Über ihnen sind dann nur noch vergleichsweise kleine Obergadenfenster zu finden. In kaum mehr als 50 Jahren wurden die Kirche und die ursprünglichen Klostergebäude von den beiden Architekten Alfonso Domingues (1388 – 1401 / 02) und Hu-
III. Schlüsselwerke
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guet (1402 – 38) ausgeführt (Gottschlich 2012, S. 47 – 49). Hinsichtlich des Grundrisses hat man immer wieder auf Zisterzienserkirchen hingewiesen. Die in diesem Fall unmittelbar wirksamen Vorbilder sind aber zweifellos Dominikanerkirchen des Mittelmeerraums, unter denen sich der Typus recht häufig finden lässt. Als Beispiele seien hier nur S. Nicoló (ca. 1282 – 1389) in Treviso oder aber, Batalha zeitlich und auch hinsichtlich der Dimensionierung näherstehend, SS. Giovanni e Paolo (ab 1333) in Venedig genannt. Unter Einschränkungen können ebenso São Domingo (ab 1267)
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im portugiesischen Elvas angeführt werden (Schenkluhn 2000, S. 168, 184, 187), wie überhaupt der Grundriss in einfacherer Form zuvor in Portugal des Öfteren anzutreffen ist. Die Ähnlichkeiten der 1397 wiederum als Votivkirche von dem Heerführer König João I. gestifteten Lissaboner Karmelitenkirche S. Maria del Carmo (Gottschlich 2012, S. 338) stellen dann bereits einen ersten Reflex auf Batalha dar. Die enge Beziehung zwischen dem für seine Dynastie entscheidenden Sieg, Kloster und Stifter kommt darin zum Ausdruck, dass König João I. Batalha zudem zu seiner Grablege machte, in der auch die engsten Familienangehörigen beigesetzt wurden, möglicherweise mit der weitergehenden Absicht, auf lange Sicht eine solche für die gesamte von ihm begründete Avis-Dynastie zu etablieren. Das etwas spätere Begräbnis des französischen Königs in der ebenfalls mit Schlachtengedenken verbundenen Stiftskirche Cléry – das einzige Begräbnis eines französischen Königs nach dem 13. Jh. außerhalb von St-Denis |▶ 17| – zeigt, dass Batalha in dieser Hinsicht kein Einzelfall ist. Anders als Ludwig XI. ließ sich João allerdings nicht in der Kirche selbst oder in einer mit dieser unmittelbar kommunizierenden (Seiten-)Kapelle bestatten, wie das damals schon seit langem auch in Dominikanerkirchen gang und gäbe war. Wesentlich zukunftsweisender wurde zu diesem Zweck in Batalha – architektonisch abgestimmt auf die Westfassade – 1426 an der Südostecke der Kirche eine separate Grabkapelle, die Capela do Fundador errichtet. Ihre Nordseite ist identisch mit der Mauer des Seitenschiffs, von dem es durch ein Portal getrennt bzw. erschlossen wird. Ein direkter Zugang von außen zu der in der Größe einer eigenen Kirche errichteten Anlage (sie verdeckt fast die Hälfte der Länge des Langhauses der Klosterkirche), in der João 1434 gemeinsam mit seiner bereits 1415 verstorbenen Frau die letzte Ruhe fand, fehlt demgegenüber. Bisher kaum thematisiert wur-
de, dass mit dieser Datierung die Kapelle ein ausnehmend frühes Beispiel für ein derartiges, als Zentralbau errichtetes Mausoleum darstellt (□ vgl. 163): In dieser Form sollte es eigentlich erst in der Renaissance zu einem gängigen Phänomen werden. Am ehesten vergleichbar erscheint die Capela do Fundador der sog. Santiago-Kapelle, also der zwischen 1435 und 1440 am Chorumgang der Kathedrale von Toledo errichteten Grabkapelle von Konstabler Don Álvaro de Luna und seiner Familie. In den Dimensionen durchaus ähnlich, ist sie allerdings erst nach Batalha errichtet, ebenso wie sie nicht wie dort einen gänzlich von der restlichen Kirche abgeschlossenen Raum darstellt (das gilt auch für die bereits 1364 im Scheitel des Umgangs errichtete Grabkapelle von Kardinal Gil de Albornoz). Angesichts der in Batalha hinter der Stiftung stehenden Ambitionen mag die ungewöhnliche Lösung allerdings kaum verwundern. Die Kapelle ist auf quadratischem Grundriss errichtet. Jede der frei stehenden, 20 m langen Seiten weist drei durch Strebepfeiler begrenzte Achsen mit ebenso vielen Fenstern auf (die Strebebogen sind evtl. Ergänzungen des 19. Jh.s, vgl. Gottschlich 2004). Von einem eingeschossigen Umgang mit trapezförmigen, fünfteiligen Gewölben (die Eckzwickel des Quadrats mit einem zweiteiligen Gewölbe gefüllt) eingefasst, erhebt sich in der Mitte von auf oktogonalem Grundriss angeordneten Bündelpfeilern ein Tambour, der von einem prachtvollen Rippenstern abgeschlossen wird. Inmitten der Anlage, direkt unter seinem dort als Schlussstein angebrachten Wappen, ruht João gemeinsam mit seiner Frau auf einer frei stehenden Doppeltumba, eingerahmt von ihren Kindern und einigen Enkeln, die in bescheideneren, entlang der Mauer in Nischen aufgestellten Grabmälern ihre letzte Ruhe fanden. Ein weiteres Meisterstück seines entwerferischen Könnens hatte Huguet zeitgleich bei dem ähnlich groß dimensionierten, erneut auf qua-
Die Klosterkirche Batalha
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dratischem Grundriss errichteten Kapitelsaal geliefert (□ vgl. 162). Als Variation wird er nun stützenlos von einer monumentalen Variante des Sterngewölbes der Capela do Fundador überspannt. Auf Huguet scheint schließlich auch noch die Fragment gebliebene spektakulärste Anlage des gesamten Klosterkomplexes zurückzugehen: die hinter dem Staffelchor angelegte zweite, noch größere Grabkapelle, auf annähernd kreisrundem Grundriss; die sog. Capelas Imperfeitas, die Joãos Sohn und Nachfolger, Duarte I. (reg. 1433 – 38), für sich und seine Familie bestimmt hatte. Mit Blick auf den Grundriss und die Lage mag der mitunter zu findende Verweis auf die Heilig-Grab-Kirche in Jerusalem (□ vgl. 46; Gottschlich 2012, S. 320 – 322) verlockend sein. Allerdings zeigt sich schnell, dass die Übereinstimmungen eher assoziativer Natur sind: Zwar sind Heilig-Grab-Kopien oft recht vage |▶ 21|, doch bliebe die Frage nach dem ganz unmittelbaren Bezug zu beantworten, insbesondere in Verbindung mit einer dynastischen Grablege, die so nirgendwo nachweisbar ist. Die spanischen Vergleichsbauten wie u. a. die Capilla del Condestable in der Kathedrale von Burgos (1482) stammen dagegen alle erst aus dem späteren 15. oder dem 16. Jh., womit sie bei einer Zuschreibung der Planung der Kapelle in Batalha an Huguet keine Bedeutung besitzen (Götz 1968, S. 346; Gottschlich 2012, S. 326 – 327). Demgegenüber hat man es in Batalha erneut mit einem Zentralraum zu tun, der nun von einem noch gewaltigeren Gewölbe von 20 m Durchmesser überfangen werden sollte. Von ihm gehen in alle Richtungen sieben kleine Kapellen mit polygonalem Abschluss ab. Die achte Seite öffnet sich dem Vorraum, der zur eigentlichen Kirche vermittelt und durch zwei seitliche Portale den Zugang von außen gewährt. Die Zwickelflächen zwischen den Kapellen werden von separaten, am Außenbau etwas niedriger ausfallenden (Kapellen?-)Räumen auf annähernd dreieckigem Grundriss
III. Schlüsselwerke
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eingenommen. Mit Blick auf die ausgeführten Architekturformen scheint Huguet allerdings lediglich den generellen Entwurf geliefert zu haben. Das aufgehende Mauerwerk der geistreichen Anlage entstand wohl erst gegen Ende des 15. bzw. in der ersten Hälfte des 16. Jh.s (Gottschlich 2012. S. 283, 338). Doch kam man damals nicht über das Untergeschoss hinaus, das aber immerhin bereits die eigentlichen Kapellen mit ihren zwei jeweils alternierenden Gewölbelösungen sowie die Strebepfeiler der zentralen Kuppel umfasste. Wie der nach oben und in der Vorhalle zunehmende, üppige Dekor zeigt, wurden die Arbeiten an der Kapelle offensichtlich in verschiedenen Bauphasen realisiert. Hier und auch in Teilen der Klausur (Erweiterung bzw. Erneuerung) finden sich in den jüngeren Partien die ungewöhnlichsten Erfindungen, wie etwa Schiffstaue, zwei ineinander verschlungene Baumstämme mit Zweigen und Laubwerk anstatt von geometrischem Maßwerk, oder aber in den oberen Partien des Oktogons eine Mischung von ausnehmend plastisch ausgearbeiteten gotischen und Renaissance-Dekorformen. Kombiniert sind sie mit solchen an den Fernen Osten oder an islamische Baukunst erinnernden, was sicherlich durch die sich damals gerade etablierenden Handelsverbindungen Portugals zu diesen Regionen gespeist wurde. Nicht ganz präzise nennt man diesen Stil nach König Manuel (reg. 1495 – 1521) Manuelismo oder Manuelinik, obwohl einzelne Formen auch schon früher in Erscheinung treten. Als Gründungsbau gilt die Christuskirche in Setúbal, die ab den 1490er Jahren von dem Hofarchitekten Manuels, Diogo Boytaca, umgebaut wurde. Er zeichnet auch für das noch bedeutendere Hieronymus-Kloster S. Maria de Belem in Lissabon (ab 1501) verantwortlich (Grablege König Manuels). Interessanterweise ist er zwischen 1509 und 1528 mehrfach in den Quellen des Klosters Batalha nachweisbar (Staebel 2002, S. 82).
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St-Nicolas-de-Tolentin in Brou Brabantische Flamboyantgotik in Savoyen
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in Schlüsselbegriff zum Verständnis spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Kunst und Architektur ist jener der Repräsentation: In einem verflachten Sinne versteht man heute unter einem repräsentativen Bauwerk eines, das machtvoll, monumental dasteht oder reich geschmückt ist – was im Fall der Kirche des Augustinereremitenklosters Brou bei Bourg-en-Bresse sicherlich zutrifft (□ 164, 165). In einem tieferen Sinn bezieht sich der Begriff allerdings eher auf das ‚Wieder-Vorzeigen‘ einer dahinter stehenden Idee: jener von der Rechtmäßigkeit und Macht eines Amtes und seines Inhabers bzw. seiner Inhaberin. Das repräsentative Gebäude belegt beides, wenn Letztere(r) nicht anwesend sein kann, was im Mittelalter angesichts der zum Machterhalt notwendigen regen Reisetätigkeit der Herrschenden häufig der Fall war. Die Bedeutung repräsentativer Architektur liegt also auf der Hand – und das auch über den Tod des Auftraggebers hinaus. Brou ist für dieses Prinzip sicherlich ein ebenso extremes wie bedeutendes Beispiel: Die Herrscherin, die es errichten ließ, hat ihren Repräsentationsort nie betreten, trieb aber über knapp ein Vierteljahrhundert hinweg den größten Aufwand, ihren Bau in höchstmöglicher Qualität zu verwirklichen. Erst als Leichnam erreichte Margarete von Österreich (1480 – 1530) – Tochter Kaiser Maximilians I., zweifache Witwe und Regentin der Niederlande – ihr Kloster, und dies noch nicht einmal vollständig, denn damaligen Gepflogenheiten entsprechend teilte man ihren Körper. Die Eingeweide wurden in ihrer Residenzstadt Mechelen beigesetzt, das Herz gelangte in eine weitere Stiftung der Regentin, das Annunziatenkloster von Brügge, während der übrige
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Körper nach Brou kam, wo ein prachtvolles Grabmal auf ihn wartete. Dessen deutlich auf die Klosterkirche abgestimmte Kleinarchitektur ist Kern und Angelpunkt der gesamten Anlage. Es handelt sich um ein sog. Doppeldecker-Grabmal, das Margarete in Gestalt der herausragenden, von Konrad Meit (1470 / 85 – 1550 / 51; Ausst.-Kat. München 2006) gefertigten Figuren zweifach zeigt: unten, aus Alabaster gearbeitet, die wie schlafend wirkende Verstorbene im Leichenhemd; oben die Regentin in ihrer Amtstracht, nun gemeißelt aus Marmor, der – dies sicherlich ein bemerkenswerter Aufwand – aus den berühmten Brüchen von Carrara stammt. Den oberen und unteren Abschluss bilden von Putten gehaltene Inschriften und Wappenschilde. Überhöhung erfährt das Ganze durch einen gewaltigen Baldachin. Reich ist er verziert mit Heiligenfigürchen sowie den Bilddevisen und dem Motto der Verstorbenen (Fortune – infortune – fort une; das von den Schicksalsschlägen der Stifterin geprägte Motto in etwas holpriger deutscher Übersetzung: ,Glück – Unglück – eine Starke‘). Zwar steht Margaretes Grab nicht in der eigentlichen Ehrenposition, d. h. im Zentrum der Kirche vor dem Altar: diese nimmt das Grab ihres früh verstorbenen Gatten, Herzog Philiberts II., des Schönen, von Savoyen (geb. 1480, reg. 1497 – 1504) ein, auf dessen Herrschaftsgebiet sich ja auch die Kirche von Brou befand. Gleichwohl macht das bei Philibert fehlende auszeichnende Element des Baldachins klar, dass Margarete, die Kaisertochter, die für diese Stiftung eigentlich wichtige Person ist. Schließlich galt es noch ein drittes Grab unterzubringen: das der Schwiegermutter, Margaretes von Bourbon, deren Gemahl es im Übrigen auch gewesen
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war, der lange Zeit zuvor nach einem Jagdunfall das Gelöbnis zur Erneuerung des damaligen, noch recht bescheidenen Klosters in Brou abgegeben hatte. Der Standort von Margaretes Grab ist durchaus mit Bedacht gewählt, steht es doch unter der Arkade, die ihre Privatkapelle vom Hauptchor der Mönche trennt, also zwischen den beiden Altären: ihrem – von ihr letztlich niemals genutzten – privaten in der den Sieben Freuden Mariä geweihten Nordkapelle und dem Hauptaltar der Kirche. Zudem ist ein doppelgeschossiges Oratorium, das westlich an die Nordkapelle anschließt, auf die Altäre ausgerichtet. Es besitzt offene Kamine und in die Wand eingearbeitete Öffnungen, die den Blick auf die Altäre ermöglichen. Über einen der Regentin (und allenfalls hochgestellten Personen) vorbehaltenen Gang ist es von den Klosterge-
□ 164 Brou, Augustinereremitenkloster, Grundriss der Gesamtanlage, Klosteranlage 1506 – 12, K irche 1512 – 32
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bäuden her zu erreichen, in denen Margarete ursprünglich auch Residenz nehmen wollte. Die Architektur der Kirche von Brou ist somit aus ihren Funktionen entwickelt. Sie sollte zunächst der Regentin einen Rückzugsort zur Ausübung ihrer persönlichen Frömmigkeit bieten, danach ihre Grablege werden; beides eingebunden in das Wirken der Augustinermönche, die ständig anwesend waren und – möglichst bis zum Jüngsten Gericht – Fürbitte zu leisten hatten – für sie und ihre Angehörigen sowie für weitere hochgestellte Angehörige des Hofes, die ebenfalls in der Kirche begraben lagen. All das war um 1500 nichts Neues mehr; im vorliegenden Fall scheint es sogar eine direkte Verbindung zu einem bereits angeführten Beispiel zu geben: zur Kartause von Miraflores |▶ 47|, die sie während ihrer kur-
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zen Ehe mit dem spanischen Thronfolger Juan (1478 – 97), Enkel des Stifters von Miraflores, kennengelernt haben dürfte. Generell scheint hier aber einmal mehr die noch ältere, eigentlich maßstabsetzende Stiftung der Kartause Champmol auf, also die Grablege der burgundischen Herzöge aus dem Hause Valois, dessen letzter männlicher Vertreter der bereits 1477 verstorbene Großvater Margaretes von Österreich mütterlicherseits, Karl der Kühne, gewesen war. Es muss auffallen, dass die Kirche in Brou ungewöhnlicherweise durch einen schmalen Zwischenraum von den restlichen, um zwei Kreuzgänge und einen zusätzlichen Wirtschaftshof angelegten Klostergebäude abgesetzt wird. Ausschlaggebend war dafür, dass jener Teil und der Turm der Kirche bereits unmittelbar nach Philiberts II. Tod zwischen 1506 und 1512 ganz in der Tradition der Architektur der savoyischen Bresse (vgl. Franziska nerkloster in Bourg-en-Bresse) von lokalen Baumeistern ausgeführt wurde. Die demgegenüber an gänzlich anderen Leitbildern orientierte Kirche sollte dann erst einige Jahre später folgen. Das hat damit zu tun, dass Margarete nach dem Tod ihres Bruders, König Philipps des Schönen von Kastilien (1478 – 1506), 1507 Statthalterin ihres Vaters, Kaiser Maximilians, in den Vereinigten Niederlande wurde: Jetzt nicht mehr Herzogswitwe in der Provinz, sondern als kaiserliche Statthalterin in Mecheln residierend, verwundert es wenig, dass sie nun für den noch ausstehenden Kirchenbau in Brou nach einer künstlerisch anspruchsvolleren Lösung suchte, die auch den Standards der neuen Wahlheimat standhalten konnte. Dazu zog sie zunächst ihren französischen Hofdichter Jean Lemaire de Belges, den Maler-Architekt Jean Perréal sowie den bereits recht betagten Bildhauer Michel Colombe heran, der durch sein Grabmal für die Herzöge der Bretagne in der Kathedrale von Nantes (1502 – 07) für diese Aufgabe besonders geeignet schien. In der
Folge sollte sich eine gerade für die Kunstgeschichtsschreibung interessante Korrespondenz entwickeln, deren eher theoretisches Ergebnis die Empfehlung einer Ausführung von Gebäude und Grabmal in antikem Stil als der Bedeutung Margaretes angemessenen Lösung stand. Konkrete Pläne lieferte dieser Künstlerkreis allerdings nicht, weswegen die Regentin beschloss, das Projekt lieber mit besser kon trollierbaren brabantischen Kräften zu verwirklichen. Dazu wählte sie den aus einer Steinmetzen- und Steinlieferantenfamilie stammenden Louis van Boghem (Bodeghem), der sich fortan exklusiv um das Vorhaben zu kümmern hatte. Im Vergleich zu den eingangs genannten einschiffigen, turmlosen Kartausenkirchen der vorbildlichen Stiftungen (Miraflores, Champmol) übt sich die zwischen 1512 und 1532 errichtete Kirche von Brou nicht in Bescheidenheit (Hörsch 1994). Sie verfügt über ein fünfschiffiges basilikales Langhaus von vier Jochen Länge, dessen beiden äußersten Schiffe jeweils durch jochweise zwischen die Pfeiler gezogene Holzschranken zu Privatkapellen umgearbeitet sind. Ein nur wenig über die Flucht hinausragendes Querhaus trennt es von dem in einem 5 / 12-Polygon endenden Chor. Wie der noch erhaltene Lettner bzw. die Chorschranken mit dem Chorgestühl zeigen, beginnt dieser in liturgischer Hinsicht bereits in der östlichen Hälfte des Querhauses. Das Chorpolygon besitzt schmale, zweibahnige Fenster. Die Massivität der recht kräftigen Mauer zwischen ihnen lockerte man im Inneren mit tiefen Kehlen an den Gewänden auf, vor denen wie an den Gesimsen zahlreiche virtuos frei gearbeitete Bildmotive sitzen. Es sind dies die bereits am Grabmal auftretenden Bild- und Wortdevisen Margaretes von Österreich, denen man in der Kirche immer wieder begegnet: die auf Margaretes Namen anspielenden Margeritenblüten, die Märtyrer-Palmen der hl. Margarethe, das erwähnte Motto der Erzherzogin, ebenso Hinweise auf den savoyischen Standort
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322 □ 165 Brou, Augustinereremitenkloster, Innenansicht der Klosterkirche, 1512 – 32
und auf die Eheverbindung Burgund / Habsburg-Savoyen. Für Letztere stehen die durch Schnüre verbundenen Buchstaben „M“ (= Marguerite) und „P“ (= Philibert). In auffälliger Weise wurde zudem der Rolle der Habsburger als der neuen Herzöge von Burgund Rechnung getragen: durch die burgundischen Bilddevisen des Andreaskreuzes und des Feuerstahls sowie einer Statue des hl. Andreas, die man über dem Hauptportal anbrachte. Abrundung fand das komplexe Programm schließlich mit der einstigen Turmbekrönung in Gestalt einer
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kaiserlichen Bügelkrone sowie dem umfangreichen Wappenprogramm in den Glasfenstern des Chors (Merindol 2005): Nur im zentralen finden sich religiöse Szenen, auf die sich beiderseits das kniende Stifterpaar mit seinen Schutzpatronen beziehen. Angesichts der angeführten Entstehungsumstände verwundert es wenig, dass die Kirche – obwohl in der Bresse gelegen – alle Züge der brabantischen Architektur der Zeit aufweist: Ihre ohne Kapitelle durchlaufenden Profile – ein Architekturmotiv, das sich bereits
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Ende des 13. Jh.s aus der hochgotischen Architektur entwickelt hatte – treten in der in Brou gegebenen Form an einem der bedeutendsten Pfarrkirchenbauten der Niederlande, der Kirche St. Peter in Leuven, in Erscheinung. Allerdings scheint deren immer noch dem französischen Kathedraltypus folgende Chorlösung mit Umgangschor und Kapellenkranz für Brou zu aufwändig gewesen zu sein; vielleicht erschien sie auch einfach nur als zu schematisch. Jedenfalls übernahm van Boghem für sein Projekt letztlich den Grundriss und damit die gesamte Disposition der fünfschiffigen Brüsseler Kirche der Schützengilden: der Kirche Unserer Lieben Frau auf dem Sande. Allerdings bereicherte er die kühle und mitunter etwas spröde wirkende brabantische Architektur im Detail deutlich. So wurden z. B. die Profile der Langhausarkaden, die mit ihren halbierten Birnstäben im Prinzip früheren Bogenprofilen ähneln (vgl. älteren Kreuzgang in Brou), um zahlreiche weitere Elemente erweitert. Die Logik gotischer Gurt- und Scheidbogensysteme mit ihrer Abstufung von wichtigen zu unwichtigen Baugliedern (Scheidbogen – Gurtbogen – Rippe) wurde konsequent
beibehalten, so dass aus der Zusammenführung aller Profile ungemein kräftig und reich erscheinende Pfeiler entstanden. Imposant wirken ihre aus einer Vielzahl kleiner Söckelchen gebildeten Sockel, wobei Erstere aus der gestalterischen Maxime resultieren, jedem Profil einen entsprechenden Einzelsockel in Glockenform zu verleihen: Je wichtiger desto tiefer, je kleiner desto weiter oben setzen diese Sockel an – ein munteres Spiel, das den Steinmetzen großes handwerkliches Können und beachtliche Virtuosität abverlangt. Dieser reiche und filigran gearbeitete Schmuck ist konsequent vom kleinsten bis zum größten Bauteil durchgehalten. Zwar sind viele höfische Bauten des 15. und 16. Jh.s in Frankreich und Spanien auf diese Weise verziert (in den burgundischen Niederlanden eher nur die Kleinarchitektur) – u. a. auch in Amboise, dem Schloss, auf dem Margarete als Gemahlin des französischen Königs ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte: Doch in Brou wird all dies gesteigert und zu einer ganz neuen Einheit von Form und Funktion zusammengeführt. MH
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Nachwort des Autors Es muss auffallen, dass in den allgemeinen kunsthistorischen Diskursen der letzten Jahre die Bedeutung dreidimensionaler Medien, d. h. der Skulptur wie der Architektur, deutlich nachgelassen hat, insbesondere wenn es sich um Werke des Mittelalters handelt. Das Interesse wieder zu wecken und eine solide Grundlage für das Verständnis und einen eigenständigen Umgang mit dieser Phase der Architekturgeschichte zu schaffen, ist ebenso ein Anliegen dieses Bandes, wie für ihre fundamentale Bedeutung für die allgemeine Kunstgeschichte zu werben. Die Erstellung einer solchen Publikation in vergleichsweise kurzer Zeit konnte nur durch die Unterstützung und Hilfe anderer gelingen. Für Gastbeiträge habe ich zu danken: Glaire Anderson (Chapel Hill) zur Alhambra in Granada |▶ 39|, Markus Hörsch (Bamberg) zu Brou |▶ 50| und zur Danziger Marienkirche |▶ 40| sowie Dirk Schumann (Berlin), der seine Expertise zum abendländischen Backsteinbau in den entsprechenden Themenblock einbrachte. Stefan Bürger half in Fragen der Bauorganisation; Steffen Eigl, Andrea Schraepler und Ulrike Weber erledigten in den letzten beiden Jahren in zuverlässiger Weise Recherchearbeiten, so dass ich mich in dem von UNC Chapel Hill freundlicherweise gewährten Freisemester in der zweiten Jahreshälfte 2012 auf die Erstellung des Manuskripts konzentrieren konnte. Evelin Wetter (Bern) möchte ich für Anregungen – gerade beim Themenblock Liturgie –, Kritik und wichtiges Korrekturlesen sowie für ihre Geduld und moralische Unterstützung danken, Andreas Brachmann (München) für die diversen in bewährter Qualität erstellten Graphiken. Chapel Hill, im Mai 2013 Christoph Brachmann
IV. Anhang Zeittafel 119 Rom, Pantheon (bis 125) 305 Trier, sog. Konstantin-Basilika: Palastaula Konstantins des Großen (bis 312) 313 Toleranzedikt von Mailand: Gleichberechtigung des Christentums. 324 Gründung Konstantinopels Jerusalem, Grabeskirche (bis 353) 326 Rom, Alt-St. Peter: Weihe 330 Verlegung der Hauptstadt des Römischen Reiches nach Konstantinopel (heute: Istanbul) um 336 Jerusalem, Grabeskirche: Anastasis-Rotunde 340 – 350 Doppelkaisertum: Constantius II. (Osten), Constans (Westen) 341 Verbot der heidnischen Opfer und Schließung der Tempel 350 – 361 Constantius II. ist Alleinherrscher 352 Rom, S. Maria Maggiore in Rom (bis 366) 375 – 568 Völkerwanderung 400 Ravenna wird Hauptstadt des Weströmischen Reichs 455 Vandalen verheeren Rom 476 Rom, S. Stefano Rotondo (bis 483) Ende des Weströmischen Reiches 497 / 98 Taufe des fränkischen Königs Chlodwig I. durch Bischof Remigius in Reims 526 Ravenna, San Vitale (bis 547) 527 Byzanz, Sergios- und Bacchos-Kirche (bis 536) 532 Ravenna, S. Apollinare in Classe (bis 548) Konstantinopel, Hagia Sophia (bis 537) 537 Benedikt von Nursia: Regula Benedicti 691 Jerusalem, Felsendom 7. Jh. Poitiers, Baptisterium; Metz, Benediktinerinnenkirche St-Pierre-aux-Nonnains; Trier, St. Irminen: jeweils Umnutzung von römischen Profangebäuden des 4. Jh.s für sakrale Zwecke 706 Damaskus, Al-Walid-Moschee (bis 715) 8. Jh. Qasr al-Msatta (Jordanien), Palast Uhaidir (Irak), Palast 711 Araber dringen von Nordafrika aus nach Spanien vor 754 / 55 St.-Denis, Fulradbau um 780 Ingelheim, Pfalz Karls des Großen 785 Córdoba, Mezquita (bis 990) um 790 Aachen, Pfalz Karls des Großen Fulda, Dom (bis 817) 799 Centula / St-Riquier, Benediktinerabtei: Weihe des Neubaus
800 Krönung Karls des Großen zum römischen Kaiser in Rom um 822 Corvey, Benediktinerkirche (bis 844) 823 Steinbach, sog. Einhards-Basilika (bis 827) um 830 St. Gallen, Benediktinerabtei: sog. Klosterplan 831 Hersfeld, Benediktinerkirche (bis 850) 843 Vertrag von Verdun, Dreiteilung des Reichs Karls des Großen in ein Ost-, ein Mittel- und ein Westreich 873 Corvey, Benediktinerkirche: ‚Westwerk‘ (bis 885) um 900 Byzanz, Lips-Kloster 10. Jh. Kairo, al-Azhar-Moschee 943 Werden, St. Peter: ‚Westwerk‘ um 955 Cluny II, Benediktinerkirche (bis 981) 955 Sieg Kaiser Ottos I. über die Ungarn auf dem Lechfeld 959 Gernrode, St. Cyriakus 968 Gründung des Erzbistums Magdeburg 972 Heirat Kaiser Ottos II. mit der byzantinischen Fürstentochter Theophanu um 979 Memleben, Benediktinerkirche 984 Köln, St. Pantaleon 997 Tours, St-Martin 1000 Gründung des Erzbistums Gnesen 1001 Dijon, St-Bénigne 1005 Reims, St-Remi: Langhaus (bis 1034) 1009 Paderborn, Dom (bis 1015) 1010 Hildesheim, St. Michael (bis 1033) 1012 Loches, Donjon (bis 1035) 1017 Paderborn, Bartholomäuskapelle nach 1020 Chartres, Kathedrale: romanischer Vorgängerbau 1025 Limburg a. d. Haardt, Benediktinerkirche (bis 1045) 1027 / 30 Speyer, Dom (bis 1061) 1035 Mont-St-Michel, Benediktinerkirche 1036 Mainz, Dom: Weihe um 1037 Kiew, Sophienkathedrale 1040 Köln, St. Maria im Kapitol (bis 1049) Jumièges, Benediktinerkirche (bis 1067) 1046 Nivelles, Ste-Gertrude: Weihe um 1050 Conques, Ste-Foy 1059 / 61 Florenz, Baptisterium: Erneuerung 1060 Tournus, St-Philibert ab 1060 / 80 St-Savin-sur-Gartempe, Benediktinerkirche 1060 / 65 Caen, Ste-Trinité und St-Etienne 1063 Venedig, San Marco Pisa, Dom
327 1066 Eroberung Englands durch die Normannen 1070 Canterbury, Kathedrale: Neubau Ende 11. Jh. Saint-Benoît-sur-Loire, Benediktinerkirche: Westbau 1073 / 4 Lincoln, Kathedrale: Mittelteil der Westfassade (bis 1092) 1075 Santiago de Compostela, Kathedrale 1077 Höhepunkt des Investiturstreits: Kaiser Heinrichs Treffen mit Papst Gregor in Canossa 1078 London, (White) Tower mit St. John’s Chapel 1079 Winchester, Kathedrale: Neubau um 1080 Speyer, Dom: Umbau (bis um 1106) 1080 Toulouse, St-Sernin nach 1081 Ely, Kathedrale um 1084 Bruno, Benediktiner aus Köln, gründet den Kartäuserorden um 1085 Hirsau, Benediktinerkirche 1089 Cluny III, Benediktinerkirche (bis 1130) Gloucester, Kathedrale um 1090 Beauvais, St-Lucien (bis 1140) 1090 Paray-le-Monial, Prioratskirche 1093 Durham, Kathedrale 1096 Erster Kreuzzug (Einnahme Jerusalems 1099) 1099 Gründung des Zisterzienserordens 1099 Modena, Dom 1105 Paulinzella, Benediktinerkirche (bis 1115) 1115 Angoulême, Kathedrale (bis 1136) 1118 Peterborough, Kathedrale 1120 Autun, St-Lazare Vézelay, Ste-Madeleine um 1120 Caen, Ste-Trinité und St-Etienne: Wölbung 1122 Ende des Investiturstreits 1130 Palermo, Capella Palatina (Weihe 1143) Tournai, Kathedrale 1131 Cefalù, Dom 1132 / 33 Paris, St-Martin-des-Champs nach 1132 St-Germer-de-Fly, Benediktinerkirche 1135 Regensburg, ‚Steinerne Brücke‘ (bis 1146) 1137 St-Denis, Benediktinerkirche: Westbau (bis 1140) Mainz, Dom: Weihe der St.‑Gotthard-Kapelle 1139 Fontenay, Zisterzienserkirche 1140 Sens, Kathedrale St-Denis, Benediktinerkirche: Chor (bis 1144) 1143 Alvastra (Schweden), Zisterzienserkirche nach 1148 Noyon, Kathedrale um 1150 / 55 Laon, Kathedrale 1151 Zamora, Kathedrale (bis 1171) nach 1152 Clairvaux, Zisterzienserkirche: Zweiter Chorbau (bis 1174) um 1155 Morimond, Zisterzienserkirche: Chorbau 1160 Noyon, Kathedrale: Querhauskonchen (bis 1165) um 1160 Orvieto, Rathaus
1160 / 70 Perigueux, St-Front: vollendet 1161 Reims, St-Remi: Chor (bis 1182) 1163 Paris, Notre-Dame um 1170 Reims, St-Remi: Chor (bis 1180) 1174 Canterbury, Kathedrale (bis 1184) Monreale, Dom um 1180 Cîteaux, Zisterzienserkirche: Dritter Chorbau (bis 1193) 1184 Palermo, Dom nach 1185 Köln, Groß St. Martin: Veränderungen des 1172 geweihten Baus Ende 12. Jh. Ávila, Kathedrale Lausanne, Kathedrale um 1190 Paris, Louvre: erster Bau (bis 1200) Soissons, Kathedrale: Langhaus und Chor (bis 1212) 1194 Chartres, Kathedrale um 1195 Bourges, Kathedrale 1197 Chateau-Gaillard, Burg vor 1200 Laon, Kathedrale: Westfassade 1200 Ebrach, Zisterzienserkirche 1202 Heisterbach, Zisterzienserkirche (bis 1237) um 1203 Lincoln, Kathedrale: erstes Tiercerongewölbe im Hugh’s Choir 1204 Plünderung Konstantinopels während eines Kreuzzugs 1208 Segovia, S. Sepolcro /Vera Cruz: Weihe 1209 Magdeburg, Dom: Chor 1210 Coutances, Kathedrale 1211 Reims, Kathedrale: Grundsteinlegung 1213 Limburg, St. Georg (bis 1235) ca. 1215 Bamberg, Dom (Weihe 1237) 1215 Auxerre, Kathedrale 1219 Köln, St. Gereon: Umbau des Dekagons (bis 1227) 1220 Amiens, Kathedrale: Westfassade und Langhaus Dijon, Notre-Dame Salisbury, Kathedrale (bis 1266) Lincoln, Kathedrale: Langhaus (bis 1240) nach 1220 sog. Reimser Palimpsest 1221 Burgos, Kathedrale 1222 / 23 Toledo, Kathedrale 1224 Vercelli, Sant’Andrea: Weihe um 1225 Coucy, Burg (bis 1242) 1227 Bamberg, Dom: Westchor (bis 1234) 1228 Assisi, S. Francesco (bis 1253) 1230 Bayeux, Kathedrale 1230er Jahre Amiens, Kathedrale: Chor 1230 / 40 sog. Skizzenbuch des Villard de Honnecourt Nürnberg, St. Sebald: Langhaus und Westchor des heutigen Baus 1231 Beginn der Eroberung Preußens durch den Deutschen Orden St-Denis, Benediktinerkirche: zweiter gotischer Neubau 1235 Marburg, Elisabethkirche: Grundsteinlegung Trier, Liebfrauenkirche
Zeittafel
328 um 1235 Toul, Kathedrale 1236 Bologna, San Francesco (bis 1256) 1238 St-Germain-en-Laye, Schlosskapelle 1239 Mainz, Weihe des Westchors des Doms vor 1240 Castel del Monte, Burg (bis ca. 1250) nach 1240 Metz, Kathedrale: Langhaus Beauvais, Kathedrale: Chor Siena, Dom (bis 1263) 1241 Reims, Kathedrale: Weihe des liturgischen Chores Paris, Ste-Chapelle (bis 1248) 1241 Ende des Mongolensturms: Rückzug trotz ihres Sieges bei Liegnitz 1244 Eroberung Jerusalems durch die Muslime 1245 London, Westminster Abbey (bis 1269) um 1245 Straßburg, Münster: Langhaus 1246 Florenz, S. Maria Novella Paris, Notre-Dame: Nordquerhaus von Jean de Chelles 1248 Köln, Dom: Chor (Weihe 1322) Clermont-Ferrand, Kathedrale Metz, St-Vincent, Benediktinerkirche um 1250 / 55 Risse zur Straßburger Westfassade 1250 / 60 Prag, Altneu-Synagoge 1253 Tournai, Kathedrale: Weihe des Chors 1256 Lincoln, Kathedrale: Angel Choir (bis 1280) 1258 Paris, Notre-Dame: Südquerhaus von Pierre de Montreuil 1259 Altenberg, Zisterzienserkirche um 1260 Marburg, Burg (Weihe der Kapelle 1288) Friedberg, Mikwe 1262 Troyes, Stiftskirche St-Urbain um 1268 Trebnitz, Zisterzienserinnenkirche: Hedwigskapelle (bis 1275) 1270 7. Kreuzzug 1270er Jahre Bösig / Bezdeˇz, Burg 1271 Munster-en-Lorraine, Stiftskirche: Stiftung des Trierer Erzbischofs (Weihe 1293) 1272 Narbonne, Kathedrale: Chor (bis 1332) Limoges, Kathedrale Aigues-Mortes, Planstadt 1272 / 73 Erfurt, Predigerkirche: Fertigstellung des Chors 1273 Regensburg, Domchor Verden, Dom: Hallenumgangschor (bis 1313) 1276 Kyllburg, Stiftskirche: wie Munster eine Stiftung des Erzbischofs von Trier 1277 Straßburg, Münster: Westfassade vor 1280 Marienburg: Ordensburg des Deutschen Ordens (bis Ende 14. Jh.) um 1280 Freiburg, Münster: Westturm (bis ca. 1330) Lübeck, Marienkirche: Beginn des Umbaus nach 1280 Brügge, Tuchhalle um 1280 / 1300 Köln, Dom: Riss F der Westfassade 1282 Albi, Kathedrale um 1285 Salem, Zisterzienserkirche: (1307 erste Altarweihen im Chor)
Anhang
1285 Weißenburg /W issemburg, Benediktinerkirche: Langhaus (bis ca. 1310) 1287 Uppsala, Dom Orléans, Kathedrale zw. 1287 u. 1311 Reims, Kathedrale: Labyrinth mit Architektendarstellungen 1288 Amiens Kathedrale: Labyrinth mit Architekten darstellungen Heiligenkreuz, Zisterzienserkirche: Chor 1290 Orvieto, Dom nach 1291 Erfurt, Barfüßerkirche um 1292 London, Westminster Palace: St. Stephen’s Chapel (bis ca. 1297) 1294 / 95 Florenz, Franziskanerkirche Santa Croce 1295 St-Maximin-la-Ste-Baume, Dominikanerkirche Ste-Madeleine 1296 Paris, Notre-Dame: durchgehender Einbau von Seitenkapellen (bis 1320) 1297 Siena, Palazzo pubblico 1298 Barcelona, Kathedrale Bristol, Kathedrale, ehem. Benediktinerabtei St. Augustine’s 1299 Remiremont, Damenstiftskirche: Weihe Florenz, Palazzo della Signoria (bis 1319) 1300 Evreux, Kathedrale 1304 Wien, St. Stephan: Chor (bis 1340) um 1306 Palma de Mallorca, Kathedrale Gebweiler, Dominikanerkirche 1308 Königsfelden, Klarissen- und Franziskanerkloster 1309 – 78 Verlegung der päpstlichen Residenz von Rom nach Avignon 1310 Neapel, Klarissen- und Franziskanerkloster S. Chiara (bis 1340) 1312 Gerona, Kathedrale: Chor 1318 Rouen, St-Ouen 1320 Auxerre, Kathedrale: Langhaus Prenzlau, Marienkirche Straßburg, Jung-St. Peter: Weihe um 1320 Niederhaslach, Stiftskirche 1320 / 25 Kaiserslautern, Stiftskirche 1320 / 30 St. Arnual (Saarbrücken), Stiftskirche: Langhaus Lübeck, Marienkirche: Langhaus 1321 Ely, Kathedrale: Marienkapelle (bis ca. 1345) vor 1325 Köln, Dom: Westfassade (bis 1880) 1325 Prenzlau, Marienkirche 1328 Barcelona, Pfarrkirche S. Maria del Mar (bis 1383) um 1328 Oppenheim, Katharinenkirche: Südfassade 1330 Schwäbisch Gmünd, Hl.‑Kreuz-Kirche: Hallenlanghaus wohl 1331 Soest, Wiesenkirche 1333 Wells, Kathedrale Venedig, SS. Giovanni e Paolo nach 1333 Florenz, Ponte Vecchio (bis 1345) 1334 Avignon, Papstpalast
329 1334 / 35 Aachen, Rathaus 1335 Pont-à-Mousson, ehem. Antoniterkirche: Weihe 1335 / 40 Esslingen, Langhaus der Frauenkirche 1337 Gloucester, Kathedrale: Umbau des Chores (bis 1360) 1340–1453 Hundertjähriger Krieg zwischen England und Frankreich 1340 Venedig, Dogenpalast Münster, Liebfrauenkirche 1342 Breslau, St. Maria Magdalena (bis 1362) 1344 Prag, Veitsdom: Chorneubau 1347 Prag, Emmauskloster: Stiftung durch Kaiser Karl IV. 1347–53 Pestepedemie in ganz Europa 1348 Karlstein, Burg Mitte 14. Jh. Granada, Alhambra (bis Ende 14. Jh.) 1351 Schwäbisch Gmünd, Hl.‑Kreuz-Kirche: Hallenchor 1352 Antwerpen, Liebfrauenkirche 1356 Kaiserkrönung Karls IV. in Rom, Erlass der Goldenen Bulle Prag, Veitsdom: Ausbau des Chors durch Peter Parler (bis 1385) Aachen, Münster: Chor (bis 1415) Augsburg, Dom: Ostchor (bis 1431) 1357 Florenz, Dom: Wiederaufnahme des 1296 begonnenen Projekts nach stark modifizierten Plänen (Langhaus bis 1378 fertiggestellt) Breslau, Elisabethkirche: Weihe 1359 Wien, St. Stephan: Langhaus Prag, Karlsbrücke 1360 Kolin, St. Bartholomäus: Chor (bis 1378) Winchester, Kathedrale (bis 1390) Erfurt, Predigerkirche: Ausbau des Langhauses 1361 Nürnberg, St. Sebald: Chor (bis 1379) Vincennes, Schloss (bis 1380) 1367 Prag, Veitsdom: Weihe der Wenzelskapelle 1370er Jahre Paris, Louvre und Bastille: Um- bzw. Neubau 1375 Canterbury, Kathedrale: Langhaus (bis 1405) um 1375 s’Hertogenbosch, Sint Jans 1379 Canterbury, Kathedrale: Langhaus Berlin, St. Nicolai: Chor Danzig, Marienkirche: Hallenbau (bis 1502) 1380 Prag, Karlsbrücke: Altstädter Brückenturm (bis 1400) Kaschau, St. Elisabeth (bis 1440) nach 1382 Stralsund, Marienkirche 1385 Champmol, Kartause 1386 Florenz, Dom: Chor (bis 1436) 1386 / 87 Mailand, Dom (bis 1572) 1388 Batalha, Dominikanerkirche: Langhaus
1393 Braunschweig, Altstadtrathaus (bis 1396) 1395 Mantua, Castello S. Giorgio Pavia, Kartause 1396 Prag, Veitsdom: Südturm 1400 Leuven, St. Peter 1401 Tarascon, Burg (bis 1449) 1402 Sevilla, Kathedrale Brüssel, Rathaus 1405 Passau, Dom: Chor 1407 Landshut, St. Martin: Langhaus unter Hans von Burghausen Köln, Rathausturm 1413 Florenz, Dom: Kuppeltambour fertiggestellt 1417 Gerona, Kathedrale: Langhaus 1422 Esslingen, Rathaus 1426 Batalha, Capela do Fundador 1427 Nördlingen, St. Georg 1433 Wien, St. Stephan: Südturm vollendet nach 1433 Batalha, Capelas Imperfeitas 1437 Straßburg, Münster: Turmhelm vollendet Nürnberg, St. Lorenz: Chor (bis 1477) nach 1442 / 54 Miraflores, Kartäuserkloster 1444 Florenz, Palazzo Medici-Riccardi 1448 Leuven, Rathaus (bis 1463) Cambridge, King’s College Chapel (bis 1515) um 1450 Erfindung des Buchdrucks 1450 / 60 Stendal, Uenglinger Tor und Rathaus nach 1458 Florenz, Palazzo Pitti 1468 Breda, Liebfrauenkirche (bis 1509) 1471 Meißen, Albrechtsburg 1476 Toledo, S. Juan de los Reyes 1481 Wiederaufnahme der Reconquista in Spanien 1491 Schwäbisch Gmünd, Hl.‑Kreuz-Kirche: Einwölbung des Chors (bis 1497) 1492 Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus 1493 Prag, Wladislawsaal des Hradschin (bis 1503) 1499 Annaberg, Annenkirche 1500 Amboise, Schloss 1501 Lissabon, Hieronymuskloster Santa Maria de Belém 1502 Pirna, St. Marien London, Westminster: Kapelle Heinrichs VII. (bis 1509) 1506 Brou, Augustinereremitenkloster (Kirche 1512 – 32) 1509 Augsburg, Fuggerkapelle (bis 1519) 1512 Kuttenberg, St. Barbara 1513 Salamanca, Kathedrale 1525 Segovia, Kathedrale
Zeittafel
330
Glossar Abakus Lat. von griech. abax = Tischplatte. Meist rechteckige oder quadratische Deckplatte, die den oberen Abschluss des → Kapitells und damit der gesamten Säule bildet.
Abseite → Seitenschiff Abtei Unter der Leitung eines Abtes bzw. einer Äbtissin stehende Klostergemeinschaft; bezeichnet in den Quellen in gleicher Weise die Personengemeinschaft, die Wohneinheit und den Besitz. Achse Von lat. axis. Als Achse bezeichnet man in Architektur und Städtebau eine gedachte Gerade, die durch ein Gebäudeensemble, einen Baukörper oder ein Bauteil gezogen werden kann und als Gestaltungsund Ordnungsmittel benutzt wird. Eine Vertikalachse gliedert zum Beispiel die Ansicht eines Gebäudes, seine Fassade, in zwei Hälften. Als Horizontalachse bezeichnet man Achsen, die im Grundriss zu erkennen sind, z. B. die Längsachse und Querachse einer Kirche. Mit dem Begriff der Fensterachse wird die Anzahl der senkrecht gegliederten Fensteröffnungen eines Gebäudes beschrieben. Akanthus (griech.-lat.), im Mittelmeerraum sehr verbreitete Distelart (Bärenklau), deren meist große, buchtig ausgerandete und an der Spitze leicht eingerollte Blätter in mehr stilisierter Form ein beliebtes Dekorationselement der griechischen und römischen Baukunst sind, typisch besonders für das korinthische Kapitell und seine Abwandlungen im Mittelalter. Almemor → Bima Altar Opferstein oder -tisch, in christlichen Kirchen zentraler Ort der Abendmahlsfeier, oft verwechselt mit dem dahinter befindlichen Aufbau (→ Retabel). Anker Konstruktive Vorrichtung (aus Eisen oder Holz) zur zugsicheren, meist horizontalen Verbindung eines Bauteils mit einem anderen oder zur Aufnahme von Zugspannungen, die durch Schubwirkung entstehen. Ringanker nehmen z. B. bei Kuppelgewölben entstehende Ringspannungen auf, die nicht allein von der Mauerkonstruktion aufgenommen werden können. Apsis, Apsiden Griech. für Rundung, Bogen. Identisch mit den Begriffen Exedra und Konche. In spätröm. Zeit aufkommende Bezeichnung für einen halbkreisförmigen, mit einer Halbkuppel überwölbten (Profan-)Bau, der einem ihm übergeordneten Hauptraum ein- oder angebaut ist und sich üblicherweise in seiner vollen Breite und Höhe zu diesem öffnet. Apsiden findet man meist als Abschluss eines Kirchenschiffes, gewöhnlich mit einer Halbkuppel überwölbt. In der Apsis einer frühchristlichen Kirche befanden sich der Bischofsstuhl und die Sitze der höheren Geistlichen. Später im Mittelalter durch komplexere Choranlagen ersetzt. Architrav Ital. architrave von griech. archi- = ‚Ober‘‑, ‚Haupt‘-, und lat. trabs = ‚Balken‘. Waagrechter Schlussbalken, der in der griechischen Architektur auf Säulen, in der römischen und abendländischen Architektur aber oft auch auf Pfeilern und Bogenstellungen aufliegt.
Anhang
Archivolte Bogenläufe im Gewände romanische und gotische Portale, die die Fortsetzung der Gewändegliederung bilden und häufig mit Skulpturen (Archivoltenfiguren) besetzt sind. Arkade Lat. arcus = Bogen, Bogenstellung über Pfeilen und Säulen. Atrium Innerer Wohnhof des römischen Privathauses, an den sich die Kammern und Wohngemächer anschlossen. In der frühchristlichen und mittelalterlichen Baukunst ein der Kirche vorgelagerter, meist viereckiger, von einer Säulenhalle umschlossener Hof mit einem Brunnen. Aufriss Zunächst die zeichnerische maßhaltige Darstellungsform der unverkürzten Ansicht eines Gebäudes in Orthogonalprojektion; in einer Architekturbeschreibung synonym mit der Struktur des aufgehenden Mauerwerks.
Baptisterium Taufkirche, oft als eigenständiger Zentral-
bau bei einer größeren Kirche. Basilika Seit der röm. Baukunst eine mehrschiffige überdeckte Anlage, deren Mittelschiff breiter und höher ist, so dass der Bau durch Obergadenfenster Beleuchtung erfährt. Später wurden Emporen und Apsiden hinzugefügt. Zu Römerzeiten diente die Basilika profanen Zwecken, etwa als Markt- oder auch Gerichtshalle. Dieser Typus wurde von den Christen als Versammlungsraum übernommen. Sie besteht aus drei, fünf oder mehr Schiffen, die in der Höhe gestaffelt sind. Die Wände des Obergadens können auf Säulen (Säulenbasilika), Pfeilern (Pfeilerbasilika) oder beiden abwechselnd ruhen (vgl. z. B. Sächsischer Stützenwechsel). An der östlichen Schmalseite mündet das Mittelschiff in die → Apsis mit dem Altar. Basis Der Fuß einer → Säule oder eines → Pfeilers, der einen Übergang zwischen dem vertikalen Säulenschaft und der waagrechten Fußplatte ästhetisch vermittelt. Belfried, Beffroi Vgl. → Bergfried, oft auch frei stehender Stadt- oder Rathausturm in mitteleuropäischen Städten, häufig mit Geläut. Bema Andere Bezeichnung für das um eine oder mehrere Stufen erhöhte Presbyterium der altchristlich-byzantinischen Basilika. Bergfried Hoher starker Turm der mittelalterlichen Burg als Beobachtungsstand und v. a. als letzte Zuflucht für die Burgbewohner. Im Gegensatz zum ähnlichen → Donjon nicht für das dauerhafte Bewohnen gedacht. Bettelordenskirche / Mendikantenkirche Sammelbezeichnung für die von den Bettelorden, besonders von Franziskanern (auch Minoriten oder Barfüßer genannt) und Dominikanern (Prediger) errichteten Kirchen, die angesichts ihrer zumeist sehr schlichten Architektur – vergleichbar den etwas früheren Zisterziensern – in der gotischen Kirchenbaukunst eine Sondergruppe bilden. Biforium Eine zweiteilige, durch eine Mittelsäule untergliederte (Fenster-)Öffnung.
331 Bima Hebräisch ‚Bühne‘, auch Almemor, von arabisch al minbar = ‚Redestatt‘, erhöhter und umgrenzter Platz des Vorlesers in der Mitte der Synagoge. Binder Schmalseite eines Backsteins. Binnenchor Mittlere Raumeinheit bei mehrschiffigen Choranlagen. Birnstab Birnenförmiges Profil für Rippen und Dienste. Blendbogen (-arkaden, -gliederung etc.) Architektonische Gliederung, die einer geschlossenen Wand dekorativ vorgelegt ist und häufig Strukturen eines Gliederbaus abbildet. Bogenscheitel Höchster Punkt eines Bogens. Bosse (von mhd. bozen: ‚schlagen‘): Die nur roh zugerichtete, daher bucklige Ansichtsfläche eines Werksteins. Bruchstein Roher unbearbeiteter Stein, der vor dem Versatz nicht oder kaum bearbeitet wird. Bündelpfeiler Pfeilerform der Spätromanik und Gotik, die rundum von verschieden starken Dreiviertelsäulen umgeben ist. Diese Reihung kann in der Hochgotik so dicht werden, dass der eigentliche Pfeilerkern kaum mehr zu erkennen ist.
Chor Ursprünglich für den Gottesdienst und das Chorge-
bet des Klerus reservierter Platz vor dem Hochaltar von Kloster-, Stifts- und Domkirchen; erst seit dem 14. Jh. Bezeichnung für den Hochaltarraum jeder Kirche. Chorflankentürme Zwei den Chor(ansatz) flankierende Türme, in deren Obergeschoss sich oft eine Kapelle findet. Typisch v. a. für ottonische Baukunst. Chorpolygon Im Gegensatz zur halbkreisförmigen Apsis vieleckig gebrochener Chorabschluss. Chorscheitel Äußerster Punkt auf der Längsachse des Chorhauptes. Chorschluss Der Abschluss des Chors. Er kann halb rund, gerade oder polygonal, d. h. aus mehreren Seiten eines Vielecks gebildet und von einem Chorumgang bzw. von Chorkapellen umgeben sein. Chorschranke Seitliche bzw. rückwärtige schrankenartige Abgrenzung des Chores zu einer anderen Raumeinheit, insbesondere zum Umgang. Zumeist in Verbindung mit einem Lettner. Chorumgang Den Binnenchor umfassende Raumzone, meist in Fortsetzung der Seitenschiffe. Corps de logis Franz. für Wohntrakt: Meist in der Mittelachse gelegener Hauptteil einer mehrflügligen Schlossanlage. Couronnement Oberer, vom Bogen eingefasster Abschluss eines Fensters.
Diagonalrippe Diagonal zur Längs- und Querachse eines
Raumes verlaufende Rippe. Dienst Langes, dünnes Viertel- bis Dreiviertelsäulchen der got. Baukunst, das als Teil eines Bündel- oder Wandpfeilers die Gurte und Rippen des Kreuzrippengewölbes aufnimmt. Die Dienste treten meistens in Bündeln auf. Hierbei stützen die stärkeren Dienste
die Quer- und Längsgurte, die schwächeren Dienste wiederum die Gewölberippen. Donjon Turmartiger Kernbau einer (v. a. franz.) Burg, meist frei stehend im ummauerten Hof, Wohnzwecken dienend. Dormitorium Lat. Bezeichnung für den Schlafsaal eines Klosters.
Empore Galerieartiger Einbau über Seitenschiffen oder
Chorumgängen auch im Westen über das Mittelschiff gespannt oder zwischen die Wände. Emporenbasilika Basilika mit Emporen über den Seitenschiffen. En-délit (Versatz) Von franz. lit = Bett, im Sinne von ‚gegen die Bettung’ (Schichtung) des Steins. Bezeichnet wird damit im Steinbau ein Element, das so verbaut ist, dass die horizontalen geologischen Schichten des Steins senkrecht stehen. Normalerweise wird Steinmaterial wie Sandstein oder Kalkstein so versetzt, dass die Schichten waagerecht liegen. In dieser Weise verbaut, nimmt der Stein die Last am besten auf, während bei senkrechtem Versatz die Gefahr von Rissen und Abplatzungen weit größer ist. In der früh- und hochgotischen Architektur hat man dennoch sehr schlanke Rundschäfte, sog. Dienste, als frei vor dem Mauerwerk aufsteigende Bauelemente en délit versetzt. Die letztlich nur geringe Lasten tragenden Dienste sind eher als ästhetisches Element zur Betonung der Vertikalen zu verstehen. Typisch für die gotische Architektur in Frankreich, insbesondere im 12. Jahrhundert. Exedra → Apsis
Fächergewölbe Aus fächerförmig sich entfaltenden Ge-
wölbekegeln und einem horizontalen Scheitelstück in der Jochmitte zusammengesetztes Gewölbe. Fassade Von ital. faccia = Gesicht, Außenansicht – zumeist jene im Westen – eines Gebäudes. Fiale Schlankes, spitz auslaufendes Türmchen als Zierform auf Strebepfeilern und Wimpergen oder an Portalen und Galerien. Auf dem von kleinen Giebeln bekrönten Schaft sitzt der sogenannte Riese: eine mit Kreuzblume und Krabben verzierter Helmpyramide. Fischblase Auch Schneuß, im spätgotischen Maßwerk häufig vorkommendes Motiv, das dem Umriss einer Schwimmblase der Fische ähnelt. Die Fischblase kann auch S-förmig geschwungen und in Gruppen angeordnet sein. Flügel Baukörper, die an einen Hauptbau anschließen. Fries In der Architektur allgemein jeder schmale Streifen zur Abgrenzung oder Teilung von Flächen, dabei sehr unterschiedliche Ausprägung (vom klassischen Akanthusfries bis zu einem mittelalterlichen Rundoder Spitzbogenfries).
Galilaea → Narthex Gebälk Horizontales, in der klassischen (Säulen-)Ordnungsarchitektur meist dreigeteiltes Bauglied, bestehend aus (von unten nach oben) Architrav, Fries und → Gesims (Geison).
Glossar
332 Gebundenes System Ein quadratischer, auf das → Vierungsquadrat zurückgehender Schematismus, der dem gesamten Grundriss einer gewölbten romanischen → Basilika zugrunde liegt: Einem Quadrat im Mittelschiff entsprechen in den beiden Seitenschiffen je zwei Qua drate von halber Seitenlänge. Gekuppelt Zwei gleiche Bauteile (z. B. Säulen, Fenster) werden nebeneinandergesetzt und zu einer Zweiergruppe verbunden. Geschlechterturm Wohnturm (des Adels) in einer Stadt mit gewisser Verwandtschaft zum Bergfried oder Donjon. Gesims Horizontales, lineares Bauelement, oberster Teil des → Gebälks oder auch isoliertes Element, oft zur Stockwerksgliederung. Als oberer Abschluss eines Gebäudes, häufig besonders hervorgehoben als sog. Kranzgesims. Gewände Die schräg geführte Mauerfläche (Laibung) seitlich eines Fensters oder Portals. Das Gewände kann profiliert sein, manchmal stehen in den Abtreppungen des Gewändes auch Säulen oder Skulpturen. Gewölbe Einen Raum überdeckende, gekrümmte Mauerfläche, die sich selbst trägt und zwischen Widerlager gespannt ist; in der Gotik zumeist durch Grate oder Rippen in mehrere – üblicherweise vier, sechs, manchmal auch drei – Kappen/Einzelsegmente unterteilt. Gewölbekappe Von Graten oder Rippen begrenztes Gewölbefeld. Gewölbescheitel Höchster Punkt des Gewölbes. Gurtbogen Verstärkungsbogen, der zugleich die Gliederung eines Gewölbes in Joche betont. Er kommt hauptsächlich beim Tonnengewölbe und beim Kreuzgewölbe vor.
Halle Ein mehrschiffiger Raum mit jeweils gleichhohen
Gewölben in allen Schiffen. Hallenchor Mehrschiffiger, als Halle errichteter Chor. Haustein Der vor dem Bauen allseits regelmäßig bearbeitete Naturstein; im Gegensatz zum Bruchstein, der ohne weitere Bearbeitung verwendet wird.
Joch Auch frz. Travée: Ein Gewölbefeld innerhalb einer
Folge gleichartiger Gewölbefelder. Mitunter etwas ungenau auch als die konstruktive Einheit der in der Querachse zusammengehörigen Joche aller Schiffe einschließlich des zugehörigen Strebewerks gemeint.
Kalotte Kugelabschnitt. Kämpfer Betonte Zone, an der die Krümmung eines Bogens oder eines Gewölbes beginnt, und an der die Lasten derselben vom aufgehenden Mauerwerk aufgenommen werden. Hervorgegangen aus der Gebälkzone klassischer Architektur, was an manchen mittelalterlichen Beispielen (v. a. bei frei stehenden Stützgliedern) noch ablesbar ist. Kannelur, kanneliert Die Gliederung der Oberfläche des Säulenschaftes durch senkrechte, gerundete Eintiefun-
Anhang
gen; ein Charakteristikum der klassischen Säulenordnungen. In der Neuzeit werden Kanneluren häufig als Steigerungsmotiv verwendet. Bei kompositen Säulen sind in die Kanneluren im unteren Bereich halbrunde Stäbe, sogenannte Pfeifen oder Flöten eingefügt, was die Bedeutung der Säule nochmals steigert. Kantonierter Pfeiler Ein Pfeiler, dessen runder, polygonaler oder rechteckiger Kern mit (runden oder eckigen) Vorlagen, meist Halb- oder Dreiviertelsäulen, besetzt ist. Kapelle Kleiner Sakralraum, entweder selbständig oder in ein anderes Gebäude inkorporiert bzw. als Annex angeschlossen. Kapellenkranz Um ein Chorhaupt herum geordnete Folge von Kapellen. Kapitell Das ausladende ‚Haupt‘ eines vertikalen Stützglieds, wie einer Säule, → eines Pilasters etc.: Es sitzt auf dem Säulenschaft und trägt das Gebälk. Der ‚Fuß‘ einer Säule wird → Basis genannt. Sowohl Basis als auch das häufig reich verzierte Kapitell haben für ihre jeweilige (Säulen-)Ordnung typische und festgelegte Formen. Kapitelsaal Raum in einem Kloster, meist am Ostflügel des Kreuzgangs, in dem Weisungen an die Mönche erteilt wurden. Kathedrale Von lat. cathedra = Thron (eines Bischofs), Rangbezeichnung einer Bischofskirche, Synonyme im Deutschen ‚Dom‘, in einigen Fällen auch ‚Münster‘. Klausur Der nur den Mönchen oder Nonnen zugängliche Teil eines Klosters. Kolonnade Eine Säulenreihe, die einen Architrav trägt, im Gegensatz zur Bogenreihe der → Arkade. Konche Halbrunde Apsis. Konsole Ein vorkragender Tragstein im Steinbau, der als Basis für Dienste, Bögen, Gesimse u. a. dient. Krabbe Gotische Kriechblume an den Kanten von Fialen, Wimpergen, Turmpyramiden etc. Kreuzgang Um den zentralen Rechteckhof eines Klosters angelegter, gedeckter und zum Hof zumeist durch Arkaden geöffneter Gang. Kreuzgratgewölbe Die Durchdringung von zwei Tonnengewölben gleicher Größe ergibt ein Kreuzgewölbe, wegen der dabei entstehenden Grate heißt diese Form Kreuzgratgewölbe. Kreuzkuppelschema Kirchenbautypus; → Zentralbau, bestehend aus meist von Tonnen überdeckten, gleich langen Kreuzarmen und einer überkuppelten → Vierung. Kreuzrippengewölbe → Kreuzgratgewölbe mit unterlegten Rippen, die von einer Stütze über den Gewölbescheitel zur schräg gegenüberliegenden Stütze verlaufen und sich miteinander überkreuzen. Krypta Niedriger Raum unter dem Chor der Kirche – je nach Entstehungszeit – verschiedener Ausprägung (stollen- bis hallenartig), der dem Grab- und Reliquienkult dient. Kuppel Gewölbte, oft turmartig erhöhte Überdeckung eines Joches in runder oder polygonaler Form. Auch
333 sphärisches Gewölbe, meist in Form eines Kugelabschnittes über kreisförmigem Grundriss. Die häufigste Form der Kuppel ist die Halbkugel.
Laibung Seitliche Einfassung eines Portals, Fensters o. ä. Langhaus Der ein- oder mehrschiffige Hauptraum der Kirche zwischen Westbau und Vierung oder Chor, die Längsachse bildend. Lanzettbogen Schlanker, stark überhöhter Spitzbogen mit geringer Spannweite. Läufer Längsseite eines Backsteins. Lettner Geschlossene oder durch Arkaden gegliederte Schranke, die den Chor als Raum der Geistlichen von der im Langhaus gelegenen Laienkirche trennt; der Lettner dient als Bühne zum Verlesen der Evangelien, vor ihm steht der Volksaltar. Lisene Bandartige, flache Wandvorlage ohne → Kapitell und → Basis. Luftrippe Rippengewölbe ohne Gewölbekappen, bei dem die Rippen frei durch die Luft geführt sind.
Maßwerk Geometrische Schmuckform der Gotik, die
zur Unterteilung von Fenstern, Giebeln, Wänden, Wimpergen, Brüstungen und anderen Flächen verwendet wird. Das Maßwerk ist entstanden, weil die großen Öffnungen gotischer Fenster unterteilt werden mussten (kleine Scheibenformate, Winddruck u. a.). Die einfachsten Bildungen sind Lochformen. Die wichtigste Grundform des Maßwerks sind der → Pass und der Schneuß bzw. die → Fischblase. Mezzanin(‑geschoss) Halbgeschoss. Mikwe Jüdisches Reinigungsbad. Mittelschiff Mittlere, von Arkaden oder Kolonnaden seitlich begrenzte Raumeinheit einer mehrschiffigen Anlage. Modul Maß, Grundeinheit zur Berechnung von Gebäudeproportionen, z. B. die Breite eines Gewölbejochs; nach Vitruv meist der untere Durchmesser eines Säulenschaftes.
Narthex Auch Galiläa, Vorhalle am Haupteingang ei-
ner Kirche. Bei frühchristlichen und mittelalterlichen Sakralbauten kann auch der von Säulenhallen umgebene Vorhof als Narthex bezeichnet werden. Netzgewölbe Gewölbe mit netzartiger Rippenfigur.
Obergaden Auch Lichtgaden oder Fenstergaden. Der
über den Arkaden oder Kolonnaden des Mittelschiffs einer → Basilika sich erhebende Wandabschnitt mit den Hochschiffsfenstern. Oktogon Achteck. Okulus Lat. ‚Auge‘: Ein kreisrundes oder ovales Fenster, das meist dekorativ über Portalen oder im Giebelbereich eingesetzt wird. Eine seit der Antike bekannte, auch in mittelalterlicher Architektur verwendete Fensterform.
Palas Von lat. palatium, Wohn- bzw. Saalbau einer Burg
oder Kaiserpfalz. Pass Der Kreisbogen des gotischen → Maßwerks. Nach der Zahl der im Durchmesser gleichen Kreisbögen, die durch Nasen getrennt sind, unterscheidet man Drei-, Vier-, Sechspass etc. Patene Kleinerer runder Teller aus Gold o. ä., das als Vasa sacra, d. h. als liturgisches Gefäß, bei der Heiligen Messe verwendet wird. Patrozinium Titel einer Kirche oder Kapelle, meist benannt nach einem Heiligen oder einem christlichen Fest. Pendentifkuppel Hängekuppel, üblicherweise in Kugelsegmentform. Zur Überleitung auf einen meist quadratischen Raum dienen vier dreieckige, sphärische Zwickel in den Raumecken, die sog. Pendentifs. Pfeiler Mauerstütze / Stützglied zwischen Öffnungen, gewöhnlich mit quadratischem, rechteckigem oder polygonalem Grundriss, meist in Anlehnung an den Aufbau einer → Säule gestaltet. Pilaster Flache Wandvorlage in der Art eines → Pfeilers, mit → Kapitell und → Basis (im Gegensatz zur → Lisene). Polygon Vieleck. Presbyterium → Sanktuarium Prothesis Nebenraum byzantinischer und frühchristlicher Kirchenbauten zur Vorbereitung des Messopfers, neben der Apsis.
Querhaus Quer zum Langhaus verlaufender Bauteil.
Durch das Querhaus erhält der Grundriss einer Kirche die Form eines lateinischen Kreuzes, am Durchdringungspunkt der Kreuzarme entsteht die → Vierung.
Refektorium Lat. für ‚Speisesaal‘ in einem Kloster. Retabel Lat. für ‚Rücktafel‘; Aufbau hinter dem Altartisch (Mensa), meist mit Bildern der dort verehrten Heiligen, oft auch irrtümlich mit dem → Altar selbst gleichgesetzt. Rippe Unter die gemauerte Schale eines Gewölbes gespannter Bogenschenkel, in Verbindung mit anderen Rippen zu unterschiedlichsten Rippenfiguren kombiniert. Risalit / Rücklage Vorspringender Teil einer Fassade, oft zur Betonung der Ecke oder Mitte und zur Rahmung der (meist weniger reich dekorierten) sogenannten Rücklagen. Riss Allgemein für (meist maßhaltige, proportionale) Bauzeichnung. Rustika / Rustizierung Raue, d. h. scheinbar un- oder wenig bearbeitete Oberfläche einer Fassade, meist an untergeordneten Zonen, z. B. dem Sockel, oder als ‚Verstärkung‘ an Gebäudeecken. Typisch für den mittelalterlichen Wehrbau. Saal Ungeteilter, einschiffiger Longitudinalraum, oft mit Gewölbe versehen.
Glossar
334 Säule Ein im Querschnitt kreisförmiges, senkrecht stehendes Stützglied, dessen Schaft in klassischer Architektur meist leicht gebaucht ist (sog. Entasis), im Mittelalter dagegen oft nur nach oben oder gar nicht verjüngend. Die Säule der antiken Säulenordnungen besteht aus → Basis, → Schaft und → Kapitell; ursprünglich waren die Proportionen der einzelnen Teile nach Harmonieregeln definiert, die im Mittelalter jedoch kaum mehr Gültigkeit haben. Anfangs tragen die Säulen ein → Gebälk, erst später über Bögen eine Mauer. Neben der frei stehenden Säule gibt es die nur teilweise hervortretende Wand- oder Halbsäule; ist ihr Radius bei gleichzeitig großer Höhe gering, spricht man von einem Dienst (gotische Architektur). Diese Formen erfüllen sowohl konstruktive als auch dekorative Zwecke. Säulenordnung, Ordnung Architektonische Gliederung aus vertikalen (→ Säulen, → Pfeiler, → Pilaster) und horizontalen Elementen (→ Gebälk), die festgelegten Gesetzmäßigkeiten folgt und neben der konstruktiven und dekorativen vor allem semantische (zeichenhafte) Funktionen erfüllt; zentraler Gegenstand der → vitruvianischen Architekturtheorie. Sakramentshaus Turmartiger Aufbau mit einem tabernakelartigen Gehäuse zur Aufbewahrung des Allerheiligsten, des Sakraments. Sanktuarium Lat. sanctus = ‚heilig‘; in allen Kultbauten Stätte des Heiligtums. In christlichen Kirchen der Altarraum, oft identisch mit dem → Chor, der allerdings erheblich größer sein kann. Schaft Mittelstück eines vertikalen Stützgliedes. Seine Höhe steht in klassischer Architektur nach der → Säulenordnung in einem festen Verhältnis zum unteren Durchmesser, was im Mittelalter aber kaum mehr von Bedeutung ist. Scheidbogen Ein Bogen, der zwei Raumteile von einander trennt, z. B. das Mittelschiff und die Seitenschiffe. Schiff Längsgerichteter Raumteil z. B. einer Kirche, meist aus mehreren → Jochen gebildet. Man unterscheidet je nach Lage Mittel- (oder Haupt-), Seiten- und Querschiff. Schildbogen Der Bogen an der Wand- bzw. an der Fensterseite eines Gewölbes. Schleifensterngewölbe Sterngewölbe aus gekrümmten und miteinander verschlungenen Rippen. Schlingrippe Bogenrippe, die mit anderen Rippen schlingenartig verflochten ist. Schlussstein Stein im Scheitel eines Bogens; beim Rippengewölbe Hauptknotenpunkt der Rippen im Gewölbescheitel. Schlussstein, hängender / Abhängling Zapfenförmig herabhängender Schlussstein v. a. in spätgotischen Gewölben, zumeist durch einen integrierten senkrechten Eisenanker ermöglicht. Sechsteiliges Gewölbe Kreuzrippengewölbe, das durch eine Transversalrippe in der Jochmitte ergänzt wird und sechs Einzelkompartimente / Kappen aus bildet.
Anhang
Seitenschiff Seitlich, zumeist beidseits eines Mittelschiffs gelegene Raumeinheit einer mehrschiffigen Anlage; vom Mittelschiff durch Arkaden oder Kolonnaden getrennt. Sockel Unterer, etwas vorspringender Teil eines Bauwerks oder Baugliedes (z. B. Säule). Spolie Ein wiederverwendetes Bauteil aus einem älteren, zumeist zerstörten Gebäude. Staffelchor Chor mit verschieden weit ausgreifenden, möglicherweise auch unterschiedlich hohen → Apsiden. Staffelhalle Auch Stufenhalle oder Pseudobasilika; Halle mit stufenweise zur Mitte hin ansteigender Raumhöhe, in den einzelnen Schiffen jedoch ohne Fenster im Obergaden. Sterngewölbe Gewölbe mit sternförmiger Rippenfigur. Stiftskirche Kirche einer nicht in klösterlicher Gemeinschaft von Stiftspfründen lebenden Gruppe von Klerikern. Strebebogen Ein schräg ansteigender Bogen, der den Gewölbeschub vom Hochschiff einer gotischen → Basilika auf den Strebepfeiler überträgt. Strebepfeiler Stützkonstruktion einer Wand zur Ableitung von seitlich einwirkenden Kräften (z. B. Gewölbeschub), bevorzugt in der mittelalterlichen Architektur: Mauerstück, das meist im 90°-Winkel an eine Wand gestellt ist, um diese zu verstärken, oft auch zur Trennung von dazwischen angegliederten Räumen (→ Kapellen) genutzt.
Tabernakel In der Außenarchitektur fialenähnlicher,
aber offener Aufbau mit Ecksäulchen und spitzem Dach. Tambour Franz. für Trommel; der zylinderförmige Unterbau einer Kuppel mit Fenstern zur Belichtung des Kuppelraums. Tondo Kreisrundes Bauelement, Bildwerk etc. Tonnengewölbe Gewölbe in Form eines liegenden Halb- oder Teilzylinders; als Querschnitt kommen neben dem Halbkreis auch Parabel, Spitz- und Seg mentbogen vor. Transept → Querhaus/-schiff Traufe Untere Begrenzungslinie eines Dachs. Travée → Joch Triforium Ein in der Wand ausgesparter Laufgang, der sich über den → Arkaden und unter den Fenstern des → Obergadens befindet und sich zum Mittelschiff in dreifacher Bogenstellung öffnet. Entspricht außen der Zone der Seitenschiffsdächer. Das Triforium wurde bereits in der romanischen Baukunst als Gliederung der Hochschiffwand entwickelt und ist in der Gotik ein wichtiger Teil des Wandaufbaues der klassischen Kathedrale. Bei einem Blendtriforium entfällt der Gang hinter den Arkaden. Trikonchos Raumgefüge aus drei Konchen (muschelförmigen, d. h. gewölbten Nischen, vgl. → Apsis). Triumphbogen Bogen, der den Chor von Vierung oder Langhaus trennt.
335 Trumeau(-pfeiler) Franz.; der mittlere Steinpfosten eines Portals, der das → Tympanon unterstützt. Tympanon Das Giebelfeld eines antiken Tempels mit oder ohne Bauplastik. Im Mittelalter das Bogenfeld über einem Portal, ebenfalls mit oder ohne plastischem Schmuck.
Umgang Der um einen mittleren Bauteil herumgeführte
Gang, besonders im Chorbereich (Umgangschor). Unterkirche Eigenständiges Geschoss eines zweigeschossigen Sakralbaus (vgl. San Francesco in Assisi, Ste-Chapelle in Paris); nicht immer eindeutig vom Begriff → Krypta abzugrenzen.
Verkröpfung Herumführen einer waagerechten Wand-
gliederung, etwa eines Gesimses oder Gebälks, über vorstehende Vertikalglieder wie Wandpfeiler oder Dienst. Vierung Der durch die Durchdringung von → Langhaus und → Querhaus entstehende Raumteil einer Kirche. Volute Franz.; Spiral- oder Schneckenform, die häufig an → Konsolen, Giebeln und → Kapitellen vorkommt.
Vorlage (Wandvorlage) Senkrechtes, sehr unterschiedlich profiliertes Glied vor der Fläche einer Wand oder einer Stütze; in der Gotik meist als schlanker Dienst geformt, häufig auf rechteckiger Rücklage.
Wasserspeier Oftmals figürlich gestalteter Wasserab-
fluss an der Dachrinne. Westbau Aus weitgehend selbständigen Baukörpern wie Turm, Vorhalle oder Querhaus gebildete Westfront einer Kirche. Wimperg Meist mit Maßwerk, Krabbe und Kreuzblume geschmückter Ziergiebel eines Fensters oder Portals.
Zellengewölbe Meist rippenloses, figuriertes Gewölbe
(ab 1470er Jahre) mit prismatisch vertieften Gewölbekappen, zwischen denen sich scharfkantige Grate bilden. Zentralbau Bauform mit völlig oder annähernd gleicher Längen- und Breitenausrichtung, die auf eine Mitte hin orientiert ist; oft über einfachen geometrischen Grundformen (Kreis, Quadrat, Polygon). Zwerggalerie Niedriger Laufgang unter der Traufe.
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343
Register der Orte und Bauten Die |in Striche| gesetzten Zahlen geben die Nummer des Schlüsselwerkes an. Kursiv gesetzte Seitenzahlen verweisen auf Abbildungen.
Aachen
– Aula Regia 31,42 – Pfalzkapelle |1| 17, 19, 31, 32, 42, 43, 46, 70, 71, 77, 78, 79, 80, 81, 91, 94, 95, 105, 108, 111, 167, 168, 192, 193, 195, 225, 242 – Rathaus 31 Aigues-Mortes Planstadt 258 Aix-en-Provence 167 Albi Kathedrale 253 Alcántara Steinbrücke 282 Aljubarota Schlachtfeld 315 Alsfeld 296, 297 Altenberg Zisterzienserabtei 26, 40, 127 Alvastra Zisterzienserabtei 66 Amalfi 111 Amboise Schloss 76, 323 Amiens – Belfried 245 – Kathedrale 13, 61, 62, 164, 167, 182, 185, 194, 200, 203, 204, 217, 220–222, 226 Andernach – Franziskanerkirche 216 – Mikwe 208 Angers Burg 197, 258 Angoulême Kathedrale |14| 135, 136, 137, 138, 139, 218 Annaberg Annenkirche 74 Antwerpen Liebfrauenkirche 251, 270 Arles 84, 119 Arras Stadttor St-Nicolas 301 Asir Palast 144 Assisi San Francesco 64, 176, 216 Aubigny Steinbruch 238 Augsburg – Dom 103, 278 – Heiliges Grab 171 – Fuggerkapelle 74 Autun – Kathedrale 55, 126 – röm. Stadttor 84 Auxerre Kathedrale 61, 69, 94, 164 Avignon 37, 66, 184, 278
– Papstpalast |38| 260, 261, 264 – Brücke St-Bénézet 287 Ávila 299 – Kathedrale 58, 151
Babel Turm 183, 184 Bamberg – Bistum 100 – Dom 27, 28, 38, 100, 103, 205 – Synagoge 205 Barcelona 262 – Kathedrale 197, 213, 252, 253, 293 – S. María del Mar |36| 251, 252, 253, 254, 255, 293 – Saló del Tinell al Palau Reial 2, 245 Basel – Münster 38 – Spalentor 301 Bassano del Grappa Brücke 296 Batalha S. Maria da Vitoria, Dominikanerkirche |49| 17, 314, 315, 316, 317, 318 Battle Abbey (bei Hastings) 121 Bayeux Kathedrale 64 Beaugency Brücke 283 Beauvais – Kathedrale 56, 57, 167, 202, 222, 251 – St-Étienne 153 – St-Lucien, Abteikirche 149 Bebenhausen Zisterzienserabtei 208 Bedford 283 Berlin 20 – Befreiungsdom 200 – Dominikanerkirche 22 – Franziskanerkirche 22 – Nationaldenkmal, Viktoriapark 201, 204 – St. Nikolai 21, 71, 218 Bethlehem Geburtskirche 84 Bösig / Bezdeˇz Burgkapelle 204, 211 Bologna – Geschlechtertürme 27, 245 – S. Francesco 64, 271 – S. Sepolcro 169 Bonn Münster 155 Borgund Stabkirche 295 Bourg-en-Bresse Franziskaner kloster 321 Bourges 39, 192 – Kathedrale |20| 61, 164, 165, 166, 167, 222, 223, 271, 293, 296
Bouvines 301 Brandenburg 20 – Mühltorturm 302 Braunschweig – Dom 218 – Rathaus 74, 275 – Residenz Heinrichs des Löwen 212 Breda Liebfrauenkirche 252 Breslau 64, 300 – St. Elisabeth 69 – St. Maria Magdalena 272 Bristol Kathedrale 68 Brou St-Nicolas-de-Tolentin, Augustinereremitenkloster |50| 17, 19, 198, 319, 320, 321, 322, 323 Brügge 20, 242 – Annunziatenkloster 319 – Liebfrauenkirche 271 – Rathaus 245, 246, 273 – St. Salvator 271 – Tuchhalle |34| 243, 244, 245, 304 Brüssel – Rathaus 248 – Unser Lieben Frauen auf dem Sande 323 Burgos – Kathedrale 64, 167, 186, 318 – S. María de Miraflores |47| 304, 305, 306, 307, 308, 309, 320, 321 Bury St. Edmunds 116 Byzanz → Konstantinopel
Caen 116, 118, 161
– St-Étienne |16| 145, 146, 147 –149, 159, 163 – Ste-Trinité |16| 89, 145, 146, 147, 148, 149, 151 Cahors – Brücke 184 – Kathedrale 139 Cambrai Kathedrale 156 Cambridge King’s College Chapel |48| 17, 310, 311, 312, 313, 314 Canterbury 39 – Kathedrale |19| 36, 68, 118, 141, 159, 160, 161, 162, 163, 171 – 173, 190, 310, 312 – St. Augustine’s Abbey 121 Capua Brückentor 284 Carcassonne 262, 299 Carrara 319 Cefalù Dom 140, 144
Register der Orte und Bauten
344 Centula → St-Riquier Chambord Schloss 259 Champmol Kartause 305, 309, 321 Charroux Heiliges Grab 171 Chartres Kathedrale 60, 61, 151, 164, 166, 167, 171, 173, 180 – 183, 185, 222 Château Gaillard Burg 190 Cimitile Pilgerkirche 155 Cîteaux Zisterzienserabtei 55, 56, 126–128 Civray St-Nicolas 136 Clairvaux Zisterzienserabtei 127 Clermont-Ferrand – Kartause 309 – Kathedrale 14, 36, 38, 200, 217, 222–224, 226, 229, 239, 253, 279 Cléry Notre-Dame de Cléry 315, 317 Cluny Benediktinerabtei St-Pierreet-St-Paul |12| 38, 55, 56, 81, 99, 113, 123, 124, 125, 126, 131, 147, 151, 197 Cölln (Berlin) 21, 22 Conflans 227 Conques Ste-Foy 122, 125 Corbie 86 Córdoba – Mezquita 42, 144 – Steinbrücke 282 Corvey – Johanniskapelle 88 – Klosterkirche |2| 85, 86, 87, 88, 89, 92, 94, 96, 138 Coucy – Burg |24| 187, 188, 189, 190, 255, 259 Coutances Kathedrale 64 Crac des Chevaliers Kreuzfahrerburg 187
Dädesjö 295 Damaskus Al-Walid-Moschee 42 Danzig / Gda´nsk 20 – Marienkirche |40| 270, 271, 272, 274 – Neues Rathaus 272 Dijon 124, 305 – Notre-Dame 164 – St-Bénigne 169 Doberan Zisterzienserabtei 196 Dortmund Rathaus 245 Dourdan Donjon 189
Anhang
Durham Kathedrale 108, 148
Genf Kathedrale 65
Eisenach Wartburg 211 Eltz Burg 210 Elvas São Domingo 316 Ely Kathedrale |10| 115, 116, 117, 118, 119, 146, 159, 295, 314 Ephesos Johanneskirche 110 Erfurt 283 – Barfüßerkirche / Franziskanerkirche 213, 214, 215, 216 – Krämerbrücke 285–287 – Predigerkirche |29| 213, 214, 215, 216 Essen Damenstiftskirche 168 Esslingen 297 – Frauenkirche 69, 72 – Rathaus |45| 35, 295, 296, 297, 298, 299 – Stadttor 296 Eunate Templerkirche 170 Evreux Kathedrale 229, 251
Gent Belfried 245 Genua 111 – Palazzo di S. Giorgio 236 Gernrode Stiftskirche St. Cyriakus 44, 45, 96 Gerona / Girona Kathedrale 184, 229, 254 Gisors Donjon 189 Gloucester Kathedrale 34, 68, 310, 313 Gnesen 39 Goldenkron / Zlatá Koruna Zisterzien serabtei 204 Gorze Benediktinerabtei 18 Goslar 296 Granada – Alhambra |39| 265, 266, 267, 268–270 – Alhambra, Generalife 265 Grenoble Kartause 35, 304, 306 Grimme Stadttor 302
Ferrara
Halberstadt
Ebrach Zisterzienserabtei 128
– Dom 107 – Kastell 300 Fès Madrasa 268, 270 Florenz – Baptisterium 115, 167 – Bettelordenskirchen 64 – Dom Santa Maria del Fiore |32| 68, 230, 231, 232, 233, 251, 252 – Palazzo del Bargello 235, 236 – Palazzo della Signoria (heute: Palazzo Vecchio) |33| 234, 235, 236, 231, 233, 245 – Palazzo Medici-Riccardi 236 – Palazzo Pitti 236 – Ponte Vecchio 286, 287 – S. Croce 233 – S. Maria Novella 293 Fontenay Zisterzienserabtei |13| 66, 126–128, 129, 304 Fontevrault Benediktinerabtei 136 Frankfurt am Main 27, 283 – Dom 78 Frankfurt an der Oder St. Marien 71 Freckenhorst 89 Fréjus Baptisterium 167 Friedberg – Mikwe 207, 208, 209 – Pfarrkirche 208, 209 Friedland Torturm 302 Fulda St. Michael 43, 169
– Dom 89, 195–199 – Liebfrauenkirche, Stiftskirche 198 Havelberg 218 Heisterbach Zisterzienserabtei 157 Hennegau 242 Hereford 283 Hildesheim 296 – Dom 93, 94 – St. Michael |4| 19, 44, 45, 92, 93, 94, 95, 96, 102, 129, 200, 205 Hirsau Abteikirche 125 Höxter 89 – Franziskanerkirche 216 Hohenfurt / Vyšší Brod Zisterzienserabtei 205
Ingelheim Pfalz 42 Ingolstadt Marienkirche 73 Istanbul → Konstantinopel Istrien 242
Jerusalem 170
– Felsendom 42 – Grabeskirche 17, 31–33, 80, 84, 85, 121, 169, 171, 318 Jumièges Abteikirche 54, 108
Kairo Al-Azhar- und Ibn-Tulun- Moschee 144
345 Kaiserslautern Stiftskirche 69 Kapfelberg Steinbruch 227, 239 Karlstein / Karlštejn Burg 264, 282 Kaschau / Košice Dom 66, 67 Kiew Sophienkathedrale |5| 92, 96, 97, 98, 99 Knossos 227 Kobern Matthiaskapelle 169 Köln 20, 22, 33, 39 – Dom |26| 13, 19, 26, 31, 33, 40, 43, 65, 69, 103, 145, 155, 159, 195, 198, 200, 201, 202–204, 217, 221, 222, 225, 228, 232, 251, 272–279, 289 – Franziskaner 26 – Groß St. Martin |18| 154, 155, 156, 157, 158, 159 – Kartause 305 – Mikwe 208 – Rathaus 74, 245 – St. Andreas 155 – St. Aposteln 155 – St. Gereon 33, 34, 65, 154 – St. Maria im Kapitol 121, 125, 154 – 156 – St. Pantaleon 44, 102, 225 – Synagoge 208 Königsberg i. d. Neumark / Chojna Stadttor 302 Königsfelden Franziskaner- und Klarissenkloster 315 Kolin St. Bartholomäus 23 Konstantinopel 41, 42, 97, 108, 110, 140, 143 – Apostelkirche 110 – Hagia Sophia 49, 50, 90, 97, 110, 168 – Kaiserlicher Palast 81 – Lips-Kloster |3| 90, 91, 92, 97, 99 – Sergios-und‑Bacchos-Kirche 81 Konstanz Münster 169 Krakau 25 – Synagoge 298 Kuttenberg / Kutna Hora St. Barbara 74 Kyllburg Stiftskirche 69
La Ferté Zisterzienserabtei 127 Landsberg am Lech Bayertor 287 Landsberg (Sachsen-Anhalt) Burg kapelle 168 Landshut Martinskirche 276 Laon – Kathedrale 59, 148, 157, 190 – Templerkirche 171 Lausanne Kathedrale 65
Leipzig 273 Le Mans Kathedrale 167, 185 Lemberg 66 León Kathedrale 64 Le Puy 119 Ligugé 130 Limburg Dom 65, 297 Limburg an der Haardt Abteikirche 51, 52, 100 Limoges – Kathedrale 222, 224, 251 – St-Martial 122 Lincoln Kathedrale |22| 68, 171, 172, 173, 174, 175, 280, 310, 312 Lissabon 314 – Hieronymus-Kloster S. Maria de Belem 318 – S. Maria del Carmo 318 Loches Donjon 50, 51 Löwen/Leuven – St. Peter 251, 252, 323 – Rathaus |34| 246, 247, 248 London 262, 296 – Alt-St. Paul’s 175 – Crystal Palace 270 – Templerkirche 171 – Westminster Abbey 175 – 176, 192–193, 310, 314 – Westminster Hall 295 – Westminster Palace, St. Stephen Chapel 312 Lucca S. Martino 227 Lübeck 301, 302 – Marienkirche 20, 65, 69, 271 Lüneburg 302 Lyon – Amphitheater 41 – Kathedrale 41
Magdeburg Dom 39, 42, 64, 65, 93,
95, 103, 152, 169, 197, 198, 205, 278 Mailand 20, 202 – Dom |44| 37, 68, 229, 230, 254, 290, 291, 292, 295 – Porta Romana 227 – Rathaus 21 – S. Ambrogio 108 – S. Lorenzo 80 Mainz 33, 39 – Dom 103, 156, 177, 238 – Römerbrücke 283 – St.‑Gotthard-Kapelle 168 Manresa Kollegiatskirche 254 Mantua Castello S. Giorgio 76, 300
Marburg 296 – Schloss |28| 209, 210, 211, 212 – Elisabethkirche 35, 67, 156, 172, 196, 209, 289 Markgröningen 299 Marrakesch Qubbat-al-Barudiyin 144 Maulbronn Zisterzienserabtei 129, 134, 304 Meaux Kathedrale 34, 229 Mecheln 229, 321 – St. Rombout 251 Meißen Albrechtsburg 76, 273 Memleben Abteikirche 93 Metz 20, 23, 39, 301 – Dominikanerkirche 216 – Franziskanerkirche 216 – Kathedrale 24, 89, 154, 172, 177, 217, 222, 251 – Klarissenkloster 24, 25 – Notre-Dame-la Ronde, Stifts kirche 192 – St-Pierre-aux-Nonnains, Benediktinerinnenkirche 24, 25, 82 – Ste-Ségolène, Pfarrkirche 24 – St-Vincent, Benediktinerkirche 24, 185, 186, 239 – Templerkirche 171 Michelstadt 196, 275, 296 Miltenberg 238 Minden 89 Mirepoix 262 Modena Dom |7| 55, 104, 105, 106, 107, 108, 112, 114, 184, 198, 225 Mönchengladbach Abteikirche 26, 225 Moissac Kreuzgang 84 Monreale Dom |15| 140, 141, 142, 143 –145, 295 Montecassino Abtei 130 Mont-St-Michel Abteikirche 143 Morimond Zisterzienserabtei 127, 128 Mschatta Palast 42 München Frauenkirche 273 Münster Franziskanerkirche 216 Münster / Munster-en-Lorraine Stiftskirche 16, 69
Nantes Kathedrale 321 Narbonne Kathedrale |31| 58, 221, 222, 223, 224, 229, 251, 253, 279 Naumburg Dom 38, 178, 195, 198 Neapel 142, 262
Register der Orte und Bauten
346 – S. Chiara, Klarissen- und Franziskanerkloster |35| 19, 248, 249, 250, 251 – S. Lorenzo Maggiore 216 Neubrandenburg 21, 302 Neuenheerse 89 Neuenkamp Zisterzienserabtei 272 Neuss St. Quirin 155, 225 Nevers 125 Niederhaslach 69 Nivelles Ste-Gertrude-et-St-Pierre, Damenstiftskirche 46, 102 Nola 155 Noyon Kathedrale 56, 59, 157, 163 Nürnberg 20, 30 – Burgkapelle 168 – Frauenkirche 205 – Hospital 286 – Kartause 305, 309 – St. Lorenz 27, 28, 29, 71, 73, 154, 185, 196, 274 – St. Sebald 27, 28, 29, 71, 72, 185, 196, 274 – Synagoge 204
Ochsenfurt 283 Oppenheim Katharinenkirche 69 Orange 81 Orléans Kathedrale 251 Orvieto Rathaus 21 Ottmarsheim Damenstiftskirche 31, 168 Oxford 310
Paderborn
– Dom 43, 89 – Bartholomäuskapelle 36, 45, 46 Padua – Palazzo della Ragione 295 – Rathaus 21 Palermo 112, 140 – Dom 144 – Königspalast und Cappella Palatina 144, 145, 193, 269 Palma de Mallorca – Kathedrale 254 – Palast Almudaina 263 Paray-le-Monial Prioratskirche 55, 126 Paris 20, 22, 64, 79, 119, 190, 238, 262, 296, 301 – Bastille 74 – Brücken (Grand-Pont, Pont Notre-Dame, Pont St-Michel) 286 – Île de la Cité 255
Anhang
– Louvre 74, 187, 255 – Notre-Dame 13, 34, 38, 59, 63, 165, 184, 190, 194, 198, 220, 226, 294 – Stadtmauer 187 – Ste-Chapelle |25| 71, 78, 154, 190, 191, 192, 193, 194 – 196, 197, 211, 216, 246, 257, 312 – St-Germain-des-Prés 226, 227 – Ste-Madeleine 216 – St-Martin-des-Champs 58, 153 – Tour du Temple 259, 302 Parma Baptisterium 167 Passau Dom 227 Paulinzella Benediktinerabtei 55 Pavia – Kartause 307, 309 – Kastell 300 Pelplin Zisterzienserabtei 271 Périgueux Kathedrale 53, 110, 135 Piacenza Dom 293 Pirna Marienkirche 73 Pisa – Baptisterium 115, 163 – Campanile 115 – Campo Santo 115 – Dom |9| 54, 111, 112, 113, 114, 115, 143, 227, 231 – S. Sepolcro 169 – Turmhäuser 112 Poitiers Notre-Dame la Grande 136 Pont-à-Mousson – Brücke und Hospital 286 – ehem. Antoniterkirche 16, 29 Pont du Gard 282 Pontigny Zisterzienserabtei 127 Pontoise Burg 238 Prag 23 – Agneskloster 204 – Altneu-Synagoge |27| 204, 205, 206 – 208 – Altstädter Brückenturm 25 – Emmauskloster 25, 70 – Fronleichnamskapelle 25 – Hradschin, Hofburg 276 – 282 – Judithbrücke 283 – Karlsbrücke |42| 25, 282, 283, 284, 285, 286-287 – Karlshof, Augustinerchorherrenstift 25 – St. Maria im Schnee 25 – Teynkirche 25 – Veitsdom |41| 23, 37, 68, 70–74, 159, 276, 277, 278, 279–282, 284, 290, 291, 294 – Wenzelskapelle 23, 282 – Wladislawsaal 74, 76, 281 Prato Palazzo Pretorio 235
Prenzlau – Marienkirche 69 – Torturm 302 Pritzwalk 302
Qasr al-Mushatta Palast 144 Quedlinburg 297 Qusair al’Amra Palast 42
Raudnitz / Roudnice Elbbrücke 279 Ravenna 42, 79 – S. Apollinare in Classe 46, 47, 48, 49 – S. Vitale 46, 48, 80, 81, 168, 249 Regensburg 227, 239 – Bischofspalast 41 – Dom 63, 196, 287 – Geschlechterturm 245 – Steinerne Brücke 283, 284, 286 – Synagoge 208 Reichenau Benediktinerabtei 131 Reims 20, 31, 39, 81 – Bischofskapelle 193 – Kathedrale |23| 27, 61, 69, 89, 101, 111, 136, 139, 164, 166, 167, 169, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 186, 197, 202, 205, 209, 217, 220, 222, 238, 242, 253, 278 – St-Nicaise 220, 227, 228 – St-Remi 122, 136, 179, 181 Remiremont Damenstiftskirche 167 Riez 167 Rioux Notre-Dame 118 Rodez Kathedrale 224, 279 Roermond 155 Rom 20, 41, 42, 66, 79, 143, 238 – Alt-St. Peter 17, 82, 83, 84, 93, 95, 113, 125, 292 – Pantheon 32, 33, 50, 85, 169 – S. Agnese fuori le mura 121 – S. Clemente 198 – S. Costanza 80 – S. Giovanni in Laterano 82, 145 – S. Lorenzo 80 – S. Maria in Cosmedin 198 – S. Maria Maggiore 94 – S. Maria Rotonda (S. Maria ad Martyres) 33, 84 – S. Paolo fuori le mura 82, 125, 145 – S. Stefano Rotondo 80 – Vatikan 264 Romans-sur-Isère St-Barnard 195, 196 Rostock 331 Rothenburg 299
347 Rouen 296 – St-Ouen 251 Royaumont Zisterzienserabtei 127
St-Denis Abteikirche |17| 13, 28,
33, 42, 52, 57, 58, 63, 68, 143, 146, 162, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 176, 179, 193, 203, 217, 222, 227, 251, 277, 282, 317 St-Germain-en-Laye 193 St-Germer-de-Fly Benediktinerabtei 59 St-Leu-d’Esserent 153 St-Maximin-la-Ste-Baume Ste-Madeleine 216 St-Riquier Benediktinerabtei 43, 89 St-Savin sur Gartempe Benedikti nerabtei 82 Saintes Kathedrale 94 Salem Zisterzienserabtei 15, 16, 35, 39 Salisbury Kathedrale 36, 37 Salzwedel 301, 302 – Franziskanerkirche 216 S. Gimignano Geschlechtertürme 26, 27 St. Arnual (Saarbrücken) Stiftskirche 69 St. Blasien 55 St. Gallen – Benediktinerabtei 131 – Klosterplan 93, 129, 131, 132, 198 Santiago de Compostela Kathedrale |11| 52, 55, 116, 119, 120, 121, 122, 136, 151, 170, 202 Schulpforta 185 Schwäbisch Gmünd Heiligkreuz kirche 71, 72, 272, 280, 281 Segovia – Corpus‑Christi‑Kirche 206 – Hieronymitenkloster El Parral 307 – S. Sepolcro |21| 169, 170, 171 – Synagoge 206 Senlis 190 Sens Kathedrale 95, 150, 161, 162, 166 Sevilla Palast Pedros I. 270 ’s‑Hertogenbosch Sint Jans 251 Sierra Nevada 265 Siena – Dom 231 – Palazzo Pubblico 236, 237, 245 Soest Wiesenkirche 69
Soissons Kathedrale 180 Speyer – Dom |6| 51, 98 – 100, 101, 102 –104, 109, 147, 148, 242, 254 – Mikwe 208 Stablo Abteikirche 121, 125 Stargard St. Maria 274 Steinbach Benediktinerabtei 275 Stendal – Dom 502 – Gertraudenhospital 304 – Marienkirche 302 – Petrikirche 302 – Rathaus 302 – Tangermünder Tor 302 – Uenglinger Tor |46| 299–302, 303, 304 Stettin 302 Stralsund 21 – Marienkirche 271 – Nikolaikirche 271, 274 – Rathaus 74 Straßburg 20 – Jung-St. Peter 69 – Münster |30| 12, 13, 38, 63, 100, 112, 217, 218, 219, 220, 221, 154, 184, 206, 226, 228, 281, 285, 289, 291, 294, 298 Syrakus 140
Tangermünde
– Rathaus 74 – Tor 303 Tarascon Burg 74, 75, 76 Templin Torturm 302 Thessaloniki 45, 90 Thorn / Toru´n Rat- / Kaufhaus 273 Toledo – El Tránsito 206 – Kathedrale 64, 317 – Santa María la Blanca 206 Tomar Templerkirche 171 Tordesillas Klarissenkloster 270 Torres del Río Heiliggrabkirche 170 Toul Kathedrale 39, 65, 167, 176, 181 Toulouse – Kathedrale 224, 279 – St-Sernin 122, 125, 275 Tournai – Belfried 245 – Kathedrale 156, 157, 185 Tournus St-Philibert 128 Tours St-Martin 121 Trebnitz Zisterzienserinnenabtei 46
Treviso S. Nicolò 316 Trient Konzil 195 Trier 20, 33, 39 – Aula Nova / Konstantin-Basilika 49, 82, 83, 102 – Liebfrauenkirche 65, 85, 167, 169, 172 – Neutor 301 – Porta Nigra 41 – St. Irminen 42 – St. Maximin 93 – Römerbrücke 282 Trondheim Nidarosdom 175 Troyes 296 – Kathedrale 153, 184 – St-Urbain 63, 220, 222, 223 Tulln Dominikanerinnenkloster 314
Uhaidir Palast 144 Ulm Münster 294 Uppsala Kathedrale 64 Utrecht Dom 64
Venaissin Grafschaft 262 Venedig 242 – Dogenpalast 68 – SS. Giovanni e Paolo 316 – S. Marco |8| 53, 68, 108, 109, 110, 111, 113, 135, 136, 147 – S. Maria Gloriosa dei Frari 216 Vercelli S. Andrea 64 Verden Dom 71 Verdun Kathedrale 39, 103 Verona 108, 299 Versailles 255 Vézelay Prioratskirche 52, 53, 56, 119 Vianden – Burg(-kapelle) 168, 212 Vincennes Schloss |37| 192, 255, 256, 257, 258, 259, 267 Visby Franziskanerkirche 216, 299 Volterra Palazzo dei Priori 235 Wells Kathedrale 68, 310 Werben Stiftskirche 303 Werden Benediktinerabtei 44, 89 Wien Stephansdom |43| 66, 239, 287, 288, 289, 290, 291 Wienhausen Zisterzienserinnenabtei 199 Wimpfen Stiftskirche 171 Winchester Kathedrale 68, 116, 118, 310
Register der Orte und Bauten
348 Windsor – Schloss, St. George’s Chapel 314 Wismar Liebfrauenkirche 271 Worms – Dom 100, 103
– Mikwe 208 – Synagoge 205, 208 Würzburg – Marienkapelle 205 – Steinerne Brücke 283 – Synagoge 205
York 296
Balduin II. von Courtenay Kaiser
Cellarius Christoph Historiker 11, 17 Chelles Jean de Baumeister (gest. ca. 1265) 220, 226 Chlodwig I. Frankenkönig (gest. 511) 176, 177, 179 Chrodegang Bischof von Metz (gest. 766) 38, 43 Clark Simon Baumeister 312 Clemens V. Papst 262 Clemens VI. Papst (1342 – 1352) 260– 264, 279 Coblenz Isaac 208 Colombe Michel (gest. 1513) 321 Contarini Domenico Doge (reg. 1043 – 1071) 108 Cormont Regnault de Baumeister 226 Cormont Thomas de Baumeister 226 Craft Nikolaus Baumeister 302
– Chapter House 295 – Kathedrale 229 Ypern Belfried 245
Zillis 295
Personenregister Nichtadlige Personen werden mit wenigen Ausnahmen unter ihren Nachnamen aufgeführt, Adlige und kirchliche Würdenträger unter ihren Vornamen. Angesichts der im Mittelalter oft sehr lückenhaften Überlieferung handelt es sich bei vielen der Datierungen um Näherungswerte, bei einigen Personen fehlen Lebensdaten sogar gänzlich.
Adalbert Heiliger 285 Adalhard Abt von Corvey (gest. 826) 86 Adenauer Konrad (1876 – 1967) 176 Adolf von Nassau (gest. 1298) 100 Albrecht von Habsburg (1255 – 1308) 100 Alfons III. König von Asturien (gest. 910) 120 Alfons VI. König von Kastilien (1040 – 1109) 125 Alfons von Kastilien (gest. 1468) 309 Altdorfer Albrecht 208 Andreas Apostel 110, 322 Angilbert Hofkaplan Karls des Großen 43 Anjou westfranzösisches Grafen geschlecht 64, 66, 74 142, 258, 315 Anna von Byzanz (gest. ca. 914) 97 Anselm von Canterbury Erzbischof von Canterbury (gest. 1109) 162, 163 Antonius Heiliger 306 Arnaud de Via Kardinal (gest. 1335) 262 Arras Matthias von Baumeister (gest. 1352) 37, 278 Aubri de Humbert Erzbischof von Reims (1207 – 1218) 226 Augustinus Heiliger, Kirchenvater (gest. 430) 130 Avignon Guillaume d’ Baumeister 279 Avis portug. Königsdynastie (1383 – 1580) 317
Anhang
des Lateinischen Kaiserreichs (1217 – 1272) 192 Basileios II. byz. Kaiser (958 – 1025) 97 Basilius Kirchenlehrer (gest. 379) 307 Beaufort engl. Adelsgeschlecht (14. – 15. Jh.) 312 Becket Thomas (1118 – 1170) 162 Belges Jean Lemaire de Hofdichter (gest. 1515) 321 Benedikt von Aniane Reformabt (gest. 821) 131 Benedikt von Nursia (gest. 547) 39, 125, 126, 130–133 Benedikt XII. Papst (1334 – 1342) 260–264 Berg, Grafen von 40 Bernhard von Clairvaux (gest. 1153) 40, 125, 127 Bernward Bischof von Hildesheim (reg. 993 – 1022) 44, 92–94, 96 Böblinger süddeutsche Baumeister dynastie (15. – 16. Jh.) 229 Boghem Louis van Baumeister (1470 – 1540) 321–323 Bonanno Bronzegießer 145 Bonaventure Nicolas de Baumeister 294 Bonifatius Heiliger 43 Boytaca Diogo Baumeister (gest. ca. 1528) 318 Brunelleschi Filippo Bildhauer, Baumeister (1377 – 1446) 233 Bruno Heiliger (gest. 1101) 304 Busketus Baumeister (gest. ca. 1116) 114, 115
Cambio Arnolfo di Bildhauer,
aumeister (gest. ca. 1310) 232, B 233 da Campione ital. Bildhauerfamilie (14. Jh.) 294 Canterbury Gervasius von Chronist (gest. ca. 1210) 160–162, 184, 185, 190
Daedalus/Daidalos 114, 115, 226 Dagobert Erzbischof von Pisa (reg. 1088 – 1099) 112 David König 30 Deschamps Jean Baumeister 14, 224, 226 Diokletian röm. Kaiser (gest. 313) 238 Dionysius Heiliger 57, 147, 301 Dionysius Areopagita (6. Jh.) 57 Domingues Alfonso Baumeister (gest. 1402) 316 Dominikus Heiliger (gest. 1221) 213 Dotzinger Jost Straßburger Dombaumeister 290 Duarte I. König von Portugal (reg. 1433 – 1438) 318 Durandus Wilhelm Bischof von Mende (gest. 1296) 198
Edward IV. König von England
(1442 – 1483) 312 Einhard Kleriker und Biograph Karls des Großen (gest. 840) 275 Eleutherius Heiliger 301
349 Elisabeth von Pommern (1347 – 1393) 285 Elisabeth von Thüringen Heilige (1207 – 1231) 209 Ely Reginald von Baumeister 312 Enguerrand III. de Coucy (gest. 1243) 187 Ensingen Ulrich von Baumeister (gest. 1412) 294 Ensinger süddeutsche Baumeister dynastie (14. – 15. Jh.) 229 Ernst von Bayern Herzog von Bayern-München (1373 – 1438) 285 Eseler süddeutsche Baumeister dynastie (15. Jh.) 229 Eucharius Heiliger 301 Evrard de Fouilloy Bischof von Amiens (reg. 1211 – 1222) 226
Fauran Jacques de Baumeister 229 Ferdinand II. von Aragón (1452 – 1516) 266 Fernach Johann von Steinmetz 229 Fouquet Jean (gest. ca. 1481) 286, 301 Franz von Assisi Heiliger (gest. 1226) 40, 213 Friedrich II. Kaiser des Hl. Röm. Reiches (1194 – 1250) 284 Friedrich Wilhelm III. König von reußen (reg. 1797 – 1840) 13 P
Gaulle Charles de (1890 – 1970) 176 Geoffrey Ridel Bischof von Ely (gest. 1189) 118 Germinianus Bischof von Modena (4. Jh.) 104 Ghiberti Lorenzo Bildhauer (gest. 1455) 233 Gil de Albornoz Kardinal (gest. 1367) 317 Giotto di Bondone Maler (gest. 1337) 233, 251 Giovanetti Matteo Maler (gest. 1368) 263 Girard II. Bischof von Angoulême (reg. 1101 – 1136) 135 Gloucester John of Baumeister (gest. 1260) 227 Goethe Johann Wolfgang von 13 Gregor VII. Papst (gest. 1085) 105 Hadrian röm. Kaiser (gest. 138) 85 Hadrian II. Papst (gest. 872) 79 Haimo Abt von St-Pierre-sur-Dives 183
Hans (von Köln, ‚Juan de Colonia‘) Baumeister 308 Heinrich der Löwe Herzog von Sachsen und Bayern (gest. 1190) 46, 212 Heinrich von Finstingen/ Fénétrange Erzbischof von Trier (reg. 1260 – 1286) 69 Heinrich I. Kaiser des Hl. Röm. Reiches (gest. 936) 15, 93, 103 Heinrich I. König von England (gest. 1135) 125 Heinrich I. Landgraf von Hessen (1244 – 1308) 209, 213 Heinrich II. Kaiser des Hl. Röm. Reiches (gest. 1024) 78, 100 Heinrich II. König von England (gest. 1189) 140, 159 Heinrich III. Kaiser des Hl. Röm. R eiches (gest. 1056) 100 Heinrich III. König von England (1207 – 1272) 191 Heinrich IV. Kaiser des Hl. Röm. Reiches (gest. 1106) 100, 102 Heinrich V. Kaiser des Hl. Röm. Reiches (gest. 1125) 100 Heinrich VI. König von England (1422 – 1471) 310–314 Heinrich VI. von Luxemburg Kaiser des Hl. Röm. Reiches (1240 – 1288) 277 Heinrich VII. König von England (1485 – 1509) 312–314 Heinrich VIII. König von England (1509 – 1547) 312 Helena Mutter Kaiser Konstantins (gest. um 330) 30, 33 Henri de Sully Erzbischof von Bourges (1183 – 1200) 164 Honnecourt Villard de 66, 179, 182, 184, 225, 228 Hugo von Avallon Bischof von Lincoln (1186 – 1200) 172 Hugo von Semur Abt von Cluny (1049 – 1109) 125 Huguet Baumeister von Batalha (tätig von 1402 – 38) 316–318
Ida Äbtissin (gest. ca. 1060) 155 Ilkhamiden iranisches Herrscher geschlecht 270 Innozenz IV. Papst (gest. 1254) 191 Isabella von Portugal (1428 – 1496) 304 Ismail I. Begründer der Safawiden- Dynastie (1314 – 1325) 267 Itier Archambaud Domkanoniker (gest. 1125) 135
Jakobus d. Ä. Apostel 119–121 Jaroslaw Großfürst von Kiew (reg. 1019 – 1054) 96–98 Jean de Jandun Theologe (gest. 1328) 190 João I. König von Portugal (1385 – 1433) 315–318 Johann III. Herzog von Straubing- Holland (1374 – 1425) 227 Johann der Blinde König von Böhmen (1310 – 1346) 277 Johann der Gute König von Frankreich (1319 – 1364) 256 Johann (von Freiburg) Baumeister 294 Johannes Cassianius 130 Johannes der Täufer 130 Johannes XXII. Papst (gest. 1334) 262 Jones Owen (1809 – 1874) 270 Juan II. König von Kastilien (1406 – 1454) 304, 321 Justinian I. byz. Kaiser (gest. 565) 47, 49, 110
Karl der Große Kaiser (gest. 814) 19,
42–44, 46, 70, 77–79, 86, 106, 108, 111, 168, 225, 275, 283 Karl der Kühne Herzog von Burgund (1433 – 1477) 321 Karl von Anjou Herzog von Kalabrien (gest. 1328) 250 Karl IV. Kaiser des Hl. Röm. Reiches (1316 – 1378) 23, 66, 70, 264, 276– 285, 289, 290, 301 Karl V. König von Frankreich (1338 – 1380) 255, 256, 301 Kasimir König von Polen (1333 – 1370) 25 Katharina von Böhmen (1342 – 1395) 290 Keldermans niederl. Baumeister dynastie (14. – 16. Jh.) 229 Konrad von Hochstaden Erzbischof von Köln (gest. 1261) 200 Konrad II. Kaiser des Hl. Röm. Reiches (990 – 1039) 51, 100, 102 Konstantin der Große röm. Kaiser (gest. 337) 17, 30, 31, 33, 40, 49, 82, 121, 169 Krumenauer Hans Baumeister (gest. 1410) 227
Lanfrancus Baumeister 105 Lanfrank Erzbischof von Canterbury (1070 – 1089) 162 Leo III. Papst (gest. 816) 77
Personenregister
350 Libergier Hugues Baumeister (gest. 1263) 227, 228 Lips Konstantinos (gest. 917) 90 Lorenzetti Ambrogio Maler (1290 – 1348) 237 Louis d’Anjou (1274 – 1297) 249 Loup Jean le Baumeister 226 Louvres Jean de Baumeister 202 Ludwig der Fromme Kaiser (778 – 840) 86 Ludwig VI. König von Frankreich (1081 – 1137) 57 Ludwig VII. König von Frankreich (1120 – 1180) 57 Ludwig VIII. König von Frankreich (1187 – 1226) 187 Ludwig IX., der Heilige König von Frankreich (1214 – 1270) 192, 221, 258, 277 Ludwig XI. König von Frankreich (1423 – 1483) Lukas Apostel 110 Luna Alvaro de (gest. 1453) 317 Luzarches Robert de Baumeister (gest. 1222) 194, 226
Manuel I. König von Portugal
(1469 – 1521) 318 Margarete von Bourbon (1438 – 1483) 319 Margarete von Österreich (1480 – 1530) 319–323 Margarethe Heilige 321 Maria von Durazzo 250 Markus Evangelist 108 Martin von Tours Bischof von Tours (gest. 397) 130 Martini Simone Maler (1284 – 1344) 237, 262 Mathilde von Flandern (gest. 1083) 146, 147 Mathilde von Tuszien (gest. 1115) 104 Maximilian I. Kaiser des Hl. Röm. Reiches 319, 321 Medici ital. Dynastie 234 Meister der Darmstädter Passion 30 Meister Gerhard / Magister Gerardus (gest. ca. 1271) 200, 225 Meister Wolbero Baumeister 225 Meit Konrad Bildhauer (gest. 1551) 319 Metz Odo von Baumeister 77, 225 Michael Erzengel 93
Anhang
Michelangelo Buonarroti (1475 – 1564) 234 Mignot Jean Maler 294, 295 Minos König 227 Minotaurus 227 Montagut Berenguer de Baumeister 254 Montreuil Pierre de Baumeister (gest. 1267) 194, 220, 226, 227 Muhammed V. Nasridenherrscher (1338 – 1391) 267
Napoleon frz. Kaiser (1769 – 1821) 12,
Philibert II., der Schöne Herzog von Savoyen (1480 – 1504) 319, 321 Philipp I., der Schöne König von Kastilien (1478 – 1506) 321 Philipp IV. König von Frankreich (1268 – 1314) 262 Philipp VI. König von Frankreich (1293 – 1350) 256, 258 Philippe II. Auguste König von Frankreich (1165 – 1223) 187, 190 Pippin der Jüngere König der Franken (gest. 768) 77 Pizan Christine de (gest. 1430) 255, 256, 258 Poisson Pierre Baumeister 262 Prˇemysliden ostmitteleuropäisches Herrschergeschlecht (Ende 9. – 14. Jh.) 204, 284, 285
79, 201 Nasriden muslimische Dynastie des Emirats von Granada (13. – 15. Jh.) 265–270 Nicasius Bischof von Reims (gest. ca. 451) 180 Nimrod König 183 Noiers Gaufrido de Baumeister 172–175
Reims Gaucher de Baumeister 226
Odysseus 88, 115
Remigius Bischof von Reims (gest. 533) 180
Rainald von Dassel Erzbischof von Köln (gest. 1167) 202
Orbais Jean d’ Baumeister 226 Otlin Baumeister (?) 284 Otto I., der Große Kaiser des Hl. Röm. Reiches (912 – 973) 15, 42, 103, 197 Otto II. Kaiser des Hl. Röm. Reiches (955 – 983) 15, 45, 155 Otto III. Kaiser des Hl. Röm. Reiches (980 – 1002) 93 Ottokar II. König von Böhmen (1232 – 1278) 204, 206, 276 Ovid Dichter (43 v. Chr. – 17 n. Chr.) 191
René d’Anjou (1409 – 1480) 74, 75, 132
Pachomius Gründer der ersten christ lichen Klöster 307 Palladio Andrea (1508 – 1580) 117, 296 Parler süddeutsche Baumeister dynastie (14. Jh.) 229, 294 Parler Heinrich Baumeister (gest. ca. 1370) 71, 280 Parler Peter Baumeister (gest. 1399) 14, 23, 68, 71, 72, 159, 279–281, 284, 294 Paulus Apostel 57 Perrat Pierre Baumeister (gest. 1400) 229 Perréal Jean Maler, Baumeister (1450 – 1530) 321 Petrus Apostel 82, 301 Petrus Venerabilis Abt von Cluny (gest. 1156) 306
Roritzer Matthäus Baumeister (gest. ca. 1492) 225
Richard Löwenherz König von England (1157 – 1199) 190 Ried Benedikt Baumeister (gest. 1534) 281 Robert d’Anjou König von Neapel (1278 – 1343) 248–250 Robert von Molesme (gest. 1111) 126 Roger II. König von Sizilien (1095 – 1154) 140, 144 Roritzer Baumeisterdynastie (15. – 16. Jh.) 229
Rudolf von Habsburg (1218 – 1291) 100 Rudolf IV. Herzog von Österreich (1339 – 1365) 289, 290 Rusticus Heiliger 301
Samson de Mauvoisin Erzbischof von Reims (gest. 1161) 179
Sancia von Mallorca (1286 – 1345) 248 Schedel Hartmut Verleger 300 Schinkel Karl Friedrich Baumeister (1781 – 1841) 12, 14, 200 Schmuttermayer Hans Baumeister 225 Sens Wilhelm von Baumeister 37, 160–163, 190 Sigismund Heiliger (gest. 524) 285
351 Siloé Gil de Bildhauer (gest. 1501) 309 Simeon Abt von Ely (1081 – 1093) 115, 118 Skylla Meeresungeheuer 88 Soissons Bernard de Baumeister 220 Sophie von Brabant (gest. 1275) 209 Spenning Laurenz Wiener Dom baumeister (gest. 1477) 290 Staufer schwäb. Adelsgeschlecht (12./13. Jh.) 210, 211 Steinbach Erwin von Baumeister (gest. 1318) 13, 226 Stornaloco Gabriele Mathematiker (14. Jh.) 294, 295 Suger Abt von St-Denis (gest. 1151) 42, 57, 143, 149–154, 222, 238 Swantopolk II. Herzog von P ommerellen (gest. 1266) 271
Talenti Francesco Baumeister
(gest. 1369) 232 Theoderich der Große König der Ostgoten (gest. 526) 47 Theophanu Kaiserin des Hl. Röm. Reiches (960 – 991) 45 Timotheus Apostel 110
Tudor engl. Herrschergeschlecht (15. – 17. Jh.) 312
Wenzel IV. König von Böhmen (1378 – 1419) 284, 285
Ungeradin Heinrich Maurermeister
Westfalen Arnold von Baumeister 75, 273
Urban IV. Papst (gest. 1264) 63, 220, 221
Wilhelm der Eroberer König von England (1028 – 1087) 118, 146, 147, 162
Valois frz. Herrscherdynastie
Wilhelm I., der Fromme Herzog von Aquitanien (gest. 918) 124
Varinfroy Gautier de Baumeister 229
Wilhelm II. König von Sizilien (gest. 1189) 140, 143, 144
Vasari Giorgio Baumeister, Maler (1511 – 1574) 15
Wilhelm II. deutscher Kaiser (1859 – 1941) 79
Veit Heiliger 284
Wilhelmus Bildhauer 104
Viollet-le-Duc Eugène-Emmanuel Architekt (1814 – 1879) 13, 14, 147
William of Wykeham Bischof von W inchester (gest. 1404) 310
Visconti Gian Galeazzo Herzog von Mailand (1351 – 1402) 291, 309
William the Englishman Baumeister 163
Vitruv Architekturtheoretiker (1. Jh. v. Chr.) 84, 225, 297
Wladimir I. Fürst von Kiew (gest. 1015) 96, 97
(14. Jh.) 272
(14. – 16. Jh.) 321
Wala Abt von Corbie (gest. 836) 86 Walkelin Bischof von Winchester (reg. 1070 – 1098) 118 Wastell John Baumeister (gest. ca. 1515) 312
Woolryche John Baumeister 312
Yusuf I. Nasridenherrscher (1318 – 1354) 267
Zamrak Ibn Wesir (gest. 1393) 269
Personenregister
352
Abbildungsnachweis Aceto, Francesco / Andoloro, Maria (Hgg.): Chantiers médiévaux, Saint-Léger-Vauban 1996: Abb. 118 akg-images: Abb. 61, 85 akg /Bildarchiv Monheim: Abb. 30, 36, 76, 160 akg‑Images /Erich Lessing: Abb. 11, 129 akg‑Images /Hervé Champollion: Abb. 26 akg‑Images /Paul M. R. Maeyaert: Abb. 73 akg‑Images /R. u. S. Michaud: Abb. 19 Allain, Yves-Marie: L’art des jardins en Europe, Paris 2006: Abb. 138 Amandi, M.: Il Duomo di Modena, Modena 1985: Abb. 59 Archiv des Verlages: Abb. 54, 62, 68, 146 Ausst.-Kat.: L’Europe des Anjou, Aventure des princes angevins, Paris 2001: Abb. 131 Ausst.-Kat.: Les bâtisseurs des cathédrales, Strasbourg 1989: Abb. 116a Avril, François (Hg.): Jean Fouquet: die Bilder der Grandes Chroniques de France, Graz 1987: Abb. 156 Azevedo, Carlos de / Brummel, Chester: Igrejas de Portugal, New York 1985: Abb. 159, 163 Back, Ulrich: Die Baugeschichte des Kölner Domes nach archäologischen Quellen: Befunde und Funde aus der gotischen Bauzeit, Köln 2008: Abb. 107 Barrucand, Marianne: Maurische Architektur in Andalusien, Köln 2002: Abb. 140 Bednorz, Achim: Abb. 6, 12, 14, 22, 23, 24, 27, 28, 32, 37, 49, 56, 64, 65, 67, 74, 75, 87, 93, 108, 121, 123, 124, 127, 132, 145,151 Binding, Günther: Der mittelalterliche Baubetrieb nördlich der Alpen in zeitgenössischen Darstellungen, Darmstadt 1978: Abb. 99 Binding, Günther: Was ist Gotik?, Darmstadt 2000: Abb. 81 Binding, Günther: Planen und Bauen im frühen und hohen Mittelalter, Darmstadt 2003: Abb. 71 Bonnet-Laborderie, Philippe: Les prémières cathédrales de Beauvais, Paris 2006: Abb. 25 Borngässer-Klein, Barbara / Hilbich, Markus: 2000 Jahre Bauen in Deutschland, Darmstadt 1993: Abb. 46 Brachmann, Andreas: Abb. 4, 41, 100, 126, 158, 164 Brachmann, Christoph: Abb. 5 Brachmann, Christoph: Gotische Architektur in Metz, Berlin 1998: Abb. 97 Buran, Dušan (Hg.): Gotika – Dejiny Slovenskeho Vytvameho Umenia, Bratislava 2003: Abb. 34 Burian, Jirˇi: Der Veitsdom auf der Prager Burg, Prag 1979: Abb. 144 Chapelot, Jean: Le château de Vincennes. Une résidence royale au Moyen Age, Paris 2001: Abb. 135 La Collégiale de St-Barnard Romans, Romans-sur-Isère 2000: Abb. 105 Conant, Kenneth John: Cluny. Les églises et la maison du chef d’ordre, Cambridge MA 1968: Abb. 69 Cook, G. H.: Portrait of Canterbury Cathedral, London 1949: Abb. 86 Corvisier, Christian: Le château de Coucy et l’enceinte de la ville, Paris 2008: Abb. 101 Crippa, Maria / Zibawi, Mahmoud: L’art paléochretien, Paris 1998: Abb. 17 Dehio, Georg / Bezold, Gustav v on: Kirchliche Baukunst des Abendlandes, Stuttgart 1887–1901: Abb. 43 Die Denkmalpflege 1902: Abb. 110 Dijon, Musée de la Vie Bourguignonne Perrin du Puycousin: Abb. 125 Drost, Willi: Die Marienkirche in Danzig und ihre Kunstschätze, Stuttgart 1963: Abb. 141, 142
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Lempp, Rudolf: Das alte Rathaus in Esslingen, Esslingen 1926: Abb. 153, 154 Mango, Cyril: Byzantinische Architektur, Stuttgart 1975: Abb. 52 Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin: Abb. 1, 9, 16, 18 Musset, Lucien: Normandie Romane, Bd. I, Paris 1967: Abb. 78 Nußbaum, Norbert: Deutsche Kirchenbaukunst der Gotik. Entwicklung und Bauformen, Köln 1985: Abb. 149 Nußbaum, Norbert / Lepsky, Sabine: Das gotische Gewölbe, München / Berlin 1999: Abb. 42, 94, 95, 161 Peroni, Adriano: Il Duomo di Pisa, Bd. 2, Pisa 1995: Abb. 63 Pérouse de Montclos, Jean-Marie: Paris city of art, New York, 2003: Abb. 104, 134 Poiret, Marie-Françoise: Le monastère royal de Brou, Paris 2000: Abb. 165 Recht, Roland / Châtelet, Albert: Ausklang des Mittelalters, München 1989: Abb. 162 Ronig, Franz: Die Liebfrauen-Basilika zu Trier, Passau 1996: Abb. 33 Rossi, Guido Alberto (picture alliance / CHROM ORANGE): France, Centre, Loches, Luftaufnahme: Abb. 20 Rücker, Elisabeth: Hartmann Schedels Weltchronik, Das größte Buchunternehmen der Dürer-Zeit, München 1988: Abb. 155 Schenkluhn, Wolfgang: Architektur der Bettelorden: die Baukunst der Dominikaner und Franziskaner in Europa, Darmstadt 2000: Abb. 113 Schütz, Bernhard: Deutsche Romanik. Die Kirchenbauten der Kaiser, Bischöfe und Klöster, Freiburg 1990: Abb. 57, 90 Schütz, Bernhard: Klöster: Kulturerbe Europas, München 2004: Abb. 70, 79 Stalley, Roger: Early Medieval Architecture, Oxford 1999: Abb. 92, 109 Stierlin, Henri: Imperium Romanum. Von den Etruskern bis zum Untergang, Köln 2002: Abb. 10 Stoffel, Arnulf: Marburger Schloss, Luftaufnahme: Abb. 111 Suckale, Robert: Kunst in Deutschland. Von Karl dem Großen bis heute, Köln 1998: Abb. 44, 72 Tarin y Juaneda, Francisco: La real Cartuja de Miraflores, Burgos 1897: Abb. 158 Theis, Lioba: Flankenräume im mittelbyzantinischen Kirchenbau, Wiesbaden 2005: Abb. 50, 51 Toman, Rolf: Die Kunst der Romanik, Köln 1996: Abb. 60, 66 La cathédrale Notre-Dame de Tournai et son trésor, hg. v. Jean Dumoulin u. Jacques Pycke, Tournai 1988: Abb. 84 Turner, A. Richard: The Art of Florence, London 1988: Abb. 122 UNC Chapel Hill Art Department Visual Resources: Abb. 114 Untermann, Matthias: Architektur im frühen Mittelalter, Darmstadt 2006: Abb. 48 Wedel, Carola: Die neue Museumsinsel, Berlin 2002: Abb. 3 Weilandt, Gerhard: Die Sebalduskirche in Nürnberg: Bild und Gesellschaft im Zeitalter der Gotik und Renaissance, Petersberg 2007: Abb. 8, 38, 39 Trotz sorgfältiger Recherche ist es nicht immer möglich, die Inhaber von Urheberrechten zu ermitteln. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Verein barungen abgeglichen.
Anhang
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24.04.18 16:11
Christoph Brachmann ist Mary H. Cain Distinguished Professor of Art History an der University of North Carolina at Chapel Hill, USA. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Kunstgeschichte sowie der Architektur der Moderne.
Das Mittelalter
Im Zentrum dieses Bandes stehen 50 Schlüsselwerke der mittelalterlichen Baukunst aus ganz Europa, von der Pfalzkapelle in Aachen über die Kathedrale von Reims bis zur Karlsbrücke in Prag. Die eingehende Beschreibung dieser kanonischen Bauten zeichnet die Entwicklung der Architektur von der Karolingerzeit bis ca. 1500 in ihrem jeweiligen kulturellen, religiösen und politischen Zusammenhang nach. Einzelne Beispiele schärfen zudem das Bewusstsein für den Austausch mit außerhalb des westlichen Abend landes gelegenen Kulturräumen. Themenblöcke widmen sich den antiken Vorgaben, der Rolle des Architekten, der Bauorganisation, Steinbearbeitung und Backsteinbau, dem Klosterschema oder Liturgie und Kirchenausstattung.
Christoph Brachmann
Frömmigkeit und Fürstenhöfe
Das Mittelalter
wbg Architekturgeschichte
Christoph Brachmann
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27023-1
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Dr. Meinrad von Engelberg lehrt Kunstgeschichte an der Tech nischen Universität Darmstadt und koordiniert den Studiengang Architektur. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Architektur der Frühen Neuzeit.
Meinrad von Engelberg
St. Peter in Rom, Schloss Versailles und die Würzburger Residenz sind nur einige Höhepunkte der frühneuzeitlichen Baukunst. Dieser Band bietet einen profunden Überblick zur europäischen Architekturgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Beginn der Moderne. Anhand von 50 beispielhaften Bauten, die als Schlüssel werke gelten, wird die Vielfalt der Baukunst zwischen Reformation und Revolution, Renaissance und Klassizis mus verständlich gemacht. Eine ausführliche Einführung zeichnet die historische Entwicklung nach und erhellt die kulturellen, theoretischen und politischen Kontexte. Die Bedeutung von Künstlern und Auftraggebern, Archi tekturtheorie und Baupraxis wird ausführlich gewürdigt. Zeittafel, Glossar und Register schaffen Übersicht und erleichtern die gezielte Suche sowie das Verständnis für Zusammenhänge.
Die Neuzeit
Bauen als Botschaft
Die Neuzeit
wbg Architekturgeschichte
Meinrad von Engelberg
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27023-1
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wbg Architekturgeschichte Herausgegeben von Christian Freigang
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Meinrad v. Engelberg
Die Neuzeit 1450 – 1800 Ordnung – Erfindung – Repräsentation
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www. dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Academic ist ein Imprint der wbg. Sonderausgabe 2018 (2., unveränderte Auflage) © 2013 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Redaktion: Barbara M. Eggert, Berlin Layout und Satz: schreiberVIS, Seeheim Einbandgestaltung: Harald Braun, Berlin Einbandabbildung: Wien, Teilansicht der Karlskirche. © akg‑images / Imagno / Gerhart Trumler Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27023-1 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73261-6 eBook (epub): 978-3-534-73262-2
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Vorbemerkung zur Neuauflage Überblickswerke haben – selbst wenn dies im Zeichen der Nachmoderne anachronistische Züge zeigen kann – immer etwas mit Kanonisierung zu tun: Ein bestimmter Blick auf einen Gegenstand soll in praktische, lehrreiche, informative, hoffentlich originelle Form gegossen werden. Die Autoren dieser Buchreihe waren sich dieser Herausforderung schon 2013 bei der ersten Auflage bewusst. Die Nachfrage hat aber gezeigt, dass durchaus Interesse und Bedarf an diesem Versuch besteht, einen bestimmten, individuellen Zugang zu über 1000 Jahren Architekturgeschichte zu eröffnen. Wir freuen uns daher, wenn diese Sonderausgabe der anhaltenden Nachfrage entgegenkommt. Berlin, Chapel Hill und Darmstadt 2018
Vorwort des Herausgebers Die WBG Architekturgeschichte umfasst drei Bände und erläutert kompakt die bedeutendsten Entwicklungen, Hauptthemen und wesentliche Schlüsselwerke des Bauens ab ca. 800 bis heute in Europa und ausgewählten weiteren Gebieten. Der erste Band („Klöster – Kathedralen – Burgen“) umfasst das Mittelalter bis ca. 1500, der zweite („Ordnung – Erfindung – Repräsentation“) behandelt die Architektur der Neuzeit von 1450 bis 1800, also Renaissance und Barock, der dritte ist einer ‚langen‘ Moderne, also der Epoche von der Französischen Revolution bis heute, gewidmet („Baukunst – Technik – Gesellschaft“). Die Epochenschwellen – um 1500 bzw. um 1800 – folgen einer lange bestehenden und gut begründeten Einteilung der europäischen Architekturgeschichte: Vor der Neuentdeckung der antiken Säulengrammatik, dem sog. Vitruvianismus, im 15. Jahrhundert und vor der gleichzeitigen Erfindung des massenhaften Bilddrucks war das Bauen grundsätzlich anders: eine virtuos gehandhabte Technik im Dienst von Liturgie und Ritual, Verteidigung und Verkehr. Danach, im vitruvianischen Zeitalter, wurde das Bauen zu einer rhetorisch-künstlerischen Sprache, die vermittels eines universellen Kanons verstanden und bewertet sein wollte. Dies wiederum änderte sich seit 1800 in grundlegender Weise: Architektur sollte nunmehr (auch) unmittelbar wirken oder aber vielfältig ältere Stile abrufen oder neue Bautechniken gestalterisch steigern; der Vitruvianismus unterliegt seither einer grundlegenden Verdammung oder zumindest Revision. In jedem Band bildet die exemplarische Darstellung von jeweils 50 besonders signifikant erscheinenden, realisierten und erhaltenen Ensembles den Schwerpunkt. Das stellt sicherlich eine knappe Auswahl berühmter und
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auch weniger bekannter Bauten dar, ein kleiner Ausschnitt aus der immensen Geschichte des Bauens. Doch geht es darum, die faszinierende Vielzahl der Kriterien, aus denen Architektur entstanden ist und entsteht, an konkreten Gebäuden, weniger an theoretischen Entwürfen, zu erfahren. Bauen heißt im Gegensatz zu den anderen Künsten immer, in die Erde einzugreifen, mit der Schwere der Materialien richtig umzugehen, auf gesellschaftliche und politische Gegebenheiten zu reagieren und nicht zuletzt: omnipräsent zu sein, unübersehbar, wunderschön oder auch störend und beunruhigend, der Pflege wie der Kommentierung bedürftig. Das ist die Besonderheit von Architektur als kulturellem Faktor, und deswegen bilden hier hauptsächlich konkrete Bauten den Ausgangspunkt, Bauten, an denen beispielhaft größere und theoretische Zusammenhänge erläutert werden: Was etwa sind die Vorteile des Spitzbogens, warum benötigt ein Herrscher ein Schloss, kann und soll Architektur ‚sprechen‘, in welchem Zusammenhang können Philosophie und Architektur stehen? Die Beschreibung der Schlüsselwerke folgt prinzipiell einer chronologischen Ordnung, ohne dass beabsichtigt ist, hier eine kontinuierliche Entwicklungsgeschichte in allen Verästelungen vorzulegen. Deren Grundzüge sind gleichwohl in einem eigenen Kapitel ausgeführt, ebenso wie Erläuterungen zu essentiellen Themen der Architekturtheorie sowie zur Entwicklung der Erforschung der Architekturgeschichte. Wichtige Einzelthemen, zum Beispiel zur Bautechnik, den Säulenordnungen, der Architektenausbildung, zu Baugattungen und Vermittlungsmedien sind in separaten Themenblöcken dargestellt. Querverweise sorgen dafür, dass sich die Kenntnisse vertiefen und erweitern lassen. Die Texte können also auch auswahlweise und springend gelesen werden. Literaturverweise ermöglichen es, weiteres zu den Themen in Erfahrung zu bringen. Zeittafel und Register tragen zur praktischen Benutzbarkeit der Bände bei. Die Absicht der Autoren, allesamt Hochschullehrer im Bereich der Architekturgeschichte, ist es, nicht Altbekanntes vorzutragen, sondern neuere Erkenntnisse in ihre Texte einfließen zu lassen. Insofern beansprucht die WBG Architekturgeschichte, ein faszinierendes Thema aktuell und angemessen übergreifend zu überblicken: Intensiv, ohne zu überborden; vielfältig, ohne beliebig zu sein; unterhaltsam, ohne ins Oberflächliche zu gleiten; originell, ohne Einseitigkeit zu forcieren; didaktisch, ohne belehrend zu wirken. Sie wendet sich an alle, die an der Geschichte der Architektur interessiert sind oder beruflich mit ihr zu tun haben.
Berlin, im Mai 2013 Christian Freigang
Vorwort des Herausgebers
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Inhalt Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Von Büchern und Bauten: Das Vitruvianische Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Ordnung, Erfindung, Repräsentation: Bauen als Botschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Drei Wege durchs Labyrinth: Zum Konzept des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
II. Grundzüge der Architekturgeschichte in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Von der ‚Renaissance‘ zur ‚Revolution‘: Dem Wandel einen Namen geben . . . . . . . . . . . . . 23 Die Szene ausleuchten: Fragestellungen und Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Repräsentation: Architektur als Medium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Ordnung: Maßstab und Ideal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Erfindung: Individualität und Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
III. Schlüsselwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 |1| Das Findelhaus in Florenz: Der Gründungsbau der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Themenblock · Säulenordnungen: Dekorum, Norm und Dekoration . . . . . . . . . . . 98
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S. Lorenzo in Florenz: Die Wiedergeburt der Basilika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 S. Andrea in Mantua: Wandpfeilerkirche und ‚Etruskischer Tempel‘ . . . . . . . . . . . . . . 105 Palazzo Pitti und Boboli-Garten in Florenz: Palazzo in Villa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Palazzo del Te in Mantua: Manierismus und Antikenevokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Bramantes Tempietto in Rom: Zentralbau all’antica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Wladislawsaal und Belvedere auf der Prager Burg: Deutsche und welsche Sitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
|8| Schloss Chambord an der Loire: Architektur als Imprese
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
Themenblock · Schlossbau: Raumfolge, Zeremoniell, Funktionen . . . . . . . . . . . . . 131 | | 9 San Lorenzo de El Escorial: Der allerkatholischste Klosterpalast . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 |10| Schloss Frederiksborg bei Hillerød: Von der Wasserburg zum Königsschloss . . . . . . 136
8
| 11| St-Eustache in Paris: Resistance und Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 | 12| St. Michael in München: Rom in Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 | 13| Stadt und Kirche Freudenstadt: Idealentwurf und Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Themenblock · Festungsbau: Von Leonardo bis Vauban . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
|14| Die Basilius-Kathedrale in Moskau: Variationen über ein
altrussisches Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
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Die Süleymaniye-Moschee in Istanbul: Renaissance am Bosporus . . . . . . . . . . . . . . . 157 Der Markusplatz in Venedig: Das Stadtbild als Staatsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 S. Giorgio Maggiore in Venedig: Die Kirche als Tempel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Villa Rotonda bei Vicenza: Das Landhaus als Pantheon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Themenblock · Theater: Eine Baugattung wird erfunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
| 19| Palazzo Farnese in Rom: Der perfekte Renaissancepalast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 | 20| Das Kapitol in Rom: Der ‚Nabel der Welt‘ wird erneuert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 |21| St. Peter in Rom I: Zentralbau versus Langbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Themenblock · Berufsbilder: Baumeister, Ingenieur und Architekt . . . . . . . . . . . . 190
| 22| Il Gesù in Rom: Die Erfindung der Barockkirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 | 23| S. Ivo alla Sapienza in Rom: Göttliche Weisheit und künstlerische Lizenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
| 24| S. Lorenzo in Turin: Glaube und Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 | 25| St. Peter in Rom II: Petersplatz und Baldachin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Themenblock · Zeichnung, Druckgrafik und Modell als Entwurfs- und Kommunikationsmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
| 26| Piazza Navona in Rom: Stadtbaukunst als Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 | 27| Scalinata di Spagna in Rom: Die Treppe als Platz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Themenblock · Ephemere und illusionistische Architektur: Für Zeit und Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
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Kathedrale und Palast von Granada: Renaissance und Reconquista . . . . . . . . . . . . . . 223 Die Wallfahrtskirche von Ocotlán: Kolonisation und Transkulturalität . . . . . . . . . . . . . 227 Das Pellerhaus in Nürnberg: Kaufmannsstolz und Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Das Rathaus von Antwerpen: Renaissance auf Flämisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
Themenblock · Bürger bauen: Zwischen Fleischhalle und Zeughaus . . . . . . . . . . 238 | 32| Das Rathaus von Amsterdam: Palast der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 |33| Die Stadtanlage von Amsterdam: Der Bürger als Stadtgestalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Themenblock · Städtebau: Schönheit der Regelmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
| 34| Die Stadtanlage von St. Petersburg: Das Fenster zum Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 | 35| Der Louvre in Paris: Die Wiege des grand goût . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 | 36| Schloss, Kapelle und Garten von Versailles: Die Residenz als Bild der Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
Inhalt
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|37| Hôtel Lambert in Paris: Private Repräsentation entre cour et jardin . . . . . . . . . . . . . . 264
Themenblock · Tore, Brunnen, Denkmäler: Funktion, Symbol, Erinnerung . . . . . 269 | 38| Place Vendôme in Paris: Die Vollendung der place royale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 |39| Das Benediktinerkloster Melk: Abt und Architekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 |40| Die Wieskirche bei Steingaden: Der Himmel auf Erden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
Themenblock · Die Konfessionen: Grundlagen des Sakralbaus . . . . . . . . . . . . . . . . 284 | 41| Die Frauenkirche in Dresden: „Ein St. Peter der wahren evangelischen Religion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 |42| Die Würzburger Residenz: Kaiser, Reich und Fürstbischof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 |43| Sanssouci bei Potsdam: Das Lustschloss als Selbstbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 |44| Queen’s House und Marinehospital in Greenwich bei London: England wird klassisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 |45| Chiswick House bei London: Die Wiedergeburt des Palladianismus . . . . . . . . . . . . . . 301 Themenblock · Gärten und Parks: Von Tivoli nach Wörlitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
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Die Gärten von Stowe in Buckinghamshire: ‚Kunst-Landschaft‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Crescent und Circus in Bath: Das Reihenhaus als Palast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Strawberry Hill bei London: Gothic Revival . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Ste-Geneviève, das Pantheon in Paris: Vom griechisch-gotischen Ideal zum Tempel der Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
|50| Der Newton-Kenotaph: Utopie und Denkmalkult . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
IV. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Register der Orte und Bauten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
Inhalt
I. Einleitung
Von Büchern und Bauten Das Vitruvianische Zeitalter
I
m dritten und letzten Teil [meines Buches] werde ich erklären, wie man verschiedene Gebäude in der Weise errichtet, wie es in der Antike üblich war; außerdem einige Entwürfe von mir vorstellen, und das, was ich von den Alten gelernt habe, was aber heutzutage fast ganz verloren gegangen und aufgegeben worden ist. Es wird bewiesen werden, dass in der Antike (Filarete) schönere und würdigere Bauwerke errichtet wurden als heute.
An einem kalten Januartag des Jahres 1417 fällt dem Humanisten Poggio Bracciolini in einem deutschen Kloster ein altes Manuskript in die Hände. Mit dieser Entdeckung rettet er das letzte vorhandene Exemplar […] vor dem Vergessen, nicht ahnend, dass dieses Buch die Welt in ihren Grundfesten erschüttern wird. (Greenblatt) Am Anfang dieses Buches über die Architektur der Frühen Neuzeit stehen zwei Geschichten von Büchern über Architektur: eine wahre und eine erfundene. Die wahre Geschichte handelt von der Wiederentdeckung eines ursprünglich antiken Textes, der zwar niemals völlig vergessen, aber bis zum Beginn der Neuzeit nur in stark veränderten, unvollständigen Fassungen erhalten war (Schuler 1999) und nun erstmals unverkürzt wieder vorlag: die „Zehn Bücher“ des römischen Architekten und Theoretikers Vitruv, eines Zeitgenossen des Augustus, dessen voller Name vermutlich Marcus Vitruvius Pollio lautete. Das um 25 v. Chr. verfasste Werk mit dem Titel „De architectura“ – nach heutigen Begriffen ein Buch mit 10 Kapiteln (im Folgenden jeweils mit I–X angegeben) – sollte zum einflussreichsten Text über die Baukunst werden, der je geschrieben wurde. Das war weniger seiner Qualität als dem Mangel an vergleichbaren Texten dieses Genres geschuldet – es war die einzig erhaltene von vermutlich zahlreichen architekturtheoretischen Schriften der Antike (Knell 2008). Dieser Zufall der Überlieferung traf auf einen kulturellen Kontext, der begierig wie ein Schwamm jeden Tropfen antiken Wissens aufsog, der zu gewinnen war: Eben jener Wissensdurst hatte den Florentiner Gelehrten Poggio Bracciolini über die Alpen getrieben, um
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dort verlorene literarische Schätze zu heben, an denen in Italien seit einigen Jahrzehnten das Interesse gewaltig gewachsen war. Das selbstgesteckte Ziel, die seit Jahrhunderten angeblich vergessene und missachtete Antike wiederzubeleben, hat dem Zeitalter seinen bis heute gebräuchlichen Namen gegeben: die Epoche der ‚Wiedergeburt‘ – die ‚Renaissance‘. Obwohl diese Wiederentdeckungsgeschichte selbst inzwischen als weitgehend legendarisch relativiert ist, so beschreibt sie doch zutreffend die völlig neuartige Bedeutung, die antiken Texten nun zugemessen wurde, und die durchaus mit einer Neuauffindung verglichen werden kann. Der zeittypische Ruf der Humanisten genannten Gelehrten jener Epoche „ad fontes!“ (‚[zurück] zu den Quellen!‘) erklärt die radikal gesteigerte Relevanz, die auch ein bekanntes, aber bisher eher marginalisiertes Buch erlangen konnte, wenn es mit frischem und neugierigem Blick gelesen wurde. Während aber in den meisten anderen Wissensgebieten wie Poetik, Rhetorik, Jurisprudenz, Landwirtschaft oder Geschichtsschreibung eine Vielzahl konkurrierender antiker Schriftquellen zur Verfügung stand, die von den Gelehrten gegeneinander abgewogen und interpretierend ausgelegt werden konnten, blieb Vitruv bis heute konkurrenzlos auf seinem Feld: Das führte dazu, dass man ihm lange Zeit begierig und unkritisch aufs Wort glaubte, und den unbedeutenden pensionierten Militärarchitekten der frühen römischen Kaiserzeit, aus dessen Epoche nur wenige nennenswerte Bauten überliefert sind, zur unangefochtenen Autorität der gesamten antiken Baukunst erklärte. Man setzte seine oft das Legendarische streifenden Berichte und persönlichen Vorlieben, z. B. sein großes Interesse am griechischen Tempelbau (□ vgl. 26) und dessen Proportionen, mit einem allgemeingültigen Wissenskanon und einem scheinbar verbindlichen Regelwerk jener bewunderten, versunkenen Epoche gleich, an die man anknüpfen wollte. Hierbei übersah man völlig bzw. konnte noch nicht ahnen, dass die Mehrzahl aller antiken Bauten und Ruinen, die man in Rom und ganz Italien in denselben Jahren fleißig zu studieren begann (□ 1), aus den Jahrhunderten nach Vitruv stammte und daher weder ihm bekannt sein konnte noch den von ihm formulierten, damals längst überholten Regeln folgte. Diese Missverständnisse Schritt für Schritt aufzuklären, sollte zu den besonders fruchtbaren Herausforderungen der allmählich sich formierenden Archäologie zählen. Die Nachwirkungen dieser beispiellosen Rezeptionswelle prägen das Reden und Schreiben über die Baukunst bis in die Gegenwart, weltweit. Die Gelehrten jener Epoche adaptierten weitgehend kritiklos Vitruvs oft eigenwillige Terminologie, z. B. die Benennung der einzelnen Säulentypen nach ihren angeblichen griechischen Entstehungsgebieten als dorisch, ionisch und korinthisch. Bis heute beziehen sich Architekten immer wieder gerne auf die drei vitruvianischen Grundtugenden eines jeden Bauwerks: firmitas, utilitas, venustas (Festigkeit, Nützlichkeit, Schönheit, I. 3). Selbst Begriffe der Umgangssprache wie „Symmetrie“ (I. 2), „Proportion“ (III. 1) oder „Modul“ (III. 3) haben hier ihren Ursprung, auch wenn sich ihre Bedeutung verschoben hat. Es dauerte ca. 350 Jahre, bis die Erforschung der überlieferten oder wiederentdeckten antiken Bauwerke so weit fortgeschritten war, dass sich Praxis und Theorie der Baukunst allmählich von ihrer selbst inthronisierten, scheinbar unhinterfragbaren Vaterfigur befreien konnten. Die europäische Architektur jener Jahrhunderte zwischen 1420 und 1770, die den Gegenstand dieses Buches bildet, kann daher mit einem Wort nach ihrem allgemein anerkannten kanonischen Grundgesetz als ‚vitruvianisch‘ bezeichnet werden.
I. Einleitung
13 □ 1 Rom, Ruine des Flavischen mphitheaters, gen. Colosseum, A 72 – 80 n. Chr.
Die beständige Auseinandersetzung mit dem idealisierten, scheinbar unüberbietbaren, maßstabsetzenden Erbe der antiken Baukunst ist das genuin Verbindende jener Epoche, welche die Historiker als ‚Frühe Neuzeit‘, die Stilgeschichte mit den Begriffen Renaissance und Barock bezeichnet. Kein Architekt der Epoche zwischen Brunelleschi und Boullée hätte es wagen können, seine eigenen Werke nicht in irgendeine Beziehung zu dieser Autorität zu setzen: entweder affirmativ oder kritisch, in bewusster Abgrenzung oder in behaupteter Übereinstimmung mit jenen angeblich ewig gültigen ‚Gesetzen‘, die man aus den „Zehn Büchern“ des Vitruv destilliert hatte. Der beste Beleg hierfür ist ein Begriff, der heute selbstverständlich und immer noch alternativlos erscheint, und der doch erst von Vitruv eingeführt wurde: Architektur. Es handelt sich um ein aus dem Griechischen entlehntes lateinisches Kunstwort, nachdem die Vertreter dieses Berufsstandes angeblich als archi-tekton, als Oberste der Bauleute, bezeichnet worden seien: ‚Des Architekten Wissen umfaßt mehrfache wissenschaftliche und mannigfaltige elementare Kenntnisse. Seiner Prüfung und Beurteilung unterliegen alle Werke, die von den übrigen Künstlern geschaffen werden.‘ (I. 1, Vitruv/Fensterbusch 1976, S. 23.) Neben den erhofften Erkenntnissen über Gestaltungsregeln und Bauformen der Antike bot Vitruv noch einen weiteren, nahezu unbezahlbaren Vorzug: Er erhob das bisher handwerklich konnotierte, nützliche, aber mühsame und wenig prestigeträchtige Bauwesen nicht nur zur selbsterklärten ‚Anführerin‘ aller Künste, sondern auch in den Rang einer literaturfähigen, quasi exakten (nämlich gesetzmäßigen) Wissenschaft. Nun gab es also eine schriftlich fixierte Theorie und eine antike Autorität, auf die man sich beziehen konnte. Die mit ihrer bisherigen gesellschaftlichen Stellung unzufriedenen Bauleute hatten folglich nicht das geringste Interesse, die Autorität Vitruvs in Zweifel zu ziehen, verdankten sie ihm doch den Aufstieg ihres Gewerbes in die Sphäre der sog. Freien Künste wie Rhetorik, Geometrie oder Arithmetik. Dieses Anliegen lag bei Vitruv in besonders guten Händen, denn der ehrgeizige Autor war selbst überaus bemüht, an jeder geeigneten Stelle den hohen intellektuellen Rang seiner Theorie und Praxis verbindenden, meist aber unterschätzten Profession herauszustreichen: Er formulierte einen umfangreichen Bildungskanon, dem angeblich jeder Architekt zu genügen habe (I. 1), und erklärte das Bauen zum Urbedürfnis der Menschheit, die sich erst durch die Errichtung eines künstlichen Schutzes vor der Witterung, der sog. Urhütte (□ vgl. 23), aus dem Naturzustand befreit habe (II. 1). Schließlich lieferte Vitruv den Beweis dafür, was unvergänglicher und wirkmächtiger ist als die größten Gebäude: der literarische Nachruhm. Seit seiner Erhebung zum kanoni-
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schen Autor sind Bauten und Bücher untrennbar miteinander verbunden. Das Nachdenken und Schreiben über Architektur, wenn möglich begleitet von erklärenden Abbildungen (die im Falle Vitruvs leider nicht erhalten sind, □ 2, □ vgl. 25), erwies sich als mindestens gleichwertig mit dem Bauen selbst. Hierzu trug entscheidend eine technische Innovation bei, die ebenfalls im 15. Jh. in Deutschland erfunden und kurz darauf in ganz Europa perfektioniert wurde: der Druck von Texten mit beweglichen Lettern und Bildern mittels Holzschnitt und Kupferstich. Nun konnte es nicht mehr geschehen, dass Bücher so lange in Vergessenheit gerieten, bis versprengte handschriftliche Kopien in abgelegenen Klosterbibliotheken zufällig wiederentdeckt wurden. Endlich war die Kenntnis über Gebautes und Geplantes beliebig zu vervielfältigen und mühelos weltweit zu verbreiten. Die Baukunst war dialogfähig geworden: Sie hatte, wie jede anspruchsvolle Wissenschaft, eine international verständli□ 2 Leonardo da Vinci: Illustration zu Vitruvs Proportionsstudie des Menschen, ca. 1490, Venedig, che und verbindliche Terminologie (zunächst Galleria dell’Accademia in der damals geläufigen Gelehrtensprache Latein) und ein ideales Medium, das bedruckte und bezeichnete Papier, gefunden, mit dem man sich über Zeiten und Räume hinweg über ihr Wesen austauschen konnte. Hierbei waren die bildreproduzierenden Techniken mindestens so wichtig wie die gedruckten Texte, denn nun musste man z. B. die unterschiedlichen Detailformen und Proportionen der Säulenordnungen nicht mehr mühsam und missverständlich verbalisieren, sondern konnte diese anschaulich und kopierfähig vor Augen führen. Antike Ruinen und moderne Bauwerke anderer Länder waren so weitab von ihrem Standort rezipierbar, wie z. B. das Antwerpener Rathaus |▶ 31| mit seinen aus einem illustrierten Lehrbuch des in Frankreich tätigen Italieners Sebastiano Serlio entliehenen Fassadendetails zeigt. Hiervon handelt auch die zweite, nunmehr gänzlich fiktive Geschichte von Bauten und Büchern, die der Verfasser des Eingangszitats, der mailändische Hofarchitekt Antonio Averlino in seinem ca. 1461 verfassten „Trattato dell’architettura“ erzählt. Dieses illustrierte Manuskript war das erste Architekturbuch in der Nachfolge Vitruvs, das in der italienischen Volkssprache, dem sog. Volgare verfasst war. Dennoch legte der Autor Wert auf seinen antikischen Bildungshintergrund und nannte sich daher Filarete, die italianisierte Fassung des griechischen phil-arete, was Tugendfreund bedeuten soll. Filarete wählte die Textgattung eines höfischen Romans, der über weite Teile in Dialogform gekleidet ist. Der Autor schildert darin seine angeblichen Erlebnisse als Architekt eines mächtigen Fürsten, in dessen Auftrag er eine ganze (fiktive) Stadt mit dem Na-
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men Sforzinda erbaut (Filarete/Spencer 1965). Dies war ein für die Zeitgenossen leicht zu entschlüsselnder Hinweis auf den Brotherrn des Verfassers, den Herzog von Mailand Francesco Sforza, der in dem Buch als vertrauter, gelehriger Schüler seines Baumeisters dargestellt wird – ein Verhältnis zwischen Herr und Diener, das damals allenfalls als Wunschbild gelten konnte, aber sehr deutlich vom neuen vitruvianisch grundierten Selbstbewusstsein des schreibenden Architekten spricht (Tönnesmann 2009). Filarete berichtet im 14. Buch (Kapitel) seines Traktats folgende Begebenheit: ‚Bei diesen Arbeiten [der Fundamentierung der Hafenstadt von Sforzinda] ereignete es sich, daß wir einen Steinblock […] fanden, welcher in Form einer Kiste glatt behauen war […]. Und als der Stein geöffnet war, lagen in ihm [neben anderen rätselhaften Gegenständen …] ein großes goldenes Buch […]. Das Buch war auf Goldblättern mit griechischen Buchstaben geschrieben und mit eingegrabenen Abbildungen ausgestattet. […] Nicht lange darauf schrieb er [der Fürst] uns, er habe sich das goldene Buch und die übrigen Inschriften übersetzen lassen. [… Im Buch war folgender Text zu lesen:] ‚Ich, König Zogalia, […] vertraue diesen Schatz Eurer Obhut an. Bewahrt ihn, bis der kommt, welcher von geringer Herkunft durch seine Tugenden zur Macht gelangt ist und nach Beruhigung seines Staates große Bauten aufführen wird […] Nach vielen Kämpfen mit anderen Fürsten gelang es meinem Vater, dem Volke den Frieden zurückzugeben. Nunmehr begann er zu bauen; vorzüglich gründete er nicht weit von hier, oberhalb im Thale, eine große Stadt, Plusiapolis.‘ […] Auch wies er [der Übersetzer] uns Nachbildungen der Zeichnungen im goldenen Buch, welche die beschriebenen Bauwerke erläuterten […]. Der Prinz kehrte zurück, und wir erbauten Hafen, Palast und Kirche genau nach den im goldenen Buch beschriebenen Bauten.‘ (Filarete/Oettingen 1890, S. 435–444.) Filaretes phantastische Erzählung kann als Parabel auf die Grundkonstellation des Vitruvianischen Zeitalters verstanden werden: In einem wie durch ein Wunder aus der Antike überlieferten, durch glücklichen Zufall wiederaufgetauchten Buch finden sich Beschreibungen großartiger, längst verschwundener Gebäude, verbunden mit der indirekten Aufforderung, diesem Vorbild nachzueifern. Adressat dieser Rede ist aber nicht etwa der Architekt, sondern der potentielle Bauherr, der Fürst. An ihn wendet sich der antike Verfasser, ein Königssohn mit dem Phantasienamen Zogalia: Er ist das literarische Spiegelbild des realen Prinzen von Mailand mit Namen Galeazzo Maria. Der solle nun, nachdem sein Vater die Macht erobert und befestigt habe, durch großartige Bauten beider Ruhm verewigen. Als Vorbild dient ihm hierbei das (wiederum fiktive) antike Plusiapolis (Reichtumsstadt). Glücklicherweise sind die Bauten □ 3 Antonio Averlino gen. Filarete: „Haus der Tugenden und dieser untergegangenen Metropole alle im der Laster“, aus dem sog. Codex Magliabechianus (Archi„Goldenen Buch“ genau beschrieben und abtekturtraktat), Florenz, Biblioteca Nazionale, ca. 1464
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gebildet (□ 3), so dass der Fürst und sein Architekt nichts anderes tun müssen, als sich exakt an diese Vorgaben zu halten. Damit übertragen sie den Glanz der erträumten, fernen, natürlich besseren Vergangenheit auf das eigene Tun. Man muss kaum erwähnen, dass alle Abbildungen der phantastischen Bauten von Plusiapolis und alle Texte des „Goldenen Buches“ aus Filaretes eigener Feder stammen. Seine fiktive, doppelbödige Konstruktion belegt aber treffend den Legitimationsmechanismus des Vitruvianischen Zeitalters: Jede anspruchsvolle Architektur der Gegenwart muss an der Antike maßnehmen. Je genauer deren (vermeintliche, d. h. selbst formulierte) Vorgaben reproduziert werden, desto großartiger das Ergebnis. Damit die Pläne aber nicht bloßes Papier bleiben, bedarf es eines groß denkenden, mächtigen und ausgabefreudigen Fürsten wie Zogalia-Galeazzo, der sich mit den Bauten identifiziert, sie initiiert, finanziert und damit selbst zu antiker Größe aufsteigt. Dies tut er am besten im vollkommenen Einverständnis mit seinem Architekten. Bauherr und Baumeister sind wie Vater und Mutter, die Bauwerke ihre gemeinsamen Kinder (Filarete/Oettingen 1890, S. 66).
Ordnung, Erfindung, Repräsentation Bauen als Botschaft
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amit ist das Kräftedreieck beschrieben, in dem sich die Architektur des Vitruvianischen Zeitalters entfalten wird. Unbezweifelbare Grundlage aller Bautätigkeit sind die Regeln und Vorbilder der Antike, die strikt einzuhalten sind: Sie beschreiben die festgefügte Ordnung der Architektur. Als Zweites bedarf es eines fähigen, gebildeten, einfallsreichen Fachmanns, der diese Regeln kompetent auslegt und ihre richtige Anwendung und kreative Umsetzung erst ermöglicht: Seine Aufgabe ist die Erfindung (ital. invenzione) bzw. der Entwurf (disegno). Als dritter und entscheidender Faktor tritt aber der Auftraggeber hinzu, der seinen persönlichen Ruhm, seine politische und gesellschaftliche Position, seine ideologische Botschaft durch die Errichtung von Bauwerken verewigen will: Architektur dient hierbei als ideales, zeitgemäßes und konsensfähiges Medium der Repräsentation – nicht nur der obrigkeitlichen, also fürstlichen und kirchlichen, sondern ebenso auch der bürgerlichen und privaten Selbstdarstellung, Verewigung und ‚Sichtbarmachung‘. Mithilfe der Trias „Ordnung – Erfindung – Repräsentation“, dem Untertitel dieses Buches, soll im Folgenden die Architekturgeschichte der Frühen Neuzeit verständlich gemacht werden. Sie wird zugleich als eine Mediengeschichte verstanden: Nicht nur, dass Bauten regelmäßig in Bildern und Worten präsentiert wurden und werden – sowohl in diesem Buch als auch zu ihrer Entstehungszeit. Vielmehr wird die Architektur der Frühen Neuzeit selbst als Kommunikationsmedium verstanden und vorgestellt. Neben der von Vitruv benannten praktischen Notwendigkeit – Schutz vor Unbilden der Witterung, vor Feinden und Gefahren, Ort der Versammlung und des Austauschs jeder Art – besitzt sie eine Sprachfähigkeit, die vielleicht in keiner Epoche prägnanter und differenzierter entwickelt und wahrgenommen wurde als in der hier beschriebenen, was als weiterer Grund für die zeittypische Nähe von Bau und Buch, Text und Bild verstanden werden kann.
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Die antikischen Bauformen selbst bilden das Vokabular. Die Kenntnis der Regeln ihrer Anwendung, sozusagen die Grammatik, formt aus den Worten einen Text, der nicht nur allgemein verständlich sein, sondern sogar rhetorisch argumentieren und stilistisch brillieren, der beeindrucken und überzeugen soll. Die Sprache der frühneuzeitlichen Architektur lebt vielfach von Zitaten, Verweisen und Anspielungen. Sie richtet sich generell an gebildete Betrachter, die diesen Code zu entschlüsseln verstehen, die evozierten Vorbilder (er-)kennen und die kalkulierten Normabweichungen, Innovationen und originellen Variationen als Qualitäten zu schätzen wissen. Im Unterschied zur Moderne, die es zur besonderen schöpferischen Leistung erklärt hat, eine originäre gestalterische Lösung scheinbar völlig neu und eigenständig, voraussetzungslos und ohne jede Bezugnahme auf bereits Vorhandenes gleichsam aus dem Nichts erfunden zu haben, bezieht die Baukunst des Vitruvianismus ihre zahlreichen Referenzsysteme, Vorbilder und Vergleichsfolien stets mit ein in die intendierte Wirkung und Aussage. Daher ist ein gewisser Überblick über die Monumente der Antike, die Baugeschichte jener Jahrhunderte, ein Grundverständnis für ihre Gesetze und Konventionen, ihre Zeichensysteme und Codes sowie ein Blick auf die politischen und kulturellen Hintergründe, vor denen die Bauten entstanden und die sie medial transportieren, für deren Verständnis unverzichtbar. Hierfür ein erstes Beispiel (□ 4): 1683 war es dem Kaiser des Heiliges Römischen Reiches Deutscher Nation gelungen, mithilfe einer europäisch-christlichen Koalition die türkisch-muslimische Expansion des osmanischen Sultans an den Mauern seiner Residenzstadt Wien zu stoppen. Man war über diesen Sieg in letzter Minute so erleichtert und hielt ihn andererseits für so unumkehrbar, dass man in den folgenden Jahrzehnten beschloss, den Saum jener Vorstädte, welche während der Belagerung großenteils zerstört worden waren, mit prächtigen Palästen und Kirchen geschmückt wieder aufzubauen. Als 1713 eine Pestepidemie die Stadt verschonte, gelobte Kaiser Karl VI. seinem Namenspatron, dem Mailänder Pestheiligen Karl Borromäus, ein prächtiges Gotteshaus in direkter Blickachse seiner Residenz, der Hofburg, am gegenüberliegenden Rand der Vorstadt zu errichten. Der Auftrag ging 1715 an den in Rom ausgebildeten Hofarchitekten Johann Bernhard Fischer von Erlach, der in denselben Jahren an einer 1721 erstmals edierten, illustrierten Weltgeschichte der Architektur arbeitete – geschmückt mit teilweise fantastischen Ansichten von Bauten aus China und Indien, den antiken Weltwundern und natürlich seinen eigenen Entwürfen für Wien, das als Residenz des Kaisers architektonisch gleichen Rang beanspruchte wie Konstantinopel, Griechenland und das antike Rom. Fischers Karlskirche, 1716–37 realisiert, wirkt auf den unbefangenen Betrachter als ein etwas ungeordnetes, wenig harmonisches Konglomerat von Bauformen, die einem allesamt bekannt vorkommen: Die Kuppel erinnert an St. Peter in Rom, die von Säulen getragene Portikus darunter an heidnische Tempel wie das Pantheon (□ vgl. 17) in derselben Stadt. Statt Kirchtürmen finden sich, unverbunden vor die zurückschwingende Fassade gestellt, mit umlaufenden Reliefbändern verzierte Triumphsäulen nach Vorbild derjenigen der Kaiser Trajan und Marc Aurel. Mit ihren laternenartigen Aufsätzen gemahnen sie aber auch an Minarette. Die seitlich abschließenden, von Torbögen durchbrochenen Flügelbauten schließlich tragen geschwungene Haubendächer, die auf ostasiatische Pagoden verweisen. Es besteht kein Zweifel daran, dass Fischer alle diese Bezüge erkannt wissen wollte. Immerhin trug der Bauherr den Titel eines Römischen Kaisers, daher waren Reminiszenzen
Ordnung, Erfindung, Repräsentation
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□ 4 Wien, Karlskirche, J. B. Fischer von Erlach, 1716 – 37
an die Bauten der ‚Ewigen Stadt‘ geradezu geboten. Aber auch die außereuropäischen Assoziationen wurden gezielt gesetzt, sollten sie doch den universalen Herrschaftsanspruch des Stifters untermauern. Karl VI. war einige Jahre lang spanischer König gewesen, bevor er diesen Titel nach einem erbitterten Erbfolgekrieg an die Erzfeinde aus dem französischen Haus Bourbon abtreten musste: Auch wenn die Wiener Habsburger danach kein globales Kolonialreich wie ihre spanischen Vettern regierten, so verstanden sie sich doch als Apostolische Majestäten, von Christus als Verwalter des letzten der vier Weltreiche, des Römischen Kaiserreichs, eingesetzt, bis er selbst am jüngsten Tage wiederkommen würde. Die beiden Säulen können somit mehrfach gedeutet werden: z. B. als Säulen des Herkules, die als Symbol für die Meerenge von Gibraltar noch heute das spanische Staatswappen zieren und somit auf den verlorenen, aber trotzig weiter behaupteten Titel des Bauherrn verweisen. Zugleich erinnern sie den bibelfesten Betrachter (damals eine Selbstverständlichkeit) auch an die Beschreibungen des Salomonischen Tempels in Jerusalem (□ vgl. 24), vor dessen Portal zwei gewundene Säulen aufgestellt gewesen sein sollen – Urbilder jenes Baldachins, der den Petrusaltar in Rom bekrönt |▶ 25| – und somit darauf verweisen, dass der Kaiser auch Schutzherr der katholischen Weltkirche ist. Dieser hypertrophe Anspruch wird gleichzeitig mit der Giebelinschrift relativiert und zu einem Akt demonstrativer Frömmigkeit umgedeutet, die als besondere Eigenart der österreichischen Herrscher (pietas Austriaca) galt: Vota mea reddam in conspectu timentium deum (Ps. XXI): ‚Im Angesicht
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der Gottesfürchtigen [Betrachter] erfülle ich [der Kaiser] meine Gelübde [mit dem Bau dieser Kirche]‘ (Psalm 21) (Sedlmayr 1997, S. 280–300; Matsche 1981). Bau und Inschrift betonen somit den zeittypischen, komplexen Mediencharakter von Architektur: Der Betrachter wird direkt adressiert, das Gebäude dient als sinnlich wirksame, dauerhaft präsente und nonverbal argumentierende Botschaft des Stifters. Der Architekt ist der rhetorisch versierte Übersetzer in die Sprache des Vitruvianismus, in der jede Form lesbar ist, ihre eigene Bedeutung hat; durch die jeweils spezifische, neue Konstellation dieser ‚Textbausteine‘ wird eine unverwechselbare eigene Aussage formuliert. Die Ordnung der Architekturelemente und die Erfindung ihrer konkreten Kombination und Disposition dienen neben der unmittelbaren sakralen Funktion des Kirchengebäudes vor allem der Repräsentation, also der (Selbst-)Darstellung des Bauherrn, seiner Macht, seiner Religiosität, seiner Bildung, seines Geschmacks, seines politischen Selbstverständnisses und (als Stifter) seiner Freigebigkeit. Es hieße von Betrachtern des 21. Jh.s zu viel erwarten, dass sie diese Sprache auf Anhieb verstünden und bis in die letzte Bedeutungsebene aufzuschlüsseln wüssten. Es ist aber das Anliegen dieses Buches, zumindest einige Grundkenntnisse sowie Gespür für die Lesbarkeit und Eigengesetzlichkeit der Baukunst dieser Epoche zu vermitteln. Es soll ein Zugang zu dieser fremden Welt eröffnet und Prinzipien erläutert werden, wie man sich hinter dieser Tür zur Vergangenheit zurechtfinden kann. Es soll ein Grundkurs zum Erlernen einer unbekannten Sprache sein, und niemand darf erwarten, sich danach perfekt darin ausdrücken, alle bedeutungsmäßigen Nuancen und idiomatischen Wendungen verstehen zu können. Es ist aber auch der Anspruch dieses Buches, mehr zu bieten als eine Blütenlese der ‚fünfzig schönsten Bauwerke aus Renaissance und Barock‘ oder einen Kanon prüfungsrelevanter Daten, Namen und Fakten.
Drei Wege durchs Labyrinth Zum Konzept des Buches
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ieses Buch erzählt Architektur-Geschichten, d. h.: Es versucht, durch die unübersehbare Menge der Ereignisse, Bauten, Personen, Texte, Daten, Hintergründe, Entwicklungsstränge und Interpretationsansätze einige hoffentlich hilfreiche und möglichst wenig verworrene Ariadnefäden zu legen, mit deren Hilfe sich Interessierte im Labyrinth von 350 Jahren orientieren können. Hierfür ist es unvermeidlich, Vereinfachungen und Zuspitzungen vorzunehmen. Auswählen heißt weglassen. Komplexitätsreduktion erleichtert das Verständnis und birgt zugleich die Gefahr der unzulässigen Pauschalisierung. Deshalb werden in diesem Buch nicht nur einer, sondern gleich drei Wege durch den vitruvianischen Urwald gebahnt. Welchen Pfad die Lesenden zuerst beschreiten, dürfte vom jeweiligen persönlichen Interesse abhängen. Es ist daher erklärtes Prinzip dieses Bandes, immer wieder Querbezüge zwischen den verschiedenen Herangehensweisen aufzuzeigen, weil es die Überzeugung des Verfassers ist, dass man nur durch das Vergleichen und Gegenüberstellen, das Herstellen von Bezügen, das Aufzeigen von Gemeinsamkeiten und Unterschie-
Drei Wege durchs Labyrinth
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den das jeweils Spezifische eines Bauwerks, einer Fragestellung, eines Deutungsansatzes verständlich machen kann. Der erste gebahnte Weg ist der ‚klassische‘ der Stil- und Forschungsgeschichte. Jene Jahrhunderte, die hier als Vitruvianisches Zeitalter im Zusammenhang vorgestellt werden, kennt man aus dem Schulunterricht oder Reiseführer gemeinhin unter der Zweiteilung Renaissance und Barock. Hinter diesen Begriffen verbergen sich jedoch keine eindeutig definierbaren Kategorien wie ‚Tiere und Pflanzen‘ oder ‚sauer und basisch‘, sondern Deutungsvorschläge. Die Begriffe wurden ex post, also rückblickend, entwickelt, um den Bestand zu ordnen: Sie sortieren zunächst relativ objektiv nach der Entstehungszeit, dann aber auch nach ästhetischen Kriterien, also durch Beschreibung und Wertung von Eigenarten, Gemeinsamkeiten, Tendenzen und Qualitäten. Es ist heute Mode geworden, solche traditionellen Klassifizierungen in Bausch und Bogen als unwissenschaftlich und veraltet zu verdammen; dies verkennt aber ihre eigentliche Bedeutung als Verständigungsbegriffe, die zweifellos vereinfachen, um etwas anschaulich zu machen. Wenn man nicht der Täuschung erliegt, es handele sich bei diesen Kategorien um fertig fabrizierte, abgeschlossene Schubladen, in die man ein Kunstwerk nur richtig einsortieren müsse, sind sie durchaus nützlich im Sinne jener oben erwähnten Komplexitätsreduktion, die beim Vergleichen, Differenzieren, Zuordnen und Gruppenbilden, kurz: beim Verstehen helfen kann. Die sog. Stilbegriffe waren aber nicht immer und erst recht nicht in den Köpfen der Erbauer vorhanden, sondern sie wurden rückblickend erfunden und definiert. Sie sind Annahmen, (Zwischen-)Ergebnisse der Forschung, also nur relativ ‚wahr‘ und natürlich selbst zeitgebunden. Daher wird im „Grundzüge“-Kapitel des Buches versucht, die Entstehung und Bedeutung der Vorschläge zur zeitlichen Binnendifferenzierung der untersuchten Epoche zusammen mit der Entwicklung der Interpretationsansätze darzustellen, die in den vergangenen 150 Jahren an die Architektur der Frühen Neuzeit herangetragen wurden. Die Genese der Begriffe und Fragestellungen ist freilich nicht als eine lineare Fortschrittsgeschichte im Sinne einer technischen Weiterentwicklung zu verstehen: Der neuere Ansatz ist nicht automatisch besser oder richtiger als der ältere, er ergänzt diesen vielmehr und modifiziert dessen Deutungsvorschläge. So wie mit jedem zusätzlichen Scheinwerfer, der neu aufgestellt wird, eine Szene heller ausgeleuchtet ist, führt erst die Vielfalt möglicher, tendenziell gleichberechtigter Fragestellungen und Thesen zu einem komplexen Verständnis des untersuchten Gegenstandes. Der zweite Erzählstrang versucht, die drei Leitbegriffe fruchtbar zu machen, unter denen das Vitruvianische Zeitalter hier betrachtet wird: Ordnung, Erfindung, Repräsentation. Ordnung dient hierbei als Synonym für das, was gemeinhin Architekturtheorie genannt wird, also das Nachdenken und Reden der Zeitgenossen über die Baukunst. Hauptgegenstand dieser im Wesentlichen mithilfe illustrierter Texte geführten Diskussion war es, Regeln, Gesetze und Qualitätskriterien zu definieren, sich also darüber zu verständigen, was gute bzw. ‚richtige‘ Architektur sei. Auch hierbei gilt es, einen naheliegenden Trugschluss zu vermeiden: Weder beschreiben und deuten diese Texte vollständig und umfassend die Baupraxis ihrer Zeit, noch dienten sie als Bedienungsanleitung oder Baugesetzordnung. Sie spiegeln vielmehr, oftmals verzerrt und verkürzend, die zeitgenössischen Ideale, Denkmodelle und Fragestellungen. Sie sind vor allem eine Gattung für sich: Texte, die auf andere Texte Bezug nehmen. Nicht alle daran beteiligten Autoren waren auch selbst Archi-
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tekten. Es wäre vermessen zu glauben, dass sie das zutreffend oder vollständig beschreiben könnten, was die Baukunst ihrer Zeit ‚tatsächlich‘ oder ‚im Kern‘ ausmacht. Noch nicht einmal jene Architekten, die ihre eigenen Entwürfe analysieren wie z. B. Palladio, liefern eine vollständige oder zutreffende Interpretation ihres Werks. Sie halten vielmehr ein zeitgebundenes, von rhetorisch-literarischen Konventionen bestimmtes Plädoyer, sie versuchen zu rechtfertigen, zu erklären, zu begründen und zu deuten, zu verdammen und zu loben. Sie alle stehen im langen Schatten Vitruvs, jenes schreibenden Architekten, von dem kein einziges Bauwerk überliefert ist, und dessen Name doch die aller anderen längst vergessenen, erfolgreich bauenden Zeitgenossen überstrahlt. Dieser Ariadnefaden wird zwangsläufig besonders dünn ausgesponnen werden müssen, mag aber als Einstieg in ein ganz eigenes Labyrinth dienen, das gut gefüllte Bibliotheken erschließt (Kruft 1991). Der zweite Leitbegriff lautet Erfindung. Hier soll die Dynamik und Innovationskraft des Vitruvianischen Zeitalters nachgezeichnet werden. Trotz aller Regeln und Kontinuitäten handelte es sich um eine Epoche der stürmischen formalen Entwicklung, der Konkurrenz, der Kreativität und Originalität. Kenner sind in der Lage, jedes Bauwerk auf das Jahrzehnt seiner Entstehung genau zu datieren, weil sich seine Schöpfer eben nicht damit begnügten, alles richtig und genauso wie die Vorgänger zu machen oder gar die Antike wortgetreu zu kopieren, wie es Filarete (fälschlich) für sein eigenes Werk behauptet. Das Zeitalter des Vitruvianismus mit seinem scheinbar starren Regelkorsett und seiner Antikenidealisierung brachte gleichzeitig so unabhängige, alle bisherigen Konventionen sprengende Geister wie Brunelleschi und Alberti, Leonardo und Michelangelo, Bernini und Borromini, Neumann und Boullée hervor. Erfindung – invenzione – ist ein zeitgenössischer Begriff, der aus einer anderen Mediengattung, nämlich der Rhetorik, also der Theorie der Redekunst entliehen wurde. Auf der Suche nach objektivierbaren Kriterien für künstlerische Qualität stieß man auf literarische Kategorien, die gut übertragbar erschienen: Imitatio war die (durchaus zu empfehlende) Nachahmung qualitätvoller, bedeutender, anerkannter Vorbilder. Aemulatio beschreibt ihre verbessernde Weiterentwicklung, beruhend auf dem Prinzip der Überbietung durch Konkurrenz. Das dritte Prinzip lautete inventio, also die Erfindung neuer, eigener rhetorischer Figuren und Strukturen, überraschender Wendungen, überzeugender Argumentationsweisen. Dies war die letzte und höchste Stufe der Rede – und damit auch der Baukunst. Ihr Medium war die Entwurfszeichnung (ital. disegno), die somit mindestens gleichberechtigt neben die reale Bauausführung (fabrica) trat. Dabei bedeutet disegno, ähnlich wie die heutigen Begriffe ‚Design‘ oder ‚Entwurf‘, weit mehr als die Linien auf dem Papier, und umfasst auch Idee, Konzept und Programm einer komplexen gestalterischen Aufgabe. Der dritte Leitbegriff schließlich, Repräsentation, richtet den Blick auf die historischen und kulturellen Rahmenbedingungen, die Auftraggeber und Zeitgenossen, die Sender und Empfänger, die sich des Mediums Architektur bedienten. Vitruv wandte sich mit dem ersten Satz seines Buches direkt an den Imperator Caesar, also Augustus, dem er seine Pension verdankte. Filarete wusste sehr gut, dass selbst im fiktiven Sforzinda kein Stein auf den anderen gesetzt würde, wenn nicht der Namens- und Brötchengeber den Befehl (und das Geld) dazu gab. Welche Motive leiteten die Bauherren, welche äußeren und inneren Faktoren bestimmten ihre Entscheidungen für oder gegen eine bestimmte Form der architektonischen Selbstdarstellung? Da der Auftrag bis heute die Basis jedes Bauwerks
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ist, wird die Frage nach der Bedeutung und gesellschaftlichen Einbettung des Bauens als erste behandelt. Der abschließende Hauptteil des Buches schlägt eine dritte Art der Annäherung vor: Nicht als Längsschnitt oder Überblick, sondern als Mosaikbild aus fünfzig höchst individuellen Einzelfällen, die aber dennoch in vielfältiger Art miteinander verbunden sind: als Vorbild oder Gegenbild, als Analogie oder Kontrastfolie. 49 der 50 besprochenen Bauten stehen in Europa, einer in Lateinamerika. Die Länder des Kontinents sind dabei so ungleich vertreten, wie ihr Anteil an der Entwicklung heute gemeinhin wahrgenommen wird. Eine (sicher wünschenswerte) größere Auswahl aus dem Norden und Osten hätte unvermeidlich wichtige Beispiele des Südens und Westens verdrängen müssen. Die Schlüsselwerke sind somit auch ein Bekenntnis zur traditionellen Kanonbildung der Architekturgeschichte, bereichert um einige vielleicht unerwartete Überraschungsgäste. Schließlich hofft und glaubt der Verfasser, ein individuelles Buch geschrieben zu haben. Man darf der Auswahl der Beispiele durchaus anmerken, dass er seinen Forschungsschwerpunkt in der Barockarchitektur Mitteleuropas hat, sich für historische und konfessionelle Fragen besonders interessiert und das Verhältnis der Neuzeit zur Baukunst des Mittelalters für eine wichtige, meist zu wenig beachtete Frage hält. Hauptgegenstand der Darstellung sind nicht die fünfzig hier beschriebenen Bauten, sondern der einundfünfzigste, den der Leser oder die Leserin auf Basis dessen, was hier an Beschreibungs- und Analysetechniken vermittelt wurde, sich selbst erschließt. Es wird nicht vermittelt: „Wie unterscheide ich Renaissance von Barock?“, sondern es sollte verständlich werden, was gemeint ist, wenn diese beiden Kategorien benutzt werden, um Ordnung in eine ziemlich unüberschaubare Vielfalt von gebauten Individuen zu bringen. Was sollte man nicht erwarten? Ein vollständiges, umfassendes, objektiv gesichertes, ‚absolut richtiges‘ und irgendwie erschöpfendes Bild der frühneuzeitlichen Baukunst. Es handelt sich vielmehr um einen individuellen Vorschlag, wie man die Architektur des Zeitalters lesen und verstehen kann. Der Verfasser hofft, nicht mehr als die unvermeidlichen Fehler gemacht zu haben; nur das wenigste hat er selbst erforschen können, in vielem handelt es sich tatsächlich um jenen Fernblick, den man auf den Schultern anderer stehend genießt. Exakte Baudaten und Eigennamen werden in dieser Epoche kaum jemals einheitlich angegeben, können also durchaus von den Angaben anderer Darstellungen abweichen. Beschreibungen, Deutungen, Wertungen und Interpretationen geben regelmäßig den persönlich eingefärbten Blick des Autors wieder, der ebenso viele individuelle Vorlieben und blinde Stellen wie jeder andere Betrachter haben dürfte. Man kann, darf und soll ihm hier gerne widersprechen. Aber es besteht die Hoffnung, dass man sich nach der Lektüre sicherer fühlt, eine eigene Meinung zum Thema zu entwickeln, ein Gespür für das Charakteristische der Zeit zu erwerben und vielleicht Geschmack an der Baukunst jener merkwürdig fremden, bunten, vielgestaltigen Epoche zu gewinnen, die hier die Vitruvianische genannt wird.
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II. Grundzüge der Architekturgeschichte in der Frühen Neuzeit
Von der ‚Renaissance‘ zur ‚Revolution‘ Dem Wandel einen Namen geben
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arum nennt man König Friedrich II. von Preußen bis heute ‚den Großen‘, nicht aber den politisch viel bedeutenderen Ludwig XIV. von Frankreich? Wieso ist Michelangelo Buonarroti der ganzen Welt unter seinem Vornamen bekannt, während der für die Architekturgeschichte mindestens ebenso bedeutsame Filippo Brunelleschi stets beim Nachnamen genannt wird? Weshalb hat sich für jene Länder, die Kolumbus 1492 entdeckte und zunächst irrtümlich für Westindien hielt, später der etwas obskure Name Amerika durchgesetzt, den der Freiburger Geograph Martin Waldseemüller (Lester 2010) in seiner Karte von 1507 zu Ehren des italienischen Seefahrers und Reiseschriftstellers Amerigo Vespucci dort eingetragen hatte? Wie diese wenigen Beispiele aus der hier betrachteten Epoche zeigen, sind die Benennungen, die sich für Personen, Ereignisse, Phänomene zuletzt durchsetzen, keineswegs selbsterklärend, von Anfang an feststehend, unveränderlich oder sachlich gut begründet. Die französische Staatspropaganda bemühte sich ein Jahrhundert lang redlich, aber erfolglos, für Ludwig XIV. die Titulatur Louis le Grand festzuschreiben – dagegen hat ihn seine staatspolitisch inoffizielle Identifikation mit Apollo zum bis heute sprichwörtlichen ‚Sonnenkönig‘ gemacht. Michelangelo ist keineswegs der einzige Künstler dieses Namens, denn auch der bedeutende Barockmaler Merisi trug denselben Vornamen, ist aber unter Nennung seines Herkunftsortes weltberühmt geworden: Caravaggio. Ganz ähnlich verhält es sich mit jenen Begriffen, mit deren Hilfe die Nachwelt versucht hat, eine Epoche, die hier als Vitruvianisches Zeitalter beschrieben wird, in überschaubare und sinnvolle Untereinheiten zu gliedern. Neben der logischen, aber für historische Prozesse völlig unergiebigen Einteilung in Jahrhunderte haben sich im Bereich der Kunstund Kulturgeschichte allgemein gebräuchliche Bezeichnungen etabliert, die zwar vertraut klingen, aber umso schwieriger zu definieren (im Wortsinn: voneinander abzugrenzen) sind. Die bekanntesten Termini für die hier untersuchten 400 Jahre sind sicher Renaissance, Barock und Klassizismus: Sie beschreiben europäische kulturelle Zusammenhän-
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ge, die auch in anderen Bereichen, z. B. der Musik- oder der Literaturwissenschaft, gewisse Parallelen haben. Doch damit endet schon die vermeintliche Sicherheit gebahnter Wege und beginnt ein weites Feld, in dem kaum allgemein akzeptierte Grenzmarkierungen aufzufinden sind. Als Erstes wäre zu klären, ob die Begriffe ‚Epochen‘, also mehr oder weniger scharf begrenzbare Zeitabschnitte, oder ‚Stile‘, also gattungsübergreifende Gestaltungsprinzipien, beschreiben sollen. Als Zweites schließt sich die Frage an, von welcher Region die Rede ist: Während die Renaissance als ‚Stil‘ in Italien ‚schon‘ um 1420 beginnt, dominiert in derselben Zeit in Nordeuropa ‚noch‘ die sog. Spätgotik (□ vgl. 55). Betrachtet man, vom Modell der ‚Epoche‘ ausgehend, den Zeitraum um 1750, so stellt man fest, dass in Mitteleuropa der Stil des ‚Spätbarock‘ in der Sonderform des ‚Rokoko‘ blühte, während in England der ‚(Neo-)Palladianismus‘, eine lokale Frühform des sog. Klassizismus, vorherrschte (□ vgl. 15, 38). Diese Periode ist in England auch als Georgian style bekannt, mit Bezug auf den Leitnamen der Könige aus dem seit 1714 dort regierenden Haus Hannover. Auch in Frankreich kennt man die Benennung von Stilformen nach Königen und spricht dort z. B. von Louis-quinze und Louis-seize, während eine vergleichbare Nomenklatur nach Herrschern in politisch inhomogeneren Regionen wie Nord- und Osteuropa, Deutschland und Italien völlig unüblich ist. Die Frage der Epochen ist also kompliziert, missverständlich und uneindeutig – dennoch lohnt sie die Auseinandersetzung, denn hinter den Stilbegriffen verbergen sich Denkmodelle: Ordnungsversuche sind zugleich Deutungsansätze und Lesehilfen. Sie benennen Eigenarten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede, stellen Zusammenhänge her und grenzen Gegenentwürfe voneinander ab. Bei Farbangaben ist es sehr wohl nützlich, Grün von Blau zu unterscheiden, selbst wenn bei Türkis durchaus unterschiedliche Meinungen vorherrschen. In diesem Sinne sollen im Folgenden die geläufigen Stil- und Epochenbegriffe nicht als Tatsachen oder Irrtümer, sondern als Erfindungen vorgestellt werden, als theoretische Konstrukte konkret benennbarer Personen, die bestimmte Termini als Deutungsvorschläge eingeführt oder zu ihrem heute geläufigen Gebrauch entscheidend beigetragen haben. Die Begriffe selbst sind Artefakte, Grenzsteine jener Vermessungsversuche, die im Verlauf der Jahrhunderte auf das weite Feld der frühneuzeitlichen Kunstproduktion gesetzt wurden, um den Zeitgenossen erste Orientierung auf fremdem Terrain zu ermöglichen. Die Tatsache, dass manche Grenzen später verschoben, aufgelöst, gelockert, anders oder genauer gezogen wurden, macht die Arbeit dieser Pioniere weder ungeschehen noch wertlos, sondern lässt sie als Ergebnisse zeitbedingten, oft auch vom Gegenwartsinteresse geleiteten Agierens erkennen. Kolumbus’ Entdeckung von Mittelamerika wird nicht dadurch entwertet, dass man das Land zunächst Neuspanien (später Mexiko) nannte. Vielmehr ist die Namenswahl ein gutes Indiz für die Denkweise und Wertsysteme, welche zur Zeit der Benennung herrschten. Der methodische Werkzeugkasten der Stilanalyse ist hierbei stets derselbe: Beschreibung, Charakterisierung, Vergleich. Indem man die Eigenarten zweier oder mehrerer Objekte benennt, erkennt man Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Stellt man fest, dass die Bauwerke einer Periode größere Ähnlichkeiten untereinander aufweisen als zu Gebäuden derselben Funktion, die früher oder später entstanden, so subsumiert man diese epochentypischen Gemeinsamkeiten und Eigenarten unter dem Code eines (Zeit-)Stils. Ein Begriff
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wie ‚Gotik‘ beschreibt somit eine Gruppe charakteristischer Formen und Gestaltungsweisen, die als zusammengehörig verstanden werden und die mehrheitlich in einer bestimmten historischen Phase entstanden sind. Zählt man eine andere Gruppe von Objekten aufgrund struktureller oder formaler Verwandtschaften zu einer anderen Tendenz, die man ‚Renaissance‘ benennt, so entsteht hierdurch die Notwendigkeit, die eine Richtung von der anderen möglichst klar abzugrenzen. Das bedeutet freilich nicht, ein ‚Stil‘ müsse notwendig vom anderen abgelöst werden, er sei ‚veraltet‘, weil anderswo auf der Welt schon ein neuer ‚erfunden‘ worden sei. Dieses linear-eindimensionale Fortschrittsdenken – Eisenbahn ersetzt Postkutsche – entstammt jener Periode, in der die Kunstgeschichte als Wissenschaft und ihre Stilbegriffe mehrheitlich entstanden, dem von der eigenen Dynamik berauschten 19. Jh. Wenn man sich diese Herkunft verdeutlicht, wird aus dem scheinbaren Geburtsfehler ein charakteristisches Merkmal dieses Modells als Durchgangsstation der Wissenschaftsgeschichte. Es genügt, sich das teleologische (scheinbar auf ein Ziel ausgerichtete) Prinzip des ironisch, aber zutreffend ‚Gänsemarsch der Stile‘ genannten Denkschemas bewusst zu machen, um ihm nicht blind auf den Leim zu gehen. Dann erweist es sich als das, was es bestenfalls sein kann: eine relativ praktische Verständigungshilfe, also eine Wegmarkierung, kein unübersteigbares Geländer. Die geläufigen Epochenbegriffe der Frühneuzeit zeigen ein weites Spektrum sowohl in der Begriffsbildung als auch in der Bedeutung. Es gibt Termini, die bereits in der Entstehungszeit gebräuchlich waren (z. B. rinascimento/Renaissance oder style rocaille/Rokoko), solche, die einen stolzen Anspruch bezeichnen wie Klassizismus, aber auch erstaunlich viele Benennungen, die zunächst negative Abwertungs- und Distanzierungsbegriffe waren und erst später zu wertfreien Epochenbezeichnungen umgedeutet wurden wie z. B. Gotik, Barock oder Manierismus. Während einige der Stiltermini viele Jahrhunderte umgreifen und daher zur besseren Unterscheidung in eine ‚Früh-‘, ,Hoch-‘ und ,Spätphase‘ eingeteilt wurden, beschreiben andere nur kurze, ein bis zwei Generationen umfassende Unterströmungen in einem größeren kulturellen Zusammenhang. Schließlich gibt es eine Art der Begriffsverwendung, die eine bestimmte Haltung oder Qualität beschreibt, welche nicht primär zeitgebunden ist, sondern immer wieder in verschiedenen Kontexten diagnostiziert wird: Dazu gehört insbesondere der schillernde Anspruchsbegriff ‚klassisch‘ in verschiedenen Varianten wie ‚Klassizität‘, ‚(Neo-) Klassizismus‘ oder auch ‚âge classique‘, welcher eine meist auf die Antike bezogene Idealität und Zeitlosigkeit meint. Man kann ihn auf den Italiener Palladio im 16. Jh., den Franzosen Perrault im 17. Jh., den Engländer Lord Burlington im 18. Jh. und den Deutschen Schinkel im 19. Jh. angewendet finden; er belegt vielleicht am deutlichsten, wie sehr Stilbegriffe intellektuelle Konstruktionen statt historische Entitäten beschreiben (Forssman 1961/1984, S. 104ff.). Ob sie sich durchsetzen, ist von einer Konsensbildung abhängig, also letztlich davon, wie plausibel diese Vorschläge der Nachwelt erscheinen. Daher lohnt sich auch ein Blick auf die Konstrukteure dieser Modelle, die mit der Begriffsbildung meist eine neue Konstruktionsmethode entwickelt haben: Mit dem von ihnen eingeführten Terminus verbinden sie eine bestimmte Wahrnehmung des Gegenstands Architekturgeschichte, ein Deutungsmodell, das zugleich jene Mechanismen beschreibt, die nach Meinung der Verfasser Motoren des Stilwandels sind, den sie damit konstatieren. Stilbegriffe sind Sinnkonstruktionen: Sie stellen zwischen der Veränderung
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der Formen und den Akteuren, den Zeitläuften, dem kulturellen Milieu einen ursächlichen Zusammenhang her. Sie versuchen, dem scheinbar Zufälligen und Ungerichteten einer Veränderung Sinn zu verleihen, sie als zielgerichtete Bewegung zu deuten. Dabei wird meist die Konstruktion angewandt, dass nicht einzelne Künstler oder Auftraggeber, sondern ‚die Zeit‘ oder ‚der Stil‘ selbst der Motor sei, der hinter diesem Wandel stehe, während die Individuen nur Rädchen der Maschine, Mitschwimmer in einem unaufhaltsamen, überindividuellen Strom des Fortschritts seien. So entstanden geläufige Formulierungen wie ‚die Renaissance will‘, ‚der Barock drängt zu‘, ‚der Manierismus tendiert‘ usw., in denen ‚der Stil einer Epoche‘ als übermächtige, überindividuelle Triebkraft imaginiert wird. Dahinter steckt die durchaus zutreffende Feststellung, dass nicht zu allen Zeiten alles möglich ist und Künstler, die lange tätig waren wie z. B. Michelangelo, trotz eines starken Personalstils zugleich auch kollektive Veränderungen und Tendenzen im Werk ihrer Zeitgenossen mitvollzogen und mitbewirkten. Dieser Eindruck wird dadurch bestärkt, dass vergleichbare ästhetische Prinzipien es erlauben, einen Schuh und eine Kirchturmspitze in dieselben Jahre zu datieren, obwohl Schuster und Architekt sicher nicht über eine gemeinsame gestalterische Ausbildung verfügten, aber anscheinend (wie ihre Auftraggeber) zur gleichen Zeit über einen ähnlichen Geschmack. Dieses Phänomen ist als kollektive Zeit- bzw. Designmode jedem aufmerksamen Betrachter bekannt. Erklärungsbedürftig ist bis heute, warum bestimmte kreative Tendenzen zu ‚Megatrends‘ werden, also überindividuelle, zeittypische Bedeutung gewinnen und einem schnellen Wechsel unterworfen sind, während andere ästhetische Modelle scheinbar zeitlos (‚klassisch‘) bleiben oder werden. Ihr übergreifender Charakter erklärt auch, warum Stilbegriffe und Epochenmodelle meist nicht auf eine Kunstgattung, z. B. die Architektur, beschränkt, sondern im umfassenden Kontext ihrer Zeit gedeutet werden. Alois Riegl, der bedeutende Wiener Kunsthistoriker der vorletzten Jahrhundertwende, entwickelte sein Modell des eine ganze Epoche einheitlich prägenden ‚Kunstwollens‘ am Beispiel der von ihm so genannten „spätrömischen Kunstindustrie“, indem er darauf verwies, dass in einer Epoche dieselben ästhetischen Tendenzen alle Gattungen vom Kirchenbau bis zum Kunstgewerbe prägen, als eine „innere Notwendigkeit“ erfüllen und daher überindividuell sein müssten, wobei diese Schönheitsideale einer ständigen, tendenziell stets gleichwertigen, kulturell begründeten Wandlung unterlägen (Riegl 1901, S. 12 f., 215). Nach dieser Deutung ist somit die jeweilige Epoche, man könnte auch sagen der Zeitgeist oder der Fortschritt selbst, der Akteur, der einzelne Künstler nur ihr mehr oder weniger willenloser Agent, mitgerissen vom Strom der Stilentwicklung. Ein ganz anderes Denk- und Epochenmodell steht am Anfang der Diskussion über Stilbegriffe, die hier skizziert werden soll. Es verbindet sich mit der Person des Florentiner Hofkünstlers Giorgio Vasari, der nicht nur zwei bis heute geläufige antagonistische Termini, Gotik und Renaissance, definierte, sondern hierbei auch einige zentrale Denkmodelle erfand: Kunstgeschichte als individuelle Künstlergeschichte, Architektur als eine von drei gleichberechtigten ‚entwerfenden‘ Gattungen neben Malerei und Skulptur und die Idee einer zyklischen, gleichsam botanischen Stilentwicklung mit der immer gleichen Abfolge Blüte, Reife, Verfall und erneute Blüte. Vasari, den man auch zum ‚Vater der Kunstgeschichte‘ erklärt hat, entwickelte diese Überlegungen nicht retrospektiv, sondern am Modell der Gegenwartskunst seiner Zeit um 1550. Er deutete die Kultur der zuvor liegenden 250 Jahre wie viele seiner Zeitgenos-
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sen als Erneuerung der Antike, durch die eine Periode des (angeblichen) Verfalls, die wir bis heute (in Anlehnung an dieses Denkmodell) immer noch ‚Mittel-Alter‘ nennen, endlich überwunden worden sei. Den von ihm konstatierten Niedergang schrieb er einer Art kulturellen Invasion der Nordeuropäer zu, die nach dem Ende des Römerreiches Italien überflutet, die guten Künstler ermordet und deren wertvolles Erbe zerstört hätten. Diese Barbaren benannte er in Anlehnung an einen Volksstamm der Völkerwanderungszeit um 500 kollektiv als ‚Goten‘ – und schuf damit einen distanzierend-abwertenden Leitbegriff für die Kunst eines ganzen Jahrtausends. Zugleich ordnete er, gut vitruvianisch, historische Formen bestimmten Völkern zu, indem er die Kunst der ‚Alten‘ als genuin römisch, also italienisch, die des Mittelalters dagegen als nordalpin-deutsch, tedesco und damit fremdgesteuert definierte (Vasari/Burioni 2006, S. 63 f.). Die Protagonisten dieser Reanimation sind für Vasari konkrete Individuen, deren aneinandergereihte Lebensbeschreibungen, die 1551 erstmals erschienenen und 1568 erweiterten „Vite de più eccelenti architetti, pittori e scultori italiani“ das allmählich sich vervollständigende Mosaikbild der schrittweisen Wiedergeburt (rinascita oder rinascimento) der Kunst formen. Zentralgestirn und (unüberbietbarer?) Höhepunkt dieser Entwicklung ist für den Florentiner Autor sein Zeitgenosse und Landsmann Michelangelo, der zugleich in einer Person alle drei Gattungen, Malerei, Bildhauerei und Architektur, zu höchster Vollendung geführt habe (Vasari/Gabbert 2009). Das Modell des uomo universale, des genialen Individuums als Motor der künstlerischen Entwicklung, getrieben vom eigenen Schaffensdrang und beständiger Konkurrenz, wird zugleich von der Bild- auf die Bau-Kunst übertragen und diese vom Mörtelstaub und Schweiß des Handwerks gereinigt. Architektur wird zur intellektuellen Tätigkeit des disegno (‚Entwurf‘ in einem sehr weitgehenden Sinn) geadelt und erlaubt es ihren Vertretern, wie von Filarete einst imaginiert und von Alberti praktiziert, auf Augenhöhe mit Gelehrten und Fürsten zu interagieren. Vasaris zyklisches Modell (Vasari/Burioni 2004, S. 72 f.) kennt wie beschrieben nicht nur Blüte und Reife, sondern auch Verfall. Das musste nach Auffassung seiner Adepten auch für das Vitruvianische Zeitalter gelten, und so diagnostizierte man den einsetzenden, scheinbar langanhaltenden Niedergang kurz nach dem Tod Michelangelos, also in jener Epoche ab ca. 1580, die wir noch heute, freilich meist wertfrei, als ‚Barock‘ bezeichnen. Der Begriff selbst war schon, bevor er (zunächst als Verdikt) auf eine ganze Stilrichtung übertragen wurde, eine Art Schimpfwort, leitete er sich doch von der sog. Barock- oder Brockenperle ab, die eine auffällig unregelmäßige, individuelle Form hat, welche sich wie eine deformierte Parodie ihrer vollkommen gerundeten Schwester ausnimmt (Wölfflin 1888, S. 10). Sah man in der gleichsam makellosen Perfektion Bramantes (□ 5), Leonardos und Raffaels den absoluten Gipfelpunkt der neuzeitlichen Kunst, so mussten die Versuche der nachfolgenden Künstlergenerationen, sich bewusst von deren dogmatisch-‚klassischen‘ Modellen abzusetzen, sie durch gestalterische Variationen zu bereichern und weiterzuentwickeln, als mutwillig herbeigeführter Abstieg zu Originalitätssucht und eitlem Virtuosentum „der schlimmsten borrominesken Zeit“ (ein weiteres Schimpfwort für den römischen Barock in Anspielung auf den als besonders extravagant verrufenen Architekten Francesco Borromini, |▶ 23|) erscheinen. Der berühmteste Propagandist dieser historischen Hierarchisierung war der Schweizer Jacob Burckhardt, der das für viele Jahrzehnte vorherrschende Bild eines nur weni-
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28 □ 5 Rom, Neu-St. Peter, sog. Caradosso- Gründungsmedaille nach dem Entwurf von D. Bramante, 1506, Rekonstruktion TU Darmstadt nach Koob 2005
ge Generationen umfassenden Gipfelpunktes der frühneuzeitlichen Kultur in der kurzen Phase der sog. Hochrenaissance um 1500 populär machte. Als einem der Ersten gelang es ihm, die bisher in der Nachfolge Vasaris aus Künstlerviten linear zusammengesetzten, nach Gattungen getrennten ‚Geschichten‘ in eine universelle ‚Geschichte‘ jener Epoche umzuformen, in der Politik und Philosophie, Künste und Biographik zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammengewoben wurden. Neben einer enormen Kennerschaft war es vor allem seine plastische, suggestive Sprache, die ihn zum vermutlich einflussreichsten Kunsthistoriker des 19. Jh.s machte: einer Zeit, die gerade den dogmatischen Klassizismus und sein christlich konnotiertes Gegenbild, die Neugotik, durch ein drittes Ideal, die Neurenaissance, als genuin bürgerlichen Bau- und Lebensstil zu ergänzen gedachte. Wie stark man die Renaissance als Quelle der eigenen Epoche des Historismus und des Fortschritts verstand, zeigt Burckhardts Charakterisierung von Michelangelo: „Die fruchtbringendste Seite, von welcher aus man Michelangelo betrachten kann, bleibt doch wohl die historische. […] Die Signatur der letzten drei Jahrhunderte, die Subjectivität, tritt hier in Gestalt eines absolut schrankenlosen Schaffens auf.“ (Burckhardt 1855/2001, S. 539.) Im Unterschied zu Vasari schilderte Burckhardt Kunst nicht als Künstler-, sondern als Kulturgeschichte. Er erkannte und betonte den inneren Zusammenhang von Bauherrenwunsch und Künstlerehrgeiz und deutete die Renaissance als Epoche der starken, in einem durchaus bewundernden Sinne kompromisslosen Individuen: „Der gewaltige Julius II., schon als Kardinal baulustig bis zur höchsten Anstrengung seiner Kräfte, unternahm den Neubau von St. Peter und dem Vatikan in einem großen und freien Sinne, wie ihn kaum ein Bauherr je gehabt. […] Mit diesem Bau […] stellte sich das Papsttum auf lange Zeit an die Spitze alles Monumentalen im ganzen Abendlande. […] Wogegen kaum in Betracht kommt, daß unter Leo X. der Bau einiges zum Ausbruch der
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Reformation mit beigetragen hatte. […] Die höchste Ambition, die der Privatbau auf Erden an den Tag gelegt hat: Palazzo Pitti, für Luca Pitti erbaut.“ (Burckhardt 1867/1970, S. 12 ff.) Der Barock, im 19. Jh. auch als ‚Jesuiten- und Perückenstil‘ verunglimpft, galt dagegen als charakteristischer Ausdruck der nunmehr durch die Aufklärung überwundenen Missstände von Absolutismus und Gegenreformation, die jener ersten, scheinbar in der Renaissance für kurze Frist erkämpften Befreiung des Individuums erkennbar Gewalt angetan, sie wieder in eitlen und sittenlosen Fürstendienst genommen und dadurch verdorben hätten. In seiner berühmten „Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens“, dem (nach einem damals geläufigen Ausdruck für italienische Reiseführer benannten) „Cicerone“, fasste Burckhardt den geläufigen Abscheu seiner Zeit in die Worte: „Man wird fragen: wie es nur einem Freunde reiner Kunstgestaltungen zuzumuten sei, sich in diese ausgearteten Formen zu versenken, über die die neuere Geschichte schon längst den Stab gebrochen? [...] Die Barockkunst spricht dieselbe Sprache wie die Renaissance, aber einen verwilderten Dialekt davon. […] Manche Architekten komponieren in einem beständigen Fortissimo. […] Eine nahe Folge dieser Derbheit war die Abstumpfung des Auges für alle feinern Nuancen.“ Er diagnostizierte zwar in der Bewegtheit barocker Formen „ein krankhaftes Leben“ und „Fieberphantasien der Architektur“, warb aber vorsichtig für eine differenzierte Betrachtung der Werke jener Jahrhunderte: „Die Physiognomie dieses Styles ist gar nicht so interesselos wie man wohl glaubt.“ (Burckhardt 1855/2001, S. 296 ff.) Den Schülern Burckhardts war es vorbehalten, die von ihrem Lehrer angedeutete Revision dieses allzu einseitigen Urteils zu betreiben. Heinrich Wölfflins Dissertation von 1888 mit dem Titel „Renaissance und Barock“ begann auf der Basis des bisherigen Klischeebildes einer „Entartung der Renaissance“ im Barock mit einer vorsichtigen Neubewertung: Die markanten Unterschiede beider Stile seien nicht einem Abfall der Qualität, sondern einer Veränderung der künstlerischen Intention geschuldet. Der Autor entwickelte hierfür die Gegensatzpaare „linear – malerisch“, „flächen- und körperhaft“ und deutete die Renaissance als „schönes ruhiges Sein“, den Barock dagegen als „unruhiges Werden“, als „Massigkeit und Bewegung“ (Wölfflin 1888, S. 26 ff.): „Der Barock gibt nur das Große […] ein auf das Unendliche gerichtetes Raumgefühl […]. Der Barock ist aber ein wesentlich neues, das sich aus dem Vorhergehenden nicht ableiten lässt.“ Wölfflin erkannte zutreffend, dass der Wandel des Zeitgeschmacks in der Gegenwart das Verständnis für die Eigenarten bestimmter vergangener Epochen befördert: „Es sind die gleichen Effekte, mit denen ein Richard Wagner wirkt […] Seine Kunstweise deckt sich denn auch vollständig mit der Formgebung des Barock.“ (Ebd. S. 65.) Tatsächlich wurde in denselben Jahren mit Bauten wie dem Berliner Reichstagsgebäude Paul Wallots oder dem Wiener Kaiserforums-Projekt Gottfried Sempers eine neue Wertschätzung für jene Bauweise, Raumtypen und Dekorationsformen erkennbar, die über die ‚klassische Renaissance‘ deutlich hinauswiesen und als ‚Neubarock‘ die Stilpalette des Historismus erweiterten. In seinem 1915 erschienenen Hauptwerk „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“ erweiterte Wölfflin dieses Modell um die Begriffe „flächenhaft-tiefenhaft, Vielheit und Einheit, Klarheit und Unklarheit“ sowie auf nationale Zuschreibungen, indem er bestimmten Völkern besondere Neigung zu dem einen oder anderen Formprinzip und beiden überzeitliche Gültigkeit attestierte: „daß jedes Volk in der Kunstgeschichte Epochen hat, die vor anderen als die eigentümliche Offenbarung seiner nationalen Tugenden erscheinen. […]
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für den germanischen Norden ist es das Zeitalter des Barock.“ (Wölfflin 1915/1991, S. 274.) Unverkennbar ein hochideologisches Denkmodell, genährt auf dem Humus jenes Nationalismus, der im gleichzeitig wütenden Ersten Weltkrieg seinen blutigen Höhepunkt fand. Die Erschütterung aller bisherigen Ordnung nach 1918, verbunden mit dem Siegeszug der künstlerischen ‚Moderne‘, lenkte das Interesse auf eine Tendenz, die bisher nur als Übergang zwischen den nun zu Antagonisten erklärten Groß-Stilen ‚Renaissance‘ und ‚Barock‘ verstanden und unter dem ebenfalls zunächst abfälligen Titel ‚Manierismus‘ eher beiläufig betrachtet worden war. Jetzt erschien sie als eine Phase der krisenhaften Infragestellung des Gewesenen, der starken individuellen Künstlerpersönlichkeiten und der Vorliebe für formale Brüche und Extrempositionen auf einmal als besonders interessant, ja (wiederum) als Vorläufer der eigenen Epoche: „In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts machen sich in ganz Europa Anzeichen eines Stils bemerkbar, der nicht mehr zur Hochrenaissance gehört und dem folgenden des Barock direkt entgegengesetzt ist; man hat dafür die Bezeichnung des Manierismus verabredet. Daß diesem Begriff nichts von Verfall, Übergangserscheinung, Unechtem anhängt, zeigt am eindringlichsten Vasaris Uffizienbau.“ (Vasari/Siebenhüner 1940/1997, S. XV f.) Es handelte sich um das Zeitalter Michelangelos: Hatte dieser bisher als Vollender der Renaissance und Prophet des Barock gegolten, so erkannte man in ihm nun den Hauptvertreter jener Kunstrichtung, die von Künstlerarchitekten wie Giulio Romano und Bartolomeo Ammanati, dem Maler El Greco oder dem Bildhauer Giambologna geprägt wurde (Hauser 1964/1979, S. 161 ff.). Die zeittypische Vorliebe für das Hyperindividuelle, Überkomplizierte, Künstlich-Kunstvolle als ‚Markenzeichnung‘ ihres jeweiligen Schöpfers bezeichnete man mit einem Terminus Vasaris als Epoche der maniera, also der Überbetonung der alle gängigen Regeln selbstbewusst erweiternden oder gezielt negierenden ‚Handschrift‘ bzw. ‚Machart‘ (Vasari/Burioni 2004, S. 267ff.). Michelangelo z. B. gestaltete für Papst Julius III. um 1550 eine Fassade, „so mannigfaltig und schmuckreich als immer möglich und nach neuer Manier und (Säulen-)Ordnung ausgeführt, da er sich hier wie bei allen seinen Arbeiten weder an ein älteres noch an ein späteres Gesetz der Baukunst binden mochte, als ein Künstler, der stets geschickt war, neue mannigfaltige und nicht minder schönere Dinge zu erfinden“ (Vasari 1568, hier zit. nach Blum 2011, S. 142). Der Manierismus ist in der Baukunst schwerer dingfest zu machen als in den Bildkünsten, deshalb wird er meist in deren Zusammenhang analysiert. Er erscheint nicht als autonomer, klar abgrenzbarer Stil, sondern als Farbe, Tendenz oder Haltung, die weder in ihrer Zeit noch im Werk der sie prägenden Künstler alternativlos war: Della Porta, Vignola und Palladio (□ 6, □ vgl. 12, 92) konnten je nach betrachtetem Bau mit ebenso guten Gründen für die Spätrenaissance oder als Pioniere des Barock vereinnahmt werden. Auch das verband den Manierismus mit den ‚-ismen‘ des 20. Jh.s, die ja ebenfalls zeitgleich existierten und von ihren Exponenten durchaus ‚angenommen‘ und wieder ‚verlassen‘, also optional eingesetzt werden konnten. Diese das zeitbedingte Interesse anregende Parallele wird im Titel eines vielzitierten Buches Arnold Hausers von 1964 besonders deutlich: „Der Manierismus. Die Krise der Renaissance und der Ursprung der modernen Kunst“. Seit den 1920er Jahren sah man im Manierismus einen programmatisch ‚antiklassischen‘ Stil, der sich bewusst von den bisher gültigen scheinbaren Sicherheiten und Regelwerken abzugrenzen gedachte (Friedländer 1925). Nikolaus Pevsner, wie viele prägende Köpfe sei-
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31 □ 6 Rom, Palazzo Farnese, Rück fassade zum Garten, G. della Porta, ca. 1575
ner Generation ein nach 1933 wegen jüdischer Abstammung aus Deutschland vertriebener und danach im angelsächsischen Ausland einflussreicher Autor, erkannte dagegen im Manierismus die Kunst der Gegenreformation, also jener katholischen Reformbewegung des späten 16. Jh.s, die bis dahin ausschließlich mit dem Barock assoziiert worden war (Pevsner 1925). Hauser betonte zu Recht, dass der Manierismus im Unterschied zur vorherigen Hochrenaissance kein rein italienisches, sondern ein gesamteuropäisches Phänomen sei (Hauser 1964/1979, S. 236ff.). Er gehe in den nordischen Ländern direkt aus der Gotik hervor. Der ungarische Autor schlug gemäß seiner vom marxistischen Materialismus geprägten Denkweise vor, das Gefühl der „Entfremdung“ (ebd. S. 93 –113), die Verunsicherung und Erschütterung, die diesem Stilphänomen zugrunde zu liegen schien, mit den Umbrüchen der Zeit, z. B. der Reformation, dem beginnenden Frühkapitalismus, Aufständen wie dem deutschen Bauernkrieg oder dem Ende der scheinbar so harmonischen Hochrenaissancekultur im sog. Sacco di Roma, der Belagerung Roms durch die Truppen Kaiser Karls V. im Jahre 1527, zu erklären, die Kunst somit als Seismographen sozialer Prozesse und kollektiver Befindlichkeiten zu deuten: „Manche der wesentlichen Merkmale des Manierismus kommen gerade hier [in der Architektur] am empfindlichsten zum Ausdrucks, so vor allem das Gefühl des Gehemmten und Unfreien bei allem Streben nach Bedingungslosigkeit, die Flucht ins Chaotische bei allem Bedürfnis nach Schutz vor dem Chaos, […] der versuchte Ausbruch ins Freie und gleichzeitig das plötzliche Abgeschnittensein von der Umwelt, der immer wieder gehemmte Elan […]. Das Gefühl, das sich des Betrachters […] als Beunruhigung bemächtigt, steigert sich in der Vorhalle der Laurenziana (1524 entworfen) zum Unbehagen. […] Hier wird die Straßenfront in einen Innenraum eingezwängt, den sie zu sprengen droht, und der Anblick wirkt fast ebenso beängstigend wie der Raum des Gigantensturzes Giulio Romanos in der Residenz von Mantua.“ (Ebd. S. 276 f.) Gerade dieses Beispiel belegt, wie stark Stilbegriffe Geschichtsentwürfe codieren und dieselben Phänomene mit völlig entgegengesetzten, aus der jeweiligen Gegenwart der Betrachter gewonnenen, vorformulierten Deutungen belegen. Einen anderen Zugang zur selben Epoche suchte Rudolf Wittkower, ein weiterer prominenter Vertreter jener Zwangsemigration, welche die Rassenpolitik des NS-Regimes auslöste und die bis dahin führende
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Stellung der deutschen Kunstgeschichtsforschung wie so viele andere Errungenschaften der kulturellen Hochblüte Deutschlands radikal beschnitt. Er fand Aufnahme in der nach London geretteten Bibliothek des Hamburger Bankierssohns und Privatgelehrten Aby Warburg, der einen ganz anderen Aspekt der Kunstgeschichte in den Vordergrund rückte: Nicht mehr die anscheinend ‚gesetzmäßige‘ Entwicklung der Formen im Sinne einer sie überwölbenden Stilgeschichte, sondern die Bedeutung und Botschaft des einzelnen Kunstwerks, seine konkrete Zeichenhaftigkeit sollte im Vordergrund der Untersuchung stehen. Diese Deutungen konnten nicht retrospektiv und spekulativ aus einem gerade zeitgemäß erscheinenden, generalistischen Interpretationsmodell, sondern vielmehr nur aus den Einzelzeugnissen der Werke erschlossen werden, den Schriftquellen und dem kulturellen Kontext der Entstehungszeit. Authentische Texte der Philosophie und Kunsttheorie dienten hierbei als primäre Hilfsmittel zur Deutung der Architektur ‚aus ihrer Zeit heraus‘. Die Frage lautete nun nicht mehr: Was empfinden und denken wir heute, sondern: Wie dachte und redete man damals über Kunst? Diese philologische Methode erschloss einerseits einen gewaltigen neuen Quellencorpus, andererseits verwandelte sie die Kunstwissenschaft in vielen Fällen zur historisch orientierten Textexegese: Nun erschien das, was zur Entstehungszeit schriftlich fixiert wurde, auf einmal als die Essenz der Werke selbst, als ultimative Anleitung ihrer Lesbarkeit und (Be-)Deutung. Hatte zuvor die Gefahr bestanden, die Objekte durch eine allzu stark vom jeweiligen Zeitgeist getönte Brille zu betrachten, die stets nur ganz bestimmte Farben und Muster erkennbar ließ, so drohte nun gelegentlich das Werk zum sichtbaren Beleg jener verbalisierten Bedeutungsebenen zu regredieren, welche die Zeitgenossen ihm beigelegt hatten. Erwin Panofsky, der vielleicht wichtigste Vertreter des Warburg-Kreises (Panofsky 1960), erkannte in Michelangelos Fragmentästhetik nicht mehr eine ihrer Zeit vorauseilende Vorankündigung der Moderne, sondern die sozusagen textgetreue Umsetzung des zeitgenössischen, platonisch grundierten Denkmodells des nonfinito, des (bewusst unvollständigen) Herausarbeitens einer präexistenten Idee aus der störrischen Materie (□ 7). Ein gutes Beispiel dieses neuen, für die Nachkriegszeit prägenden Deutungsansatzes gibt Wittkowers höchst einflussreiches Buch „Architectural principles in the age of Humanism“ von 1949: „Renaissance-Architektur, so lautet die These, die mit einer Fülle zeitgenössischer Aussagen gestützt werden kann, ist als Abbild oder Spiegel einer pre-existenten mathematischen Weltharmonie gedacht.“ (Wittkower 1949/1969, S. 8.) In einem Kapitel über Palladios Proportionen (ebd. S. 107–114) versucht der Autor, einen direkten Zusammenhang mit der Musiktheorie jener Zeit nachzuweisen, indem er die Schriften von Auftraggebern und Korrespondenzpartnern des Architekten, z. B. des Vitruvkommentators Daniele Barbaro oder eines Geometers namens Silvio Belli zu Rate zieht. Wittkower unterstellt nun, dass die in diesen Schriften aufgelisteten harmonischen Proportionstabellen auch für Palladios Entwürfe, z. B. die für eben jenen Daniele Barbaro errichtete Villa bestimmend gewesen seien, und belegt dies mit den Zahlenfolgen, die Palladio in die von ihm selbst in den „Quattro Libri“ publizierten Grundrissen seiner Bauten eingetragen hatte. Die nach diesem Schema vorgeschlagenen Kontextbezüge bleiben oft ebenso spekulativ wie andere retrospektive Deutungsversuche, haben aber den Vorzug, die Kunstgeschichte als scheinbar ‚exakte‘, also quellengestützte historische Forschung, nicht als rein ästhetisch begründete ‚intuitive‘ Exegese zu etablieren.
II. Grundzüge der Architekturgeschichte
33 □ 7 Florenz, Boboli-Garten beim Palazzo Pitti, Grotte mit den Sklaven-Figuren ichelangelos, M B. Buontalenti, 1583
Im 20. Jh. hat sich ein historisches Denkmodell durchgesetzt, das die Neuzeit in zwei Phasen untergliedert: die ‚vormoderne‘ sog. Frühe Neuzeit und die Moderne, deren Beginn man mit dem Zeitalter der Industrialisierung und der Nationalstaaten ansetzt: Als gängige ereignisgeschichtliche Zäsur gilt hierbei meist die Französische Revolution von 1789. Für die Kunstgeschichte warf diese Einteilung die Frage auf, wie sich ein so einschneidender Übergang einer Epoche in die nächste formal ausgedrückt habe: Das Modell einer klaren Trennlinie, wie sie Vasari zwischen Gotik und Renaissance, Mittelalter und Neuzeit zog, war für das 18. Jh. nicht ohne weiteres zu reaktivieren. Zwei stilistische Strömungen, die man Rokoko und Klassizismus nennt, entstanden etwa gleichzeitig um 1720 in den westeuropäischen Zentren London, Paris und (inzwischen als Innovationszentrum etwas abgeschlagen) Rom, aber wirklich revolutionäre Tendenzen waren in beiden Bewegungen vorderhand nicht zu erkennen. Während sich der Klassizismus vor allem in England als ‚Neopalladianismus‘ im Gewand einer Wiederbelebung historischer Vorbilder, also eigentlich rückwärtsgewandt inszenierte |▶ 45–47| und mit der Idealisierung der neuentdeckten griechischen Kunst im Grunde nur eine weitere ‚Wiedergeburt der Antike‘ eingeleitet hatte |▶ 49|, schien das Rokoko (□ 8) kaum mehr als eine dekorativ-ornamentale Variante erprobter barocke Schemata zu sein, die sich in den Metropolen als kurzlebige Mode der Innenraumdekoration erwies |▶ 43| und vor allem in den als eher rückständig betrachteten katholischen Regionen Mitteleuropas zu einem letzten Aufblühen der kirchlichen Kunst führte |▶ 40, 42|. Der Stil wurde schon von den Zeitgenossen nach einer charakteristischen Ornamentform, der von einer Muschel abzuleitenden sog. Rocaille-Kartusche (□ vgl. 33) benannt (Bauer 1962). Hans Sedlmayr, der zu den Profiteuren des Exodus jüdischer Wissenschaftler gehörte und aus seiner entschlossen konservativen, ja reaktionär-antimodernen Haltung keinen Hehl machte, erkannte in dem zumeist unterschätzten Rokoko einen eigenen, vom Barock
Dem Wandel einen Namen geben
34 □ 8 Potsdam, Schloss Sanssouci, Konzertzimmer, G.W. v. Knobelsdorff, 1743–47
auch programmatisch zu unterscheidenden ‚Meta-Stil‘, welcher mit der gleichzeitigen Bewegung der Aufklärung korreliere und dessen genuin revolutionäres Potential sich unter dem schönen Schein freundlicher Heiterkeit verberge (Sedlmayr 1962). In seiner in der Nachkriegszeit viel gelesenen Programmschrift „Verlust der Mitte“, welche eigentlich „die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit“ einer scharfen Kritik unterzieht, deutet er das Rokoko als eine von drei „Kunst-Revolutionen des 18. Jahrhunderts“ (Sedlmayr 1948/1963, S. 143 –148). Im Gegensatz zu Vasari, der den Aufbruch in eine neue Zeit als Wiedergeburt bejubelte, beklagt Sedlmayr das Zerbrechen jener Einheit von Religiosität und künstlerischem Genie, die er als Kennzeichen des Barock ansieht, als einen herben Verlust, einen Abstieg, einen ‚Krankheitsverlauf‘, der die folgenden zwei Jahrhunderte der Moderne als Verlusterfahrung prägen sollte. „Die Baukunst zeigt die Tendenz, alle plastischen, anthropomorphen und malerischen Werte – die im Barock eng miteinander verschmolzen waren – aus sich auszustoßen, auch das Element der Farbe und das Ornament, zuletzt auch die ‚Säulenordnungen‘, auf denen die Architektur seit der Renaissance beruht hatte.“ (Ebd. S. 65.) „Trotzdem tritt die Epoche als Ganzes noch nicht heraus aus der großen Einheit […]. Noch ist sie in Régence und Rokoko fähig, ein reiches Ornament hervorzubringen […]; aber dahinter kühlt die Architektur schon aus.“ (Ebd. S. 145 f.) Sedlmayr sieht in den Innovationen des 18. Jh.s die erste Welle eines „Angriffs auf die Architektur“, z. B. im Englischen Garten, der sich von der Suprematie des Schlosses befreit habe, oder der künstlichen Ruine (□ vgl. 30), welche den Anspruch auf Dauerhaftigkeit von vornherein negiere und „wie ein demaskierender Traum“ verrate, dass „eigentlich schon auf dieser Stufe der Tod der Architektur gewünscht wird“, welcher dann als unausgesprochenes Ziel der die Moderne einleitenden, zeitlich anschließenden „Revolutions-Architektur“ zu konstatieren sei (ebd. S. 77– 87). Den Begriff ‚Revolutionsarchitektur‘ entleiht Sedlmayr bei Emil Kaufmann, einem weiteren Emigranten, der diesen überaus suggestiven Terminus als Sammelbezeichnung für eine Gruppe vor allem französischer Baumeister des späten 18. Jh.s eingeführt hat, in deren Werk man seitdem den gesuchten (und von Kaufmann herbeigesehnten) Aufbruch in die Moderne wiederzuerkennen meint, auch wenn die darunter subsumierten Bauten
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mehrheitlich noch unter der Herrschaft Ludwigs XVI., im sog. Ancien Régime entstanden. Kaufmann konstatiert ebenso wie Sedlmayr, freilich mit entgegengesetzter, begeisterter Emphase und mit Blick auf andere Beispiele die Geburt der Moderne im Gewand eines vormodernen Stils, hier des Klassizismus. Sein 1933 erschienenes Buch verrät bereits im Titel die suggestive Stoßrichtung seiner Darstellung: „Von Ledoux bis Le Corbusier. Ursprung und Entwicklung der Autonomen Architektur“. In einer für den Historiker eigentlich unstatthaften Perspektivierung konstatiert er, sein ‚Held‘ Claude-Nicolas Ledoux habe „als erster – nicht bloß in dunkler Ahnung ferner Ziele, sondern im klaren Bewußtsein – den weiten Weg vom Barock bis zur Architektur des 20. Jahrhunderts durchmessen […] ist sein Werk die erste Verkündigung neuer künstlerischer Ziele, greifbares Zeugnis des Werdens einer neuen Welt“ (ebd. S. 6). Obwohl Ledoux nur knapp der Guillotine entkam und seine Zollhäuser um Paris (□ 9) ebenso sehr dem „unfruchtbaren Klassizismus“ (ebd. S. 5) wie der Monarchie als Auftraggeberin verhaftet waren, wurde Kaufmanns prägnanter Begriff zur allgemein gebräuchlichen Metapher, unter der seitdem auch Boullée und einige andere Zeitgenossen subsumiert werden. Kaufmann erkennt im architektonischen Werk Ledoux’ eine Parallele zu Kants gleichzeitiger Philosophie: „Eben in jenen Jahren von 1770 bis 1790 bereitete sich die große Revolution vor, die das Gesellschaftssystem des Abendlandes völlig verändern sollte. […] Immer geht es um eine tiefgehende, wir können heute schon sagen endgültige Abkehr vom Hergebrachten; um ein bewußtes Ziehen reinlich scheidender Grenzen; um den großen Schritt zur neuen Eigengesetzlichkeit.“ (Ebd. S. 12.) Ein letztes Mal protokolliert dieses Kapitel somit eine entschieden gesetzte Grenzmarkierung, die der wahre Beweggrund aller Stilbegriffe ist. Mit gutem Grund wird der anschließende Band dieser Reihe von Christian Freigang zur Architekturgeschichte der Moderne mit dem Werk Ledoux’ beginnen.
□ 9 Paris, Zollhaus Barrière de la Villette, C.-N. Ledoux, 1788
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Die Szene ausleuchten Fragestellungen und Methoden
I
n der Einleitung wurde die Vielzahl architekturhistorischer Modelle mit Scheinwerfern verglichen, welche gerade in ihrer Differenziertheit durch Gegenlicht zur Reliefierung des Bildes beitragen. Alle bisher vorgestellten Bücher können unter der Rubrik ‚Überblickswerke‘ subsumiert werden, die eine ganze Epoche, eine geistesgeschichtliche Strömung, eine Stilentwicklung durch die vergleichende Zusammenschau vieler einzelner Objekte charakterisieren wollen. Im Folgenden sollen andere Textformen benannt werden, die jeweils exemplarisch für bestimmte Forschungsansätze stehen. Neben dem von Vasari entwickelten künstlerbiographischen Modell und dem vergleichenden, stilgeschichtlich orientierten historischen Querschnitt existieren weitere wichtige Forschungsansätze, die man bei der Beschäftigung mit einem Objekt am besten zusammen konsultieren sollte. Die hier folgende Auflistung ist lediglich exemplarisch, keinesfalls als vollständig zu verstehen, und versucht im Sinne der Scheinwerfer-Metapher bestimmte Aspekte möglichst scharf herauszuarbeiten. Die genannten Kategorien sind keine Schubladen, sondern bezeichnen Blickrichtungen; die meisten Texte dürften sich durch eine Kombination verschiedener, hier aus Gründen der besseren Verständlichkeit getrennt beschriebener Methoden auszeichnen. Als Erstes sei die sog. Architekturikonologie (auch: Architekturikonographie) benannt. Im Fokus dieses Modells steht nicht die Innovationsleistung innerhalb einer formalen Entwicklung oder die gestalterische Qualität eines einzelnen Gebäudes, sondern die (Be-)Deutung, welche einer architektonischen Lösung einst zugeschrieben wurde. Dem Ansatz Wittkowers verwandt, ist diese Methode stark quellen- und textbasiert. Sie fragt nach dem Mediencharakter, also der Botschaft und Lesbarkeit der Formen in ihrer Entstehungszeit. In einer Rezension zu Erik Forssmans Buch „Dorisch, Ionisch, Korinthisch. Studien zum Gebrauch der Säulenordnungen in der Architektur des 16.–18. Jahrhunderts“ beschrieb Heinrich Klotz die bisher blinde Stelle, welche dieses Werk nun ausleuchtete: „dass die Kunstgeschichte allzu oft stilistisch interpretiert hat, wo sie vitruvianisch hätte lesen müssen“ (Forssman 1961/1984, S. 5). Forssman betont die Kontinuitäten und Rezeptionsphänomene der frühneuzeitlichen Architektur über scheinbare stilistische und nationale Grenzen hinweg. Er begründet Michelangelos Option für die Dorica mit glatten Säulenschäften im Laurenziana-Ricetto (□ 10) so: „Sie erscheinen als eines der wichtig sten Mittel, dem ganzen Raum den Charakter männlichen Ernstes mitzuteilen. […] Sicher hätte sich mit der triumphalen, reich geschmückten Corinthia in diesem Saal auch eine gehobenere, vielleicht sogar heitere Stimmung verbreitet, die aber offensichtlich nicht beabsichtigt war.“ Die häufige Verwendung der in der Hierarchie der Ordnungen die Mitte bezeichnenden Ionica an nordalpinen Rathäusern erklärt Forssman (ebd. S. 84–89) durch den Verweis auf das 1718 erschienene Buch des Theoretikers Leonhard Christoph Sturm, der bemerkt: Es schicken sich aber dazu [zum Rathausbau] alle Ordnungen außer die Tuscanische nicht, und sollte bilig auch die Corinthische nicht gebraucht werden, außer allein solchen Rathäusern, wo der Rat die Ober-Herrschafft hat, als in freyen Republiquen […]. Der Textauszug erscheint wie eine Leseanleitung zum die frisch erkämpfte staatliche
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Unabhängigkeit feiernden Amsterdamer Rathaus |▶ 32|. Eine andere Textgattung, die sog. Baumonographie, stellt ein einzelnes Gebäude in den Mittelpunkt, indem sie alle dazu verfügbaren Quellen zusammenträgt und kritisch auswertet: Hierbei wird nicht in Analogien gedacht wie bei Wittkower und Forssman, sondern man befragt ganz konkret die Pläne, Baurechnungen, Zeitgenossenberichte, Tagebücher, Zeichnungen von Reisenden als Zeugnisse des gerade Realisierten etc. So können bei komplexen Bauverläufen wie z. B. der Errichtung der Kirche S. Agnese an der römischen Piazza Navona um 1650 |▶ 26| die Anteile Borrominis, Berninis und der Rainaldi nicht durch oft mehrdeutige stilistische Zuschreibungen, sondern auf Basis harter Fakten, Baufugen und oft trocken- unanschaulicher Aktenbelege rekonstruiert werden. Ein Meisterwerk dieser Gattung ist die zweibändige Arbeit Gerhard Eimers zu dieser Kirche von 1970, die sogar mit einer beiliegenden Schallplatte die Kompositionen des Architekten Rainaldi, welche vermutlich in der Kirche aufgeführt wurden, zu Gehör bringt. Durch den mikroskopischen □ 10 Florenz, Bibliotheca Laurenziana bei S. Lorenzo, Blick, den Eimer infolge der exzeptionell sog. Ricetto (Treppenhaus), Michelangelo, 1524 – 60 dichten Aktenlage hier gewinnt, unterzieht er auch das klassische Bild von der scheinbar übermächtigen Zweierbeziehung des Auftraggebers mit ‚seinem‘ Künstler einer Revision: „Ein Aufsteigen künstlerisch wirksamer Kräfte von unten nach oben hat man bisher kaum in Erwägung ziehen mögen. Es hilft uns nicht weiter, an immer neuen Beispielen nachzuweisen, wie gebildet und reif der Auftraggeber eigentlich war, wie unentbehrlich seine Rolle für die Entstehung dieses oder jenes Kunstwerks gewesen ist […]. Angesichts eines solchen Befundes kann man sich […] der Berücksichtigung des im Fall von S. Agnese offenkundigen Pluralismus bei der Entstehung eines stilgeschichtlich wichtigen Monuments nicht entziehen.“ (Ebd. S. 18.) Eimer wendet sich hierbei gegen eine zum Jahrhundertende immer mehr Zuspruch gewinnende Richtung, die man ‚Auftraggeber-‘ oder ‚Patronageforschung‘ nennen kann. Hatte Vasari noch die wettstreitenden, quasiautonomen Künstler als die entscheidenden Träger der Innovation gesehen, so greift diese neuere Position Jacob Burckhardts Ansatz einer kulturgeschichtlichen Gesamtbetrachtung wieder auf, in welcher die Bauherren mindestens so prägend und innovationsfördernd erscheinen wie die von ihnen Beauftragen. Die durchaus zutreffende Erkenntnis, dass viele Entscheidungen und Initiativen tatsächlich auf den architektonisch hoch gebildeten Geldgeber zurückzuführen waren, lässt die-
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sen in manchen Darstellungen zu einer Art Über-Künstler emporwachsen, der wie ein Regisseur unsichtbar aus dem Hintergrund seine Akteure lenkt. Es ist vielleicht kein Zufall, dass dieses Modell an Plausibilität gewann, als der Film endlich als eigenständige Kunstgattung anerkannt wurde. Ein typisches Beispiel dieser Forschungsrichtung ist Thomas DaCosta Kaufmanns Werk „Höfe, Klöster und Städte. Kunst und Kultur in Mitteleuropa 1450 –1800“ von 1995 (deutsch 1998). Die Perspektive des Buches ist geprägt von der Öffnung (Ost-)Mitteleuropas nach 1989, das nun endlich problemlos wieder bereist und als zusammenhängender Kulturraum jenseits nationaler Grenzziehungen und Blockgegensätze erfahrbar wurde. Seine Zusammenschau des gesamten Vitruvianischen Zeitalters überspringt die Zäsuren von Stilgrenzen, Dynastien und Konfessionen und deutet Nordeuropa zwischen Rhein und Dnjestr als vornationale kommunikative Einheit. Im Unterschied zum traditionellen Modell des exklusiven Dialogs zwischen Künstler und Bauherr wird hier ein komplexeres Bild entworfen, in dem als dritte Kraft das Kollektiv der Rezipienten, die ‚Gesellschaft‘ hinzutritt: Der Mediencharakter von Kunst und Architektur im Dienste einer politischen Botschaft der Herrschenden an die Beherrschten wird als bestimmend für die formale Gestaltung herausgestellt. So deutet DaCosta Kaufmann die auffällige Mischung gotischer mit Renaissanceformen beim Prager Wladislawsaal |▶ 7| als eine genaue Widerspiegelung der dynastischen Verhältnisse, indem der meist in Buda residierende König aus dem Hauses Jagiello die in Ungarn bereits gebräuchlichen italienischen Formen mit der böhmischen spätgotischen Tradition habe verschmelzen lassen: Die Einführung neuer Stilformen sei vermutlich „ideologisch begründet“: Die zur Stadt hin gerichteten Renaissancefenster „präsentieren so der Öffentlichkeit die neuen ästhetischen Werte des Hofes“ (ebd. S. 62– 67). Es ist unschwer zu erkennen, dass in einer solcher Betrachtungsweise die individuelle Künstlerpersönlichkeit keine entscheidende Rolle mehr spielt: Der Gestalter wird zum Art Director einer PR-Kampagne, seine Funktion auf die eines ausführenden Organs reduziert. Ein weiterer wichtiger Untersuchungsgegenstand der Architekturgeschichte ist die Genese einzelner Baugattungen: Hierbei werden nicht alle Gebäude einer Epoche oder Region, sondern nur die eines bestimmten Typus oder einer Funktion nebeneinandergestellt und deren Entwicklung über einen bestimmten Zeitraum nachgezeichnet. Solche typologischen ‚Reihenuntersuchungen‘ berücksichtigen, dass ein Bauherr meist die bereits existierenden Beispiele eben jener Gebäudeart in seinem regionalen und sozialen Umfeld vor Augen hatte, nicht aber unbedingt, was gleichzeitig an weit entferntem Ort unter anderen Voraussetzungen für abweichende Belange errichtet wurde. Die architektonische Diskussion erfolgte vermutlich meist baugattungsbezogen und kontextorientiert. Als Beispiel kann die 1996 publizierte Habilitationsschrift von Katharina Krause mit dem Titel „Die Maison de Plaisance – Landhäuser in der Ile-de-France (1660 –1730)“ genannt werden. Die Autorin untersucht darin jene Villen mit großen Gärten, die sich Adel und reiches Bürgertum sozusagen im Windschatten der übermächtigen staatlichen Baupolitik Ludwigs XIV. |▶ 35–38| im Pariser Umland errichteten. Die Kapitel des Buches differenzieren nach sozialem Rang der Auftraggeber und Bauzeit (hier in ziemlich enger Taktung), aber dies beschreibt nur die äußeren Rahmenbedingungen, vor denen sich die letztlich gestaltungsrelevanten individuellen, durch Topographie, persönliche Vorlieben des Bauherrn und Kreativität des Architekten geprägten Einzelentscheidungen entfalten.
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Der Anschein eines zwangsläufigen ‚So-und-nicht-anders‘, der durch die Überbetonung des Programmatisch-Medialen in der Auftraggeberforschung gelegentlich entsteht, wird hier vermieden. Als Beispiel sei auf die Planung des Landhauses Issy für den Pariser Gerichtspräsidenten Denis Talon durch Pierre Bullet um 1685 verwiesen. Krause (ebd. S. 222–237) belegt durch die Ordnung und Analyse des umfangreich überlieferten Planund Bildmaterials – die Anlage selbst ist wie die Mehrheit der besprochenen Bauten nicht erhalten –, wie Bullet sich um eine eigenständige, ‚ins Französische übersetzte‘ Variante eines palladianischen Villentypus |▶ 18, 45| bemühte und welche Spannungen zwischen französischen Nutzungskonventionen und italienischen Formtraditionen dabei auszugleichen waren. Das bezeugt eine Entwurfszeichnung für eine Villenfassade (□ 11), die links eine französische, im Formenapparat reduzierte Variante und rechts eine palladianische mit ionischer Kolossalordnung zeigt: Ein guter Beleg dafür, dass der Gestaltung des einzelnen Gebäudes auch im Zentrum des Absolutismus ein hohes Maß an reflektierter Optionalität zukam. Zugleich bestätigt die Arbeit, wie gut man Architekturgeschichte allein auf sorgfältig ausgewerteter Quellenbasis betreiben kann, wenn sich (wie in diesem Falle) Papier einmal wieder dauerhafter als Stein erwies. Im neuen Jahrtausend wurde ein interdisziplinärer Forschungsansatz populär, der zunächst aufgrund seines Namens für die Architekturgeschichte ungeeignet erscheinen musste: die sog. ‚Bildwissenschaft‘ (Frank/Lange 2010). Nun war die Deutung von Bildern an sich ja kein Neuland für die Kunstgeschichte; vielmehr ging es darum, auch andere historische Bildformen, denen bisher der Kunstcharakter mehrheitlich abgesprochen worden war – wie beispielsweise der druckgraphischen Illustration wissenschaftlicher Werke –, als gleichwertig in die Betrachtung einzubeziehen. Das ist für den Gegenstand dieses Buches insofern relevant, als wie dargelegt die Vermittlung von Architektur im Vitruvianischen Zeitalter regelmäßig über ‚wissenschaftliche‘ illustrierte Publikationen erfolgte. Andererseits rückt diese Fragestellung einen wichtigen Aspekt der frühneuzeitlichen Baukunst wieder ins rechte Licht, der lange Zeit als akzidentiell unterbewertet oder als Teil der ‚Malereigeschichte‘ aus der Betrachtung ausgeschlossen worden war: die für die rhetorische Qualität der Architektur zentrale Rolle ihrer bildlichen Ausstattung. David
□ 11 P. Bullet: Entwurf für ein Landhaus, vielleicht Issy bei Paris, ca. 1685
Fragestellungen und Methoden
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Ganz hat mit seiner 2003 erschienenen, von der aktuellen Bildwissenschaft beeinflussten Dissertation „Barocke Bilderbauten“ dieser spezifischen ‚historischen Bildpraxis‘ jene Bedeutung eingeräumt, die ihr in der Sakralbaukunst der Frühneuzeit gebührt: nämlich integraler Bestandteil der architektonischen Konzeption und Komposition zu sein. „Dabei gingen die Bilder eine so enge Verzahnung mit der Architektur ein, dass der gesamte Innenraum zwischen Haupteingang und Hauptaltar in ein qualitativ anderes transformiert wurde: ein komplexes Zusammenspiel von Fiktions- und Aktionssphären entstand.“ (Ebd. S. 10.) Bei der Analyse des Mittelschiffs der römischen Jesuiten-Hauptkirche Il Gesù |▶ 22|, deren Bildausstattung seit ihrer Erbauung um 1580 mehrfach verändert wurde, betont Ganz die doppelte Lesbarkeit barocker Deckenfresken: Sie geben sich durch ihre plastischen Stuckrahmen als am Gewölbe angebrachte Bilder (Artefakte) zu erkennen, aber gleichzeitig als (fiktive) Durchbrechung der realen Konstruktion, welche den Blick in einen visionären Himmel öffnet (ebd. S. 314–333). Ganz liest alle Bilder des Innenraums – die Deckengemälde und Altarbilder – als eine zusammenhängende Erzählung, die nur in ihrer konkreten räumlichen Anordnung ihren Sinn entfaltet: eine Betrachtungsweise, die für Konzeption und Verständnis barocker Kirchenräume |▶ 40| zentral ist. Wer sie im Sinne einer ‚reinen‘ Architekturgeschichtsbetrachtung nur auf Grundrisstypen, Gewölbeformen und Wandstrukturen reduziert, zerlegt das zusammenhängend konzipierte Raumkunstwerk willkürlich und sinnentstellend in Teilaspekte. Diese kurze, keineswegs umfassende Zusammenschau methodischer Fragestellungen und beispielhafter Texte mag zeigen, dass es in der Architekturgeschichte ebenso wie bei den Stilbegriffen fast nie um ‚objektiv richtig oder falsch‘, sondern immer um verschiedene Blickwinkel und Leserichtungen geht. Wenn sich Deutungsansätze partiell widersprechen und inhaltlich ergänzen, umso besser. Je mehr unterschiedlich ausgerichtetes Licht auf einen Gegenstand fällt, desto klarer werden seine Umrisse und Binnenstrukturen erkennbar.
Repräsentation Architektur als Medium
D
er erste Leitbegriff, unter dem die Architekturgeschichte der Frühen Neuzeit analysiert werden soll, hat eine mehrfache Bedeutung. Repräsentation meint im normalen Sprachgebrauch zunächst die öffentlichkeitswirksame Selbstdarstellung und Sichtbarmachung einer Institution z. B. durch die Prachtentfaltung eines repräsentativen Firmensitzes. Die zweite Begriffsebene meint, wie im Wortgebrauch der repräsentativen Demokratie, Stellvertreterschaft in einem bestimmten Handlungszusammenhang: Der Botschafter repräsentiert seinen Staat im Ausland, der Parlamentarier seine Wähler. Die dritte Ebene schließlich bezieht sich auf die Sichtbarmachung von etwas an sich Unsichtbarem: Fahne und Wappen repräsentieren den ansonsten gesichtslosen Staat, das Kreuz an der Wand den Glauben an Jesus Christus. Alle drei genannten Ebenen zusammen beschreiben die mutmaßlich vorrangige Aufgabe, welche Architektur in der Gesellschaft der Frühneuzeit zu erfüllen hatte: Öffentlich-
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keitswirksamkeit, Stellvertreterfunktion, Sichtbarmachung von Abstraktem. Diese Leistungen wurden und werden der Baukunst natürlich auch in anderen Zeiten abverlangt, aber in der hier betrachteten Epoche, so die These dieses Buches, war es ihre eigentliche Hauptaufgabe, wenn man einmal von den Primärfunktionen wie Wetterschutz oder Einbruchsicherheit absieht. Die Bedeutung der Architektur als Kunst, Wissenschaft und Gegenstand des öffentlichen Interesses lag vor allem darin begründet, dass sie eine zentrale Rolle als kommunikatives, sozusagen rhetorisches Medium einnahm: Stumm und doch aussagekräftig, dauerhaft präsent und für alle sichtbar, standesübergreifend lesbar und doch in der ständischen Gesellschaft verankert, materiell fest gefügt und die Leistungsfähigkeit ihrer Erbauer veranschaulichend, war sie dem gemalten Bild und dem gedruckten oder gesprochenen Wort hierin offensichtlich überlegen. Ihr praktischer Nutzen rechtfertigte und begründete den in sie investierten Aufwand, der im Unterschied zu Hoffesten und Feuerwerken hohe Dauer versprach. Sie kündete von Ruhm und Selbstverständnis ihrer Erbauer, auch wenn diese temporär abwesend oder längst verstorben waren. Sie sicherte Kontinuitätsansprüche und machte bindende Vorgaben für Erben und Nachfolger. Sie formulierte politische und konfessionelle Positionen und ließ Zugehörigkeit oder Unabhängigkeit erkennbar werden. Sie diente der dauerhaften Investition von Überschüssen und der Schaffung von Arbeit für die Untertanen. Sie befestigte den Glauben der Betrachter und Besucher an die nicht sichtbaren Inhalte und Strukturen, welche sie verkünden sollte: ein religiöses Bekenntnis, ein politisches Ordnungsmodell, Untertanen-, Herrschafts- oder Besitzverhältnisse. Man konnte sich ihrer steingeschriebenen Botschaft nicht entziehen. Der Palladio-Übersetzer Georg Andreas Böckler betonte 1689: Dann die Baukunst bestehet nicht in Worten, sondern in einer sichtbaren und handgreifflichen Demonstration und Beweiß (Fürst 2002, S. 40). Jürgen Habermas charakterisiert die Struktur der Öffentlichkeit in der Vormoderne im Unterschied zum diskursiven Verständnis der Gegenwart als ,repräsentativ‘ und erläutert dies am Beispiel der öffentlichen Rede: „Gerade die nicht diskutierende, und nicht räsonierende, sondern die, wenn man so sagen darf, repräsentative Rede (ist) das Entscheidende […]. Alles das setzt eine Hierarchie voraus, denn die geistige Resonanz der großen Rhetorik kommt aus dem Glauben an die Repräsentation, die der Redner beansprucht. […] Repräsentation ist immer auf eine Umgebung angewiesen, vor der sie sich entfaltet.“ (Habermas 1962, S. 62 u. 65 nach Carl Schmitt.) Ulrich Fürst (Fürst 2002, S. 39–42) hat für die spezifische, schichtenübergreifende und im Wortsinn ,unübersehbare‘ mediale Wirksamkeit der Architektur jener Zeit eine sehr sprechende Bezeichnung gefunden, die er der Programmschrift eines barocken Bauherrn, Karl Eusebius von Liechtenstein entnommen hat (Fleischer 1910): Architektur diene dem Bauherrn als lebendige und sichtbahre Histori […] unaussprechlig ist dessen Gewalt aussprechen, alle Augen also an sich zu ziechen. Dan ungeschauter wiert wohl und kan keiner voriber gehen, seie vornehmen oder schlechten [d. h. einfachen] Stands […] alle werden sistieren [d. h. stehenbleiben] miessen, nolentes volentes [ob sie wollen oder nicht] und dises Wunderwerk anschauen. Wie schon in der Einleitung angedeutet, war während des gesamten Vitruvianischen Zeitalters das Vorbild bzw. die Bezugnahme auf Monumente der Antike von entscheidender nobilitierender und legitimierender Bedeutung: Sie war der ideale Sprachduktus der
Repräsentation
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gebauten Rhetorik. Dieser Modellcharakter beschränkte sich nicht nur auf Details der formalen Gestaltung, sondern vor allem auf das symbolische Kapital, welches die Erbauer darin akkumuliert hatten: Der Triumphbogen des Konstantin, die Thermen des Diokletian, das Mausoleum Hadrians (die spätere Engelsburg), das untergegangene Haus des Nero und die mit dem Namen des Stifters Agrippa geschmückte Vorhalle des Pantheons beweisen bis heute, dass prachtvolle Bauwerke der beste Schutzwall gegen das Vergessen für ihre Erbauer sind. In einer Epoche, in der die alte, am besten antike Herkunft einer Institution oder eines Rechtsanspruchs als überzeugendster Nachweis ihrer Legitimität galt, war der formale Antikenbezug der bevorzugte Ausdruck für Respekt und Ansehen, den man durch das Bauwerk zu erwerben oder zu sichern gedachte. Das Bewusstsein für die gedächtnis- und gemeinschaftstiftende Wirkung von Bauwerken war natürlich auch im Mittelalter nicht unbekannt, wie die Stadtpaläste von Florenz oder Venedig |▶ 16| belegen. Seit der Renaissance entschieden sich aber viele Kommunen, diese traditionssichernden Monumente ihrer städtischen Freiheit nicht einfach nur ‚denkmalgerecht‘ zu erhalten, sondern sie gemäß der nun vorherrschenden Antiken-Mode neu zu gestalten, der kommunalen Selbstdarstellung ein neues ‚historisches‘ Gewand zu verleihen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Ummantelung des gotischen Ratssaals der venezianischen Provinzstadt Vicenza (□ 12), die 1549 nach langem erfolglosen Ringen um die geeignete Lösung diesen Auftrag an den berühmtesten Baumeister der Stadt, Andrea Palladio, vergab. Er errichtete rund um den unveränderten Kernbau eine doppelgeschossige Arkatur, die typologisch dem Modell des gotischen Kommunalpalastes im nahen (konkurrierenden) Padua folgte, aber das traditionelle Motiv in eine bis dahin noch wenig gebräuchliche antikennahe Form überführte, die jede Fassadenachse als Dreiergruppe aus zwei gerade gedeckten Öffnungen und einem zentralen Bogen über zwei Säulen gestaltete; eine Lösung, die man seitdem als Palladiomotiv oder (nach Sebastiano Serlio, dem Verfasser eines bedeutenden zeitgenössischen Architekturlehrbuchs) als Serliana bezeichnet. Das so renovierte Gebäude benannte man ‚Basilika‘, jedoch nicht in Anlehnung an den gebräuchlichen mehrschiffigen Kirchenbautypus, sondern als Verweis auf die gleichnamigen antiken Markt- und Ratshallen, wie sie Vitruv in seinem V. Buch beschrieben hatte (Barbieri 1968). Nicht wenige Kommunen gingen dazu über, ihre Verlautbarung mit dem Kürzel „S.P.Q. […, ergänzt um das Initial der jeweiligen Kommune]“ zu unterzeichnen, in Anlehnung an die altrömische Staatstitulatur S.P.Q.R., den Verweis auf Senat und Volk als autonome politische Einheit. Die antikisierende Benennung und Gestaltung des Kommunalpalastes unterstreicht diese nobilitierende und legitimierende Bezugnahme ebenso wie der bildnerische Schmuck mit Kaiserbüsten oder antiken Götterstatuen. Selbst eindeutig mittelalterliche Gründungen wie die Stadtrepubliken Amsterdam oder Antwerpen |▶ 32, 33| versuchten, durch den am Bau angebrachten Verweis auf einen mythischen antiken Gründer oder Darstellungen zur Geschichte der einst an der Nordsee gegen die Römer kämpfenden Bataver ihre politische Autonomie und Würde historisch herzuleiten und durch einen prächtigen, palastartigen Rathausneubau in eine unbestreitbare ‚sichtbare Historie‘ ihres beanspruchten Ranges zu transformieren. Die Repräsentation besaß potentiell zwei verschiedene Stoßrichtungen: Befestigung einer bereits erreichten Position oder Formulierung eines neuen, weitergehenden An-
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□ 12 Vicenza, Palazzo della Ragione (Rathaus), sog. Basilica, A. Palladio, ab 1549
spruchs. Wenn die Republik von Venedig oder das Fürstbistum Würzburg ihre Machtzentralen baulich erneuerten |▶ 16, 42|, so verbanden sie damit keine gesteigerten politischen Ambitionen, sondern sie versuchten, eine zuvor erreichte Stellung in einem Umfeld zunehmender Konkurrenz für alle sichtbar zu behaupten und zu wahren. Errichtete die Familie Farnese dagegen einen überdimensionierten Palast im römischen Stadtzentrum |▶ 19| oder erweiterte Ludwig XIV. das Jagdschloss seines Vaters zum zukünftigen französischen Regierungssitz |▶ 36|, so war die Bautätigkeit Ausdruck eines Anspruchs, der hierdurch angemeldet wurde, um seine spätere allgemeine Anerkennung einzufordern oder zu befördern. Das Bauen konnte auch als Ersatz für nicht erfüllte Statuswünsche dienen. Das Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth, 1744–48 von den damals berühmtesten Theaterbauspezialisten Mitteleuropas, Giuseppe und Carlo Galli da Bibiena errichtet (□ 13), übertraf die realen Bedürfnisse und Möglichkeiten einer kleinen fränkischen Residenz bei weitem, kündete aber vom Selbstbild der Bau- und Landesherrin Wilhelmine, einer Schwester Friedrichs II. von Preußen, die zunächst den englischen Thronfolger hätte heiraten sollen, dann aber den armen brandenburgischen Vetter aus dem Hause Hohenzollern ehelichen musste und nun wenigstens durch die Pracht ihres Hoftheaters allen Besuchern vermitteln konnte, dass sie sich eigentlich zu Höherem berufen fühlen durfte (Krückmann 1998). Die dynastischen Bindungen und höfischen Beziehungen beförderten einen Transfer künstlerischer Talente und gestalterischer Ideen, welcher sich als äußerst produktiv er-
Repräsentation
44 □ 13 Bayreuth, Markgräfliches Opernhaus, G. u. C. Galli da Bibiena, 1744 – 48
wies. Carl von Gontard, zu Beginn seiner Karriere Hofarchitekt in Bayreuth, wurde nach Berlin weiterempfohlen und realisierte dort wichtige Bauten des frühen Klassizismus wie z. B. den sog. Deutschen und Französischen Dom am Gendarmenmarkt (Fick 2000). François Cuvilliés (Braunfels 1986) trat 1708 zunächst als Hofzwerg in den Dienst des nach Frankreich exilierten bayerischen Kurfürsten Max Emanuel, folgte ihm nach seiner architektonischen Ausbildung in Paris 1714 nach München und wurde als Hofbaumeister ab 1725 zu einem Initiator des Rokoko im deutschen Süden. Ab 1728 exportierte er diese Kunstrichtung ins Rheinland, wo Clemens August, ein Sohn des Wittelsbachers, Erzbischof von Köln geworden war und sich sein Schloss Augustusburg bei Brühl von süddeutschen Künstlern ausstatten ließ. Die Dynastie der Stuarts, seit 1603 in England residierend, pflegte traditionell enge Kontakte zum katholischen Südeuropa und ernannte daher mit Inigo Jones einen Architekten, der lange Zeit in Italien gelebt hatte, 1615 zum königlichen Baumeister, um so mit der Errichtung der ersten palladianischen Villa auf der britischen Insel, dem Queen’s House in Greenwich |▶ 44|, einen völlig neuen Baustil des Königshauses zu etablieren, der sich deutlich von der Elisabethanischen Spätgotik ihrer Vorgängerin absetzte. Adel und Klerus als Auftraggeber waren strukturell international orientiert. Die Orden der katholischen Kirche pflegten, oft über ihre Zentrale in Rom, intensiven Austausch zwischen den verschiedenen Provinzen. Insbesondere der dem Papst direkt unterstellte Reformorden der Jesuiten (Hartmann 2008), der ab 1540 seine überaus erfolgreiche Missionstätigkeit in allen Teilen der Welt begann, wirkte hierbei als Katalysator des künstlerischen Fortschritts in allen katholischen Ländern. Von Südamerika bis Litauen wurde der sog. Gesù-Typus |▶ 12, 22|, eine saalartige einschiffige Kirche mit Nebenkapellen, überkuppelter Vierung und ‚römischer‘ Hauptfassade, ab dem 17. Jh. zum Standardmodell des katholischen Kirchenbaus. Durch die Vorschrift, alle Baupläne in der Zentrale des Ordens zur Gegenprüfung vorzulegen, bildete sich eine funktional relativ einheitliche, formal dagegen vielgestaltige und stark auf regionale Traditionen rekurrierende Baupraxis der Gesellschaft Jesu heraus. Durch die Entsendung von Ordensbrüdern in andere Länder, z. B.
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des Theatinerpaters Guarino Guarini nach Turin |▶ 24| oder des Jesuiten Andrea Pozzo nach Wien, wurden römische Neuerungen innerhalb weniger Jahre in einstmals abgelegenen Regionen heimisch und entwickelten dort oft ein innovatives Potential, das ihnen in der beständigen Konkurrenzsituation der Zentren kaum zu entfalten möglich war. Ein zweiter Weg des kulturellen Transfers bestand in der Mobilität der Auftraggeber selbst, die als Gesandte, im Zusammenhang der Hochzeitspolitik der Höfe oder im Rahmen der seit dem 17. Jh. geradezu kanonischen Bildungsreise, genannt Grand Tour, die Kultur anderer Länder kennen und schätzen lernten und als Ausdruck eben dieser internationalen Beziehungsnetze importierten. So ließ sich Herzog Ludwig X. von Bayern ab 1537 eine Variante des Palazzo del Te in Landshut errichten |▶ 5|; Herzog Friedrich I. von Württemberg bereiste mit seinem Hofarchitekten Heinrich Schickhardt die Planstädte Oberitaliens, bevor er seine eigene Gründung Freudenstadt konzipierte |▶ 13|; Lord Burlington erwarb in Vicenza ein bedeutendes Konvolut von Originalzeichnungen Palladios, deren Publikation zur Grundlage des englischen Neopalladianismus im 18. Jh. wurde |▶ 45|. Peter der Große gab seiner neu gegründeten Hauptstadt an der Nordwestgrenze Russlands |▶ 34| sogar einen deutschen Namen, um deren weltoffenen Charakter zu unterstreichen. Die Frankophilie Friedrichs II. von Preußen fand ihren Ausdruck im Titel und der heiteren Rokoko-Dekoration seines Schlosses Sanssouci bei Potsdam |▶ 43|. Die dritte, vielleicht geläufigste Form des Austauschs bestand in der Mobilität der Künstler. Auch hierfür gab es zwei gebräuchliche Wege: Entweder man entsandte Landeskinder zum Studium in die Zentren oder warb Ausländer als hochbezahlte Spezialisten an. Jacob van Campen, der Begründer des niederländischen Palladianismus |▶ 32|, und Pedro Machuca, der mutmaßliche Erbauer des ersten Renaissancepalastes auf spanischem Boden |▶ 28|, können als Vertreter der ersten Gruppe gelten. Francesco Rastrelli, der italienischstämmige, in Paris geborene führende Baumeister des Petersburger Spätbarock |▶ 34|, und Giambattista Tiepolo, jener venezianische Freskant, der im fränkischen Würzburg |▶ 42| den größten Auftrag seiner gesamten Karriere erhielt, gehören der zweiten Gruppe an. Schließlich bestand auch die Möglichkeit, ganze Entwürfe oder zumindest einzelne Bauelemente als Fertigteile zu importieren und zu implantieren, wie das Beispiel des dänischen Königsschlosses Frederiksborg |▶ 10| mit dem Einbau niederländischer Fassadenkunst und Florentiner Brunnenskulptur zeigt. In anderen Fällen bestellte ein Bauherr für einen geplanten Neubau Pläne aus ganz Europa, um sie vom einheimischen Hofbaumeister zu einem neuen Ganzen zusammenfügen zu lassen, oder versandte das eigene Projekt zur Begutachtung in die Zentren wie Rom und Paris, um den internationalen Anspruch des eigenen Bauvorhabens zu unterstreichen. Die Würzburger Residenz |▶ 42| stellt für diese von Hellmut Lorenz mit dem zutreffenden Spitznamen „Korrespondenz-Architektur“ versehene Form des Gemeinschaftswerks das Paradebeispiel dar (Lorenz 1986, S. 24). Die genannten Transfermodelle existierten parallel und konkurrierten miteinander. Nicht in jedem Falle erwies sich die Berufung ausländischer Spezialisten als dauerhafter Erfolg, sehr oft nahm sie eher den Charakter einer gezielt herbeigeführten Initialzündung an, um die heimische Kunstproduktion durch Vorbild und Konkurrenz herauszufordern. Das wohl berühmteste Beispiel ist der 1664 initiierte Wettbewerb um den Neubau der Louvre-Ostfassade |▶ 35| unter dem jungen Ludwig XIV.: Hatte dessen leitender Minister
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Colbert zunächst die wider Erwarten erfolgreiche Berufung des päpstlichen Baumeisters Gianlorenzo Bernini als Beleg für den exzeptionellen Rang seines Monarchen in Europa verstanden, so erwiesen sich dessen mit französischen Baugewohnheiten nur bedingt vereinbare Vorschläge als Reibfläche für die Entwicklung einer genuin eigenständigen Palastbaukunst, die vor der Ankunft des Cavaliere eigentlich als nicht konkurrenzfähig gegolten hatte. Nun adaptierten die französischen Entwerfer bestimmte Elemente der transalpinen Baukunst unter dem qualitätsverheißenden Markenzeichen à l’italienne, verbanden dies aber mit innovativen, völlig neuartigen und eigenständigen Positionen, die weit über das hinausgingen, was man vor der Ankunft Berninis für denkbar und in seiner Heimat für angemessen gehalten hätte. So entstand eine genuin französische Form architektonischer Repräsentation, die gleichzeitig und im Zusammenhang mit dem politischen Suprematieanspruch des Monarchen eine neue Vorreiterrolle in Europa behauptete. Tatsächlich erschien das Entwickeln einer unverwechselbaren eigenen Position in vielen Fällen wichtiger als das möglichst exakte Kopieren der bewunderten Vorbilder: Es galt originell zu überbieten, nicht brav nachzuahmen. Obwohl König Franz I. zahlreiche italienische Künstler ins Land rief, ließ er sich doch in Chambord |▶ 8| um 1530 ein Schloss errichten, das unverkennbar französische Traditionen und ästhetische Vorlieben weiterentwickelte. Besonders in Osteuropa suchte man während des 16. Jh.s nach eigenständigen Alternativen zur italianisierenden Wiederbelebung der Antike, wie die Moskauer Basilius-Kathedrale |▶ 14| oder die Istanbuler Moscheen Sinans |▶ 15| belegen. Diese Monumente wurden wiederum selbst schulbildend für den Sakralbau ihrer Länder und Konfessionen und markierten eine Gegenbewegung zum internationalen Vitruvianismus, der sich freilich auf die Dauer als stärker erwies. Die genannten Beispiele zeigen, dass der repräsentative Wettbewerb des Vitruvianischen Zeitalters eine im höchsten Maße offene und bewusste Interaktion war: Die Kommunikation über anderswo begonnene oder schon wieder verworfene Projekte, die möglichst genaue Kenntnis und sichtbare Verarbeitung dessen, was in konkurrierenden Zentren gerade gebaut wurde, übersetzt in erkennbar eigenständige Projekte, gehörte zu den unabdingbaren Voraussetzungen anspruchsvollen Bauens in Europa. Der Vorbildcharakter der römischen Peterskuppel für die Dresdner Frauenkirche |▶ 41| oder des Augsburger für das Amsterdamer Rathaus |▶ 32| war nicht nur unübersehbar, sondern intendiert: Die Verweise sollten von den Betrachtern erkannt, verstanden und als bewusste Bezugnahme im Sinne einer rhetorischen Überbietung (aemulatio) zugeordnet werden. Hierfür war es nicht unbedingt erforderlich, die fremden Vorbilder wirklich mit eigenen Augen gesehen zu haben: Die schnelle und weite Verbreitung im Medium der Druckgrafik ermöglichte es schließlich, in Flandern ein Rathaus mit einer Fassade nach dem Lehrbuch des in Frankreich tätigen Italieners Serlio zu errichten und in Böhmen Kirchen zu planen, deren unmittelbares stilistisches Vorbild in Turin stand. Jakob Prandtauer musste Österreich nicht verlassen, um im Kloster Melk |▶ 39| eine ‚italienisch‘ gefärbte Architektur von europäischem Anspruch zu realisieren: Es gab genug Italiener in Wien, welche die neuesten Innovationen ihrer Heimat als Musterkatalog beisteuern konnten. Der Baumeister der mexikanischen Wallfahrtskirche in Ocotlán |▶ 29| hat vermutlich spanischen Boden nie betreten, dennoch fügt sich seine hochentwickelte Estipite-Fassade ausgezeichnet in den stilistischen Kontext der gleichzeitigen spätbarocken Architektur des Mutterlandes.
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Das Bewusstsein dieser spezifischen Kommunikationsstruktur führte zu einer gezielten Indienstnahme grafischer Medien zur Verbreitung der jeweils eigenen Architekturauffassung. Man könnte sagen: Wirklich prominent wird ein Bauwerk erst, wenn es im Stich publiziert ist. Daher unterstützten die Potentaten aller Länder Druckwerke, die scheinbar rein objektiv die öffentlichen und privaten Neubauten ihrer Herrschaftsbereiche dokumentierten und damit zugleich deren Ästhetik propagierten. Tatsächlich verfolgten diese Publikationen einen doppelten Zweck: nämlich Kenntnis über Umfang und Pracht der jeweiligen Bauaktivitäten eines Landes als Zeichen seiner Prosperität, Konkurrenzfähigkeit und künstlerischen Blüte zu verbreiten, und zugleich für die Vorbildlichkeit der dort gepflegten gestalterischen Positionen zu werben, diese als Vorbilder zu propagieren und so die mediale Reichweite der eigenen kulturellen Einflusssphäre gewaltlos zu erweitern. Colen Campbells 1715 erstmals erschienener „Vitruvius Britannicus“ sollte aller Welt verkünden, dass England inzwischen zu den führenden Pflanzstätten klassischer Baukunst in Europa zählte. Die in Frankreich ab 1670 in mehreren, aktualisierten Auflagen gedruckte, unter dem Namen ihres Herausgebers Marot erschienene Plansammlung der privaten und öffentlichen, sakralen und profanen Neubauten in und um Paris dokumentierte den Anspruch der französischen Metropole, als Zentrum innovativer und ambitionierter Bautätigkeit inzwischen Rom abgelöst zu haben: Die Blätter sollten in ganz Europa rezipiert und kopiert werden, um den Vorbildcharakter der französischen (Bau-)Kultur medial zu verstärken. Hierbei war die Differenzierung, was tatsächlich gebaut, lediglich geplant, halb vollendet oder schon wieder abgerissen war, von untergeordneter Bedeutung. Da die graphische Darstellung solche Unterschiede nicht ablesbar machte – auch niemals realisierte Projekte (□ vgl. 101, 133) wurden mit rauchenden Schornsteinen und von zahllosen Besuchern belebt gezeigt –, konnten selbst de facto gescheiterte Vorhaben wie der von Marot publizierte dritte Louvreentwurf Berninis (□ vgl. 124) in Berlin oder Stockholm als Leitbild hochambitionierter Schlossprojekte dienen. Vorreiter war einmal mehr Rom gewesen, dessen rekonstruierte antike und sich stets erneuernde aktuelle Stadtgestalt seit ca. 1450 in zahllosen illustrierten Werken festgehalten und verbreitet wurde. Die Kenntnis ostasiatischer Architektur (□ vgl. 31, 147) verdankte sich im 18. Jh. ausschließlich jenen bebilderten Reiseberichten, welche einen durch die Sehgewohnheiten der Europäer bereits eingefärbten Blick auf Pagoden, Pavillons und Gartenanlagen warfen. Dem Vitruvianismus wohnt ein normativer Grundzug inne, der sich ausgezeichnet mit den Bestrebungen der Staatenbildung in der Frühen Neuzeit verband, immer weitere Bereiche des öffentlichen Lebens zu regeln, zu kontrollieren, zu ordnen und zu normieren. So wie Maße und Münzen, Sprache und Konfession der Untertanen, das Militärwesen und der Warenhandel, sollte auch die Ästhetik durch Vereinheitlichung und staatliche Schulung verbessert werden. Das zeigt sich besonders deutlich bei der Anlage neuer Planstädte (Maass 1990, Baier 2006): Hier wurde es üblich, nicht jeden Bürger so bauen zu lassen, wie es ihm nützlich und schön erschien, sondern genaue Vorgaben für Baulinien, Dachneigung, Hausform, Anzahl der Geschosse und Fensterachsen, verwendete Materialien und Konstruktionen zu machen, an welche die Baugenehmigung gebunden war und deren Einhaltung ggf. mit finanzieller Unterstützung, Steuerbefreiung oder ähnlichen Privilegien belohnt wurde ( Themenblock · Städtebau, S. 249). Uniformität, Ordnung und Regelhaftigkeit wurden mit Schönheit gleichgesetzt (Kruft 1989); in diesem Sinne dien-
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ten regelhaft errichtete einfache Bürgerhäuser ebenso der staatlichen Repräsentation wie die durch ihren Aufwand besonders hervorgehobenen Kirchen, Adelspalais, Stadttore und andere öffentliche Bauten (□ 14, ▶ 13, 33). Sozialbauten wie Armen- und Waisenhäuser | ▶ 1|, Schulen, Hospitäler, ja selbst Zuchthäuser waren als Ausdruck der ,Guten Policey‘, also der staatlich-gesellschaftlichen Ordnung, von großem Interesse für Reisende und der für ihre Bereitstellung und Erhaltung zuständigen Obrigkeit. Den institutionellen Rahmen für diese Ästhetik der Norm legte man mit der Gründung sog. Akademien (Pevsner 1986). Der Wandel dieser Institutionen zeigt sehr gut, wie sich die Bedingungen künstlerischer Produktion innerhalb der Epoche verän□ 14 Karlsruhe, ab 1715, Vogelschauansicht, Stich von C. Thran, 1739 derten. Der Begriff verweist auf den Akademos-Hain bei Athen, den Versammlungsort des Philosophen Platon und seiner Schüler im 4. Jh. v. Chr. Die dort bis zur Spätantike institutionalisierte Philosophenschule machte den Ortsnamen zum Gattungsbegriff. In der Renaissance wurde die Idee als ein zunächst freier Zusammenschluss gelehrter Männer wiederbelebt, der aber noch keinen expliziten Ausbildungscharakter und meist keine feste institutionelle Form hatte, sondern eher einem offenen Gesprächskreis, meist unter dem Schutz eines Fürsten und Mäzens glich. Im 17. Jh. verwandelten sich diese privilegierten Diskussionszirkel, die ihre Mitglieder selbst beriefen und sich eigene Regeln gaben, zu staatlich finanzierten, reglementierten und kontrollierten Lehranstalten. Hierbei kann man zwei Modelle unterscheiden, die sich mit den Zentren Rom und Paris verbinden: Die Päpste institutionalisierten 1577 in ihrer Stadt die zunächst als freier Zusammenschluss von Künstlern gegründete Accademia di S. Luca, benannt nach dem Evangelisten, der angeblich ein authentisches Porträt der Madonna angefertigt hatte. In ihr vereinigten sich die drei von Vasari bei seiner Akademiegründung in Florenz 1563 so definierten sog. Arti del Disegno, die ‚entwerfenden‘ Künste Malerei, Bildhauerei und Architektur (Hager 1984). Die päpstliche Akademie erhielt 1633 offizielle Statuten als Ausbildungsanstalt; sie war international orientiert und diente der europäischen Verbreitung römischer Innovationen. Das politisch entmachtete Papsttum behauptete sich auf diesem Wege mit beträchtlichem Erfolg als Brennpunkt der internationalen Kunstentwicklung, an
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dem man sowohl die Antike als auch die neuesten künstlerischen Tendenzen studieren konnte. Die meisten europäischen Akademien der Hauptstädte setzten seit dem 18. Jh. sog. Rompreise, d. h. durch Wettbewerbe in der jeweiligen Gattung zu erringende Reisestipendien aus, die jungen Künstlern einen zeitlich beschränkten Studienaufenthalt in der Ewigen Stadt und dort den Austausch mit Kollegen aus aller Herren Länder ermöglichten. Das zweite Modell war national bzw. staatlich orientiert, stärker disziplinär aufgefächert und diente der Hebung und Vereinheitlichung des Niveaus durch die Heranbildung eines später bevorzugt im Staatsauftrag tätigen Elitenachwuchses des jeweiligen Fachs. Hier wurden Theoriedebatten geführt, und die offizielle Mitgliedschaft in der Akademie war ein wichtiges Karrieresprungbrett für die dort tätigen Lehrenden. Vorbild war hier Frankreich, das seit 1635 für jede nur denkbare Wissenschaft – von der Sprachpflege über den Tanz bis hin zur 1671 gegründeten Académie d’architecture (Schöller 1993) – eine eigene höchste Lehr- und Regelsetzungsinstitution installierte. Die Akademie – in Paris war das Bauwesen institutionell von den sog. Beaux Arts getrennt – war eng verbunden mit der bürokratisch reglementierten königlichen Bauverwaltung, die eine Vielzahl hierarchisch gestaffelte Ränge und Ämter kannte, deren z. T. durch Kauf zu erwerbende Stellen dann lukrative und anspruchsvolle Bauaufträge des Staates versprachen. Es ist bezeichnend, dass Colbert, der allmächtige Finanzminister des jungen Ludwig XIV., zugleich den Rang des surintendant et ordonnateur général des bâtiments, arts, tapisseries et manufactures de France bekleidete und in einem informellen Arbeitskreis von Architekturinteressierten, dem Vorläufer der späteren Akademie, die Entwicklung eines französischen Konkurrenzprojekts zu dem offiziell protegierten Entwurf des Römers Bernini für die Fassade des Pariser Louvre betrieb |▶ 35|. Nirgendwo wird die Verbindung staatlicher Repräsentation mit ästhetischer Innovation und Normierung so deutlich wie in diesem hochkomplexen institutionalisierten Patronage- und Privilegiensystem, das dennoch eine qualitativ hochwertige, für einige Jahrzehnte innovative Architektursprache hervorbrachte. Das französische Akademie-Modell wurde im 18. Jh. u. a. in Stockholm, Kopenhagen, St. Petersburg, Berlin, Wien und (mit Einschränkungen) in London nachgeahmt. 1666 gründete Colbert eine weitere, französische Akademie in Rom, die mit der päpstlichen 1678 offiziell verschmolz – ein deutliches Zeichen dafür, welches Land zukünftig die kulturelle Führungsposition beanspruchen würde (Erben 2004, S. 137– 219): ein Beleg für das ‚Wandern der Zentren‘, das als charakteristische Eigenart der Architekturentwicklung des Vitruvianischen Zeitalters gelten kann. Der Vitruvianismus erkannte in Rom seinen unbestrittenen Mittelpunkt, dessen Vorrangstellung als ebenso konkurrenzlos gelten konnte wie diejenige Hollywoods für die Filmindustrie. Ab ca. 1660 trat mit dem Regierungsantritt Ludwigs XIV. Paris als zunehmend gleichwertiges, bald aber überlegenes Innovationszentrum hinzu. Dies ist unter anderem daran festzumachen, dass international orientierte Architekturpublikationen im 18. Jh. auf Französisch statt auf Latein oder auf Italienisch kommentiert erschienen. Neben diesen beiden ‚Oberzentren‘ wetteiferten im Lauf der Jahrhunderte verschiedene Regionen um den Rang einer zumindest temporär führenden Kunsthauptstadt, deren Bedeutung nicht zwingend an überregional wirksame Machtstrukturen gebunden sein musste: So galten Florenz bis 1550 und Venedig bis ca. 1600 als bevorzugte Orte, an denen ausländische Künstler einige Jahre verbringen sollten, um dann die jeweils neuesten Errungenschaften in andere, politisch aufstrebende Zent-
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ren zu transferieren; danach ließ ihr Einfluss deutlich nach. Die Niederlande bewahrten während des gesamten hier betrachteten Zeitraums eine Sonderposition als vielbeachtetes Technologiezentrum z. B. im Wasser-, Garten und Festungsbau, das für ganz Nordeuropa Vorbildfunktion genoss. Dagegen blieben politisch bedeutsame Machtzentren wie Spanien, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation oder Russland ohne nennenswerte Ausstrahlung auf die Kunstentwicklung anderer Länder, sie verhielten sich eher rezeptiv oder entwickelten spezifische, hochoriginelle Architektursprachen, die zwar innerhalb der Landesgrenzen erstklassige und innovative Bauten hervorbrachten, aber in den Metropolen des Auslands kaum wahrgenommen oder diskutiert wurden. Eine Ausnahme stellt England dar, das seit der Absetzung der Stuart-Dynastie (1714) im 18. Jh. zu den führenden Vorbildern besonders im Gartenbau, der Archäologie und der Entwicklung alternativer Stilmodelle wie der Neugotik und des Klassizismus zählte |▶ 45 – 48|. Großbritannien wurde dennoch nicht zum klassischen Reiseland, noch exportierte es in großer Zahl Künstler, sondern machte vor allem indirekt durch Publikationen und Theoriebildung auf sich aufmerksam, so dass ab 1750 selbst in Frankreich der jardin à l’anglais den älteren französischen Garten erfolgreich verdrängte. Eine kaum zu überschätzende Rolle im Bereich der architektonischen Repräsentation spielte schließlich die sakrale Sphäre, die aufs Engste mit der staatlichen verbunden war. Die Reformation und ihre Folge, die Glaubensspaltung in Europa, war sicher das einschneidendste geistesgeschichtliche Ereignis jener Jahrhunderte, die für die Zeit nach 1517 auch als ‚konfessionelles Zeitalter‘ bezeichnet werden können. Die repräsentative Konkurrenz als Triebfeder des Bauwesens erhielt nun einen ganz neuen, ideologisch kontroversen Zug, bei dem nicht mehr wie im Mittelalter der Wettstreit um gemeinsame Ideale, sondern vielmehr die Abgrenzung, das sichtbare Markieren einer jeweils eigenen Position im Vordergrund stand. Das bedeutete jedoch nicht, dass die Bauten anderer Konfessionen ignoriert und missachtet worden wären, im Gegenteil: Hier dominierte die vitruvianische Konkurrenz um möglichst vollkommene Antikennähe und Regelgerechtigkeit, das verbindende Ideal des Dekorums und die für alle Glaubensrichtungen gleichermaßen gültige Überzeugung, dass für Gott nur das Beste gut genug sei. Kirche und Staat wurden hierbei niemals als getrennte Sphären wahrgenommen, auch wenn sie institutionell meist geschieden waren: Da aber politisches System und Konfession in den meisten Gemeinwesen aufs Engste miteinander verbunden waren ( Themenblock · Die Konfessionen, S. 284) und geistliche und weltliche Regentschaft oft in der Person des Fürsten zusammenfielen, erschienen die beiden Sphären als zwei Seiten einer Medaille und korrespondierende Ordnungssysteme. Die von Christopher Wren nach dem Brand von London errichtete anglikanische St.Pauls-Kathedrale war zweifellos ein Konkurrenzentwurf zur nach dem anderen Apostelfürsten benannten Basilika, der römischen Peterskirche, aber beileibe kein explizites Gegenmodell. Dagegen geboten die Unterschiede im Ritus und in der jeweiligen regionalen Tradition eine stärkere Herausarbeitung spezifischer Formen gerade bei den Bauten zweiter Ordnung, den städtischen Gemeindekirchen (□ 15). Die Brandkatastrophe von 1666 schuf mit einem Male die Möglichkeit und Verpflichtung, eine Vielzahl funktional verwandter, formal aber möglichst spezifischer, dem aktuellen Stand der vitruvianischen Architekturentwicklung entsprechender Gotteshäuser in der englischen Hauptstadt zu errichten, die weder Rekonstruktionen ihrer mittelalterlichen Vorgänger noch Kopien römisch-katho-
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□ 15 London, Pfarrkirche St. Martin-in-the-Fields, Ansicht von Südwesten, J. Gibbs, 1721– 26
lischer Modelle sein sollten. Die aus praktischen Gründen zum Zentralbau tendierenden Predigträume des Protestantismus sollten im Stadtbild durch ihre markanten Türme hervortreten und gaben den oft in Rom geschulten englischen Baumeistern aus dem Umkreis Wrens wie James Gibbs, John Vanbrugh, Thomas Archer und Nicholas Hawksmoor vielfältige Gelegenheit, neue, eigenständige Raum- und Bauformen zu entwickeln (□ 16), die den Übergang zum frühen, ‚griechisch‘ geprägten Klassizismus markieren. Dass die öffentliche repräsentative Inanspruchnahme eines Gotteshauses durch seine Erbauer auch das allgemein akzeptierbare Maß überschreiten konnte, belegt eine Legende aus dem in dieser Hinsicht stets kritischen römischen Volksmund: Als die Fassade der Peterskirche |▶ 21| nach über hundertjähriger Bauzeit schließlich unter Paul V. Borghese vollendet wurde, versah Carlo Maderno den Fries des Hauptgebälks mit einer monumentalen Inschrift, die so disponiert war, dass der Name des regierenden Papstes unübersehbar in der Fassadenmitte prangte:
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52 □ 16 London, Pfarrkirche St. Stephen Walbrook, Inneres, C. Wren, 1672 – 79
IN HONOREM PRINCIPIS APOST PAVLVS V BVRGHESIVS ROMANVS PONT MAX AN MDCXII PONT VII (Zu Ehren des Apostelfürsten Papst Paul V. Borghese aus Rom, Pontifex Maximus, im Jahr 1612, dem siebten Jahr seines Pontifikats) Das veranlasste die Römer zu der spöttischen Bemerkung, die Kirche sei offensichtlich zukünftig, wie man lesen könne, nicht mehr dem Andenken des ersten Papstes Petrus, sondern demjenigen des Paulus geweiht.
Ordnung Maßstab und Ideal
D
er Leitbegriff dieses Abschnitts, Ordnung, ist zumindest erklärungsbedürftig. Man hätte das Kapitel auch etwas geläufiger mit ,Architekturtheorie‘ (Evers/Thoenes 2003) überschreiben können, aber dieser Begriff ist kaum weniger missverständlich. Das Gegenbild zur Theorie ist, so sagt es bereits Vitruv, die Praxis (I. 1, ratiocinatio und fabrica), und beide gehören in der frühneuzeitlichen Baukunst untrennbar zusammen, sind also nicht ohne weiteres zu separieren. Zudem weckt die moderne Begriffsverwendung von ‚wissenschaftlicher Theorie‘ bestimmte Erwartungen an systematischen Aufbau, strenge Begrifflichkeit, argumentative Durchdringung und stringente Logik, die von der Mehrzahl der hier vorzustellenden Traktate zweifellos enttäuscht würden: Allzu viele durchaus einflussreiche Werke sind kaum mehr als Vorlagensammlungen, Bilderbücher gebauter und ungebauter, eigener und fremder Entwürfe, die allenfalls zur Nachahmung, nicht aber zum Nachdenken einladen. Dagegen ist ihnen eines gemeinsam: Sie wollen Ordnung stiften, Regeln formulieren, Wertmaßstäbe an die Hand geben, Vorbildliches als Nachahmenswertes bekannt machen und zur Weiterentwicklung empfehlen. In einer Profession, für die es keinen anerkannten Ausbildungsweg gab, sollten es mehrheitlich Lehrbücher guter, d. h. reflektierter, geordneter, bewährter Praxis sein. Sie dienten der Positionsbestimmung ihrer Verfasser, die mit
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der Behauptung, scheinbar unbezweifelbar Richtiges und wissenschaftlich Gesichertes zu vermitteln, für die eigenen ästhetischen Ideale warben. Die Adressaten waren dabei meist zu gleichen Teilen Zunftkollegen und (potentielle) Bauherren, deren Geschmack geformt, deren Aufträge akquiriert oder deren Werke propagiert werden sollten. Architektur war in jenen Jahrhunderten ein unverzichtbares Bildungsfach der Führungseliten wie Musizieren, Reiten, Tanzen, Fechten, antike Mythologie und christliche Religion, Fremdsprachenkenntnisse oder Mathematik, daher ging das Publikum der Traktate weit über die Architektenschaft hinaus. So finden sich unter den Verfassern gleichermaßen Vielbeschäftigte und Erfolglose, erfahrene Praktiker und erklärte Laien, hochgebildete Gelehrte, suggestive Zeichner und phantasievolle Geschichtenerzähler wie der bereits in der Einleitung erwähnte Filarete. Bei allen Unterschieden einte sie ein gemeinsames Ziel: die architektonischen Kenntnisse ihrer Zeitgenossen durch das geschriebene Wort, das gedruckte Bild zu erweitern, zu beeinflussen und in ihrem Sinne zu verbessern, für bestimmte ästhetische Strategien und Prinzipien zu werben und den Status der Architektur als Kunst und Wissenschaft hierdurch insgesamt zu verbessern. Dennoch gab es genauso viele bedeutende, maßstabsetzende Architekten, die keine einzige gedruckte Zeile hinterließen: Brunelleschi und Michelangelo, Borromini und Bernini, Inigo Jones und Balthasar Neumann redeten allein durch ihre Werke; sie überließen es der Nachwelt, ihre verstreuten Äußerungen zu sammeln und zu edieren und daraus nachträglich eine fiktive ‚Theorie‘ ihrer vorbildlichen Praxis zu formen. Es ist auch bemerkenswert, worüber in diesen Büchern nur äußerst selten gehandelt wird: von technischen und konstruktiven Fragen, Bauorganisation und Finanzierung, neuen Materialien und praktischen Gewerken. ‚Architekturtheorie‘ diskutierte lange Zeit bevorzugt ästhetische Detailfragen vitruvianischer, also an der Antike orientierter hochrangiger Bauaufgaben. Fachwerkbau, Be- und Entwässerungstechnik, Straßen und Brücken, Fundamentierung, Maurer- und Zimmermannskunst, allesamt für die alltägliche Praxis hochbedeutsame Themen, kamen in dieser verschriftlichten Diskussion allenfalls am Rande oder in der Spezialliteratur für Fachleute vor. Diese Engführung ist umso erstaunlicher, als solche Themen durchaus in Vitruvs Buch behandelt werden: Sie erschienen aber offensichtlich zu ‚bodennah‘, um sie in demselben Umfang zu diskutieren wie den Tempel- bzw. Kirchenbau. Eine Ausnahme machte die Militärarchitektur ( Themenblock · Festungsbau, S. 151 f.), die seit Vitruv (I. 3) als einer der Hauptpfeiler der Baukunst galt und in den stets kriegerischen Zeiten mit breitem Interesse rechnen durfte (Schütte 1984, Hart 1998). Manchmal wurde der Begriff ‚Architektur‘ sogar als Synonym für ‚Vitruvianismus‘ verstanden, wenn z. B. der bereits erwähnte adelige böhmische Bauherr und Architekturdilettant Karl Eusebius von Liechtenstein seinen Nachfahren einschärfte, alle Gebäude jenseits des Kuhstalls ausschließlich ,nach der Architektur‘, d. h. unter Verwendung aus der Antike stammender Bauformen und gemäß den entsprechenden Regelwerken zu errichten, weil nur diese Bauart sie in den Rang höherer, eines Fürsten würdiger Werke erheben könne (Fleischer 1910, S. 95; Haupt 2007, S. 170 –174). Da dieses Buch die Frühe Neuzeit ausdrücklich als Zeitalter des Vitruvianismus versteht, wird die Entfaltung der Architekturtheorie der Epoche hier bewusst aus diesem spezifischen Blickwinkel, sozusagen als ,Blüte, Reife und Verfall‘ eines Paradigmas geschildert.
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Es wären auch andere Erzählperspektiven, z. B. diejenige der Genese der Moderne oder eine stärkere Berücksichtigung der Verflechtung mit gesellschaftlichen und philosophischen Theorien der Zeit denkbar und berechtigt: Der Zwang zur Beschränkung ließ es aber geraten erscheinen, auch in diesem Kapitel nur eine von mehreren möglichen Geschichten zu entfalten – und schon diese muss auf das Allernotwendigste reduziert werden! Der hier gewählte Begriff Ordnung hat in der vorgestellten Epoche eine doppelte Bedeutung: Zum Ersten bezeichnet er das grundlegende Prinzip, Hierarchien, Wert- und Regelsysteme aufzustellen, also zwischen hoch und niedrig, richtig und falsch, angemessen und unpassend zu unterscheiden. Dies geschieht einerseits durch die Vorstellung von Exempla, also nachahmenswerten Beispielen, andererseits durch das Festlegen von Gestaltungsgesetzen, deren Einhaltung quasi automatisch gute Architektur garantiere. Vor allem Letzteres war das Erbe Vitruvs, dessen Werk voll ist von solchen Normsetzungen und Vorschriften, die genau angeben, welche Verhältnisse alle Bauteile zueinander haben sollten, damit harmonisch proportionierte Architektur entstünde. Die richtige Anordnung der Elemente bezeichnet Vitruv als ordinatio (I. 2), woher die Termini ordine, ordre oder Ordnung als Schlüsselbegriffe guten, richtigen Bauens abgeleitet wurden (Germann 1993, S. 111 f.). Am deutlichsten wird dieses Prinzip bei den verschiedenen Systemen griechischer Säulen, die Vitruv selbst als genera (Gattungen oder Geschlechter) bezeichnet (III. 5, IV. 1, IV. 3) und die daher in der Neuzeit unter dem Begriff ‚Säulenordnungen‘ zum unverzichtbaren Basisvokabular aller höheren Baukunst aufstiegen ( Themenblock · Säulenordnungen, S. 98 f.), was die zweite Wortbedeutung beschreibt. Um die Faszination und Überzeugungskraft vitruvianischer Regelwerke als scheinbar alternativloses Grundprinzip höherer Baukunst zu verstehen, lohnt ein genauerer Blick auf die in diesem Zusammenhang geradezu zwingende Argumentationsweise des antiken Autors (Knell 2008). Grundlage guter Architektur ist nach Meinung Vitruvs die rechte Proportion, das heißt das objektiv richtige, angemessene Maßverhältnis der Teile zueinander und zum Ganzen. Dieses Ideal bezeichnet er als Symmetrie, im (einmal mehr aus dem Griechischen abgeleiteten) Wortsinn syn-metria, das gemeinsame Maß aller Elemente (I. 2). Dieses System erscheint nicht nur rational fassbar, nämlich (wie bei musikalischen Akkorden) in ganzzahligen Verhältnissen wie z. B. 1 : 4, 1 : 9 etc. begründet, sondern auch naturnotwendig, denn selbst der Körperbau des Menschen sei auf solche harmonischen, stimmigen Verhältnisse hin angelegt: So könne man einen Körper mit ausgestreckten Armen und Beinen sowohl einem Quadrat als auch einem Kreis gleicher Ausdehnung einbeschreiben (III. 1). Das Gesicht messe, ebenso wie die Handlänge, stets 1/10 der Körperlänge, es sei durch Mund – Nase – Stirn exakt gedrittelt; der Fuß betrage ein Sechstel der Strecke vom Scheitel bis zur Sohle. Die Fingerzahl habe mit der 10 das ideale Rechensystem vorgegeben, alle gebräuchlichen Baumaße wie z. B. die Handspanne (Palm), der Finger (Zoll) oder der Unterarm (Elle) seien vom Menschenmaß abgeleitet. Die berühmte Zeichnung Leonardos, von den italienischen Euro-Münzen vertraut, ist nur die bekannteste von zahlreichen zeitgenössischen Versuchen, das oben beschriebene vitruvianische Proportionssystem ins Bild zu setzen (□ vgl. 2). Im Laufe der Jahrhunderte wurde dieser zunächst umfassende Symmetrie-Begriff immer mehr auf die Klapp-Symmetrie von Gebäudeteilen (bezogen auf eine oder mehrere Spiegelachsen) als normative Vorgabe guten Bauens reduziert, doch
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selbst dieses stark vereinfachte Ideal war aus der Natur als quasi unverbrüchliches Gesetz des Körperbaus ‚schöner‘ Lebewesen abzuleiten. Die Übertragung menschlicher Körperideale auf den Bau bezeichnet man als Anthropomorphismus (Frings 1998, Zöllner 2004). Sie musste in einer Zeit, die den Menschen zwar weiterhin als Abbild Gottes betrachtete, aber zugleich als ‚Maß aller Dinge‘ neu in den Blick nahm, als Schlüssel zu einem neuen, ,humanistischen‘ Architekturverständnis besonders attraktiv erscheinen (Wittkower 1969). Die Gleichsetzung funktionierte aber auch umgekehrt, indem man Bauteile, ja ganze Gebäude als Abbild menschlicher Proportionen deutete: So sah man im Kapitell der Säule den Kopf, im Schaft ihren Leib, in der Basis die Füße. Schlankheit und ‚Lockenschmuck‘ (Akanthusblätter) der korinthischen Säule galten als mädchenhaft, die stämmige Untersetztheit der dorischen Säule als männlich. Vitruv-Adepten wie Francesco di Giorgio Martini (Martini/Maltese 1967) und Pietro Cataneo lasen sogar einen Kirchengrundriss als Abbild des Menschen bzw. Christi. Noch heute sind die Begriff Chor-Haupt und Kreuz-Arme (Querschiffe) geläufig, während das Langhaus sozusagen den Leib der Glaubensgemeinschaft, die Laien aufnimmt (Kruft 1991, Abb. 39, S. 60–64, 87 f.). Ein weiterer zentraler Leitbegriff Vitruvs ist die Proportion, für die er das (heute anders konnotierte) griechische Wort eurythmia verwendet, die sich von symmetria nicht wirklich scharf trennen lässt und die optische Wirkung eines wohlproportionierten Gebäudes beschreibt (I. 2). Symmetria wird als ein Zahlenverhältnis ausgedrückt, bei dem jedem Bauelement, jeder Öffnung ein genau bestimmtes Vielfaches eines Grundmaßes, des sog. modulus zugewiesen wird. Da der griechische, von einem Säulenkranz umstandene Tempel für den Verfasser die exemplarische Bauaufgabe schlechthin war, wurde dessen ziemlich spezifische und nur mit Mühen auf andere Bauwerke übertragbare Typologie zum Kern der gesamten frühneuzeitlichen Architekturdebatte. Als Modul dient hier jeweils der untere Säulendurchmesser. Dessen Vielfaches gibt die Höhe der Säule an, bei der dorischen Ordnung nach Vitruv z. B. das Sechs- bzw. Siebenfache, bei der deutlich schlankeren Ionica das Neunfache (Vitruv/Fensterbusch 1976, S. 171, 183). Die Tempelarten unterscheidet Vitruv nach dem Abstand der Säulen, gemessen in Vielfachen des Säulendurchmessers, wobei er den Abstand von 2¼ Modulen (ohne nähere Begründung) als den Schönsten hervorhebt (III. 3). Der Säulendurchmesser als Grundmaß ist wiederum abhängig von der Gesamtbaubreite: Bei einem achtsäuligen Tempel beträgt er 1 : 24,5, beim Viersäuler 1 : 11,5 usw. Hierbei handelt es sich wohlgemerkt immer um relative Verhältnisse, nicht um absolute Maße, das bedeutet: Je nachdem, ob ein Bauwerk 10 oder 20 Meter breit werden soll, verdoppeln oder halbieren sich demnach Höhe und Breite aller Bauglieder, also auch der Säulen. Diese Vorgaben sind ebenso rigide wie unanschaulich und zugleich weder auf Kirchen noch auf mehrgeschossige Wohnhäuser sinnvoll anzuwenden: Sie waren also eigentlich unbrauchbar. Daher bestand im Folgenden eine entscheidende Aufgabe der praktischen Umsetzung ‚vitruvianischer‘ Normen darin, diese aus dem Spezialfall des eingeschossigen Gliederbaus abgeleiteten ‚Gesetze‘ auf mehrgeschossige Massenbauten mit evtl. unregelmäßig verteilten Fenstern und Türen sowie nicht beliebig variablen Deckenhöhen zu übertragen. Hierbei half ein Blick auf die bauliche Überlieferung Roms, z. B. die Ruinen des Colosseums (□ vgl. 1) oder den einzig unverändert aus der Antike überlieferten Großbau, das Pantheon (□ 17). Man erkannte, dass es neben den von Vitruv so ausführlich beschriebe-
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56 □ 17 Rom, Pantheon, ca. 120 n. Chr., Schnitt nach A. Palladio 1570, 4. Buch, Taf. 7
nen Freisäulen auch der Wand vorgeblendete, nichttragende, einen Gliederbau lediglich vortäuschende Pilaster oder Halbsäulen gab, mit denen man geschlossene Wandstücke ‚vitruvianisch‘ rhythmisieren konnte. Antike Theater zeigten, wie mehrgeschossige Fassaden dadurch zu gestalten waren, dass man mehrere Säulenordnungen übereinanderstellte, die noch dazu einer (das Gebäude de facto strukturierenden) Bogenarchitektur vorgeblendet waren: Hiervon leitete sich das viel verwendete sog. Tabulariums- oder Theatermotiv ab |▶ 19|. Mit großer Mühe und wenig Erfolg wurde versucht, die rigiden Maßangaben Vitruvs an den nun intensiv studierten Ruinen nachzuweisen; immerhin fand man dessen Grundidee bestätigt, dass alle Teile einer ‚Säulenordnung‘, zu der auch stets das spezifisch gestaltete, horizontal aufliegende Gebälk gehört, in einem festen Verhältnis zueinander stehen müssten, und versuchte nun, die ästhetisch idealen Proportionen durch das Abzeichnen und Aufmessen möglichst vieler vorbildlicher Bauten herauszudestillieren (Daly Davis 1994). Eine weitere zentrale Kategorie guten Bauens bezeichnet Vitruv als decorum (I. 2). Hiermit ist zunächst nicht Dekoration im Sinne von zusätzlich aufgelegtem Bauschmuck gemeint, sondern die Angemessenheit oder Stimmigkeit von Bauherr, Bauaufgabe und Gestaltung, im lateinischen decens (passend, gebührend, schicklich) genannt (Horn-Oncken 1969). Das Gebäude muss durch seine Gestaltung wiederspiegeln, von wem es zu welchem Zweck errichtet wurde; Inneres und Äußeres sollen zusammenpassen und die Bauelemente der Ordnungen nicht willkürlich vermischt werden. Dekor umfasst auch funktionale Aspekte wie die Ausrichtung von Räumen gemäß ihrer Nutzung (Schlafzimmer zur Morgensonne nach Osten, Bildergalerien zum neutralen Nordlicht). Als Maßstab dieser nicht in Zahlen und Proportionen zu fassenden Qualität bezeichnet Vitruv die auctoritas, was man vielleicht mit einem konsensorientierten, allgemeingültigen Zeichen- und Wertsystem übersetzen könnte (Vitruv/Fensterbusch 1976, S. 39 f.). Auch bei diesem Terminus bürgerte sich eine Doppelbedeutung ein: Um den Forderungen des Dekorums gerecht zu werden, galt es, das Gebäude mit der angemessenen Dekoration zu versehen, also z. B. jener Säulenordnung, die dem Lebenslauf und Geschlecht der in einer Kirche verehrten Heiligen, dem Besitzer eines Hauses, dem gesellschaftlichen Rang oder der praktischen Funktion eines Bauwerks möglichst angemessen war. Die für
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den späteren Siegeszug des Vitruvianismus so entscheidende mediale Zeichenhaftigkeit und Lesbarkeit hat hier ihren Ursprung. In einem weiteren Schlüsselbegriff, dispositio, benennt Vitruv die zeichnerischen Darstellungsformen, mit denen Architekten bis heute arbeiten: Die maßstabsgerechten, auf orthogonaler Projektion fußenden Darstellungsformen Grundriss (ichnographia) und Aufriss (orthographia), zu denen in der Neuzeit noch der Schnitt (sectio) hinzutritt, und die nicht maßhaltige, aber die räumliche Wirkung veranschaulichende Perspektive (scaenographia). Die kreative Verwendbarkeit der nunmehr wiederentdeckten und hoch geschätzten antiken Bauformen war also mehrfach limitiert: zum einen durch ihre strenge proportionale und ästhetische Systematik, die anscheinend nur wenige Variationen, Durchmischungen und Veränderungen vertrug; zum anderen durch die Verpflichtung, die Gestaltung eines Bauwerks jeweils streng an Rang und Aufgabe zu orientieren. Der zugrundeliegende Gedanke ist stets derselbe: Gute Architektur erkennt man daran, dass sie objektiv gegebene und benennbare Proportionsgesetze und gestalterische Regeln ihrer Verwendung einhält; nur dann ist sie menschengemäß, richtig und schön. Abweichungen von der Norm, der idealen Proportion, dem antiken Kanon sind, wenn irgend möglich, zu vermeiden, Experimente und allzu große Freizügigkeit nicht erwünscht: Sie werden in den Schriften regelmäßig als Missbräuche (abusi) zurückgewiesen. Der Vitruvianismus legt seinen Anhängern somit ein ziemlich fest geschnürtes Korsett an – sich darin dennoch einigermaßen frei zu bewegen, ohne auf seine durchaus erwünschte, stützende und formgebende Wirkung ganz zu verzichten, war eine ebenso herausfordernde wie anregende Aufgabe. Nicht viel besser sah es mit den Gebäudetypen und Bauaufgaben aus, die Vitruv ausführlich beschrieb: Thermen und Palästren (Sportanlagen), Villen und Tempel, eingeschossige Atrium-Hofhäuser, Theater und öffentliche Bibliotheken, Marktbasiliken und Foren gab es nicht mehr – man musste diese in etwas bemühter Analogiebildung auf Kirchen, Rathäuser, Klöster, Hospitäler, Stadthäuser und Paläste übertragen. Nur in seltenen Fällen, z. B. der ab 1516 für den Kardinal Giulio de’ Medici von Raffael und Antonio da Sangallo errichteten römischen Villa Madama versuchte man eine weitgehend wörtliche Rekonstruktion antiker Anlagen, wie sie Plinius d. J. um 100 n. Chr. beschrieben hatte (Jung 1997); meist begnügte man sich mit der an authentischen Ruinen orientierten, aber phantastisch ergänzten Rekonstruktion derselben auf Papier, oft auch als Bebilderung zu Vitruv. Die erste Publikation des berühmten vicentinischen Architekten Andrea Palladio waren solche Illustrationen, die er für den 1556 erschienenen Vitruvkommentar eines gelehrten Venezianers, Daniele Barbaro schuf (Daly Davis 1994, S. 26 f.). Er erbaute für ihn in den folgenden Jahren auch eine pseudo-‚antike‘ Villa, die mit einem Nymphäum, einen Grotten-Brunnenraum, Fischteichen, Vogelhäusern und anderen literarisch beglaubigten Details ausgestattet ist (Puppi 1986, S. 156 –163). Archäologie und Baupraxis gingen also unmittelbar ineinander über. Vitruvs Proportionssystem war, wie beschrieben, im Wesentlichen auf der mathematischen Vervielfachung eines Grundmoduls aufgebaut. Hiermit konkurrierte ein anderes, traditionelles Gestaltungsprinzip, das der Geometrie, also die Bezugnahme auf Dreiecke, Kreise und Winkelmaße, die als Grundgerüst einer Entwurfszeichnung dienen sollten (Naredi-Rainer 1982). Dieses Ordnungssystem war ohne Rechenkünste mit Zirkel und Lineal auszuführen: Das ergab zwar meist keine ganzzahligen Verhältnisse, aber sehr an-
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58 □ 18 Florenz, S. Maria Novella, Fassade, L. B. Alberti, ca. 1460, Aufriss mit geometrischem Schema nach Borsi 1975
schauliche, suggestive Proportionsschemata. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der sog. Goldene Schnitt, das angeblich als besonders harmonisch empfundene, relative Maßverhältnis zweier Strecken, das auch beim Halbieren der Längen stets gleich bleibt. Nach einem ähnlichen Verfahren schlug z. B. Andrea Palladio (I. 23) vor, die geeignete Deckenhöhe aus den Seitenverhältnissen eines Raumes rein geometrisch herzuleiten (Palladio/ Lücke 2009, S. 94 ff.). Einfache stereometrische Körper, besonders die Kugel, galten auch als ideale (Bau-)Formen. Rotationssymmetrische Grundrissschemata wie Kreis, Achteck oder griechisches Kreuz erschienen aufgrund ihrer Vollkommenheit als Abbilder der Ordnung und Schönheit des Kosmos; der schon erwähnte Francesco di Giorgio hielt Zentralbautypen daher (wie viele seiner Zeitgenossen) irrtümlich für besonders gebräuchliche antike Tempelformen (Günther 2009, S. 231– 240). Die eminente Bedeutung der Proportionslehre lag vor allem darin, dass sie den Anspruch der Architektur untermauerte, als exakte Wissenschaft zu gelten. Es ist freilich genau zu unterscheiden, ob bestimmte Proportionssysteme nachweislich der Plangenese zugrunde lagen, oder ob sie nachträglich hypothetisch in Bauaufnahmen eingezeichnet wurden (□ 18), was meist kein besonderes Problem darstellt. Zur Überprüfung der Plausibilität solcher postumer Geometrien gilt es zu beachten, ob die als angeblich ‚entwurfsbestimmend‘ herausgestrichenen Linien wirklich prägend für die Baugestalt sind, oder ob man ähnliche Dreiecke und Kreise in demselben Bau auch ganz anders anlegen könnte, ohne ihm Gewalt anzutun. War die Verwendbarkeit strenger geometrischer Grundformen für die Gestaltung von Einzelgebäuden beschränkt, so wurde sie im Städtebau, wiederum unter Bezugnahme auf Vitruv (I. 6), zum kaum hinterfragten Leitbild: Quadratraster, Achteck und Kreisstruktur
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galten als ideale Stadtgrundrisse. Noch das 1715 gegründete, fächerförmige Karlsruhe folgte diesem Schematismus ohne Rücksichtnahme auf die hierdurch entstehenden ungünstigen ‚Tortenstück‘-Parzellen (□ vgl. 14). Die Rücksichtnahme auf Topographie und vorgegebene Strukturen, die viele mittelalterliche Städte als ‚gewachsen‘ erscheinen lässt, wurde nun gänzlich in den Hintergrund gedrängt. Das zeigt sich besonders deutlich beim Bau von Festungen, die bevorzugt im Flachland über geometrisch ausgezirkelten SternThemenblock · Festungsbau, S. 151). grundrissen errichtet wurden ( Ein Problem konnten weder geometrische noch modulare Proportionslehren lösen: die Sichtbarmachung der die bauliche Harmonie angeblich garantierenden absoluten Maßverhältnisse am realisierten Gebäude. Bekanntlich führt das räumliche Sehen zu Verzerrungen, z. B. zur perspektivischen Stauchung der oberhalb der Augenhöhe liegenden architektonischen Elemente. Daher erkannte bereits Vitruv (VI. 2) die Notwendigkeit der optischen Korrektur systematisch ermittelter Maße. Ein gutes Beispiel hierfür ist die äußere Gestaltung von Kuppeln, eine im Vitruvianischen Zeitalter stets wiederkehrende Aufgabe. Natürlich galt die Halbkugel wie im römischen Pantheon (□ vgl. 17) als geometrisch ideale, die kosmische Harmonie widerspiegelnde Form; andererseits war sie, wie am Außenbau desselben Gebäudes zu bemerken, aus der nahen Untersicht enger Straßen kaum wahrzunehmen. Michelangelos Peterskuppel überragt in absoluten Maßen um ein Mehrfaches die ihr vorgesetzte Langhausfassade Madernos |▶ 21|, wird aber, vom Petersplatz aus gesehen, optisch von dieser störend verdeckt. Daher entschlossen sich viele Architekten wie Michelangelo und Brunelleschi, Bähr und Wren, die äußere Kuppelschale von der gerundeten inneren zu trennen und bewusst steiler zu formen: ein guter Beleg dafür, wie gestalterische ‚Gesetze‘ relativiert werden konnten, ohne demonstrativ mit ihnen zu brechen. Mit der Frage der Sichtbarkeit und optischen Wirkung von Gebäuden beschäftigt sich besonders die von Vitruv scaenographia genannte Kunst der perspektivischen Darstellung. Nach dem Bericht Vasaris (Vasari/Burioni 2012, S. 16 ff.) verdankt sich die ‚Erfindung‘ bzw. ‚Wiederentdeckung‘ dieser Technik dem ansonsten vor allem als Baupraktiker hervorgetretenen Florentiner Filippo Brunelleschi. Er habe einen Apparat ersonnen, etwa einer Laterna Magica vergleichbar (□ 19), mit dessen Hilfe man über einen Spiegel abwechselnd eine möglichst exakte Zeichnung mit dem abgezeichneten Gebäude vergleichen konnte. Der Architekt stellte diese Vorrichtung angeblich im Hauptportal des Florentiner Domes auf, von dem aus man das für antik gehaltene oktogonale Baptisterium in exakter zentralperspektivischer Frontalität sehen konnte. Durch ein Loch in der Rückseite
□ 19 Perspektiv apparat von F. Brunelleschi, Rekonstruktion von Camerota, Opera Laboratori Fiorentini, Florenz
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des Apparats konnte der Betrachter nun entweder die gespiegelte Zeichnung oder (nach Wegklappen des Spiegels) die Originalansicht des Gebäudes sehen und so das für den Seh eindruck entscheidende Fluchten der Linien, die Verkürzungen und optischen Verschneidungen erstmals mit wissenschaftlicher Präzision nachvollziehen (Manetti/Saalman 1970, S. 43 ff.). In Umkehrung des Experiments war es nun möglich, auf dem Papier räumlich realistische Imaginationen geplanter Bauten und Räume zu erzeugen – ein Darstellungsmodus, der in der Spätgotik noch nicht in gleichem Maße zur Verfügung stand, denn in der bislang führenden niederländischen Malerei war die Raumdarstellung nur dank empirischer Annäherung, aber nicht als exakte Konstruktion üblich gewesen. Die Bedeutung der Perspektive in der Frühneuzeit lässt sich in etwa mit der des Modells vergleichen. Als Planungs- und Entwurfshilfsmittel spielten beide (im Unterschied zur Moderne) kaum eine Rolle, dagegen wurde ihre suggestive Kraft vor allem für die Kommunikation mit den Bauherren genutzt. Während das aufwendig bemalte, aus Holz nach den Rissen und Schnitten des Architekten gebaute Modell (□ vgl. 88, 121) dem Bauunkundigen vor allem bei der räumlichen Vorstellung half, dienten perspektivische Veduten und Vogelschauansichten (□ vgl. 135) bevorzugt als Werbemittel, um potentielle Auftraggeber für die eigene Vision zu begeistern, ihnen die Entscheidung für eines von mehreren Projekten zu erleichtern oder deren zukünftiger Vollendung vielleicht um Jahrzehnte vorauszugreifen. Manche Planungen existierten überhaupt nur als sog. Appetitriss, d. h., sie zeigten nur eine besonders attraktive Hauptansicht, ohne dass funktionale und räumliche Fragen überhaupt geklärt gewesen wären. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist der 1688 entstandene sog. erste Entwurf des in der Einleitung bereits erwähnten Johann Bernhard Fischer von Erlach für das spätere kaiserliche Lustschloss Schönbrunn bei Wien: eine Vogelschauansicht der Hauptfassade, die vielleicht nur dazu dienen sollte, den Adressaten, den jungen König Joseph I., für ein derartig aufwendiges Projekt zu gewinnen, ohne dass zu diesem Zeitpunkt bereits irgendwelche konkreten Bauabsichten oder weitere ausgearbeitete Pläne vorlagen (Lorenz 1992, S. 60 f.). Neben diesen ganz handfesten Absichten der Auftragsakquise konnte die Darstellung imaginierter Architektur auch utopisches Potential entfalten. Utopia (,Nicht-Ort‘) hieß jene phantastische Insel, die Thomas Morus in seinem gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1515 als ein idealisiertes Gegenbild Englands entwarf. Auch Filaretes in der Einleitung vorgestelltes fiktives Plusiapolis ist ein solches in die Antike zurückprojiziertes Traumland, in dem die Architektur als Mitgestalterin und Abbild eines idealen Fürstenstaates eine neue, bedeutende Rolle einnimmt. In der illustrierten zweiten Fassung seines Traktats, dem nun den Florentiner Medici gewidmeten sog. Codex Magliabechianus, findet sich die Darstellung des sog. Hauses der Tugend und des Lasters (Filarete/Spencer 1965, Bd. 2, fol. 144 r), einer Bildungsanstalt in Form eines Rundturmes (□ vgl. 3), in dem die Zöglinge sich wie in einer Wendeltreppe über sieben Stockwerke (den klassischen Tugenden und den sieben sog. freien Künsten entsprechend) nach oben arbeiten, ohne hierbei den Versuchungen der Laster anheimzufallen, die in den drei Untergeschossen des Turms zur Abschreckung angesiedelt sind (Filarete/Oettingen 1890, S. 500–507). Filarete erfindet hier Architektur als moralische Anstalt: Sie bildet nicht nur existente gesellschaftliche Zustände ab und erfüllt ihr zugewiesene praktische Aufgaben, sondern prägt und erzieht
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61 □ 20 Leonardo da Vinci: Skizze einer Idealstadt mit getrennten Verkehrs- ebenen, aus dem sog. Codex B, fol. 16, Paris, Institut de France, um 1500
die Menschen aktiv zum Guten. Dieser Anspruch geht weit über Vitruv hinaus; die hierfür imaginierte, zwischen Symbolik und Funktionalität changierende Baugestalt ist weder von antiken Vorbildern noch den technischen Möglichkeiten der Gegenwart des Autors geprägt, sondern allein Abbild eines intellektuellen Konzepts, ein Gedanken-Gebäude im doppelten Wortsinn. Leonardo da Vinci kann in diesem Sinne als Nachfolger Filaretes verstanden werden: Seine perspektivisch gezeichneten Architekturentwürfe, oftmals Stadtansichten oder komplexe Zentralbauten ohne direkten Auftrag, lassen sich mit seinen berühmten Flugmaschinen vergleichen: Sie nehmen Problemstellungen und Lösungsvorschläge vorweg, die manchmal erst Jahrhunderte später realisierbar erschienen. Leonardos Idealstadt-Skizzen verlegen z. B. die Verkehrswege für Fußgänger, Lastentransporte und Abwasserkanäle auf verschiedene Ebenen (□ 20). Vielleicht war nur ein Künstler, der niemals mit den Mühen der fabrica, also der praktischen Ausführung von Bauaufträgen belastet war, in der Lage, derart unbeschwert von seiner invenzione Gebrauch zu machen. Der erste neuzeitliche Autor, der es wagte, sich mit dem Vorbild Vitruv zu messen, war Leone Battista Alberti: Als er um 1450 seinen Architekturtraktat verfasste (Alberti/Orlandi 1966), hatte der höhere Beamte im päpstlichen Dienst selbst vermutlich noch nichts gebaut; er näherte sich seinem Gegenstand daher als vielfältig gebildeter Laie von der theoretischen Seite her, nachdem er bereits Bücher über die Skulptur, die Malerei und die Familie verfasst hatte. Alberti nannte sein Werk in deutlicher Anlehnung und Abgrenzung vom kanonischen Vorbild „De re aedificatoria“ (in etwa: Vom Bauwesen). Auch dieses unillustrierte, in Latein verfasste Werk besteht aus zehn Büchern und greift demonstrativ die Leitbegriffe firmitas, utilitas, venustas auf. Natürlich spekuliert auch dieser Autor über Zahlenharmonien als Grundlage vollkommener, naturgemäßer Schönheit, die er mit einem neuen Terminus concinnitas (in etwa: Vollkommenheit, Makellosigkeit) nennt. Albertis Definition der concinnitas ist berühmt geworden: ,Man baue daher so, dass man an Gliedern nie mehr wünscht, als vorhanden sind, und nichts, was vorhanden ist, irgendwie getadelt werden kann.‘ (Alberti/Theuer 1912, S. 49.) In dieser Suche nach dem rechten
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Maß, ‚Weder Zuviel noch Zuwenig‘, kann man die theoretische Grundlegung jenes Ideals der ausgeglichenen Harmonie, Ruhe und Vollkommenheit erkennen, das man später als charakteristisch für die Renaissancearchitektur benannte. Innovativ ist Albertis Traktat vor allem dann, wenn er von Vitruv abweicht und dessen rechthaberische Regulierungssucht im Sinne eines größeren Pragmatismus modifiziert. So wagt er es, die für die spätere Architekturpraxis entscheidende Gleichsetzung von Säulen mit Pfeilern bzw. Pilastern und der Kolonnade mit einer durchbrochenen Wand in Worte zu fassen (I, 10). Als erste Umsetzung dieser Erkenntnis kann seine etwa gleichzeitig mit dem Traktat entworfene Fassade des Palazzo Rucellai in Florenz gelten ( □ 21 ), die eine zweidimensionale Adaption der Geschossgliederung des Kolosseums (□ vgl. 1) darstellt. Sie ist als lineares Ritz-Ornament einer nur wenig durchfensterten Lochfassade aufgeblendet und weist nach, dass die antiken Ordnungen auch an strukturell andersartigen Bauten rein dekorativ und nobilitierend eingesetzt werden können. Alberti erkennt und be□ 21 Florenz, Palazzo Rucellai, Fassade, L. B. Alberti, nennt als Erster die Doppelfunktion der Säule nach 1455 als konstruktives Gerüst (ossa) und additiv hinzugefügter Schmuck (ornamentum) eines Gebäudes. Statt der normativen Forderung nach durchregulierter Perfektion, die leicht in Langeweile umschlagen könnte, betont er den Wert der gestalterischen varietas. Hierzu gehört z. B. die Erkenntnis, dass gewundene Straßen in kleinen Städten besser wirken als gerade, weil sie diese größer erscheinen lassen und außerdem vielfältigere Ansichten der Gebäude bieten (Germann 1993, S. 62–65). Für Alberti ist Architektur ein Spiegel der jeweiligen Gesellschaftsform und Gebäudefunktion: Daher muss die Tyrannenburg anders gestaltet sein als das republikanische Rathaus, der repräsentative Stadtpalast sollte sich erkennbar vom der Erholung gewidmeten Landhaus unterscheiden. Der Verfasser benennt psychologische Raumwirkungen, z. B. die der Andacht förderliche Dunkelheit in Kirchen (VII, 12). Alberti führt als Kenner der antiken Ruinen eine von Vitruv noch nicht benannte, in Rom aber sehr geläufige Säulenordnung ein, die Elemente des ionischen und korinthischen Kapitells verbindet, und bezeichnet sie daher gemäß vitruvianischem Schema als ‚italische‘ Ordnung: Später nannte man sie composita. Schließlich nimmt Alberti in der Vorrede zum ersten Buch eine für das zukünftige Selbstbild des Architektenberufs entscheidende Verschiebung der Gewichte vor: Während
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der ‚Militäringenieur‘ Vitruv noch darauf bestand, als Theoretiker und Praktiker gleichermaßen zu glänzen, führt sein gelehrter Nachfolger hier eine klare Hierarchie ein, indem er die ausschließliche Zuständigkeit des Architekten für die intellektuelle Planung, also den gezeichneten Entwurf (lineamenta) einforderte, während man die praktisch-technische Ausführung (structurae) durchaus einem Bauleiter überlassen könne, ja solle. Hierdurch wird der Architekt endgültig vom Baufachmann zum Geistesarbeiter, vom Handwerker zum Künstler nobilitiert, denn auch er bedient sich primär des disegno, der Zeichnung, um seine zunächst immateriellen Ideen sichtbar und verständlich zu machen. Alle bisher vorgestellten Traktate hatten einen großen Nachteil: Sie mochten den gebildeten Bauherrn interessieren, waren aber für den praktizierenden Architekten unbrauchbar. Der entscheidende, erst im 16. Jh. vollzogene Entwicklungsschritt lag darin, Text und Bild zu kombinieren und der Plangrafik dabei zunehmend den Vorrang einzuräumen. Hier kommt dem vorwiegend in Venedig und Frankreich tätigen Sebastiano Serlio eine Pionierrolle zu (Rosci 1966). Obwohl er zur ersten Generation der ins Ausland berufenen italienischen Architekten gehörte, blieb sein gebautes Œuvre von Umfang und Innovationskraft her bescheiden – wie Vitruv verdankt er seine Bekanntheit seiner Publikation. Diese umfasst neun Bände, von denen nur sechs zu Lebzeiten (zwischen 1537 und 1551) gedruckt wurden. Der Autor entwickelt eine nachvollziehbare thematische Struktur für sein Gesamtwerk, die auch für spätere Traktate vorbildlich werden sollte: Band I und II beschäftigen sich, bewusst auf einem Niveau, dem auch „mittelmäßige Geister“ folgen könnten, mit Geometrie und Perspektive, also den Darstellungstechniken. Buch III präsentiert vorbildliche Bauten, natürlich mehrheitlich aus dem antiken Rom, aber erstmals auch wenige ausgesuchte zeitgenössische Beispiele, z. B. Bramantes berühmten Tempietto (|▶ 6|, □ vgl. 54), die der Autor während seiner römischen Ausbildungszeit kennengelernt hatte und als erste Bauten der Gegenwart für qualitativ gleichwertig mit den ‚Alten‘ erklärt. Buch IV stellt erstmals die fünf Säulenordnungen in ihrer ab jetzt dogmatisierten, hierarchisierten Abfolge vor ( Themenblock · Säulenordnungen, S. 99). Band V zeigt Kirchengrundrisse, bevorzugt Zentralbauten nach eigenem Entwurf. Band VI konnte nicht mehr publiziert werden: Er wäre ohne Zweifel der innovativste gewesen, denn er beschäftigt sich erstmals mit dem bürgerlichen Hausbau für alle Stände. Hier verarbeitet Serlio seine Erfahrungen mit regional differenzierten Bauweisen, die er in Venedig und Frankreich gemacht hatte: Er stellt die sog. costume di francia (nordalpine Baugewohnheiten) neben toskanische und legt dar, dass Klima und Niederschlagsdichte in begründetem Zusammenhang mit traditioneller Dachneigung und Fensterform stehen (□ 22). Die Tafeln rekonstruieren keine altrömischen Atrium-Peristyl-Anlagen mehr, sondern zeigen realisierbare Doppelhaustypen auf den langen und tiefen Parzellen nachmittelalterlicher Städte. In einem „Libro Extraordinario“ stellt Serlio dreißig eigene, vielgestaltige Portalentwürfe vor und überschreitet damit endgültig die Grenze vom Regel- und Theorie- zum Musterbuch: Die hierbei gezeigte Variationsbreite impliziert das indirekte Bekenntnis, dass es ‚die einzig richtige bzw. beste Gestaltung‘ für architektonische Details nicht geben könne, sondern dass allein die Vielfalt möglicher Lösungen der Verschiedenheit der Auftraggeber und Funktionen gerecht werde. Was heute selbstverständlich erscheint, bedeutete um 1550 für die Architekturtheorie einen völlig neuen Erkenntnisschritt: dass es in der vitruvianischen Baukunst nämlich nicht nur richtig und falsch, sondern auch
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64 □ 22 Sebastiano Serlio: Süd- und nord alpine Haustypen, aus dem geplanten 6. Buch des Traktats, fol. 45, München, Bayerische Staatsbibliothek, nach 1537
persönliche Geschmacksvorlieben, sich wandelnde Moden und eine Lust am Neuen, nie Dagewesenen, mit anderen Worten: eine stilistische Entwicklung gebe – la maggior parte de gli huomini appetiscono il più delle volte cose nuove (Kruft 1991, S. 83). Mit diesem Votum für das Abwechslungsreiche, Überraschende, bisher Unbekannte erweist sich Serlio als Kind jener Zeitströmung, die die Stilgeschichte als Manierismus, also die Epoche der ‚persönlichen Handschrift‘ und künstlerischen Extravaganz bezeichnet: Abweichungen von der Norm, die hier erstmals mit dem später geläufigen Begriff licentia (Freizügigkeit) belegt werden. Ein als praktizierender Architekt weit erfolgreicherer Zeitgenosse Serlios, Jacopo Barozzi, genannt Il Vignola, der Erbauer des römischen Gesù |▶ 22|, entwickelte hierzu eine Gegenposition, die sich schon im Buchtitel seines 1562 erschienenen Traktats ausdrückt: „Regola delli cinque ordini d’architettura“ (Thoenes 1983, Vignola 1562/1985). Vignola radikalisiert Serlios Innovation, indem er sein Buch konsequent und ausschließlich als prächtig illustrierte Bedienungsanleitung konzipiert (wozu auch die Serlios Holzschnitten weit überlegene graphische Qualität der Kupferstiche beiträgt), die ein für allemal genau erklären soll, welche Proportionen für welche Säulenordnung die absolut richtigen sind und wie man diese jeweils passgenau für jedes beliebige Gebäude bemisst. Der Verfasser stützt sich hierbei nicht auf metaphysische Zahlenspekulationen, sondern auf eigene Aufmaße der „nach allgemeiner Meinung“ jeweils besten antiken Beispiele. Hieraus entwickelt er ein ganz einfaches System, das endlich einen Grundfehler Vitruvs korrigiert: Statt den unteren Säulendurchmesser zum Grundmaß für ein ganzes Gebäude zu erheben – welcher Bau wäre jemals so geplant worden? –, kehrt Vignola das Verfahren um und legt fest: Das Modul (hier der untere Säulenradius) sollte je nach gewählter Säulenordnung zwischen 1/22 oder 1/32 der Geschosshöhe betragen. Man muss diesen Wert in beliebiger lokaler Maßeinheit nur noch in die beiliegenden Tabellen einsetzen und erhält jedes gewünschte Detailmaß für Kapitelle, Basen, Gebälkhöhen etc.: immer richtig, immer gleich.
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Es verwundert nicht, dass ‚der Vignola‘ ein Klassiker der Architektenausbildung werden sollte und bis ins 20. Jh. immer wieder nachgedruckt wurde: Noch in der Nachkriegszeit erlernten Studierende das exakte Zeichnen am Vorbild von Vignolas korinthischen Kapitellen, während längst Stahlbeton und T-Profile das praktische Baugeschehen regierten. Der Vitruvianismus hätte, betrachtet man die enormen Schwierigkeiten seiner praktischen Nutzanwendung, ohne weiteres eine Gelehrtenspielerei weniger Intellektueller an italienischen Höfen bleiben können. Er traf um 1500 im Rest Europas auf eine Kultur, die über ein weit verbreitetes und hoch entwickeltes Formenrepertoire höchster gestalterischer Raffinesse und konstruktiver Leistungsfähigkeit verfügte, das wir heute in Anlehnung an Vasari ‚Gotik‘ nennen, von den Zeitgenossen aber als ‚Moderner Stil‘ im Gegensatz zu dem der ‚Alten‘, sprich der (nun gerade wiederbelebten) Antike, verstanden wurde. Vasaris Polemik gegen diese aus Nordeuropa eingeschleppte gestalterische Sittenverderbnis hätte somit eine toskanisch-lokalpatriotische Randbemerkung bleiben können. Zu einer Weltsprache konnte die ‚wiedergeborene‘ Antike allein deshalb werden, weil sich die italienische Kultur nicht nur als vorbildhaft, sondern als exportfähig erwies. Erst, als um 1500 das Interesse für griechisch-römische Säulenordnungen und ‚einzig richtige‘ Proportionen die Alpen überschritt und die nordeuropäischen Eliten dies als exklusiv-luxuriöses Distinktionsmerkmal für sich entdeckten, welches zunehmend als überlegene Alternative zur lokalen Tradition erschien, wurde mit der zunächst eher modischen Zuwendung zu den neuen alten ‚italienischen‘ Formen auch die Bereitschaft vermittelt, sich an der Diskussion der Regelwerke zu beteiligen. Hierbei erwies sich, dass nicht eurythmia und symmetria, also die starren Proportionssysteme, sondern decorum zum Leitbegriff der Debatte werden sollte, und zwar in der oben beschriebenen doppelten Wortbedeutung. Man erkannte in ganz Europa den genuin nobilitierenden Charakter, vor allem aber auch die enormen Sprach- und Ausdrucksmöglichkeiten, die in der Verwendung antiker Formen und Normen lagen. Zunächst war es die klar ablesbare Hierarchie kodifizierter, leicht reproduzierbarer Säulenordnungen, die Interesse erregte. Ihre Vermittlung erfolgte hierbei nicht im Zusammenhang des Gesamtentwurfes, sondern gemäß den Abbildungen bei Vignola und Serlio (□ vgl. 43) als isolierte Motive und beliebig verwendbare Versatzstücke, die oft im wörtlichen Sinne dekorativ appliziert und hierbei relativ skrupellos formal ‚bereichert‘ oder variiert wurden. Die ersten eigenständigen, überaus erfolgreichen nordeuropäischen Traktate, z. B. Wendel Dietterlins „Architectura“ von 1598 (Kruft 1991, Abb. 105, S. 190 f.) waren daher bilderreiche Vorlagenbücher, die für Schreiner letztlich genauso interessant und nützlich waren wie für Architekten, stellten sie die neuen Formen doch als frei verfügbares Spielmaterial vor, und dispensierten von der skrupulösen Regelgläubigkeit der gestrengen Italiener, indem sie die antiken mit ungezügelt phantastischen, nordisch-ornamentalen Formen ergänzten. Das ‚Übergreifen‘ der vitruvianischen Mode auf ganz Europa wurde vermutlich erst in der nach-doktrinäen Periode ihrer manieristischen Entgrenzung möglich (Forssman 1956). Mit dem Beginn des 17. Jh.s war die Inkubationszeit beendet, nun wurde von der Ostsee bis Gibraltar vitruvianisch gedacht und gebaut. In allen Ländern hatten sich Corinthia und Composita als ranghöchste Ordnung durchgesetzt, wurden Fassaden mit aufgelegten Pilasterstrukturen nach dem Vorbild römischer Theater gegliedert und dieselben Zeichensysteme antiker Gottheiten zur Manifestation politischer Autoritäten eingesetzt.
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Die Bedeutung der antiken Mythologie, Allegorik, Symbolik und Heraldik im Kontext der vitruvianischen Architektursprache darf keinesfalls unterschätzt werden. Sie gehörte zum europäischen Bildungskanon und erlaubte es einem Italiener oder Russen, das Selbstverständnis der Handelsrepublik Amsterdam am bildlichen Schmuck ihres Rathauses auch dann fehlerfrei abzulesen, wenn er kein Wort Niederländisch verstand. Ein Besucher von Versailles |▶ 36| konnte schon von außen problemlos feststellen, dass sich die Hauptsäle des Schlosses im ersten Obergeschoss befinden mussten, denn hier waren der egalisierten Gartenfassade als nobilitierende Zeichen Vollsäulen vorgestellt. Diese sind ionisch instrumentiert, während die Kapelle des Schlosses zu Ehren Gottes im Innern die ranghöhere korinthische Ordnung zeigte. Die Empfangsräume des Königs waren nach den Planetengottheiten benannt, die assoziativ auf bestimmte Eigenschaften oder Tätigkeiten des königlichen Bauherrn verwiesen. Seine durch das Bau- und Bildprogramm herausgestellte Identifikation mit Apollo, dem Sonnengott, transportierte den neuformulierten politischen Anspruch des französischen Königtums weit besser und überzeugender, als es weitschweifige staatstheoretische Erörterungen vermocht hätten. Mit der Etablierung des Vitruvianismus als Weltsprache entstand freilich die Gefahr der gestalterischen Egalisierung zwischen St. Petersburg und Mexiko |▶ 34, 29|. Neben der Ausbildung von ‚Regionaldialekten‘ führte dies zum beherzten, aber letztlich erfolglosen Versuch, jeweils eigene, ‚nationale‘ Säulenordnungen zu erfinden und zu propagieren. Meist blieb es bei politisch forcierten Initiativen, denen aber keinerlei allgemeine Akzeptanz beschieden war. Hier bestätigte sich die erstaunliche Resistenz und Stabilität des vitruvianischen Korsetts, das sich tatsächlich als geschlossener Kosmos erwies. Die ‚nationalen‘ Innovationen waren mehrheitlich nichts anderes als dekorative Varianten der bereits etablierten Systeme: So erscheint Philibert Delormes ‚Französische Ordnung‘ von 1567 als eine manieristische Umformung der Dorica, während der 1671 durch ein hochdotiertes Preisausschreiben initiierte gleichnamige Versuch des Ministers Colbert nach dem Vorschlag Le Bruns in Versailles das korinthische Blattkapitell lediglich durch einen gallischen Hahn bereicherte (Kruft 1991, Abb. 73, S. 146; Pérouse de Montclos 1977). Die Lockerung und Erweiterung des Kanons gelang nur auf nichtoffiziellen Nebenwegen: Zum einen durch die dekorativ-phantastische Variation bekannter Elemente, z. B. einen gedrehten Säulenschaft als sog. Salomonische Ordnung, der Überwucherung durch das aus Balustern entwickelte spanische Estipite-Ornament, oder die Bereicherung z. B. des korinthischen Kapitells mit modischen Ornamentformen wie der Rocaille, die nicht den Rang eines eigenen Systems beanspruchten und auch vor den Augen der als normative Instanzen fungierenden Akademien keine Gnade gefunden hätten. Zum anderen versuchte man zaghaft, die Architektursysteme anderer Kulturen und Zeiten, z. B. Chinas, der Gotik oder Ägyptens, unter dem nobilitierenden Titel ‚Ordnung‘ als Alternativen einzuführen, was aber erst gegen Ende der Epoche nach 1750 im Zusammenhang mit der verlöschenden Strahlkraft der vitruvianischen Dogmatik unter dem Vorzeichen des sog. ‚ästhetischen Relativismus‘ gelang. Auf solche partiellen oder lokalen Lockerungsversuche folgte stets ein doktrinärer Aufruf zur ‚Abstellung der Missbräuche‘ und Rückkehr zur bewährten, also klassisch-antikischen Ordnung: Der gestrenge Vincenzo Scamozzi korrigierte um 1600 den von seinem Vorgänger Jacopo Sansovino unkanonisch zum Mezzanin geweiteten Fries beim Weiterbau des venezianischen Markusplatzes |▶ 16|. In England wurde ab 1715 die Rückkehr zum
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strengen Palladianismus nach den verdächtig kontinental-katholisch erscheinenden barocken Experimenten der Stuart-Ära sogar als politische Unabhängigkeitserklärung verstanden. In Frankreich galt seit dem Traktat des Abbé Cordemoy von 1706 (Germann 1990, S. 195–203; Cordemoy 1714/1966) die Suche nach einem gotische und griechische Ästhetik bruchlos verbindenden, von italienisch-barocken Exzessen ‚gereinigten‘ Kirchenbaustil als Aufgabe von nationaler Bedeutung. Kaum ein Künstler verkörpert den epochentypischen Zwiespalt zwischen Regelsetzung und kalkuliertem Regelbruch so deutlich wie Andrea Palladio. Sein Aufstieg vom Steinmetz aus der venezianischen Provinz zum Leitstern der Architektur für die folgenden Jahrhunderte führte über das Katheder des dogmatischen Vitruvianismus. Er war der erste Architekt, dessen Bedeutung als Theoretiker und Praktiker, Autor und Entwerfer zu einem geschlossenen künstlerischen Œuvre zusammenfloss (Forssman 1965). Während man nach dem konkreten Zusammenhang zwischen Lehrgebäude und Entwurfspraxis bei Alberti bis heute fragen muss, vereinigen sich Bücher und Bauten bei Palladio bruchlos zu einem Ganzen, indem er das eigene Gebaute zum zentralen Gegenstand seines geschriebenen Werks macht. Während Vignola und Serlio ihre Wirkung aufgrund Allgemeingültigkeit beanspruchender Regeln auch dort entfalteten, wo man kein einziges ihrer Gebäude kannte, erhebt der Architekt aus Vicenza seine Entwürfe in den Rang des Exemplarischen, zu Musterbauten der eigenen universellen, mit seinem Namen untrennbar verbundenden Theorie. Sie werden über Jahrhunderte bis heute zu Pilgerstätten von Architekturliebhabern aus aller Welt; es ist praktisch nicht möglich, seine Ausnahmestellung als ‚Genie‘ zu bezweifeln. Er schließt damit zu Malern wie Tizian und Bildhauern wie Michelangelo auf, deren Signatur bereits zu Lebzeiten als Markenzeichen gilt und deren individuelle Handschrift – maniera – in den Augen ihrer Bewunderer wichtiger ist als der konkrete Gegenstand der Darstellung, der Titel und Rang des Auftraggebers, dem sie ihr Können gerade widmen. Palladios 1570 erschienener Traktat ist mit vier Büchern ein Fragment geblieben. Buch I liefert die Grundlagen zu Bautechnik und Säulenordnung, dann folgen in aufsteigender Reihenfolge Privathäuser (II), öffentliche Bauten (III) und Sakralbauten (IV), wobei zwischen Antike und Gegenwart nicht grundsätzlich unterschieden, sondern vielmehr die Kontinuitätsaspekte im Sinne einer beide Epochen bruchlos verbindenden zeitlos-idealen Ästhetik betont werden. Palladios Ausbildung wurde entscheidend durch seine Auftraggeber aus dem humanistisch gesinnten venezianischen Patriziat gefördert, die ihn als Experten auf Rom-Reisen mitnahmen. Der Vitruvianismus war um 1540 Teil des Bildungskanons in ganz Italien geworden, und der Nachweis entsprechend fundierter Antikenkenntnisse diente einem Baumeister nun auch im Veneto als Karrierehebel. Ähnlich wie vor ihm Alberti bemühte sich der in Vicenza ansässige Autor, einen ‚besseren Vitruv‘ vorzulegen, also nicht dessen Autorität aufzuheben, sondern vorsichtig und ‚aemulativ‘ zu korrigieren. Hierbei interessierten ihn formale und ästhetische Kriterien stärker als die Fragen der Hierarchie und Angemessenheit. Damit tritt die vom Verfasser selbst geplante zeitgenössische Villa, de facto das ländliche Wohnhaus eines reichen Gutsbesitzers, als Bauaufgabe formal gleichberechtigt neben den Palast des Herrschers, den antiken Tempel und die Kirche: Ausdruck des republikanischen Selbstverständnisses der gebildeten venezianischen Oligarchie, die diese Villen errichten ließ. Dies bedeutet ein merkliches Zurückdrängen der
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Dekorums-Frage, für die der Autor bezeichnenderweise das relativierende Synonym convenienza einführt (II. 1). Das zeigt sich besonders beim Umgang mit jenen antiken Elementen, die bisher als herausragende Würdezeichen für den Tempelbau reserviert schienen: die säulengestützte Portikus und die Rotunde. In seiner berühmten Villa Rotonda |▶ 18| adaptiert Palladio beide Motive ziemlich hypertroph für ein privates Landhaus und vervierfacht den Tempelgiebel sogar mit dem Hinweis auf den schönen Ausblick, den man aufgrund der freien Lage des Bauplatzes nach allen Himmelsrichtungen genieße (Palladio/Lücke 2009, S. 138). Das Tympanon sei außerdem praktisch, um das Wappen des Bauherrn daran anzubringen (II, S. 69). Er macht sich damit zum Propagandisten der beliebigen Verfügbarkeit architektonischer Motive, die unter Berufung auf Palladio seitdem vom Teehaus im Privatgarten bis zum hochoffiziellen Parlamentsgebäude letztlich mit jeder gewünschten Bauaufgabe assoziiert werden können und damit ihre klare Zeichenhaftigkeit einbüßen – die Kirchenportikus kann man dann allenfalls noch an ihrer Größe und dem Reichtum ihres Schmucks erkennen (VI. 2). Diese neue Sichtweise ist vitruvianisch und antivitruvianisch zugleich: Einerseits unterläuft sie das Axiom der eindeutigen Korrelation von Form und Inhalt, andererseits nimmt sie eine Grundmaxime des Vitruvianismus, nämlich den antiken Tempelbau mit seinen Proportionen zum Leitmotiv für jedwedes Gebäude zu erheben, ernst und wörtlich. Für Palladio war der Tempel nichts anderes als das nobilitierte Abbild des römischen Hauses – also konnte dieses Ideal auch wieder auf beliebige Bauaufgaben zurückgespiegelt werden. Ähnlich wie Vignola und anders als Serlio sucht Palladio nach einer universellen Ästhetik, die ebenso unspezifisch wie allgemeinverbindlich ist. Daher sieht ein palladianisches Haus in England |▶ 44, 45|, Amerika oder Russland nicht grundsätzlich anders aus als im Veneto (Bracker 1997). Um diese sozial indifferente und semantisch neutrale Egalisierung zu rechtfertigen, bedarf es einer neuen autoritativen Instanz, die Palladio mit den Schlagwörtern ‚Natur‘ und ‚Einfachheit‘ belegt. Auch das ist gut vitruvianisch gedacht, nur dass nicht mehr der Mensch mit seinen Proportionen als Vergleichsbeispiel herhalten muss. Zugleich handelt es sich um einen argumentativen Schutzwall gegen jene formale Freizügigkeit, die im Manierismus um sich zu greifen droht und das Komplizierte, gewollt Originelle, Einmalige und nie Gesehene zum künstlerischen Ideal erhebt; einer Ästhetik, der Palladio in seinen Bauten erstaunlich oft huldigt. Er installiert hierdurch eine dritte normative Institution, in deren Namen man die ‚Missbräuche‘ (anderer) in die Schranken verweisen kann: Neben Vitruv und die antiken Exempla tritt ein angeblich unwandelbares, natürliches, einfaches Schönheitsideal als jeder Kritik enthobener Maßstab und Richtschnur. Durch Palladio und Serlio wurden zwei entgegengesetzte Ordnungsmodelle postuliert: Ist architektonische Schönheit nun zeit- und ortlos, normativ‑allgemeingültig und objektiv feststellbar oder abhängig von lokalen Traditionen und dem sich wandelnden Geschmack des Publikums? Gehorcht sie den Gesetzen des Dekorums, also einer sozialen Übereinkunft darüber, was als angemessen zu gelten hat, oder einem ewig unveränderlichen, vom Schöpfergott vorgegebenen Naturgesetz, das von der Hütte bis zum Palast letztlich für jede Gebäudeart gleiche Gültigkeit beansprucht? Kann es konkurrierende, sich wandelnde ästhetische Ideale geben, oder bedeutet jeder Versuch einer Abweichung vom Dogma nur ein kritikwürdiges und verderbliches Abirren vom rechten Weg? Existiert somit ein archi-
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tektonischer Fortschritt, der verschiedene Wege zulässt, oder nur das auf vorgegebene, unveränderliche Ideale gerichtete Streben nach möglichst vollkommener Perfektion? Ein gutes Beispiel für die praktischen Schlussfolgerungen aus den beiden konkurrierenden Ordnungsmodellen zeigt sich beim zuletzt ergebnislosen Streit um die Vollendung der großen gotischen, Fragment gebliebenen Kirche S. Petronio in Bologna, an dem sich unter anderem auch Palladio, natürlich mit dem Vorschlag einer Tempelportikus all’antica, beteiligte. Während die eine Seite betonte, inzwischen sei eindeutig geklärt, was die einzig gute und richtige, nämlich antikische Architektur sei, führte die Gegenseite das neue, aber zunehmend wichtige Argument der conformità ins Feld: Der Bau sei nun einmal in gotischen Formen begonnen (von den Befürwortern gelegentlich auch ordine tedesco, also ‚deutsche Ordnung‘ genannt), und daher solle er auch in demselben ‚Stil‘ beendet werden. Beide Parteien lähmten sich letztlich, die Kirche blieb unvollendet, aber die gut dokumentierte Debatte gehört zu den interessantesten Grundsatzdiskussionen des Vitruvianischen Zeitalters (Germann 1993, S. 146 –158; Wittkower 1974). Hinter der hier beschriebenen Optionalität verschiedener Ordnungsmodelle verbirgt sich die Frage nach einer relativistischen Ästhetik, die im folgenden 17. Jh. zunehmend an Bedeutung gewann: Kann man zu Schönheit unterschiedlicher Meinung sein? Falls ja, könnte es sein, dass die Antike somit gar keine absolute, sondern ebenfalls nur eine zeitbedingte Norm geschaffen hat, die von der Gegenwart modifiziert, wenn nicht gar übertroffen werden könnte? Falls es also kein absolutes Richtig oder Falsch in Gestaltungsfragen gibt, wie könnte man sonst ästhetische Bewertungskriterien formulieren? Die konservativer gesinnten Vertreter der Gegenposition zu diesem neuen sog. Relativismus bezeichnet man mit einem missverständlichen Ausdruck als ‚Klassizisten‘, womit in diesem Zusammenhang nicht die den Barock ablösende Epoche, sondern eine bestimmte Haltung innerhalb des Vitruvianismus gekennzeichnet werden soll: nämlich die Vorstellung, dass Schönheit als Synonym für Einfachheit, Natürlichkeit und antikes Ideal, kurzgesagt das ‚Klassische‘ (Zeitlos-Vorbildlich-Ewiggültige) statisch und unveränderlich, und daher alle Neuerungs- und Originalitätsversuche, die sog. Freizügigkeiten und Missbräuche, von Übel seien. Die Anhänger beider Positionen argumentierten gerne mit Verweis auf Archetypen, d. h. allgemein anerkannte Modelle guten Bauens, deren Vorbildhaftigkeit unbezweifelbar war und mit denen man die eigene Position jeweils zu untermauern hoffte. Als Beispiel sei das bereits mehrfach erwähnte Pantheon (□ vgl. 17) genannt. Obwohl es unter den römischen Tempeln einen originellen Sonderfall darstellte, diente es doch als Referenzobjekt für alle Fragen von Maßverhältnissen und Proportionen, der Säulenordnung, der vermeintlichen Bevorzugung des Zentralbaus in der Antike oder der Bedeutung von absoluter Symmetrie für die Harmonie eines Bauwerks. Sein mit der Höhe identischer Kuppeldurchmesser von 43 m war der Maßstab, den es, falls überhaupt möglich, zu überbieten galt. Ein anderes, immer wieder rezipiertes Vorbild ist die nur noch mit einer Längswand erhaltene spätantike Maxentius-(Konstantins-)Basilika auf dem Forum Romanum, die man irrtümlich für das aus Schriftquellen bekannte Templum Pacis, den altrömischen Friedenstempel hielt und daher als ideales Vorbild für christliche Kirchen nahm |▶ 3|. Hieraus erklärt sich die zeitgenössische Deutung des Petersdom-Projektes von Bramante |▶ 21|, ,das Pantheon auf das Templum Pacis zu setzen‘, d. h.: einen mit mächtigen, kassettierten Tonnengewölben versehenen Wandpfeilerbau durch eine gewaltige Rundkuppel zu bekrönen.
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70 □ 23 Antonio Averlino gen. Filarete: Bau der ‚Urhütte‘, aus dem sog. Codex Magliabechianus (Architekturtraktat), Florenz, Biblioteca Nazionale, um 1464
Die Archetypen mussten keine realen Gebäude sein, sie konnten auch gänzlich der Imagination der jeweiligen Autoren entspringen. Solange die Textquelle, in der diese verschwundenen Meisterwerke beschrieben waren und auf deren meist vieldeutige Angaben man Bezug nahm, die entsprechende unangefochtene Autorität besaß, übertrug sich deren Aura der Vollkommenheit auch auf die fiktive Rekonstruktion, die natürlich die jeweiligen zeitbedingten Gestaltungsideale der Verfasser widerspiegelte und damit beglaubigte. Hierfür seien drei besonders oft bemühte Beispiele benannt: die sog. Urhütte (□ 23), also das erste Haus, das sich die Urmenschen, in christlicher Umdeutung Adam und Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies, erbauten (Rykwert 1981); der Salomonische Tempel des Alten Testaments (□ 24), für dessen Bau Gott selbst angeblich die Pläne geliefert hatte (Naredi-Rainer 1994); schließlich die Basilika (Markthalle) des römischen Provinzstädtchens Fanum (□ 25), das einzige Gebäude, das Vitruv nachweislich errichtete und in seinem Traktat natürlich ausführlich beschreibt (Vitruv/Fensterbusch 1976, V. 1.6, S. 209). Von allen drei Gebäuden fehlte selbstverständlich jede materielle Spur, was ihre Rekonstruktion nur umso reizvoller und dringlicher erscheinen ließ. Die Abbildung und Beschreibung des jeweiligen Idealbaus diente gleichsam als Vergrößerungsspiegel und überzeitliches Gütesiegel der auf die Gegenwart bezogenen ästhetischen Maximen. Das zeigt sich besonders deutlich an der Basilika des Vitruv: Die durchaus stark differierenden Rekonstruktionsvorschläge folgen nicht nur dem aktuellen Stand der archäologischen Kenntnisse, sondern vor allem dem dringenden Wunsch des jeweiligen Zeichners, das eigene Architekturverständnis in völliger Übereinstimmung mit Vitruv als höchster Autorität der Antike zu zeigen. Daher kann ein Kenner jede dieser Rekonstruktionen problemlos datieren, lokalisieren und ggf. auch einem Entwerfer zuweisen, gibt sie doch mit Sicherheit dessen zeitbedingte gestalterische Vorlieben wieder. Der Salomonische Tempel wiederum war für den Sakralbau von höchster Bedeutung, stellte er doch ein antikes Exemplum dar, das nicht erst vom Makel des Heidentums gereinigt werden musste. Die in der Einleitung erwähnte Wiener Karlskirche ( □ vgl. 4) rekurrierte mit ihren Doppelsäulen ebenso auf dieses Vorbild wie der Bernini-Baldachin des Petersdoms |▶ 25|. Hier gelang es einem einzigen Verfasser, dem spanischen Jesuiten Jerónimo de Villalpando, im Jahr 1604 eine autoritative Rekonstruktion für dieses Bauwerk vorzulegen, die sogar von Protestanten als gültig akzeptiert wurde: Er deutete die Beschreibungen des biblischen Propheten Ezechiel (Hes. 40–43) als eine auf riesigen Substruktionen ruhende, den gesamten Jerusalemer Tempelberg bedeckende vielhöfige Palastanlage, in deren Mitte sich das Allerheiligste erhob und die unverkennbare Ähnlichkeit mit dem gerade fertiggestellten Klosterpalast seines Landesherrn, dem Escorial |▶ 9| aufweist. Den besten Eindruck dieses Idealbildes aller danach errichteten Klosteranlagen
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(Lechner 1977) kann man sich im Museum für Hamburgische Geschichte verschaffen, das ein im 17. Jh. erbautes, 3,45 m im Quadrat messendes hölzernes Modell besitzt, das der Ratsherr Gerhard Schott auf eigene Kosten anfertigen ließ und das man einst in einem Nebenraum des Opernhauses am Gänsemarkt besichtigen konnte (Jaacks 1982). Die bereits von Vitruv (II. 1) beschriebene erste menschliche Behausung, die sog. Urhütte, gewann schließlich im 18. Jh. eine mehr als historische, nämlich normative Bedeutung: Unter dem Vorzeichen der Rückbesinnung auf die Natur als höchste Autorität des Wahren, Guten und Vernünftigen (und damit auch des Schönen) wurde sie als ‚unverdorbenes‘ Ideal für die Gegenwart reaktiviert. Marc-Antoine Laugier (Laugier/Böck 1753/1989, S. 33–35, 142–166), ein höchst einflussreicher architektonischer Laie, begründete mit dem Verweis auf dieses, aus wenigen hölzernen Rundstützen zusammengefügte Vorbild die Überlegenheit der frei stehenden Säule mit geradem Gebälk über jene Mischsysteme aus Wand, Bogen und vorgeblendeter, nichttragender Säulenordnung, welche die italienisch beeinflusste Sakralarchitektur seit Alberti bestimmten. Er lobte dagegen die nordalpine Gotik, die mit ihrem leichten, transparenten Stützensystem diesem ursprünglichen Ideal letztlich viel näher gekommen sei, und empfahl, lediglich die angeblich regellos-barbarische Gestaltung der Details durch Bezugnahme auf die besten, griechischen Formen der Antike zu ersetzen. Das älteste und primitivste Bauwerk (‚primitiv‘ bedeutet im Wortsinn ‚ursprünglich‘!) sollte somit als Leitbild für den architektonischen Fortschritt der höchstentwickelten Nation Europas dienen |▶ 49|. Das Denken Jean-Jacques Rousseaus,
□ 24 J. B. Fischer von Erlach: Der Salomonische Tempel in Jerusalem nach der Rekonstruktion Villalpandos, aus Fischer 1721
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72 □ 25 C. Perrault: Rekonstruktion der Basilika des Vitruv in Fanum, 1684
der alles Gute im verlorenen, unverfälschten Naturzustand sah und die kulturelle Höherentwicklung seiner Zeit als Unglück und Sittenverfall verstand, fand hier seinen Eingang in die Architekturtheorie. Die Archetypen erlauben also eine doppelte Lesbarkeit: einerseits als unerreichbares, stets anzustrebendes Ideal wie der von Gott entworfene Salomonische Tempel, andererseits als Basis und Richtschnur, entlang derer es aufzubauen und die es schließlich zu übertreffen gilt. Im 17. Jh. wurden, wie zuvor (S. 49) beschrieben, Diskussionen über Architektur nicht mehr ausschließlich auf Latein und Italienisch, sondern bevorzugt auf Französisch geführt, daher ist die nun vorzustellende Debatte um die Frage, ob es einen Fortschritt in ästhetischen Dingen geben könne, unter einem französischen Namen bekannt: la querelle des anciens et des modernes – der Streit zwischen Antike- und Moderneanhängern (Freigang 2004, Mayer 2012). Seit 1665, dem Machtantritt des Sonnenkönigs, verwandelte sich Paris nicht nur zum politischen und künstlerischen, sondern auch zum intellektuellen Zentrum Europas. An der dort 1671 begründeten Architekturakademie (Schöller 1993), die zugleich als Ausbildungsstätte und Diskussionsforum für jene Auseinandersetzung diente, die sich bereits im Italien des 16. Jh. angekündigt hatte, wurde nun debattiert: Was ist architektonische bzw. künstlerische Schönheit? Die bisherige Mehrheitsposition war davon ausgegangen, dass man dies ebenso wissenschaftlich objektivieren könne wie die Frage nach dem Siedepunkt des Wassers oder dem höchsten Berg Europas und dass es lediglich darauf ankomme, die richtige Antwort auf diese Frage durch die Benennung der idealen Proportionen zu geben: Sie vertrat (in Übereinstimmung mit Palladio) die Theorie einer ‚objektiv‘ gegebenen Schönheit, die zugleich ‚richtig und naturgemäß‘ und damit unveränderlich sei. Zwei Brüder, Charles und Claude Perrault, der erste Schriftsteller, der zweite Mediziner und beide einflussreiche Berater im Sachverständigengremium des mächtigen Staatsministers Colbert, argumentierten gegen diese starre Position (Brönner 1971, Herrmann 1973). Schönheit, so behauptete Claude, der sich selbst als Vitruvkommentator einen Namen gemacht hatte (Perrault 1684/1979) und um die Unvereinbarkeit absoluter Regeln mit der Mehrzahl älterer und neuerer Bauten wusste, sei vor allem Verabredungs- und Gewohnheitssache: Man finde eben jene Proportionen und Baugewohnheiten schön, die man gut kenne und die die Zustimmung aller fänden. Er definierte die Ästhetik somit
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in Analogie zum Dekorum als ein soziales Phänomen, das sich ergo ebenso entwickeln könne, wie es die Wissenschaft und Gesellschaft, die Sitten und der Geschmack in den letzten Jahrhunderten auch getan hätten. Dieses relative Schönheitsmodell nannte er arbitraire, also in etwa ‚dem freien Willen oder eigenen Urteil unterworfen‘. Folgte man dieser Überlegung, so war es durchaus denkbar, Formen und Proportionen, die Vitruv noch nicht gekannt hatte, für schöner als die antiken zu halten bzw. noch schönere zu erfinden. Das genau beanspruchte Perrault, denn er hatte für den Bau der Ostfassade des Pariser Königsschlosses, des Louvre |▶ 35|, eine Kolonnade entwickelt, welche zwei Säulen eng zusammenrückte, um dann wieder einen besonders weiten Abstand zum nächsten Säulenpaar folgen zu lassen. Diese luftige Transparenz, so argumentierte er, sei typisch französisch, da sie seit den gotischen Kathedralen des Landes hier besonders geschätzt werde (Kruft 1991, S. 152). Man müsse (und könne) die vitruvianische Architektur aktualisieren, indem man die Proportionen der einen (französischen, lies: modernen) mit den Ordnungselementen der anderen (antiken) visuellen Kultur vereinige. Charles übertrug die Argumentation seines Bruders auf alle anderen Kunstgattungen (Perrault 1688/1964) und beanspruchte, durchaus in Übereinstimmung mit der Staatsdoktrin seines Königs, dass das Siècle de Louis le Grand, wie er das eigene Zeitalter in einem 1687 formulierten Lobgedicht auf den König nannte, in der Lage sei, die Antike in jeder, also auch künstlerischer Hinsicht zu übertreffen. Hierin verbarg sich noch keine definitive Abwendung vom Vitruvianismus, wohl aber eine Relativierung der angeblichen ewigen Allgemeingültigkeit seiner Gesetze. Die theoretische Position der Perraults und ihrer Nachfolger war durchaus klassisch gesinnt, aber sah sich eben nicht dogmatisch an das Bisherige gebunden, sondern gab sich selbst den Auftrag, zu verbessern, zu verfeinern und zu korrigieren, kurz: innovativ zu sein, ohne die Regeln zu brechen oder zu entkräften, sondern sie durch bessere Lösungen vorsichtig zu modifizieren. Wer sollte aber darüber entscheiden, was schön oder richtig sei, wenn es sich dabei um ein kollektives Urteil handelte, wie Perrault annahm? Diese neue qualitative Instanz erhielt einen französischen Namen: le (bon) goût, der (gute) Geschmack, der bekanntlich verschieden ist und über den sich trefflich streiten lässt. Die Pariser Architekturakademie definierte 1672: Geschmackvoll ist, was intelligenten Menschen gefällt (Kruft 1991, S. 146). Damit war die Stunde der rhetorisch gewandten gesellschaftlichen Eliten gekommen, die nicht unbedingt vom Fach sein oder vorbildliche Gebäude exakt aufmessen, sondern vor allem geschickt argumentieren mussten. Die Diskussionen kreisten zunehmend um spezifisch französische Begriffe wie bienséance und commodité. Während der erste Terminus als Äquivalent zu decorum mit einer Neigung zur palladianischen convenienza gelten kann, also stark den sozialen Konsenscharakter der ästhetischen Angemessenheit betont, greift der zweite, Bequemlichkeit, die lang vernachlässigte vitruvianische utilitas auf, die funktionale und soziale Aspekte verbindet und somit erstmals den privaten Wohnbau in den Vordergrund der Betrachtung rückt. Die innere Organisation städtischer Gebäude, Ökonomie der Grundrisse bei höchstem Komfort unter Wahrung der äußerlichen Symmetrie mit einem genau abgestimmten Maß an repräsentativer Distinktion: Das waren eben jene Stärken, welche die Planer der Pariser hôtels particuliers inzwischen zu höchster Perfektion geführt hatten und mit denen sie sich den Italienern (zurecht) überlegen dünkten |▶ 37, 38|. Die hierauf bezogene vitruvianische Kategorie, distributio, wird
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nun mit Grundrissorganisation im Sinne größtmöglicher Wohnlichkeit und Funktionalität gleichgesetzt. Die hierfür relevanten nutzerbezogenen Kategorien werden plaisir und usage benannt: Während das ‚Vergnügen‘ die Individualisierung der bisher kollektiven Norm ‚Geschmack‘ meint, oszilliert usage zwischen ‚Gebrauchsfähigkeit‘ im Sinne von Funktionalität und ‚Gewohnheit‘ im Sinne des Konsensus der ‚Guten Gesellschaft‘. Insgesamt zielen alle neuen Begriffe auf die Subjektivierung architektonischer Qualitäten, die nun nicht mehr in Zahlen messbar, sondern sinnlich fühlbar erscheinen: Es sind Kategorien der Wahrnehmung, die dem Urteil des Betrachters, nicht des Entwerfers unterliegen. Der Maßstab guter Architektur ist nunmehr, wie sie wirkt und welchen Eindruck sie erweckt: Der englische Sensualismus, also die Erkenntnis, dass alle Kategorien des menschlichen Geistes letztlich auf Sinneswahrnehmungen beruhen, findet hier ihre Entsprechung in der Architekturtheorie. Es zählen nicht mehr absolute Proportionen und Regeln, sondern höchst individuelle Empfindungen. Der erfolgreiche Pariser Architekt und Akademiker Germain Boffrand verwendet 1745 in seinem „Livre d’architecture“ hierfür einen neuen Leitbegriff: caractère. Gute Architektur soll ihre Funktion und ihren Erbauer charakterisieren. Während decor eine eher passive Deckungsgleichheit von Form, Funktion und sozialer Stellung beschreibt, betont caractère den aktiven Mediencharakter eines Bauwerks, das bestimmte Inhalte, Werte und Normen transportiert, kommuniziert und hierdurch auf die ‚Seele‘ der Betrachter (nicht primär ihren Verstand) einwirkt. Eine Generation später wird man dieses Prinzip als architecture parlante bezeichnen: Ein Gefängnis muss von außen so abschreckend aussehen, dass jeder fühlende Mensch vermeidet, es jemals von innen kennenzulernen: Dadurch wird er tugendhaft. Eine Kirche ist so zu gestalten, dass sie die Andacht durch gezielt gesetzte Lichtstimmungen quasi automatisch herbeiführt: architektonisch induzierte Frömmigkeit. Ein Denkmal, das einen großen Mann, ein überragendes Genie ehren will, muss die erwünschte Bewunderung für dessen Werk durch seine schieren Baumaße auslösen. Die ästhetische Kategorie hierfür nennt man mit Jacques-François Blondel, einem der führenden Architekturlehrer der Jahrhundertmitte, ‚Erhabenheit‘ (sublimité). Es verwundert nicht, dass Étienne-Louis Boullée, der Schöpfer des letzten ‚Schlüsselwerks‘ in diesem Buch, des sog. Newton-Kenotaphs |▶ 50|, ein Schüler Boffrands und Blondels war. Freilich ist nicht jeder wirksame Effekt erlaubt, vielmehr existieren weiterhin zwei zentrale Instanzen, die zu beachten sind: (unverfälschte) Natur und (vornehme) Einfachheit, la noble simplicité. Die Form der Säule wird nun nicht mehr vom Menschen, sondern unmittelbar vom Baumstamm abgeleitet. Die konstruktive Einfachheit und ‚Wahrheit‘ der Urhütte wird zum Ideal des Bauens erklärt – das für die Moderne zentrale, moralisierende Ideal der ‚Ehrlichkeit‘ klingt hier an, wenn nichttragende Pilaster als ‚Lügen‘ verworfen werden, die Architektur ,von Überflüssigem befreit und auf ein Minimum reduziert‘ werden soll (Laugier/Böck 1753/1989, S. 37, 66). Blondel bezeichnet diese neue, durchaus individuelle (an den ‚Guten Geschmack‘ des Entwerfer gebundene) Qualität von Architektur als vrai style etwa in der Wortbedeutung von ,stilvoll‘, also harmonisch, ästhetisch geschlossen und stimmig. Zugleich beginnt eine spezifische Diskussion der architecture moderne, die nun als von der Antike unterschieden und dieser gelegentlich überlegen betrachtet wird: Obwohl sich dieser ‚Moderne‘-Begriff natürlich noch deutlich von dem heute geläufigen unterscheidet, spiegelt sich hierin das neue
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Bewusstsein einer zeitbedingten, also auch dem Wandel und Fortschritt unmittelbar unterworfenen Ästhetik. Die Saat der Perraults war aufgegangen, die querelle schien entschieden. Nun hätte man erwarten können, dass mit dem obsolet gewordenen Vitruvianismus zugleich die Antike als Maßstab und Ideal ausgedient habe – doch es kam anders. Griechenland und Rom wurden ein weiteres Mal ‚neu entdeckt‘ – sozusagen mit frischem, unbefangenen Blick, nachdem man die staubige Brille überkommener Regelsysteme abgesetzt hatte; und zum ersten Mal erkannte man die Unterschiede, ja Gegensätze innerhalb der meist als bruchlose Einheit imaginierten antiken Ästhetik. Bisher hatte man die Kunst der Hellenen nahezu ausschließlich aus ihrer römischen Spiegelung rekonstruiert, da gleichzeitig mit dem erwachenden Interesse deren Herkunftsland unzugänglich geworden war, als nach der Einnahme Konstantinopels 1453 ganz Griechenland unter türkische Oberhoheit geriet: Im Parthenontempel auf der Athener Akropolis (□ 26), der schon Jahrhunderte als christliche Kirche gedient hatte, wurde nun eine Moschee eingerichtet, später sogar ein Pulverdepot, das durch den gezielten Schuss eines deutschen Kanoniers in venezianischen Diensten 1687 zur Explosion gebracht wurde und die gesamte Südseite des Tempels in Schutt und Asche legte (Schneider/Höcker 2001, S. 19–25). Das waren ungünstige Rahmenbedingungen für sorgfältige Bauaufmaße. Die Situation besserte sich erst, als das Osmanische Reich im friedlicheren 18. Jh. zu einem regulären Mitglied der europäischen Völkerfamilie geworden war und den Forschern fremder Länder ungehinderten Zutritt zu seinen Ruinenstätten gewährte. Erneut verband sich die gemeinschaftsstiftende Bemühung um möglichst vollkommene Kenntnis der Antike mit der Konkurrenz der Nationen. Nun hieß der neue Mitspieler England, der Frankreich den Rang als Zentrum des architektonischen Fortschritts abzulaufen gedachte. Etwa gleichzeitig erschienen die Publikationen des Franzosen Le Roy 1758 und der beiden Briten Stuart und Revett 1762, die beide in Athen Aufmaße der bedeutendsten
□ 26 Athen, Parthenon-Tempel auf der Akropolis, Aufriss der Westfassade nach Stuart/Revett 1762
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□ 27 G. B. Piranesi: Phantasieansicht eines antiken Zirkus, aus: „Le Antichità romane“, Bd. III, nach 1756
Bauwerke erstellt hatten. Ein Deutscher in Rom, Johann Joachim Winckelmann, lieferte 1755 die theoretische Grundlegung, in welcher er die absolute Überlegenheit der Kunst Griechenlands gegenüber derjenigen Roms und der Gegenwart in die zum Leitsatz geeigneten, berühmt gewordenen Worte fasste: „Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt [Einfachheit] und stille Größe“ (Sichtermann 1996, S. 82). Schon die Römer hätten nichts anderes getan, als die Griechen, freilich mit deutlichen Qualitätsverlusten, zu imitieren. Diese Entthronung der Ewigen Stadt als Quelle und Maßstab künstlerischer Qualität konnte von Seiten der Italiener natürlich nicht kommentarlos hingenommen werden. Sie fand ihren Verteidiger in Giovanni Battista Piranesi, einem unbedeutenden Architekten und höchst einflussreichen Grafiker, der vor allem durch seine großformatigen, suggestiven Stichwerke über das antike und moderne Rom hervorgetreten war. In seiner 1761 erschienenen Streitschrift „De Romanorum Magnificentia et Architectura“ betonte er, oft mit falschen historischen Herleitungen, aber sicherem Gespür für deren autonome Qualitäten, die Überlegenheit römischer Kunst vor allem der Kaiserzeit. Er bediente sich bei seiner Argumentation bewusst eines anderen Bildmediums, nämlich der oft maßlos monumentalisierenden, durch Licht und Schatten wirkungsvoll dramatisierten perspektivischen Ansicht, während die Propagandisten Griechenlands die sachlich-nüchternen, objektivierenden Darstellungsformen von Grund- und Aufriss bevorzugten. Piranesi leitete die römische Kunst von autonomen etruskischen Wurzeln her, die älter als die griechischen Übernahmen seien. Bei dieser Suche nach dem Archaischen begann man sich auch für eine Reihe seit langem bekannter, bisher aber weitgehend ignorierter Ruinen in Süditalien zu interessieren, die erst später als Zeugnisse der dort vor den Römern blühenden griechischen Kolonien erkannt wurden: Die dorischen Tempel von Paestum und Selinunt mit ihren ganz anders gestalteten, überschwer und ungelenk wirkenden Bauelementen zerstörten endgültig den Glauben an die ‚einzig richtigen Proportionen‘, denn sie waren zwar alles andere als ‚klassisch‘, passten aber ausgezeichnet zum neuen
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Ideal des ‚Erhabenen‘, d. h. einer durch schiere Monumentalität beeindruckenden, mit der Natur konkurrierenden Ästhetik der Überwältigung. In Piranesis Werk, z. B. seiner Publikation über das römische Marsfeld von 1762, triumphiert vielleicht zum letzten Mal die für das Vitruvianische Zeitalter typische Vermischung von ‚exakter‘ Archäologie und zeitgebundener, schöpferischer Phantasie. Seine äußerst freie Rekonstruktion eines römischen Zirkus (□ 27) ist ebenso suggestiv wie phantastisch, freilich als Norm für die Gegenwart völlig ungeeignet. Piranesis Blätter sind autonome Kunstwerke, Bilder, nicht Bauanleitungen. Er hätte mit seinem Zeitgenossen Boullée ausrufen können: Ed’io anche sono pittore – auch ich bin ein Maler! Das zeigt besonders deutlich seine wohl berühmteste Stichserie, die 1750 erstmals edierten „Carceri d’invenzione“ (Ficacci 2000, S. 128 –153), welche eine Tür zur Moderne, den (Alb-)Traumwelten des Unterbewussten und des Surrealismus aufzustoßen scheinen, und doch nichts anderes illustrieren als eine zeittypische Bühnenbildgattung, nämlich einen unterirdischen Kerker, in dem der Held der Barockoper einige Zeit schmachtet, bevor er das happy end seiner Apotheose erfährt (□ 28). Einen weiteren wichtigen Impuls empfing die Neuentdeckung einer authentischen Antike durch die Wiederauffindung der Vesuvstädte Pompeji und Herculaneum, die durch ihre an einem einzigen Tag des Jahres 79 n. Chr. erlittene Verschüttung mit Asche und Lava bei der ab 1748 systematisch durchgeführten Ausgrabung ein derart frisches und vollständiges Bild antiker Wohnkultur konserviert hatten, dass nun mit einem Mal völlig neue, eigenständige, bunte und erstaunlich vielfältige Dekorationssysteme zur Verfügung standen, über die bei Vitruv (VII. 5) nur wenige (mehrheitlich abfällige) Worte zu lesen waren. Sie entsprachen weitgehend jenem illusionistischen Duktus, den man unter dem missverständlichen Namen ‚Grotesken‘ bereits aus den unterirdisch erhaltenen Räumen römischer Kaiserpaläste, den sog. Grotten kannte. Ein weiteres Mal erwies sich Großbritannien als wichtiger Pionier: Der Schotte Robert Adam, gemeinsam mit seinem Bruder James ein erfolgreicher Architekt luxuriöser Häuser für die britische Oberschicht, hatte selbst lange in Italien gelebt und 1764 eine Publikation über den bis dahin ebenfalls wenig beachteten spätantiken Diokletianspalast in Split vorgelegt. Die Brüder verbreiteten ab 1770 ihren Stil (Rykwert 1987, S. 132 f.) als ‚authentisch etruskische Dekoration‘ in Großbritannien (□ 29) und verwiesen als wichtige Quelle auf die Gestaltung in Süditalien gefundener, 1768 von dem Engländer Sir William Hamilton publizierter antiker Vasen (deren □ 28 G. B. Piranesi: Phantastischer Kerker, fol. VII, aus: „Carceri d’invenzione“, 2. Aufl. 1761
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78 □ 29 Osterley Park bei London, sog. Etruskisches Zimmer, R. Adam, 1761
griechische Herkunft erst später bekannt wurde, Jen- kins/Sloan 1996). Architektur als Nachahmung von Gebrauchskeramik: Damit war die einst von Vitruv postulierte Hierarchie der Künste sicher nicht mehr zu vereinbaren! Aus gutem Grund erhielt die neue, postvitruvianische Antikenbegeisterung auch einen englischen Namen: the Greek Revival – frei übersetzt: die griechische Renaissance. Es blieb nicht die einzige stilistische ‚Wiedergeburt‘ jener Jahre, zu denen der seit 1670 vorherrschende ästhetische Relativismus die Grundlagen geschaffen hatte. Nahezu zeitgleich begann, wiederum von England ausgehend, die Bewegung des Gothic Revival, also der Wiederentdeckung der eigenen, nationalen Vorgeschichte (Lewis 2002). Sie war eng verbunden mit dem wichtigen Impuls, den die Briten gleichzeitig für die Entwicklung des Gartens setzten, indem sie eine Alternative zu den architekturbezogenen, symmetrisierten Systemen der französischen Barocktradition entwickelten |▶ 45, 46|. Auch hierbei wurden dieselben Autoritäten angerufen: die Natur, von Gott vernünftig, schön und wohlgeordnet angelegt, die Empfindung, welche ihr Anblick im Betrachter auslöst, und der Geschmack (englisch taste) als normative Instanz ihrer Nachschöpfung (Wimmer 1989, S. 142 – 203). Stärker als in der französischen Diskussion stiegen hierbei das Gefühl, die Emotion des Betrachters, nicht der soziale Konsens oder abstrakte Geometrien zum Gradmesser künstlerischer Qualität auf. Leitgattung dieser neuen Ästhetik war die künstliche Park-Ruine (Hartmann 1981, Zimmermann 1989), also ein Bauwerk, das im scheinbar dem Zahn der Zeit geschuldeten Zustand des fiktiven Verfalls sorgfältig errichtet wurde (□ 30). Hierbei orientierte man sich an den Bildphantasien der aktuellen Landschaftmalerei und übernahm sogar deren Terminologie, indem man die meist funktionslosen, aber stimmungsfördernden Bauten als ‚Staffagen‘ bezeichnete – eine Aufgabe, die in den klassischen Hierarchien des Dekorums kaum zu verorten war. Zum ersten Mal wurde die Asymmetrie einer ‚malerischen‘ Perspektive wieder als anzustrebende Qualität, nicht als unbedingt zu vermeidender Makel wahrgenommen. In diesem eher informellen Kontext erschien es leichter möglich, im Sinne der bei Gärten durchaus erwünschten variety of taste neben der Antike auch andere historische und geographische Bezugssysteme als ‚Bildmotive‘ zuzulassen. Neben der (natürlich ebenfalls fiktiven) verfallenen Burg der Vorfahren fanden nun zunehmend auch exotische Bauten anderer Länder ihren Platz und damit eine relative Wertschätzung. Es waren Zeugnisse von Hochkulturen, die man als (annähernd) gleichrangig betrachtete; hier vor allem das vielbewunderte uralte Kaiserreich China, dessen kostbares Porzellan man in Europa erst
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im 18. Jh. zu imitieren erlernte. Ein Vorbote dieser ersten Globalisierung architektonischen Wissens war Johann Bernhard Fischer von Erlach, der in seinem 1721 erschienenen „Entwurff einer historischen Architectur“ genannten vierbändigen Werk (□ vgl. 24) erstmals Indien, Persien und Ägypten, Mekka und Istanbul, Peking und Stonehenge gleichrangig neben Rom, Jerusalem und Athen stellte, wobei er noch dezidiert die scheinbaren Gemeinsamkeiten, z. B. die dominante Spiegelsymmetrie in den Bauten aller Zeiten und Völker betonte. Dennoch konnte man aus diesem Werk ableiten, dass Athen und Rom nicht die einzigen Geburtsstätten anspruchsvoller Architektur gewesen waren. Als wichtiger Vermittler der ‚authentisch chinesischen‘ Baukunst erwies sich der Engländer William Chambers, der auf einer Handelsmission das Reich der Mitte kennengelernt und im Auftrag der Prinzessin von Wales in Kew Gardens bei London die erste Garten-Pagode errichtete (□ 31). Seine Publikation „Designs of Chinese Buildings“ von 1757 widmete sich den fremden ‚Ordnungen‘ erstmals mit jener Akkuratesse und Ernsthaftigkeit, die man bisher nur der Antike zugewandt hatte (Weiss 1996). Freilich stiegen diese alternativen Architektursysteme bis zum Ende des Jahrhunderts nicht in den Rang echter Konkurrenten zum heute als ‚Klassizismus‘ bezeichneten Neu-Antiken Zeitstil auf: Es blieb zunächst wenigen Exzentrikern vorbehalten, die Tür zur universellen Verwendbarkeit und Gleichberechtigung aller Stile aufzustoßen, die erst im 19. Jh. allgemein durchgesetzt werden konnte. Insbesondere der Sakralbau blieb zunächst auf das antike Tempelideal fixiert, wie das Pariser Panthéon |▶ 49|, der letzte ausgeführte Schlüsselbau dieses Bandes, eindrucksvoll belegt. Das Ende des Vitruvianismus war somit nicht gleichbedeutend mit der Ablösung der Antike als normative Instanz: Allerdings hatte sich die Architektur ihres altgedienten und
□ 30 Wien, Schlosspark Schönbrunn, Römische Ruine, J. F. Hetzendorf von Hohenberg, 1778
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80 □ 31 Kew Gardens bei London, Chinesische Pagode, W. Chambers, 1762
in seiner Autorität erschütterten Zensors und Oberlehrers entledigt, sie schöpfte nun aus den Quellen, und zwar unter Umgehung jenes Filters, als welcher die „Zehn Bücher“ drei Jahrhunderte lang gedient hatten. Die Säulenordnung war vom Grundgesetz aller anspruchsvollen Architektur zu einer Frage unter anderen geworden, und diese galt als weitgehend beantwortet. Menschenmaß und ideale Proportionssysteme waren durch den direkten Verweis auf die Natur als Urbild aller Vernunft und Schönheit obsolet geworden. Etienne-Louis Boullée, der Erfinder des jeden Vitruvianismus ad acta legenden Newton-Kenotaphs |▶ 50|, fand hierfür folgende Worte: ,In der Architektur stören fehlerhafte Proportionen gewöhnlich nur das Auge des Kenners. Daran sieht man, dass die Proportion […] nicht das Gesetz ist, auf dem die grundlegenden Prinzipien dieser Kunst beruhen. […] Oh Natur, wie wahr ist es doch, dich das Buch der Bücher zu nennen, das allumfassende Wissen!‘ (Boullée/Vogt 1793/1987, S. 60, 67.)
Erfindung Individualität und Innovation
E
rfindung aber ist die Lösung dunkler Probleme und die mit beweglicher Geisteskraft gefundene Entdeckung von etwas Neuem. (Vitruv/Fensterbusch 1976, I.2, S. 39.)
Die von Vitruv als Charakteristikum des Architektenberufs hervorgehobene inventio ist ein Schlüsselbegriff zum Verständnis der frühneuzeitlichen Architektur. Er entstammt der in der Antike hoch entwickelten Rhetoriktheorie (Arend 2012, S. 11–39) und bezeichnet einen zentralen kreativen Aspekt der Redekunst, die in der Renaissance als Analogie und Vorbild für die neu zu schaffende Theorie der bildenden Künste verstanden wurde. Neben der Nachahmung eines bedeutenden Vorbilds – imitatio – und dessen Verbesserung – aemulatio – tritt somit die Neuerfindung – inventio – als höchste Form der Kreativität. Wer die Kapitel zur ‚Ordnung‘ des Vitruvianismus (S. 52 – 80) und zu den auf Kontinuität und Konvention zielenden Bedürfnissen der gesellschaftlichen ‚Repräsentation‘ gelesen hat (S. 41 – 52), könnte fragen, warum sich die Architektur im betrachteten Zeitraum überhaupt verändern musste. Was trieb die Künstler dazu, die mühsam aus der Antike zurückgewonnenen Formen immer wieder zu modifizieren, sie neu zu kombinieren und die gerade erst postulierten Regeln sofort wieder in Frage zu stellen? Welche Motivation steht
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hinter dem beständigen, die eigentliche Kontinuität darstellenden ‚Wandel‘ (S. 23 – 36), den man mit Stilbegriffen zu kategorisieren versucht? Einer der geläufigsten und sicher auch plausibelsten Deutungsversuche liegt in den Gesetzen der Konkurrenz und der hierdurch bedingten Absetzung vom Gewohnten, dem Beziehen einer individuellen, neuartigen, hervorgehobenen gestalterischen Position. Motor des ästhetischen Wandels wäre somit keine überindividuelle Macht („Kunstwollen“ nach Riegl) und kein biologistisches Naturgesetz (Vasaris Zyklen-Modell von Blüte, Reife und Verfall), sondern ein Abstoßungsphänomen: der Überdruss des bereits gewohnten, die Suche nach dem Originellen, Einzigartigen, nie Gesehenen, und damit nach der ‚Marktlücke‘, dem künstlerischen ‚Alleinstellungsmerkmal‘, wie es die moderne Marketingsprache formuliert. Dem stehen scheinbar die beharrenden, normativen oder retrospektiven Tendenzen der imitatio entgegen, die freilich auf ihre Art auch wieder zur Dynamik beitragen, indem sie die Architekturpraxis in eine andere Richtung (zurück)lenken wollen: Als Lord Burlington mit seiner Villa in Chiswick |▶ 45| die Wiederbelebung des strengen Palladianismus einforderte, dessen Stilmaximen um 1720 bereits 150 Jahre alt waren, löste er damit einen Innovationsschub aus, den man heute als Klassizismus bezeichnet und der zusammen mit der ebenfalls retrospektiven Neugotik |▶ 48| zur führenden Gestaltungsweise des folgenden Jahrhunderts wurde. Ein weiterer wichtiger Motor der Entwicklung war der Wunsch nach aemulatio, nach Vervollkommnung, dem vorsichtigen Weiterentwickeln und Transformieren des Vorgefunden und Vorbildlichen, ohne mit ihm zu brechen. Das beste Beispiel hierfür ist vermutlich die römische Peterskirche, die ein Jahrhundert lang jenes zwischen Zentral- und Langhausbau oszillierende Raumkonzept, das Donato Bramante 1506 |▶ 21| grundgelegt hatte, weiter- und umschrieb in dem Wunsch, eine noch bessere, wenn möglich die vollkommene Lösung der gestellten Aufgabe zu finden. Am Markusplatz in Venedig |▶ 16| hatte kein Entwurf Chancen auf Realisierung, der programmatisch den Bruch mit der lokalen Bautradition gesucht hätte, wie der berühmte Andrea Palladio erfahren musste: Dennoch unterscheidet sich jedes Gebäude des Ensembles in charakteristischen Details von seinen benachbarten unmittelbaren Vorgängerbauten, aber nur im Sinne einer Korrektur und vorsichtigen Verbesserung des nicht grundsätzlich hinterfragten Leitschemas einer spezifisch venezianischen Bautradition. Das Vitruvianische Zeitalter kennt sowohl eine schrittweise, sozusagen unmerkliche Dynamik, als auch den scharfen Bruch, der programmatisch einen völlig neuen Lösungsansatz präsentiert. Für den ersten Prozess mag der Übergang von der Renaissance zum Barock in den letzten Lebensjahren Michelangelos |▶ 19 – 22|, für den zweiten der Beginn der Renaissance im Werk Brunelleschis |▶ 1, 2| als Beispiel dienen. Neben der Suche nach Innovationen, die Allgemeingültigkeit fordern und eine eigene Norm begründen wollen, gibt es auch die sozusagen leisen, unausgesprochenen Tendenzen, eigenständige und originelle Gestaltungsweisen zu entwickeln, welche lediglich als regionalspezifische Varianten gemeint und zu verstehen sind. Lokale Traditionen, Konventionen und ästhetische Vorlieben werden adaptiert und transformiert, ohne dass dies mit dem Anspruch neuer Regelhaftigkeit verbunden wird: Ziel ist meist die Anpassung einer in den Zentren entwickelten Gestaltungsweise an die Materialien, Gewohnheiten und Bedürfnisse einer bestimmten Auftraggeberschaft, oder umgekehrt formuliert: die Moderni-
Erfindung
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□ 32 Haarlem, Vleeshal, L. de Key, 1601 – 04
sierung ortstypischer Handwerkstraditionen und Sehgewohnheiten durch ihre vorsichtige Amalgamierung mit neuartigen importierten Formen und Prinzipien. Ein gutes Beispiel hierfür ist die etwas hilflos als ‚nordischer Manierismus‘ bezeichnete Adaption vitruvianischer Formen für nordeuropäische Baugepflogenheiten und Aufgaben |▶ 8, 10, 11|. Das Vleeshal (Fleischhalle) genannte Marktgebäude der Metzgerzunft in Haarlem (□ 32), errichtet 1601–04 vom Stadtbaumeister Lieven de Key (Blom 1995), nimmt mit seinem steilen Satteldach, den reichen Ziergiebeln und der Materialkombination aus Ziegel und Sandstein unverkennbaren Bezug zur lokalen Baugewohnheit. Lange Zeit maß man solche ‚Übersetzungen ins Niederländische‘ irrtümlich an der Elle des italienischen ‚Originaltextes‘ und missdeutete daher ihre Eigenständigkeit als Verballhornung: „Wie schwächlich erscheinen diese Bogengänge neben der vornehmen Bildung jeder Loggia an einer toscanischen Villa!“, klagte noch Robert Dohme mit Blick auf die deutsche Renaissancearchitektur (Dohme 1887, S. 291). Nikolaus Pevsner erkannte dagegen genau darin eine spezifische Qualität: „Im Ganzen bleibt es die Regel, daß die Bauwerke der deutschen Renaissance um so selbständiger und überzeugender sind, je mehr es ihnen an weltmännischem Schliff mangelt.“ (Pevsner 1957, S. 527.) Während das terminologisch beschreibbare Gerüst der Säulenordnungen und Großformen bei den meisten Bauten der Epoche der vitruvianischen Konvention entlehnt ist, sind es gerade die dekorativen und ornamentalen Details, bestimmte Schmuckformen oder Materialkombinationen, welche die Originalität und Qualität einer regionalen Architektursprache ausmachen, ohne dass dies programmatisch als Distanzierung oder Innovationsschub intendiert gewesen wäre: Die Bauten des süddeutschen Rokoko mit ihrer aus dem perfekt beherrschten, aber niemals theoretisch reflektierten Handwerk hervorgehenden Stuckdekoration (|▶ 40|, □ 33) oder die kaum in Worte zu fassende Überfülle der lateinamerikanischen Estipite-Dekoration |▶ 29| sind hierfür gute Beispiele. Klassische
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Elemente werden oft neu kombiniert, formal variiert und undogmatisch positioniert, also ‚grammatikalisch falsch‘ angewendet, aber nur, soweit man die rigiden Vorgaben eines Vignola oder Palladio als eine Art Rechtschreibregel des ‚amtlichen‘ Vitruvianismus, nicht als unverbindlichen Vorschlag versteht. Die Bedeutung der sogenannten ‚wandfesten Ausstattung‘ wird in einer streng disziplinär konzentrierten Architekturgeschichte oft unterschätzt oder einfach an die jeweilige kunsthistorische Nachbardisziplin zuständigkeitshalber weitergereicht. Die Brüder Agostino und Annibale Carracci gelten als wichtige Wegbereiter des Barock – allerdings für die Malerei, nicht für die Architektur, obwohl ihr vielbewundertes Hauptwerk nichts anderes als der integrale Bestandteil einer Raumdekoration ist: die ab 1597 realisierte Freskierung der Decke der sog. Galleria im Gartenflügel des römischen Palazzo Farnese |▶ 19|. Der innovative Schritt dieser Arbeit (□ 34) liegt weniger im einzelnen Gemälde, als vielmehr in der neuen Art und Weise, wie die Bildfelder, Realitätsebenen und illusionierten Materialien, plastische Stuckdekoration und eingestellte Statuen in diesem Raumkunstwerk miteinander verbunden und aufeinander bezogen sind (Kliemann 2004, S. 452–474). Die Fresken im Palazzo del Te in Mantua, dem römischen Gesù, der Wieskirche, dem Kloster Melk oder der Würzburger Residenz |▶ 5, 22, 39, 40, 42| sind viel weniger autonome Malerei als eine spezifische Form der Wand- und Deckengestaltung, also integraler und prägender Bestandteil der Architektur. Welche Erfindungen gelten nun als maßstabsetzend und innovativ, welche als lediglich originell, aber nur von peripherem oder lokalem Interesse? Hinter dieser Frage verbirgt sich das Phänomen der sog. ‚Kanonbildung‘, also einer informellen Verabredung, welche Schritte die entscheidenden, welche Künstler und Bauten die angeblich bedeutendsten seien. Diese Bewertung ist durchaus historischen Wechseln unterworfen: Im Zeitalter Jacob Burckhardts, der entstehenden Neurenaissance, wurde die Architektur Oberitaliens, z. B. die undogmatisch schmuckreiche Kartause von Pavia bei Mailand oder die Paläste Michele Sanmichelis in Verona (Burckhardt 1855/2001, S. 169 f., 262 f.) auf Augenhöhe mit Florenz, Venedig und Rom gesehen; sie hätten in einem Überblickswerk wie diesem nicht gefehlt. Heute hat sich dieser Fokus verengt, Neapel und Sizilien liegen ebenso außerhalb wie Polen, Ungarn und Skandinavien, Portugal und Irland. Das Interesse, so scheint es, konzentrierte sich im 20. Jh. parallel zu den vorherrschenden Leitfragen auf die politischen, kulturellen und intellektuellen Zentren, in denen die □ 33 Wies bei Steingaden, Wallfahrtskirche, Rocailledekoration des Chors, J. B. und D. Zimmermann, 1746–54
84 □ 34 Rom, Palazzo Farnese, sog. Galleria, Fresken von A. und A. Carracci, ab 1597
wichtigsten theoretischen Diskussionen der Zeit stattfanden, welche aus dem Blickwinkel der heute vorherrschenden Auftraggeberund Kontextforschung als besonders relevant und interessant erschienen. Hierbei wurde lange Zeit das Dogmatisch-Strenge mehr geschätzt und beachtet als das Originelle und Einmalige, das zukunftsweisende, stark rezipierte neuartige Konzept höher bewertet als der sich vielleicht als Sackgasse erweisende Sonderweg. Fortschrittlichkeit, Vorbildwirkung und theoretische Fundierung gelten bis heute gemeinhin als synonyme Qualitätsmaßstäbe auf der kunsthistorischen Rangskala. Es gibt in der Kunstgeschichte immer wieder Versuche, sich diesem Diktat des angeblich Wichtigsten, Besten und Fortschrittlichsten bewusst zu verweigern, es aufzubrechen und umzuschreiben, ja ihm jede Relevanz abzusprechen. Diese Fundamentalkritik verkennt aber, dass der Kanon zwar weder objektiv begründet noch zwingend, aber eben auch nicht willkürlich ist, sondern eine ganz bestimmte Sichtweise abbildet, die selbst zeittypisch ist. Seine Kenntnis erscheint ebenso unverzichtbar wie diejenige der Stil- und Epochenbegriffe, um deren relative Bedeutung als Erklärungsmodelle zu erfassen und ggf. kritisch zu hinterfragen. Eine Revision des Kanons wird derzeit vor allem unter zwei Aspekten diskutiert: Zum einen treten durch die Weitung des Blicks auf globale Phänomene der ‚Weltkunst‘ und das neue Forschungsfeld der Post-Colonial-Studies Objekte, die bisher eher für kuriose Randphänomene gehalten wurden, auf einmal in den Mittelpunkt des Interesses. Zum anderen gewinnen auch scheinbar marginale Gegenpositionen zum vorherrschenden Fortschrittsdenken zunehmende Anerkennung, indem z. B. die bewusste Beibehaltung traditioneller Typen und Bauformen, die Adaption vorhandener Gebäude unter Wahrung ihrer Struktur und erkennbaren Historizität (v. Engelberg 2005), die Verweigerung gegenüber den normativen Vorgaben der Zentren, die individualisierten Sonderwege z. B. fürstlicher Repräsentation sowie die Vermischung der Kulturen an ihren Schnittpunkten und Reibeflächen auf gesteigertes Interesse stoßen. Die fortschreitende Individualisierung der postmodernen Gesellschaft, die zunehmende Sensibilität für bisher marginalisierte Positionen, Minderheiten, Unangepasstes und Nischenphänomene verändert auch den Blick auf die Vergangenheit, lässt neben dem Mainstream der traditionellen ‚Großen Fortschritts-Erzählung‘ auch Gegenströmungen erkennbar werden und beachtenswert erscheinen.
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Zu den Verlierern dieser Neuorientierung gehören dagegen die ‚großen Männer‘ oder ‚Genies‘, also diejenigen, die man seit Vasari für die eigentlichen Träger des Innovationsprozesses hielt: Brunelleschi, Bramante, Michelangelo, Bernini, Borromini und Boullée versteht man zunehmend als eingewoben in den Kontext und die normativen Vorgaben ihrer Zeit. Ihre Konflikte und Kooperation mit den Auftraggebern, Konkurrenten und Kritikern, ihre Beeinflussung durch die theoretischen, sozialen, religiösen und politischen Rahmenbedingungen der Epoche erscheinen zunehmend relevanter und interessanter als die Betonung ihrer mutmaßlichen Unabhängigkeit, Unvergleichbarkeit, ‚Zeitlosigkeit‘ und Individualität. Diese neue, sozusagen egalisierend-einbettende Sichtweise ist vermutlich genauso einseitig, wie es die Überbetonung des Individuellen zuvor war: Die Alte Sakristei, der Tem pietto von S. Pietro in Montorio, der Kapitolsplatz, die Villa Rotonda, die Wieskirche und der Newton-Kenotaph |▶ 2, 6, 18, 20, 40, 50| sind und bleiben maßstabsetzende, individuelle Erfindungen Einzelner, die erst dann als selbstverständlich und folgerichtig für ihre Zeit erschienen, nachdem sie fertig dastanden. Wer die gestalterisch-konzeptionelle Differenz zwischen Sangallos Petersdom-Modell und dem Gegenentwurf Michelangelos betrachtet |▶ 21|, erkennt darin zugleich die Wasserscheide zwischen Renaissance und Barock, zwischen korrekt-additivem Zusammenfügen der vitruvianischen Vokabeln zu einem komplexen, aber auch etwas beliebigen Gebilde, und dem aus einer einzigen, in sich stimmigen Gesamtform gewonnenen ‚großen Wurf‘, in dessen gedanklichem Dimensionssprung tatsächlich eine epochale Innovationsleistung liegt, die zu diesem Zeitpunkt vermutlich kein anderer als eben Michelangelo in dieser Konsequenz hätte imaginieren können. Eine andere Gruppe von Bauwerken, ebenso bedeutend und nicht minder qualitätvoll, lässt sich dagegen tatsächlich besser als kollektives Phänomen verstehen, das nur aus der Interaktion von Auftraggeber, ausführenden Künstlern, praktischen Bedürfnissen und theoretischen Reflexionen zu erklären ist. Hierfür stehen die Palazzi Pitti und Farnese, der Escorial und der Markusplatz, Versailles und Melk, Petersburg und Amsterdam, die Würzburger Residenz und die Gärten von Stowe |▶ 4, 9, 19, 21, 33, 34, 36, 42, 46|. Auch diese Projekte sind im höchsten Maße innovativ und maßstabsetzend, aber sie sind es als Ergebnis eines vielschichtigen, komplexen Aushandlungsprozesses zahlreicher Akteure, der eben nicht aus der Kreativität eines Einzelnen abgeleitet werden kann. Was bedeutet also ‚Erfindung‘ im Vitruvianischen Zeitalter? Woran können maßstabsetzende gestalterische Innovationsprozesse festgemacht werden? Im dritten Teil dieses Buches, den ‚Schlüsselwerken‘, werden 50 Beispiele vorgestellt, aber sie bilden ein Mosaik, keine lineare Abfolge des Vorher und Nachher. Daher soll im Folgenden an einer spezifischen Aufgabenstellung, der katholischen Sakralarchitektur des Barock, ein solcher Entwicklungsweg nachgezeichnet werden. Der Begriff ‚Entwicklung‘ erscheint hierfür manchen Autoren schon zu gewagt, da er zum Missverständnis eines zielgerichteten, mit innerer Logik ablaufenden oder gar biologistischen Prozesses verleiten könnte. Wer aber an die Entwicklung des Verbrennungsmotors, der Börsenkurse oder von Software-Produkten denkt, wird leicht erkennen, dass es sich hierbei im heutigen Sprachgebrauch um einen jeder Determination unverdächtigen Terminus handelt, der lediglich einen iterativen Prozess beschreibt. Der Beginn des römischen Barock wird ‚kanonisch‘ mit der Vollendung der Peterskirche unter Michelangelo und Maderno |▶ 21| und dem Bau der ersten Jesuitenkirche Il
Erfindung
86 □ 35 Rom, S. Carlo alle Quattro Fontane, Kuppel des Haupt- raums, F. Borromini, ab 1638
Gesù |▶ 22| gleichgesetzt. Beide um 1590 realisierten Projekte gingen linear und bruchlos aus dem Formenrepertoire der Renaissance hervor: Vergleicht man den Gesù Vignolas mit Albertis 100 Jahre älterem S. Andrea |▶ 3|, so überwiegen eindeutig die Kontinuitäten. Kaum eine Einzelform entstammt nicht dem antiken Repertoire; der Kapellensaal unterscheidet sich nur in Details, nicht im Prinzip von der Kirche in Mantua. Die Innovation liegt vielmehr in der neuen Zusammenfügung bisher disparater Elemente: Überkuppelter Zentralbau und Langhausbau bilden einen neuen Hybriden, und an der Fassade Giacomo della Portas (□ vgl. 92) werden Pilaster, Halb- und Vollsäulen relativ unsystematisch, aber optisch wirkungsvoll in Schichten übereinandergelegt. Die eindeutige Lesbarkeit und strukturelle Logik, eine wichtige Errungenschaft der sog. Hochrenaissance, wird vom Architekten bewusst relativiert, jedoch nicht mehr als offener Bruch inszeniert wie an seiner ‚manieristischen‘ Rückfassade des Palazzo Farnese (□ vgl. 6), sondern als eine komplexe, spannungsreiche, aber dennoch ponderiert-harmonische Komposition, deren spezifisches Gewicht und Dichte zur Mitte zunimmt, ohne die Einheit des Ganzen offensiv in Frage zu stellen. Die ‚Erfindung des Barock‘ liegt also nicht in völlig neuen, revolutionären Formen oder Bautypen, sondern in ihrer evolutionären Neugewichtung und überzeugender, neuartiger Montage, die zur Nachahmung und Weiterentwicklung als ‚Modell‘ geradezu einlud. Ein entscheidender Schritt der Innovation war etwa ein halbes Jahrhundert später vollzogen, indem das Prinzip der formalen Hybridisierung konsequent weitergetrieben wurde: Bisher hatte es (mehrheitlich) gerade und (wenige) gebogene Wände gegeben, wobei letztere (z. B. als Apsiden oder Querhausarme) meist möglichst exakt der als Ideal verstandenen Kreisform folgten |▶ 6|. Eine jüngere, um 1600 geborene Künstlergeneration wandte sich nun verstärkt der uneindeutigen, aber gerichteten Figur des Ovals bzw. aus konvexen und konkaven Flächen zusammengesetzten, dem Auge bewegt erscheinenden frei geführten Umrisslinien zu. Francesco Borrominis |▶ 23| erster selbständiger Bau in Rom, die 1638 begonnene kleine Klosterkirche San Carlo alle Quattro Fontane (Portoghesi 2001), zeigt sich im Innenraum (□ 35) als eine ebenso komplexe wie schwer durchschaubare Verbindung von Kreuz und Oval, geraden und konkaven Wand- und Gebälkstücken. Die Ausrichtung der Kapitelle, die sphärische Verzerrung der kassettierten Gewölbe er-
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hebt die komplexe Mehrdeutigkeit zum ästhetischen Ideal einer Raumschöpfung für Kenner und Liebhaber. Pietro Berrettini gen. da Cortona, ein Maler, der ebenso als Architekt brillierte, übertrug diese Innovation in den Außenraum, als er für die kleine Kirche S. Maria della Pace (□ 36) in unmittelbarer Nähe der gleichzeitig erneuerten Piazza Navona |▶ 26| um 1657 eine Fassade errichtete, die nicht mehr als Außenansicht eines plastisch scharf umgrenzten Baukörpers, sondern als Teil einer fließend vor- und zurückspringenden Platzwand erscheint, welche die vorgefundenen Unregelmäßigkeiten der stadträumlichen Situation einfach negierend überspielt (Merz 2008, S. 165 –185). Die konkav zurückweichenden Fassadenflügel bilden den Fond für die umso prominenter konvex hervortretende, toskanisch instrumentierte Vorhalle. Die links einmündende Straße wird durch eine Blendwand überbaut, so dass sie mit dem rechts gegenüberliegenden Hauseingang korrespondiert und den kleinen Vorplatz geschlossener erscheinen lässt, als er ist. Die von Heinrich Wölfflin für den Barock als charakteristisch vorgeschlagenen ‚Grundbegriffe‘ der ‚malerischen, unklaren und tiefenhaften Vielheit‘ lassen sich an dieser Komposition überzeugend nachvollziehen. Das Beispiel belegt zugleich, dass stilistische Innovationen meist nicht nur einem Kopf entspringen, sondern von anderen verstanden, aufgegriffen und weitergesponnen werden. Dass Borromini in keiner Geschichte der Baukunst fehlen darf, Cortona dagegen oft nur als Randfigur erwähnt wird, kann nicht aus der Qualität ihrer jeweiligen Bauten hergeleitet werden, sondern nur aus der Vielzahl bedeutender Aufgaben, die dem Ersteren gestellt wurden, und der anhaltenden Rezeption seiner kühnen Raumschöpfungen, die zum (oft abfällig gebrauchten) Begriff des Borrominismo verdichtet wurden. Einen völlig anderen Umgang mit einer vergleichbaren Aufgabe zeigte dagegen Gianlorenzo Bernini, der sich die Baukunst als gefeierter Bildhauer erschloss. Hieraus mag seine Vorliebe für klare, gut ablesbare, relativ einfache Formen und reiche Material oberflächen zu erklären sein. Er errichtete, ebenfalls auf Basis eines Ovals, ab 1658 die Noviziatskirche der Jesuiten S. Andrea al Quirinale (Terhalle 2011) in Sichtweite – und unübersehbarer Konkurrenz – zu Borrominis kleinem, daher auch S. Carlino genannten Pionierbau. Im Vergleich mit diesem Vorbild reduzierte Bernini die Komplexität des Raumes, der – überraschend – als Queroval gestaltet ist (□ 37). Die Nähe zur inneren Wandgliederung des antiken Pantheons (□ vgl. 17) ist unübersehbar, aber dessen einfacher A-B-AC-A-B-A Rhythmus der Traveen wird von Bernini ämulativ zu A-B-C-C-B-D weiter□ 36 Rom, S. Maria della Pace, Fassade, P. da Cortona, 1656 – 57
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□ 37 Rom, S. Andrea al Quirinale, Hauptraum, G. L. Bernini, ab 1658
entwickelt. Hatte Borromini seine komplexe Geometrie im Wesentlichen mit der einheitlichen, neutralen Oberfläche schlicht verputzter weißer Ziegelmauern entwickelt, so lebt Berninis Raum von der Pracht des Marmors, der Farbstimmung der goldgetönten Fenster, dem unauflösbaren Zusammenspiel der Medien Skulptur, Malerei und Architektur. Bleibt Borrominis komplexes Gebilde eine stets aufs Neue herausfordernde, abstrakt-formale Denksportaufgabe, so erzählt Berninis Kirche höchst suggestiv die emotional berührende Geschichte ihres Titelheiligen, dessen Martyrium – er wurde an einem seitdem so benannten X-förmigen Andreaskreuz angenagelt – in einem Gemälde in der Chorkapelle dargestellt ist. Der Lohn des standhaften Leidens, die sog. Apotheose, also die Erhebung des Heiligen zum Himmel, ist dagegen in einem Medienwechsel als freiplastisch-dreidimensionale Gruppe schwebend im Kuppelgewölbe des Hauptraums oberhalb der Chorkapelle dargestellt. Während der bildlich-figürliche Schmuck in Räumen Borrominis stets als unerheblich, wenn nicht sogar störend erscheint, ist er bei Bernini unverzichtbarer Teil, ja vielleicht sogar thematischer Kern der komplexen Invention. Die Aufwertung von Material und Oberfläche zum konstituierenden Bestandteil der Architektur, die Verschmelzung von einfachem Raumschema und kostbarer Ausstattung zu einer untrennbaren kompositionellen und konzeptionellen Einheit war von zentraler Bedeutung vor allem für den mitteleuropäischen Spätbarock des 18. Jh.s. Es war einem deutschen Architekten vorbehalten, die antagonistischen Ideale Berninis und Borrominis zu einer neuen Einheit zusammenzuführen und evolutionär zu verschmelzen. Balthasar Neumann, der Baumeister der Würzburger Residenz |▶ 42|, hatte, vermittelt über Turin und Prag, Borrominis System der komplexen, sich sphärisch verschneidenden Raumovale und Flachkuppeln zu höchster Perfektion entwickelt, als sich ihm durch ein Missgeschick eine besonders herausfordernde Aufgabe stellte: Die Wallfahrtskirche
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Vierzehnheiligen in Franken (□ 38) sollte ab 1735 als eine eher konventionelle Variation des Gesù-Schemas mit einem dreischiffigen basilikalen Langhaus und einer überkuppelten Vierung mit drei Apsiden errichtet werden. Im Zentrum dieser Vierung sollte die Gnadenstätte, der wundertätige (und natürlich nicht verschiebbare) Erscheinungsort der namensgebenden Vierzehn Heiligen Nothelfer liegen (Muth 1987, S. 230 –250). Durch das temporäre Eingreifen eines anderen Architekten wurde der Bau aber um einige Meter verschoben ausgeführt, so dass der heilige Ort nun in der zunächst völlig unbetonten Mitte des Langhauses positioniert war. Neumann macht aus dieser Not eine Tugend, indem er ab 1743 den schon errichteten geraden Außenmauern im Innern eine Folge dreier, ineinander übergehender Ovale entlang der Längsachse einbeschrieb. Der am meisten gelängte Ovaloid in der Mitte, gerahmt von zweigeschossigen Arkaden, verlieh dem Kirchenraum nun ein zweites, optisch dominierendes Zentrum, in dessen Mitte der sehr selbständig arbeitende Stuckateur Johann Michael Feichtmayr ein frei stehendes, allansichtiges, tabernakelartiges Gebilde, den Gnadenaltar, postierte. Eine komplexe Raumstruktur in der Nachfolge Borrominis vereint sich so mit einem bunten, erzählerischen, materielle Pracht suggestiv einsetzenden szenographischen Konzept nach der Art Berninis. Auslöser dieser unvergleichlichen inventio war, wie so oft in der Architektur, die Not, die bekanntlich erfinderisch macht. Die Komplexität dieser Lösung war offensichtlich nicht mehr zu steigern und verlor daher schon wenige Jahre später an Interesse. Ab 1757 plante Jacques-Germain Souf flot seine Pariser Abteikirche Ste-Gene viève | ▶ 49| wieder über einem gleichseitigen griechischen Kreuz aus fünf Quadraten und bekrönte die Vierung mit einer Kuppel im reinen Duktus Bramantes, als habe es die barocken ‚Lockerungsübungen‘ dazwischen nie gegeben. Seine Innovation war eine entschiedene Revision, die Abkehr von einem ämulativen Konzept, das wir heute ‚Barock‘ nennen, dessen Weg ausgeschritten schien und daher zum Irrweg erklärt wurde. Sein Entwurf war ein Fanal für die Rückkehr zu Ordnung und Regel, verbunden mit dem Versuch, die Innovationspotentiale der gleichzeitig wiederentdeckten Gotik und der modernen Eisenkonstruktion in einem maßstabsetzenden Bauwerk zu vereinigen. Wie dieser kurze Streifzug durch die formale Entwicklung einer Bauaufgabe in □ 38 Vierzehnheiligen, Wallfahrtskirche, Inneres des Hauptraums mit Gnadenaltar, B. Neumann, F. X. Feichtmayr, 1743 – 72
Erfindung
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zwei Jahrhunderten gezeigt hat, ist Erfindung im Vitruvianischen Zeitalter niemals voraussetzungslos, sondern immer evolutionär und kontextualisiert. Wie in einem Gespräch wird ein bekanntes Argument aufgenommen und überraschend beantwortet, ein bereits vorhandener Gedanke weiterentwickelt, ein bisher vorherrschendes Denkmodell durch eine Gegenthese zurückgewiesen. Der Dialog rechnet mit einem Betrachter, der das zuvor Gesagte gut kennt und als Vergleichsfolie jederzeit abrufen kann. Dennoch schätzt man es, wenn nicht nur bereits Bekanntes in etwas anderen Worten wiederholt wird, sondern neue Ideen, Wendungen, Überlegungen, Gedankenblitze hinzutreten. Das voraussetzungslos Neue, Unvergleichliche, Revolutionäre, das mit allem Bisherigen demonstrativ bricht und alle Tradition negiert, ist ein Ideal der Moderne. Das erklärt andererseits auch, warum die Baukunst der Frühneuzeit so wenige ‚echte‘ Innovationen, z. B. auf technischem und konstruktivem Gebiet kennt (v. Engelberg 2004). Man mauert, wölbt und zimmert um 1800 im Wesentlichen immer noch so, wie man es schon um 1400 getan hat. Die 1506 begonnene Peterskirche ist und bleibt der größte Sakralbau der Epoche. Der Überbietungswettbewerb in der Schiffshöhe gotischer Kathedralen, der rastlose Stilwandel und die kontextabhängige Formenvielfalt des 19. und 20. Jh.s sind der Epoche fremd. Deshalb spielt die einzige nennenswerte technische Innovation der Zeit, die Entwicklung der Eisenverarbeitung, eine ästhetisch untergeordnete Rolle. Ein gutes Beispiel hierfür ist die um 1670 realisierte Louvrekolonnade Perraults |▶ 35|, deren kühne Achsabstände nur unter den Einsatz schmiedeeiserner Zuganker realisierbar waren, die freilich mit Sorgfalt vor dem Auge des Betrachters verborgen wurden, um die Il-
□ 39 Coalbrookdale, Eisenbrücke über den Severn, T. Pritchard, A. Darby, 1775 – 79
II. Grundzüge der Architekturgeschichte
91 □ 40 Seligenstadt am Main, Abteigarten, Gewächshaus, 1757
lusion eines antikisch-monolithischen Gliederbaus nicht zu schwächen. Erst zum Ende der Epoche und ausgehend von England entsteht eine eigenständige Eisenarchitektur, die aber zunächst auf jene ästhetisch peripheren und liberalisierten Freiräume beschränkt blieb, wie sie die offene Landschaft bietet. Die 1779 errichtete Eisenbrücke von Coalbrookdale über den Fluss Severn (□ 39), das älteste erhaltene Beispiel dieser Gattung überhaupt, implantiert das zukunftsweisende Material möglichst unauffällig in eine traditionelle Bogenkonstruktion, wie man sie seit den Römern aus dem Stein- und Holzbau kannte. Die Hängebrücke als technisch dem Schmiedeeisen angemessene, zugbelastete und materialsparende Bauform kam erst im 19. Jh. auf (Sutherland 1997). Das verglaste Oberlicht, eine wichtige Voraussetzung für die großen Treppenhallen und fensterlosen Repräsentationsräume des Historismus, wurde sozusagen en passant als Notlösung für die Gesandtentreppe des Schlosses von Versailles erfunden |▶ 36|, weil dieser gefangene Raum bedauerlicherweise keine Fensterfront besaß. Danach war diese Option sofort wieder vergessen: Während die räumliche Disposition und Dekoration des königlichen Treppenhauses Furore machte und für den europäischen Schlossbau des folgenden 18. Jh.s vorbildlich wurde, kam man nirgendwo auf die Idee, das Licht wie dort senkrecht vom Himmel durch ein verglastes Opaion einströmen zu lassen: Man bekrönte Kuppeln weiterhin mit den gewohnten, seitlich belichteten Laternen, wie es schon Brunelleschi und Bramante geplant hatten, oder malte sich die Himmelsöffnung als Fresko. Wie findig und technisch versiert diese Epoche entwerfen konnte, wenn sie sich sozusagen außer Protokoll, also jenseits der Ansprüche hoher vitruvianischer Architekturtheorie bewegte, zeigen die ausgeklügelten Gewächshäuser (Gröschel 2010), die zur Aufbewahrung empfindlicher Kübelpflanzen in den Gärten Nordeuropas entstanden (□ vgl. 146) wie z. B. die 1757 im Abteigarten des Klosters Seligenstadt am Main erbaute Orangerie (□ 40). Schräggestellte vollverglaste Südfassaden, die durch Rouleaus verschattet werden konn-
Erfindung
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ten, Pultdächer mit Überstand zum Schutz der geneigten Flächen, Fußbodenheizung und Lüftung durch Kippfenster: Das alles wurde aufgeboten, um kostbare und prestigeträchtige Orangenbäumchen über den Winter zu bringen, während die Schlösser weiterhin mit Kachelöfen oder offenen Kaminen beheizt wurden. Die Pumpen- und Leitungstechnik, welche die Bewässerung großangelegter Schlossgärten wie Versailles erforderte, übertraf in ihrem Aufwand alles, was gleichzeitig in einem Palast an Sanitärinstallationen oder für die Trinkwasserversorgung der Städte verlegt wurde. Aber man sah keinen Zusammenhang zwischen diesen notwendigen Errungenschaften der artes mechanicae und dem, was man in einem höheren, ästhetischen und diskurswürdigen Sinne unter ‚Architektur‘ verstand. Als Boullée seinen revolutionären Newton-Kenotaph vorlegte |▶ 50|, interessierte er sich nicht für dessen technische Umsetzung und färbte die geschnittenen Mauerflächen seines Entwurfs einfach monochrom grau, ohne irgendeine Aussage über die geplante Materialität oder Konstruktion zu liefern. Er verstand sich selbst als ‚Maler‘, die praktische Umsetzung galt seit Alberti als untergeordnetes Problem, mit dem ein künstlerisch ambitionierter Architekt nicht seine Zeit verschwenden sollte. Gerade als langjähriger Professor an der Pariser Hochschule für Straßen- und Brückenbau hätte ihm die aufblühende Ingenieurwissenschaft eigentlich besonders nahe stehen müssen, aber er bemerkte dazu lapidar: ,Die mit diesem Teil der Architektur beauftragten Zivilingenieure haben, was den technischen Teil betrifft, Wunder vollbracht, aber der künstlerische Teil ist ihnen entgangen.‘ (Boullée/Vogt 1793/1984, S. 142.) Leon Battista Alberti, der erste bedeutende Architekturtheoretiker des Vitruvianischen Zeitalters, fasste die merkwürdige Doppelgesichtigkeit von Traditionswahrung und Fortschritt, Nachahmung und Erfindung im 9. Kapitel seines 9. Buches mit folgenden Worten zusammen: ,Im übrigen möchte ich, daß er [der Architekt] sich so betrage, wie die Jünger der Wissenschaft. Denn niemand wird glauben, sich genügend mit der Wissenschaft beschäftigt zu haben, wenn er nicht alle Gewährsmänner, auch jene, die nicht gut sind, gelesen und kennengelernt hat […]. Was es alles an Bauwerken gibt, an allen Orten […] wird er auf das eingehendste betrachten, abzeichnen, ausmessen, und will deren Modelle und Kopien besitzen; er wird diese studieren, ihre Anordnung durchgehen […] besonders jene, welche das Größte und Würdigste geschaffen haben und die man für ausgezeichnete Männer hält, da sie ja die Lenker so gewaltiger Leistungen gewesen sind. […] Sondern vor allem wird er untersuchen, was in jenem an künstlerischer Absicht wohlerwogen und verborgen, oder was an seiner Erfindung selten und bewunderungswürdig sei. […] Wovon er aber weiß, daß man es viel vornehmer machen könne, das wird er mit Kunst und Nachdenken behandeln, um es richtig zu stellen und zu verbessern […] und in durchdringender und leidenschaftlicher Erforschung alles Besten wird er in immerwährendem Streben nach Höherem seine Fähigkeiten üben und vermehren. […] Es wird auch gern gesehen, wenn man etwas Neues eigener Erfindung veröffentlicht, was wir bewundern können […] Ich werde es auch billigen, wenn neuen Erfindungen die bewährten Weisen der Alten, und diesen neue geistreiche Einfälle nicht fehlen. […] und er wird sich nicht zufrieden geben, solange es noch irgend etwas gibt, das man mit Kunst und Geist erreichen könnte, wenn er das nicht in Angriff genommen und gänzlich zu eigen gemacht hat, daß in ihm selbst dieser Vorzug die höchste Vollendung in seiner Art erreicht hat.‘ (Alberti/Theuer 1912/1975, S. 516 ff.)
II. Grundzüge der Architekturgeschichte
III. Schlüsselwerke
Das Findelhaus in Florenz Der Gründungsbau der Renaissance
W
ann beginnt die Architektur der Renaissance? In seltener Einigkeit werden hier die meisten Wissenschaftler das Jahr 1419 nennen, in dem der Florentiner Goldschmied Filippo Brunelleschi von der arte della seta, der Seidenweberzunft, den Auftrag zum Neubau des kommunalen Waisenhauses seiner Vaterstadt erhielt. Die Zünfte waren in der Stadtrepublik am Arno nicht nur reine Berufsverbände, sondern vielmehr mit bestimmten öffentlichen Aufgaben betraute Bürgervereine: So waren Seidenweber seit 1294 für die sog. Findelkinder zuständig, (nicht nur) außerehelich geborene Babys, die von ihren Eltern aus finanziellen oder gesellschaftlichen Gründen nicht aufgezogen werden konnten und daher ausgesetzt bzw. in die Obhut der Kommune gegeben wurden. Hier wurden sie zunächst von Ammen genährt und erlernten später Lesen und Schreiben und ein Handwerk (z. B. die Seidenweberei), wodurch sie sich für das Gemeinwesen nützlich machen konnten (Sandri 1996, S. 59–83). Die Sorge um den verwaisten Nachwuchs, bis zu 1000 Kindern gleichzeitig, war in einem Stadtstaat, der sich zwar auf dem Gipfel seines
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Reichtums und Ansehens befand, aber dessen Bevölkerung nicht zuletzt infolge der Pest des Jahres 1348 von ehemals 90 000 auf zeitweise 37 000 Einwohner zurückgegangen war (Battisti 1979, S. 48), eine höchstrangige Aufgabe. Dies erklärt, warum sich die kommunalen Bauherren für einen derart repräsentativen Komplex entschieden. Brunelleschi, der 1404 der Seidenweberzunft beigetreten war (Löhneysen 1999, S. 31), ist durch die bis 1427 geleisteten Zahlungen in seiner Funktion als Entwerfer und Bauverantwortlicher in den ersten Jahren des Projektes gesichert. Danach löst ihn Francesco della Luna, ein weiterer nebenberuflicher Architekt aus dem die Republik prägenden Florentiner Großbürgertum, ab, unter dessen Leitung zehn Jahre später das Obergeschoss über der Loggia errichtet und dem die meisten Unregelmäßigkeiten des Bauwerks angelastet wurden. 1445 wurde das Gebäude eingeweiht, doch noch 1487 werden Veränderungen wie die Anbringung der Wickelkinder zeigenden Majolika-Reliefs Andrea della Robbias an der Fassade vorgenommen, so dass der ‚Originalplan Bru-
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□ 41 Florenz, Findelhaus, Platzfassade, F. Brunelleschi, 1419 – 45
nelleschis‘ nur hypothetisch aus Beschreibungen und Detailbeobachtungen zu rekonstruieren ist (Saalman 1993, S. 32–82, hier 51, 69). Dennoch kann man davon ausgehen, dass das Gesamtkonzept und die Architektursprache dieses ersten bedeutenden profanen Renaissancebaus weitgehend dem Entwurf des genialen Dilettanten entsprechen. Dilettant, also Liebhaber-Architekt, kann man Brunelleschi deshalb nennen, weil er kein ausgebildeter Maurer, Steinmetz oder Zimmermann, sondern Bildhauer war. 1418 hatte er als Mitglied einer wiederum von der Seidenweberzunft eingesetzten Kommission die Verantwortung für die prominenteste Baustelle der Stadt, die Fertigstellung der Kuppel des 1296 begonnenen Doms übernommen. Durch ein von ihm entwickeltes zweischaliges Fischgrät-Wölbsystem gelang es ihm, die riesige 1413 bis zum Tambour fertiggestellte Kuppel bis 1436 zu schließen, ohne einen Wald von Lehrgerüsten dafür im Inneren aufzustellen, was dem damals
III. Schlüsselwerke
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üblichen Verfahren entsprochen hätte (Saalman 1980). 1444 wurde der Bau schließlich mit der von Brunelleschi entworfenen Laterne bekrönt. Zurück zum Findelhaus: Worin liegt nun die Schlüsselstellung dieses Gebäudes für die kommenden 250 Jahre der Architekturgeschichte begründet? Heutigen Betrachtern fällt es nicht ganz leicht, das Revolutionäre dieser lediglich zweigeschossigen, eher schlicht gestalteten Fassade spontan zu empfinden (□ 41). Eine Annäherung an ihre ursprüngliche Wirkung wird auch dadurch erschwert, dass die Schauwand Brunelleschis ab 1516 an zwei Seiten des Platzes variierend wiederholt und durch das 1608 von Pietro Tacca gegossene Denkmal des Großherzogs Ferdinand I. der Toskana nachträglich zentriert wurde. Das Findelhaus war ursprünglich in einer zunächst weitgehend unbebauten nördlichen Erweiterungszone der Kernstadt entstanden. Seine ehemals beherrschend und einzigartig wirkende Front erscheint heute hingegen als Teil einer eher zurückhaltenden, seri-
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ellen Platzrahmung (Sandri 1996, Abb. 12, 16). stalteter Portale im zweiten, fünften und achOb Brunelleschi seine Fassade als Muster für ten Joch deutet die bei Profanbauten neuartige eine vereinheitlichende, regelmäßige Fassung Regelmäßigkeit und Spiegelsymmetrie an. Das der Gesamtanlage im Sinne antiker Forums-Por- Loggien-Motiv, also die Schaffung eines halböffentlichen, leicht erhöhten Zwischenraumes tiken verstand, ist nicht zu entscheiden. Zunächst muss das Hospital höchst auffäl- vor einem Gebäude, ist fester Bestandteil der lig gewirkt haben, denn mit seiner gleichmä- Florentiner Bautradition, wie z. B. die 1381 vollßig gestalteten Frontlänge von ca. 70 Metern endete sog. Loggia dei Priori (der Ratsherren) (= 120 braccia = Florentiner Ellen) setzte es an der Piazza della Signoria, dem Rathausplatz, neue Maßstäbe für Profanbauten seiner Zeit. zeigt. Schon an diesem Bau, einer Art öffentliBrunelleschis Waisenhaus besteht aus einem chem Festsaal der Stadtregierung, finden sich Kernbau um einen quadratischen, von Arkaden halbrunde Bogenformen; dagegen stellte die umgebenen Innenhof, der von zwei längsrecht- Gestaltung der Freistützen des Findelhauses eckigen Bauten, links der Kirche und rechts einen deutlichen Bruch mit dem gotischen Fordem Schlafsaal der Kinder, flankiert wird mengut dar, denn statt Bündel- oder Polygonal(□ 42). Diese symmetrische Gesamtdisposition pfeilern verwendet Brunelleschi korinthische ist durch spätere Umbauten, vor allem einem Säulen. Eine weitere wichtige Innovation liegt südlich angefügten zweiten Innenhof verun- in der Gestaltung der Wölbungen, die als flaklärt; auch die Fassade wurde mehrfach umge- che Hängekuppeln, nicht mehr als Rippenkonstaltet und restauriert. Zum Platz hin ist dem struktionen ausgeführt sind. Die Funktion der Komplex ein breit gelagerter, zweigeschossiger, Loggia als Übergangszone zwischen Platz und nur ein Joch tiefer Fassadenbau vorgelegt, der Gebäude wird auch durch einen Einbau an der aus einer neunjochigen Loggia und zwei flan- Schmalseite dokumentiert, der in seiner Funkkierenden, ursprünglich geschlossenen Eckrisaliten mit Ädikulen als Portalen besteht. Die Gebäudefront wurde später verbreitert, so dass die Fassade heute elf Bögen zeigt. Die Loggia liegt nicht auf Platzniveau, sondern ist über einer Freitreppe in voller Breite der Bogenstellung erhöht. Die seitlichen Risalite sind im Erdgeschoss durch Pilaster eingefasst. Das Obergeschoss ist durch eine gleichmäßige Abfolge von ursprünglich elf Rechteckfenstern unter Dreiecksgiebeln gestaltet. Beide Geschosse sind durch einen breiten Streifen getrennt, den man als dreiteiliges Gebälk lesen könnte (genauer gesagt ist es ein gerahmtes Feld auf einem Architrav), als dessen Stützen dann die Pilaster der Risalite zu verstehen wären. Die dreiteilige Grundrissdisposition spiegelt sich an der Fassade kaum wider, lediglich die regelmäßige □ 42 Florenz, Findelhaus, Grundriss und Aufriss, F. Brunelleschi, Anordnung großer, nahezu gleich ge1419 – 45, Rekonstruktion Saalman
Das Findelhaus in Florenz
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tion den heute wieder geläufigen Babyklappen zu vergleichen ist (Sandri 1996, S. 62 f.). Der Kontrast von weißem, neutralem Putzgrund und grauem Naturstein, pietra serena, für die hervorgehobenen Bauteile formulierte eine neue, differenzierende, die Ablesbarkeit der sorgfältig ausgearbeiteten Einzelformen unterstützende, quasi graphische Architektursprache, die sich markant von der plastischen Wucht bisheriger Florentiner Repräsentationsbauten, etwa des Rathauses Palazzo Vecchio oder von Privatpalästen wie dem (zeitweise irrtümlich Brunelleschi zugeschriebenen) Palazzo Pitti |▶ 4| unterschied. Wollte Brunelleschi mit seinem Findelhaus Bauten der Antike nachahmen oder eine genuin neue Architektur schaffen? Vermutlich beides, und ein Drittes dazu: nämlich eine typisch florentinische Architektur, die bewusst auf ältere lokale Vorbilder zurückgriff. So finden sich Säulenarkaden mit ähnlichen Kapitellen auch schon in mittelalterlichen Bauten, z. B. der vor 1100 erbauten Kirche SS. Apostoli (Günther 2009, Abb. 25). Der wichtigste Bezugspunkt war ohne Zweifel S. Giovanni, das Baptisterium des Domes (□ vgl. 19), ein romanisches Oktogon vermutlich aus dem 11. Jh., welches damals für einen antiken Marstempel gehalten wurde, der zur ersten Kathedrale der Stadt umgewidmet worden sei. Die etwa gleichzeitig erbaute Kirche S. Miniato al Monte mit ihrer Freitreppe, den schlanken Blendarkaden, dem Ädikulenfenster in der Fassadenmitte, dem beide Geschosse trennenden kräftigen Hauptgesims und dem auffälligen Farbwechsel – hier freilich grüne und weiße Marmorinkrustationen – konnte ebenfalls als Vorbild dienen (Busignani 1974, S. 225). Details, die schon den Zeitgenossen am Findelhaus als dezidiert ‚unantikisch‘ erschienen wie der an den Gebäudekanten neben den Pilastern senkrecht abknickende Architrav haben in diesen geschichtsträchtigen Bauten ihre Vorbilder, deren ungewöhnlich antikennahe Gestaltungsweise
III. Schlüsselwerke
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durch die Kunstgeschichte die anschauliche, aber etwas verwirrende Benennung Protorenaissance erhalten hat. Giorgio Vasari erzählt in seiner Biographie Brunelleschis, dieser habe den mit ihm befreundeten della Luna wegen des abknickenden Architravs scharf kritisiert, da dieses Detail nicht ,der [lies: guten, vitruvianischen] Architektur gemäß sei‘. Della Luna antwortete, es stamme vom Baptisterium, das doch nach allgemeiner Auffassung antik sei? Brunelleschi replizierte: ,Ein einziger Fehler ist an diesem Bau, und den hast du übernommen!‘ (Vasari /Burioni 2012, S. 51). Unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt belegt die Geschichte, wie sehr gute und regelhaft normierte Architektur in der Renaissance als Synonyme verstanden wurden. Brunelleschi bemühte sich also im wörtlichen Sinne um eine ‚Wiedergeburt‘ der lokalen, vermeintlich antiken Tradition, wobei er auch die gotischen Innovationen der vergangenen Jahrhunderte nicht verleugnete. Sie zeigen sich allerdings nur in den schlanken, luftigen, oft ‚entschwerten‘ Proportionen und Kompositionsprinzipien. Der Bautypus ‚zweigeschossiges Hospital mit vorgelegter Säulenloggia‘ war in Florenz nichts Neues, wie das nahe gelegene Ospedale di S. Matteo an der Piazza S. Marco von 1384 belegt (Saalman 1993, S. 35 ff.): Die Einzelformen dagegen sind alle konsequent aus dem antiken bzw. pseudoantiken Repertoire entlehnt. Man könnte daher von einer Reformarchitektur sprechen, die einen bewährten Bautyp formal erneuert, indem sie an (noch) Älterem Maß nimmt – eine Wieder-Geburt im Wortsinn, wenn schon nicht der klassischen Antike, so doch der (als antikisch verstandenen) Florentiner vorgotischen Tradition. Zu den zukunftsweisenden Innovationen der Findelhausfassade gehört die differenzierte Anwendung der Stützglieder an einem Gebäude, ja in einem Geschoss: Während die schlanken Säulen die Bögen der großen Loggia tragen, sind die beiden äußersten Achsen
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von Pilastern, also flachen, statisch funktionslosen Wandauflagen gerahmt, die – wiederum scheinbar – das den Bögen aufliegende Zwischengesims tragen. Die Säulenschäfte sind glatt, die der Pilaster kanneliert, beide tragen korinthische Kapitelle. Die antikischen Stützen treten also bereits bei ihrer ersten ‚Wiederverwendung‘ in zwei Gestalten auf: Als autonomes, funktional begründetes Tragglied und als Element der Wandgliederung, das vor allem gestalterische Zäsuren setzt und rhythmisiert. Auch hierfür konnte das Innere des Baptisteriums als Vorbild dienen (Frommel 2009, Abb. 2). Pilaster und Säule werden bei Brunelleschi als voneinander unabhängige, nicht austauschbare, sondern funktional differenzierte Elemente behandelt. Das wird beim Blick ins Innere der Loggia deutlich. Als Auflager für die Gurtbögen der Hängekuppeln dienen hier Kapitelle, die auf Konsolen aufruhen – eine (wiederum in der Loggia dei Priori vorgeprägte) Verlegenheitslösung, die systematisch gedacht, aber ästhetisch wenig überzeugend ist. Schon bei seinem nächsten Bau, der Basilika S. Lorenzo |▶ 2|, wird Brunelleschi eine andere, nun maßstabsetzende Lösung für dieses Problem anbieten, indem er Säule und Pilaster als aufeinander bezogene, gleichwertige Elemente in ein kohärentes System einbindet. Das erst nach einer längeren Bauunterbrechung durch Brunelleschis Nachfolger ausgeführte Obergeschoss der Fassade erschien schon den Zeitgenossen als wenig überzeugend. Die Jochgliederung des Erdgeschosses wird oberhalb des Zwischengesimses nicht fortgeführt, die schmächtigen Rechteckfenster mit Dreiecksgiebeln vermögen die homogene Wandfläche nicht überzeugend zu gliedern; der Systemwechsel von der Loggia zu den Eckrisaliten zeichnet sich im Obergeschoss nur durch einen vergrößerten Abstand der Fenster ab. Ob Brunelleschi auch hier Pilaster als Zäsur vorgesehen hatte, also zwei Ordnungen in sog. Superposition übereinandersetzen wollte, bleibt
Hypothese. Sein Biograph Manetti entschuldigte dies damit, dass der Architekt lediglich einen gezeichneten und vermaßten Plan, aber nicht wie damals üblich ein Holzmodell gefertigt und die Bauleute nur mündlich angewiesen habe. Bei einer längeren Abwesenheit des Meisters hätten die Handwerker dann die heute noch sichtbaren Ausführungsfehler verschuldet (Manetti/Saalman 1970, S. 96). Unabhängig vom Wahrheitsgehalt beleuchtet dieser Episode die Kluft, die sich im Zeitalter des disegno zwischen dem entwerfenden Künstler und den ausführenden Handwerkern auftut – Alberti wird diese Trennung wenig später sogar als wünschenswert einfordern. Dennoch sprechen die harmonierenden Maßverhältnisse der beiden Fassadengeschosse für deren kohärente Gesamtplanung: Die Säulenhöhe der Loggia – 10 florentinische braccia – entspricht dem Interkolumnium, die Obergeschossfenster sind halb so hoch und ihre Sohlbank liegt genau zwei Säulenabstände über der obersten Stufe der Loggia (De Angelis d’Ossat 1980). Auch hiermit erweist sich Brunelleschi als Pionier, denn die ganzzahligen Verhältnisse der Baumaße nehmen Bezug auf Vitruvs mathematisch-modulares Proportionsmodell und lösen das bis dahin vorherrschende, geometrische, auf Dreieckskonstruktionen mit Zirkel und Lineal basierende System der Bauhütten ab (vgl. S. 57 f.). Abschließend kann man feststellen, dass der Gründungsbau der Renaissance evolutionär, nicht revolutionär zu deuten ist. Er beschreibt keinen radikalen Bruch mit dem gotischen Erbe, sondern einen mit neuer ästhetischer Konsequenz betriebenen Perfektionierungsversuch. Findelhaus und Domkuppel sind weniger als isolierte Geniestreiche eines Einzelnen zu verstehen, vielmehr als innovative Transformationen einer zunächst regional fundierten Bautradition. Dass von hier eine neue Epoche der Baukunst ausging, erkannten erst spätere Generationen (Vasari/Burioni 2012, S. 13 f.).
Das Findelhaus in Florenz
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Säulenordnungen: Dekorum, Norm und Dekoration
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rundaxiom der frühneuzeitlichen Architekturtheorie war, dass die möglichst genaue Einhaltung von (aus der Antike abgeleiteten) Regeln, Formen, Proportionen und Fügungen der Elemente die Basis jeder anspruchsvollen Baukunst sei. In Analogie zu Rhetorik und Poetik entwickelte man die Vorstellung eines feststehenden Vokabulars und einer exakten Grammatik seines Gebrauchs (‚Disposition‘), die man als Ordnung bezeichnete. Schönheit entstehe dadurch, dass man vollkommene Vorbilder exakt kopiere und angemessen verwende. Die nachantike Neuerfindung von Formen, die man der Gotik vorwarf, galt als genuin regellos, willkürlich und daher barbarisch. Außerdem waren alle Elemente so einzusetzen, dass sie der Funktion und dem Rang des Gebäudes und des Bauherrn möglichst entsprechen sollten. Diese Angemessenheit von Form und Inhalt bezeichnete man als Dekorum (von decens = ‚schicklich‘, passend, adäquat). Für dieses selbst ausgedachte ‚Regelwerk‘ gab es zwei Hauptquellen: das einzige aus der Antike überlieferte Architekturtraktat des Vitruv (unillustriert und textlich schwer verständlich) sowie die Überreste der antiken Gebäude selbst, hauptsächlich in Rom und Italien, da Griechenland weitgehend un zugänglich war. Die Ruinen wurden exakt abgezeichnet (□ vgl. 17), vermessen, oft recht phantasievoll auf dem Papier ergänzt (□ vgl. 25, 27) und hierbei (meist vergeblich) versucht, diese Bauaufnahmen mit den Angaben bei Vitruv in Übereinstimmung zu bringen. Der kanonische Text orientierte sich nämlich vorzugsweise am griechischen Tempel (□ vgl. 26), einer von Freisäulenkolonnaden geprägten Sonderform des Sakralbaus, die mit der mehrheitlich in den Jahrhunderten nach Vitruv entstandenen kaiserzeitlich-römischen Architektur kaum in Übereinstimmung zu bringen war. So beschreibt Vitruv die dorische Säule z. B. als kanneliert und basislos, was nur für klassische griechische Bauten galt.
III. Schlüsselwerke
Vitruv listet im zweiten Kapitel seines ersten Buches drei sog. Säulen-‚Genera‘ (Geschlechter) auf, die nach ihrer historischen Entstehung gereiht und nach den griechischen Regionen benannt sind, in denen sie angeblich erfunden wurden: dorisch (Athen), ionisch (Kleinasien), korinthisch. Der Text verbindet mit dieser Aufzählung keine Rangfolge, sondern eine Charakterisierung: Dorische Säulen sind stämmig und wenig dekoriert, also für die Tempel männlicher Gottheiten geeignet; ionische Säulen sind wie Frauen schlanker und reicher geschmückt, korinthische Säulen wie Mädchen, grazil und elegant. Charakteristisch ist jeweils das Kapitell (der Kopf) der Säule sowie ein spezifisches, meist dreiteiliges Gebälk, bestehend aus Architrav, Fries und Gesims. Durch diese Analogiebildung und den Verweis auf das Motiv der Karyatiden, Stützen in Menschengestalt, wird eine die gesamte Epoche prägende Assoziation von menschlichen und architektonischen Proportionen, Natur und Baukunst hergestellt. Wahre Schönheit sei keine individuelle, regionale oder zeitbedingte Geschmacksfrage, sondern von Naturgesetzen abhängig und damit unveränderlich. Jede sog. Säulenordnung besitzt demnach eine ihr allein angemessene Proportion, d. h. ein nicht variables Verhältnis von Breite und Gesamthöhe: dorisch 1 : 7, ionisch 1 : 9, korinthisch 1 : 10. Den unteren Schaftdurchmesser benennt Vitruv als Modul, d. h. als Grundmaß: Alle Baumaße sollten ein Vielfaches dieser Grundzahl sein. Das bedeutet, dass die Säule von nun an als das proportionsgebende und beherrschende Element jeder anspruchsvollen Architektur galt (Germann 1993). Durch das Studium römischer Bauten ergänzte und modifizierte man dieses anscheinend für die gesamte antike Architektur gültige Regelwerk: Am Amphitheater des Colosseums (□ vgl.1) sah man die Säulengenera Vitruvs übereinander in sog. Superposition angeordnet und deutete dies als Hierarchie: Demnach war die unten stehende Dorica eher für einfache, die
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oben abschließende Corinthia für höchste Bauaufgaben geeignet. Außerdem definierte man zwei weitere, römische Ordnungen: die sog. tuskische (Toscana) als eine vereinfachte Variante der Dorica mit nichtkanneliertem Schaft, ungeschmücktem Fries und Basis, und die in der Spätantike häufig angewandte sog. Composita, eine Verbindung der ionischen Volutenschnecken mit dem korinthischen AkanthusBlätterkranz. Hierdurch war die kanonische Abfolge der fünf nunmehr ‚klassisch‘ genannten Säulenordnungen definiert (□ 43; Forssman 1961). Gerade die antiken Bauten zeigten, dass die Ordnungen keineswegs nur als autonome konstruktive Stützglieder, sondern (wie beim Colosseum) auch als auf die tragende Wand applizierter zusätzlicher Schmuck eingesetzt werden konnten, z. B. als Halbsäule oder Pilaster. Hierbei war ihre Hauptfunktion offensichtlich der ‚Dekor‘, also der würdige, die Bedeutung des Gebäudes kommunizierende Schmuck im Sinne der modernen Wortbedeutung ‚Dekoration‘. Dieser durfte freilich niemals beliebig eingesetzt werden, sondern immer regelkonform und mit Bezug auf den Rang der jeweiligen Bauaufgabe: Ordnungen sollten nicht willkürliche Verzierung, sondern Würdezeichen mit Signalcharakter, nobilitierende Auszeichnung sein. Um die neuen ‚Gesetze‘ auch denjenigen bekannt zu machen, die die Ruinen nicht im Original studieren konnten, entstand um 1540 die Gattung des illustrierten sog. Säulenbuchs, in dem die fünf Ordnungen in ihrer hierarchisierten Abfolge und den jeweils charakteristischen, idealen Proportionen gemäß ausgewählten Vorbildern reproduziert wurden. Die Stützen und Gebälke wurden hierfür aus dem Zusammenhang der Gesamtgebäude isoliert und damit als frei verfügbare, beliebig kombinierbare, wenn auch buchstabengetreu anzuwendende Vokabeln neu definiert. Das gebräuchlichste und praktischste dieser Vorlagenbücher wurde 1562 von Jacopo Barozzi gen. Vignola vorgelegt, der zum ersten Mal ein Maßsystem auf Basis der Säulenhöhe statt des unteren
□ 43 Die fünf Säulenordnun gen, aus: Sebastiano Serlio, 4. Buch, 1537
Durchmessers vorschlug, was der von vorgegebenen Stockwerkshöhen ausgehenden Planungspraxis entgegenkam (Thoenes 1983). Gerade in Nordeuropa wurden diese dekontextualisierten Vorlagenwerke als Aufforderung verstanden, die importierten Bedeutungsträger relativ frei mit der lokalen Bautradition zu amalgamieren (Forssman 1956). Schwerpunkt der theoretischen Diskussion in den folgenden Jahrhunderten war stets, wie zwingend alle Details der vermeintlichen antiken ‚Gesetze‘ eigentlich seien, ob man neue Ordnungen dazuerfinden könne (was oft versucht wurde, sich aber niemals durchsetzte, sieht man von den gewundenen ‚salomonischen‘ Säulenschäften ab), wie viel Freiheit man sich z. B. bei Rhythmus, Proportion und Detailausbildung nehmen dürfe, oder ob man nicht doch besser zu einer stren-
Säulenordnungen
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geren, ‚klassizistischen‘ Auslegung dieser Formen zurückkehren müsse. Hierbei erwiesen sich die Zentren mit ihren Akademien als eher normverstärkend, die Peripherie dagegen als freier und selbstbewusster im Umgang mit dem Vokabular. Bis zum Ende des Vitruvianismus war es aber der Anspruch der meisten Architekten, die Übereinstimmung der eigenen Gestaltung mit den antiken Vorbildern zu behaupten. Allzu
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freizügige Abweichungen, z. B. bei Michelangelo, Borromini oder im Rokoko, lösten meist eine Gegenbewegung aus, die eine ‚Reinigung‘, also eine Rückkehr zu den ‚einzig richtigen, natürlichen‘ Formen forderte. Erst nach 1750 wurde mit der Rehabilitierung der Gotik und der Wiederentdeckung des Ägyptischen das normative Korsett der klassischen Ordnungslehre relativiert und zuletzt gesprengt.
S. Lorenzo in Florenz Die Wiedergeburt der Basilika
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enn das Findelhaus |▶ 1| als Gründungsbau der profanen Renaissancearchitektur gelten kann, so beansprucht ein weiteres Projekt Brunelleschis, die nach seinen Plänen errichtete Laurentiuskirche in Florenz, dieselbe Bedeutung im Bereich des Sakralbaus (Saalman 1993, S. 107–209). Der Neubau einer
□ 44 Florenz, S. Lorenzo, Grundriss der Gesamt anlage
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Sakristei, welche zugleich als Grabstätte des Stifters Giovanni de’ Medici dienen sollte, entstand (vermutlich ab 1419) im Zusammenhang einer Erweiterung und Erneuerung der alten, romanischen Stiftskirche S. Lorenzo; hierdurch wurde der Grundstein zu einem Komplex gelegt (□ 44), der sich in den folgenden 300 Jahren zu einem Monument der Patronatsfamilie und zu einem Seismographen der Architekturentwicklung im Florenz der Frühneuzeit entwickeln würde. S. Lorenzo zeichnet so den Aufstieg der Bankiers-Dynastie de’ Medici vom großbürgerlichen primus inter pares zum großherzoglichen Fürstenhaus nach. Zwei im folgenden Jahrhundert realisierte Anbauten, die nach dem Ahnherrn des Stifters Lorenzo de’ Medici benannte Bibliotheca Laurenziana und die sog. Neue Sakristei, eigentlich eine Grabkapelle für die beiden ersten hochadelig gewordenen Mitglieder des Hauses Medici, wurden durch den Florentiner Universalkünstler Michelangelo Buonarroti entworfen und stellen Marksteine in der Entwicklung von der sog. Hochrenaissance zum Manierismus dar (Argan/Contardi 1993, S. 94 –145). Ähnliche Bedeutung hat die Fas-
101 □ 45 Florenz, S. Lorenzo, sog. Alte Sakristei, F. Brunel leschi, beg. ca. 1419
sade der Kirche, die bis heute nicht realisiert, aber in hochrangig besetzten Konkurrenzen, deren Modelle und Entwürfe sich teilweise erhalten haben, zumindest geplant wurde – 1518 z. B. unter Beteiligung von bekannten Künstlern wie Michelangelo, Raffael und Sansovino (Baldini 1988, S. 29–42). Die seit etwa 200 Jahren in Florenz ansässige Familie Medici gehörte 1417, als deren Senior Giovanni in die Baukommission der Pfarrkirche seines Viertels berufen wurde, noch nicht zu den offiziell herrschenden, aber schon zu den (einfluss-)reichsten Familien der Stadt; eine nominelle politische Vormachtstellung war innerhalb der Republik hiermit zunächst nicht verbunden. Gemäß dem epocheprägenden ‚Prinzip Repräsentation‘ galt es vielmehr, durch äußere Zeichensetzung wie großherzige Stiftungen, Kunstpatronage, private Bauvorhaben, die Übernahme öffentlicher Ämter und ein bestimmtes Auftreten jenen Rang, den man eigentlich anstrebte, informell vorzubereiten und gleichsam induktiv herbeizuzwingen. Zu diesem Programm der schleichenden Eroberung des Stadtbildes gehörte auch der ab 1444 durch Michelozzo di Bartolommeo schräg gegenüber der Kirche errichtete neue Familienpalast, der im Zusammenhang mit dem Kirchvorplatz und der (niemals realisierten) Fassade ein eigenes Medici-Viertel proklamiert hätte (Saalman 1993, S. 152 ff.). Spätestens 1422–28 wurde nach Brunelleschis Plänen eine an das im Bau befindliche neue südliche Querhaus angelehnte, aus zwei unterschiedlich großen quadratischen Zentralräumen zusammengesetzte Kapelle errichtet, die heute als ‚Alte Sakristei‘ bekannt ist (□ 45). Gemäß der intendierten Funktion sollten an den Seitenwänden des Hauptraumes Schränke für die Messgewänder und in der Mitte ein großer Marmortisch zur Vorbereitung der Geräte
bereitgestellt werden. Unter diesem Tisch befand sich in aller Bescheidenheit das Grab der Stifter, die durch diese Doppelfunktion rechtfertigten, an einem kommunalen Sakralbau eine aufwendige private Grabkapelle mit kleinem Chorraum errichten zu lassen: Dem eigenen Nachruhm, der Frömmigkeit und dem öffentlichen Wohl war so gleichermaßen gedient. Als Modell für diesen Bau wählte Brunelleschi wie beim Findelhaus |▶ 1| einen traditionellen mittelalterlichen Typus: Als unmittelbares Vorbild gilt das romanische Baptisterium des Doms von Padua, das ebenfalls als Grabstiftung errichtet wurde (Saalman 1993, S. 129 f.). Auch hier übersetzte der Architekt das vorgefundene Schema konsequent in eine neue, als ‚antik‘ empfundene Formensprache. Hierbei verband Brunelleschi das Streben nach strenger, nüchterner Systematik mit einer erstaunlichen Bereitschaft zum Experiment im Detail, zum Ausprobieren verschiedener Möglichkeiten, mit diesem neuen formalen Repertoire nach selbst gesetzten Regeln zu arbeiten.
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Hauptraum und Chor der Kapelle sind nach dem gleichen Schema aufgebaut und werden durch ein gemeinsames, dreiteiliges Gebälk zusammengebunden. Beide besitzen Pendentifkuppeln: Über dem Altar ist sie in Anlehnung an das Schema der Findelhausloggia gestaltet, während der größere Raum – er misst 20 Ellen, ca. 11,6 m – eine zwölfteilige Schirmrippenkuppel trägt, die von runden Oculi belichtet wird. Wie am Ospedale besetzen kannelierte korinthische Pilaster die Ecken, an den Langseiten (über den ehemals dort vorgesehenen Sakristeischränken) vermitteln kleine Konsolen unter dem Architrav den Eindruck statischer Logik, indem sie scheinbar das Gebälk halten. Die Eckpilaster zeigen hierbei jeweils unterschiedliche Interpretationen des (fiktiven) Zusammenhangs von Freistütze und Wand. In den Ecken des Hauptraums erscheinen sie geknickt, als wären sie auf einen durchlaufenden, an dieser Stelle gefalteten Plan gezeichnet. An der Schnittstelle von Hauptraum und Chor sind dagegen zwei Pilasterseiten so sichtbar, als handele es sich um einen Freipfeiler, an dem im rechten Winkel zwei Wände zusammentreffen. An den Innenecken des Chores wird eine dritte Lesart vorgetragen, denn hier ist von den Pilastern nur ein zentimeterbreiter Streifen zu erkennen, als handele es sich um Pfeiler in der Ebene der Wand, die bis auf einen minimalen Vorsprung völlig von dieser überdeckt sind. Die Stirnwand des Hauptraumes besteht aus drei Jochen, zwei seitlichen schmaleren unter dem Hauptgebälk, und einem breiteren, durch einen Bogen zum Chor sich öffnenden mittleren Feld. Diese Disposition, eine sog. rhythmische Travée, dürfte antiken Triumphbögen wie z. B. dem Septimius-Severus-Bogen in Rom nachgebildet sein und wird zu einem prägenden Motiv, das Brunelleschi in vergrößerter Form an den Stirnwänden des anschließenden Querhauses wiederholte und das sein Nachfolger und Bewunderer Leon Battista Alberti zum Leitmotiv seines Entwurfs für S. Andrea
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in Mantua |▶ 3| erheben wird. Die seitlichen Wandstücke werden durch flache Blendnischen gegliedert, die darin liegenden Türen in die Nebenräume sind von Ädikulen, also Dreiecksgiebeln auf kleinen freistehenden ionischen Säulen, gefasst. Die starke Buntheit und unruhige Gestaltung dieser Wand durch plastische Reliefs mit Heiligenfiguren passt nicht zur nüchternen Formensprache Brunelleschis und ist auf eine um 1429 unter dem Sohn des gerade verstorbenen ersten Auftraggebers, Cosimo, erfolgte Umgestaltung durch den Bildhauer Donatello zurückzuführen, welche nach der Erzählung des ersten Biographen Brunelleschis, Manetti, zur Entzweiung der vorher befreundeten Künstler führte (Fiore 1998, S. 65; Manetti/ Saalman 1970, S. 108 f.). Die ‚Alte Sakristei‘ war nur das Probestück, das die Baukommission vermutlich 1422 dazu bewog, Teile eines angeblich bereits mit Ziegelpfeilern begonnenen Neubaus wieder abzureißen (Pizzigoni 1991, S. 83) und nun auch die gesamte Kirche nach einem Plan Brunelleschis und mit reichlicher finanzieller Unterstützung der Medici erneuern zu lassen. Als Giovanni de’ Medici 1429 starb, war allerdings nur das anschließende Querhaus begonnen. Das Langhaus der Kirche (□ 46) wurde erst nach längerer Unterbrechung unter Cosimo de’ Medici 1442–69 vollendet, so dass bei manchen Details wie der Gestaltung der Seitenkapellen zu bezweifeln ist, ob sie den ursprünglichen Plänen des bereits 1446 verstorbenen Brunelleschi entsprechen. Die Grundprinzipien der Architektur gehen aber eindeutig auf den ersten Architekten zurück und belegen deutlich, wie Brunelleschi dem Ziel der Systematisierung seiner neuen Formensprache seit dem Findelhaus näher gerückt war. Der Neubau von S. Lorenzo ist eine dreischiffige Säulenbasilika über lateinischem Kreuzgrundriss mit leicht ausladendem Querhaus und kurzem einschiffigem Chor. Grundmodul ist das Vierungsquadrat, dessen Fläche in etwa
103 □ 46 Florenz, S. Lorenzo, Langhaus, F. Brunelleschi, beg. ca. 1422
dem Hauptraum der alten Sakristei entspricht. Das Langhaus umfasst vier, der Chor und jeder Kreuzarm ein Quadrat. Die Nebenchorkapellen und Seitenschiffe halbieren dieses Grundmaß, die (später angefügten) Seitenschiffskapellen sind auf schmale Rechtecke von einem Viertel der Modultiefe reduziert. Diese Anlage entspricht dem in Florenz von den großen gotischen Bettelordenskirchen S. Croce und S. Maria Novella gewohnten Schema, nimmt aber einige charakteristische Veränderungen vor. So sind die Hauptschiffe – abgesehen von der überkuppelten Vierung – nicht gewölbt, sondern mit flachen Kassettendecken geschlossen, was dem Vorbild antiker (Markt-)Basiliken entspricht, wie sie Vitruv im fünften Buch von „De architectura“ beschreibt. Die Seitenschiffe sind mit einer anderen Variante der Flachkuppel, sog. Hängekuppeln bedeckt. Die dunklen, nischenartigen Seitenkapellen, die erst nach 1460 angebaut wurden, sind dagegen mit Quertonnen gewölbt. Im Langhaus gelingt zum ersten Mal die für die gesamte spätere Renaissancearchitektur fundamentale, systematische Verklammerung von Säulen- und Pilasterarchitektur, also jener Elemente, die am Findelhaus noch unverbunden nebeneinander standen. Die von einer Archivolte eingefassten Öffnungen der Seitenkapellen werden jeweils von kannelierten korinthischen Pilastern gerahmt, die ein dreiteiliges Gebälk tragen, das den gesamten Bau durchläuft und zusammenbindet. Ihr Gegenüber finden sie in korinthischen, glatten Freisäulen, welche die schiffstrennenden Arkaden stützen. Während die Bögen an der Findelhausloggia direkt auf den Kapitellen auflagen, ist hier ein Kämpferblock eingeschoben, der in Höhe und Aufbau mit dem Gebälk der Seitenschiffe exakt korrespondiert und somit die beiden unterschiedlichen Systeme – hier eine pilastergegliederte, von Bögen durchbrochene
Wand, dort eine offene Säulenarkade – als aufeinander bezogene, tendenziell gleichwertige Varianten ausweist. Hierdurch ist erstmals ein Axiom der Renaissancearchitektur ausformuliert, nämlich die prinzipielle Austauschbarkeit von offenen und geschlossenen Wandmodulen, Freistütze und Pilaster, Säule und Pfeiler. Während in der gotischen Architektur die gewölbetragenden Dienste als scheinbar funktionale, von der Gesamtform und Proportion der Architektur determinierte, sekundäre Trag-
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elemente definiert waren – die überlängten, kreuzförmigen Vierungspfeiler von S. Lorenzo folgen noch diesem Denkmodell –, kehrt sich nun die Hierarchie um: Das einzelne Stützglied erscheint als das seine eigenen festgelegten Maße und Proportionen vorgebende primäre Element, die Wand dazwischen ist nicht mehr als eine formal neutrale, sekundäre Restfläche, die offen oder geschlossen, durchbrochen oder anders variierend gestaltet sein kann. Hierbei wird meist die Illusion erweckt, dass die (bei Brunelleschi konsequent in grauem Stein ausgeführten) Säulen, Pfeiler, Bögen und Gebälke ein eigentlich tragendes Gerüst seien, das nur dort, wo es gerade sinnvoll erscheint, durch neutrale weiße Putzfelder ausgefüllt wurde. Die Mauer als eigentlich raumbildendes und konstruktives Element wird hierdurch ästhetisch neutralisiert. Entsprechend ungestaltet stellt sich die Obergadenwand des Mittelschiffs dar, die außer den hohen Rundbogenfenstern keine Säulen- oder Pilastergliederung und damit auch keine architektonische Gestaltung im eigentlichen Sinne aufweist. Die Säulenordnung griechischer Tempel (□ vgl. 26), die Vitruv zum eigentlichen Maßstab aller anspruchsvollen antiken Architektur erhob, wurde so vom Sonder- zum Regelfall der Baugliederung erklärt, indem man sie im wörtlichen wie übertragenen Sinne dem Bauwerk als eigentlich ‚maß-gebend‘ auflegte. Leon Battista Alberti wird diese Deutung der Kolonnade als ‚durchbrochene Wand‘, welche wiederum nach der Proportion der Säulen zu gliedern sei, in seinem 1452 vollendeten Buch „De re aedificatoria“ (I, 10) auch theoretisch rechtfertigen. Das Experimentieren mit dem Verhältnis von Stütze und Wand, Säule und Pilaster findet eine bemerkenswerte Fortsetzung in jenen Anbauten an S. Lorenzo, die Michelangelo ab 1524 im Auftrag der inzwischen zu Stadtherren aufgestiegenen Medici entwarf. Nachdem sie 1494–1512 aus der um ihre Autonomie ringenden Republik vertrieben worden waren,
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kehrten sie auf dem Umweg über Rom mit militärischer Unterstützung zurück. Nach Leo X. war es mit Clemens VII. ein zweites Mal gelungen, ein Familienmitglied auf den Stuhl Petri zu heben. Ausdruck ihrer neuen, nun europäisch abgesicherten Vorherrschaft war die Entscheidung, die zuvor konfiszierte wertvolle Büchersammlung Lorenzo de’ Medicis nun wieder dauerhaft in der Heimatstadt zu installieren: Die Familie erweiterte ihre Stiftung um einen anspruchsvollen Bibliotheksbau, einen langgestreckten Saal im Obergeschoss des südlich an die Kirche anschließenden, ab 1457 errichteten Kreuzgangs. Der Eingangsraum, der sog. ricetto der Bibliothek (□ vgl. 10), umschließt eine originelle, wie eine Freiskulptur in die Raummitte gestellte dreigeteilte Treppe, deren Tonmodell Michelangelo erst 1557 lieferte. Der hohe, steile Kubus der in drei Geschosse gegliederten Raumhülle zeigt unter Aufnahme der gewohnten Materialästhetik – weißer, neutraler Putz, grauer Haustein – eine eigenartige Gestaltung: Das oberste Register ist nach dem Schema Brunelleschis durch aufgelegte, flache Pilaster gegliedert; im darunterliegenden Hauptgeschoss, zu dem die Treppe emporführt, zeigt Michel angelo, wie massiv und stark die tragende Mauer eigentlich ist, indem er sie durch eckige Nischen aushöhlt und in diese Rücksprünge Säulen hineinstellt. Die Wände zwischen den eingetieften Stützen treten dagegen leicht vor und sind mit Blendädikulen und darüber liegenden, ebenfalls blinden Mezzaninfenstern gestaltet, als wolle der Architekt zeigen, dass Gliederung und Wandöffnung, Form und Funktion nicht notwendig in logischem Zusammenhang stehen. Darauf verweisen auch die mächtigen Konsolen, die unterhalb der Säulen angebracht sind, obwohl diese, in Wandnischen stehend, gar nicht gestützt werden müssen. Wie in einem Positiv-Negativ-Vexierbild fragt der Betrachter sich ständig, welche denn nun die ‚eigentliche‘ Wandebene sei, was trägt und was lastet, was Architektur, was Dekoration ist.
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Ein weiterer Annexbau beantwortet diese Frage in ganz anderer Weise: Das riesige, ab 1605 dem flachen Chorabschluss Brunelleschis angefügte Oktogon der Fürstenkapelle kündigte alle Bescheidenheit auf und negierte den Maßstab der Basilika Brunelleschis, um im Stadtbild mit dessen Domkuppel zu konkurrieren. Der Bruder des amtierenden Großherzogs, Don Giovanni de’ Medici, soll sie selbst entworfen haben. Man überzog die Wände dieses wie ein Heiligtum wirkenden monumentalen Kuppelraumes vollständig mit den in Florenz besonders geschätzten reichen Stein-Einlegearbeiten in sog. Pietra-Dura-Technik. In Ädikulen, welche im Treppenhaus der Laurenziana so rätselhaft leer blieben, stehen hier die Bronzedenkmäler der verstorbenen Fürsten, als handele es sich um Heiligengräber (Scheuer 1982). Michelangelo selbst hatte die Tür zu dieser für Florenz neuen Form der postmortalen Überhöhung der Medici aufgestoßen, indem er
1520–24 Brunelleschis ‚Alte Sakristei‘ durch ein symmetrisch am gegenüberliegenden Querhaus situiertes Pendant, die sog. Neue Sakristei spiegelte. Der in seinen Grundmaßen mit dem Vorbild identische Raum erhält einen völlig anderen Charakter durch die monumentalen, wandfüllenden Epitaphien der 1516 und 1519 jung verstorbenen Medici-Vettern Lorenzo und Giuliano, welche außerhalb ihrer damals noch republikanischen Vaterstadt die Herzogstitel von Urbino und Nemours erworben hatten. An einem einzigen Bauwerk lässt sich somit die Entwicklung von der Frührenaissance, welche tastend die neuen Regeln des ‚antiken Bauens‘ erst wieder zu etablieren suchte, über deren kalkulierten Bruch durch Michelangelo, bis hin zu einer neuen Ästhetik nachvollziehen, in der Farbe, Materialprunk und sakrale Überhöhung profaner Herrschaft jene Verbindung eingingen, die für den Barock konstituierend sein würde.
S. Andrea in Mantua Wandpfeilerkirche und ‚Etruskischer Tempel‘
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eon Battista Alberti ist der vermutlich einflussreichste Protagonist der zweiten Renaissance-Generation nach Brunelleschi und gehört zur kleinen Gruppe der Architekten, deren theoretisches und gebautes Werk die gleiche epochemachende Bedeutung beanspruchen kann. In Genua als unehelicher Sohn einer Florentiner Exilantenfamilie geboren, fand Alberti seinen Weg zur Baukunst über die Sprache: Ausgebildet als Jurist, trat er zunächst als Schriftsteller im Umkreis des päpstlichen Hofes hervor. Als Humanist verfasste er vor allem lateinische Werke zu verschiedenen Gegenständen, die
stilistisch mit Cicero und Quintilian konkurrieren sollten. Nach Texten zur Malerei und zur Bildhauerei folgte 1452 sein Buch „De re aedificatoria“ (Über das Bauwesen). Erst nach der theoretischen Auseinandersetzung mit seinem Gegenstand und eingehenden Antikenstudien übernahm Alberti ab 1453 erste Bauaufträge: Im Unterschied etwa zu Palladio sind Albertis Bücher nicht Bilanz und Apologie des eigenen gebauten Werkes, sondern eher als selbständige literarische Werke und Programmschriften zu verstehen, mit denen er sich bei potentiellen Auftraggebern zu profilieren gedachte.
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Die Baugeschichte der Mantuaner Stifts- und Wallfahrtskirche S. Andrea ist hierfür ein gutes Beispiel. 1459 besuchte Alberti im Gefolge Papst Pius’ II. die oberitalienische Stadt, in die das Oberhaupt der katholischen Kirche eines der zahlreichen Konzilien jener Jahre einberufen hatte. Hier regierte der ehrgeizige Markgraf Lodovico Gonzaga. Alberti hatte kurz zuvor für den regional konkurrierenden Herzog Sigismondo Malatesta von Rimini ein Umbauprojekt einer gotischen Franziskanerkirche zur Grablege der Dynastie vorgelegt, welche den bezeichnenden Spitznamen Tempio Malatestiano (Tempel der Malatesta) erhielt (Bulgarelli 2006, S. 282–295). Die eher impliziten und auf formale Erneuerung zielenden Antikenbezüge Brunelleschis wurden nun explizit thematisiert und programmatisch aufgeladen, indem der antike, also heidnische Tempel zum erklärten Vorbild des Sakralbaus aufstieg. Albertis erste Kirche in Mantua, S. Sebastiano (Bulgarelli 2006, S. 454–463), begonnen um 1460, blieb unvollendet, sie war als Zentralbau über griechischem Kreuzgrundriss geplant. Der Sohn seines Auftraggebers, Kardinal Francesco Gonzaga, bemängelte, man könne kaum erkennen, ob es sich bei diesem Bauwerk um eine Moschee, Synagoge oder Kirche handeln solle (Poeschke/Syndikus 2008, S. 202). Das Zentralschema war also noch keineswegs als Sakralbautypus akzeptiert |▶ 6, 21|. Bei seinem zweiten Kirchenbau in Mantua suchte der Architekt daher wieder engeren Anschluss an die christliche Bautradition des lateinischen Kreuzes. Der Vorgängerbau der heutigen Kirche S. Andrea in Mantua war eine im Kern romanische dreischiffige Basilika mit Querhaus |▶ 2|. Vielverehrtes Hauptheiligtum war eine Blutreliquie Christi, die in einer Krypta verwahrt und nur am Himmelfahrtstag gezeigt wurde. 1401 sollen hierbei 10 000 Gläubige gezählt worden sein, die alte Kirche erwies sich als zu klein (Bulgarelli 2006, S. 149). 1470 bat Markgraf Lodovico den zufällig vorbeireisenden Alberti,
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seine Meinung zu einem vorliegenden Neubauprojekt des Florentiner Architekten Antonio Manetti Chiaccheri abzugeben. In einem Brief (Bulgarelli 2006, S. 510) bestätigte der Gutachter zunächst artig, dass das vorliegende Modell ihm gefalle, es passe aber nicht wirklich zur Intention des Bauherrn. Er lege selbst einen Gegenentwurf bei, der ,geräumiger, repräsentativer, freundlicher und noch dazu preisgünstiger‘ sei. Die von ihm vorgeschlagene Tempelform sei in der Antike etruscum sacrum, also etruskisches Heiligtum genannt worden. Alberti nutzte somit das schlagende Argument der humanistischen Bildung, um die Überlegenheit seines Entwurfs zu beweisen und an das antike Größe zwingend einfordernde Selbstverständnis seines Auftraggebers zu appellieren. Natürlich wusste niemand, auch Alberti nicht, was man zu Vitruvs Zeiten unter einem etruskischen Tempel verstand. Das philologische Konstrukt diente ihm aber als Rechtfertigung, aus christlicher Bautradition und den uminterpretierten Vorbildern ausgewählter römischer Ruinen eine der einflussreichsten und interessantesten Raumschöpfungen des Jahrhunderts zu kreieren und diese mit der Weihe vorgeblich echter antichità zu versehen. Der Entwerfer starb bereits kurz nach dem Baubeginn, die Fertigstellung der Kirche erfolgte erst im 18. Jh. Dennoch kann man weitgehend von einer Planung Albertis ausgehen, denn dieser legte großen Wert darauf, dass der Architekt in seinen Zeichnungen (lineamenta) alles so festlegte, dass die spätere Ausführung (structurae) unabhängig durch andere, hier einen gewissen Luca Fancelli, erfolgen konnte. Albertis wichtigstes Vorbild war die Konstantins- bzw. Maxentiusbasilika in Rom, ein gewaltiger Profanbau des 4. Jh.s auf dem Forum Romanum, dessen noch aufrecht stehende nördliche Längsseite drei in Querrichtung tonnengewölbte rechteckige Anräume zeigt; das Hauptschiff war dagegen kreuzgratgewölbt (Günther 2009, Abb. 95). Die Ruine galt lange
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Zeit als Friedenstempel und somit als besonders geeignetes Muster für einen Kirchenbau. Alberti übernahm den Typus eines Saals mit quergerichteten, kapellenartigen Anräumen für das Langhaus seiner Kirche (□ 47), aber er bereicherte das Vorbild durch zwischen zwei Pilastern eingeschobene schmale Travéen, welche dort, wo bei der römischen Basilika lediglich eine massive Wand mit vorgelegter Säulenstellung die großen tonnengedeckten Abseiten trennte, je eine kleinere, zweigeschossige Kapelle vorsahen. Es entstand somit eine rhythmische A-B-A-Wandgliederung, wie sie Brunelleschi an der Chorwand der Alten Sakristei |▶ 2| nach dem Vorbild römischer Triumphbögen erstmals angewandt hatte: Diese vor- und zurückspringende Raumstruktur dürfte auch von einem anderen antiken Tempel, dem Inneren des römischen Pantheons (□ vgl. 17) beeinflusst sein. Alberti erhob dieses (bei Brunelleschi noch isolierte) Motiv zu dem den ganzen Bau bestimmenden Prinzip, das nicht nur den Innenraum, sondern auch die Westfassade der Kirche prägt. Die schmaleren Joche werden jeweils von schlanken korinthischen Pilastern gerahmt, die das umlaufende Kranzgebälk des Langhauses tragen. Sie wirken wie massive Pfeiler, zwischen die tonnengewölbte Nischen eingetieft sind. Diese öffnen sich zum Mittelschiff als weite Arkaden, welche von einer kleineren Pilasterordnung gestützt werden, für die Alberti eine eigene, unkanonisch-kannelurartige Kapitellform erfand. Zwischen Kapitell und Archivolte ist ein friesartiges Band eingeschoben, das die Kapellenräume und die Mittelschiffswände zusammenschließt, als sei es hinter der großen Pilasterordnung hindurchgeflochten. Alle Raumteile des Langhauses sind einheitlich durch kassettierte Tonnengewölbe bedeckt, ein Motiv, das Alberti anscheinend von römischen Triumphbögen übernahm – im Mittelschiff sind die Kassetten allerdings nur illusionistisch und vermutlich nachträglich aufgemalt. Ähnlich differenziert
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wird die Belichtung des insgesamt eher dunklen Raumes gehandhabt: Während die großen Kapellen durch (ursprünglich größere) Öffnungen in den Außenwänden erhellt werden, sind die kleinen Kapellen gegen das Mittelschiff hin fast vollständig abgeschlossen und geben lediglich indirektes Licht durch kleine Oculi, die zugleich erkennen lassen, dass die scheinbar massiven ‚Pfeiler‘ in Wirklichkeit ‚Räume‘ enthalten. Diese gedämpfte, sorgfältig abge-
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108 □ 48 Mantua, S. Andrea, Haupt fassade, L. B. Alberti, beg. 1471
stimmte Lichtregie wird heute durch die erst 1732 von Filippo Juvarra hinzugefügte Kuppel über der Vierung gestört, die nach dem Vorbild römischer Barockkirchen |▶ 22| den Chorraum mit einer dramatischen Zäsur vom Langhaus absetzt. Alberti hatte wohl ebenfalls eine Tambourkuppel vorgesehen, diese wäre aber sicher niedriger und weniger durchfenstert ausgefallen. In der Uminterpretation des settecento wird noch einmal die maßstabsetzende Bedeutung von S. Andrea für den späteren barocken Kirchenbau verdeutlicht: Alberti erfindet hier die Wandpfeiler-Saalkirche mit quergerichteten Seitenkapellen über lateinischem Kreuzgrundriss, also jene Raumform, die 100 Jahre später von den Jesuiten aufgegriffen und weltweit propagiert wird |▶ 12|. Auch das Langhaus von St. Peter in Rom zeigt, allerdings als Basilika, ein ähnliches System |▶ 21|. Die Westfassade von S. Andrea (□ 48) nimmt das Motiv der rhythmischen Travée auf und
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komplettiert es durch einen abschließenden Dreiecksgiebel, so dass man die Front auch als eine auf die Wand projizierte Variation einer klassischen antiken Tempelportikus lesen kann. Die Austauschbarkeit von Säule und Pilaster, Kolonnade und Wand war ja bereits von Brunelleschi erprobt worden – Alberti rechtfertigte sie theoretisch durch seine Deutung der Ordnung als an die Wand angeheftete columnatio afficta („De re aedificatoria“, Buch VI, Kap. 12). Das Triumphbogenmotiv wird noch dadurch bereichert, dass die Vorhalle der Kirche mit einer weiteren, kleinen Arkadenöffnung auch in Querrichtung erschlossen ist – dies entspricht dem römischen Typus des sog. Quadrifrons, also eines in vier Richtungen durchschreitbaren Bauwerks, den Alberti vom spätantiken sog. Janusbogen auf dem Forum Boarium in Rom kannte. Dort finden sich auch ähnliche flache Rundbogennischen zur Gliederung der seitlichen, schmaleren Wandabschnit-
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te. Der gotische Ziegelturm der Vorgängerkirche blieb erhalten und fungiert als Scharnier der L-förmigen Platzbebauung. Verstörend und wenig harmonisch wirkt dagegen ein weiterer Bogen, der über dem Tympanon das Rundfenster der hinter der Vorhalle ein Joch zurückspringenden Westfassade überdeckt. Es ist bis heute umstritten, ob dieses ca. 1495 hinzugefügte Element auf Alberti zurückzuführen ist – auch seine Funktion erscheint unklar: Das vorgesetzte Gewölbefeld könnte als Abschattung des Westfensters dienen, um so die Belichtung des Langhauses zu harmonisieren; vielleicht sollte es auch als eine Art Baldachin im Zusammenhang mit einer geplanten Heiltumsweisung der Blutreliquie auf dem Vorplatz benutzt werden (Poeschke/Syndikus 2008, S. 279 –297). Für Albertis Planung könnte sprechen, dass auch für den sog. Tempio Malatestiano in Rimini ein ähnlicher Bogen über dem Hauptgesims vorgesehen war (Bulgarelli 2006, S. 312 f.) und die Maße des Portalbogens der Vorhalle und der darüber befindlichen Blende annähernd übereinstimmen.
Die epochale Bedeutung von S. Andrea liegt – neben der ‚Erfindung‘ des Wandpfeiler-Saalkirchen-Typus – vor allem in einer neuen strukturellen Dichte, welche Alberti dem Ineinandergreifen von großer und kleiner Ordnung, Wand und Öffnung, Haupt- und Nebenräumen, Innen und Außen verleiht. Lichtführung und Plastizität des Raumgefüges gehen weit über die etwas trockene Systematik Brunelleschis hinaus und bereiten eine neue Stufe der Antikenrezeption vor, die nicht mehr nur die sorgfältig kopierte Einzelform, sondern auch die vielfältige Differenziertheit räumlich-plastischer Gefüge rezipiert und fruchtbar macht. Zugleich bemüht sich Alberti darum, neue, eigene, in sich stimmige Systeme zu erfinden, indem er verschiedene antike Motive überblendet: Portikus- und Triumphbogenmotiv verschmelzen zu neuen Raum- und Fassadentypen. Das innovative Potential der Antikenrezeption wird hier erstmals in jenem Umfang aktiviert, der die kühnen Neuschöpfungen der St.-Peter-Bauhütte erst möglich machte |▶ 21|.
Palazzo Pitti und Boboli-Garten in Florenz Palazzo in Villa
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lorenz und die Medici erscheinen im Rückblick manchmal wie Synonyme: Man identifiziert den Namen der späteren Herrscherfamilie so sehr mit der Stadt, dass leicht übersehen wird, dass der Aufstieg der einen den Untergang der anderen, nämlich der freien Republik bedeutete, die sich nach 1520 zur Hauptstadt eines mit Waffengewalt und politischen Intrigen aus dem Boden gestampften (Groß-) Herzogtums Toskana verwandelte. Während andere freie Kommunen, etwa Venedig oder Amsterdam, ihre Autonomie während der ge-
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samten Frühen Neuzeit zu wahren verstanden, steht Florenz exemplarisch für die epochentypische Neuformierung und Ausdehnung fürstlicher Macht, welche die ehemals selbständigen Städte in vielen Fällen unterwarf, entmachtete und als Zentren und Bühne ihrer Landesherrschaft neu definierte. Kein anderes Bauwerk in Florenz belegt diesen Wandel so markant wie der auf der südlichen Arnoseite gelegene Palazzo Pitti, der sich über vier Jahrhunderte vom Wohnhaus eines reichen Patriziers zur Königsresidenz weiter-
Palazzo Pitti und Boboli-Garten in Florenz
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entwickelte, ohne den historischen Kern der Anlage hierbei so stark zu überformen, dass er (wie etwa beim Louvre, ▶ 35) seine Ablesbarkeit verloren hätte. Mit dieser Verwandlung begründet der Bau zugleich einen neuen Typus, den sog. Palazzo in Villa, also den am Stadtrand gelegenen Palast, der die Charakteristika von fürstlichem Stadt- und Landleben miteinander vereinte und eine neue, die beiden ursprünglich getrennten Sphären der ummauerten Kommune und des umgebendem Territoriums verklammernde Herrschaftsform des Fürstenstaates exemplarisch repräsentierte. 1457–66 errichtete der Bankier Luca Pitti am Rande des dem Stadtkern gegenüberliegenden Viertels Oltr’arno, angelehnt an den Boboli-Hügel, einen Palast, der allein in seinen Dimensionen die Bauten konkurrierender Familien wie der Medici (sie ließen ihren Palast bei S. Lorenzo ab 1444 von Michelozzo errichten, Cherubini/Fanelli 1990) und der mit ihnen familiär verbundenen Rucellai (deren Palast erbaute Alberti ab 1455, □ vgl. 21) bei weitem übertraf; ab 1489 trat noch der ähnlich ambitionierte Palazzo Strozzi Sangallos hinzu (Markschies 2000). Die Konkurrenz der großen Familien um strukturell ähnliche, hochambitionierte ‚Wohnhäuser‘ innerhalb der Stadt belegt, dass der Anschein republikanischer Gleichrangigkeit der Patrizier von den Medici auch dann noch gewahrt wurde, als sie unter Cosimo dem Älteren, dem Sohn des Bauherrn der Alten Sakristei |▶ 2| bereits eine informelle Vorherrschaft ausübten (Lingohr 1997, S. 143–218). Diese fragile Situation spiegelt die unter anderem von Giorgio Vasari und Antonio Billi kolportierte Legende, Cosimo habe einen gigantischen Palastentwurfs Brunelleschis als unangemessen zurückgewiesen, den Luca Pitti dann in seinem Stadtviertel ausführen ließ – mit dem ausdrücklichen Wunsch, die Fenster seines Bauwerks sollten größer sein als die Portale des Palazzo Medici (Lingohr 1997, S. 200, 265). Abgesehen davon, dass bis
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heute keine Belege für die Realisierung des Projekts eines bereits zwölf Jahre Verstorbenen durch Dritte aufgetaucht sind, fällt es schwer, die Architektursprache des Palazzo Pitti mit der des Findelhauses oder S. Lorenzos irgendwie zu verbinden |▶ 1, 2|. Formal betrachtet handelt es sich eher um einen Gegenentwurf, der auf jede, für Brunelleschis Denken zentrale, Säulenarchitektur verzichtet und eine spätmittelalterliche, genuin florentinisch-kommunale Profanbauweise ins Hypertrophe steigert. Die weitgehend einheitlich mit zyklopenhafter Rustika gestaltete dreigeschossige, lediglich durch Zwischengesimse mit Balustraden gegliederte siebenachsige Fassade nimmt Bezug auf den Palazzo della Signoria. Schon Michelozzos Palazzo Medici hatte typische Bauelemente des 1299 –1314 errichteten Rathauses der Stadtrepublik für ein privates Wohnhaus usurpiert. Die gigantischen Maße – 36 m Gesamthöhe, die gleichgestalteten Arkaden um Türen und Fenster erreichen 7 m – überbieten freilich alles bisher Dagewesene. Die beiden Obergeschosse zeigen eine größere Gleichmäßigkeit und Präzision der Steinschnitte, was zu der Vermutung veranlasste, Alberti (er arbeitete in jenen Jahren für die befreundete Familie Rucellai) könne hier seine römischen Antikenkenntnisse, z. B. von der mächtigen Brandwand des Augustusforums, eingebracht haben (Frommel 2009, S. 48 f.). Der finanzielle und politische Stern der Pitti sank mit dem Tod des Bauherrn 1472, so dass der Palast unvollendet liegenblieb. 1549 erwarb der inzwischen zum Herzog von Florenz aufgestiegene Cosimo I. de’ Medici den riesigen Torso in bevorzugter Lage für seine Gattin Eleonora von Toledo. Ab 1558 wurde der Innenhof neu gestaltet, welcher sich nun als eine unkonventionelle Dreiflügelanlage gegen den anschließenden Boboli-Garten öffnet. Ob diese für die Zukunft bedeutsame Weiterentwicklung des bisher in Italien vorherrschenden geschlossenen, vierflügeligen Blockschemas (vgl. den gleichzeitigen Palazzo Farnese in Rom, |▶ 19|)
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□ 49 Florenz, Palazzo Pitti, Hauptfassade und Boboli-Garten von Süden, unbek. Architekt, beg. 1457, Gemälde von Giusto Utens, 1599
sich den Zufällen der Baugeschichte oder einer programmatischen Neuorientierung des Palastes auf den Garten verdankt, kann nicht endgültig entschieden werden. Ein Gemälde des Niederländers Giusto Utens ( □ 49) zeigt eine Vogelschauansicht der Gesamtanlage um 1600, die vor allem durch die Ausnutzung der Hanglage für eine Abfolge geometrisch bepflanzter Terrassen geprägt ist. Der scharfe Kontrast zwischen dem eng bebauten Oltr’arno-Viertel und der verschwenderischen Weite des Vorplatzes sowie der hinter dem Palast im Schutz der auf dem Hügel drohenden Festung Belvedere platzierten Grünanlagen begründet ein neues, suburbanes Residenzkonzept, das die Distanzierung des Herrschers von seinen Untertanen betont. Dies wird besonders deutlich durch den (auch auf dem Bild von Utens gezeigten, nach links führenden) berühmten ‚Korridor des Vasari‘, der die am Stadtrand gelegene ‚Villa‘ mit dem zur herzoglichen Stadtresidenz umgebauten ehemaligen Kommunalpalast über den Ponte Vecchio hinweg verbindet. Dieser erlaubte den Medici, sich ungesehen über den Häuptern ihrer ehemaligen
Mitbürger zwischen Wohnsitz und Regierungszentrum zu bewegen – eher ein bauliches Zeugnis des Misstrauens als echter Souveränität. Bartolommeo Ammanati, der Architekt der Hoffassaden des Palazzo Pitti (□ 50), war zunächst als Bildhauer hervorgetreten und arbeitete in Rom und Venedig, bevor er um 1555 in seine Heimat Florenz zurückkehrte und zum offiziellen ‚Hofarchitekten‘ (als zweiter Mann hinter Giorgio Vasari) ernannt wurde. Vergleicht man sein plastisches Hauptwerk, den monumentalen, aber steifen Neptunbrunnen von 1559 auf der Florentiner Piazza della Signoria (Morét 2003, S. 185–224), mit seinen architektonischen Entwürfen, z. B. der Brücke bei SS. Trinità (Kiene 2002, S. 124–132), so scheint seine Begabung für die Baukunst mindestens ebenbürtig gewesen zu sein (Kiene 2002, S. 88 –107). Er sah sich vor die Aufgabe gestellt, für den Innenhof des Herzogspalastes (realisiert 1560 –78) eine eigenständige, anspruchsvolle, zeitgemäße Architektursprache zu finden, die es aber dennoch mit der demonstrativen Grobheit und Wucht der hundert Jahre älteren Hauptfassade aufnehmen sollte. Als
Palazzo Pitti und Boboli-Garten in Florenz
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□ 50 Florenz, Palazzo Pitti, Innenhof, B. Ammanati, beg. 1558
Grundstruktur wählte er ein für diese Bauaufgabe geläufiges dreigeschossiges Arkadenschema nach dem Vorbild des römischen Colosseums (□ vgl. 1), das auch beim Hof des Palazzo Farnese in Rom Pate stand |▶ 19|. Das hierbei angewandte sog. Theatermotiv verbindet eine geschosshohe Gliederung durch Zwischengebälke tragende Halbsäulen verschiedener Ordnungen mit in die Joche eingestellten Arkaden. Die Abfolge der Säulengenera – unten toskanisch, im piano nobile ionisch, im obersten Geschoss korinthisch – entspricht dem Kanon der sog. Superposition, einer in der Renaissance kanonisierten hierarchischen Abfolge der Ordnungen (vgl. Themenblock · Säulenordnungen, S. 98 f.). Originell und verstörend ist aber nun die Idee, diese an sich klassische Disposition mit dem vom Außenbau übernommenen Motiv der Rustika so zu überblenden, dass die Säulenschäfte der Dorica im unteren Geschoss nahezu vollständig, in den oberen Geschossen jeweils in einem streifenartigen Muster alternierend mal glatt bearbeitet, mal ‚in der Bosse stehend‘ ausgeführt erscheinen. Vorbild hierfür war anscheinend das vom Florentiner Sansovi-
III. Schlüsselwerke
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no in Venedig ab 1536 erbaute Münzgebäude, die Zecca, an deren Bau Ammanati beteiligt war |▶ 16|. Auch die Art der Bandrustizierung wechselt: Im Erdgeschoss erscheinen die Steine durchgängig kissenartig gerundet, im piano nobile als scharfkantige Quader, im obersten Geschoss als weiche Bänder. Das alternierende Schema greift auch auf die Keilsteine der Arkadenbögen über, die vor- und zurückspringend das Wandrelief plastisch beleben. Das oberste Geschoss zeigt als weitere Variante einen scheitrechten Bogen, also eine Art Rechteckrahmen. Die zweite und vierte Achse sind heute mit kunstvollen Ädikulenfenstern in der Art Michelangelos geschlossen, die Ammanati auch in die allzu großen Erdgeschossbögen der Platzfassade eingesetzt hatte. Ursprünglich waren wohl alle Arkaden (wie heute nur noch die im Erdgeschoss) loggienartig geöffnet (Kiene 2002, S. 99), was die Plastizität und Kontrastwirkung der Fassade noch verstärkte. Der Gesamteindruck der Hoffront ist keineswegs harmonisch, aber im höchsten Maße neuartig, eigenständig und absolut unverwechselbar in seiner radikal individualisierten Handschrift.
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Das italienische Wort maniera, nach dem diese Spätphase der Renaissance auch Manierismus genannt wird, meint genau dies: Das Kapriziöse, nie Gesehene, Unnachahmliche, manchmal auch zwanghaft Originelle wird gesucht – die Brechung der Norm und die Aufkündigung des Ideals gilt als Zeichen von Souveränität und Autonomie, nach der in jenen Jahren alle Beteiligten, Künstler und Auftraggeber, gleichermaßen strebten. Die maßstabsetzende Antike, um deren korrekte Wiederbelebung sich die vorigen Generationen so sehr bemüht hatten, wird hier zum Spielmaterial, an dessen eigenwilliger Weiterentwicklung sich eigentlich erst der wahre Künstler erweist. Die zahlreichen Bezüge zu anderen Bauten galten den Zeitgenossen als besondere Raffinesse und Ausweis umfassender Bildung des Entwerfers. Von diesem Geist ist auch der von denselben Künstlern gestaltete Garten geprägt. Der Übergang zwischen Palasthof und Boboli-Hügel wird zunächst durch eine Grotte als Fortsetzung des Erdgeschosses markiert, die man durch innenliegende Treppen ersteigen kann. Darüber öffnet sich eine U-förmige Anlage, die nach ihrer barocken Umgestaltung (1634) mit steinernen Begrenzungsmauern unübersehbar an einen römischen Zirkus ( □ vgl. 27 ) erinnert und als Freilufttheater genutzt werden konnte (Capecchi 1993). Der heute hier aufgestellte Brunnen mit ägyptischem Obelisk entstammt einer späteren Umgestaltung, denn der Garten wurde den sich wandelnden Vorlieben der Herrscher stets angepasst. Ein charakteristisches Zeugnis der Familie Habsburg-Lothringen, welche die Medici 1739 beerbte, ist das sog. ‚Caffehaus‘ (1774) im oberen Teil des Parks. Nur noch wenige Elemente zeugen heute vom oft bizarr wirkenden, die Überraschung und das Grotesk-Komische betonenden Geschmack des späten Cinquecento: So die auf einer Schildkröte reitende, die krankhafte Fettleibigkeit des Porträtierten aggressiv bloßstellende Statue des Hofzwergs Morgante von Valerio Cioli (1560). Zu den cha-
rakteristischen Erfindungen der Epoche gehören sog. Grotten, künstliche Höhlen, in denen mit großem Aufwand von stuckierten Tropfsteinen, Muscheln und Kieseln, Fresken und Marmorstatuen eine Übergangszone zwischen ‚roher‘ Natur und Kunstwelt geschaffen wurde. In der nach ihrem Gestalter Bernardo Buontalenti benannten Grotte (□ vgl. 7) wurden 1583 sogar zwei nicht vollendete Skulpturen Michelangelos, die vom gescheiterten römischen Julius-Grabmal-Projekt |▶ 21| übriggebliebenen sog. Sklaven, in die Inszenierung mit einbezogen (heute durch Abgüsse ersetzt). Die überraschende, verunsichernde Wirkung dieser Zauberwelten konnte noch durch unerwartet losspritzende Wasserspiele und ähnliche ‚Wunder‘ verstärkt. Das berühmteste Beispiel eines manieristischen Rätselgartens ist wohl der Sacro Bosco (der ‚Heilige Wald‘) des Grafen Vicino Orsini in Bomarzo bei Viterbo, indem man durch aufgerissene Riesenmäuler künstliche Höhlen betritt und ein ‚schiefes Haus‘ die Besucher taumeln lässt (Bredekamp/Janzer 1985). Ein weiteres, zentrales Elemente der Gartengestaltung sind aufwendige Brunnenanlagen, wie der ab 1618 am westlichen Endes des inzwischen erheblich erweiterten Parks angelegte sog. isolotto (Morét 2003, S. 262–272), eine künstliche Insel in einem kreisrunden Wasserbecken, in deren Mitte sich die vom Hofbildhauer Giambologna 1576 zunächst für das ‚Grüne Theater‘ hinter dem Palast geschaffene und dann hierher versetzte Statue des Neptun zwischen Nil, Ganges und Euphrat erhebt – ein wichtiges Vorbild für viele spätere Anlagen (z. B. dem Vierströmebrunnen Berninis in Rom, |▶ 26| oder Schloss Frederiksborg, |▶ 10|). Mit seiner skulpturalen Ausstattung erweist sich der Garten als ein Abbild der Welt und des Kosmos, die in einem geometrisch kontrollierten System suggestiv evoziert werden. Nicht nur die Gesamtdisposition der suburbanen Residenz mit ihrem Garten, auch die später umgestalteten Innenräume des Palaz-
Palazzo Pitti und Boboli-Garten in Florenz
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zo Pitti hatten maßstabsetzende Wirkung für zahlreiche europäische Residenzen: In Versailles |▶ 36| übernahm man die hier 1641– 47 von Pietro da Cortona entwickelte Idee, in einer Folge repräsentativer Deckengemälde Mitglieder der Fürstenfamilie jeweils einer bestimmten Planetengottheit zuzuordnen. Leo von Klenze
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kopierte 1826–35 auf Wunsch seines Bauherrn Ludwig I. im Königsbau der Münchner Residenz nahezu wörtlich die Hauptfront des Palastes, welche in mehreren Schritten bis ins 19. Jh. – unter strenger Beibehaltung der quattrocentesken Formensprache – zu einer 205 m breiten Dreiflügelanlage ausgebaut worden war.
Palazzo del Te in Mantua Manierismus und Antikenevokation
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iulio Pippi, seiner Herkunft nach Romano genannt, Schüler und künstlerischer Nachfolger Raffaels in Rom, folgte 1524 dem Ruf des Markgrafen Federico Gonzaga in dessen oberitalienische Residenzstadt Mantua. Etwa ein Jahr später begann er mit der Errichtung eines kleinen vorstädtischen Palastes, des (nach seinem Standort in den sumpfigen Niederungen südlich der Stadt benannten) Palazzo del Te. 1530 besuchte der spanische und deutsche König Karl V. aus dem Hause Habsburg auf dem Weg zur Kaiserkrönung Mantua und besichtigte den noch im Bau befindlichen, aber provisorisch fertiggestellten neuen Sommersitz. Noch im selben Jahr wurde die Markgrafschaft zum Herzogtum erhoben. Was auf den ersten Blick wie eine zufällige Reihung künstlerbiographischer, baugeschichtlicher und politischer Ereignisse aussieht, stellt bei genauer Betrachtung ein kausal vernetztes Wirkungsgefüge dar. Mantua, ein von mächtigen Feinden wie Mailand, Venedig und dem Kirchenstaat umlagertes kleines Territorium in der Po-Ebene, das traditionell engen Anschluss an die Habsburger suchte, rang wie die meisten Mittelstaaten Italiens um Statusverbesserung in der Konkurrenz der Fürstentümer, die aber nur durch allgemein anerkannte Autoritä-
III. Schlüsselwerke
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ten wie Papst oder Kaiser ausgesprochen und durchgesetzt werden konnte. Ein solcher Anspruch wollte nachvollziehbar begründet und in den Köpfen und Herzen der höherrangigen Entscheidungsträger verankert werden: Militärische Eroberungen schieden aus, also bot sich Kunstpatronage an. Es galt, den mächtigsten Mann seiner Zeit so zu beeindrucken, dass dieser den Wünschen eines kleinen Markgrafen sein Ohr lieh. 1532 kehrte Kaiser Karl V. für einen weiteren Besuch im Palazzo del Te ein, nun als Gast des neuernannten Herzogs Federico. Die Rechnung war aufgegangen. Der Palazzo bildet eine etwa quadratische, geschlossene Hofanlage von ca. 70 m Seitenlänge mit einem nach Osten anschließenden großen Garten, der von Flügelbauten gesäumt und von einer halbkreisförmigen Arkaden-Exedra abgeschlossen wird. Die Fassade besitzt nur ein durch Pilasterordnung hervorgehobenes Hauptgeschoss, hinter dem sich zusätzlich ein Mezzanin und ein (heute abgerissenes) Attikageschoss verbargen. Den besten Eindruck vom Originalzustand gewinnt man durch eine Serie im Kunstmuseum Düsseldorf verwahrter Aufrisszeichnungen eines gewissen Ippolito Andreasi aus dem späteren 16. Jh. (Tafuri 1998, S. 170 f.). Die Anlage besteht eigentlich aus vier
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L-förmigen Flügelbauten, die jeweils ein um die Ecke geführtes Appartement aus unterschiedlich großen Räumen enthalten, verbunden durch in die Seitenmitten eingeschobene Loggien als Zäsuren und den Bau durchquerende Achsen (Tafuri 1998, S. 166). Die geläufige Benennung der Anlage als Palast überdeckt die eigentliche Funktion des Gebäudes, das kein offizieller Regierungssitz, sondern als vorstädtische villa suburbana ein Ort des otium, also der Erholung von der offiziellen Politik sein sollte. Der Bau ergänzte die alte, ebenfalls von Giulio erweiterte Residenz in der Innenstadt (Tafuri 1998, S. 189–201) um einen quasi privaten Rückzugsort, in dem der Legende nach die Geliebte des Fürsten dauerhaft residierte: Hier war der Zugang reglementiert, was zugleich einen freieren Umgang mit allen Fragen der Repräsentation – vom Einsatz der Säulenordnung bis zur Freskenausstattung – erlaubte. Doch damit nicht genug: Innerhalb der Villa gibt es an der entlegensten Ecke des Gartens einen nur durch eine schmale Tür betretbaren, noch privateren Rückzugsort des Fürsten, einen für sich abgeschlossenen kleinen Hof, den sog. Geheimen Garten (giardino segreto), mit einer Grotte, einer Loggia und wenigen Privaträumen (Tafuri 1998, Abb. 212, 216–220). Das Spiel mit einer immer eingeschränkteren ‚Öffentlichkeit‘, das Bild vom Herrscher, der sich temporär verbirgt und selbst entscheidet, wem er in diese scheinbar privaten Refugien Zutritt gewährt, wird zu einem wichtigen Aspekt fürstlichen Bauens in den kommenden Jahrhunderten. Ob Federico den Palazzo del Te jemals in diesem Sinne benutzte, ist zweifelhaft: Er bevorzugte eine im 18. Jh. zerstörte, ebenfalls von Giulio gestaltete Villa im nahen Marmirolo, der giardino segreto entstand vermutlich erst am Ende des 16. Jh.s. Das betont Extravagante der Anlage zeigt sich besonders deutlich in der ebenfalls von Giulio Romano konzipierten Freskenausstattung. Neben Räumen mit klassischen antiken
Themen – z. B. dem Saal mit der Geschichte von Amor und Psyche, angeblich eine Allegorie auf die ‚heimliche‘ Liebe des Fürsten zu seiner hier lebenden Geliebten Isabella Boschetti – finden sich auch hochoriginelle Darstellungen wie der berühmte ‚Sturz der Giganten‘: Ein kleiner, ca. 6 × 6 m messender Eckraum ist vollständig und bruchlos mit einem Rundumfresko bemalt, das in plakativer Drastik den Sieg der Götter über das gegen sie aufbegehrende, als Unholde karikierte Riesengeschlecht zeigt, welches nicht nur mit Felsbrocken beworfen, sondern von
□ 51 Mantua, Palazzo del Te, Freskierter Raum mit dem ‚Sturz der Giganten‘, G. Romano, nach 1525
Palazzo del Te in Mantua
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einer zusammenbrechenden Architektur begraben wird, die derjenigen des Palazzo ähnelt (□ 51). Der große Hauptsaal im herzoglichen Appartement schließlich trägt den treffenden Namen Sala dei Cavalli, denn die Wände mit aufgemalter korinthischer Pilasterordnung sind hier nicht von Ahnenbildern der Gonzaga, sondern durch lebensgroße Pferdeporträts geziert – augenzwinkernde Erinnerung an die Funktion des Vorgängerbaus als Gestüt des Markgrafen. In anderen Räumen werden Stuckdekorationen erprobt, wie man sie z. B. von den Ruinen der römischen Kaiserpaläste auf dem Palatin kennt: Insgesamt dominiert die Vielfalt, Überraschung und die Variation bestimmter, vielfach wiederkehrender Elemente (z. B. der Dorica oder der Kassettendecke) als gestalterisches Prinzip. Der Palast war wie bereits erwähnt kein völliger Neubau, sondern ging aus der Umgestaltung eines älteren Wirtschaftsgebäudes an dieser Stelle hervor – das erklärt manche Unregelmäßigkeiten in seiner baulichen Struktur, allerdings nicht, warum diese so demonstrativ hervorgehoben wurden. Zum einen begründen sich die Abweichungen von der Spiegelgleichheit in dem Vorrang, der hier den individuellen Raumfolgen und -größen gegeben wurde, nach deren Vorgaben sich – eine Seltenheit in der frühneuzeitlichen Architektur – ausnahmsweise die Fassaden zu richten hatten. Zum anderen scheint Giulio Romano geradezu lustvoll mit diesen Brechungen und Relativierungen der generell als Gestaltungsprinzip zugrunde gelegten Symmetrie zu spielen, welche den Besucher auffordern, die zahlreichen kleinen Bild-(Ver-)Störungen selbst zu entdecken und sich einen Reim darauf zu machen. Das Erzeugen unaufgelöster Dissonanzen gilt in der Epoche des Manierismus als Zeichen besonderer Kunstfertigkeit – Michelangelos Laurenziana-Ricetto (|▶ 2|, □ vgl. 10), die Grotten des Boboli-Gartens (|▶ 4|, □ vgl. 7) oder die Madrigalkompositionen des Carlo Gesualdo sind weitere Beispiele dafür.
III. Schlüsselwerke
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Diese Mischung aus Rauheit und Virtuosentum, hemmungsloser Phantasie und gewolltem Konventionsbruch kennzeichnet auch die acht Fassaden des Palastes, von denen keine der anderen gleicht |▶ vgl. 4|. Grobes Rustikamauerwerk, hier freilich aus Stuck dem lokalen Backstein aufmodelliert, überzieht in betonter Unregelmäßigkeit und einer Vielfalt von Oberflächenvariationen alle Außenwände. Diese werden mal parataktisch (also gleichmäßig), mal rhythmisch durch dorische Pilaster oder Halbsäulen gegliedert, von Öffnungen und geschlossenen, leeren Nischen unterbrochen. Alle Fenster haben gerade Stürze, die Portale und Loggien sind dagegen gewölbt. Die Nord- und Südfassade des Hofes überzeichnet das Thema ‚Brechung‘, indem mit schöner Regelmäßigkeit jene Triglyphen, die in der Mitte einer Travée sitzen, nach unten herausgerutscht erscheinen. Die Dreiecksgiebel über den Fenstern erweisen sich bei genauer Betrachtung als in der Mitte von einem allzu wuchtigen Schlussstein auseinandergesprengte, geknickte Gesimsstücke (□ 52). Die Gartenfassade nach Osten zeigt einen ganz anderen, deutlich klassischeren und eleganteren Charakter: Hier herrschen glatte (ehemals wohl bunt freskierte) Putzflächen vor, die Fensternischen sind von variierenden Serlianen gefasst, ein (von einer Renovierung des späten 18. Jh.s stammender) Dreiecksgiebel über der dreigeteilten Loggia vervollständigt das antikennahe Bild. Man betritt den Garten über eine kleine Brücke, die Fassade spiegelt sich in Fischteichen, die in der Art eines Burggrabens eine Abstandsfläche erzeugen. Hier wird deutlich, dass bei allem sensationell Neuen auch das nobilitierende Alte, nämlich die Rekonstruktion einer antiken Villa nach dem Verständnis der Zeit, evoziert werden sollte. Daher können die Brüche, vermauerten Fenster und Unregelmäßigkeiten in den Hoffassaden auch als Andeutungen eines ruinenhaften Zustands verstanden werden, so als habe man in Mantua gerade ein römisches Atrium-Peris-
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□ 52 Mantua, Palazzo del Te, Hoffassade, G. Romano, beg. 1525
tylhaus à la Vitruv ausgegraben und wieder bewohnbar gemacht. An den Bauten Giulio Romanos wird deutlich, dass Fortschritt und Rückblick in Renaissance und Manierismus als eine Art ‚experimentelle Archäologie‘ untrennbar zusammengehören. Altes nachzuschaffen war zugleich etwas genuin Neues und Innovationsförderndes. Einmaliges und nie Gesehenes war für einige Jahrzehnte interessanter als die angestrengte Suche nach korrekten, scheinbar ewig gültigen Lösungen. Die Antike war hier kurzzeitig befreiende Inspiration, nicht strenges Regelwerk. Zugleich blieb diese Sichtweise aber auf Italien und ein bis zwei Künstlergenerationen beschränkt, wie die spärliche Nachfolge des Palazzo del Te belegt: Der in Landshut residierende Herzog Ludwig X. von Bayern warb die Mantuaner Künstler noch von der Baustelle ab und ließ sich 1536–43 an der Isar eine ziemlich exakte Kopie des Vorbilds realisieren – die-
ser sog. Italienische Bau blieb aber nördlich der Alpen von durchschlagender Wirkungslosigkeit (Lauterbach 1998). Der ‚nordische Manierismus‘ |▶ 8, 10, 30| ging andere Wege, er entwickelte die Schemata der lokalen Spätgotik in Richtung einer überbordenden, eher regellosen als Regeln bewusst in Frage stellenden Schmuckfreude weiter. Auch andere Künstler jener Jahre, z. B. Andrea Palladio, experimentierten (vor allem in seinen Palästen in Vicenza) mit willkürlich vergröberten Rustikaformen und kühnen Rhythmen – seinen Weltruf verdankte er dagegen den ‚zahmeren‘, zur Nachahmung bestens geeigneten klassischen Lösungen wie der Villa Rotonda (▶ 18). Giulio Romanos Radikal-Manierismus war für die Architekturgeschichte eine Sackgasse – aber eines der faszinierendsten, kühnsten, individuellsten architektonischen Experimentierfelder, das je betreten wurde.
Palazzo del Te in Mantua
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Bramantes Tempietto in Rom Zentralbau all’antica □ 53 Rom, sog. Tempietto bei S. Pietro in Montorio, D. Bramante, um 1502
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ünstlerische Innovationen richten sich gemeinhin nicht nach der Dezimalzählung unserer Zeitrechnung. In einigen wenigen Fällen liegt das Baudatum eines epochemachenden Gebäudes genau an einer Jahrhundertwende – ein Hinweis darauf, dass diese Koinzidenz mehr als zufällig ist. Seit dem Jahr 1300 beging die katholische Kirche ‚runde‘ Jubiläen der
III. Schlüsselwerke
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Menschwerdung Christi als sog. Heilige Jahre, in denen durch die Wallfahrt nach Rom ein besonderer Sündenablass zu erlangen war. Im Jahr 1500 führte Papst Alexander VI. Borgia hierfür einen neuen, symbolträchtigen Ritus ein, indem er eine zwischen den alle 25 Jahre begangenen ‚Jubel-Jahren‘ stets verschlossene, später sogar vermauerte Tür der Hauptkirchen Roms für die Dauer eines Jahres den Pilgern öffnete. Jedes Vierteljahrhundert ist somit in Rom mit einer deutlich erhöhten Pilgerzahl zu rechnen, und es lohnte sich, zu diesem Anlass die zahlreichen Heiltumsstätten renovieren oder verschönern zu lassen. Neben den großen Basiliken zählen auch die Orte, an denen Heilige ihr Martyrium erlitten, zu den Pilgerzielen. Der wichtigste unter ihnen, Petrus, der erste Papst, über dessen Grab sich die Peterskirche erhebt |▶ 21|, soll auf dem nahen Hügel Gianicolo gekreuzigt worden sein, und zwar auf eigenen Wunsch mit dem Kopf nach unten, um sich demütig vom Kreuzestod Jesu Christi zu unterscheiden (Zuccari 2004, S. 69). An dieser Stelle erhebt sich das Franziskanerkloster S. Pietro in Montorio, und jenes Loch, in das der Kreuzesstamm des Apostelfürsten eingetieft gewesen sein soll, markiert zugleich die Mitte des Kreuzgangs (Bruschi 2002, S. 56–63). Das Kloster unterstand, wie oft in Rom, einem fremden Patronat, dem des Königspaares Ferdinand und Isabella von Spanien |▶ 28|, die 1481–1500 alle Bauten neu errichten ließen. Nun fehlte noch ein kleines Sanktuarium, das die verehrte Stelle des Martyriums schützen und hervorheben
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sollte. Wann genau diese für die spätere Architekturgeschichte höchst einflussreiche Kapelle errichtet wurde, ist bis heute umstritten. Eine Bauinschrift in der Krypta ist auf 1502 datiert (Zuccari 2004, S. 61), so dass man eine Planung um die Jahrhundertwende annehmen kann. Der Bau könnte auch mit der postumen Ehrung eines 1481 verstorbenen, spanischstämmigen Franziskaners, des Seligen Amedeo Men(d) ez da Silva im Zusammenhang stehen, der in einer Grotte, welche vielleicht die Krypta des Tempietto bildet, Visionen durch den Erzengel Gabriel empfing, die erstmals 1502 bekannt gemacht wurden (Borsi 1989, S. 251). Donato Bramante entwarf einen zweigeschossigen Rundbau, bestehend aus einer (vielleicht älteren) Unter- und einer um wenige Stufen erhöhten Oberkirche (□ 53). Den zylindrischen Kernbau umläuft eine dorische Säulenstellung, welche einen Umgang bezeichnet und über einem Gebälk als Abschluss eine (um 1500 noch ungewöhnliche) Balustrade trägt. Das die schlanke Gesamtwirkung prägende scheinbare Obergeschoss ist de facto ein Obergaden, der das Innere des einheitlichen Kuppelraums belichtet. Die heutige Form der Kuppelgestaltung sowie die Stuckdekoration der Krypta entstammen Renovierungskampagnen des 17. Jh.s. Oftmals wird der Zentralbau als idealer Sakralraumtypus der Renaissance charakterisiert – so z. B. von Sebastiano Serlio, einem der einflussreichsten Architekturtheoretiker des Jahrhunderts, in seinem 1540 erschienenen 3. Buch (Wittkower 1969, S. 7–32). Schon Brunelleschis ‚Alte Sakristei‘ in S. Lorenzo |▶ 2| kann als Beispiel hierfür gelten, zeigt aber zugleich die Diskrepanzen, welche sich zwischen Raumform und Funktion auftun: Christliche Kirchen und Kapellen sind genuine Richtungsräume, die zudem Orte unterschiedlicher Sakralität und Zugänglichkeit bezeichnen. Das rituelle Zentrum, der Chor- oder Altarbereich, liegt normalerweise nicht in der Raummitte, sondern an einer meist baulich hervorgehobenen Au-
ßenwand. Brunelleschi löste das Problem durch die Addition zweier quadratischer Zentralbaukompartimente und relativierte hierdurch die intendierte Richtungslosigkeit des Bautyps. Dennoch hatte es in der christlichen Sakralbautradition immer Zentralbauten gegeben, allerdings bevorzugt für bestimmte Aufgaben, z. B. als Baptisterien, Palastkapellen, Grab- und Memorialbauten. In Rom konnte man neben frühchristlichen Beispielen (dem Baptisterium des Laterans, S. Stefano Rotondo und S. Costanza, siehe Fischer-Pace 1988, Abb. 417, 447, 523) und dem vielbewunderten Pantheon (□ vgl. 17) auch die Ruinen zahlreicher antiker Rundbauten studieren (z. B. das Grabmal der Caecilia Metella, die sog. Vesta-Tempel am Tiber und auf dem Forum sowie in Tivoli, siehe Fischer-Pace 1988, Abb. 21, 60 f, 64, XIX), welche die irrige Meinung befestigten, der überkuppelte Zentralbau sei der ideale römische Tempeltypus gewesen. Keines der genannten Beispiele verfügt aber über eine dorische Ringhalle, wie sie Bramante mit dem Tempietto in die neuzeitliche Architekturgeschichte einführte. Während der Metopen-Triglyphen-Fries zum verbindlichen Kennzeichen dieser Ordnung wurde, weichen andere Details vom heutigen, an griechischen Bauten wie dem Athener Parthenon (□ vgl. 26) orientierten Idealbild eines ‚echten dorischen Tempels‘ ab: Die aus Granit gefertigten, offensichtlich wiederverwendeten Säulenschäfte sind nicht kanneliert und haben Basen, wie es der römischen Variante dieser Ordnung entspricht (vgl. das Marcellus-Theater und das Colosseum (□ vgl. 1) , Fischer-Pace 1988, Abb. 52): Bramante schuf hier eine Lösung, die für die gesamte Frühe Neuzeit vorbildlich wurde, bis man um 1750 die archaisch-griechischen Tempel in Unteritalien (z. B. Paestum) kennen und schätzen lernte. Der Architekt wählte diese in der allmählich sich konstituierenden Bedeutungshierarchie eigentlich niederrangige Ordnung mit offensichtlichem Bezug zu Vitruv, der im ersten Buch unter dem wichtigen Leitbegriff
Bramantes Tempietto in Rom
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120 □ 54 D. Bramante: Idealprojekt für den Hof des Tempietto bei S. Pietro in Montorio, nach: S. Serlio, 3. Buch, 1540
Dekorum die Dorica aufgrund ihrer kräftigen, derben Form als besonders geeignet für die Tempel männlicher, starker Gottheiten (christlich übersetzt: Heiliger) erklärte (Vitruv/Fensterbusch 1976, I.2., S. 39 f.). So einfach das Gebäude auf den ersten Blick erscheint, so raffiniert variiert Bramante die sekundären Elemente der Wandgliederung: Außen und innen wechseln sich jeweils Nischen, durchfensterte und geschlossene Wandkompartimente unterschiedlicher Breite ab, das Hauptportal durchbricht den strengen Takt der Ringhalle und überlagert die hinterlegten Pilaster. Im Innern ist der differenzierte Rhythmus durch den (vermutlich nachträglich) unsensibel in die östliche Nische gezwängten Altar gestört – selbst bei diesem Ausnahmebauwerk waren Zentralraum und rituelle Konvention nicht miteinander zu versöhnen. Schon die Zeitgenossen erkannten die maßstabsetzende Bedeutung dieses Projekts: Andrea Palladio schrieb über Bramante, er sei
III. Schlüsselwerke
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,der erste gewesen, der die gute und schöne Architektur wieder ans Licht gebracht hätte, die seit der Antike bis zu diesem Zeitpunkt verborgen gewesen war‘ (4. Buch, 17. Kapitel). Serlio nimmt S. Pietro in Montorio in sein 1540 erstmals erschienenes drittes Lehrbuch, das eigentlich dem antiken Tempelbau gewidmet ist, mit vier ganzseitigen Tafeln auf (Serlio 1544, fol. 41– 44) und unterstützt hierdurch die Deutung des Tempietto als erstes Beispiel einer vollständig geglückten Wiederbelebung der Antike ‚auf Augenhöhe‘ mit den Vorbildern. Hierzu trägt sicher auch der Versuch bei, den gesamten Bau auf Basis ganzzahliger Verhältnisse eines vorgegebenen Moduls – Vitruv lässt grüßen – zu erstellen. Hierfür wählte er ein gebräuliches Maß, den römischen palmo (eine Handspanne, ca. 22 cm): Durchmesser des Säulenkranzes und Gesamthöhe sollten jeweils 50 palmi, die Cella 25 palmi messen usw. Es spricht für das ästhetische Gespür des Architekten, dass er sich nicht zum Sklaven der eigenen Maßgesetze machte, sondern durchaus optische Korrekturen wie eine Erhöhung der Kuppelzone zuließ (Günther 2009, S. 236 f.). Dass ausgerechnet der aus dem Herzogtum Urbino gebürtige und lange Zeit in Mailand tätige Architekt Donato Bramante zum ‚Wiederentdecker‘ einer ‚vollwertigen‘ Antikenrezeption werden sollte, war keineswegs vorherzusehen, wenn man seine in zwei Jahrzehnten zuvor (1480–99) in der lombardischen Metropole errichteten Bauten, z. B. den ebenfalls als Zentralbau konzipierten Chor der dortigen Kirche S. Maria delle Grazie (ab 1492) vergleicht (Frommel 2009, S. 93–105). Sie wirken kleinteilig, in manchem überkompliziert und noch keineswegs so monumental und plastisch wie seine späteren römischen Projekte. Anscheinend bewirkte der direkte Kontakt mit den hier
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in ganz anderer Zahl und Qualität erhaltenen antiken Ruinen (z. B. den Kaiserthermen) einen gestalterischen Innovationsschub, an dem die Kunstgeschichte bis heute den Übergang von der Früh- zur Hochrenaissance festmacht – man könnte auch sagen: den Schritt von der tastenden Wiedererlernung der antiken Architektursprache zu ihrer souveränen Beherrschung. Serlios Abbildung überliefert außerdem ein erstes Projekt Bramantes, das den Rundbau im Sinne einer Positiv-Negativ-Form statt wie heute in einen neutral kontrastierenden rechteckigen Hof in einen konzentrisch organisierten runden Säulenumgang gestellt hätte ( □ 54). Die Ecken des Kreuzgangs wären wie bei Bramantes St.-Peter-Projekten | ▶ 21| von komplexen Trikonchos-Anräumen ausgefüllt worden und zwischen Peripteros und Kolonnade nur ein schmaler Umgang geblieben (Bruschi 2002, S. 81). Ob das der Wirkung des Tempietto wirklich zuträglich gewesen wäre, sei dahinge-
stellt; es wäre aber eine in ihrer Komplexität zwischen Innen- und Außenräumen spielende einmalige Gesamtanlage entstanden, welche freilich die signethafte Klarheit der heutigen Situation relativiert hätte. Bramantes Rotunde war zwar als Kirchenbau erkennbar ungeeignet, aber sie wurde mit ihrer schlanken, gestreckten Kontur und der geglückten Balance zwischen offenen und geschlossenen Elementen, Kern und Umgang zum idealen Vorbild klassisch-antikischer Kuppelgestaltungen; ein Motiv, das von den Londoner Bauten Christopher Wrens (|▶ 44|, □ vgl. 16) über das Pariser Panthéon |▶ 49| bis zum Kapitol in Washington eine überaus reiche Nachfolge finden würde. S. Pietro in Montorio ist noch immer eine wichtige Pilgerstätte – auch wenn heute nicht mehr der ‚authentische‘ Ort des Apostelmartyriums, sondern dessen epochemachende architektonische Fassung das Interesse der Besuchermehrheit auf sich ziehen dürfte.
Wladislawsaal und Belvedere auf der Prager Burg Deutsche und welsche Sitten
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urchblättert man Überblickswerke zur Architekturgeschichte, so kann leicht der Eindruck entstehen, es handele sich beim Gegenstand der Darstellung um eine Abfolge voraussetzungslos geschaffener Neubauten, die allenfalls mit dem Meisterwerk ein paar Seiten (bzw. Jahre) zuvor kommunizierten und wiederum als Vorbild und Maßstab für die nächste epochale Neuschöpfung, vielleicht in einer weit entfernten Ecke Europas gedient hätten. Durch die bewährte chronologische Abfolge, die ja auch in diesem Buch weitgehend eingehalten
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ist, wird zusätzlich der Eindruck vermittelt, dass innovative Formen und Gestaltungsweisen an einem genau benennbaren Datum erfunden und danach überall bekannt und verfügbar gewesen seien. So verwundert es im Lichte einer linear gedachten ‚Entwicklungsgeschichte‘, dass um 1500, als Bramante in Rom die Gründungswerke der Hochrenaissance erschuf |▶ 6, 21|, auf der Burg der böhmischen Residenzstadt Prag für König Wladislaw II. aus dem polnischen Hause Jagiello ‚noch‘ ein gotischer, riesiger Festsaal eingewölbt wurde. Die luftigen
Wladislawsaal und Belvedere auf der Prager Burg
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Arkaden der benachbarten, königlichen Gartenvilla mit dem (modernen) Namen Belvedere erinnern an die Loggia des Florentiner Findelhauses von Brunelleschi |▶ 1|, das zur Zeit des Baubeginns (1538) bereits 120 Jahre alt war. Die Kunstgeschichte, als moderne Wissenschaft im 19. Jh., also einem Zeitalter des Fortschritts und der beständigen Beschleunigung entstanden, hat solche Zeitverschiebungen allzu lange als retardierend charakterisiert und danach bewertet, wann welche Innovation wo von wem eingeführt und danach in einem entlegenen Land rezipiert werden konnte, als handele es sich um naturwissenschaftliche Entdeckungen oder technische Erfindungen: Wer schnell und möglichst exakt die Formen der (im Rückblick so charakterisierten) ‚Innovationsregionen‘ übernahm, wurde als fortschrittlich, geschmackssicher und kunstliebend gelobt, wer dagegen an lokalen Traditionen festhielt und diese moderat bzw. eigenständig weiterentwickelte, galt als wenig originell oder zurückgeblieben Nur mühsam setzte sich in der Kulturgeschichte das Modell einer positiv verstandenen ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ durch. So würdigte man erst im vergangenen Jahrhundert, dass wirtschaftlich und kulturell prosperierende Regionen Nordeuropas wie die Niederlande um 1500 eine hochentwickelte, mit Italien mühelos konkurrierende, aber eben noch an der Spätgotik orientierte Kunstproduktion besaßen: Eine Epoche, für die der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga mit einem heute als Standardwerk geltenden Buch im Jahr 1919 den einprägsamen Titel „Herbst des Mittelalters“ gefunden hat. Tradition als ein wesentliches legitimierendes Element steht in der gesamten Frühen Neuzeit gleichberechtigt neben Innovation. Daher müssten Um- und Ausbauten, Adaptionen und vorsichtige Ergänzungen vorhandener architektonischer Ensemble eigentlich im gleichen Umfang neben die Neubauten jeder Epoche gestellt werden, wollte man ihrer faktischen Be-
III. Schlüsselwerke
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deutung im damaligen Baugeschehen gerecht werden. Da die hierbei zu berücksichtigenden Rahmenbedingungen aber jeweils Sonderlösungen forderten, die weniger exemplarisch als spezifisch waren, lassen sich die ‚großen Linien‘ der Architekturgeschichte nun einmal besser an den Neubauprojekten nachzeichnen. Dennoch sollte auch gelegentlich ein beschränkter Eingriff in einen die Jahrhunderte übergreifenden Baukomplex als ‚Schlüsselwerk der Architekturgeschichte‘ betrachtet werden. Der Königspalast der Prager Burg, genannt Hradschin, ist ein Beispiel für ein solches über Jahrhunderte sukzessiv entwickeltes Bauensemble. Heute wird die langgestreckte, auf einem Bergsporn westlich der Moldau gelegene Anlage in der Fernsicht von einer frühklassizistischen, vereinheitlichenden Fassadengestaltung (Nikolaus Pacassi) und dem aus dem mittleren Burghof emporragenden spätgotischen Veitsdom (Peter Parler u. a., begonnen 1344, vollendet im 20. Jh.) geprägt (Fehr 1961, Taf. 1). Etwa auf Höhe des Domchors unterbricht die monotone südliche Pilasterfassade eine vielgestaltige Baugruppe, die aus der gotischen Allerheiligenkapelle, dem nach Süden rechtwinklig aus der Front hervorspringenden sog. Ludwigsflügel und dazwischen einem Saalbau mit vier monumentalen, gekuppelten Kreuzstockfenstern in Renaissancerahmungen und einer Rustikamauerwerk vortäuschenden Sgraffito-Putzdekoration besteht. Es handelt sich um den im Kern mittelalterlichen Königspalast, der 1493–1502 um ein drittes Obergeschoss erhöht wurde, das aus einem einzigen zusammenhängenden, längsrechteckigen Festsaal von 16 × 62 m Fläche und 13 m Höhe besteht. Dieser ungegliederte und nahezu undekorierte Raum war für größte Versammlungen und Festlichkeiten geeignet, auch für Reiterturniere – eine flache ‚Pferdetreppe‘ ermöglichte den Zugang hoch zu Ross. Prägendes Element des nüchternen Raumkastens ist ein den gesamten Saal in fünf mächtigen, miteinander verzahnten
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□ 55 Prag-Hradschin, Königliche Burg, Wladislawsaal, B. Ried, 1493 – 1502
Schleifsternjochen zusammenfassendes Gewölbe, das scheinbar direkt aus dem Dielenboden wächst (□ 55). Die ‚organisch‘ geschwungene, an Blüten erinnernde Linienführung der beweglichen, in sich verdrehten Rippen hat offensichtlich keine primär statische Funktion, sondern wird als dekoratives Prunkstück heimischer Wölbkunst vorgeführt. Zugleich bindet die Netzstruktur den riesigen Raum optisch zusammen, lässt ihn dynamisch bewegt und atmend erscheinen: Eine geradezu ‚barocke‘ Wirkung, die mit den strengen tektonisch-seriellen Formen italienischer Renaissancegewölbe |▶ 3, 17| niemals zu erreichen wäre. Architekt war der vermutlich aus dem österreichischen Piesting stammende königliche Werkmeister Benedikt Ried (auch: Rieth oder Reit, zur Biographie vgl. Fehr 1961, S. 24–36). Ursprünglich scheint das heute unauffällige Äußere des Saalbaus von ähnlich expressiver Wirkung gewesen zu sein: Der bei einem Brand
1541 verlorene erste Dachstuhl soll (wie die Barbara-Kirche Benedikt Rieds im nordböhmischen Kuttenberg) aus fünf turmhelmartigen Zeltdach-Spitzen statt dem heutigen einfachen Satteldach bestanden haben. Dass Renaissanceformen bereits bekannt waren, aber anscheinend nicht als wirklich ‚konkurrenzfähig‘ betrachtet wurden, zeigt ein Blick auf die Portale, welche aus dem Saal in die nördlich anschließenden Räume, z. B. in die Landrechtsstube führen: Als seien sie von der Schleifstern-Dynamik ‚infiziert‘, verdrehen sich die Schäfte der Pilaster um 90° (Fehr 1961, Taf. 18). Die Renaissanceformen verweisen auf die (in den Türkenkriegen zerstörte) zweite Residenz des Königs Wladislaw in Buda, der zugleich König von Ungarn war. Dort hatte man unter seinem Vorgänger Matthias Corvinus bereits deutlich früher italienische Künstler berufen – die Bakócz-Kapelle in Esztergom von 1506 ist als eines der wenigen Zeugnisse die-
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ser ersten mitteleuropäischen Rezeptionsstufe erhalten geblieben (Fehr 1961, Taf. 106). Dass der König beim Neubau seines Prager Festsaals dennoch für spätgotische Formen optierte, lässt den Schluss zu, als habe, wer auf Benedikt Rieds Wölbkunst zurückgreifen konnte, kein gesteigertes Bedürfnis nach der ‚neu-alten‘ italienischen Importästhetik. Befragt man die Schriftquellen der Zeit, so bestätigt sich dieser Eindruck: Beanspruchen die Renaissanceformen, ‚antik‘, also alt zu sein, so gelten den nordeuropäischen Betrachtern ihre eigenen spätgotischen Formen folgerichtig als ‚modern‘ (|▶ 28|, vgl. auch Irmscher 1996), da sie in unmittelbarer Vergangenheit selbst vor Ort entwickelt bzw. perfektioniert wurden und keinesfalls hinter der italienischen Gotik zurückstanden – im Gegenteil: Als man in Mailand 1386 mit dem Neubau des dortigen Domes begann, holte man sich ganz selbstverständlich französische und deutsche Steinmetzen als die führenden Experten. Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II., hatte viele Jahre im Gefolge des Kaisers nördlich der Alpen verbracht und bewunderte die lichtdurchfluteten deutschen Hallenkirchen, die er zum Vorbild für den Neubau der Kathedrale in der während seines Pontifikats errichteten Idealstadt Pienza in Mittelitalien auserkor (Tönnesmann 1990, S. 38 ff.). Daher erscheint es nur folgerichtig, dass die neuen Formen nördlich der Alpen vor allem als italienisch, in der Diktion der Zeit somit als welsch wahrgenommen und bezeichnet wurden. Die gotische Baukunst galt dagegen als autochthon und somit (je nach Land) als deutsch, böhmisch, französisch, englisch etc. Ihre hartnäckige Verwendung bis weit ins 16. Jh. hinein ist also wie in Frankreich kein Ausdruck von Rück-, sondern von Eigenständigkeit: Es handelte sich bei der Stilwahl um eine Geschmacks- oder Bedeutungsfrage (Hoppe/Nussbaum/Müller 2008), sie war optional und abhängig von der ‚Sitte‘, also Gewohnheit oder Aussageabsicht der Auftraggeber, schließlich aber auch vom Angebot, das um 1500 noch
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hervorragend von heimischen Hüttenmeistern wie Benedikt Ried bedient wurde. Durch Erbvertrag fielen nach dem Tod des letzten Königs aus dem Hause Jagiello, Ludwig (in der Schlacht von Mohacs 1526 gegen die Türken), Böhmen und Ungarn an die in Österreich regierenden Habsburger. König Ferdinand I. bevorzugte die Stadt an der Moldau als Residenz und ließ ab 1534 von einem italienischen Gartenbaumeister namens Francesco sowie den Steinmetzmeistern Giovanni Spazio und Paolo della Stella nördlich der Burg einen modernen Garten mit ‚Lusthaus‘, angeblich für seine Gattin Anna Jagiello, errichten (□ 56). Der Burgbrand verzögerte die Fertigstellung, das Obergeschoss wurde erst 1557– 63 durch den aus Wien zugezogenen Hofbaumeister Bonifaz Wolmut aufgesetzt. Das Erdgeschoss, ein einfaches langgestrecktes Rechteck, ist rundum von Arkaden umgeben und in vier Räume geteilt. Im Obergeschoss befand sich ein großer Saal, von einem Altan auf den Arkaden umgeben. Die Wandgestaltung des Obergeschosses, abwechselnd Rundbogennischen und Rechteckfenster unter ähnlich gestalteten, flach gedeckten Ädikulen, erscheint sorgfältig, aber etwas papieren und unoriginell nach italienischen Vorlagenbüchern kopiert (z. B. Bramantes Tempietto, |▶ 6|). Das einprägsamste Element der kleinen Villa ist wohl das kielbogenförmig geschwungene, kupfergedeckte Dach. Im Unterschied zu gleichzeitigen Projekten wie Schloss Chambord, dem Palast von Ferdinands Bruder Karl in Granada oder dem Antwerpener Rathaus |▶ 8, 28, 31| fällt es schwer, hier von einer eigenständigen nordalpinen, böhmischen Renaissance zu sprechen. Die wandernden Baumeister-Familienkompanien vom Comer See und ihre deutschstämmigen Adepten waren anscheinend nicht daran interessiert, etwas Neues und Originelles für Prag zu entwickeln, sie lieferten vielmehr einen korrekten, ein wenig blutleeren Kulturtransfer von dem, was südlich der Alpen bereits Stan-
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□ 56 Prag-Hradschin, Königliche Burg, Lusthaus ‚Belvedere‘, G. Spazio, B. Wolmut u. a., 1534 – 63
dard war. Vielleicht lag es auch an der importierten, eher funktionslosen Bauaufgabe ‚Villa‘, die im Reich nie wirklich Fuß fassen konnte. Wolmut war noch an der Wiener Dombauhütte ausgebildet worden und beherrschte ebenso gut das gotische Formenrepertoire, wie die von ihm nach dem Brand erneuerten Gewölbe der Landrechtsstube zeigen. ‚Deutsch‘ und ‚Welsch‘ waren für ihn nach Kontext und Auftraggeberwunsch gleichermaßen souverän beherrschte Stilmodi, aber sicher keine künstlerische Glaubens- oder Fortschrittsfrage. Es bedurfte in Böhmen und Deutschland eines epochalen Einschnitts, um die Gotik als aktuelle, eigenständige Stiloption endgültig zu verabschieden. Epizentrum dieser Bruchlinie war der schon erwähnte Ludwigsflügel, 1502–10 von Benedikt Ried als erster reiner Renaissancebau auf der Burg errichtet, welcher am Westende des Wladislawsaals aus der Front des Hradschin herausragt (Fehr 1961, Taf. 30 ff.). Hier befand sich die sog. Böhmische Kanzlei, die Büroräume der beim einheimischen Adel ver-
hassten Statthalter der ab 1617 wieder in Wien residierenden Habsburger. Am 23. Mai 1618 stürzten erzürnte Rebellen die Grafen Martinic und Slavata aus den Fenstern in den Burggraben. Die beiden Männer blieben durch ein – von den Katholiken der Muttergottes, von den Protestanten einem günstig platzierten Misthaufen zugeschriebenes – Wunder unverletzt, lösten aber durch diesen sog. Prager Fenstersturz den blutigsten und verheerendsten Konflikt aus, den Mitteleuropa bis dahin hatte erdulden müssen. Der hierdurch eröffnete dreißigjährige Abnutzungskrieg bewirkte einen kulturellen Infarkt, der alle Verbindungen zur nun als ‚alt-deutsch‘ empfundenen gotischen Tradition zerriss. Der Wiederaufbau des Landes nach 1648 fand unter den Vorzeichen und der – diesmal unverzichtbaren – Mithilfe ,welscher‘ Baumeister und nach neuen, nunmehr ‚barocken‘ Gestaltungsideale statt. Die Renaissance in Mitteleuropa war zu Ende, ohne dass sie hier jemals so heimisch geworden wäre wie die Gotik zuvor und der Barock danach.
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Schloss Chambord an der Loire Architektur als Imprese
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ollte das französische Königsschloss Chambord wirklich zu den 50 Schlüsselwerken der frühneuzeitlichen Architekturgeschichte gezählt werden? Das Problem der Objektauswahl ist immer das des Weglassens – warum also Chambord als Beispiel für den französischen Schlossbau, nicht Anet, Blois, Chenonceau, Fontainebleau oder das als Ideenschmiede für Versailles |▶ 36| so bedeutende Vaux-leVicomte? Die Argumente, welche für Chambord sprechen, benennen zugleich die Probleme dieser Wahl: Es handelt sich um ein einzigartiges, zu Recht berühmtes Bauwerk, so dass es in einem solchen Überblick schmerzlich vermisst würde – andererseits ist es so unvergleichlich und untypisch für den französischen Schlossbau der Renaissance, dass es nur bedingt als Exempel des Charakteristischen taugt (Prinz/Kecks 1985 passim). Dennoch fiel auch hier – wie bei der in manchen Zügen verwandten Villa Rotonda Palladios |▶ 18| – die Wahl auf ein Gebäude, das seinen Platz in der Architekturgeschichte gerade seiner Alleinstellung, nicht aber als Beispiel eines verbreiteten Typus (wie z. B. der Palazzo Farnese |▶ 19|) oder als Keimzelle eines besonders gut rezipierbaren Modells (wie z. B. Il Gesù |▶ 22|) verdankt. Die Bedeutung Chambords liegt darin, dass sich hier, wenn auch in inkommensurabler, hypertropher Form, einige innovative und für das Baugeschehen der Epoche durchaus bezeichnende Eigenarten aufzeigen lassen: die überragende Bedeutung des Bauherrn statt des (bis heute unbekannten) Architekten, die besonderen Probleme und Qualitäten, die bei der Verschmelzung der neuen italienischen Entwurfsprinzipien mit den starken nordalpi-
III. Schlüsselwerke
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nen Bautraditionen entstanden, die hierbei gefundenen innovativen Raumdispositionen und schließlich das, weshalb Chambord eigentlich berühmt ist – die zügellose Phantastik, mit der die ‚antikische‘ Formensprache hier zu einer irrationalen, hochoriginellen Gestaltung weiterentwickelt wurde, die in einem ganz anderen Sinne als in Italien, aber ebenso berechtigt als ‚manieristisch‘ bezeichnet werden kann. Es ist vor allem die Verbindung an sich widersprüchlicher ästhetischer Systeme – strenge Plangeometrie und überkomplexe Asymmetrien, überbordender Dekorreichtum (Prinz/Kecks 1985, S. 307, 411 f.) und systematische Rasterung aller Außenwände, welche die einmalige Wirkung dieses Schlosses bestimmt. Der komplizierten Erscheinung (□ 57) liegt eine relativ einfache Struktur zugrunde (Chatenet 2001, Fig. 50 ff.). Das 5 km nördlich der Loire gelegene Schloss befindet sich am Südufer des Flüsschens Cosson, das einst einen umlaufenden Wassergraben speisen sollte. Die Gesamtanlage besteht aus einem ummauerten Rechteck von 156 × 117 m Seitenlänge, an jeder Ecke befindet sich ein Rundturm von ca. 18 m Durchmesser. Während die südliche Hälfte des Schlosshofes unbebaut und nur von eingeschossigen, flachen Terrassenbauten umgeben ist, wurde die Nordfassade geschlossen dreigeschossig ausgeführt. Hierüber erhebt sich die mit einer verwirrenden Vielfalt von Türmen, Kaminen, Lukarnen und Giebeln gezierte, nahezu ebenso hohe Dachlandschaft des Bauwerks. Im Zentrum der Nordfront, etwa ein Drittel der Gesamtlänge einnehmend, steht der quadratische Hauptbau der Anlage, der selbst wieder vier Ecktürme besitzt. Dieses Geviert von 44 m Seitenlänge wurde schon im 16. Jh.
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□ 57 Schloss Chambord, Luftaufnahme von Süden, Architekt unbek., 1519 – 39
Donjon genannt – eigentlich eine Bezeichnung für mittelalterliche französische Turmburgen (Prinz/Kecks 1985, S. 19–58). Die Benennung verweist auf ein mutmaßliches Vorbild der Gesamtanlage, die Königsresidenz Vincennes aus dem 14. Jh. bei Paris, deren Donjon ebenfalls als Quadrat mit vier runden Ecktürmen gestaltet ist (ebd., Taf. 6). Im Grundriss (□ 58) betrachtet, legen sich die drei Flügel des Hofes um den freistehenden Zentralbau, der nur über schmale Galerien der Nordfassade mit diesem äußeren Mauerring verbunden ist. Ein Holzmodell der Bauzeit, das durch die Zeichnungen des Architekten André Félibien aus dem 17. Jh. dokumentiert ist, belegt eine frühe Planungsphase des nachweislich 1519 begonnenen Schlosses: Anscheinend war zunächst nur die Form des Donjons festgelegt,
aber weder die reiche Dachgestaltung, die später ausgeführten, geradezu festungsartigen Mauerstärken der Türme noch die rahmende Hofbebauung sind diesem Dokument zu entnehmen (Metternich 1985, S. 51– 60). Andere Charakteristika waren dagegen bereits zu erkennen: Alle Außenwände folgen einer strengen Rasterung durch Pilaster – allerdings wurde diese Struktur dann in der Ausführung höchst unsystematisch und ganz nach Bedarf variierend durch Rechteckfenster, Arkaden und geschlossene Wandkompartimente ausgefüllt (Chatenet 2001, Fig. 97 ff.). Das Quadrat des Hauptbaus ist durch ein Kreuz von Saalräumen geteilt, welche vier Appartements in den Ecken ausgrenzen (Chatenet 2001, Fig. 62). Deren Raumeinteilung in drei bis vier Zimmer (chambre, garderobe, cabinet, evtl. oratoire), die
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stets kleiner werden, je ‚privater‘ sie sind, ist seit dem 15. Jh. typisch für den französischen Schlossbau |▶ 37|. Ungewöhnlich ist aber die Anordnung dieser Räume nicht als lineare Abfolge, sondern als kompakte Blocks um eine allen Bewohnern zugängliche und der Erschließung dienende Mitte, die hier kreuzförmig angelegten salles. Diese Disposition verweist auf italienische Villen, z. B. das ab 1485 für die Medici von Giuliano da Sangallo errichtete Poggio a Caiano (Frommel 2009, S. 75 ff.) bei Florenz. Zwei prägende Elemente im ausgeführten Bau zeigen die französische Überformung dieses genuin italienischen Zentralschemas |▶ 18|: Den vier Appartements eines jeden Stockwerks werden vier weitere in den Ecktürmen hinzugefügt, was zu unlösbaren Konflikten zwischen massiven runden Umfassungsmauern und schräg darin eingeschnittenen Rechteckräumen führt. Über den drei Hauptstockwerken folgt noch die Dachterrasse, auf der sich die runden und quadratischen Appartements nun zu vier mehrgeschossigen, frei stehenden Doppelhäusern verbinden, so dass der Donjon insgesamt 40, jeweils durch separate Wendeltrep-
□ 58 Schloss Chambord, 1519 – 39, Grundriss nach Ducerceau, 1576
III. Schlüsselwerke
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pen erschlossene Appartements aufweist – aber keinen zentralen Festsaal, weder Küchen- und Funktionsräume noch eine Kapelle. Die kleineren Räume jedes Appartements sind dabei zweigeschossig ausgeführt, so dass sich hier noch Platz für separate Dienerzimmer im Mezzanin finden ließ (Metternich 1985, Abb. 15). Die laut dem Modell zunächst geplanten einläufigen geraden Treppen in einem der Kreuzarme, eine große Errungenschaft des italienischen Palastbaus |▶ 19|, wurden bei der Ausführung durch eine monumentale Wendeltreppe im Zentrum des Achsenkreuzes ersetzt (□ 59) – ein Element, das in den französischen Königsschlössern von Blois und Paris geradezu zum Hoheitszeichen geworden war (Prinz/ Kecks 1985, S. 258–287). Doch auch dieses Motiv wird noch einmal gesteigert, denn es handelt sich um eine Doppelwendel, so dass sich zwei Personen zwar sehen, aber nicht begegnen, wenn sie zufällig auf verschiedenen Läufen gehen. Palladio, der diese Treppe in seinen „Quattro Libri“ abbildete, behauptete sogar, sie sei vierläufig geplant gewesen, dafür fehlt aber jeder Nachweis (Metternich 1985, S. 87ff.). Da-
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□ 59 Schloss Chambord, Zentrale Doppelwendeltreppe im Donjon, Architekt unbek., 1519 – 39
mit dieses Prunkstück im Herzen des Schlosses auch nach außen sichtbar wird, findet die Treppe ihre Fortsetzung in einem Turm, der das Hauptgesims um 32 m überragt und die bizarr-unregelmäßige Dachlandschaft der Pavillons und Kamine bekrönt. Nach der Vollendung des furiosen Kernbaus um 1539 wurden die Seitenflügel mit jeweils einem konventioneller gestalteten Wohnappartement für den Bauherrn, König Franz I., und seinen Nachfolger Heinrich II. ausgestattet. Ob die Südseite jemals mehrgeschossig geplant war – sie hätte dann in der Fernsicht den Donjon verdeckt –, muss offenbleiben. Hieraus ergibt sich die Frage nach Bauherr, Architekt und Funktion dieser höchst aufwendigen Anlage. Franz I. war 1515 zur Macht gelangt, bemühte sich bis 1525 mit wechselndem Erfolg um die Eroberung Norditaliens und entfaltete zugleich nach innen eine glänzende Reisehofhaltung mit Schwerpunkt zunächst an der
Loire, erst später dann mit dem Zentrum Paris. Primärer Zweck des an einsamem Ort errichteten Schlosses war die Jagd – dafür ist der Bau freilich überdimensioniert, zumal in diesem Teil des Landes andere Schlösser, z. B. Blois an der Loire, nur wenige Kilometer entfernt liegen. Als Residenz im eigentlichen Sinne konnte Chambord ebenfalls kaum dienen, denn es fehlt eine nahe Stadt zur Versorgung des Hofes, Räumlichkeiten für offizielle Zeremonien oder Verwaltungsfunktionen. Das Raumkonzept des Donjon wirkt dagegen erstaunlich egalitär: gleichrangige Appartements, die als eine Art ‚Privatwohnungen‘ über den öffentlichen Raum der kreuzförmigen Säle miteinander kommunizieren. Für einen intimen, temporären Rückzugsort, um mit den Damen ungestört zu sein, wie der König selbst behauptete (Chatenet 2001, S. 242 f.), erscheint der konstruktive und dekorative Aufwand allerdings völlig überzogen – anscheinend hat der Erbauer bis
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zu seinem Tod 1549 insgesamt nur 27 Tage hier verbracht. Die eigentliche Funktion dieser ‚gebauten Utopie‘ liegt wohl in ihrer Abbildhaftigkeit für den Bauherrn selbst, der sich hier ein Monument setzte, das seine Ambitionen vollkommen verkörperte, auch wenn er gar nicht anwesend war: „ […] daß hier Franz selbst mehr als der König und der König mehr als das Königtum dargestellt ist. Chambord ist ein sehr persönliches Schloß, ein Bau, in dem sich die jugendlichen Ideale dieses Renaissancefürsten ausdrücken sollten.“ (Metternich 1985, S. 40.) Um die zweifelsfreie Identifikation des Bauwerks mit dem Erbauer sicherzustellen, ist es überreich mit seinen persönlichen Zeichen, sog. Impresen versehen: Neben dem hundertfach wiederholten Monogramm „F“ bevölkern ganze Herden von skulptierten Feuersalamandern den Bau. Dem persönlichen Symboltier des Königs sagte man seit der Antike nach, es widerstünde selbst dem Feuer unverletzt – das entsprach genau dem Selbstbild des militärisch-politisch seinem großen Rivalen Kaiser Karl V. unterlegenen Potentaten. Es dürfte der größte Triumph des Franzosen gewesen sein, als der Spanier anlässlich seines Besuches im Jahr 1539 angeblich bekannte, Chambord „sei der Inbegriff dessen, was menschliche Kunst vermag“. Das ungläubige Staunen der Besucher, die wie der venezianische Botschafter Lippomano im Jahr 1577 einen Umweg auf sich nahmen, um „pieno di meraviglia, anzi di confusione“, also erfüllt von Bewunderung und Verwirrung, über dieses Märchenschloss zu berichten, war der eigentliche Zweck des Bauvorhabens (Prinz 1985, S. 9). Unbeantwortbar, aber vielleicht auch nebensächlich ist die Frage nach dem entwerfenden Architekten. Während die Namen der ausführenden Baumeister archivalisch belegt sind, erscheint die Zuschreibung an den italienischen Hofarchitekten des Königs, Domenico da Cortona gen. Boccador, beim Vergleich mit
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dem ihm sicher zuzuschreibenden, heute veränderten Rathaus von Paris eher zweifelhaft (Metternich 1985, S. 119). Die unauflösbare Vermischung von italienischen und französischen Elementen, aber auch die zahlreichen Brüche, Planänderungen und Inkonsequenzen der Ausführung lassen eher an ein Team denken. Die Grundidee möchte man gerne Leonardo da Vinci (□ vgl. 20) zugestehen, der seit 1516 als hofierter Ehrengast des Königs in Frankreich lebte und wenige Monate vor dem Baubeginn 1519 im nahen Amboise verstarb. Die Idee der Doppelhelix und die Verbindung von Quadratund Zentralbauschema lassen sich in seinem zeichnerischen Œuvre gut belegen, aber eine konkrete Planungsbeteiligung wie bei dem niemals realisierten Schlossprojekt von Romorantin ist hier nicht nachzuweisen (Prinz/Kecks 1985, S. 393–398; Chatenet 2001, Fig. 104 ff.). So bleibt Chambord das ureigenste Abbild Franz’ I.: Das Bauwerk als unverwechselbares, hochindividualisiertes Denkmal seines Erbauers gehörte zu den charakteristischen Funktionen frühneuzeitlicher Architektur und trat gleichberechtigt neben die Bauten, welche die gestalterischen Ideale ihres Architekten, die sichtbare Vergegenwärtigung von Institutionen oder Familiendynastien darstellen sollten. Zugleich verkörperte das Schloss eine neue Stufe der Renaissance-Rezeption nördlich der Alpen, indem importierte italienische Strukturmerkmale und Dekorationsformen unbekümmert und selbstbewusst mit der eigenen, nationalen Tradition amalgamiert wurden. Die commodité, also die bequeme funktionale Disposition der Wohnappartements, sollte eine besondere Stärke der französischen Profanbaukunst bleiben |▶ 37|. Die Verewigung einer individuellen Herrscherpersönlichkeit durch ein bisher nie dagewesenes Schlossbauprojekt wurde von Philipp II. in Spanien und Christian IV. in Dänemark |▶ 9, 10| mit jeweils charakteristischen Mitteln realisiert – sie fand 150 Jahre später ihren Höhepunkt in Versailles |▶ 36|.
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Schlossbau: Raumfolge, Zeremoniell, Funktionen
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ie innovativste und ranghöchste Aufgabe im Profanbau der Frühen Neuzeit war das Schloss, weil die höfisch-monarchische Regierungsform, welche sich in der Epoche zur bestimmenden entwickelte, hierin ihre deutlichste Ausprägung fand (Hotz 1970). Die zentrale Bedeutung von Schlossbauten bestand nicht in ihrer Wohn- und Verwaltungsfunktion oder als Ort seltener Festinszenierungen, sondern in der dauerhaften Repräsentation von Herrschaft, auch und gerade, wenn sie nicht benutzt wurden – deshalb waren temporär unbewohnte Schlösser oft für Besucher frei zugänglich. Schlossbauten unterscheiden sich vor allem in Funktion, Lage und Typus. Innerstädtische Paläste wurden je nach Landessitte auch palais, palazzo, hôtel oder Hof benannt |▶ 19|, Landschlösser oft villa, maison oder house |▶ 44 – 46|. Das Residenzschloss, meist in der Hauptstadt gelegen, war offizieller Regierungssitz und beherbergte daher auch dauerhafte Institutionen wie Archiv, Verwaltung und Gerichtssitz. Meist handelte es sich um historisch ‚gewachsene‘ und durch ihre erkennbare Altertümlichkeit zugleich ihre Bewohner legitimierende Komplexe |▶ 7, 35|. Ergänzend hierzu entstanden feste Sommerresidenzen oft am Rand der Städte, welche diese Funktionen (z. B. Staatsbesuche, Huldigungen der Untertanen) temporär oder auch ganzjährig übernahmen |▶ 9, 42|. Hiervon zu unterscheiden sind Lust- oder Jagdschlösser, die lediglich als kurzzeitiger Aufenthalt ohne offizielle staatliche Funktion eingestuft wurden, hierin der bürgerlich-adeligen Villa vergleichbar |▶ 5, 8|. Durch ihre weite Verteilung machten sie den Fürsten auch bei seltenen Aufenthalten im Land präsent. Hier galten gelockerte formale Vorgaben für Zugang, Tagesablauf und höfische Kommunikation. Meist neu errichtet, waren diese Bauten besonders für formale Innovationen und Experimente geeignet und bezogen oft weitläufige Gärten in das repräsentative Konzept mit ein. Manchmal konnten in einer Anlage auch Schlösser verschiedener Funktionen
kombiniert werden (▶ 36). Marställe und Remisen für Kutschen, Wirtschaftshöfe und Unterkünfte für Militär und Personal wurden meist rund um den Vorhof des TheSchlosses symmetrisch disponiert, der Garten ( menblock · Gärten und Parks, S. 305) bevorzugt entlang der Mittelachse auf der Rückseite angeordnet |▶ 10|. Paläste dienten außerdem dazu, die politisch bedeutsamen, zeremoniellen höfischen Abläufe und Hierarchien zu organisieren und sichtbar werden zu lassen. So war die Hauptraumfolge im Residenzschloss stets in einem über zeremonielle Treppen erschlossenen Obergeschoss angesiedelt, im informelleren Lustschloss (franz. maison de plaisance, Krause 1996; □ vgl. 11) konnte diese auch im Erdgeschoss mit direktem Gartenzugang liegen. Das Appartement-System, d.h. getrennte, strukturell analog konzipierte Raumfolgen für alle offiziellen Mitglieder der Eigentümerfamilie, filterte die Zugänglichkeit der hintereinander angeordneten Räume für verschiedene Besuchergruppen |▶ 37|. Meist besaß der Herrscher innerhalb eines Schlosses verschiedene Wohnungen abgestufter Privatheit oder für verschiedene Jahreszeiten. Das sog. Paradeappartement |▶ 42| diente ausschließlich offiziellen Auftritten und lehnte sich lediglich an die Raumfolge einer Wohnung an: So war das Schlafzimmer im französischen Zeremoniell ein scheinbar intimer und daher vornehmer, aber keineswegs ‚privater‘ Empfangsraum des Monarchen. Diese ‚offizielle‘ Raumschicht wurde umgeben von einem Trabantensystem aus Dienerräumen (meist in Mezzanin-Halbgeschossen), Service-Bereichen wie Küchen oder Vorratskellern und Wohnräumen für die Mitglieder des Hofes, Gäste und die Verwaltung. Die Repräsentationsräume lagen im zentralen sog. Corps de Logis (Wohnflügel), alle anderen Funktionen je nach Rang abgestuft in Seitenflügeln und Nebentrakten (Walbe 1985). Während die Möbel, Teppiche und Bilder oft mit dem Fürsten von einem Schloss zum anderen wanderten,
Schlossbau
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diente die wandfeste Ausstattung (□ vgl. 8) als Medium der Selbstdarstellung der Erbauer. Ähnlich wie Themenblock · Bürger bauen, im Kommunalbau ( S. 239) wurden vor allem allgemein bekannte mythologische und historische Themen gewählt und von den
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Betrachtern als Analogien zum jeweiligen Herrscher gedeutet. Das Schloss war somit primär eine Kommunikationsmaschine des jeweiligen Staatssystems und der regierenden Dynastie.
San Lorenzo de El Escorial Der allerkatholischste Klosterpalast
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iner der größten Vorzüge frühneuzeitlicher Architektur ist, dass sie ‚reden‘ kann. Das rhetorische Vermögen der Baukunst, durch formale und funktionale Eigenarten Aussagen über ihre Erbauer, deren Intentionen und kulturelle Kontexte zu vermitteln, war vielleicht nie größer als im ‚konfessionellen Zeitalter‘. Wüsste man sonst nichts über Philipp II. und die Epoche der ‚Gegenreformation‘ in Spanien, man könnte aus diesem Klosterschloss ein konsistentes Welt- und Geschichtsbild, Glaubensund Politikverständnis ableiten. Während sich die nur wenige Jahre früher errichteten Bauten des Manierismus oft betont verrätselt ausdrücken |▶ 5, 8|, spricht dieses Monument eine nüchterne, klare Sprache und schlägt einen Ton an, der in den folgenden Jahrhunderten in ganz Europa gehört, aufgenommen und ggf. beantwortet wurde |▶ 36, 39, 42, 44| – der Escorial gehört daher zu den ‚Schlüsselwerken‘ für die Genese der später als Barock bezeichneten neuen Kunstauffassung ab 1580. Nachdem die Residenzpläne Karls V. für Granada |▶ 28| nicht weiter verfolgt worden waren, entschied sich sein Sohn und Nachfolger auf dem spanischen Thron, Philipp II., 1560 für Madrid als geographisch zentral gelegene Hauptstadt des Königreiches. Anlässlich eines Sieges über die Franzosen bei St-Quentin
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(1557) gelobte der strenggläubige Katholik den Bau eines Klosters zu Ehren des Tagesheiligen Laurentius |▶ 14, 24| (Osten-Sacken 1979, S. 6–34). Bis zur Grundsteinlegung 1563 wurde das Projekt erheblich erweitert, denn nun sollte es neben der Mönchsgemeinschaft der Hieronymiten auch ein Priesterseminar, eine Schule, ein Hospital, die zentrale Bibliothek des Reiches mit angeschlossener Druckerei, einen königlichen Palast und die Grablege aller habsburgischen Herrscher Spaniens beherbergen. Als Architekt für den „komplexen Mehrzweckbau“ (Barral i Altet 1997, S. 254), der sich durchaus mit dem ähnlich ambitionierten, etwa gleichzeitigen Stiftungsprojekt Sultan Süleymans in Konstantinopel vergleichen lässt |▶ 15|, wurde der in Italien ausgebildete Spanier Juan Bautista de Toledo berufen, der allerdings schon 1567 starb. Welche Anteile an der ausgeführten Architektur ihm oder seinem Nachfolger und Schüler Juan de Herrera (Wilkinson-Zerner 1993) zuzuschreiben sind, der den Bau bis 1586 vollendete, ist bis heute umstritten. Als Bauplatz wählte man das klimatisch günstig gelegene Dorf El Escorial in der Sierra de Guadarrama, einem Gebirge ca. 45 km nördlich von Madrid. Während Franz I. in Chambord |▶ 8| ‚nur‘ ein überdimensioniertes Jagdschloss in der Einöde errichten ließ, gin-
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□ 60 Residenz San Lorenzo de El Escorial, J. B. de Toledo und J. de Herrera, 1563 – 84, Luftbild von Nordwesten
gen Philipps Pläne deutlich darüber hinaus, denn er dachte an eine symbolische Bündelung aller Kräfte, welche die seinerzeit mächtigste Nation Europas zukünftig lenken sollten: Durch die Funktion als Grablege begründete er zugleich ein symbolisches, auf Dauer angelegtes Zentrum der in Spanien noch jungen habsburgischen Dynastie. Diesem hochgesteckten Ziel musste ein völlig neuartiges, umfassendes architektonisches Konzept entsprechen: Es galt, für einen Herrscher, in dessen Reich dank überseeischer Kolonien in Amerika |▶ 29| und Asien ,die Sonne nicht untergeht‘ und der den Titel eines „Allerkatholischsten Königs“ führte, den Anspruch auf Universalmonarchie, also symbolische Weltherrschaft, durch eine ‚ideale Residenz‘ unmissverständlich einzufordern. Die über einem Rechteck von 207 × 162 m errichtete, rasterförmige Gesamtanlage (□ 60) setzte neue Maßstäbe in der Disposition und Verzahnung komplexer Funktionen (Hänsel/ Karge 1992, S. 9 –17). Die ehemalige kleine
Bergarbeiterstadt El Escorial liegt an der Nordseite des Palastes, im Westen wird er von einem großen, leeren Paradeplatz, im Süden und Osten von geometrisch gestalteten Terrassengärten und Wasserbecken gerahmt. Als direktes Vorbild konnten weder Klöster noch Paläste dienen, die bisher niemals in diesen Dimensionen und kaum auf so regelmäßigem Grundriss errichtet worden waren, sondern allenfalls die raumgreifenden italienischen Hospitalbauten wie z. B. das von Filarete ab 1456 in Mailand realisierte und als Teil seiner utopischen Idealstadt Sforzinda in seinem Traktat verewigte Projekt – Philipp II. war seit 1540 auch Herzog von Mailand. Das Querrechteck der Gesamtanlage teilt sich nach vielen Umplanungen während der Bauzeit (Kubler 1982) in sechs etwa gleichgroße Kompartimente. Die vier Ecken, durch Türme hervorgehoben, werden jeweils von quadratischen Höfen eingenommen, wobei die westlichen hinter der Fassade zum Vorplatz
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□ 61 Residenz San Lorenzo de El Escorial, Kirchen- inneres, Chor mit Epitaphien der Könige, J. de Herrera, L. u. P. Leoni, 1575 – 1600
durch kreuzförmige Flügel noch einmal viergeteilt sind (Rivera 1984, Taf. 49–57). In der Südhälfte befindet sich das Kloster, die Nordseite ist funktional untergliedert in das westlich gelegene Priesterseminar und die Räume des königlichen Hofes im Osten. Zwischen Seminar und Kloster spannt sich wie eine Brücke über dem Hauptportal die Bibliothek, ein 54 m langer tonnengewölbter Saal. Die Mitte der Anlage nimmt der längsrechteckige ‚Patio de los Reyes‘ (Königshof) ein, der auf die von zwei Türmen gerahmte Kirchenfassade zuführt. Die ab 1575 realisierte, überkuppelte Basilika selbst erscheint wie eine dem Quadrat einbeschriebene Variante der Zentralbaupläne Michelangelos für St. Peter |▶ 21|, ist aber wie bei Sangallos
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Konkurrenzentwurf durch eine niedrigere Vorhalle von der Fassade getrennt; hierüber befindet sich der Mönchschor. Das Presbyterium ist als rechteckiger Annex dem Zentralbau angefügt, und wird von einem kleinen dreiflügeligen Palazzetto umrahmt, der sich weit nach Osten vor die Anlage schiebt und die Privaträume des Königs aufnahm. Dieser im Äußeren wie in der inneren Ausstattung – weißgekalkte Wände mit Fliesendekor – bescheidene Trakt, der nur über dunkle, verwinkelte Korridore zu erreichen ist, manifestierte bei aller ostentativen Bescheidenheit und Weltabgewandtheit den einzigartigen Rang seines Bewohners: Wie eine Schutzhülle legte sich das ‚Haus des Königs‘ um den Chor der Kirche; der Bauherr genoss von einer an das Schlafzimmer angeschlossenen kleinen Betstube aus den direkten Blick auf den Hochaltar und konnte so ungesehen aus nächster Nähe an jeder Messfeier teilnehmen (Rivera 1984, Taf. 62 f.). Um dieses Privileg auch über den Tod hinaus zu sichern, ließ Philipp direkt über dem Oratorium seine eigene lebensgroße, vergoldete Bronzestatue (gegenüber dem Bildnis seines Vaters, Karls V., und ihrer beider Familien) in den als Loggien gestalteten Epitaphien an den Chorseitenwänden anbringen, in ewiger Anbetung kniend dem Hochaltar zugewandt (□ 61). Die um 1600 vollendeten Statuengruppen der italienischstämmigen Hofbildhauer Leone und Pompeo Leoni nehmen in ihrer räumlichen Einbindung und Theatralität wichtige Elemente der Barockskulptur vorweg (Osten-Sacken 1979, S. 108–124). Es ist bezeichnend, dass Herrera, der ausführende Architekt des Escorial, auch einen Traktat über die geometrische Figur des Kubus verfasste. Die trockene Schärfe, Nüchternheit und Präzision seiner Architektur lässt den Mathematiker erkennen – der deutsche Kunsthistoriker Carl Justi hat ihr 1879 den überaus treffenden Namen Estilo desornamentado verliehen (Wilkinson-Zerner 1993, S. 27 ff.). Die nahezu glatt und unbetont in die Wand eingeschnitte-
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nen Fensterreihen am Außenbau des Escorial verraten nichts über die dahinterliegenden, differenzierten Funktionen und wirken in der Tat wie ‚ent-schmückt‘, vergleicht man sie z. B. mit dem eher überbordenden Dekor des Alhambra-Palastes Machucas |▶ 28|. Lediglich dort, wo Betonungen angebracht sind – z. B. zur signethaften Hervorhebung des Hauptzugangs in den Königshof und der darüber befindlichen Bibliothek –, werden konventionelle Elemente monumentaler Säulenordnungsarchitektur appliziert. Hierbei dominiert, ungewöhnlich genug, bis in den Kirchenraum hinein die herbe Dorica. Der Kreuzgang der Mönche kann sich in seiner dogmatischen Antikennähe durchaus mit Sangallos Arkaden im Hof des Palazzo Farnese |▶ 19| messen. Die Kargheit der Architektursprache wird partiell durch gezielte Akzente betont prunkvoller Raumdekore unterbrochen: So konkurrierte das aufwendige Freskenprogramm des Italieners Pellegrino Tibaldi in der Bibliothek unübersehbar mit Michelangelos Sixtinischer Kapelle. Die hier erstmals in Regalen entlang der Wände aufgereihten Bücher wiesen mit ihren Goldschnittseiten in die Raummitte. Eine exquisite Sammlung von Gemälden der damals zu Spanien gehörenden Niederlande sowie von italienischen, zeitgenössischen Meistern wie Tizian, Veronese, Cambiaso und Zuccari waren integraler Teil der Erstausstattung. Die riesigen Wandflächen der Galerieflügel im Palast wurden mit Schlachtenpanoramen spanischer Siege gefüllt. Marmor, Gold und Bronze kamen dagegen ausschließlich im Chor der Klosterkirche zur Anwendung – ansonsten dominiert in beeindruckend konsequenter Monotonie der scharfkantige, graue Granit der Region. Nicht nur als durchkomponierte, komplexe Gesamtanlage, sondern auch im architektonischen Detail bot der Escorial wichtiges Anschauungsmaterial für die Zukunft des Palastbaus: Zwischen Kreuzgang und Konventsbau der Hieronymiten befindet sich eine der ersten
dreigeteilten Treppen, deren gerade Läufe sich nicht mehr (wie z. B. im Palazzo Farnese oder dem Dogenpalast, |▶ 19|) in tonnengewölbten Röhren gegeneinander abschotten, sondern ein einheitliches, offenes Treppen-Haus jenes Typus bilden, der später in der Würzburger Residenz |▶ 42| seine hypertrophe Vollendung finden wird (Wilkinson-Zerner 1993, S. 97). Der Escorial ist als ideale Architektur konzipiert, konsequent und kompromisslos in seiner rationalistischen Perfektion, ein steingewordenes Abbild göttlicher Weisheit. So wie Filarete die Ideale seiner Epoche in eine imaginäre Antike zurückprojizierte, so verstand Philipp II. seinen Klosterpalast offensichtlich als Abbild des Salomonischen Tempels in Jerusalem (□ vgl. 24), dessen Gestaltung nach Aussage eines alttestamentlichen Textes, der Vision des Ezechiel (Hesekiel 40–43), von Gott selbst inspiriert gewesen sei. Als der spanische Jesuit Juan Bautista Villalpando, ein Schüler Herreras, mit finanzieller Unterstützung des Königs bis 1604 Illustrationen zu einer Exegese dieses Textes durch seinen Ordensbruder Jeronimo Prado vorlegte, konnte die Rekonstruktion des Tempels gar nicht anders aussehen als ein ins gigantische vergrößerter Escorial – Thron und Altar in vollkommener, unauflöslicher, überzeitlicher Harmonie (Naredi-Rainer 1994, S. 172– 189). Die sechs Könige Israels, deren Statuen die Kirchenfassade bekrönen, konnten als imaginäre Genealogie jener ‚allerkatholischsten‘ Herrscher des Hauses Habsburg gedeutet werden, die in der Krypta ihre ewige Ruhe finden sollten (Osten-Sacken 1979, S. 228–234). Zugleich kann man den Gesamtgrundriss der Anlage, die sog. Traza universal, als Rost des Laurentius lesen, also jenes Attribut, auf dem der Namenspatron angeblich sein Martyrium erlitt, das Wappenzeichen des Konvents. Der Escorial vereinigt die klassischen Bauaufgaben Grablege, Kloster und Palast, die in Granada noch getrennt voneinander waren, zu einem komplexen Modell idealer Architektur
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und Gesellschaftsordnung. Die Formensprache entfernt sich deutlich von der bisherigen spanischen, aus der gotischen Tradition hervorgegangenen und unterstreicht hierdurch einen universellen Anspruch – „Einfachheit als Symbol von Tugend“ (Wilkinson-Zerner 1993, S. 170). Dies bestätigt einmal mehr die eingeschränkte Brauchbarkeit eingeführter Verständigungsbegriffe: Den hier zur Schau gestellten überaus selbstbewussten Reformkatholizismus lediglich als Abwehrreaktion zu deuten, wie es der Terminus ‚Gegenreformation‘ suggeriert, greift zu kurz. Viel eher könnte man von einem prägnanten Gegen-Entwurf, einer höchst eigenständigen Positionsbestimmung sprechen, die ein klar umrissenes katholisch-monarchisches Weltbild in den Rang einer scheinbar göttlichen
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und damit unhinterfragbaren, ebenso legitimen wie legitimierenden Welt-Ordnung erhebt. Der Escorial wurde zum Leitbild der beiden wichtigsten Bauaufgaben des Barocks, für Kloster und Schloss. Für seine rasterförmig-totalsymmetrische Konzeption hat sich der Begriff ‚Escorial-Schema‘ eingebürgert. De facto zeigen aber nur wenige von dieser Anlage inspirierte Bauten (z. B. Ottobeuren, Klosterneuburg oder Mafra, Bazin 1997) eine vergleichbare formale Rigidität, sondern nehmen meist viel stärker auf konkrete topographische oder historische Vorgaben Rücksicht |▶ 39|. Ähnlich wie St. Peter | ▶ 21| oder Versailles | ▶ 36| wurde das Vorbild nicht schematisch kopiert, sondern als Maßstab, Folie und Hintergrund mitgedacht.
Schloss Frederiksborg bei Hillerød Von der Wasserburg zum Königsschloss
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ispanien zeigt frembden Leuten seine Laurentius-Kirche [den Escorial]; Franckreich seinen Bleau-Brunnen [Schloss Fontainebleau]; Venedig und Chur-Sachsen ihre Schatzkammern; Dännemark diese Burg […]. Mit diesen Worten fasst Johann Adam Berg, Kastellan des Schlosses Frederiksborg, in seiner „Kurtzen und eigentlichen Beschreibung“ aus dem Jahr 1646 die Bedeutung dieses Bauwerks für das nordische Königreich kurz und treffend zusammen. Das Zeitalter der Repräsentation ist zugleich die Epoche der Konkurrenz und des Vergleichs, des Wettstreits bei der Entwicklung einer jeweils eigenen national-monarchischen Architektursprache, die sich nicht einfach mit der wörtlichen Übernahme italienischer Innovationen begnügt, sondern
III. Schlüsselwerke
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nach einem unverwechselbaren Profil sucht. Das Schloss wird hierbei, ähnlich wie Chambord |▶ 8| und der Escorial |▶ 9|, zum individualisierten Abbild des königlichen Bauherrn, seiner Ambitionen und Vorlieben, seines Herrschaftsverständnisses und seines kulturellen Bezugssystems. Christian IV. ist bis heute der vermutlich populärste Herrscher Dänemarks, obwohl oder gerade weil seiner ehrgeizigen Politik kein Erfolg beschieden war: Nach anfänglichen Triumphen über das um die Vorherrschaft in der Ostsee konkurrierende Königreich Schweden musste er zu Ende seiner Regentschaft erhebliche territoriale Einbußen hinnehmen – das heutige Südschweden war bis 1645 zum großen Teil dänisch gewesen –, den finanziellen Ruin seines zuvor wohlhabenden Staates und
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das endgültige Ausscheiden Dänemarks aus der Reihe der europäischen Großmächte erleben. Der Bau von Frederiksborg (1600–24) fiel dagegen in die ersten, politisch glücklicheren Jahre seiner Regierung und feierte einst in seiner nahezu vollständig verlorenen Ausstattung mit Bildteppichen und Gemälden den Sieg der Dänen über die Schweden im sog. Kalmarer Krieg (1611–13). Diese Erfolge wurden durch das unbedachte Eingreifen Dänemarks in den 30-Jährigen Krieg (1625–29) wieder zunichte gemacht, in dessen Folge es Schweden gelang, für ein halbes Jahrhundert zur Vormacht im Ostseeraum aufzusteigen, bis diese Position um 1700 von Russland |▶ 34| erobert wurde. Christian IV. war auf Frederiksborg geboren: Sein Vater König Friedrich II. hatte das eher bescheidene, auf drei kleinen Inseln in einem See gelegene Herrenhaus Hillerødsholm 1560 durch Tausch von dem Adeligen Herluf Trolle erworben und umbenannt, aber nur bescheiden vergrößert (Heiberg 1988, S. 21). Die Tatsache, dass sein Sohn das Schloss des Vaters durch einen wesentlich größeren Neubau ersetzen ließ, den Namen aber beibehielt, deutet (ähnlich wie später in Versailles, |▶ 36|) auf eine starke persönliche Bindung des Königs an den Ort seiner Jugend, aber manifestierte zugleich das politische Bedürfnis, aus der für ein Wahlkönigtum durchaus angemessenen bisherigen Anspruchslosigkeit herauszutreten und das gewandelte dynastische Selbstverständnis adäquat baulich zu manifestieren. Vorbild war das von seinem Vater aus einer Festung heraus entwickelte, 1585 vollendete Schloss Kronborg, das am Sund, der strategisch bedeutendsten Passage zwischen Nord- und Ostsee nahe Kopenhagen, den Anspruch Dänemarks auf das Dominium maris baltici manifestierte. Während man Kronborg aber noch deutlich den vierflügelig geschlossenen, burgartigen Kernbau ansieht, ist der Charakter einer Wasserburg mit sternförmigen, modernen Bastionen im erneuerten Frederiksborg lediglich als Zitat zu ver-
stehen, das mit seiner turmreichen Silhouette, den Brücken und Wassergräben die traditionelle Herrschaftsarchitektur Nordeuropas wirkungsvoll evoziert (□ 62). Misst man die Bauten Christians IV. an der italienischen Architektursprache ihrer Zeit, so erscheint vieles antiquiert und (nach-)‚gotisch‘. Diese Sichtweise verkennt aber, dass es nicht Unkenntnis der internationalen Renaissance, sondern vielmehr deren bewusste Anpassung an regionale Traditionen und Erwartungshaltungen war, welche eher als formale Eigendenn als Rückständigkeit zu bewerten wäre. Das belegte einst eine zum Komplex von Frederiksborg gehörende, nur durch wenige Bilder überlieferte Villa im italienischen Stil mit dem Namen Sparepenge, die 1720 für die Anlage des barocken Gartens nördlich des großen Sees abgerissen wurde (Heiberg 1988, S. 39, 495). Dieser anscheinend mit Inigo Jones’ Queen’s House |▶ 44| vergleichbare Bau war ebenso wie der (nach 1880 rekonstruierte) monumentale Neptunbrunnen im ersten Hof, ein Werk des Giambologna-Schülers Adriaen de Vries (Kommer 2000) nach dem Vorbild im Boboli-Garten |▶ 4|, Beleg dafür, dass die südalpine Formensprache zwar bekannt und verfügbar war, aber anscheinend nur bedingt geschätzt wurde. Der Architekt von Frederiksborg ist bis heute unbekannt. Sieht man von topischen Erklärungen ab, der Plan stamme vom König selbst, ist Hans Steenwinckel d. Ä., der Stammvater einer niederländischstämmigen Hofarchitektensippe, wahrscheinlich, der allerdings kurz nach Baubeginn verstarb. Seine Söhne und Nachfolger wurden nach Holland entsandt, um bei dem führenden Bildhauer und Stadtarchitekten Amsterdams, Hendrick de Keyser (Ottenheym/ Rosenberg 2008), ihre Kenntnisse zu erweitern und dort wesentliche Elemente der Baudekoration wie die marmorne sog. Große Galerie des Königsflügels herzustellen, die als maßgenau gefertigtes Importstück nach Dänemark
Schloss Frederiksborg bei Hillerød
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□ 62 Schloss Frederiksborg, Luftaufnahme von Süden, H. Steenwinckel d. Ä. (?), 1600 – 24
verschifft und der Fassade appliziert wurde (Eller 1978, S. 12). Dieses Beispiel belegt, in wie hohem Maße die Renaissancearchitektur Nordeuropas nicht direkt von Italien, sondern durch Vermittlung des künstlerisch und technologisch fortschrittlichsten Landes nördlich der Alpen geprägt wurde. Die Materialität des Schlosses, roter Ziegelstein als Grundsubstanz mit dekorativen und plastischen Elementen aus Sandstein, die regelmäßig zwischen die Backsteinreihen eingefügten sog. Specklagen, also horizontale Gesimsbänder, die steinernen Kreuzstockfenster, die Betonung der Ecken durch den Materialwechsel und die phantasie-
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reich gestalteten schlanken Kupferturmhelme sind typisch für die niederländische Architektur der Zeit, z. B. die 1603 vollendete Haarlemer Vleeshal (Fleischhalle, □ vgl. 32) von Lieven de Key. Frederiksborg zeigt aber auch durchaus zukunftsweisende und unkonventionelle Züge: Die komplexe Anlage präsentiert sich als sorgsam inszenierter Weg, welcher die besondere topographische Situation – eine Abfolge kleiner Inseln in einem See – durch eine höchst wirkungsvolle promenade architecturale inszeniert. Über drei Höfe, jeweils durch Kanäle voneinander getrennt und durch die Weg- und Blickführung fokussierende Brücken miteinander verkettet, steigert sich die Gestaltung der Fassaden bis zum Königsflügel des Hauptschlosses. Jeder Übergang ist durch ein Sandsteinportal betont, das durch Inschriften und skulpturalen Schmuck einen zeremoniellen Initiationsweg der allmählichen, gestuften Annäherung an den König beschreibt ( Themenblock · Ephemere und illusionistische Architektur, S. 221 f.). Elemente des Festungsbaus ( Themenblock · Festungsbau, S. 151 f.), etwa die S-förmige Brücke oder der burgartige Torturm, werden ebenso eingesetzt wie aus dem südlichen Villenbau entlehnte Balustraden, Brunnen und Blendarkaden mit mythologischen Figuren. Öffnete sich beim Palazzo Pitti |▶ 4| die Dreiflügelanlage zum Garten, so ist sie hier dem Besucher einladend als Ehrenhof zugewandt. Die zeremonielle Mittelachse setzt sich optisch jenseits des Sees in einem (1720 umgestalteten) Garten fort und reklamiert hierdurch eine weit in die Landschaft ausgreifende Bedeutung, die bereits auf barocke Ideale vorausweist (|▶ 36|, Themenblock · Gärten und Parks, S. 304 f.). Vom nördlichen Garten aus gesehen erscheint der nach Süden sich öffnende Bau ganz anders, nämlich als kompakter Block, als Ideal einer uneinnehmbaren Wasserburg. Die strenge Symmetrie der Gesamtanlage wird immer wieder durch markante Akzent-
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setzungen gebrochen: So befindet sich der dominierende höchste Turm des Schlosses nicht etwa auf der Mittelachse, sondern zeichnet die durch Spitzbogenfenster hervorgehobene, im westlichen Seitenflügel gelegene Kapelle besonders aus. Das durch seine Sandsteinfassade abgesetzte Audienzhaus des Königs liegt auf einer westlichen Nebeninsel, ist mit den Zimmern des Königs im Hauptschloss aber durch eine zweigeschossige Brückengalerie über einen der Kanäle verbunden. Das notorische Unglück Christians IV. übertrug sich leider auch auf seinen Bau: 1659 von den Schweden geplündert, brannte das Schloss 1859 komplett aus. Einzig die prachtvolle zweigeschossige Kapelle (□ 63) blieb unversehrt, alle anderen Räume wurden als nationales Geschichtsmuseum ab 1878 rekonstruiert. Die Schlosskapelle stellt eine ideale Umsetzung evangelisch-lutherischen Hofkirchenbaus dar: eine langgestreckte, dreischiffige Emporenhalle auf rechteckigem Grundriss ohne bauliche Zäsur zwischen Langhaus und Chor. Dem aus Hamburg importierten Silberaltar gegenüber befindet sich am Nordende der Kirche das königliche Oratorium, ein – leider beim Brand völlig zerstörtes – prächtig ausgestattetes Kabinett (Heiberg 1988, S. 65). Auch in der Kapelle verbinden sich traditionell nordalpine Bauformen – Maßwerkfenster und Netzgewölbe – mit einer dem italienischen Manierismus entlehnten, originell rhythmisierten doppelgeschossigen Arkatur, in der einfache und gekuppelte Säulen abwechseln. Farbenpracht, Bilderreichtum und skulpturale Ausstattung entsprechen kaum der landläufigen Vorstellung von ‚evangelischer Kargheit und Wortzentriertheit‘. Der lutherische Kirchenbau folgte hierbei der Theorie von den sog. Adiaphora, den von Gott nicht ausdrücklich geregelten Nebendingen, welche sich nach weltlichen Erfordernissen, hier z. B. dem Repräsentationsbedürfnis eines Königs richten sollten, der seine tiefe persönliche Frömmigkeit auch im Aufwand für den Kir-
chenbau widergespiegelt sehen wollte ( Themenblock · Die Konfessionen, S. 284). Man kann dem Kastellan somit in seiner eingangs zitierten Einschätzung durchaus zustimmen: Frederiksborg ist das vielleicht bedeutendste Zeugnis jener nordeuropäisch-protestantischen Monarchien, die im 17. Jh. eigene, ihrer gesteigerten politischen Bedeutung entsprechende Ausdrucksformen suchten und fanden.
□ 63 Schloss Frederiksborg, Inneres der Schloss kapelle, H. Steenwinckel d. Ä. (?), 1600 – 24
Schloss Frederiksborg bei Hillerød
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St-Eustache in Paris Resistance und Renaissance
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an wollte Architekturformen der römischen Antike, die man kaum kannte, dem Konstruktionssystem gotischer Kirchen anheften, welche man verachtete, ohne sie zu verstehen. Unter dieser unentschiedenen Inspiration wurde die große Kirche von Saint-Eustache in Paris begonnen und vollendet, ein schlecht konzipierter und schlecht konstruierter Bau, eine konfuse Anhäufung von Bruchstücken, die – ohne Verbindung und ohne Harmonie – aus allen Ecken entliehen sind, eine Art gotisches Skelett, das mit römischen Lumpen bekleidet ist, die zusammengenäht sind wie die Stücke eines Harlekingewandes. (Viollet le Duc 1859, S. 240, übers. MvE.) Mit diesem vernichtenden Urteil bedenkt einer der bedeutendsten Theoretiker und Kirchenrestauratoren des Historismus das Hauptwerk des Pariser Sakralbaus im 16. Jh., und noch heute mag mancher Besucher den wahrhaft atemberaubenden Eindruck dieses verstörenden, unkonventionellen, „faszinierend irrationalen“ (Hesse 1984, S. 11) Entwurfes so empfinden. Die instinktive Ablehnung, welche dem nahe den ehemaligen Pariser Markthallen und dem Centre Pompidou gelegenen Bau bis heute gelegentlich entgegenschlägt, ist vor allem ein Ausdruck vorgefertigter Meinungen über das ‚Wesen guter Architektur‘, die ‚korrekte‘ Abfolge der Stile, Modernität als ein anscheinend unhinterfragbares Qualitätskriterium von Kunst und einem Ideal von Stilreinheit, das dieser Bau in der Tat flagrant verletzt, ja geradezu ad absurdum führt. Doch gerade seine Widerständigkeit und Unvergleichbarkeit – in ganz Frankreich entstand in jenen Jahren kein ähnlich ambitionierter Kirchenneubau – macht diese Pariser Pfarrkirche aus einem Blickwin-
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kel, der weniger an normativer Perfektion als an konzeptioneller Autonomie interessiert ist, zu einem besonders interessanten Beispiel für die Probleme, die bei der Transformation fremder ästhetischer Ideale in einem anderen kulturellen Kontext entstehen. Dass die merkwürdige Stilmischung von St-Eustache mehr war als die Ratlosigkeit einer Übergangsperiode, beweist die lange Bauzeit von 1532–1640, in der konsequent an dem ursprünglichen Konzept festgehalten wurde. Wie in vielen anderen Fällen wurde um eine kleinere, gotische Vorgängerkirche herumgebaut: Sie stand im Nordosten des heutigen Chores und blieb während der langen Bauphase benutzbar (Hesse 1984, S. 26). Der Architekt des Neubaus ist unbekannt, aber Ähnlichkeiten mit dem Umbau der Kirche St-Maclou in Pontoise (Sankovitch 1995) lassen auf denselben Meister schließen, vielleicht ein Mitglied der Familie Lemercier. Dagegen erscheint die Zuschreibung des Entwurfs an einen Italiener, z. B. den im Auftrag von König Franz I. für den gleichzeitigen Neubau des Rathauses tätigen Domenico da Cortona (Pérouse de Montclos 2004a, S. 168), mehr als unwahrscheinlich, da nur das ‚Vokabular‘ der Einzelformen in einem sehr weiten Sinne italienisch inspiriert erscheint, während der daraus geformte ‚Text‘ unübersehbar und souverän auf die französische Tradition Bezug nimmt und diese mit größter Virtuosität modernisiert. St-Eustache ist eine fünfschiffige Basilika mit nicht hervortretendem Querhaus, Umgangschor, den gesamten Bau umlaufenden Kapellenkranz und einer apsidial vorspringenden Achskapelle. Der Grundriss, die steilen Raumproportionen, die skelettartig aufgelöste
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Struktur, das äußere Strebewerk, die Doppelturmfassade im Westen und die großen Maßwerkfenster zitieren nahezu wörtlich die bedeutendste hochgotische Kirche der Stadt, die Kathedrale Nôtre-Dame, ein Bauwerk, das bei Baubeginn bereits 300 Jahre alt war. Es wäre denkbar, hierin neben einer lokalen Tradition auch ein politisches Signal des Königs zu erkennen, der seiner eigenen Dynastie, den Valois, durch diesen von ihm finanziell unterstützten Bau vielleicht ein Denkmal in der gerade erst wieder als Herrschaftszentrum reetablierten Hauptstadt zu setzen gedachte. Der Architekt führte also nicht einfach die unmittelbar zeitgenössische spätgotische Sakralbautradition fort, welche in Frankreich bis nach 1500 in hoher Blüte stand, sondern griff – anscheinend bewusst historisierend – auf die auch heutigen Betrachtern als ‚klassisch‘ erscheinende Frühphase der heimischen Gotik-Entwicklung zurück (Sankovitch 1995) – ein vergleichbares Vorgehen wie Brunelleschis Orientierung an Florentiner Leitbauten des Mittelalters. Die ‚Re-Naissance‘ galt hier somit nicht der römischen Antike (die man im Paris jener Zeit wohl allenfalls aus Büchern kannte), sondern den Wurzeln der ureigenen, französischen Architektursprache, die man vermutlich nicht als ‚veraltet‘, sondern im Gegenteil als ‚modern‘ (im Unterschied zu ‚antik‘ = alt) empfand. Die Wertschätzung bezog sich offensichtlich vor allem auf die Strukturmerkmale gotischen Bauens, während man durchaus daran interessiert war, die Einzelformen zu modifizieren und hierbei auf die aktuelle, italienisch-antikisierende Modeströmung einzugehen, die gleichzeitig vom Hof propagiert wurde. So gibt es am gesamten Bau bis auf die Achskapelle keine Spitzbögen mehr; das (wie in Nôtre-Dame) 33 m hohe Mittelschiff zeigt dagegen mit seinen Sterngewölben und hängenden Schlusssteinen typische Stilmerkmale der aktuellen französischen Spätgotik, des sog. Flamboyantstils (□ 64). Tatsächlich hätte die
□ 64 Paris, Pfarrkirche St-Eustache, Innenraum, Archi tekt unbek., 1532 – 1640
zeitgenössische italienische Baukunst keine adäquaten Alternativen hierfür geboten: Wie in Prag |▶ 7| war man sich der Überlegenheit der nordalpinen Wölbkunst sehr wohl bewusst (Hesse 2004, S. 63–66). Die Innovation liegt vor allem in den Einzelformen der Wandgestaltung: In geradezu pedantischer Lehrhaftigkeit kombiniert der Architekt die beiden unterschiedlichen Denkansätze – das seine Proportionen vom Gesamtbau herleitende gotische Dienstsystem und das
St-Eustache in Paris
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□ 65 Paris, Pfarrkirche St-Eustache, Äußeres von Südwesten, 1532 – 1640, Westfassade 1754 – 88
aus der Antike übernommene Schema der Superposition – an den Mittelschiffspfeilern und am Strebewerk. Alle Einzelformen sind hier wie aus dem italienischen Vorlagenbuch übernommen: Die dickeren, sog. alten Dienste des Mittelschiffs sind ins Unendliche verlängerte korinthische Pilaster, die sie im oberen Drittel begleitenden schlankeren ‚jungen‘ Dienste, welche die Diagonalrippen tragen, als kannelierte Miniatursäulen gestaltet. Es scheint so, als habe man in St-Eustache beweisen wollen, dass die urfranzösische Art, Kirchen zu bauen, so vollkommen sei, dass sie sogar die ‚Simultanübersetzung‘ in die wiederentdeckten antiken Formen erlaube. Es dauerte noch ein ganzes Jahrhundert, bis dieser Widerstand gebrochen und die internationale Normierung der Sakralbaukunst so weit vorangeschritten war, dass man auch in Paris nach römischem Vorbild für Wandpfeilersaal und Kuppel optierte – die Vorliebe für den exakten Steinschnitt, den man als Charakteristikum einer architecture à la française verstand, wurde freilich beibehalten (Pérouse de Monclos 1982). Ein gutes Beispiel für den neuen römi-
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schen Geschmack ist die nicht weit entfernt im Stadtviertel Marais gelegene Jesuitenkirche St-Paul-St Louis, erbaut von 1627–41 von Étienne Martellange (Pérouse de Montclos 2004a, S. 197 und 211), die als eine französische Variation des römischen Gesù |▶ 22| gelten kann. Trotz einer dezidierten Abwendung von gotischen Formen bewahrte der französische Sakralbau auch in den folgenden Jahrhunderten seine strukturelle Eigenständigkeit, wie die ab 1754 erneuerte Westfassade beweist: Die 1615 begonnene erste Doppelturmfront von St-Eustache war durch den nachträglichen Einbau von Kapellen baufällig geworden und musste 1688 wieder abgerissen werden. Erst im 18. Jh. fand sich im Herzog von Chartres wieder ein Stifter, der die heutige, unvollendet gebliebene neue Front nach Entwürfen von Jean (Hardouin-)Mansart de Jouy, dem Enkel des Erbauers der Place Vendôme |▶ 38|, aufführen ließ. 1788 wurde der Bau eingestellt. Die spätbarocke Fassade (□ 65) zeigt zwar keine direkt aus der Gotik abzuleitenden Strukturen mehr, aber erweist sich dennoch als typisch französisch, indem sie das traditionelle Schema der
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Doppelturmfassade in geläuterte, klassische Formen übersetzt. Der geschlossenen Wand ist eine frei stehende, zweigeschossige Säulenportikus vorgesetzt, welche (im Unterschied zu römischen Relieffassaden wie beim Gesù oder Madernos St. Peter, | ▶ 22| und | ▶ 25|) die Ordnung nicht als plastische Verstärkung der Front versteht, sondern als eine möglichst leichte, luftige, elegante, im Grunde autonome
Skelettkonstruktion. Hier lässt sich eine direkte Linie von den Louvre-Fassaden Lescots und Perraults |▶ 35| bis zur Vorhalle des Pariser Panthéons St-Geneviève |▶ 49| ziehen. In dieser letztgenannten Kirche wird 200 Jahre nach St-Eustache noch einmal der Versuch unternommen, Gotik und Klassik auszusöhnen – dann freilich unter völlig anderen Vorzeichen.
St. Michael in München Rom in Bayern
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ie gelangte Rom nach Bayern? Auf welchem Weg wurden die Innovationen der italienischen Renaissance nördlich der Alpen rezipiert? Die bisher diskutierten Beispiele konnten eher als Beleg für Resistenz statt Akzeptanz gedeutet werden. Der vermutlich wirkungsvollste ‚Infektionsherd‘ lag jedoch nicht im Palastbau, sondern in der Kirche, und zwar genau an der Grenze zwischen dem deutschen und italienischen Kulturraum, in der zum Heiligen Römischen Reich gehörenden Südtiroler Bischofsstadt Trient. Nach einer über zwanzigjährigen Schockstarre reagierte der römische Klerus unter dem tatkräftigen Papst Paul III. Farnese im Jahr 1545 endlich auf die Herausforderung der von Luther in Deutschland ausgelösten Reformationsbewegung und berief das seit langem geforderte allgemeine Konzil dorthin ein – allerdings hatten sich die seit 1529 ‚Protestanten‘ genannten Oppositionellen inzwischen so weit von den ‚Papisten‘ entfernt, dass sie eine Teilnahme verweigerten und die Versammlung somit zur rein innerkatholischen Veranstaltung wurde. Die wichtigste Botschaft beim mühsamen Abschluss des sog. Tridentinums im Jahr 1563 lautete: Die katholische
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Kirche selbst muss sich reformieren, ihre institutionelle Verfassung und Frömmigkeitspraktiken fundamental ändern, um die Zweifelnden dem ‚wahren Glauben‘ zurückzugewinnen oder ihr Abwandern – besonders das der städtischen Eliten in Nord- und Westeuropa – zumindest zu stoppen (Alberigo 1998, S. 333–384). Die wichtigsten Träger dieser Bewegung waren neugegründete sog. Reformorden, der bekannteste darunter die Jesuiten. Diese quasi militärisch-zentralistisch organisierte Kongregation besaß in den Städten, die es vor allem wiederzuerobern galt, selbst noch keine Niederlassungen und war daher auf die Unterstützung der katholisch gebliebenen Fürsten wie Herzog Wilhelms V. von Bayern angewiesen. Sein Vorgänger Albrecht V. hatte den Orden, der sich besonders um die Bildung bemühte, bereits 1559 zur Gründung eines Gymnasiums in seine Hauptstadt München berufen. 1581 stellte der Herzog der Gesellschaft Jesu ein riesiges Areal in zentraler Lage für den Neubau von Kirche und Kolleg zur Verfügung (Baumstark 1997, Abb. 18 ff.). Der 1583 begonnene Neubau sollte zugleich als Denkmal dienen, in dem sich der Stifter ein monumentales Bronze-
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grabmal unter einer Vierungskuppel errichten lassen wollte (Wagner/Keller 1983, S. 82–89, 220–243). Beide, Kuppel und Grabmal, wurden aber schließlich nicht realisiert: Fragmente des geplanten Prunkgrabs wie der bronzene Kruzifixus Giambolognas an den Chorstufen wurden 1819 zur Seite geräumt; an das Kuppelprojekt gemahnt nur ein Stuckring im Vorchorjoch. Dagegen wurde die höchst originelle Fassade der Kirche, die wie bei den Jesuiten üblich an einer Ecke des Kollegs liegt (□ 66), wie geplant ausgeführt: Sie erinnert mit ihrem steilen Giebel eher an nordeuropäische Profanbauten |▶ 30, 31| und ist ganz der Verherrlichung der Wittelsbacher gewidmet, denn sie stellt in nahezu gleicher Größe unter der bekrönenden Statue Christi 15 katholische Herrscher Bayerns und des Reiches dar, darunter den Stifter
selbst – eine Art imaginäre Genealogie ohne direkten Bezug zu den Jesuiten. Zwischen zwei flankierenden Portalen wird die Fassade von einer monumentalen Bronzestatue des in Florenz ausgebildeten Bildhauers Hubert Gerhard zentriert: Sie zeigt den Kirchenpatron, den himmlischen Heerführer und Erzengel Michael, der den Teufel mit einer Kreuzlanze zu Boden stößt – eine damals allgemein verständliche Chiffre für den erhofften Sieg des wahren katholischen Glaubens über die protestantischen Ketzer (Wagner/Keller 1983, S. 23–80); darunter prangt das bayerische Herzogswappen. Damit nicht nur die Gläubigen Münchens, sondern alle Welt über diese gelungene Allianz von Thron und Altar Kenntnis erhielt, wurde zur Einweihung 1597 eine reich mit Kupferstichen illustrierte Festschrift mit dem Titel „Trophaea Bavarica“ (Bayerisches Siegeszeichen) herausgegeben (Baumstark 1997, S. 171–198). Das Innere der Jesuitenkirche (□ 67) war, anders als die rein dynastisch konzipierte Fassade, von maßstabsetzender Vorbildwirkung für den süddeutschen Kirchenbau der folgenden zwei Jahrhunderte. Der längsgerichtete Saalraum mit quergerichteten Kapellen erinnert typologisch an S. Andrea in Mantua |▶ 3|, hat aber eine völlig andere Raumwirkung, da er einheitlich weiß verputzt und hell belichtet ist. In Friedrich Sustris’ einschiffigem Bau dominiert ein weites, gleichmäßig erleuchtetes, tonnengewölbtes Mittelschiff, das ohne merkliche Zäsur durch Kuppel oder Querhaus in einen leicht eingezogenen Langchor überleitet, welcher durch den Triumphbogen wirkungsvoll gerahmt wird. Die seitlichen Kapellen, in Mantua tiefe, separierte Räume, sind hier zu flachen Nischen zwischen massigen Wandpfeilern reduziert, die nicht als eigene Raumschicht, sondern nur wie laterale Erweiterungen des Hauptraums wirken. Während die ersten drei □ 66 München, Jesuitenkolleg und Kirche St. Michael, beg. 1581, Hauptfassade
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□ 67 München, Jesuitenkirche St. Michael, Hauptschiff, Friedrich Sustris, 1583 – 97
Kapellenpaare durch Emporen geteilt und quer zum Hauptraum apsidial geschlossen sind, weitet sich die letzte Abseite vor dem Chor über Rechteckgrundriss zu etwa doppelter Breite und voller Raumhöhe, ohne die dominierende Haupttonne in der Art eines Querschiffs zu unterbrechen. In diesen vordersten Kapellen sind die Seitenaltäre parallel zum Hauptaltar an den Schmalwänden aufgestellt. Es folgt am Chorbogen ein weiteres, kleineres Altarpaar, so dass sich beim Blick aus dem Langhaus auf den monumentalen Hochaltar eine kulissenartig gestaffelte Abfolge von fünf Retabeln ergibt. Trotz dieser relativ hohen Komplexität und Variabilität nimmt man den übersichtlichen Raum als einheitlich und einfach, letztlich nur leicht differenziert zwischen Langhaus und Chor wahr. Der hier erstmals, aber bereits mit erstaunlicher Perfektion vorgestellte Typus des sog. Wandpfeilersaals mit eingezogenen Kapellen (□ 68) wurde zum dominierenden Modell für den katholischen Sakralbau im süddeutschen
Raum. Er ist konstruktiv praktikabel, zugleich aber variabel und funktional differenziert; er erlaubt die Anfügung unterschiedlich geformter und orientierter Annexkapellen für Seitenaltäre oder Beichtstühle. Die Kapellennischen zwischen Wandpfeilern, welche als massive statische Kerne auch weit gespannte Gewölbe zu tragen vermögen, bieten zwar ein genügendes Maß an Intimität und Konzentration, kommunizieren aber dennoch in voller Raumgröße mit dem saalartigen Hauptschiff. Durch die Einfügung von Emporen konnten die Abseiten horizontal gegliedert werden – später wurde auf diese Unterteilung aber meist verzichtet. Die römische Mutterkirche des Ordens, Il Gesù |▶ 22|, vermittelt durch ihre nachträglich stark veränderte, dunkel-bunte Raumfassung heute ein ganz anderes Bild, obwohl sie sicher unmittelbares Vorbild war (Baumstark 1997, S. 83–146, 375–412). Dagegen erscheinen die Sakralräume Palladios |▶ 17|, besonders Il Redentore, als direkte Verwandte. Die venezianische
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146 □ 68 München, Jesuitenkirche St. Michael, Grundriss, Friedrich Sustris, 1593 – 97
Kirche setzt sich aber aus zwei deutlich getrennten Teilen, dem Langhaus und dem durch eine Kuppel zentrierten Dreiapsidenchor mit Querhaus zusammen, während die Raumwirkung der eindeutig als Längsbau konzipierten Münchner Kirche mit ihrer indirekten, aber hellen Beleuchtung eher an spätgotische Hallenkirchen mit eingezogenem Chor erinnert (z. B. St. Martin in Landshut) – allerdings sind die das Langhaus in der frühesten Planungsstufe in drei Schiffe unterteilenden Arkaden im ausgeführten Bau entfallen und die Seitenkapellen direkt an das breite Mittelschiff herangezogen. Auch der polygonale, mit Strebepfeilern versehene Umriss des nach einem Turmeinsturz 1590 verlängerten Chores erinnert strukturell an gotische Bauten, aber alle architektonischen Formen und die weiten, behäbigen Proportionen sind kompromisslos ‚modern‘, also ‚antikisch-italienisch‘ – hier ist vermutlich auch der Einfluss des aus Rom als Berater hinzugezogenen Ordensarchitekten Giu seppe Valeriano zu erkennen. Während St-Eustache in Paris |▶ 11| als eine verstörend wört-
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liche Übersetzung der nationalen Tradition in fremdes Vokabular erscheint, in der Kathedrale von Granada |▶ 28| die Reibungen zwischen alt und neu demonstrativ offengelegt werden, ist die Verschmelzung ‚national-traditioneller‘ Raumideale mit den importierten Formen in der Münchner Michaelskirche vollständig und bruchlos gelungen. Der räumlichen Vereinfachung steht eine gegenüber den italienischen Vorbildern tendenzielle Bereicherung des Stuckdekors gegenüber, der hier erstmals alle Wände und Decken überzieht und zu einer besonderen Eigenart des deutschen Barock werden sollte, die man so weder in Frankreich, England noch Italien findet (Wagner/Keller 1983, S. 112–125). Neu und zukunftsweisend ist die einheitlich straffe Totalplanung des Kirchenraums vom Grundriss bis zum Altarbild: Die seitlichen Kapellen sind abweichend zur deutschen Tradition, aber wie in Italien üblich nicht geostet, sondern quer zur Hauptachse orientiert; sie sind nun nicht mehr einzelnen Auftraggebern oder Zünften als deren private Andachtsräume zugeordnet, sondern mit ihren vom Orden selbst festgelegten Altarpatrozinien – meist verehrte Heilige mit ihren dort ausgestellten Reliquien – Teil eines vor allem an die Gläubigen gerichteten theologischen Gesamtprogramms und so der Willkür individueller Stifter entzogen. Der Hauptraum der Wandpfeilerkirche bietet von allen Plätzen gleichwertige Sicht- und Hörverbindungen zu Kanzel und Hochaltar. Der Chor ist, seiner gesteigerten Heiligkeit entsprechend, durch eine deutliche Zäsur vom Laienraum geschieden und in den Nachfolgebauten meist auch reicher als dieser dekoriert. Die Konzentration aller Gläubigen auf den Hochaltar als Ort des Messopfers und des Tabernakels, in dem nach Auffassung des Reform-Katholizismus Christus in Gestalt der Hostie dauerhaft präsent ist und Anbetung erheischt, ist so stets gewährleistet. Die Altäre sind, anders als oft in Italien, nicht als integraler Teil der Architektur konzipiert, sondern als ma-
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teriell und farblich deutlich abgesetzte ‚Möbel‘ isoliert, wie es der nordalpinen Tradition aufwendiger spätgotischer Wandelaltäre entsprach. Es ist bezeichnend, wie sich das römische Schema veränderte, als es nach Bayern kam. Tatsächlich war die Mehrzahl der im süddeutschen Barock errichteten Kirchen in ihrem Charakter eher an den lokalen Vorbildern wie St. Michael als direkt an italienischen Idealen orientiert: So blieb im süddeutschen Barock die von den spätgotischen Hallenkirchen des Landes gewohnte Einfachheit, Weitläufigkeit, Durchsichtigkeit und Helle vorherrschend, als sich südlich der Alpen längst die Vorliebe für zentralisierte überkuppelte Räume, komplexe Strukturen, Buntmarmor und Gold durchgesetzt hatte | ▶ 24|. Während man in Österreich |▶ 39| die südlichen Einflüsse um 1700 gerne wieder aufnahm, blieben die prägenden Strukturmerkmale von Hallen- und Wandpfeilerkirche in Bayern bis in das späte Rokoko weiter vorherrschend |▶ 40|. Die Stucktechnik, zunächst ebenfalls Importgut, schlug dagegen tiefe Wurzeln und wurde selbst zu einem Exportschlager: Stuckateure aus dem Umkreis
des oberbayerischen Klosters Wessobrunn versorgten im 18. Jh. halb Europa mit ihrer Kunst (|▶ 43|, Schnell/Schedler 1988). Eine familiär verbundene Gruppe von Baumeistern namens Thumb und Beer aus der Bodenseeregion, von der Forschung als „Vorarlberger Bauschule“ bezeichnet, entwickelte das Modell St. Michael gleichsam zur Serienreife weiter, indem sie zahlreiche eng verwandte Klosterneubauten (z. B. Weingarten, St. Gallen, Obermarchthal) in ganz Süddeutschland mit Variationen dieses Typus ausstatteten, der daher auch „Vorarlberger Schema“ genannt wird. Das (in St. Michael noch nicht vorhandene) Deckenfresko, in Italien ein nur gelegentlich eingesetztes Dekorationselement, wurde im Spätbarock zu einem geradezu unverzichtbaren Element jedes süddeutschen Kirchenraums, der nun keinesfalls mehr als ultramontanes Importprodukt, sondern als ureigenstes Gewächs erschien. Die von der römischen Reformbewegung intendierte Identifikation auch und gerade der einfachen Gläubigen mit der tridentinisch erneuerten katholischen Kirche war in Bayern angekommen und dauert bis heute an.
Stadt und Kirche Freudenstadt Idealentwurf und Reformation
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u den Schlagworten, die geradezu zwangsläufig fallen, wenn von Renaissancearchitektur die Rede ist, zählt neben dem Zentralbau |▶ 6, 14| auch die ‚Idealstadt‘, mit der sich nach der Definition Hanno-Walter Krufts auch stets ein gewisser utopischer Vollkommenheitsanspruch verbindet (Kruft 1989, S. 14). Für beide Phänomene muss man konstatieren, dass sie in zeitgenössischer Theorie und retrospektiver Betrachtung eine viel größere Rolle als im re-
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alen Baugeschehen ihrer Zeit spielen. Das gilt besonders für jene Stadtanlagen mit regelmäßig-geometrischer Grundfigur, die kaum jemals zur Verwirklichung abstrakter Idealvorstellungen, sondern fast immer mit sehr praktischen wirtschaftlich-politisch-militärischen Absichten gegründet wurden. Der Begriff „Planstadt“ (Maass 1990), oft als Synonym verwendet, ist ebenso missverständlich, suggeriert er doch, die Mehrzahl der Städte sei nur deshalb als un-
Stadt und Kirche Freudenstadt
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geplant zu bezeichnen, weil sie keinem geometrischen Grundschema folge. Doch auch die regelmäßige Rasterstadtanlage auf kreisförmigem Grundriss ist keine Erfindung der Renaissance, wie z. B. ein Blick auf das 1248 angelegte Neubrandenburg im heutigen Mecklenburg-Vorpommern belegt (Halbach 1991, Untermann 2009, S. 188 f.). Dennoch war eine Neugründung wie das hier exemplarisch präsentierte Freudenstadt hochsignifikant für die fürstliche Baupolitik der Frühen Neuzeit, weil sich dort verschiedene, konkrete Motivationen, Ziele und Bedürfnisse mit zeittypischen stadtplanerischen Idealen überlagerten, die schließlich zu einem unvergleichlichen Organismus führten, der in direkter Abhängigkeit von der Stadtfigur einen der originellsten Kirchenbauten der deutschen Renaissance hervorbrachte. Die symbolische Ordnung der Anlage verweist auf ihren Schöpfer und seine Konfession (Roeck/Behringer 1999, S. 20) – hierin durchaus mit dem Escorial Philipps II. |▶ 9| vergleichbar. Freudenstadt wurde am 22. März 1599 durch Friedrich I. von Württemberg an der Südwestgrenze seines Herzogtums gegründet. Sein Hofbaumeister Heinrich Schickhardt hielt den bisher unbesiedelten Platz für ungeeignet und sollte recht behalten, wie langwierige Setzungsprobleme des schwierigen Baugrundes bewiesen. Die neu angelegte Stadt in der Nähe des Bergbauortes Christophstal hatte mehrere Funktionen zu erfüllen: Im Sinne des zeittypischen Merkantilismus war sie zur Ansiedlung von Neubürgern bestimmt – bevorzugt protestantischen Glaubensflüchtlingen aus dem inzwischen wieder streng katholischen Österreich – und sollte zur Förderung der lokalen Erzverhüttung dienen; zugleich markierte sie als ‚Grenzposten‘ vor dem Schwarzwaldkamm die Position des erst wenige Jahrzehnte zuvor, 1534, aus habsburgischer Besetzung befreiten Herzogtums gegen die (konfessionell zersplitterten) Nachbarterritorien im Rheingraben; schließlich bildete sie einen Brückenkopf zur westlich des
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Rheins gelegenen, ebenfalls zu Württemberg gehörenden Grafschaft Mömpelgard (Montbéliard), der ursprünglichen Heimat des Herzogs (Adler 1999, S. 21). Vielleicht war die Stadt sogar als neue Hauptresidenz für das nach Westen expandierende Herzogtum konzipiert? Es leuchtet ein, dass eine derartig voraussetzungslose, rational begründete Stadtanlage nach einer ebensolchen Struktur verlangte, die nach Meinung der Zeitgenossen nur eine geometrisch-regelmäßige sein konnte. Die Anregungen und Vorbilder, welche Schickhardt und sein Landesherr hierbei verarbeiten konnten, waren vielfältig (z. B. Pietro Cataneo, Albrecht Dürer, siehe Kruft 1989, S. 68–81; vgl. Themenblock · Städtebau, S. 248 f.) und es erscheint weder sinnvoll noch möglich, sie nach größerer oder geringerer Ähnlichkeit zu sortieren, da es sich um zeittypische, oft miteinander korrespondierende Schemata und Gestaltungsprinzipien handelt, welche während des Entwurfsprozesses mehrfach variiert wurden, wie die erhaltenen Planserien zeigen. Seit der römischen Antike und verstärkt durch die Vitruv-Rezeption galten Stadtgrundrisse, welche gleichförmigen geometrischen Schemata statt topographischen Vorgaben folgten, als geordnet, funktional und daher wünschenswert. Sie verbanden sich zudem mit den aktuellen Innovationen des Festungsbaus, die statt dünner, hoher Mauern mit wenigen runden Türmen flach ausgebildete, massive, scharf zugespitzte keilförmige Bastionen vorsahen, die dem Artilleriebeschuss im Falle einer Belagerung besser gewachsen waren ( Themenblock · Festungsbau, S. 151). Hierfür könnte die bei Mantua |▶ 3, 5| gelegene, ab 1554 ausgebaute sechseckige Residenz- und Festungsstadt Sabbioneta vorbildlich gewirkt haben (Kruft 1989, S. 34–51). Unmittelbar vor Baubeginn hatten Herzog und Architekt zwei ausführliche Studienreisen nach Italien unternommen und dabei neben Villen, Palästen und Gärten auch Städte mit schnurgeraden Straßen und Laubengängen wie Ferrara,
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moderne Festungen wie Casale Monferrato, aber auch Seidenspinnereien und Pumpwerke kennengelernt, die Schickhardt ausführlich in illustrierten Reisetagebüchern dokumentierte (Kretzschmar 2002, S. 79–109). Während der hier abgebildete sog. Dreizeilenplan ( □ 69 ) das sog. neuitalienische Festungssystem vorsah – es wurde in Freudenstadt erst ab 1666 realisiert (Adler 1999, S. 116 f.) –, zeigt der etwas spätere, die Ansiedlungszone erweiternde sog. Fünfzeilenplan noch den traditionellen, um 1600 nur noch als symbolische Abgrenzung tauglichen Stadtmauertypus (Lorenz/Setzler 1999, S. 143). Die allmähliche, tastende Findung der endgültigen Stadtgestalt nach dem Schema eines Mühle-Spielbretts erwies sich eher als Annäherungsprozess denn als ‚Idealplanung‘: In seinem ersten Entwurf sah Schickhardt als Grundtypus der Wohnparzellen geschlossene Baublocks aus mindestens zehn Häusern um einen Innenhof vor. Das herzogliche Schloss sollte als Zitadelle, also selbständig zu verteidigender Festungsbau, strategisch sinnvoll an einer Ecke der Stadt liegen. In der Mitte wurde etwa ein Neuntel der Siedlungsfläche als Marktplatz mit 450 Schuh (ca. 150 m) Seitenlänge freigehalten. Der fürstliche Bauherr wünschte
dagegen die Anlage seines Schlosses im Zentrum als um 45° gedrehte Vierflügelanlage mit Ecktürmen; Stadt und Schloss sollten von Wassergräben umgeben sein. Diese ästhetisch überzeugende, militärisch aber ineffiziente Disposition erinnert an die Stadtfantasien des aus Savoyen stammenden Protestanten Jacques Perret, der in seinem erstmals 1601 in Paris erschienenen Traktat „Des fortifications et artifices, architecture et perspective“ die Zentren seiner polygonalen Idealentwürfe gerne mit hochhausartigen Palästen besetzte. Auch die 1593 gegründete achteckige venezianische Festungsstadt Palmanova (Roeck/Behringer 1999, Abb. 6) zeigt eine ähnliche, auf einen zentralen Platz ausgerichtete Anlage. Auf Wunsch des Herzogs wurden die Wohnhäuser Freudenstadts schließlich nicht als Blöcke, sondern als giebelständige Zeilen mit den Marktplatz säumenden Arkaden im Erdgeschoss angeordnet, wobei die Ecken jeweils von Winkelgebäuden mit öffentlichen Funktionen wie dem für die wirtschaftliche Versorgung der Einwohner bestimmten Kaufhaus besetzt werden sollten. Als Friedrich I. 1608 starb, war der Markt auf ca. 220 m Seitenlänge erweitert worden. Neubürger wurden mit Privilegien wie kostenlosen Grundstücken und Bauholz gelockt. 1624 gehörte Freudenstadt mit ca. 2300 Einwohnern bereits zu den größeren Kommunen Württembergs (Lorenz/Setzler 1999, S. 144–149). Der Dreißigjährige Krieg bremste aber auch hier durch Pest und Stadtbrand (1632) die weitere Expansion, das Interesse der Herzöge wandte sich wieder anderen Residenzen wie Stuttgart und im 18. Jh. dem neugegründeten Ludwigsburg zu. Da die Mitte der Stadt für das (letztendlich niemals realisierte) Schloss freigehalten wurde, besetzte die 1601–15 errichtete Kirche eine Ecke des zentralen Platzes. Der Architekt – neben Heinrich Schickhardt war wohl auch der □ 69 Freudenstadt, sog. Dreizeilenplan, H. Schickhardt, 1599
Stadt und Kirche Freudenstadt
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□ 70 Freudenstadt, Ev. Stadtpfarrkirche, Inneres, H. Schickhardt, E. Gunzenhäuser, 1601 – 15 (Zustand vor 1945)
lokale Bauführer Elias Gunzenhäuser an der Planung beteiligt – machte aus der Not eine Tugend, indem er der einschiffigen Kirche die L-Form eines Winkelhakens verlieh, so dass nun zwei Saalräume im Winkel von 90° auf den zentralen Bereich mit Altar, Kanzel und Taufstein, den im evangelischen Kirchenbau so genannten ‚Prinzipalstücken‘ ausgerichtet waren, ohne dass die nach Geschlechtern getrennten Gläubigen in beiden Schiffen einander sehen konnten (□ 70). Die Kirche besaß reich mit Stuck und biblischen Reliefs geschmückte Emporen, an der zentralen Binnenecke hätte die Loge des Herzogs ihren Platz gefunden, später wurde hier die Orgel postiert (Kretzschmar 2002, S. 130–141). So zukunftsweisend und unkonventionell dieses originär evangelische Raumschema wirkt, so betont altertümelnd erscheinen dagegen andere Elemente: Durch spitzbogige Maßwerkfenster und Netzgewölbe mit Wappenschmuck verweist der Bau demonstrativ auf die regionale gotische Bautradition. Die charakteristisch vom Quadrat zum Achteck überleitenden beiden Türme an den Außenecken der Winkel lehnen sich unver-
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kennbar an die Stuttgarter Schlosskirche an. Schließlich wurden aus benachbarten, in der Reformation aufgelösten Klöstern wie Alpirsbach mittelalterliche Ausstattungsstücke, z. B. ein ro manisches Taufbecken, ein Lesepult und ein gotisches Chorgestühl hierher überführt. Diese Traditionalismen sind nicht auf Unkenntnis aktueller Kirchenbauschemata zurückzuführen, denn Schickhardt hatte in Rom modernste Bauten wie Il Gesù |▶ 22| skizziert und in Möm pelgard eine Kirche in reinen Renaissanceformen errichtet (Lorenz/Setzler 1999, S. 150–157; Kluckert 1992, S. 57, 76). Vielmehr muss in Freudenstadt wie bei anderen ‚nachgotischen‘ Bauten |▶ 7, 11| von einer bewussten Verschränkung retrospektiv-traditionalistischer und progressividealtypischer Elemente ausgegangen werden. Württemberg war lutherisch, und diese Ausrichtung des Protestantismus war keineswegs bilder- und traditionsfeindlich gesinnt wie die in der Pfalz, der Schweiz und den Niederlanden vor herrschende reformierte Konfession (vgl. Themenblock · Die Konfessionen, S. 284; |▶ 10, 33|). Dass der Besucher Freudenstadts noch heute einen Eindruck von der originalen Stadtgestalt
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gewinnen kann, verdankt sich nach schweren Zerstörungen im zweiten Weltkrieg einem bewusst traditionalistischen Wiederaufbau der Jahre 1947–50 (Burkhardt 1988). Das Innere der Stadtkirche wurde nach dem Totalverlust der wandfesten Bauausstattung allerdings nur vereinfachend und ‚verbessernd‘ wiederhergestellt, indem man z. B. die Altarinsel nun im 45°-Winkel gedreht auf beide Schiffe gleichmäßig ausrichtete; die Marktbebauung wurde mit
gewendeter Firstrichtung, also traufständig, in freier Anlehnung wiederhergestellt. 1619 publizierte der Württemberger Johann Valentin Andreae seine protestantische Stadtutopie „Christianopolis“, deren Gesamtanlage als Quadrat mit Zeilenbebauung unverkennbar an Freudenstadt angelehnt ist: Die Realität wurde zum Vorbild des Ideals (Kortmann 2007).
Festungsbau: Von Leonardo bis Vauban
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ie Frühneuzeit in Europa war – wie schon zuvor das Mittelalter – eine überaus kriegerische Epoche. Eine technische Innovation, die Erfindung und Weiterentwicklung der Artillerie, erzwang ab 1500 eine völlige Umorientierung beim Bau von Verteidigungsanlagen (Neumann 2000). Die hohen, zinnenbewehrten Mauern und Türme der Städte, die Höhenburgen und Wassergräben erwiesen sich gegen weittragende Kanonen als wirkungslos, ja geradezu als gefährlich, da sie gute Ziele waren und beim Aufprall eiserner Explosivgeschosse keinen hinreichenden Widerstand boten. In den meisten Fällen wurden Städte jedoch weder im Sturm erobert noch in Brand geschossen, sondern eingeschlossen, belagert und bis zur Übergabe ausgehungert. Deshalb waren sie mit in der Tiefe abgestuften Festungsringen umgeben, um die Gegner auf Distanz zu halten, bis eigene Truppen (der sog. Entsatz) von außen zu Hilfe kommen konnten. Ideal waren Überschwemmungsflächen, die beim Herannahen der Feinde geflutet werden konnten. Statt steinerner Mauern bevorzugte man, ausgehend von den Niederlanden, ein System flacher, niedriger Erdwälle (vergleichbar heutigen Seedeichen), welche unter feindlichem Beschuss nicht zusammenbrachen, für die Kanonen der Verteidiger als sichere Stellung dienten und in ihrem Innern in gewölbten Höhlensystemen, sog. Ka-
sematten, Schutz für die Soldaten und vor allem die hochexplosiven Pulverdepots boten. Seit Vitruv, der selbst Militärarchitekt war, zählten der Festungsbau und die Konstruktion von Angriffsmaschinen zu den Kernaufgaben der Baukunst (Schütte 1984). Künstler wie Leonardo da Vinci (□ vgl. 20) und Albrecht Dürer gaben eigene Traktate heraus, deren phantastische Einfälle aber oft dem Praxistest nicht standhielten. Als ideal erwies sich dagegen die sog. Italienische Manier, die aus streng geometrischen, meist in fünfzackiger Sternform angelegten Ringwällen bestand, deren spitzwinklig hervortretende Ecken, sog. Bastionen, es erlaubten, die dazwischen zurücktretenden sog. Flanken von der Seite aus zu beschießen, falls ein Gegner darauf vorrücken sollte. Daher versuchten die Belagerer, in die gut abgeschirmten Wälle durch unterirdische Sprengtunnel, sog. Minen, eine Bresche zu schlagen, um die Festung durch eine einzige Schwachstelle zu erstürmen. Die architektonisch meist aufwendig mit Rustikamauerwerk gestalteten Tore waren durch mobile Zugbrücken, vorgelagerte kleine Bastionen (sog. Ravelins) und abknickende Wegeführung gut vor dem direkten Ansturm geschützt. Um Angreifer von den besonders verwundbaren Städten abzulenken, wurden an den Grenzen neue,
Festungsbau
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□ 71 S. Le Preste de Vauban: Plan der Festung Neuf-Brisach bei Breisach, ab 1698
rein militärische sog. Forts angelegt, an denen die Invasoren sich festbeißen sollten |▶ 34|. Ludwig XIV. hatte aufgrund zahlreicher Landeroberungen hierfür besonderen Bedarf. Der berühmteste Festungsbaumeister seiner Zeit, Sébastien Le Prestre de Vauban (Barros 2007), erhielt den Ehrentitel eines Ingenieur de France; er soll 333 Festungen geplant oder erneuert haben, darunter das weitgehend erhaltene Neuf-Brisach gegenüber Breisach am Oberrhein (□ 71). Er begründete in Paris mit dem Corps des ingenieurs du genie militaire den Vorläufer der ersten wissenschaftlich-konstruktiv orientierten Bauhochschule, der späteren École polytechnique ( Themenblock · Berufsbilder, S. 191), und damit der heutigen technischen Universitäten. Das Gelände vor der Festung, das sog. Glacis, sollte den Verteidigern möglichst freies Schussfeld bieten und war daher weder bebaut noch bewachsen. Als die Festungsgürtel im 19. Jh. aufgegeben wurden – die stets steigende Reichweite der Kanonen machte sie funktionslos und das Glacis war längst von Vorstädten eingeschlossen –, dienten diese Flächen meist zur Anlage neuer Ringstraßen, die wie in Hamburg, Frankfurt, Würzburg oder Wien noch
III. Schlüsselwerke
heute die vormalige Sternform nachzeichnen. In Paris erfolgte die Niederlegung der alten, noch gerade geführten Stadtmauern schon ab 1668. Die dort angelegten neuen breiten Prachtstraßen um den Stadtkern heißen daher bis heute Boulevards in Anlehnung an das niederländische Wort für „Bollwerk“. Am Rande der befestigten Städte lagen meist besonders stark gesicherte kleinere Forts, Zitadelle oder Reduit genannt, in die sich die Belagerten zurückziehen konnten, falls der Hauptring irgendwo durchbrochen werden sollte. Diese dienten aber ebenso gut, z. B. in Florenz (□ vgl. 49), zur Disziplinierung der Städte im Falle von inneren Aufständen gegen die Obrigkeit. S’Hertogenbosch in den Niederlanden, Jülich am Niederrhein, die Festung Wülzburg in Bayern und die Zitadelle Spandau bei Berlin (um nur einige Beispiele zu nennen) zeigen diese Anlagen noch in weitgehender Erhaltung (Burger 2007). In anderen Fällen, z. B. Sabbioneta in Norditalien oder Mannheim, verband sich die nüchterne Notwendigkeit des Festungsbaus mit dem zeittypischen Ideal einer geometrisch durchorThemenblock · Städtebau, ganisierten ‚Idealstadt‘ ( S. 284).
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Die Basilius-Kathedrale in Moskau Variationen über ein altrussisches Thema
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s gibt Monumente, die repräsentieren ein ganzes Land. Die Freiheitsstatue und der Eiffelturm symbolisieren im kollektiven Bildgedächtnis der Gegenwart nicht nur New York und Paris, sondern zugleich die USA und Frankreich. Auch Russland besitzt ein solches nationales Wahrzeichen, das mit den anderen genannten Beispielen gemeinsam hat, gerade nicht typisch, sondern vielmehr einzigartig und damit unverwechselbar zu sein: die sog. Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz vor dem Moskauer Kreml (□ 72). So ungewöhnlich und neuartig sie bei ihrer Errichtung im 16. Jh. war, so ‚typisch russisch‘ erscheint sie in ihrer auffälligen Buntheit und verwirrenden Formenvielfalt den heutigen Betrachtern. Der radikale Bruch sowohl mit den Traditionen altrussischer Kirchenbaukunst als auch mit den unmittelbar vorhergehenden, tastenden Versuchen, den orthodoxen Sakralbau mit Elementen der italienischen Renaissance zu verbinden, erklärt ihre epochale Bedeutung. Ähnlich wie Bramantes römischer Tempietto |▶ 6| ist dieser einzigartige Zentralbau eher architektonische Skulptur als Kirchengebäude, ein historisches Ereignisdenkmal und Aufbruch in eine neue gestalterische Epoche: ein ‚Schlüsselwerk‘ im eigentlichen Wortsinn. Die russische Kirchenbautradition unterscheidet sich von der westlichen in wichtigen funktionalen und liturgischen Prinzipien. Während im katholischen Bereich jede Stadt lediglich eine Kathedrale als Sitz des lokalen Bischofs kennt, die in sich wiederum zahlreiche
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liturgische Subzentren, Nebenchöre, Privatkapellen und Seitenaltäre bergen kann, sollte nach orthodoxem Verständnis jeder Sakralraum jeweils nur einen Altar enthalten, also einem einzigen Heiligen oder Kirchenfest geweiht sein. So finden sich im Moskauer Kreml nebeneinanderliegend zwölf Kirchen verschiedenster Jahrhunderte, von denen mehrere in der westlichen Literatur als ‚Kathedrale‘ bezeichnet werden (die bessere Übersetzung von sobor wäre wohl ‚Hauptkirche‘: Volbach 1990, Fig. 32).
□ 72 Moskau, sog. BasiliusKathedrale auf dem Roten Platz, Äußeres von Süden, Posnik/Barma (?), 1555 – 88, Farbfassung 17. Jh.
Die Basilius-Kathedrale in Moskau
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Die vorherrschende Raumform ist hier der überkuppelte Zentralbau, oft eine annähernd quadratische, durch vier oder mehr Stützen geteilte Hallenkirche, deren Schiffe im Osten durch ein Chorjoch mit Zungenmauern und drei parallelen Apsiden geschlossen werden. Verbindet sich diese Struktur mit einer Kreuzform der Hauptschiffe, so entsteht der Typus der sog. Kreuzkuppelkirche, bei der die Vierung durch eine meist belichtete Tambourkuppel betont wird (Faensen 1990, S. 10 ff.). Die vier Eckräume, welche durch die Kreuzstruktur der Hauptschiffe ausgeschieden werden, sind manchmal mit eigenen, kleineren Nebenkuppeln versehen, so dass ein charakteristisches Quincunx-Schema entsteht: ein kompakter, kubischer, kaum durchfensterter Hallenbau, dessen Äußeres aus mehreren, mit separaten Tonnendächern bedeckten Jochen zusammengesetzt erscheint, über dem sich fünf abgestufte turmartige Kuppeln mit ‚Zwiebelhauben‘ erheben. Dieser Bautypus hat, wie die gesamte christliche Kunst Russlands, seine Wurzeln im byzantinischen Kulturraum. 988 nahm der in Kiew residierende Großfürst Vladimir für sich und sein Volk den christlichen Glauben orthodoxer Prägung an, so dass die künstlerischen Vorbilder der sog. altrussischen Kunst eher in Konstantinopel als in Westeuropa zu finden sind. Während dieser Bezug über Jahrhunderte gewahrt blieb, wechselte das politische und kulturelle Zentrum der ‚Rus‘ mehrfach, nicht zuletzt unter dem politisch-militärischen Druck der aus Asien vordringenden Mongolen und Tataren. Die Großfürsten der späteren Hauptstadt Moskau erhoben erst im Spätmittelalter den Anspruch, eine mehr als regionale Vormacht zu sein. 1326 wurde der Sitz des Metropoliten, also das Zentrum der russisch-orthodoxen Kirche, von Wladimir nach Moskau verlegt, welches allmählich die damalige Handelsmetropole und Hansestadt Nowgorod als kulturellen Mittelpunkt ablöste. Durch die
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1444 erfolgte Loslösung der russischen Kirche aus der Abhängigkeit des von der osmanischen Eroberung unmittelbar bedrohten Konstantinopel entstand einerseits das Bewusstsein, das eigentliche Zentrum der Orthodoxie und damit das ‚dritte Rom‘ sei zukünftig an der Moskwa zu finden; andererseits erhielt der künstlerische Austausch mit dem ‚ersten Rom‘, also Westeuropa, eine neue Bedeutung. Folgerichtig legte sich Großfürst Iwan III. nach seiner Hochzeit mit der Tochter des letzten oströmischen Kaisers zunächst inoffiziell den neuen Titel ‚Zar‘, also Caesar oder Kaiser von ganz Russland zu (Faensen 1990, S. 201–216). Das neue, imperiale Selbstverständnis der Moskowiter erklärt die gleichzeitige Berufung norditalienischer Baumeister, welche vor allem bei der Erneuerung der Mauern der dreieckigen Stadtfestung Moskaus, des Kreml, ihre Spuren hinterließen. Der zuvor in Ungarn tätige Bologneser Aristotele Fioravanti, ein Freund des Mailänder Architekturtheoretikers Filarete, errichtete 1475–79 die Uspenski-Kathedrale (auch Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale genannt) nach dem Vorbild einer hochmittelalterlichen Kirche mit dem gleichen Patrozinium in Wladimir, dem vormaligen Sitz des allrussischen Metropoliten (Faensen 1990, S. 93 f.). Die Innovationen dieses Neubaus blieben weitgehend auf eine systematisierende Angleichung der Proportionen und konstruktive Details wie Ziegelgewölbe beschränkt, während sich die äußere und innere Gestaltung aufs Engste an der regionalen Tradition orientierte. Niemand würde auf den ersten Blick als Erbauer dieser Kirche einen in Italien geschulten Baumeister vermuten: Vielmehr galt es anscheinend, die innerrussische Kontinuitätslinie möglichst bruchlos fortzuschreiben. Dieses unbeirrbare Festhalten an einem verehrten Urbild erinnert an das Prinzip der Ikonenmalerei, bei der die möglichst identische Kopie eines Originals zugleich die Übertragung von dessen Heilswirkung sichern soll.
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Eine andere Sprache spricht die als Grablege der Moskauer Großfürsten in unmittelbarer Nachbarschaft errichtete Erzengel-Kathedrale, welche ein Vierteljahrhundert später, ab 1505, von einem gewissen Aloisio, genannt der Neue erbaut wurde. Der ausweislich seiner Architektursprache aus Oberitalien stammende Baumeister hielt an dem geläufigen Typus fest, ersetzte aber die dekorativen Elemente des Außenbaus durch italienische Renaissanceformen. So sind die wandabschließenden Blendbögen, die Sacomari, als Muscheln gestaltet, welche von stämmigen korinthischen Pilastern in Superposition getragen werden. Das Prinzip der ‚wortgetreuen Übersetzung‘ einer traditionellen Struktur in ein neues Vokabular erinnert an den etwa gleichzeitigen Neubau von St-Eustache in Paris |▶ 11| und hätte sich vielleicht ebenso als Sackgasse erwiesen, wäre dieser Weg weiter beschritten worden (Volbach 1990, Kat. 290–293). Iwan IV., im Westen unter dem missverständlichen Namen der Schreckliche bekannt (zutreffender wäre vielleicht: der Gefürchtete), ließ sich 1547 als erster Großfürst in der Uspenski-Kathedrale in Anlehnung an das frühere oströmische Zeremoniell zum Zaren krönen. Rechtfertigung für die nun offizielle Annahme des Kaisertitels war die endgültige militärische Niederringung eines für viele Jahrhunderte übermächtigen Gegners, nämlich die Eroberung der Hauptstadt des muslimischen Tataren-Khanats Kasan im Jahr 1552, welche die Südostexpansion Russlands und damit die Begründung seines Großmachtstatus einleitete. Zur Feier dieses Triumphes ließ der Zar ab 1555 vor den Kremlmauern auf einer weiten Freifläche zwischen Burg und Stadt, dem heutigen Roten Platz, eine Gedächtniskirche mit dem Namen Mariä Schutz bzw. Fürbitte errich-
ten. Dieses Bauwerk, eher Siegesmonument als Gotteshaus, brach in auffälliger Weise mit den Traditionen der um den Kathedralsplatz des Kreml versammelten Kirchen. Der Grundriss (□ 73) zeigt eine weitgehend regelmäßige sternförmige Anlage, wobei sich acht kleinere Kapellenbauten mit separaten Außenmauern und bekrönt von einem jeweils eigenen Turm um den zentralen ‚Kathedralbau‘, ein Achteck mit trapezförmigem Choranbau, gruppieren. Die vier Hauptrichtungen sind jeweils von oktogonalen Bauten besetzt, die östlichen Eckkapellen weisen einen rechteckigen Grundriss, die
□ 73 Moskau, sog. Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz, Grundriss und Schnitt, Posnik/Barma (?), 1555 – 88
Die Basilius-Kathedrale in Moskau
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westlichen eine merkwürdige Herzform auf, die eine Folge ihres jeweils nach Osten ausgerichteten, apsidial geschlossenen Chorraums ist. Der Außenbau unterstreicht den Charakter einer eng zusammengerückten Kirchenfamilie, indem jede Turmkuppel ihre jeweils individuelle Gestaltung erhielt. Es handelt sich hier also nicht um eine weitere Variante des Kreuzkuppeltypus, sondern eine Gruppe sog. Zeltdachkirchen, einer erst im 16. Jh. entwickelten, für Moskau typischen neuen Bauform (Faensen 1990, S. 279–324), deren unmittelbare Vorläufer in den heutigen Moskauer Vororten Djakowo und Kolomenskoje zu finden sind. Die oktogonale, vieltürmige Gesamtanlage kann auch als Anspielung auf das Himmlische Jerusalem verstanden werden. Der Charakter einer heterogenen Baugruppe wird durch die heutige, auffällige Backsteinsichtigkeit und Buntfarbigkeit noch unterstrichen, die im 17. Jh. das ursprüngliche, traditionellere Farbkonzept der vormals weißen Außenmauern und einheitlich vergoldeten Turmhelme ablöste. An der Nordostecke wurde 1588 zu Ehren des seligen Basilius, eines sog. Gottesnarren, eine weitere Kapelle angefügt; Basilius (Wassili) genoss bald nach seinem Tod als furchtlos die Wahrheit sagender (scheinbarer?) Geisteskranker heiligmäßige Verehrung, so dass sein Name bald auf das ganze Bauwerk überging. Im Westen ist der Kathedrale eine gegenläufige, weitausgreifende Freitreppenanlage vorgelagert, die mit ihren später überdachten Galerien den gesamten Kirchenkomplex umgreift und erschließt. Ein asymmetrisch an der Südostecke angefügter Glockenturm mit spitzer Haube ergänzt das malerisch und unregelmäßig wirkende Ensemble. Die neun für sich abgeschlossenen Kapellenräume tragen jeweils ein für den Bauherrn bedeutsames Patrozinium, z. B. nach dem Tagesheiligen siegreicher Schlachten gegen die Tataren oder anderen zentralen Glaubenswahrheiten, wie des Einzugs Christi in Jerusalem
III. Schlüsselwerke
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oder der Dreifaltigkeit. So eindrucksvoll Struktur und Grundriss der Baugruppe sind, so wenig überzeugt die Wirkung der hohen, engen und mehrheitlich dunklen Innenräume mit dem sie verbindenden, ornamental ausgemalten Korridorsystem. Der Denkmalbau ist vor allem auf seine Außenwirkung zwischen Kreml und Stadt hin konzipiert. Die Architekten der Anlage, deren Namen mit Posnik und Barma überliefert sind, waren vermutlich Einheimische. Daher finden sich nur wenige Formen am Außenbau, die dem Kanon der antikischen Renaissancearchitektur entsprächen, dagegen ein erstaunlicher Variationsreichtum an traditionellen russischen Bauformen, die zum Teil an den Wehrbau erinnern. Das Innovationspotential dieser ‚nationalen‘ Architektursprache wurde erst im 19. Jh. voll wirksam, weil die um 1700 eingeleitete entschlossene Westorientierung der russischen Kunst |▶ 34| eine unbefangene Rezeption zunächst erschwerte. Lediglich die fröhliche Buntheit der vielgestaltigen, kräftigen Einzelformen scheint in der barocken Architektur Russlands unmittelbaren Widerhall gefunden zu haben. Die Basilius-Kathedrale belegt, dass die scheinbar alternativlose ‚Weltsprache‘ der antikischen Renaissance italienischer Provenienz nicht überall die ungezügelte Kreativität im heimischen Idiom völlig verdrängen konnte. Man hat diesen hochoriginellen Stil daher auch als „Post-Byzantinischen Manierismus“ bezeichnet (Shvidkovsky 2007, S. 123–146). Das Niegesehene dieser Architektur spiegelt sich in der Legende, Iwan der Schreckliche habe den Architekten nach Vollendung der Kathedrale blenden lassen, um zu verhindern, dass er sein eigenes Werk noch einmal übertreffen könne. Es ist sicher kein Zufall, dass der erste gekrönte Zar Russlands zugleich Initiator und Bauherr jenes Monuments war, das über alle ideologischen Brüche hinweg emblematisch für ein ganzes Staatswesen steht, das bis heute vom Moskauer Kreml aus regiert wird.
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Die Süleymaniye-Moschee in Istanbul Renaissance am Bosporus
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ann endet das Mittelalter und beginnt die (Frühe) Neuzeit? Leider lässt sich eine solche Frage nicht mit derselben Eindeutigkeit und Stringenz beantworten wie bei unbestrittenen historischen Wendepunkten, z. B. dem Berliner Mauerfall 1989 oder der Französischen Revolution 1789. Die Entdeckung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Gutenberg um 1450 oder des Seewegs nach Amerika durch Kolumbus 1492 werden oft als Schwellenereignisse genannt. Für West- und Mitteleuropa sind dies sicher wichtige Einschnitte – für den Mittelmeerraum und Osteuropa war dagegen ein anderes Ereignis von wirklich fundamentaler Bedeutung: die Eroberung Konstantinopels durch den türkischen Sultan Mehmet II. genannt Fatih im Jahr 1453. Diese militärische Katastrophe bzw. dieser Triumph (je nach Sichtweise) beendete die Existenz eines multinationalen, griechisch sprechenden, sich selbst als eigentlichen Rechtsnachfolger des antiken Rom verstehenden Imperiums, das 1100 Jahre lang am Bosporus das kulturelle und politische Zentrum der orthodoxen Christenheit gebildet hatte. Nun errichteten die Osmanen, wie sich die seit ca. 1350 in Edirne (Adrianopel) an der heutigen griechisch-türkischen Grenze ansässige Dynastie nach ihrem Gründer nannte, nur wenige Jahre vor der Vertreibung der letzten Araber aus Spanien im Jahr 1492 wieder eine muslimische Großmacht, welche die europäische Geschichte für die folgenden Jahrhunderte mitbestimmen sollte, während sich das politische Zentrum des orthodoxen Christentums ins slawisch sprechende Russland verschob |▶ 14|. Es ist nur verständlich, dass die neuen Herrscher, unter denen sich der zunächst inoffizielle Name Istanbul einbürgerte, als Erstes die
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Hauptkirche der oströmischen Kaiserresidenz, die 532–537 erbaute berühmte Hagia Sophia (Volbach 1990, S. 219), in eine Moschee umwidmeten. Äußerliches Zeichen war die Entfernung eines die Kuppel zuvor bekrönenden Kreuzes und die sukzessive Hinzufügung von vier Minaretten an den Ecken der Basilika. Die Adaption erschien umso leichter möglich, als islamische Gotteshäuser nur wenige zwingende räumliche Vorgaben kennen: Eine Gebetsnische, der sog. mihrab, zeigt die qibla, also die Richtung der Heiligen Stadt Mekka an; der dorthin zu orientierende Gebetsraum sollte für die Freitagspredigt möglichst viele Gläubige zugleich aufnehmen können, daher war es vorteilhaft, wenn er weiträumig, übersichtlich und wenig unterteilt war, aber die Möglichkeit zur räumlichen Separierung weiblicher Betender, z. B. auf einer Empore bot. Der minbar, eine Art Kanzel seitlich des mihrab, diente der Predigt und Verkündigung. Da weder Längsnoch Querorientierung vorgeschrieben waren, erschien die Verbindung aus Zentral- und Richtungsbau, wie sie das Mittelschiff der Hagia Sophia bietet, die enorme Höhe und Weite ihres Kuppelraums und die von Emporen überdeckten, auf drei Seiten umlaufenden Nebenschiffe als durchaus geeignet für den neuen Ritus. Lediglich die im islamischen Gotteshaus verbotenen Menschenbilder waren nach Möglichkeit abzudecken (Hattstein/Delius 2007, S. 42 ff.; Sauermost 1981, S. 68–82). Die Umwidmung vormals christlicher Kultstätten zu Moscheen war auch schon früher an anderen Orten, z. B. in Damaskus ab 714 praktiziert worden, dort freilich durch einen vollständigen Neubau an Stelle der Johannes-Basilika. Die spanischen Könige ließen die von den ara-
Die Süleymaniye-Moschee in Istanbul
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□ 74 Istanbul, Süleymaniye-Stiftungskomplex, Luftaufnahme, Sinan, 1550 – 57
bischstämmigen ‚Mauren‘ erbaute Hauptmoschee von Granada ab 1524 durch den Neubau einer Kathedrale |▶ 28| ersetzen (Hattstein/ Delius 2007, S. 67–72, 218–227). Hiermit verglichen waren die verändernden Eingriffe an der Hagia Sophia minimal und bezeugten die Wertschätzung, welche die Osmanen dem riesigen Kuppelbau entgegenbrachten. Es hätte nahegelegen, sich wie im katholische Spanien entschieden von der baulichen Tradition der überwundenen Gegner abzuwenden und nach kontrastierenden, eigenständigen Bauformen und Typen zu suchen, die das Neuartige der muslimischen Herrschaft über Byzanz betonten. Stattdessen stellten sich die Sultane, die seit der Eroberung Ägyptens 1517 auch den Titel Kalif, also Nachfolger des Propheten und geistlich-politisches Oberhaupt aller Muslime
III. Schlüsselwerke
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führten, ebenso entschieden in die Nachfolge des oströmisch-byzantinischen Kaisertums. Die christlichen Griechen als bisherige Führungsschicht der Stadt wurden keineswegs vertrieben oder zwangskonvertiert, sie traten (wie die ebenfalls als abrahamitische Buchreligion tolerierten Juden) lediglich ins zweite Glied zurück hinter die Anhänger der nunmehr dominierenden muslimischen Religion. Unter dem ab 1520 regierenden Sultan Süleyman II., genannt der Prächtige, erreichte das Osmanische Imperium seine höchste Blüte. 1529 belagerten die Türken erstmals (erfolglos) Wien, drängten den Einfluss Venedigs im Mittelmeerraum zurück und beherrschten die heiligen Stätten in Mekka und Medina. Inzwischen hatte sich eine eigene Tradition der architektonischen Denkmalsetzung herausgebildet, in-
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dem jeder Sultan im riesigen, sich zunehmend wieder bevölkernden Stadtgebiet Konstantinopels ein nach dem jeweiligen Erbauer benanntes, neues religiös-kulturelles Zentrum in der Rechtsform einer wohltätigen Stiftung errichtete. Diese sog. külliyesi (auch imaret genannt) bestanden aus dem Kernbau einer Moschee, der ein etwa gleich großer, arkadenumstandener Hof mit Brunnen für die rituellen Waschungen vorgelagert war. Hierum gliederten sich die sozialen, wohltätigen und kulturellen Zwecken dienenden Nebengebäude, deren Errichtung und dauerhafter Betrieb gewaltige logistische und finanzielle Leistungen erforderte. Entsprechend dem zunehmenden Reichtum des Imperiums übertraf die 1550–57 erbaute külliye Süleymans (□ 74), mit imposanter Fernwirkung auf dem höchsten Punkt der Altstadt errichtet, die um 1500 errichtete Anlage seines Vorvorgängers Sultan Bayazid bei weitem: Das ummauerte platzartige Zentrum der Anlage, welches auch die türbe, das Grab des Stifters und seiner Gattin in einem Garten hinter der Moschee einschließt, umfasst 216 × 144 m, das höchste Paar der vier Minarette misst 76 m, die Kuppelhöhe der Moschee 49 m. Die rechteckige Kernanlage ist auf drei Seiten umgeben von den mit vielen kleinen Kuppeln versehenen Hofanlagen der Koranschule, der sieben (!) medresen (theologischen Hochschulen), des Hospitals, einer Armenküche, eines Bades (hamam), einer medizinischen Hochschule, kurz gesagt: eine Stadt in der Stadt (Vogt-Göknil 1993, S. 124–132). Schöpfer der Anlage war der 1539 zum Hofarchitekten ernannte Mimar Sinan, der in seiner glanzvollen Karriere nach eigenen Angaben über 300 Bauwerke im gesamten Reich errichtete. Er war Exponent und Produkt eines wohl organisierten Imperiums: Rekrutiert in Anatolien im Rahmen der ‚Knabenlese‘, der institutionalisierten Auswahl begabter Jugendlicher für den Staatsdienst, war er nach seiner Konversion zum Islam zunächst als ‚Militäringenieur‘ in der Elitetruppe der Janitscharen tä-
tig gewesen. 1543–48 errichtete er seine erste Istanbuler Moschee im Auftrag des Sultans zum Gedenken an dessen früh verstorbenen Sohn Mehmed, die daher Prinzenmoschee (S ¸ehzade Camii) genannt wird. In den Ausmaßen bescheidener und weniger systematisch mit den umgebenden Külliye-Bauten verbunden, stellte sie doch eine interessante Variante des seit 100 Jahren am Vorbild der Hagia Sophia orientierten, vorherrschenden Bautypus dar. Sinan ergänzte die zwei Halbkuppeln, welche die Längsachse der ehemaligen Kirche hervorheben, zu einem regelmäßigen Vierapsidentypus von nahezu perfekter Rotationssymmetrie, wie er gleichzeitig auch im Rahmen der römischen St.-Peter-Planung als ideale Form des (christlichen) Sakralbaus diskutiert wurde |▶ 21|. Sinan bezeichnete diesen hocheleganten und harmonisch in sich ruhenden Raum später bescheiden als seine ,Lehrlingsarbeit‘ (Sauermost 1981, S. 111–140). Beim Bau der etwa doppelt so großen zweiten Moschee für Süleyman, nach Aussage des Architekten sein Gesellenstück, lehnte sich Sinan wieder enger an das spätantike Vorbild an, indem er nur die Längsachse mit je einer Halbkuppel besetzte, die Seitenwände des überkuppelten Hauptraums aber mit durchfensterten Schildwänden schloss, die sich zu den Seitenschiffen in einer rhythmischen Travée aus je drei Bögen, gestützt auf riesige monolithische Granitsäulen öffnen (□ 75). Die Kämpferlinie dieser Scheidbögen zieht sich als Materialwechsel, markiert von einem zarten Zwischengesims, durch den gesamten Raum. Das Emporengeschoss wurde an die Außenwände der Seitenschiffe verlagert, so dass der Wandaufbau des Mittelschiffs vereinfacht und die Anräume eng an den Hauptraum herangezogen werden konnten. Die Seitenschiffe sind in elegantem A-B-A-B-A-Wechsel größerer und kleinerer Kuppeln rhythmisiert. In den schräg gestellten Nebenapsiden vermittelt ein Schleier von muqarnas-Dekor, eine traditionell-islami-
Die Süleymaniye-Moschee in Istanbul
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160 □ 75 Istanbul, Süleymaniye-Moschee, Inneres, Sinan, 1550 – 57
sche, an Kristalle oder Tropfsteine erinnernde plastische Schmuckform aus kleinen, übereinandergestellten Spitzbögen, an Stelle von Pendentifs zwischen den im rechten Winkel aneinanderstoßenden Schiffswänden und der einschwingenden Wölbung. Während das statische System der Hagia Sophia unter ihren glatten, spröden, wenig profilierten Wänden unsichtbar bleibt, betont es Sinan in der Süleymaniye durch kräftige Pfeiler und breite Gurtbögen. Die reiche, regelmäßige Durchfensterung spendet homogenes Licht. Die Hauptbögen der Kuppel sind, der türkischen Baugewohnheit entsprechend, leicht angespitzt. Eine durch ein elegantes Eisengitter betonte umlaufende Galerie über dem abschließenden Konsolgesims fasst mit sanfter Schwingung den gesamten Raum zusammen. Die in diesem weniger spektakulären als sorgfältig durchgearbeiteten Raum gezeigte architektonische Haltung erinnert an Brunelleschis Versuch, in S. Lorenzo in Florenz die früh-
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christliche Basilika wiederzubeleben |▶ 2|: Ein hochgeschätzter Bautypus wird evolutionär zu Ende gedacht und unaufgeregt vollendet. Die Süleymaniye wirkt wie eine leicht verkleinerte, ins Elegant-Flüssige und Harmonische gewendete Redaktion der Hagia Sophia – ein gebautes Abbild des auch in Europa akzeptierten Anspruchs, den Sultan nunmehr als ‚türkischen Kaiser‘ zu verstehen, der seiner Hauptstadt den alten, imperialen Glanz wiederverleiht. Die ‚klassische‘ Haltung dieser Wiedererweckung bzw. Vollendung lokaler, antiker Bautraditionen kann daher mit Recht als ‚Renaissance‘ bezeichnet werden (Günther 2009, S. 275–283). Die ruhige, souveräne Proportionierung erinnert an Albertis Definition von Schönheit, bei der ‚nichts hinzugefügt und nichts weggenommen werden könne‘. In seinem letzten großen Moscheebau, nach eigener Aussage seinem ‚Meisterstück‘, der 1574 vollendeten Selimiye Camii in Edirne, verschmolz Sinan schließlich die Qualitäten beider Vorläufer und schuf einen Zentralbau auf oktogonaler Basis mit abwechselnd geraden und apsidialen Obergadenwänden, bei dem der mihrab in einem eigenen Anraum wie der Chor einer christlichen Kirche durch eine tiefe Apsis hervorgehoben ist: Hierdurch wird der Widerspruch zwischen der in ihrer Bedeutung zu betonenden qibla-Wand und der idealen Richtungslosigkeit eines Zentralbaus – ein Dauerproblem auch der christlichen Sakraltypologie der Renaissance |▶ 6| – überzeugend gelöst (Kuran 1987, S. 168–181). Sinans Kunst liegt nicht in der revolutionären Erfindung völlig neuer Raumtypen, sondern im überaus variantenreichen Durchspielen weniger Motive. Gerade seine zahlreichen, für Hofbeamte, Prinzessinnen und reiche Privatleute oft in räumlich beengten Situationen geschaffenen kleineren Moscheen zeugen von
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einer erstaunlichen Phantasie: So ist die 1570– 72 erbaute Sokollu-Mehmed-Pas¸a-Moschee als quergerichtetes Sechseck konzipiert, während die vielleicht zehn Jahre früher entstandene Mirimah-Sultan-Moschee am Edirne-Tor als überkuppelter, strenger Kubus gestaltet ist (Günay 2002, S. 32–40, 74–77). Die im Zeitalter Sinans entwickelte Typen waren derart erfolgreich, dass sie während der gesamten osmanischen Epoche bis zum Beginn des 20. Jh.s im Wesentlichen nur noch variiert, aber nicht mehr grundlegend verändert wurden: Barocke Versuche, völlig neuartige, dramatische Raumbilder zu schaffen, blieben aus. Die hier gefundenen Konzepte erschienen anscheinend so überzeugend, dass sie klassisch,
also zeitlos vorbildlich und bis heute zumindest für türkische Muslime ungebrochen identitätsstiftend wirken. Wenn heute bei Moscheeneubauten in Westeuropa immer wieder auf überkuppelte Zentralbautypen mit flankierenden, bleistiftspitz aufragenden Minaretten zurückgegriffen wird und diese Elemente (irrtümlich) als die eigentlich charakteristischen Erkennungszeichen islamischer Gotteshäuser interpretiert werden, so sollte nicht vergessen werden, dass diese Bauformen eine späte, langnachwirkende Folge jener ‚multikulturellen‘ Adaptionsleistung sind, die sich mit dem Namen Sinans und der ‚osmanischen Renaissance‘ am Bosporus verbindet.
Der Markusplatz in Venedig Das Stadtbild als Staatsbild
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ie Mehrzahl der in diesem Band vorgestellten Bauwerke rechtfertigt ihre Aufnahme unter die sog. Schlüsselwerke durch mindestens eine der beiden folgenden Eigenschaften: Sie gelten im rückblickenden Bezug zur Architekturgeschichte entweder als besonders innovativ oder als repräsentativ für die kulturell und politisch bestimmenden Kräfte der Epoche, also Adel, Klerus oder aufstrebendes Bürgertum. Der Markusplatz in Venedig genügt als Ensemble keinem dieser beiden Kriterien. Weder handelt es sich um eine einheitlich neugestaltete, formal revolutionäre oder für spätere Lösungen unmittelbar vorbildliche Anlage |▶ 20, 25, 27, 38| noch manifestiert sich hier eine zukunftsweisende gesellschaftliche oder künstlerische Strömung. Der Platz ist vielmehr steingewordener Ausdruck eines auf sich selbst
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bezogenen politisch-kulturellen Konservativismus, der vor allem ein Ziel hatte: die Perpetuierung und Selbstvergewisserung einer zunehmend marginalisierten, unzeitgemäßen Staatsordnung, deren Großmachtanspruch bedroht und deren innere Organisationsform ihre Dynamik weitgehend eingebüßt hatte |▶ 18|. Als der Dogenstaat 1797 nach 1100 Jahren durch Napoleon ausgelöscht wurde, hatte er seine innere Stabilität länger als jedes andere politische Gebilde Europas bewahrt. Die Piazza San Marco ist das monumentale Abbild dieser oligarchischen Republik, für die Kontinuität der Staatsorgane in einer sorgfältig ausbalancierten Verfassung die entscheidende Grundlage ihrer einzigartigen, stets gefährdeten Existenz war (Huse 2005, S. 112–143). Venedigs Insellage in der Lagune, dem nordwestlichen, sturmgeschützten Ende der Adria,
Der Markusplatz in Venedig
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war sein größter Vorzug: Vor Angriffen von Land durch ‚Mauern aus Salzwasser‘ geschützt, ermöglichte die Position am Fuß der Alpen in Verbindung mit dem längsten Seeweg im östlichen Mittelmeer den schnellsten Transport orientalischer Importwaren nach Nordeuropa. Diese Schlüsselstellung ging mit der Entdeckung Amerikas verloren, denn die Haupthandelsströme verliefen nun über den Atlantik nach Westen und Süden. Venedig reagierte auf die Infragestellung seiner bisherigen Vormachtrolle mit einem ambitionierten Bauprogramm im Zentrum der Stadt, das die drei mittelalterlichen Symbolbauten des Staates, den campanile (Glockenturm), die Markuskirche und den Palast der Staatsregierung, in ein System von Trabanten einwob, welche den Vorrang
□ 76 Venedig, Markusplatz, Luftaufnahme von Nordwesten
III. Schlüsselwerke
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dieser ‚Kronjuwelen‘ keinesfalls in Frage stellten, sondern deren städtebauliche Suprematie geschickt unterstrichen. Die Beschränkung auf ein vorherrschendes Verkleidungsmaterial, den schneeweißen, über die See leicht importierbaren istrischen Kalkstein, und ein alle Bauten prägendes, zusammenbindendes Motiv, nämlich die engstehende, mehrgeschossige, kleinteilige, seriell gebildete Arkadenstruktur, verlieh den im 16. Jh. rund um die Piazza S. Marco angefügten, vielfältigen Neubauten eine eindrucksvolle Geschlossenheit als Ensemble, ohne monoton zu wirken. S. Marco, oft irrtümlich Markusdom genannt, war keine Bischofskirche, sondern die Palastkapelle des Dogen. Seit 828 beherbergte sie die aus Alexandria geraubten Gebeine des
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hl. Evangelisten Markus, dessen Symboltier, der geflügelte Löwe, zum Wappen der Republik wurde. Der an byzantinischen Kreuzkuppelkirchen orientierte Bau verkörperte den Anspruch, eigentlicher Rechtsnachfolger von Ostrom zu sein |▶ 15|, symbolisiert durch die im 3. Kreuzzug 1204 aus Konstantinopel geraubte und über der Marmorfassade der Kirche aufgestellte vergoldete Bronzequadriga. Zwischen dem Hafenbecken, dem bacino, und der Kirche bildete der 1340–1438 erbaute spätgotische Dogenpalast die Machtzentrale der Republik, einem komplizierten Räderwerk aus zahlreichen sich wechselseitig kontrollierenden Ratsgremien unter der symbolischen Führung eines gewählten Herzogs, Duca oder Doge genannt. Der Stolz Venedigs lag darin, eine befriedete, sichere Stadt zu sein, die auf Mauern zum Schutz gegen innere und äußere Feinde verzichten konnte. Diese Offenheit zelebrierte eine umlaufende zweigeschossige Galerie an der West- und Südseite des Palastes, die zugleich das Motiv für die Folgebauten vorgab: zwei übereinandergeschichtete Säulenarkaden, wobei die obere die Jochweite der unteren halbiert. Hierüber erhebt sich ein als weitgehend geschlossener Block mit Ziegel-Fischgrätmuster gestaltetes, doppelt so hohes Saalgeschoss (Romanelli 1997, S. 122–132). Als vertikale Dominante fungiert auf dem gegenüberliegenden Platzwinkel der im 12. Jh. aus Ziegeln errichtete, frei stehende campanile, eher Staats- und Stadtzeichen als Kirchturm. 1517 erhielt er seine charakteristische Bekrönung mit einer Schallarkade, quaderförmiger Attika als Aussichtsgeschoss und kupfergedeckter Pyramidenspitze. Die Platzanlage selbst (□ 76) hat eine L-Form: Sie besteht aus einem kurzen Arm, der sog. piazzetta, welche den Schiffsanleger am molo mit der Einmündung der Via delle Mercerie verbindet, die zum Rialto, dem Geschäftszentrum der Stadt an der damals einzigen Brücke über den Canal Grande führt. Diese Achse wird gekreuzt
von der eigentlichen Piazza S. Marco, die sich von der Markuskirche leicht trapezförmig verjüngend in westlicher Richtung erstreckt und allseitig von Arkaden umschlossen ist. Angelpunkt beider Platzteile ist der Glockenturm gegenüber dem in den Platz vorspringenden Narthex von S. Marco. Zwischen Kirche und Palast befindet sich der eigentliche Hauptzugang zum Herrschaftskomplex, die sog. Porta della Carta, ein 1438–42 errichtetes spätgotisches Triumphtor, das auf den Innenhof zu einer monumentalen Treppenanlage, der Scala dei Giganti, als Eingang in den nach einem Brand 1483 durch Antonio Rizzo erneuerten Ostflügel des Palastes führt. 1496 begann die Umgestaltung der Piazza an der Nordseite mit einem 152 m langen Verwaltungsgebäude, den sog. Alten Prokuratien. Das Arkadenmotiv, welches schon den mittelalterlichen Vorgängerbau an dieser Stelle geprägt hatte, wurde nun auf ein drittes Geschoss übertragen und von einem hohen, durchfensterten Gebälk mit dekorativem Zinnenkranz abgeschlossen. Den einzigen Akzent dieser nüchtern-seriell gestalteten Platzwand bildet der (vielleicht von Mauro Codussi entworfene) Uhrturm, welcher wie ein Stadttor die Straßeneinmündung der Mercerie überspannt und somit den point-de-vue der piazzetta bildet. Ein monumentaler Markuslöwe auf blauem Grund und die große Glocke auf der Dachterrasse des Gebäudes, von bronzenen Mohrenfiguren angeschlagen, betonen diese wichtige Blickbeziehung (Romanelli 1997, S. 218–221). Die Sichtachse wird an ihrem südlichen Ende am molo durch zwei mittelalterliche Säulenmonumente eröffnet, auf denen die Statuen des Markuslöwen und des Stadtheiligen Theodor thronen (□ 77). Das Gestaltungsprinzip der Gesamtanlage wird hier erkennbar: ein Gegenüber formal unterschiedlicher, aber aufeinander bezogener Elemente, die wenige vorgegebene Motive variieren und sich spannungsvoll ergänzen, aber auf das epochentypi-
Der Markusplatz in Venedig
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164 □ 77 Venedig, Markus platz, Piazzetta mit Markusbibliothek, Campanile und Zecca, J. Sansovino, ab 1537
sche Mittel der Spiegelsymmetrie |▶ 20| meist verzichten. Dass die Baukunst Venedigs über die Reflexion der eigenen lokalen Tradition hinaus Anschluss an die formalen Innovationen Mittelitaliens fand, verdankt sie dem aus Florenz gebürtigen und 1527 aus Rom zugewanderten Jacopo Tatti gen. Sansovino, den der Doge Andrea Gritti 1529 klugerweise zum proto, d. h. staatlichen Bauinspektor vorschlug. Sansovino gelang es in 40-jähriger kontinuierlicher Tätigkeit, die traditionellen byzantinischen und gotischen Strukturmerkmale der lokalen Baukunst mit antikischen Formen zu verschmelzen, ohne dass seine Bauten als Fremdkörper oder Implantate erschienen. Die kleine, aus kostbarem Buntmarmor errichtete loggetta, welche sich an die Basis des campanile anschmiegt und als Versammlungsort der Staatsräte das Gegenüber zur Porta della Carta bildete, ersetzte ab 1537 einen typologisch ähnlichen Vorgängerbau an dieser Stelle, modernisierte diesen aber gestalterisch durch das Zitat römischer Triumphbogenarchitektur und üppigen Reliefschmuck (Romanelli 1997, S. 317, 369). Sansovinos bedeutendster Neubau an der piazzetta war ein 1537 begonnenes zweigeschossiges kommunales Gebäude, nach seiner wichtigsten Nutzung Libreria Marciana (Markusbibliothek, □ 77) genannt, denn das Ober-
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geschoss sollte zur Präsentation der 1468 von dem griechischen Kardinal Bessarion der Republik geschenkten Büchersammlung dienen. Mit diesem Gegenüber zum Dogenpalast gelang Sansovino die Übersetzung der seriellen Architektursprache der Alten Prokuratien in ein zeitgemäßes, antikennahes Palastbauschema: Das Kaufläden beherbergende Erdgeschoss erinnert durch das dorische Tabulariumsmotiv an den Innenhof des Palazzo Farnese |▶ 19| und somit an römische Theater (□ vgl. 1). Bei der Gestaltung des ionischen Obergeschosses versöhnte der Architekt das beherrschende Motiv des Markusplatzes, nämlich die Halbierung der Jochweite in den oberen Arkaden, mit dem statisch begründeten Prinzip korrekter Superposition, dass jede Stütze möglichst auf einer anderen Stütze, aber nicht auf einem Bogenscheitel aufruhen sollte: Er stellte in jede Travée eine Serliana auf kleinen ionischen Säulen ein, so dass Fensterzahl und Achsen in beiden Geschossen übereinstimmen, aber das gewohnte Bild der schmaleren oberen Bogenreihe gewahrt wurde. Den charakteristischen Zinnenkranz der älteren Gebäude des Platzes übersetzte er in eine statuenbekrönte Balustrade. Obwohl die langgestreckte Fassade auf Mittelbetonungen, Risalite oder andere rhythmisierende Akzente verzichtet, ist sie überaus reich mit Skulpturen und Reliefs geschmückt und wirkt hierdurch
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plastischer und voluminöser als ihre Vorbilder (Morresi 2000, S. 191–213). Auch der sog. Eckkonflikt der dorischen Ordnung ( Themenblock · Säulenordnungen, S. 98 f.), ein Dauer-Rätsel der Renaissancearchitektur, ist hier elegant gelöst (Thies 1982, S. 203–216). Man entschloss sich, die Architektur dieses ursprünglich frei stehend geplanten Bauwerks auch auf die Neuen Prokuratien zu übertragen, die an der Südseite der Piazza ab 1583 mit einzelnen formalen Korrekturen durch Vincenzo Scamozzi errichtet wurden; sie erhielten in Entsprechung zur gegenüberliegenden Nordseite ein formal wenig überzeugendes drittes Geschoss. An der westlichen Schmalseite der Piazza, und somit an der Schnittstelle zwischen den beiden unterschiedlich gestalteten Verwaltungsflügeln, lag als Gegenüber zu S. Marco die Pfarrkirche S. Geminiano: Sie wurde unter der kurzen Herrschaft Napoleons 1807 abgerissen und durch einen neuen Palastflügel ersetzt, einer weiteren Variation der Sansovino-Fassade, bekrönt von einer eher plumpen Attika (Morresi 2000, S. 209, 215, 450). Die Reihe der Staatsbauten setzte sich am molo mit zwei weiteren Projekten fort: Neben einem (unter Napoleon durch einen kleinen Park ersetzten) gotischen Getreidespeicher, der die Versorgungssicherheit der Inselstadt veranschaulichte, entstand ab 1536 die zecca, die Münzprägeanstalt der Handelsrepublik und Heimat der ‚Dukaten‘. Sansovino gestaltete wiederum eine zweigeschossige Doppelkolonnade, wählte aber diesmal eine an antiken Bauten wie der römischen Porta maggiore orientierte, schwere Rustika, die den soliden Charakter des ‚Geldspeichers‘ verdeutlichen sollte: Die Dorica prägt hier das Obergeschoss und stützt sich auf Pfeilerarkaden. Aus funktionalen Gründen musste 1558 ein drittes, ionisches Geschoss aufgesetzt werden, das nun optisch wenig überzeugend die – ebenfalls nachträglich von 16 auf 21 Achsen nach Süden verlängerte – Markusbibliothek überragt (Howard 1975, S. 38–47).
An der östlich des Dogenpalastes anschließenden Riva degli Schiavoni folgte ein weiteres, 1563–1614 errichtetes zweigeschossiges Gebäude, das die Justiz der Republik verkörperte, indem es Gericht und Gefängnisse verband. Die berühmte Seufzerbrücke, aus deren Fenstern Verurteilte angeblich den letzten Blick auf die Stadt werfen konnten, bevor sie für immer in den berüchtigten Staatsgefängnissen der ‚Bleikammern‘ verschwanden, verbindet den Bau über einen Kanal hinweg mit dem Ostflügel des Dogenpalastes. Architekt war Sansovinos Nachfolger als proto, Antonio da Ponte, der auch die Rialtobrücke erbaute. In einer weiteren Variation wird hier die Pfeilerarkade nach Art der zecca mit einem rustizierten Obergeschoss toskanischer Ordnung und großen, übergiebelten Rechteckfenstern verbunden (Romanelli 1997, S. 359 ff.). Es ist bezeichnend, dass der heute berühmteste Architekt des venezianischen Cinquecento, Andrea Palladio, keine Spuren am Markusplatz hinterlassen konnte, auch wenn die von ihm in einiger Entfernung auf der anderen Seite des bacino errichtete Tempelfassade des Inselklosters S. Giorgio |▶ 17| nach ihrer Freilegung im 17. Jh. als harmonisches Gegenüber zu Codussis Uhrturm erscheint. Im Gegensatz zum zugewanderten Sansovino war der in Vicenza wohnhafte, gebürtige Untertan der Republik nicht bereit, der lokalen Bautradition die gebührende Achtung zu erweisen. In seiner Heimatstadt errichtete er ab 1549 mit der sog. basilica, dem Rathaus (□ vgl. 12), einen puristischen Gegenentwurf zur kleinteilig-üppigen Doppelarkade der Markusbibliothek. Als nach einem erneuten Brand des Dogenpalastes 1577 darüber beraten wurde, ob der unzeitgemäße, aber einzigartige gotische Bau wiederhergestellt oder völlig neu errichtet werden sollte, präsentierte Palladio den Plan eines dreigeschossigen Neubaus, der allen Ansprüchen zeitgemäßer vitruvianischer Ästhetik entsprochen hätte (Beltramini/Burns
Der Markusplatz in Venedig
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2008, S. 361) – aber nicht dem Selbstbild der Republik: Man entschied sich für die sorgfältige Rekonstruktion des Altbaus und investierte das Geld lieber in eine neue, prunkvolle Innenausstattung der Säle durch die berühmtesten Maler der Republik, Jacopo Tintoretto und Paolo Veronese. Als der Campanile 1902 plötzlich zusammenstürzte, war es schon keine Frage mehr, das inzwischen zur Tourismusikone mutierte Platzensemble möglichst exakt wieder herzustellen. Venedig war endgültig zum Museum seiner selbst geworden. Der Markusplatz ist aufgrund seiner strukturellen, formalen und funktionalen Eigenarten so einmalig, dass er nicht als direktes Vorbild zur Nachahmung geeignet war. Es sind somit
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bestimmte gestalterische Prinzipien oder formale Details, die immer wieder studiert und kopiert wurden: So das geschickte Spiel mit asymmetrischen, aber ponderierten Korrespondenzen, weitgespannten Blickachsen, die Fassung eines Platzes durch vereinheitlichende repetitive Strukturen | ▶ 38, 47| und die trotz allem Reichtum des Details nicht überladen wirkende antikennahe Architektursprache Sansovinos. Die entscheidende Qualität des Ensembles liegt aber in seiner Abbildfunktion für ein komplexes, in seiner Art unvergleichliches politisches System (Hubala 1985, S. 20–102) und in der beispielhaften Transformation spezifischer lokaler Baugewohnheiten in eine zeitgemäße Architektursprache.
S. Giorgio Maggiore in Venedig Die Kirche als Tempel
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a dieses Gebäude in der Form eines Kreuzes errichtet ist, stellt es dem Betrachter jenes Holz vor Augen, in dem das Geheimnis unseres Heils begründet ist. In dieser Gestalt habe ich die Kirche von S. Giorgio Maggiore in Venedig errichtet. […] Die Tempel müssen weite Portiken mit Säulen haben, die größer sind als jene, die sich zu anderen Bauwerken schicken. (Andrea Palladio, Die Vier Bücher zur Architektur, Venedig 1570, Viertes Buch, übers. von Beyer/Schütte 1984, S. 274.) 1565 erhielt der in Vicenza ansässige Architekt Andrea di Pietro della Gondola, genannt Palladio, endlich seinen ersten sakralen Großauftrag in Venedig, der Hauptstadt jener Republik, auf deren Festlandsbesitz, der terra ferma, er bereits als überaus erfolgreicher Erbauer von Villen |▶ 18| und Stadtpalästen hervorgetreten war.
III. Schlüsselwerke
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Als Probestück hatte er 1560–62 das Refektorium (Beltramini/Burns 2008, S. 158 f.) des auf einer Insel im Bacino di S. Marco gegenüber dem Markusplatz |▶ 16| gelegenen Benediktinerklosters erneuert – nun erhielt er den Auftrag für den Neubau der Kirche. Palladio verwendete Teile des Chors und den Turm des 1419 errichteten Vorgängerbaus weiter. Die Hauptfassade der Basilika erhielt einen neuen Bezugspunkt, nämlich die in etwa einem Kilometer Entfernung liegende piazzetta: Diese Neuorientierung eines Bauprojektes auf städtebauliche Fernbezüge | ▶ 20| unterstreicht auch die Gestaltung des Turmes (nach einem Einsturz 1774 neu errichtet), dessen Laterne aus weißem istrischem Kalkstein mit abschließendem Pyramidendach als variierende Spiegelung des campanile auf dem Markusplatz (□ vgl. 77) erscheint (Hubala 1985, S. 253f.).
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Palladio entschied sich für den traditionellsten aller Kirchengrundrisse, die dreischiffige Basilika mit Querhaus und einschiffigem Langchor (□ 78). Die Seitenschiffsjoche sind durch Kreuzgratgewölbe bedeckt, das Mittel- und Querschiff als Stichkappentonnen mit Thermenfenstern gestaltet; über der Vierung befindet sich eine mäßig hohe Tambourkuppel. Das Langhaus ist mit drei Jochen eher kurz und breit proportioniert, die Querschiffe werden durch Apsiden geschlossen. Der Langchor jenseits der Vierung ist noch einmal dreigeteilt in ein dreischiffiges Vorchorjoch, ein einschiffiges Presbyterium – hier steht der von beiden Seiten benutzbare Hauptaltar – und den östlich anschließenden, durch eine Säulenstellung mit darüber befindlicher Orgel abgetrennten Mönchschor. Die eher breit gelagerte, weit ausgreifende kreuzförmige Gesamtanlage, die weniger straff und gerichtet wirkt als etwa S. Andrea in Mantua |▶ 3| oder S. Lorenzo in Florenz |▶ 2|, lässt sich aus der Tradition venezianischer Kreuzkuppelkirchen und den Bauten der lokalen Frührenaissance ableiten, etwa der ab 1493 von Mauro Codussi errichteten Pfarrkirche Santa Maria Formosa. Palladios Bau ist somit auf den ersten Blick alles andere als revolutionär. Die innovative Qualität dieser Architektur liegt nicht in ihrem Raumkonzept, sondern vielmehr in der perfekten Proportionierung und Detaillierung, man könnte sagen in der idealen Übersetzung dieses lokalen Bauschemas in die Sprache des Vitruvianismus, einer gelungenen Aussöhnung zwischen christlicher Kirche und heidnisch-antikem Tempelbau. Bei Brunelleschi war diese Übersetzung vielleicht allzu wörtlich ausgefallen, indem zwar die Einzelform der Bauglieder, aber nicht die monumentale, von wenigen, wirkungsvoll aufeinander abgestimmten Raumkompartimenten bestimmte Konzeption römischer Großbauten rezipiert wurde. Palladio legte seinem Entwurf dasselbe Vorbild zugrunde, das schon Alberti
□ 78 Venedig, Benediktinerabteikirche S. Giorgio Maggiore, Mittelschiff von Westen, A. Palladio, 1565 – ca. 1590
bei S. Andrea in Mantua inspiriert hatte: die als templum pacis missdeutete und daher umso höher geschätzte Konstantins-Basilika auf dem Forum Romanum. Wie in Albertis Kirche umfasst Palladios Langhaus drei Joche, die aber nicht durch massive Raumkuben, sondern durch Pfeilerbündel gegliedert werden, denen zum Mittelschiff hin komposite Halbsäulen mit glatten Schäften auf hohen Postamenten vorgelegt sind. Die Pfeiler selbst bestehen aus korinthischen Doppelpilastern unter einem umlaufenden Gebälk, welche die breiten Scheidbögen zu den Seitenschiffen tragen. Die Pilaster stehen mit ihrer Basis direkt auf dem Boden – hierdurch entsteht bei deutlicher Verwandtschaft aller Bauglieder eine unübersehbare Hierarchie zwischen Großer und Kleiner Ordnung, die noch geschickter miteinander verwoben sind als die reinen Pilastersysteme
S. Giorgio Maggiore in Venedig
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□ 79 Venedig, Benediktinerabteikirche S. Giorgio Maggiore, Hauptfassade, A. Palladio, 1565 – 1610, Turm ab 1775
Albertis im Langhaus von S. Andrea. Ob Palladio Michelangelos etwa gleichzeitige, kompositionell verwandte Gestaltung des römischen Konservatorenpalastes kannte |▶ 20|, bleibt Spekulation. Die Gewölbe, weiß verputzt und nur an wenigen Stellen durch Gurte gegliedert, wirken im Vergleich zu Albertis kassettierten Tonnen römischer Prägung geradezu immateriell. Von diesem neutralen Grund heben sich (wie bei Brunelleschi) die kräftigen, heute in grauer Steinfarbe (ursprünglich wohl leuchtend rot, vgl. Beltramini/Burns 2008, S. 321) gehaltenen Bauglieder umso markanter ab. Insgesamt ist die weitgehend bauzeitliche Dekoration der Kirche sparsam und zurückhaltend, bildlicher Schmuck ist den jeweils durch Ädikulen gerahmten Retabeln in den Querhäusern und an den Wänden der Seitenschiffe vorbehalten. Das der Mittelschiffsgestaltung zugrundeliegende Tabulariumsmotiv wird durch die Einfügung eines schmalen, weiß verputzten Wandstreifens zwischen Scheidbögen und Kranzgesims, welcher als Obergadenwand lesbar ist, geschickt variiert, so dass der Eindruck einer Basilika gewahrt bleibt. Das Hauptgebälk ist über den Säulen verkröpft und durch ein stark plasti-
III. Schlüsselwerke
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sches Konsolgesims sowie einen konvex hervorquellenden Fries ausgezeichnet. Palladio verstand es, mit wenigen, eng miteinander verflochtenen Elementen eine perfekte Binnenhierarchie aller Raumteile zu erzeugen: Jede Form ist logisch aus der anderen herzuleiten und dennoch eigenständig. Die Halbsäulen der Großen Ordnung sind im Querhaus zu Pilastern reduziert, an den Ecken der Vierung treffen beide Motive sich verstärkend zusammen. Das Presbyterium wird durch die Hinzufügung kannelierter Dreiviertelsäulen in den Ecken ausgezeichnet. Verdoppelte kannelierte Vollsäulen der kleineren, korinthischen Ordnung bilden die dreiteilige Kolonnade, welche den Altarraum und den Mönchschor eher verbindet als trennt. Der doppelansichtige Altaraufbau selbst, 1591–93 von Girolamo Campagna, ist als eine frei im Raum stehende plastische Bronzegruppe gestaltet: Die vier Evangelisten tragen die Weltkugel, auf der Christus steht. Die Suche nach einer vollkommen stimmigen Verschmelzung von christlichen Basiliken und römischen Tempeln, wie diese bereits in der Gleichsetzung beider Bauaufgaben im Eingangszitat aus Palladios „Quattro Libri“ erkenn-
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bar wurde, findet eine überzeugende Lösung in der Fassade von S. Giorgio (□ 79), die erst 1610, also dreißig Jahre nach dem Tod des Architekten vollendet wurde, aber sicher seinen Intentionen weitestgehend entspricht. Palladio gestaltete noch drei weitere Kirchenfassaden in Venedig, S. Francesco della Vigna, SS. Redentore und (vielleicht) die der Jesuitenkirche delle Zitelle, und zwar stets nach demselben, lokaltypischen Schema: Dem aus Ziegel errichteten Bau wurde eine Schauwand aus schneeweißem istrischem Kalkstein vorgeblendet, welche einerseits das römische Portikusmotiv eines Dreieckstympanons auf Säulen evoziert (□ vgl. 26), andererseits die Binnengliederung des dahinterliegenden Raumquerschnitts erkennbar machen sollte. Rudolf Wittkower hat sehr überzeugend vorgeschlagen, diesen Fassadentypus Palladios als zwei übereinander projizierte und aufs Engste ineinander verflochtene Dreiecksgiebel zu lesen, wobei der breitere in der hinteren Ebene die Proportionen und Gliederung der Seitenschiffe durch korinthische Pilaster aufnimmt, während der vorgelegte Mittelteil die durch Postamente erhöhten kompositen Halbsäulen des Hauptschiffs mit dem markanten Zahnfries am Gebälk zeigt (Wittkower 1969, S. 75). Trotz des Materialwechsels und der gänzlich anderen ‚Formgelegenheit‘ ist es Palladio somit gelungen, die Systematik der Binnengliederung am Außenbau vollständig ablesbar zu machen und diese dennoch in eine in sich stimmige, auf Fernsicht von der Piazzetta berechnete Komposition zu überführen. Damit das Ganze nicht allzu formalistisch und streng wirkt, sind einige Lockerungen des Systems eingeplant: Die Mittelachse der viersäuligen Portikus ist geweitet, die Pilaster der kleinen Ordnung werden von der großen halb überdeckt, die Postamente tragen nicht nur die Halbsäulen, sondern auch in den seitlichen Feldern positionierte Ädikulen mit den Grabdenkmälern zweier lange zuvor verstorbener Dogen – auch dies eine typisch venezianische
Tradition der Fassadengestaltung. Anscheinend hatte Palladio zunächst eine offene Tempelvorhalle aus frei stehenden Säulen vorgeschlagen, die den Portiken der Villa Rotonda |▶ 18| und der nicht ausgeführten St.-Peters-Fassade Michelangelos |▶ 21| geglichen hätte, aber zu dieser für Kirchenbauten revolutionären Lösung konnten sich seine Nachfolger nicht entschließen (Beltramini/Burns 2008, S.176 ff.). Die 1577–92 als Votivstiftung für die Überwindung der Pest nach Palladios Plänen errichtete Franziskanerkirche SS. Redentore (die Kirche des Erlösers) auf der benachbarten Insel Giudecca (Wundram/Pape 1988, S. 156–163) kann in mancher Hinsicht als noch ausgereifter gelten: Hier entschied sich der Architekt für den moderneren Typus der Saalkirche mit Seitenkapellen |▶ 3, 22|, dem nach einer deutlichen Zäsur ein Trikonchos angefügt ist. Palladio perfektionierte das Schema des durch Kolonnaden ausgeschiedenen Mönchschors, indem die Säulenstellung die apsidiale Form der Querhausarme nachzeichnet; das Schichtungsund Überschneidungssystem der Fassade ist noch komplexer angelegt, indem hier insgesamt vier zum Teil fragmentierte Tempelgiebel ineinandergeschachtelt sind. Die Vereinigung von Pfeiler- und Säulenpaar unter einem Hauptgebälk erhöht die Vielfalt der Komposition, aber nicht ihre strukturelle Klarheit. Der Vergleich der beiden sakralen Hauptwerke Palladios in Venedig zeigt die Doppelgesichtigkeit seiner Architektur: S. Giorgio steht für eine um Klassizität bemühte, vitruvianisch gesinnte Haltung, die auf vollkommene Klarheit, Logik und Systematik gerichtet ist. Der Bau vereinigt antiken Tempel und kreuzförmige Basilika – eine Lehrbuch-Lösung, welche die enorme Nachwirkung des Architekten besonders in den nordeuropäischen Ländern (□ vgl. 15) erklärt. Es ist derselbe Purismus, der die Villa Rotonda |▶ 18| zum emblematischen Bauwerk der Renaissance gemacht hat. Die Redentore-Kirche zeigt dagegen den Innovator und Experimentator Palladio,
S. Giorgio Maggiore in Venedig
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der ebendiese scheinbar alternativlosen, stimmigen Regeln guter Architektur in Frage stellt, relativiert und schließlich bricht. Palladios Werk belegt, dass Ordnung und Erfindung in der Frühneuzeit keine Gegensätze oder Alternativen, sondern Pole in einem Spannungsverhältnis sind. Renaissance als der Versuch, die sorgfältig erkundete, exakt aufgemessene und wohlproportionierte Antike vollkommen zu verstehen und wieder in ihr Recht zu setzen, und die entgegenlaufende Bemühung, diese selbst formulierten Gesetze innovativ zu durchbrechen und zu überwinden – eben jene Haltung, die man als Manierismus bezeichnet –, sind daher nicht als Gegenentwürfe, Aktion und Reaktion oder als eine klare zeitliche oder stilistische Stufenfolge zu verstehen, sondern als aufs Engste miteinander verflochtene Eckpfeiler künstlerischer Kreativität dieser Epoche. Ein drittes, für den katholischen Sakralbau jener Jahre bestimmendes Element tritt hinzu: die Suche nach einer neuen, der Heiligkeit der Bauaufgabe angemessenen Einfachheit und Strenge der Gestaltung. Farben und Gemälde sollten nach Palladio nur insoweit vorkommen,
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als sie der Frömmigkeit dienen (Palladio/Beyer 1984, S. 275). Die Betonung der symbolischen Bedeutung der Kreuzform, das wiedererwachte Interesse am basilikalen Langbau statt dem von Palladio im zweiten Kapitel seines vierten Buches ausdrücklich gelobten Ideal des Zentralbaus für (heidnische) Tempel (ebd., S. 273) sind Ausdruck einer inhaltlichen Neubesinnung der katholischen Welt nach dem Konzil von Trient im Zeichen der sog. Gegenreformation, zutreffender als katholische Reform zu bezeichnen ( Themenblock · Die Konfessionen, S. 284). Die Entscheidung, die römische Peterskirche doch nicht als Zentralbau zu vollenden |▶ 21|, und die maßstabsetzende Konzeption der Jesuitenkirche Il Gesù |▶ 22| fallen in dieselben Jahre. Die Chorgestaltung der in asketischem Weiß gehaltenen Jesuitenkirche St. Michael in München |▶ 12| erscheint direkt vom Mönchschor der venezianischen Abteikirche beeinflusst. Palladios Werk verbindet alle Tendenzen seiner Epoche und formt daraus jeweils eigenständige, exemplarische Lösungen – vielleicht ist er gerade deshalb zum archetypischen Architekten seines Jahrhunderts geworden.
Villa Rotonda bei Vicenza Das Landhaus als Pantheon
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or centuries he has been the architect’s architect – their eternal contemporary – read, observed, imitated or critized. (Beltramini/Burns 2008, S. 382.)
Warum werden bestimmte Gebäude zu weltberühmten „Ikonen der Renaissancearchitektur“ (Markschies 2003, S. 120) und andere nicht? Die naheliegende Antwort, es liege am Architekten, greift zu kurz, denn warum ist der Ar-
III. Schlüsselwerke
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chitekt berühmt? Und sind es alle seine Bauten gleichermaßen? Ist Bekanntheit ein zuverlässiger Indikator von Qualität, und wenn ja, wie definiert sich diese? Das Werk Andrea Palladios (Beltramini/Burns 2008, Boucher 1994), eines der einflussreichsten und berühmtesten Architekten der gesamten Frühneuzeit, ist ein gutes Beispiel hierfür. Vor allem im Bereich des repräsentativen Profanbaus wurde er vorbildlich für die folgenden Jahrhunderte |▶ 31, 44–46|.
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□ 80 A. Palladio: Villa Capra gen. La Rotonda bei Vicen za, Grundriss und Ansicht, aus: „I quattro libri“, 1580
Neben öffentlichen Bauten wie der sog. Basilika in Vicenza – hierbei handelt es sich um die ab 1549 realisierte Neugestaltung der Fassade eines mittelalterlichen Rathaussaalbaus durch umlaufende doppelgeschossige Arkaden (□ vgl. 12) – und städtischen Privatpalästen waren es vor allem die Villen, die er auf der sog. terra ferma (Bödefeld/Hinz 1998, S. 24–68), dem im 15. Jh. mit militärischer Gewalt erworbenen Festlandsbesitz der Seehandelsrepublik Venedig, ab 1530 errichtete. Die berühmteste von allen ist die Villa Capra genannt La Rotonda (der Rundbau) bei Vicenza. Sie ist zugleich eines der untypischsten und funktional mangelhaftesten Beispiele dieser Bauaufgabe; Palladio bildete sie in seinem Architekturlehrbuch, den „Quattro libri“ (Bd. II, Taf. 19) daher auch gar nicht unter den Landhäusern, sondern (wegen ihrer Nähe zur Stadt Vicenza) bei den Stadtpalästen ab (□ 80). Dennoch oder gerade deshalb hat sie jenen unbezweifelbaren Ikonenstatus erreicht, der ihren Ruhm weit über alle anderen der ca. 20 Villen
des Architekten erhebt, selbst wenn diese – wie die zehn Jahre zuvor konzipierte Villa Barbaro in Maser – der Funktion eines herrschaftlichen Gutshauses viel besser entsprechen und von dem berühmten Paolo Veronese ausgemalt wurden (Beltramini/Burns 2008, S. 114 ff.). Wie bei anderen, auf den ersten Blick als ‚reine Idealentwürfe‘ erscheinenden Projekten | ▶ 13| verbergen sich auch hinter der Villenmode des venezianischen Cinquecento handfeste wirtschaftliche und repräsentative Absichten. Die einst das gesamte östliche Mittelmeer und die Adria beherrschende Welthandelsmacht hatte um 1500 empfindliche Rückschläge hinnehmen müssen: Ihre territoriale Expansion in Oberitalien war von einer Allianz der damaligen Großmächte, der sog. Liga von Cambrai, 1508 eingedämmt worden, und die seit 1453 in Konstantinopel herrschenden Osmanen |▶ 15| eroberten in einem zähen Abnutzungskrieg Insel für Insel der Ägäis. Um diese finanziellen und politischen Einbußen auszugleichen, besannen sich die venezianischen Patrizier verstärkt auf die durch Antikenstudien zugleich humanistisch aufgewerteten Tugenden des Land(besitzer)lebens, dessen wirtschaftliche Erträge durch den Ankauf bzw. Ausbau von Gutshöfen im Hinterland der Lagune gesteigert werden sollten. Genauso wichtig war aber auch das Streben nach Gleichrangigkeit mit jenen führenden Familien Europas, die ebenfalls als Kaufleute begonnen und zum Territorialadel aufgestiegen waren: allen voran die Medici in Florenz, aber auch die Fugger in Deutschland. Zugleich war darauf zu achten, nicht allzu demonstrativ aus der ‚Peer-Group‘ gleichrangiger Oligarchen herauszutreten – Villenbesitz war im Gegensatz zum Schlossbau aristokratisch und egalitär zugleich. Die Villa Rotonda, und das begründet wohl ihre Ausnahmestellung, ist ein Bau der Extreme: Er treibt die zugrundeliegenden gestalterischen Ideale in kompromissloser Rigorosität auf die Spitze, welche in den anderen Villen
Villa Rotonda bei Vicenza
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□ 81 Villa Capra gen. La Rotonda bei Vicenza, Äußeres, A. Palladio, beg. vor 1570 – 1608
des Architekten und der Region als Motive nur angedeutet und durch Konventionen der Bauaufgabe – z. B. die Angliederung landwirtschaftlicher Nebentrakte an das Haupthaus oder eine differenzierte Behandlung von Eingangsfront und Rückseite – relativiert werden (vgl. hier z. B. Palladios Villa Emo in Fanzolo von ca. 1558, Boucher 1994, S. 157 ff.). ‚Die Rotonda‘ fasziniert alle Architektengenerationen stets aufs Neue durch ihre Verbindung von formaler Einfachheit und geometrischer Raffinesse. Es handelt sich um einen kubischen Baukörper über Quadratgrundriss mit einem erhöhten Hauptgeschoss, flankiert von je einem untergeordneten Sockel- und Mezzanin-Obergeschoss, welche durch ein breites Gesimsband und das Hauptgebälk getrennt werden. Aus der Mitte des Walmdachs ragt die namensgebende Rotunde als flache (von Palladio zunächst als steilere Halbkugel geplante) Kuppel hervor. Der zylindrische Zentralraum gibt das Grundmaß vor, er ist einem Quadrat von ca. 10 m Seitenlänge eingeschrieben. Vervierfacht man diese Fläche, erhält man die Außenmaße. Jeder Seitenmitte ist eine sechssäulige ionische Portikus mit breiter
III. Schlüsselwerke
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Freitreppe zwischen Antenmauern vorgelagert, deren Maße wiederum dem Grundquadrat entsprechen. Der zwei Stockwerke verbindende Mittelsaal kommuniziert mit den Portiken jeweils über Korridore, zwei schmalere und zwei breitere. Diese sind so proportioniert, dass die kurze Wandseite des größeren der langen Wandseite des kleineren Raumes entspricht, die Räume erscheinen daher harmonisch aufeinander bezogen (Günther 2009, S. 238). Diese kleine Differenzierung innerhalb der scheinbaren Totalsymmetrie des Grundrisses steht im Zusammenhang mit den vier gleich gestalteten L-förmigen Winkeln, die zwischen diesem Achsenkreuz verbleiben und jeweils von einem kleineren und einem größeren Rechteckraum eingenommen werden, welche über eine Art Ringenfilade miteinander kommunizieren. Sockel und Obergeschoss sind durch rein funktionale Wendeltreppen in den Zwickeln des Kuppelraums erreichbar. Dieser war zunächst wie das römische Pantheon (□ vgl. 17), die berühmte ‚Rotonda‘ der Antike, zum Himmel mit einem Opaion geöffnet, im Boden befand sich ein Zisterneneinlass – ein deutlicher Hinweis darauf, dass funktionale Aspekte hier hinter
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dem Wunsch nach demonstrativer Antikenevokation zurückstanden. Die spätestens 1570 begonnene villa suburbana – genauere Daten fehlen, aber der Bau ist in den in diesem Jahr erschienenen „Quattro libri“ des Architekten bereits abgebildet – wurde erst nach Palladios Tod durch seinen Schüler Vincenzo Scamozzi um 1608 vollendet. Der erste Bauherr, Paolo Almerico, war als Kleriker aus Vicenza nach dem Ende seiner Karriere in päpstlichen Diensten nicht auf Erträge aus der Landwirtschaft angewiesen. Er konzipierte das Haus wohl im Wesentlichen als eine Art repräsentativen Pavillon für temporäre Zusammenkünfte mit gelehrten Gesprächspartnern, aber weder als ständigen Wohnsitz noch als Gutshof – Goethes bekannte Beobachtung, das Haus sei „wohnbar, aber nicht wohnlich“ (Bödefeld/ Hinz 1998, S. 126), trifft somit zu. Die isolierte Lage auf einem Hügel erklärt, warum hier der gleichseitige An- und Ausblick in alle Himmelsrichtungen wichtiger war als eine funktionelle Differenzierung der Innenräume (□ 81). 1591 wurde die Anlage an den Großgrundbesitzer Mario Graf Capra verkauft und das Bauprogramm einer typischen Villa vervollständigt, z. B. durch eine Kapelle und Nebengebäude. Es folgten gewisse Veränderungen im Sinne größerer Funktionalität wie die Schließung der Kuppel durch eine Laterne, der direkte Zugang zu den Wirtschaftsräumen im Sockelgeschoss und die Teilung des Obergeschosses in kleinere Wohnräume im 18. Jh. Die dominante Freskierung des Mittelsaals aus dem späten 17. Jh. von Louis Dorigny dürfte kaum Palladios auf ‚reine Architektur‘ gerichteten Intentionen entsprochen haben. Die Wohnräume zeigen dagegen noch die Spiegel‑Voluten‑Dekorationen der unmittelbaren Erbauungszeit, welche Stuckrahmen und Fresken zu geometrischen Bildfeldern kombinieren (Boucher 1994, S. 290 – 298). Die weltweite Vorbildwirkung der Rotonda (□ vgl. 11) – der englische Architekt Inigo
Jones gehörte 1613 zu den ersten Besuchern und verbreitete den Ruhm Palladios vor allem im protestantischen Nordeuropa (|▶ 45, 46|; Oechslin 2008) – überdeckt in den Augen heutiger Betrachter die Merkwürdigkeiten und Konventionsbrüche ihrer Konzeption. Palladio, oft als vorbildlich strenger Klassizist gedeutet, übertritt mit diesem Bauwerk in vielerlei Hinsicht die Regeln ‚guter Architektur‘ seiner Zeit: Als Landsitz genügt der Bau wie beschrieben kaum den funktionalen Erfordernissen. Zugleich usurpiert er mit der vervierfachten, schon dadurch in ihrem Signalcharakter relativierten Portikus (□ vgl. 26) sowie der bis dahin allein für Sakralbauten reservierten Kuppelrotunde |▶ 6| antike Würdeformeln, welche nach der Konvention der Epoche eigentlich nur den höchsten Bauaufgaben Tempel bzw. Kirche |▶ 17| vorbehalten bleiben sollten: ein flagranter Verstoß gegen die sich gerade formierenden Regeln des Dekorums, also der Forderung nach formaler Angemessenheit von Zeichenapparat, Auftraggeberschaft und Funktion. In diesem Sinne ist Palladio trotz seiner (zumindest an diesem Bauwerk) durch und durch klassischen Formensprache ein Exponent des Manierismus, also jener demonstrativen Weitung und Brechung dogmatischer Regeln, die Giulio Romano kurz zuvor mit anderen, plakativeren Mitteln bewerkstelligt hatte. Eine ebenso wichtige Innovation Palladios liegt in der Erfindung des in sich geschlossenen architektonischen Œuvres. Indem der Baumeister aus Vicenza seine eigenen (realisierten und nicht realisierten) Projekte nun erstmals vollständig in einer geschlossenen Werkschau, und zwar in einer abstrahierend-idealisierenden Darstellung aus ihrem originalen Entstehungskontext gelöst in Grundriss, Aufriss und Schnitt umfassend publizierte, erklärte er sein Lebenswerk damit zu einem allgemein nachahmenswerten Exemplum. Die Restriktionen und Zwänge der Auftragsarchitektur wurden hierdurch
Villa Rotonda bei Vicenza
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nebensächlich. Der ‚reine‘ architektonische Entwurf, als Strichzeichnung auf einem weißen Blatt präsentiert und von den Makeln der Topographie und Zufälligkeiten der Bauausführung gereinigt, wird hierdurch zur ‚freien, autonomen‘ Kunst, die unabhängig von ihren konkreten Bedingungen allein aufgrund ihrer formalen Vorbildlichkeit rezipierbar sein soll. Die Nobilitierung eines aus dem Handwerk
sich emanzipierenden Berufsstandes, welchen Alberti durch wortreiche, aber bildlose Gelehrsamkeit betrieb, vollendete Palladio mit den genuinen Mitteln des Architekten, der von wenigen, verständlichen Worten begleiteten anschaulichen Plandarstellung. Die Doppelbedeutung von disegno – Zeichnung und Entwurf – hatte endlich ihre adäquate Publikationsform gefunden.
Theater: Eine Baugattung wird erfunden
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as Theater als eigenständige Bauaufgabe ist vielleicht die wichtigste typologische Neuschöpfung der Frühneuzeit und ein ausgezeichnetes Beispiel für die epochenspezifische produktive Umdeutung antiker Leitbilder (Leacroft 1984). Vitruv beschreibt die griechischen und römischen Bühnen ihrer hohen Bedeutung im öffentlichen Leben seiner Epoche entsprechend ausführlich („De architectura“, Buch V, Kap. 3 – 9). Neben guterhaltenen Ruinen (□ vgl. 1), z. B. in Orange oder dem Marcellus-Theater in Rom, weckte vor allem das Studium der überlieferten klassischen Dramentexte das Interesse, diese im Mittelalter völlig ungebräuchlich gewordene Bauaufgabe wiederzubeleben. Hierbei steigerte man die Rolle, die Gesang und Tanz in den Aufführungen einnahmen, und erfand um 1600 in Italien eine neue Gattung des Musikschauspiels, die Oper, die als festlichste Form bald einen zentralen Platz im Rahmen höfischer Feiern einnahm. Für temporäre Aufführungen waren jedoch keine eigenen Gebäude erforderlich, sie wurden vielmehr im Freien oder in großen Sälen inszeniert: Monofunktionale Theatergebäude waren nur dann sinnvoll, wenn (wie in den Metropolen oder an den Höfen) ein dauernder Spielbetrieb mit eigenen (meist von Privatunternehmern geführten) Ensembles gesichert war. Bis zum Ende der Epoche waren die meisten, vor allem in
III. Schlüsselwerke
Deutschland weit verbreiteten Hoftheater äußerlich unauffällige Annexbauten an Schlössern. Das erste dauerhafte, autonome Theatergebäude für ein bürgerliches Publikum errichtete Andrea Palladio ab 1580 im venezianischen Vicenza mit dem sog. Teatro Olimpico (Magagnato 1992). Der Architekt bemühte sich um eine möglichst wörtliche Umsetzung seiner Vitruvstudien, allerdings wurde das Gebäude anders als in der Antike mit einem festen Dach und aufgemalten Himmel versehen. Die konzentrisch ansteigenden, egalitären Sitzstufen und die als Palastfassade mit drei Toren errichtete Bühnenwand (scenae frons) boten ein prächtiges, aber unveränderliches Bild (□ 82). Durch die Tore blickte man in Korridore, die perspektivisch als Straßenfluchten gestaltet waren und den Auf- und Abtritten dienten. Aus akustischen Gründen bestand der Innenausbau der meisten Theater aus Holz, was verbunden mit der stets notwendigen künstlichen Beleuchtung ein hohes Brandrisiko zur Folge hatte. Das besonders im Barock zum eigenständigen Bautypus weiterentwickelte Hoftheater (Schrader 1988) behielt nur bestimmte Elemente des antiken Schemas, z. B. die erhöhte Bühne, gerahmt von einer feierlichen Proszeniumsarchitektur, und die Halbkreisform des Zuschauerraums bei. Dem Bedürfnis nach
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architektonischer Umsetzung der für das Hofleben konstituierenden hierarchischen Rangordnung entsprach die Einführung von mehreren prächtig dekorierten, stockwerkartig übereinander angeordneten Logenrängen. Die fast ebene Fläche zwischen den Rängen und der Bühne, das sog. Parkett, wurde meist nicht fest bestuhlt, da es bei Bällen als Tanzfläche diente. Die obersten Balkone, die sog. Galerien, waren für das meist weniger vermögende zahlende Publikum zugänglich. Die Logen wurden dagegen wie Privatwohnungen fest vermietet und betonten die Präsenz ihrer jeweiligen Inhaber, die dort während der Vorstellung gemäß der Doppelfunktion des Theaters ‚Sehen und gesehen werden‘ auch Gäste empfingen und aßen. Der Zuschauerraum blieb während der Aufführungen reich mit Kerzen erleuchtet, separate Aufenthaltsräume für die Pausen waren nicht unbedingt erforderlich. Die Mitte des Halbrunds wurde meist durch eine große, mehrgeschossige, sog. Fürstenloge hervorgehoben, die vor allem bei offiziellen Festakten und Staatsbesuchen benutzt wurde, während die Herrscher bei den regelmäßigen Vorstellungen oft andere ‚Lieblingsplätze‘ einnahmen, z. B. direkt hinter dem sog. Orchestergraben im Parkett oder in einer bühnennahen, für alle Zuschauer gut einsehbaren Proszeniumsloge. Ein besonders gut erhaltenes Beispiel stellt das 1748 von dem The□ 82 Vicenza, Teatro Olimpico, Zuschau erraum und scenae frons, A. Palladio, beg. 1580
aterbauspezialisten Giuseppe Galli-Bibiena im fränkischen Bayreuth errichtete Markgräfliche Opernhaus dar (□ vgl. 13). Das gesteigerte Schau-, Bild und Illusionsbedürfnis Themenblock · Ephemere und illusioder Epoche ( nistische Architektur, S. 221 f.) konnte mit einem starren Bühnenaufbau in antiker Tradition nicht befriedigt werden. Stattdessen entwickelte man im 17. Jh. die sog. Guckkastenbühne, d.h. einen meist sehr tiefen, leicht ansteigenden leeren Raum, der durch ein mit Vorhang völlig verschließbares, hohes und breites Bühnenportal mit dem Zuschauerraum verbunden war. Durch die Anbringung seitlicher, schräg in die Tiefe gestaffelter sog. Kulissen (Streifen aus bemalter Leinwand) konnte ein schnell wandelbares perspektivisches Bild erzeugt werden. Durch Schlitze im Boden und Seilzüge an der Decke wurden mithilfe bemalter sog. Soffitten und Rückprospekte überraschend wechselnde Szenerien, Landschaften, Gebäude oder Naturphänomene dargeboten, in denen sich die Akteure in prächtigen, stark von der jeweiligen Zeitmode geprägten Kostümen bewegten. Donner- und Windmaschinen unterstützten akustisch den in vielen Stücken als Höhepunkt eingesetzten effektvollen Auftritt von Göttern, einen Theatercoup, den man als deus ex machina bezeichnete.
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War der Bühnenraum zunächst mit dem Zuschauerraum identisch axialsymmetrisch organisiert, so entwickelten die Galli-Bibiena und ihre Zeitgenossen die sog. scena per angolo, einen im schiefen Winkel durchschnittenen autonomen Bühnenbildraum, der spannungsvolle Schrägsichten ermöglichte und z. B. auch Giambattista Piranesis Architekturphantasien wie die berühmten „Carceri“ (□ vgl. 28) beeinflusste. In Frankreich entstanden im 18. Jh. die ersten bürgerlichen Theater als monumentale kommunale Reprä-
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sentationsbauten. Man kehrte zumindest teilweise zum egalitären Ideal der ungeteilten Balkonränge zurück und bereicherte das Raumprogramm durch große Empfangs- und Pausenräume, sog. Foyers, die oft mit dem Palastbau entlehnten Prunktreppenhäusern verbunden wurden. Victor Louis’ 1780 eröffnetes Theater von Bordeaux kann hier als Pionierbau gelten, der für das bürgerliche 19. Jh. den Prototyp lieferte (Avisseau 1991).
Palazzo Farnese in Rom Der perfekte Renaissancepalast
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aläste sind Seismographen. Während sich die Bauprozesse von Kirchen, man denke etwa an St-Eustache in Paris |▶ 11|, S. Andrea in Mantua |▶ 3|, Il Gesù |▶ 22| oder die römische Peterskirche |▶ 21|, manchmal über Jahrhunderte erstreckten, ohne dass man den beständigen Wechsel der Bauherrenschaft dem fertiggestellten Gebäude noch unmittelbar ansehen könnte, so reagiert der private Profanbau sehr viel direkter und empfindlicher auf Veränderungen der repräsentativen Anforderungen, des Geschmacks, den Wechsel der Architekten oder den Zugewinn an politischer Bedeutung für die Auftraggeberfamilie. Beim Palazzo Pitti in Florenz |▶ 4| ist der Aufstieg vom Haus eines Bankiers zum Palast des Großherzogs unübersehbar an der Fassadenbreite abzulesen: Beim römischen Palazzo Farnese bedarf es etwas genaueren Hinsehens, um konzeptionelle Wandlungen und Brüche dieses auf den ersten Blick scheinbar so geschlossen gestalteten Gebäudes zu erkennen, dessen relativ lange Bau- und Ausstattungszeit zwischen 1513 und 1608 zugleich den Stilwandel von der Hochrenaissance
III. Schlüsselwerke
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über den Manierismus bis zum Frühbarock dokumentiert (Frommel 1973, Bd. 2, S. 103–148, Taf. 38–59; Le Palais Farnèse 1981). Wie in jeder italienischen Kommune konkurrierten auch in Rom unterhalb der Ebene staatlicher Repräsentation die Adelsfamilien um den wirkungsvollsten architektonischen Auftritt im Stadtbild. In der Residenz der Päpste bestand aber insofern eine Sondersituation, als hier ein unkalkulierbares Ereignis über Aufstieg und Fall der Sippen entschied: die Wahl des Papstes, welche in der Frühen Neuzeit regelmäßig auf einen Angehörigen des römischen Stadtadels fiel, der dann – je nach Gesundheit des Erwählten und damit Dauer des Pontifikats – seiner Familie für eine beschränkte Zeit den Zugang zu höchsten Staatsämtern und größten finanziellen Mitteln sicherte. Diese vielleicht nur kurze Spanne galt es zu nutzen, da eine reguläre Dynastiebildung wie in Erbmonarchien nicht möglich war – nur wenige Familien, etwa die Medici, stellten kurz hintereinander zwei Päpste. Zur Legitimierung dieser Praxis ersann man die informelle Position eines Kardinalnepoten, d. h. des nächsten
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Verwandten eines regierenden Papstes, der in den höchsten diplomatischen Rang der Kirche aufstieg und somit als Stellvertreter seines ‚Onkels‘ dafür sorgen konnte, dass die Sippe auch nach diesem Kairos durch Kunstpatronage und bauliche Selbstdarstellung eine gefestigte Position in der ‚Ewigen Stadt‘ und Italien besetzte. Die Farnese ließen sich z. B. durch den aus ihrer Familie hervorgegangenen Papst Paul III. mit Castro, Parma und Piacenza belehnen und errichteten so ein eigenes Erbherzogtum außerhalb des Kirchenstaates. Das Stadtquartier, in dem sich die gerade amtierende Papstfamilie angesiedelt hatte, erblühte somit zumindest für die Dauer des jeweiligen Pontifikats. Ein aufwendiges Bauprojekt konnte von einem Kardinal aber auch schon in Erwartung dieses Aufstiegs als Ausdruck der legitimen Anwartschaft begonnen werden. Alessandro Farnese, der Bauherr des hier vorgestellten, 1513 begonnenen Palastes, erklomm erst 1534 im dritten Anlauf den Stuhl Petri. Zum Zwecke des Nepotismus musste er nicht auf seine Neffen zurückgreifen, denn er hatte bereits lange vor seiner Priesterweihe 1519 zwei Söhne gezeugt, für die der Palast zunächst konzipiert war (Frommel 2009, S. 164 ff.): Das vor Beginn der katholischen Reform primär politisch verstandene Amt eines Kardinals, also eines päpstlichen ‚Ministers‘, hatte Alessandro als Laie bereits seit 1493 inne. Der Palazzo Farnese liegt in unmittelbarer Nähe des Tibers im Viertel Arenula, wo die Familie ab 1495 mit dem Palazzo Ferriz nicht nur den Vorgängerbau ihres alle Nachbarn deutlich überragenden neuen Palastes, sondern auch einen ungewöhnlich weitläufigen Vorplatz sowie einen ummauerten Garten auf der Rückseite erworben hatte, so dass der mächtige, 28 m hohe Kubus bis heute allseitig frei steht – eine Besonderheit im dicht bebauten Stadtkern Roms. Eine rückwärtige Brücke überspannt die Via Giulia, welche den Palast seit 1515 von einem weiteren Gartengrundstück der Farnese am Tiber trennt – eine um 1548 geplante Brü-
cke über den Fluss zur gegenüberliegenden Villa Farnesina wurde nicht mehr ausgeführt, hätte aber den herrischen Gestus des Zugriffs auf ein gesamtes Stadtviertel während des Pontifikats unübersehbar gemacht (Le Palais Farnèse 1981, I S. 83–123, bes. S. 97, 129, II S. 39 ff.). 1513 begann der aus Florenz stammende Antonio da Sangallo d. J. einen Palastbau von ungewöhnlichen Dimensionen, dessen Vorbild der ab 1489 errichtete, ähnlich monumentale Florentiner Palazzo Strozzi seines Onkels Giuliano gewesen sein könnte. Das Projekt ging zunächst schleppend voran, und als es 1541 wieder Fahrt aufnahm, hatte sich die Situation durch die Wahl Alessandro Farneses zum Papst Paul III. radikal verändert. Er übertrug seinem gleichnamigen Enkel, den er unmittelbar nach seiner Thronbesteigung 14-jährig zum Kardinal ernannte, die nominelle Bauherrenschaft, sorgte aber dafür, dass der Palast – einer nunmehr päpstlichen Familie würdig – umgeplant, wenn auch nicht in den Gesamtmaßen vergrößert wurde. Sangallo fasste den an der Südwestecke der Platzfront gelegenen Raum von zwei Geschossen Höhe und fünf Fensterachsen zu einem riesigen, am Außenbau nicht ablesbaren, bis heute weitgehend kahl gebliebenen Saal zusammen. Der in der Gebäudemitte des piano nobile über dem Hauptportal liegende kleinere Balkonraum wurde als salotto dipinto mit einem Freskenschmuck versehen, der den Aufstieg der Farnese und das wohltätige Wirken Pauls III. als europäischer Friedenstifter wenige Jahre nach dessen Tod 1549 verewigte (Le Palais Farnèse 1981, I S. 253–267, II S. 181–215). Eine weitere Innovation lag in der monumentalen, geradläufigen, mit Tonnengewölben überdeckten Haupttreppe an der Nordostecke des Hofes. Entsprechend der Florentiner Tradition verzichtete Sangallo bei der Gliederung der Platzfassade (□ 83) auf Elemente der Säulenordnung: Die glatte Ziegelwand wird nur von Zwischengesimsen und 13 Fensterachsen in Ädikulen unterbrochen, die Rustizierung be-
Palazzo Farnese in Rom
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178 □ 83 Rom, Palazzo Farnese, Platzfassade, A. da Sangallo d. J., Michelangelo u. a., 1513 – 89
schränkt sich auf die Gebäudeecken und die mittige Portalzone. Als einzige Variation gestattete er den Wechsel zwischen Segment- und Dreiecksgiebeln über den Fenstern des piano nobile. Sobald in diesem strengen System eine Abweichung eingeführt werden sollte, entstanden unübersehbare formale Spannungen, so z. B. durch die Einfügung einer größeren Öffnung mit eingestellten Säulen über dem Hauptportal, die dem dort angebrachten Balkon den Charakter einer (päpstlichen) Benediktionsloggia verlieh, wie sie an den Hauptbasiliken Roms zur Segenserteilung üblich war. Als Antonio da Sangallo 1546 starb, löste ihn hier wie im Amt des Petersbaumeisters sein ewiger Konkurrent, der ebenfalls aus Florenz gebürtige Michelangelo Buonarroti ab. Dieser hatte angeblich noch zu Lebzeiten seines Vorgängers den Wettbewerb für die Gestaltung des Kranzgesimses an dem noch nicht vollendeten Palast gewonnen (Argan/Contardi 1993, S. 264–271, Abb. 370). Die Wirkung seiner Modifikation wurde als 1 : 1-Holzmodell an einer Gebäudeecke erprobt und gefiel; sie steigerte noch die Kopflastigkeit und wuchtig-hermetische Monumentalität des dreigeschossigen Blocks. Der neue Architekt überarbeitete auch
III. Schlüsselwerke
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die Balkonloggia, indem er deren gerades Gebälk mit den flankierenden Fensterverdachungen zu einer unkanonischen, das bisherige starre System durchbrechenden Travée vereinigte (Portoghesi/Zevi 1964, Abb. 674–677). Sangallos besondere Stärke lag in seiner geradezu philologisch genauen Antikenevokation, an der sich sogar damals geläufige Missverständnisse ablesen lassen. So ist das Vestibül des Palastes dreischiffig angelegt, das mittlere Joch über toskanischen Säulen mit einem kassettierten Tonnengewölbe überdeckt, als handele es sich um das Mittelschiff einer antiken Basilika (Le Palais Farnèse 1981, II S. 97–109): Vorbild dieser Lösung war offensichtlich die Vorhalle des Pantheons. Sangallo glaubte, hiermit gemäß einer mehrdeutigen Beschreibung bei Vitruv die exakte Rekonstruktion eines römischen Hauseingangs, des Atriums, geschaffen zu haben, von dem heute bekannt ist, dass der zentrale Raum nicht überdeckt und die ‚Seitenschiffe‘ umlaufend waren. Der angestrebte Eindruck eines ‚antiken Palastes‘ wurde durch die im Innenhof gegenüber dem Eingang aufgestellten monumentalen Statuen aus den Caracalla-Thermen unterstützt, die sich heute in Neapel befinden und wie der berühmte
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Herkules Farnese den Namen ihres damaligen Aufstellungsortes beibehalten haben (Le Palais Farnèse 1981, I S. 331–351, II S. 130–141). Sangallos Innenhof (□ 84), als Analogie zum Peristyl des römischen Hauses verstanden, greift in jeweils fünf Achsen das Arkadensystem antiker Großbauten mit der Superposition der drei griechischen Säulenordnungen auf, die man am Marcellus-Theater oder dem Colosseum (□ vgl. 1) studieren konnte. Die Hofarkaden waren, ähnlich wie beim Palazzo Pitti |▶ 4|, zunächst in allen drei Stockwerken gleichförmig als offene Umgänge konzipiert. Michelangelo führte eine formale Variation ein, indem er beim noch nicht ausgeführten dritten Obergeschoss das von Sangallo geplante Tabulariumsmotiv (Frommel 1973, Taf. 49a) durch geschlossene Wandflächen zwischen Pilasterbündeln ersetzte. Die schweren, segmentbogigen Fensterverdachungen schweben über fragilen Konsolen, das abschließende Gebälk ist verkröpft und dadurch statisch relativiert. Im piano nobile wurden Sangallos bereits ausgeführte ionische Arkaden bis auf die zum Garten führende Loggia nachträglich geschlossen und mit Ädikulenfensten gefüllt und so ein formaler Übergang zwischen offener Erdgeschossloggia und wandhaftem drittem Geschoss geschaffen: Formenvielfalt und Variation siegten über ‚klassische‘ Harmonie und Einheitlichkeit. Außerdem fügte Michelangelo an den Seitenflügeln zwischen beiden Obergeschossen ein Mezzanin ein. An der Gartenfront (□ vgl. 6), die von Michelangelos Nachfolger in der Bauleitung, Giacomo della Porta, ab ca. 1575 entworfen wurde |▶ 22|, wird die Infragestellung der großen Gesamtform auf die Spitze getrieben, indem nur die vier äußeren Fensterachsen beider Seiten das Motiv der Hauptfassade fortführen, während die drei mittleren Öffnungen die Gestaltung des Innenhofes nach außen spiegeln: Die
beiden von Sangallo nach gegensätzlichen Prinzipien konzipierten Fassaden sind hier unharmonisch überblendet, und zur Kaschierung – oder vielmehr Betonung? – der Schnittstelle ist eine in Gliederung und Proportion völlig eigenständige, neue, viel zu schmale Zwischenachse mit Blendnischen eingefügt. In den unteren beiden Geschossen wird der Übergang dieser Zwischenachse zu den Seiten von einem an die Ordnungsarchitektur der Hoffront angelehnten Pilaster gebildet, im obersten Geschoss dagegen von einer Rustizierung wie an den Gebäudeecken, als habe der Architekt sich nicht entscheiden können, welches von beiden Systemen das ‚stärkere‘ sein solle – eine typisch manieristische Gestaltungsweise (Le Palais Farnèse 1981, II S. 76–87). Zuletzt wurde der Palazzo Farnese auch zu einer Keimzelle des römischen Barock: Durch die Schließung der von Michelangelo konzipierten Gartenloggia entstand im piano
□ 84 Rom, Palazzo Farnese, Innenhof, A. da Sangallo d. J., Michelangelo, 1513 – 89
Palazzo Farnese in Rom
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nobile eine Galerie (□ vgl. 34), deren Freskierung ab 1597 den Gebrüdern Agostino und Annibale Carracci übertragen wurde (Marzik 1986, S. 13 f.; Robertson 2008, S. 142–178). Sie schmückten das Gewölbe mit Liebesszenen der antiken Götterwelt: Das war in einem römischen Kardinalspalast der Renaissance keineswegs ungewöhnlich. Neuartig war dagegen die Anordnung, Rahmung und Gestaltung der Bildfelder, die als Scheinarchitektur, fingierte Reliefs oder lediglich provisorisch dort aufgehängte, gerahmte Tafelbilder, sogenannte quadri riportati, scheinbar collagenhaft zusammengefügt wurden. Die einzelnen Bilder überdecken sich teilweise, werfen gemalte Schatten auf ‚dahinterliegende‘ Szenen und schlagen so ein neues Kapitel des Illusionismus und der Verwunderung auf – wichtige Elemente der profanen wie sakralen Raumgestaltung in den folgenden Jahrhunderten |▶ 22, 39, 42|.
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Der Palazzo Farnese verbindet stringente Klarheit der Struktur und Großform mit einem detaillierten Abbild der stilistischen Binnenentwicklung eines ganzen Jahrhunderts. Der Typus des italienischen Stadtpalastes als geschlossener, monumentaler, wenig differenzierter Kubus mit reicher gestaltetem Arkaden-Innenhof und freskierten Sälen ist hier zu Ende gedacht: Er wurde zum viel bewunderten, oft kopierten Vorbild, zu einem Markenzeichen italienischer Profanbaukunst in ganz Europa |▶ 32|. Als Aldo Rossi 1992 in direkter Nähe der gerade gefallenen Berliner Mauer sein Quartier Schützenstraße errichtete (Ferlenga 2001, S. 402–407), montierte er als Zitat drei Achsen des Farnese-Innenhofes auf seine postmoderne Fassade und erwies damit einem klassisch gewordenen Vorbild seine Reverenz: dem perfekten Renaissancepalast.
Das Kapitol in Rom Der ‚Nabel der Welt‘ wird erneuert
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ichelangelo Buonarroti ist in gewisser Weise ein Zentralgestirn der hier betrachteten Epoche. Mit vier Schlüsselwerken |▶ 2, 19–21| wird er in diesem Buch ausführlicher gewürdigt als jeder andere Architekt. Seine Bedeutung kann im vorhergehenden Jahrhundert nur mit Brunelleschi |▶ 1, 2|, im Folgenden mit Bernini |▶ 25, 26, 35| verglichen werden. Im 18. Jh. fällt es dagegen schwer, die künstlerische Entwicklung in einer einzigen Person zu fokussieren: Geographisch zu weit aufgefächert und ästhetisch zu vielschichtig verläuft die Architekturdebatte im Zeitalter der Aufklärung. In den drei Jahrhunderten davor befindet sich das Epizentrum der europäischen Bau-
III. Schlüsselwerke
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kunst dagegen ohne Zweifel in Italien; es mag auch mehr als Zufall sein, dass alle drei Genannten genuine Bildhauerarchitekten waren, also sozusagen Quereinsteiger auf dem Feld der Baukunst, die ihre gelegentlich mangelnde Expertise durch gestalterische Autonomie und Experimentierbereitschaft ausglichen. Die lange Karriere Michelangelos erlaubt es, sein Werk mit drei verschiedenen Stilepochen zu verbinden, was zugleich die Fragwürdigkeit solcher Etikettierungen belegt. Während seine frühen Skulpturen um 1500, z. B. der Florentiner David oder die römische Pietà, Hauptwerke der Renaissancebildhauerei sind, wurde er als jede Konvention verabscheuender
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Architekt ab 1520 zu einem Wegbereiter des experimentierfreudigen Manierismus |▶ 2|. Schließlich erkannte man in ihm – vor allem im 19. Jh. – einen Wegbereiter des Barockstils, als dessen Gründungsbauten sein Entwurf der Peterskirche |▶ 21| und die hier zu besprechende Neugestaltung des Kapitols in Rom galten. Wer in Michelangelo nur den anarchischen Regelverletzer sieht, übersieht, wie vorbildhaft manche der von ihm gefundenen Lösungen für nachfolgende Architekten wurden. Sein gestalterisches Prinzip, Bauwerke als ‚Skulpturen‘, also in ihrer durch architektonische Elemente lediglich untergliederten Gesamtgestalt und nicht als Addition mehr oder weniger korrekt zusammengefügter Ordnungen und Teile zu verstehen, war genuin für die Ästhetik der folgenden 200 Jahre. Er stellte den Kanon seiner Zeit nicht nur in Frage, sondern schuf zugleich neue, exemplarische Lösungen, die selbst kanonisch werden sollten (Thies 1982, S. 23, Anm. 19). Das römische Kapitol ist einer der sieben Hügel und war in der Antike das symbolische Zentrum der Stadt und des Erdkreises. In zwei gänzlich verschwundenen Tempeln verehrte man einst auf den beiden Hügelkuppen die Staatsgötter Juno Moneta und Jupiter Capitolinus; von dem in einer Senke dazwischen liegenden Tabularium, dem römischen Staatsarchiv, sind nur geringe Reste erhalten, die dem gleichnamigen Architekturmotiv den Namen gaben. Während ihres Niedergangs im Mittelalter hatte sich die Kernstadt in das Tiberknie westlich des alten Zentrums zurückgezogen, so dass der Kapitolshügel nun den Stadtrand markierte, von dem man auf die städtische Viehweide, den Campo Vaccino blickte – das gänzlich verödete, vormalige Forum Romanum, auf dem einst der ‚Nabel der Welt‘, das gedachte Zentrum des Römischen Reichs lag (Coarelli 2000, S. 44–109). Auf dem östlichen Rand des Hügels über den Ruinen des Tabulariums befand sich seit dem 12. Jh. das Rathaus mit
dem Gerichtssitz der nunmehr politisch völlig unbedeutenden Kommune, das im Norden von der Kirche S. Maria in Aracoeli überragt wurde, deren Name an einen angeblich von Augustus an dieser Stelle errichteten ‚Himmelsaltar‘ erinnert. An der Südseite der Senke schloss sich der Konservatorenpalast an, ein langgestrecktes Verwaltungsgebäude des 15. Jh. als Sitz der Zünfte und des Rates mit einer unauffälligen Loggienfassade vom Typus des Florentiner Findelhauses |▶ 1| (Argan/Contardi 1993, S. 213– 263). Papst Paul III. Farnese beschloss 1538, vier Jahre nach seiner Thronbesteigung, auch diesem symbolischen, in seiner politischen Bedeutung marginalisierten Ort der Hauptstadt etwas von der verlorenen imperialen Größe Roms wiederzugeben: Er initiierte die Translation einer berühmten bronzenen Reiterstatue, die im Mittelalter vor dem Bischofspalast auf dem Lateranhügel gestanden hatte und die man lange Zeit für ein Bildnis des ersten christlichen Kaisers Konstantin hielt. Porträtvergleiche hatten inzwischen erwiesen, dass es sich tatsächlich um Marc Aurel, einen gut beleumundeten, aber paganen Imperator handelte. Der Nukleus der Neuformierung eines ganzen Platzensembles durch den Bildhauer Michelangelo war also eine Statue, die proportional zu klein war, um den relativ großen formlosen Freiraum wirklich zu zentrieren – das belegen die Abbildungen der Situation vor dem Beginn der Umgestaltung der Bebauung (Thies 1982, Taf. 71–85). Es spricht für die Meisterschaft seines Entwurfs, dass die von ihm als Rahmen für das Reiterstandbild geschaffene stadträumliche Proportionierung so überzeugend gelungen ist, dass man leicht für eine voraussetzungslose Idealplanung halten könnte, was de facto nur die Überformung bereits vorhandener, nicht substantiell zu verändernder Gebäude war. Wann genau Michelangelo das Platzkonzept entwickelte – irgendwann zwischen seiner Ernennung zum Päpstlichen Baumeister 1535
Das Kapitol in Rom
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und dem Stich Étienne Dupéracs von 1569 (□ 85), der das Projekt dokumentiert – ist bisher ungeklärt. Das Grundprinzip von Michelangelos Neu interpretation bestand in einem Mittel, das insbesondere im Barock immer wieder angewandt wurde: Vorgefundene Unregelmäßigkeiten so in das neue Gestaltungskonzept einzubinden, dass sie als geplant und nicht anders denkbar erscheinen. Die einhüftige, L-förmige Platzbegrenzung durch die beiden vorhandenen Gebäude konnte in eine regelmäßige verwandelt werden, indem man den mit einer neuen Fassade auszustattenden Konservatorenpalast in einem neu zu errichtenden Pendant an der Nordseite des Plateaus spiegelte, auch wenn hierfür vor der Substruktion der Aracoeli-Kirche kaum Platz und noch weniger eine Nutzung für diesen Palazzo Nuovo genannten Flügel vorhanden war. Der Neubau wurde daher erst im 17. Jh. auf ausdrücklichen Befehl des Papstes von der widerstrebenden Kommune ins Werk gesetzt (Güthlein 1985). Michelangelo verlieh den Eckrisaliten des Senatorenpalastes und den beiden Flanken-
bauten dieselbe Winkelabweichung von ca. 80° (Thies 1982, S. 82 f., 91), so dass eine nach Westen sich verschmälernde trapezförmige Platzfläche entstand. Deren Zuschnitt ist zwar auf Dupéracs Idealansicht von 1569 nicht dargestellt, aber in der Realität optisch höchst wirkungsvoll, weil sich die Dreiflügelanlage an ihrer zur Stadt hin abfallenden, ungefassten Seite optisch zusammenschließt. Hier mündet die ebenfalls neu angelegte flache, cordonata genannte Rampentreppe, welche Stadt und erhöhten Platz einladend verbindet. Michelangelos Schüler Giacomo della Porta, seit 1563 Bauleiter des Projekts, markierte ab 1581 die neu angelegte Terrassenmauer mit Ausblick zum Vatikan durch die flankierende Aufstellung der monumentalen ‚Rossebändiger‘, einer weiteren, vom Papst geschenkten, im Kern antiken Statuengruppe, sowie zweier Trophäenbündel, die angeblich vom republikanischen Konsul Marius stammten, auf den seitlich anschließenden Balustraden. Ähnlich pragmatisch und geschickt verfuhr man gemäß Michelangelos Plänen bei dem 1580–1602 realisierten Umbau des Hauptge-
□ 85 Etienne Dupérac: Idealansicht des nach Plänen Michelangelos vollendeten Kapitolsplatzes in Rom, 1569
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183 □ 86 Rom, Konserva torenpalast auf dem Kapitolsplatz in Rom, Michelangelo, Planung ab 1539, beg. 1563
bäudes der Anlage, dem stattlichen mittelalterlichen Senatorenpalast: Der Architekt übernahm wesentliche Charakteristika, z. B. einen schlanken Turm an der Rückfront (nach einem Blitzschlag 1578 von Martino Longhi erneuert) und zwei zinnenbekrönte, vorspringende Eckrisalite in seine neue Fassade. Ab 1547 wurde dem noch unveränderten Kommunalpalast als erste Baumaßnahme eine großzügige, zweiläufig-gegenläufige Freitreppe vorgelegt: Auch hier verdoppelte Michelangelo einen lediglich einläufigen Vorgänger und ergänzte die Figur des liegenden Flussgottes Nil durch ein Pendant auf der anderen Seite, den Tiber darstellend. Das nahezu fensterlose Erdgeschoss des Palastes wurde durch appliziertes Quadermauerwerk in einen rustizierten Sockel umgedeutet, die beiden Obergeschosse durch korinthische Pilaster in Kolossalordnung zusammengefasst – ein Motiv, das Michelangelo vom 1524 errichteten römischen Münzgebäude seines Erzfeinds und Konkurrenten Sangallo übernommen hatte (Frommel 2009, Abb. 196). Das Zinnenmotiv des Altbaus spiegelt sich in einer Balustrade mit Statuenbekrönung wider.
Ab 1563 erhielt der Konservatorenpalast seine neue Fassade (□ 86). Sie zeigt eine andere Variation des für die Zukunft des Profanbaus fundamentalen Themas der Kolossalordnung: Während die Pilaster am (ranghöheren) Senatorenpalast auf einem als Sockel definierten Untergeschoss aufruhen und zwei unterschiedlich hohe Obergeschosse zusammenfassen, lösen sie sich hier von der Stockwerksteilung und stehen auf eigenen Postamenten, gerahmt von einem umlaufenden Travertinstreifen. In diese große ist eine kleinere, ionische Ordnung frei stehender Säulen eingeflochten |▶ 3|, welche die verschattete Loggia des Erdgeschosses rahmt. Die Ädikulenfenster des Obergeschosses sind mit einer noch rangniedrigeren, toskanischen Ordnung versehen. Die mittlere der sieben Achsen ist durch ein vergrößertes manieristisches Loggienfenster unter einem gesprengten Dreiecksgiebel betont – Della Porta übernahm hier anscheinend das Motiv der Mittenbetonung von der Platzfront des gemeinsam mit Michelangelo vollendeten Palazzo Farnese |▶ 19|. Ein Vergleich mit der etwa gleichzeitig konzipierten Markusbibliothek in Venedig |▶ 16| be-
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legt die gestalterische Differenz zwischen beiden Architekturkonzepten: Während Sansovino alle Achsen seines Gebäudes gleich gestaltete und zwei leicht variierte Geschosse additiv aufeinandersetzte, ist Michelangelos Fassade aus einer in vertikale Achsen unterteilten großen Gesamtform heraus entwickelt, in die alle untergeordneten Elemente eingewoben sind. Während die asymmetrische, tendenziell hierarchiefreie Struktur des Markusplatzes auch nach seiner Umgestaltung gewahrt blieb, wurde hier ein neuartiges, axialsymmetrisch gerichtetes Platzkonzept entwickelt, das durch die Reiterstatue zentriert und zugleich mit einer langen Blickachse bis zur weit entfernten Peterskuppel in den Stadtraum geöffnet ist. Die erwünschte Hierarchie der räumlich deutlich voneinander distanzierten Haupt- und Nebengebäude ist überzeugend umgesetzt, ohne dass die Gestaltung des einen im anderen abgeschwächt wiederaufgegriffen würde: Vielmehr werden zwei unterschiedliche, jeweils in sich stimmige und entwicklungsfähige Fassaden-
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modelle erprobt und dennoch die Einheit der Gesamtanlage gewahrt. Typisch barocke Konzepte wie die place royale |▶ 38| und die Dreiflügel-Schlossanlagen mit cour d’honneur |▶ 36, 42| rekurrieren auf dieses Modell. Erstaunlich ist auch der lange Atem, mit dem hier ein einmal fixiertes Konzept über Jahrhunderte realisiert wurde, weil es anscheinend nichts daran zu verbessern gab: Erst 1655 konnte der Palazzo Nuovo realisiert werden. 1720 wurde von Alessandro Specchi ein neuer, die Formen Michelangelos geschickt aufgreifender Innenhof in den Konservatorenpalast eingebaut, der nun als Museum für antike Skulpturen diente, das Obergeschoss nach einem Umbau 1748 als Gemäldegalerie. Nicht früher als 1940 wurde schließlich das von Michelangelo geplante, die Statue durch eine leichte Erhöhung wirkungsvoll hervorhebende sternförmige Pflastermuster realisiert. Die ‚Ewige Stadt‘ trägt somit, wie ihr neugestalteter ‚Nabel‘ zeigt, ihren Namen zu Recht.
St. Peter in Rom I Zentralbau versus Langbau
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ind die größten und kompliziertesten Bauvorhaben auch zugleich die interessantesten und maßstabsetzenden? Gibt es einen Zusammenhang zwischen ideologischer Aufladung, politischer Macht und künstlerischer Bedeutung? Zumindest für zwei Bauten der Frühen Neuzeit geht diese Rechnung auf: für Schloss Versailles |▶ 36| und für den zwischen 1506 und 1612 erfolgten Neubau der Peterskirche in Rom. Der geläufige Name ‚Petersdom‘ ist unzutreffend, wenn man darunter eine Bischofkirche versteht, denn diese ist bis heute die am
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südöstlichen Ende der Stadt auf der anderen Tiberseite gelegene Lateransbasilika, in deren Schatten die Päpste während des gesamten Mittelalters residierten. St. Peter, gegenüber der Kernstadt am nordwestlichen Tiberufer gelegen, erhielt seine überragende Bedeutung vor allem als Pilgerziel, denn hier war das Grab des ersten Papstes und Bischofs von Rom, Petrus, der nach seinem Martyrium auf dem Gianicolo |▶ 6| nahe einem Circus in einer Grabanlage bestattet wurde. Über diesem Grab ließ Kaiser Konstantin, nachdem er im Jahr
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312 unter Anrufung des Kreuzes seinen Rivalen Maxentius an der Milvischen Tiberbrücke besiegt hatte, eine monumentale Kirche nach dem Schema profaner Markthallen, der sog. Basiliken, für die erstmals offiziell tolerierte neue Religion am damaligen Rand der dicht bebauten Hauptstadt errichten. Dieser heute Alt-St. Peter genannte Bau war für Jahrhunderte die größte Kirche der Welt. Das fünfschiffige, von Kolonnaden gegliederte und flach gedeckte Langhaus (90 × 66 m) öffnete sich mit seinem etwa quadratischen Vorhof, dem sog. Paradies, zur östlich gelegenen Stadt hin und war daher mit dem Chor nach Westen ausgerichtet (□ 87). Über dem Apostelgrab befand sich als liturgisches Zentrum ein geräumiges Querhaus mit einer nur 18 m breiten Apsis. Das Jahrhundert der Vernachlässigung (1309–77), in dem die Päpste vor den blutigen Rivalitäten des römischen Adels unter den ‚Schutz‘ des französischen Königs nach Avignon geflohen waren, hatte dem 1000 Jahre alten Bauwerk nicht gutgetan. Es zeigte sich bald, dass beim wieder anschwellenden Pilgerstrom zum Apostelgrab der direkt daran anstoßende, inzwischen viel zu kleine Chorraum seine sakrale Funktion und Repräsentationswirkung nicht mehr erfüllen konnte. Überall in Europa, zuletzt in Florenz, waren seitdem moderne Dome emporgewachsen, welche die verehrungswürdige Basilika im Wortsinn ‚alt aussehen ließen‘. Daher beschloss Papst Nikolaus V. nach dem Heiligen Jahr 1450, durch den aus Florenz berufenen Baumeister Bernardo Rosselino unter Erhaltung des konstantinischen Langhauses einen erweiternden Neubau von Querhaus und Chor in Angriff zu nehmen. Nach dem Tod des Papstes stagnierte das Projekt, doch weit westlich des alten Chorschlusses waren bereits 7 m hohe Umfassungsmauern einer neuen Apsis in die Höhe gewachsen, deren Abstand zum Petersgrab – ca. 46 m – nun das Grundmaß für die 50 Jahre später folgenden Neubaupläne vorgeben sollte (Satzinger 2005, S. 45–48; Evers 1995, S. 74 ff.).
□ 87 Tiberio Alfarano: Überlagerung der Grundrisse von Alt- und Neu-St. Peter in Rom, 1590, Bauphasen nach Satzinger 2008, S. 137
Gleichzeitig mit dem Um- bzw. Neubau der Basilika erfolgte eine allmähliche Verlagerung der päpstlichen Residenz in den Vatikan. Der dort entstehende Palast wurde durch dieselben Künstler erweitert und ausgestattet wie die angrenzende Kirche: Bramante konzipierte eine bis zum nahen Belvedere-Hügel reichende gewaltige Terrassen-Hofanlage, Michelangelo freskierte die Decke der für die Papstwahlen, die sog. Konklaven, errichtete, nach ihrem
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päpstlichen Erbauer Sixtus IV. Sistina genannte Palastkapelle, Raffael dekorierte die päpstlichen Wohnräume, die sog. Stanzen. Die Päpste der Renaissance sahen sich in eine vielfache Konkurrenz gestellt: Der Bischof von Rom musste nach einer langen Phase des Macht- und Prestigeverlustes, zweier Jahrhunderte der Wirren voller Konzilien und Gegenpäpste und nach dem Untergangs der ewigen Rivalin Konstantinopel seine Vorrangstellung als Haupt der Christenheit neu befestigen; zugleich war der Kirchenstaat eine italienische Mittelmacht, konkurrierend mit Florenz, Venedig, Mailand und Neapel, militärisch bedroht von Sultan und Kaiser, Frankreich und Spanien. Diese Doppelfunktion des Papstes als geistliches und weltliches Oberhaupt verlangte an jenem Ort, der seinen Glanz als einstiger Nabel der (antiken) Welt seit langem eingebüßt hatte |▶ 20|, nach einer neuen Mitte, welche diesen wiedergewonnenen Anspruch unübersehbar manifestierte: Die vorsichtige Erweiterung einer altersschwachen Basilika erschien nach 1500 nicht mehr als angemessenes Signal. Kardinal Giuliano della Rovere, der sich bei seiner Wahl 1503 den programmatischen Titel Julius II. zugelegt hatte, wollte seinem antiken Vorgänger Julius Caesar als Regent Roms und Begründer eines erneuerten Weltherrschaftsanspruchs nicht nachstehen. Er fand in dem Mailänder Architekten Donato Bramante, der mit dem Tempietto bei S. Pietro in Montorio |▶ 6| damals vermutlich schon ein eindrucksvolles Probestück geliefert hatte, den kongenialen Partner seiner Ambitionen. 1506 legte er den Grundstein zu einer umfassenden Erneuerung der Peterskirche, deren riesige Dimensionen nur von zwei Fixpunkten bestimmt waren: dem unverändert als Zentrum der Gesamtanlage zu erhaltenden Petersgrab und den Grundmauern des Nikolaus-Chores, die irgendwie in den um das Mehrfache vergrößerten Neubau nach Kreuzkuppelschema integriert werden sollten. Zwischen diesen bei-
III. Schlüsselwerke
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den Polen gedachte der überaus selbstbewusste Nachfolger Petri sein eigenes Marmorgrabmal durch den Florentiner Bildhauer Michelangelo Buonarroti errichten zu lassen. Die von Rosselino geplante Breite der neuen Chorarme, orientiert am alten Mittelschiffsmaß von 23 m, wurde durch Bramante auf über 46 m erweitert – größer als die bisher weiteste Kuppel, das römische Pantheon (□ vgl. 17) –, indem er die für die geplante Wölbung unverzichtbaren gewaltigen Kuppelpfeiler diagonal abschrägte und die Vierung hierdurch als ungleichseitiges, die Breite von drei Schiffen der alten Basilika zusammenfassendes Achteck disponierte. Diese Vierungspfeiler, geschmückt mit riesigen geknickten korinthischen Pilastern, waren der einzige Teil seines gigantomanischen Projekts, den Bramante vor seinem Tod 1514 realisieren konnte – doch damit schuf er Maßstab und Angelpunkt, an dem alle späteren Entwürfe notwendig auszurichten waren. Die von der Planung Bramantes überlieferten Dokumente – die sog. Caradosso-Gründungsmedaille mit der Außenansicht (□ vgl. 5) und mehrere Grundrisspläne – lassen unterschiedliche Interpretationen zu: Entweder war unter völliger Loslösung von der bisherigen Bauform der Peterskirche ein riesiger, allseitig gleicher Zentralbau über quadratischem Grundriss geplant, oder aber die systematische Erneuerung und Vergrößerung der Basilika, indem an den über griechischer Kreuzform zu errichtenden Kuppelbau ein neues Langhaus in entsprechenden Formen angefügt worden wäre; schließlich hätte man sogar die von der Tradition geheiligten konstantinischen Schiffe erhalten können, was freilich einen etwas merkwürdigen Hybriden erzeugt hätte. Für alle drei Lesarten geben die Dokumente, vor allem die in den Uffizien in Florenz verwahrten Pläne Uff. 20A und Uff. 1A, Anhaltspunkte (Thoenes 2002) – vielleicht war das Offenhalten dieser Frage sogar die eigentlich bestimmende Grundkonstante des überaus komplizierten und von zahlreichen Kehrtwen-
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dungen geprägten 110-jährigen Bauprozesses, der hier nur in groben Zügen nachgezeichnet werden kann (Satzinger 2005, S. 49–75, Abb. 3, 4, 7, 9, Kat. 2; Evers 1995, S. 74–124). In dieser bewegten Geschichte gibt es Sieger und Verlierer: Zu den Ersteren gehört neben Bramante vor allem Michelangelo, dem es vergönnt war, ein halbes Jahrhundert nach Baubeginn und dem Scheitern seines Grabmalprojektes für Julius II. zuletzt als Architekt die definitive Gestaltung für Chor und Vierungskuppel zu finden. Auf der Verliererseite steht die Florentiner Baumeisterfamilie Sangallo, deren Entwürfe trotz mehrfacher Etappensiege zuletzt stets unausgeführt blieben. Dazwischen bewegt sich eine stattliche Zahl von Petersbaumeistern, darunter prominente Namen wie der Maler Raffaello Santi und nach dessen Tod Baldassare Perruzzi, die zwar interessante Konzepte entwickelten, aber in ihrer jeweiligen Amtszeit nicht in der Lage waren, diese auch umzusetzen (Koob 2005). Häufige Thronwechsel der meist nur für wenige Jahre regierenden Päpste, die stets prekäre Kassenlage, die Besetzung der Stadt durch kaiserliche Truppen 1527 oder die fortgesetzte Konkurrenz der Baumeister erzwangen mehrfach fundamentale Revisionen aller bisherigen Pläne, wobei man nicht davor zurückschreckte, bereits Gebautes wie-
der abzureißen (Bredekamp 2000). Der Holländer Marten von Heemskerck hat um 1530 die Ähnlichkeit des halb fertiggestellten Torsos von Neu-St. Peter mit antiken Ruinen in eindrucksvollen Zeichnungen festgehalten. Das halb abgetragene konstantinische Langhaus, die zum Himmel offene Vierung und ein von Bramante mitten auf der Baustelle über dem Petersgrab errichtetes Schutzhaus muteten Pilgern und Päpsten für Jahrzehnte ein merkwürdiges, zwischen Hybris und Gottvertrauen oszillierendes Dauerprovisorium zu (Evers 1995, S. 340–349). In der Planungsgeschichte von St. Peter wechselten Ausweitung und erneute Reduktion von Komplexität und Bauvolumen, Zentral- und Langbaupläne beständig miteinander ab. Es erscheint daher nur verständlich, dass Antonio da Sangallo d. J., Petersbaumeister seit 1538, versuchte, durch einen überaus aufwendigen Befreiungsschlag dem eigenen Projekt zum endgültigen Durchbruch zu verhelfen, indem er über sieben Jahre und für ca. 5000 Dukaten – einen Betrag, für den man eine ganze Kirche hätte bauen können – ein begehbares (!) 7 × 6 × 4,5 m messendes Holzmodell seines Entwurfes im Maßstab 1 : 30 fertigen ließ (□ 88), das im Innenraum einen Zentralbau über griechischem Kreuzgrundriss, im Äußeren dank einer mehrgeschossigen, aber kaum
□ 88 Antonia Labacco nach einem Entwurf Antonio da Sangallos: Holzmodell eines nicht realisierten Projekts für St. Peter in Rom, 1539 – 46
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188 □ 89 Etienne Dupérac (nach Michelangelo): Idealentwurf für St. Peter in Rom als Zentralbau, 1569, Ansicht von Süden
nutzbaren Vorhalle einen Langbau mit einer für Italien eher ungewöhnlichen Doppelturmfassade zeigte. Leider vereinigte dieser Kompromissvorschlag die Nachteile beider Konzepte, wie sein Konkurrent Michelangelo richtig erkannte. Vor allem fehlte es Sangallo, der das antike Vokabular perfekt, aber uninspiriert beherrschte, an einer angemessen straffen, monumental-reduzierten Formensprache, welche die gewaltigen Ausmaße des Gebäudes anders als durch die Addition immer neuer Arkaden, Umgänge, Zwischengeschosse und Blendgliederungen zu formen verstand. Der aus heutiger Sicht unverständliche Vorwurf ‚deutsch‘ (gemeint ist: gotisch, |▶ 7|), den Vasari überliefert, zielte hierbei auf den kleinteilig-dekorativen Duktus dieser Gestaltungsweise. Dem setzte Michelangelo, Sangallos Nachfolger als Petersbaumeister seit 1547, sein eigenes, radikal vereinfachendes Konzept entgegen, das zum Grundmuster der ersten Bramante-Pläne zurückkehrte: Er entwarf einen reinen Zentralbau als griechisches Kreuz, einem quadratischen Umgang einbeschrieben, mit einer nach Osten vorgelagerten gestaffelten Porti-
III. Schlüsselwerke
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kus (□ 89). Die mächtigen Schiffswände des Außenbaus fasste der Bildhauer-Architekt mit einer einzigen gigantischen Pilasterordnung zusammen, über deren umlaufendem Kranzgebälk nur noch eine Attika folgen sollte. Darüber erhob sich, allseitig gut sichtbar, die von vier Trabanten begleitete Kuppel. Auch hier variierte Michelangelo ein Konzept Bramantes (□ vgl. 5), indem er den Tambour durch Ädikulenfenster und Strebepfeiler gliederte, deren Stirnen von Säulen besetzt sind, die, vermittelt durch eine Attika, in Rippen überleiten. Die abschließende Laterne wiederholt das Motiv der Kuppel in verschlankter Form, kehrt aber den Schwung des Gewölbes zur konkaven Spitze um (Evers 1995, S. 324 f., 351–389). Michel angelo entwaffnete jeden Widerspruch unter anderem durch das schlagende Argument, seine Arbeit (angeblich) ohne Bezahlung und einzig der Frömmigkeit (und des Ruhmes) wegen auszuführen: ein Anspruch, den man bis dahin nur von Fürsten und Heiligen kannte und der den neuen Ausnahmestatus eines ‚autonomen Künstler-Architekten‘ eindrucksvoll unterstreicht (Bredekamp 2008). Der greise
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Meister erlebte die Vollendung seines Projektes nicht mehr, sein Nachfolger Giacomo della Porta spitzte bei der Ausführung 1588–93 die Form der Kalotte in Anlehnung an die Florentiner Domkuppel |▶ 1| noch etwas mehr zu und verlieh ihr hierdurch die endgültige, auch in der schrägen Untersicht überzeugende straffe Kontur (Bellini 2008). Zwei Probleme hatte Michelangelo freilich ungelöst gelassen: Sein Zentralbauentwurf überdeckte weder die gesamte Fläche der konstantinischen Basilika, obwohl diese ganz abgerissen werden sollte, noch erlaubte er einen Anschluss an den südwestlich liegenden Papstpalast. Aus funktionalen, liturgischen und traditionalistischen Motiven entschloss sich daher Papst Paul V. Borghese zu einer letzten Wendung, indem er Carlo Maderno 1605 den Auftrag erteilte, Michelangelos Zentralbau nun doch mit einem Langhaus zu versehen – noch heute ist die ‚Koppelstelle‘ beider Systeme an einem leichten Versprung in der Tonne des Mittelschiffs zu erkennen. Maderno vollendete den Bau mit der zeremoniell unverzichtbaren Benediktionsloggia für den Papstsegen zum Petersplatz und schuf ein Langhaus, das endlich geeignet war, Zehntausende von Gläubigen aufzunehmen – zugleich verdeckt es aber die Sicht auf Michelangelos Kuppel und zementiert somit die Nachteile dieses funktional überzeugenden, aber ästhetisch unbefriedigenden Kompromisses. Das Schwanken zwischen Zentral- und Longitudinalbau (Satzinger 2008) spiegelt zugleich eine wichtige Grundsatzdebatte um Prioritätensetzung im Sakralbau: Auf der einen Seite die symbolkräftige, absolute Gültigkeit beanspruchende formale Innovation einer wiedererstarkten geistlichen Weltmacht – auf der anderen Seite Tradition und Funktionalität des erneuerten basilikalen Konzeptes als Abbild einer sich auf ihre Wurzeln besinnenden reformbereiten Kirche. Das Erstaunlichste an dieser verworrenen Baugeschichte ist, dass sie zuletzt zu einem so überzeugenden, in sich
geschlossenen und wiederum vorbildhaften Ergebnis geführt hat. Obwohl die Peterskirche mit ihrer Übergröße und ihren gestalterischen Schwächen immer wieder viel Kritik geerntet hat (Oechslin 2008a), darf doch ihre innovative, prägende Vorbildwirkung als ein genuin diskursives Bauwerk nicht übersehen werden. Bis zum Pariser Panthéon und Boullées Newton-Kenotaph |▶ 49, 50| wurde die hypertrophe Kuppel nun zum Sinnbild gebauter Sakralität schlechthin und löste die im Mittelalter dominierenden Turmfronten als Landmarke ab. Michelangelo verlieh den von ihm entworfenen Chorpartien im Äußeren eine neuartige Monumentalität, welche die additive Kleinteiligkeit der Renaissance endgültig überwand und mit einem auf den gesamten Baukörper bezogenen, primär plastischen Architekturverständnis de facto die Tür zum Barock aufstieß. Selbst erklärte Gegenbauten wie die Dresdner Frauenkirche |▶ 41| sind zutiefst von dieser undogmatisch-ganzheitlichen, die Baumasse frei modellierenden Architekturauffassung geprägt. Madernos Langhaus schließlich verlieh der Basilika eine Funktionalität und – bei aller messbaren Riesenhaftigkeit und überwältigendem Materialprunk – optisch-gestalterische Proportionalität im Innern, die für alle folgenden Kirchenräume zum Maßstab wurde. Bis heute ist St. Peter das prägende Signet schlechthin der gesamten katholischen Weltkirche geblieben – institutionelle Repräsentation im besten Sinne. Die Bilanz des Neubaus fällt dennoch zwiespältig aus: Ohne Zweifel ist es den Päpsten gelungen, mit diesem ‚Leuchtturmprojekt‘ so viel künstlerische Potenz und weltweites Interesse nach Rom zu lenken, dass ihre Hauptstadt für zwei Jahrhunderte erneut zum Nabel der künstlerischen Welt wurde, während Florenz, Mailand, Venedig und Neapel in die Zweitklassigkeit zurückfielen. Erst mit Paris erwuchs um 1660 wieder ein gleichrangiger Gegenpol in Europa. Andererseits war das hier entfaltete Konzept staatskirchlich-zentra-
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listischer Repräsentation denkbar ungeeignet, die brodelnden religiösen Konflikte insbesondere Nordeuropas zu lösen. Es wäre sicher überzogen, den ‚Peterspfennig‘, also die unter anderem durch den von Luther bekämpften Ablasshandel in Deutschland eingetriebene finanzielle Unterstützung für das prunkliebende Papsttum, als den eigentlichen Auslöser der Glaubensspaltung zu sehen: Es ist aber nicht zu leugnen, dass das gegen zahllose Widerstände realisierte Monument päpstlicher Suprematie zugleich das Denkmal des institutionellen Versagens wurde, die beanspruchte Weltgeltung auch real- und religionspolitisch umzusetzen. Als der große europäische Glaubenskrieg
1648 zu Ende ging, war der Papst nicht mehr als ein politischer Zaungast – Garantiemächte des Westfälischen Friedens waren nun Spanien, Schweden und Frankreich, also die sich neu formierenden Nationalstaaten, welche die universalistische Kirche politisch längst marginalisiert hatten. Stattdessen entsandten katholische und evangelische Länder nun ihre besten Künstler, um durch das Studium von Roma antica e moderna den Glanz der ‚Ewigen Stadt‘ in die konkurrierenden, aufstrebenden Hauptstädte zu transferieren. Die vormalige geistlich-politische Großmacht Rom mutierte für ein weiteres Jahrhundert zum künstlerisch-kulturellen Zentrum Europas.
Berufsbilder: Baumeister, Ingenieur und Architekt
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ie drei Berufsbezeichnungen Architekt, Ingenieur und Baumeister werden oft synonym verwendet, stehen aber für unterschiedliche Ausrichtungen der Profession (Binding 2004). Im Mittelalter dominierte das Berufsbild des Bau- oder Werkmeisters, d.h. des aus dem Handwerk hervorgegangenen Praktikers, der ein Gebäude nicht nur konzipierte, sondern selbstverständlich auch dessen Ausführung leitete und überwachte. In der Renaissance entwickelte Alberti als Gegenbild hierzu – in bewusst nobilitierender Anlehnung an Vitruv architectus genannt – das Leitbild des reinen Entwerfers, der sich bewusst auf die intellektuelle ratiocinatio (Planung, Konzeption) bzw. das künstlerische lineamentum (auch disegno, Zeichnung, Gestaltung) beschränken sollte und die davon abhängigen, als niederrangig abgewerteten structurae (auch fabrica, technische Ausführung) einem Baupraktiker überließ. Seitdem galt die theoretische Auseinandersetzung mit (bevorzugt antiken) vorbildlichen Bauten, ihren Proportionen und Gesetzlichkeiten als eigentlicher Ausweis des ‚echten‘ Architekten. Selbst erfolgreiche Baumeister wie Palladio
III. Schlüsselwerke
legten Wert darauf, ihre Werke, sogar nicht realisierte Entwürfe, durch Publikationen bekannt zu machen, um die eigene Profession hierdurch vom Handwerk abzugrenzen und als vollwertige Wissenschaft mit klar definierten Idealen, Regeln und Normen zu etaThemenblock · Säulenordnungen, S. 99). blieren ( Hierbei galten vor allem Mathematik und Geometrie als Grundlagen der Proportionslehre und damit als Leitwissenschaften, da sie seit der Antike als ‚freie Künste‘ anerkannt waren. Unter dem ‚Ingenieur‘ verstand man den praktischen Techniker, der sich vor allem um Landvermessung, Straßen und Brücken, Festungen und Wasserbau, TheMilitärtechnik und Maschinen kümmerte ( menblock · Festungsbau, S. 151 f., Schütte 1984). De facto waren aber alle drei Tätigkeitsfelder oft in einer Person vereint, wie z. B. beim Erbauer der Würzburger Residenz, Balthasar Neumann |▶ 42|. Viele Architekten waren zugleich auch Bauunternehmer oder standen als ‚Beamte‘ mit niedrigem, aber festem Gehalt in höfischen bzw. kommunalen Diensten.
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Das vermutlich epochentypischste Berufsbild war der Künstler-Architekt, dem oft ohne jede baupraktische Erfahrung bedeutendste Aufgaben übertragen wurden, da man die eigenständige schöpferische Erfindung (invenzione) für die entscheidende Qualifikation hielt. In Frankreich entstand im 17. Jh. der Typus des ‚Intendanten‘ (engl. surveyor) als beamteter Leiter einer staatlichen Baubehörde, der weniger selbst entwarf als koordinierte und so vor allem für ein einheitliches Niveau der vielfältigen öffentlichen Aufträge verantwortlich war. Manchmal schlüpfte auch der Bauherr selbst in die Rolle des Gestalters, der seine Ideen lediglich durch einen oder mehrere Fachleute professionell umsetzen ließ |▶ 43|. Normierte Ausbildungsstrukturen gab es lange Zeit nicht (Johannes 2009). Neben die zünftige Handwerkslehre z. B. als Steinmetz oder Zimmermann trat
ab ca. 1560, von Florenz, Rom, Venedig und später Paris ausgehend, die sog. Akademie (Schöller 1993). Erst ab 1750 wurden für den nun ‚Zivil-Ingenieur‘ genannten nichtmilitärischen Konstrukteur eigene ‚polytechnische‘ Fachschulen eingerichtet. Studienreisen und oft langjährige Auslandsaufenthalte vor allem in Italien galten als zentrale Faktoren für die Karriere nach der Rückkehr ins Heimatland und sorgten für den schnellen Transfer künstlerischer Innovationen aus den Zentren in die Peripherie. Die Berufung ausländischer Architekten galt insbesondere in Nordeuropa als wichtiger Indikator für die Weltläufigkeit und Gleichrangigkeit mit den Metropolen. Umfassende Bildung und rollengerechtes, höfisches Auftreten waren weitere wichtige Voraussetzungen für den dauerhaften Erfolg eines (Bau-)Künstlers in der ständischen, vormodernen Gesellschaft.
Il Gesù in Rom Die Erfindung der Barockkirche
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ie ‚Schlüsselwerke‘ dieses Bandes gehören meist einer von zwei Kategorien an: einmalig oder typbildend. Bauten wie der Pariser Louvre oder die römische Peterskirche wurden zwar viel bewundert, waren aber kaum geeignet, als direktes Vorbild zu dienen, denn zu verwickelt war ihre Baugeschichte, zu komplex und unwiederholbar ihre Gestalt. Der Neubau von St. Peter |▶ 21| war in einem hundertjährigen Ringen um die Frage entstanden, ob ein symbolträchtiger, überkuppelter Zentralbau oder der funktionalere, von der Tradition geheiligte Langbautypus der geeignetere sei. So unvergleichlich das Ergebnis, so sehr sah man der Basilika doch die Brüche in ihrer Planungsgeschichte an. Die Lösung des dort
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aufgeworfenen Problems, wie man die beiden entgegengesetzten Typen so vollkommen miteinander verschmelzen könne, dass die Vorzüge statt der Schwächen dieses hybriden Raumschemas hervortraten, gelang gleichzeitig auf der anderen Seite des Tibers bei einem Kirchenbau, der zum weltweit einflussreichsten Vorbild für die nächsten 200 Jahre werden sollte: der Mutterkirche des neu gegründeten Jesuitenordens, geweiht dem Heiligsten Namen Jesu, besser bekannt unter dem Kürzel ‚Il Gesù‘. Die Jesuiten sind die bekanntesten Exponenten jener auf dem Konzil von Trient begründeten Neuformierung der katholischen Kirche, die man traditionell etwas abwertend als „Gegenreformation“ oder heute meist zutreffender
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als „katholische Reform“ bezeichnet (Hartmann 2008, bes. S. 22–26). Diese Glaubensgemeinschaft verstand sich als eine Art militärisch straff und zentralistisch organisierter Eliteverband, der vor allem dem unter den Führungsschichten der städtischen Ballungszentren Europas um sich greifenden Protestantismus entgegentreten und durch eine Bildungsoffensive für die wiedergewonnene Prinzipienstrenge der Papstkirche werben wollte; hierzu belebte sie Kargheit und Anspruchslosigkeit, die Ideale ihrer Vorläufer, der mittelalterlichen Bettelorden, wieder. Da die ‚Gesellschaft Jesu‘ im Unterschied zu den älteren Mönchsgemeinschaften der Dominikaner und Franziskaner noch nirgendwo über eigene Niederlassungen verfügte, war sie auf die Unterstützung von Stiftern angewiesen, die ihnen die begehrten innerstädtischen Grundstücke schenken und beim Bau ihrer Kirchen und Konventsgebäude, der sog. Kollegien, helfen konnten |▶ 12|. Hierdurch entstand der auch an der römischen Mutterkirche abzulesende Zwiespalt zwischen dem ursprünglichen Armutsideal der Patres und dem verständlichen Wunsch der Stifter, durch die von ihnen finanzierten, möglichst prächtigen Neubauten zugleich die eigene Freigebigkeit und den Glaubenseifer angemessen zu repräsentieren. Da alle neu zu errichtenden Bauprojekte in den sog. Provinzen von dem zutreffend ‚General‘ genannten obersten Ordensvorsteher in Rom gegengezeichnet werden mussten, entstand trotz aller Vielfalt regionaler Baugewohnheiten und konkreter topographischer Vorgaben eine gewisse normative Vereinheitlichung der Jesuitenniederlassungen. Diese Eigenart, modo nostro genannt, bezog sich freilich weniger auf konkrete gestalterische Ideale, die zwischen Bayern und Mexiko erheblich differieren konnten, sondern vor allem auf die funktionale Verbindung von Kirche und Kolleg sowie bestimmte liturgische Eigenarten, z. B. die Betonung des Mittelschiffs, den optisch dominierenden, zentralen Retabelaltar oder die
III. Schlüsselwerke
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Anlage von Emporen über Kapellen. Dennoch wäre es falsch, von einem klar definierten ‚Jesuitenstil‘ im Sinne einer ‚Corporate Identity‘ auszugehen. Zum einen erwies sich der Orden als ausgesprochen flexibel, was die Übernahme regionaler Stilvorlieben anging: So wurde die 1618 begonnene Kölner Jesuitenkirche z. B. in gotischen Formen als Basilika errichtet. Zum anderen war das Bauschema des Gesù, ein lateinisches Kreuz mit dominantem Kuppelmotiv, so universell einsetzbar, dass es auch von anderen Orden adaptiert wurde |▶ 39|; selbst ältere Pfarrkirchen wie St-Eustache in Paris |▶ 11| wurden in den folgenden Jahrhunderten nachträglich durch ambitionierte Stifter mit Schaufronten versehen, die das Vorbild römischer Barockfassaden nicht verleugnen können. Der von dem Spanier Ignatius von Loyola neu begründete Männerorden erlangte 1540 die offizielle Anerkennung durch Papst Paul III. Farnese, der auch für einen Bauplatz in der Nähe seines Familienpalastes sorgte. Erst 1568 kam es unter dem Enkel des Papstes, Kardinal Alessandro, zur Grundsteinlegung für den großen, ambitionierten Kirchenneubau nach Entwurf des Hausarchitekten der Familie Farnese, Jacopo Barozzi da Vignola, der vor allem als Verfasser des wohl meistverbreiteten „Säulenbuchs“ ( Themenblock · Säulenordnungen, S. 99) bekannt wurde (Tuttle 2002, S. 272–299, 339–366). Schon drei Jahre nach Baubeginn übertrug der Kardinal das Projekt dem Michelangelo-Schüler Giacomo della Porta, der in jenen Jahren auch den Kapitolsplatz, die Peterskuppel und den römischen Stadtpalast der Farnese |▶ 19–21| vollendete. Der Grundriss des Gesù (□ 90) erscheint aus zwei Teilen zusammengesetzt, wobei deren Schnittstelle nicht als scharfer Bruch, sondern als Überlagerung gestaltet ist. In der Innenansicht (□ 91) wirkt der Raum dagegen als ein geradezu selbstverständliches Kontinuum, in welchem die entgegengesetzten Schemata des lateinischen Kreuzes und des Zentralbaus un-
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merklich ineinander übergehen und unauflösbar verschmelzen (Strunck 2007, S. 251–258). Das Langhaus, mit dessen Bau begonnen wurde, besteht aus einem großen einschiffigen Saal, der mit einer durch Stichkappen beleuchteten Tonne überdeckt ist. An diesen Hauptraum sind, ähnlich wie bei Albertis S. Andrea in Mantua |▶ 3|, zu beiden Seiten je drei Kapellenräume angefügt, die sich in Arkaden öffnen, welche aber nur etwa die halbe Wandhöhe einnehmen und die raumbildende Kontinuität der Mittelschiffswände kaum relativieren. Unter dem Hauptgebälk verläuft eine niedrige, optisch unauffällige, durch Gitter und Balustraden kaum einsehbare Emporenzone, welche für die Exerzitien der Ordensbrüder eine große Rolle spielte: Im Gegensatz zu anderen Klosterkirchen, z. B. Palladios Benediktinerkirche S. Giorgio Maggiore |▶ 17|, verfügten die Jesuiten nicht über einen separierten Mönchs chor, so dass ihnen der Bereich über den Kapellen als Rückzugsraum diente. Anders als in basilikalen Kirchen |▶ 2| erscheinen die Abseiten □ 91 Rom, Jesuitenkirche Il Gesù, Mittelschiff von Westen, 1568 – 84, J. Barozzi da Vignola, Fresken von G. B. Gaulli, 1672 – 83
□ 90 Rom, Jesuiten kirche Il Gesù und Kolleg, Grundriss, J. Barozzi da Vignola, 1568 – 84
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hier nicht als längsgerichtete, autonome Seitenschiffe, sondern als quergerichtete, ausschließlich auf den Hauptraum bezogene, dunkle und separierte Anräume, die untereinander nur durch Verbindungstüren kommunizieren. Im Unterschied zu S. Andrea in Mantua wurde auf eine spannungsvolle Rhythmisierung verzichtet, stattdessen sind die Hauptschiffswände durch Doppelpilaster und eine kräftig vorspringende Gebälkzone straff zusammengefasst. Man bezeichnet diesen Bautyp als ‚Wandpfeilersaal‘ – eine Benennung, die im Innenraum kaum nachvollziehbar, sondern eigentlich nur in der Seitenansicht des Außenbaus abzulesen ist, denn hier treten die namensgebenden Strebefeiler, welche die Kapellen trennen und die Obergadenwand mit dem Mittelschiffsgewölbe stützen, deutlich hervor. Die Konzentration auf das dominierende Hauptschiff entspricht der Aufwertung der Predigt durch den Orden: Hierfür galt es, möglichst viele Gläubige in einem Raum ohne Hierarchieunterschiede, Sicht- und Hörschranken zu vereinigen. Die Kapellenreihen dienten dagegen als separierte, durch ihre Altarpatrozinien auf bestimmte, vorgegebene Themen der Heiligen- und Christusverehrung bezogene Orte eher privater Frömmigkeitsübungen. Nach Osten schließt sich ohne erkennbare Zäsur die überkuppelte Vierung an. Außen als Achteck, innen in Kreisform zentriert, überhöht und belichtet der durchfensterte, hohe Tambour den gesamten Raum. Der apsidial geschlossene Chor und die Querarme sind bewusst kurz gehalten, so dass sie ebenfalls nur als nischenartige Erweiterungen der Vierung erscheinen. Obwohl die Kuppel im Unterschied zur Peterskirche nicht breiter ist als die Schiffe, ist sie als eigentliches Ziel und optische Mitte für den gesamten Raum wirksam. Dies wird besonders im Grundriss deutlich, denn hier erscheint die Vierung in Quincunx-Form von vier kleinen, runden Kapellenräumen umgeben und somit als Zentralraum hervorgehoben.
III. Schlüsselwerke
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Im Wandaufriss wird dies kaum spürbar, denn die Eckkapellen kommunizieren nur über niedrige Türen mit dem Hauptraum und erscheinen somit, ähnlich wie die kleinen Zwischenkapellen in Mantua, als massive Kuppelpfeiler. Vergleicht man den Gesù mit diesem vorbildlichen, 100 Jahre älteren Bau Albertis, so werden dessen hochindividuelle Strukturmerkmale hier gestrafft und geklärt rezipiert. Wie überzeugend diese vereinfachende Adaption war, beweist ihre vielfältige Rezeption: Im 18. Jh. erhielt auch S. Andrea eine hohe, durchlichtete Kuppel nach römischen Vorbild und wurde somit nachträglich dem nun vorherrschenden sog. ‚Gesù-Schema‘ angeglichen. Nicht nur der von Vignola entwickelte Bautypus, sondern auch die von Della Porta hinzugefügte Fassade war vorbildlich und stilprägend für zahllose nachfolgende Kirchen (□ 92). Dem äußerlich unscheinbaren Ziegelbau wurde, wie in Italien üblich, eine prunkvolle, aus Travertin errichtete Schauwand vorgesetzt, welche als Querschnittsfassade die innere Struktur nach außen spiegeln sollte: So stimmen die Lage und Höhe der Gebälke innen und außen exakt überein. Wiederum erhellt der Vergleich mit Albertis Mantuaner und Palladios venezianischer Interpretation des Tempelmotivs die Eigenheiten dieser Lösung: Während bei S. Andrea (□ vgl. 48) die kolossalen Pilaster eindeutig die kleineren des Portalrahmens dominieren, sind bei S. Giorgio (□ vgl. 79) und dem Gesù jeweils zwei vollständige Ordnungen übereinandergelegt. In Palladios Schaufront sind die beiden proportional differierenden Systeme miteinander verflochten, bei Della Porta einfach additiv wie die Stockwerke einer Palastfassade übereinandergestellt. Die Wandpfeiler, welche den Rücksprung zwischen der fünfachsigen unteren Kapellenzone und dem nur dreiachsigen sog. Auszug, also der Obergadenzone, vermitteln, sind als behäbige Voluten gestaltet: Hierfür dürfte die 1456 ebenfalls von Alberti entworfene Fassade der Florentiner
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Dominikanerkirche S. Maria Novella (□ vgl. 18) Pate gestanden haben. Della Porta übernimmt die Flächigkeit dieses Vorbilds und gestaltet seine Schaufront aus fünf nur schwach hervortretenden, sich überlagernden vertikalen Schichten, die jeweils von Doppelpilastern begrenzt werden. Zur Mittelachse hin verdichtet sich dieses Wandrelief durch stärkere Verkröpfungen, in die Flächen eingelegte Ädikulen, eine Kartusche mit dem Christusmonogramm IHS, eine Verdoppelung des Giebelmotivs über dem unteren Hauptgebälk – hier sind Segmentund Dreiecksgiebel ‚unklassisch‘ ineinandergefügt – und durch die statisch unmotivierte Hinzufügung von Dreiviertelsäulen. Während die Fassade von S. Andrea die einfache Großform antiker Triumphbögen und Palladios S. Giorgio das aus dem Skelettbau abgeleitete Tempelfrontispiz rezipiert, werden die antiken Elemente hier ganz bewusst unantikisch in der Art eines Baukastens eingesetzt: nicht als Glieder einer strengen Gesetzen folgenden Großstruktur, sondern als sichtbar sekundär übereinandergelegte, plastisch-dekorative Elemente, welche das Zentrum einer Flächenkomposition ohne konstruktive Notwendigkeit nobilitierend hervorheben. Die Ersetzung von strenger architektonischer Systematik durch variierte Plastizität als Gestaltungsprinzip, die Umdeutung des vitruvianischen Vokabulars zum frei verwendbaren ‚Spielmaterial‘, die Vorliebe für das untektonische, aber optisch wirksame und spannungsreiche Verdoppeln, Überblenden und Verkröpfen von Elementen wird ein wichtiges Prinzip jener Gestaltungsweise, die man später abwertend als ‚barock‘, d. h. unrund, von der Norm abweichend und willkürlich bezeichnen wird. Hermann Schlimme, der diesen Fassadentypus als „reliefierte Kirchenfront“ bezeichnet, definiert den von Della Porta vorgenommenen, für die weitere Entwicklung bedeutenden Schritt einer Aufweichung der ‚logischen‘ Regeln so: „Thema der Fassade ist also die Stärkung von Bewegung und figuralem
□ 92 Rom, Jesuitenkirche Il Gesù, Hauptfassade, G. della Porta, 1568 – 84
Zusammenhang“ (Schlimme 1999, S. 181–197, hier 197). Obwohl die Kirche seit ihrer Weihe 1584 baulich kaum verändert wurde, hat sich der Charakter des Innenraums durch spätere Umgestaltungen radikal gewandelt. Frühe Innenansichten zeigen einen kargen, hell verputzten, kaum dekorierten Raum etwa in der Art der venezianischen Palladio-Kirchen (□ vgl. 78). Die heutige, bilderreiche, in Gold und Marmor prunkende Dekoration verdankt sich späteren Stiftungen, durch welche die Mutterkirche des wohl einflussreichsten Ordens seiner Zeit mit den immer prächtigeren Ausstattungen konkurrierender römischer Gotteshäuser mithalten sollte (Ganz 2003, S. 314–334). Giovanni Battista Gaulli, ein Schüler Berninis, schuf 1672–83 u. a. das illusionistische Langhausfresko, dessen mit Heiligen besetzte und von Sonnenstrahlen durchbrochene Wolkenmassen über den stuckierten Bildrahmen hinweg
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in den Realraum einzubrechen scheinen. Dem 1622 heiliggesprochenen Ordensgründer wurde durch den Ordensbruder Andrea Pozzo ab 1696 im Querhaus ein prachtvoller Altar aus Gold, Silber, Marmor und Lapislazuli geweiht. Auf Pozzo geht auch die heute noch geläufige Benennung solcher durch die zeitgenössische Bühnenkunst inspirierten Installationen als theatrum sacrum zurück. Schließlich erhielt das Langhaus um 1860 eine neue Buntmarmorausstattung, die nichts mehr vom ursprünglichen Armutsideal des Reformordens ahnen lässt. Unter der Oberfläche repräsentativer Prachtentfaltung dienten die sakralen Bildprogramme vor allem dem Ziel der Propaganda Fide, der Verbreitung des (katholischen) Glaubens nicht nur in Liturgie, Predigt und Schulunterricht, sondern ebenso im Bild, das versprach, sinnlichen Kunstgenuss mit religiöser Didaktik zu verbinden: Durch den Dreischritt delectare, docere, commovere – gefälliges Unterhalten, intellektuelles Belehren, emotionales Begeistern – sollten die Zweifelnden bestärkt, die zu Bekehrenden überzeugt und die Kritiker wi-
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derlegt werden. Mit der Weiterentwicklung des medialen Konzepts von ‚reiner‘ Architektur zu erzählenden ‚Bilderbauten‘, welche in diesem Buch von den beiden Jesuitenkirchen in München und Rom repräsentiert werden, vollzog die katholische Reformbewegung den entscheidenden Schritt zu jener sinnlich überwältigenden Ästhetik, die den Hoch- und Spätbarock des 18. Jh. nördlich der Alpen |▶ 39, 40| entscheidend prägen sollte. Der Gesù kann daher in dreierlei Hinsicht als ‚Mutter aller Barockkirchen‘ gelten: Hier war ein neuer, überaus flexibler, praktikabler und optisch wirkungsvoller Raum- und Fassadentypus erfunden worden; diese Neuschöpfung wurde durch den aktivsten und einflussreichsten aller katholischen Reformorden weltweit verbreitet; schließlich kann die sukzessive Transformation eines bereits vollendeten Kirchenraums durch kontinuierliche Neudekoration als Musterbeispiel für die zunehmende Bedeutung der Bild- und Ausstattungskünste in der Architekturentwicklung der folgenden beiden Jahrhunderte gelten.
S. Ivo alla Sapienza in Rom Göttliche Weisheit und künstlerische Lizenz
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n der Kunstgeschichtsschreibung besteht eine bewährte Tradition, alternative, konkurrierende bzw. antagonistische Konzepte der Gestaltung dadurch anschaulich zu machen, dass man sie personalisiert: Aus dieser Perspektive gibt es im 15. Jh. den praktischen Reformansatz Brunelleschis und den theoriegesättigten Albertis; das 16. Jh. oszilliert zwischen dem Regelsetzer Palladio und dem Regelverletzer Michelangelo; das 17. Jh. könnte man durch das klassisch gewordene römische Gegensatz-
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paar des international erfolgreichen Weltmanns Bernini und seines grüblerischen, sperrigen, gleichwohl mindestens ebenso innovativen Konkurrenten Borromini charakterisieren. Beide fast gleich alt wie das Jahrhundert, das sie prägten, begannen sie zunächst als Team auf derselben Baustelle an St. Peter |▶ 25|. Später konkurrierten sie an der Piazza Navona |▶ 26|. Während Bernini wie zuvor Michelangelo als gefeierter Bildhauer bereits mit den vornehmsten Auftraggebern auf Augenhöhe kommu-
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nizierte, bevor er sich erstmals der Baukunst zuwandte, machte der aus Norditalien zugewanderte Francesco Castelli, der sich seit 1628 Borromini nannte, die ‚Ochsentour‘ eines ambitionierten Baufachmanns, der nur allmählich über kleinere Aufträge wie die Kirche S. Carlo alle Quattro Fontane (□ vgl. 35) Ansehen erwarb – dieses Erstlingswerk, begonnen 1638, ließe sich mit seinen Außenmaßen leicht in einem Vierungspfeiler von St. Peter unterbringen. Während Bernini seine Ideen in flüchtig hingeworfenen Skizzen oder suggestiven Schaubildern präsentierte, die ein Stab von Mitarbeitern zur Baureife weiterentwickelte, lässt der Zeichenstil Borrominis – asketische, wenig suggestive, dünne, aber vehement immer wieder übereinandergestrichelte, teils verwischte Bleistiftlinien (□ 93) – bereits die Mentalität eines kompromisslosen, eigenbrötlerischen Experimentators und Tüftlers erkennen, der an der großen Geste des genialischen Künstlers nicht interessiert war, sondern ausschließlich an der Perfektion des Ergebnisses. Immer wieder verlor der begnadete Raumschöpfer die Gunst seiner Auftraggeber, wenn er sich nicht als geschmeidig genug erwies: Fristen wurden nicht eingehalten, gesetzte Etats weit überschritten, Bauherren wie Bauarbeiter brüskiert. Papst Urban VIII. Barberini ernannte den jungen Borromini 1632 zum offiziellen Baumeister der römischen Universität La Sapienza: In deren bereits weitgehend fertiggestellten Baublock inmitten der römischen Altstadt sollte noch eine Kirche eingefügt werden. S. Ivo, benannt nach dem Schutzheiligen der dort gelehrten Rechtswissenschaften, nimmt das östliche Viertel eines langgestreckten doppelgeschossigen Arkadenhofes ein, der nach Entwurf Giacomo della Portas von 1594 mit einer Exedra schließt, welche zugleich als – unauffällige – Fassade der erst ab 1642 realisierten Universitätskirche dient (□ 94). Zusätzliche Fenster konnten nicht mehr in den bereits vorhandenen Außenwänden des Palasts, sondern
□ 93 F. Borromini: Grundrissskizze für S. Ivo alla Sapienza, Rom, vor 1642
nur in der Gewölbezone angebracht werden. Die Kuppel tritt als einziges sichtbares Zeichen von S. Ivo nach außen hervor, indem sie die Mauern des sie völlig einschließenden Kollegiengebäudes überragt und mit ihrem sechspassförmigen Tambour fast zu sprengen scheint. Della Porta hatte für die Kirche eine Rotunde in der Art des Pantheons (□ vgl. 17) vorgesehen; Borromini entschied sich dagegen für einen anderen, völlig einmaligen Grundriss, nämlich ein gleichseitiges, mit der Spitze dem hofseitigen Eingang zugekehrtes Dreieck. Über jeder Seitenmitte fügte er eine Apsis an, die Ecken wurden dagegen durch einspringende Kreissegmente gekappt (Connors 1996). Die Mauern des so entstandenen unregelmäßigen Sechsecks, dessen Kontur am besten am umlaufenden, kräftigen Kranzgesims abzulesen ist (□ 95), sind mit zahlreichen Nischen versehen, die während der über 30-jährigen Bauzeit der kleinen Kirche mehrfach verändert wurden. Die Kuppelkalotte, die ohne Tambour auf dieser unteren Wandzone aufruht, birgt weitere Überraschungen: Sie beleuchtet den Raum durch drei rundbogige und drei polygonal geschlossene, in die Schale eingeschnittene Rechteckfenster. Obwohl konkav und konvex begrenzte, sich segelartig blähende Gewölbefelder jeweils
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einander abwechseln, vereinigen sie sich doch alle in einem flachen, scheibenartigen Oculus, der den Blick auf die Laterne freigibt. Die dynamische Komplexität der unteren Raumgrenzen löst sich am höchsten Punkt des Gewölbes in die einfachste und vollkommenste aller Formen, den Kreis, auf, in dessen Mitte man die Taube als Symbol des Heiligen Geistes erblickt. Am Außenbau zeigt die Kuppel wiederum ein anderes Gesicht, indem sie die beiden ‚Bewegungsrichtungen‘ der inneren Wandzone, konvex und konkav, nicht abwechselnd, sondern als Varianten in zwei Ringen übereinandergestaffelt darbietet: Die Fensterzone ist als scheinbarer Tambour aus sechs sich nach
außen wölbenden, von Strebepfeilern geschiedenen Exedren gestaltet, während die Laterne aus sechs konkav nach innen gebogenen Abschnitten, getrennt durch Doppelsäulchen besteht. Zwischen diesen beiden Elementen vermittelt nicht eine konventionell nach außen gewölbte Kuppelschale, sondern ein flacher, an das Pantheon erinnernder pyramidaler Aufbau aus Treppenstufen über Kreisgrundriss. Die Spitze der Laterne schließlich besteht aus einer sich turmhelmartig in den Himmel schraubenden Wendel, die von einer Krone mit einem Drahtgeflecht abgeschlossen wird, welches eine Kugel mit darüber schwebendem Kreuz trägt. Insgesamt ist die ganze Kirche von so staunenswerter, gewollter Originalität, als setze ihr Erbauer absichtlich alle Prinzipien der Tradition, der Logik und der vitruvianischen Ordnung außer Kraft. Es ist jene „Freizügigkeit“ im Umgang mit den scheinbar unverbrüchlichen ‚Gesetzen der Baukunst und Ästhetik‘, die schon die Zeitgenossen Borromini vorwarfen: Er maße sich eine Lizenz zur hyperindividualistischen Regelverletzung an, die auf die Dauer nur böse enden könne. Und so fühlten sich alle Kritiker bestätigt, als der von seiner Entlassung an der Baustelle von S. Agnese (▶ 26) tief verstörte Künstler im Jahr 1667, wenige Jahre nach der Vollendung von S. Ivo (1660), im Affekt oder aus tiefsitzender Verzweiflung schließlich Selbstmord beging. Bis ins 20. Jh. hinein gab es Deutungen, die bei aller Anerkennung seiner Kreativität Borrominis kühne Raumvisionen als Ausdruck einer schizophrenen Persönlichkeitsstörung auslegten (Sedlmayr 1939, S. 117–125). Die zeitgenössischen Kritiker beschimpften, ganz in der Tradition des orthodoxen Vitruvianismus, das Individuelle und Undogmatische in Borrominis Formfindung als ‚gotisch‘ – regellos, fremdartig, barbarisch, bizarr, daher nicht □ 94 Rom, Universitätskirche S. Ivo alla Sapienza, Hoffassade, F. Borromini, 1642 – 60
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□ 95 Rom, Universitätskirche S. Ivo alla Sapienza, Aufblick zur Kuppel, F. Borromini, 1642 – 60
zur Nachahmung zu empfehlen. Der Vorwurf erschien insoweit treffend, als Borromini seine Ausbildung an der Mailänder Dombauhütte, dem (damals noch unvollendeten) Hauptwerk der italienischen Gotik erfahren hatte. Es liegt in der Eigenart von Borrominis oft rätselhafter, unkonventioneller und experimenteller Architektursprache, dass sie zu vielfältigen, symbolischen Deutungen einlädt: Sie vermeidet die ikonographische Konkretion Berninis und dessen rhetorische Eindeutigkeit. Die meisten Interpretationen gehen davon aus, dass die namensgebende Göttliche Weisheit in dem Gebäude dargestellt sei, dessen aus der Bibel entlehnte Bauinschrift lauten sollte: Sapientia aedificavit sibi domum – die (göttliche) Weisheit erbaut sich ein Haus (Ost 1967, S. 111). Robert Stalla will in den geometrischen Grundformen des Bauwerks, Kreis und Dreieck, einen Zusammenhang mit den Theorien des in denselben Jahren an der Sapienza lehrenden Galileo Galilei erkennen; dessen späterer Konflikt mit der Kirche habe die Bauausführung so lange verzögert (Bösel/Frommel 2000, S. 468– 487). Hans Ost hat vorgeschlagen, die Ausgießung des Heiligen Geistes am Pfingstfest (Apg. 2,1–41) als eigentliches Thema dieser Architek-
tur zu sehen. Aus dem zeitgenössischen Romführer „Roma ornata dall’architettura, pittura e scoltura“, verfasst von einem Freund Borrominis, Fioravante Martinelli, stammt der Hinweis, die Grundform sei eine Abstraktion jener Biene, die Papst Urban VIII. zu seinem persönlichen Emblem erwählt habe. Andere Deutungsvorschläge beziehen sich auf den sechszackigen (Davids-)Stern als Zeichen der Weisheit des Königs Salomo. Die Spirale der Turmspitze kann als Sinnbild der evolutionär darin vermittelten Bildung gelesen werden – man denke an Filaretes fiktiven Turm in Sforzinda (□ vgl. 3) – oder als positiv verstandenes Gegenbild zum Turmbau zu Babel (Gen. 11,1–9), dem biblischen Symbol bestrafter Hybris, welche durch die Weisheit der Kirche überwunden würde. All diese Interpretationsvorschläge beruhen freilich auf nachträglichen Assoziationen und Analogieschlüssen – der Künstler selbst hat sich hierzu nicht geäußert, und es erscheint denkbar, dass er Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit als besondere Qualität seiner eigenen Architektursprache verstand. Für diese tendenzielle Offenheit sprechen auch die formalen Metamorphosen, die der Bau bei genauer Betrachtung aufweist (Thürlemann 1990).
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So verwandeln sich die Putzgliederungen über dem Hauptgebälk, die man aufgrund ihrer Basen als Pilaster oder Lisenen deuten würde, bei ihrer Zusammenführung im Ring am Fuß der Laterne auf einmal in völlig unarchitektonische Stuckrahmen, zwischen denen die Elemente des Universitätswappens, nämlich Sterne und Cherubim zu erkennen sind, d. h. Engel, die nur aus Köpfen und Flügeln bestehen. Deren ‚körperlose‘ Eigentümlichkeit muss ursprünglich noch auffälliger gewesen sein, als die Nischen der unteren Zone noch mit (1741 entfernten) Statuen der Apostel besetzt waren, als solle jene biblische Szene nachgestellt werden, bei der sich an Pfingsten der Heilige Geist in einen verschlossenen Raum ergoss, in dem die Jünger Jesu sich verborgen hatten und danach wie durch ein Wunder alle Sprachen der Welt beherrschten – das Gegenbild zur Sprachverwirrung, die die Menschen beim Turmbau zu Babel ereilt hatte. Je weiter man in diesem Bau in den Bereich des ‚Irdischen‘ gelangt, desto konkreter, plastisch fassbarer und vitruvianischer wird die Formensprache. Unterhalb des Hauptgebälks sieht man eine durchaus klassische, korinthische Pilasterarchitektur, die freilich allen Knicken und Schwingungen der Wand so folgt, als sei sie lediglich auf gefaltetes Papier aufgeklebt. Das Immaterielle von Borrominis Raumschöpfungen wird durch ihre spröde, neutral-weiße Putzoberfläche noch besonders betont; dies zeigt bei aller formalen Innovationskraft eine für die Bauzeit eher ‚konservative‘ Haltung, mit welcher sich der Architekt dem gleichzeitig von Bernini und seinen Adepten propagierten Farben- und Materialprunk |▶ 22, 24| entschieden verweigerte: Borrominis Architektur blieb sozusagen ästhetisch und ikonographisch neutral und ‚rein‘ – das Hochaltarbild Pietro da Cortonas als einziger farbiger Akzent wirkt in diesem Raum als unverbundenes, fast störendes Implantat. Das Gemälde verweist ebenso wie der Stuckdekor auf die letzte Ausbauphase der Kirche unter
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Papst Alexander VII.; daher finden sich in geradezu aufdringlicher Dichte Wappenelemente der regierenden Familie Chigi – drei Berge und Sterne. Man darf annehmen, dass Borromini eine weniger eindeutige Emblematik bevorzugt hätte. Vergleicht man den Einfluss Berninis und Borrominis auf die Architektur des Spätbarock, die deren römische Impulse vielfach aufgenommen hat, so fällt das Urteil differenziert, aber dennoch abgewogen aus. Berninis Lösungen waren geeignet, quasi wörtlich und affirmativ rezipiert zu werden: Die sakralen Raumschöpfungen der Gebrüder Asam in Bayern, die Schlossbauten von Berlin und Stockholm, Brunnenanlagen und Grabmäler in ganz Europa wurden in enger, oft geradezu zitathafter Anlehnung an seine ‚Musterlösungen‘ errichtet. Die Nachwirkungen Borrominis waren dagegen indirekter, aber mindestens so nachhaltig und innovationsfördernd: Seine Methode der raffinierten Grundrissgeometrien, kurvierten Wände, verzogene Gewölbeformen und architektonisch-plastische Mehrdeutigkeiten entzündete die Phantasie vor allem nordalpiner Künstler und Bauherren. Guarino Guarini verbreitete diese Ideen über das Ordensnetzwerk der Theatiner und „infizierte“ Piemont mit dieser undogmatischen Gestaltungsweise | ▶ 24|. In Deutschland waren es höchst eigenständige Köpfe wie Balthasar Neumann in Würzburg (□ vgl. 38) oder Johann Conrad Schlaun in Münster, welche die Komplexität Borrominis mit der sinnlichen Unmittelbarkeit Berninis verschmolzen. Sein vielleicht originellster Adept ist der böhmische Barockbaumeister Johann Santini-Aichl, der in seiner Wallfahrtskirche St. Johann Nepomuk von Saar an der Sazava (Žd’ár nad Sázavou, 1719–22) einen ‚borrominesken‘, fünfzackig-sternförmigen Grundriss mit gotisierenden Formen verband und so dem römischen Verdikt nachträglich prophetische Bedeutung und eine positive Wendung verlieh (Barth 2004, S. 87–110; Fürst 2002, S. 337–398).
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S. Lorenzo in Turin Glaube und Geometrie
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enn man sich fragt, warum der römische Hochbarock nicht eine ebenso regional beschränkte Partikularästhetik geblieben ist wie die Florentiner Frührenaissance |▶ 1, 2| oder der französische Manierismus |▶ 8, 11|, so hat dies zwei Ursachen: Zum einen blieb Rom im gesamten 17. und 18. Jh., anders als z. B. Florenz, Mantua oder Venedig, ein Zentrum des beständigen Austauschs heimischer und auswärtiger Künstler; zum anderen wurden die in der ‚Ewigen Stadt‘ geschulten Meister ins Ausland berufen, um ihre Innovationen dort in ganz anderen Kontexten zu erproben sowie gegebenenfalls Einflüsse der Gastländer aufzunehmen und zu verarbeiten. Berninis Engagement in Paris muss vom konkreten Ergebnis her eher als Fehlschlag betrachtet werden, auch wenn sein Besuch einen Innovationsschub in der Architektur des Gastlandes und ganz Nordeuropas auslöste; ein überaus erfolgreicher Botschafter war dagegen sein Zeitgenosse, der aus Modena gebürtige und in Rom ausgebildete, gelehrte Theatinerpater Guarino Guarini, der nicht nur als Philosoph, Mathematiker, Theaterautor und Architekturtheoretiker, sondern vor allem als höchst origineller Entwerfer von einigen Palästen und zahlreichen Kirchen im Auftrag seines Ordens in vielen Ländern Europas Spuren hinterlassen hat. Guarino verließ nach achtjährigem Studium 1647 Rom, wo ihn offensichtlich die gerade erst entstehenden Bauten Borrominis |▶ 23, 26| mehr beeindruckt hatten als die dem Gesù |▶ 22| verwandte Mutterkirche seines eigenen Ordens, S. Andrea della Valle. Er erwies sich in den folgenden zwei Jahrzehnten seiner Tätigkeit als origineller, ausgesprochen eigenständiger Kopf, der in einer
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bemerkenswerter Mischung aus geometrischer Perfektion und kühner Phantasie experimentelle, hochinnovative Sakralräume schuf, welche die strengen Regeln vitruvianischer Dogmatik weit hinter sich ließen. Guarinos Orden, die Theatiner (benannt nach dem Bistum ihres Mitbegründers Gian Pietro Carafa, des späteren Papstes Paul IV., vorher Bischof von Chieti in Italien, lat. Theate), gehören zu den sogenannten ‚Reformkongregationen‘, welche den Geist der katholischen Erneuerung auch in jene Länder trugen, die sich erst allmählich wieder zum alten Glauben bekannten. Da die neuen Orden im Gegensatz zu den seit dem Mittelalter verbreiteten noch keine eigenen Niederlassungen in den Hauptstädten Europas besaßen, erhielt der in Mathematik und Geometrie geschulte Pater die einmalige Chance, unter anderem für Paris, Prag, Lissabon und Messina Kirchen zu entwerfen, die jeweils so zu gestalten waren, dass der 1524 gegründete Orden des heiligen Kajetan von Thiene die erwünschte Aufmerksamkeit auf sich zog. Zu den aufstrebenden Subzentren zählte neben München (die dortige Theatinerkirche entwarf Agostino Barelli) auch Turin, die Hauptstadt des Herzogtums Savoyen-Piemont an der Alpengrenze zwischen Italien und Frankreich. Ähnlich wie im vorigen Jahrhundert Mantua zählten die Savoyer zu den Gewinnern des Dauerkonfliktes zwischen dem Kaiser und dem französischen König, da sie sich im Spanischen Erbfolgekrieg auf die siegreiche, die habsburgische Seite stellten und so 1713 mit dem Königtum über Sizilien (seit 1720 Sardinien) belohnt wurden. Ähnlich wie Preußen bemühte sich der expandierende, ehrgeizige Staat, die erwünschte Rangerhöhung durch eine ange-
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□ 96 Turin, S. Lorenzo, Inneres des Hauptkuppelraums, G. Guarini, 1670 – 1714
messen ambitionierte Baupolitik zu flankieren (Wünsche-Werdehausen 2009). Piemont zählte daher im späten 17. und frühen 18. Jh. zu den innovativsten und dynamischsten Architekturzentren der Halbinsel; Turin kann mit seinem Rastergrundriss und den kilometerlangen, arkadengesäumten Straßen und Plätzen als eine Musterhauptstadt des Barock gelten. Für einen Auftrag an Bernini war man dort um 1666 noch zu unbedeutend; die Einflüsse des eine Generation jüngeren, weniger prominenten, aber mindestens so innovativen Guarino Guarini erwiesen sich dagegen als nachhaltig prägend. Er erhielt als offizieller Hofarchitekt des Herzogs die Gelegenheit, neben dem hochoriginellen Backsteinbau des Palazzo Carignano und dem Landschloss Racconigi gleich drei Sakralräume in der Stadt am Po zu errichten: die aus zwei Rotunden und einem Sechseck ge-
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fügte Kirche der Immacolata Concezione (beg. 1673), den über einem kombinierten Kreis- und Dreiecksgrundriss errichtete Zentralbau des SS. Sindone (eine an den Dom von Turin angefügte Kapelle für die Reliquie des Grabtuchs Christi, 1667–83) sowie S. Lorenzo, die Theatinerkirche der Stadt in unmittelbarer Nähe von Herzogsschloss und Dom an der Piazza Castello. Bauplatz war der Standort einer ehemaligen Palastkapelle, benannt nach dem Tagesheiligen eines historischen Sieges der verbündeten Savoyer und Spanier über die Franzosen im Jahr 1557 – aufgrund desselben Anlasses wurde auch der Bau des ebenfalls dem hl. Laurentius geweihten Escorial gelobt |▶ 9|; die Turiner Kirche wurde 1670–79 nach Guarinis Entwurf errichtet, die Ausstattung erst 1714 vollendet. Die beengte, aber prominente innerstädtische Lage erlaubte weder den (bei den Theatinern üblichen) längsgerichteten mehrschiffigen Grundriss noch eine gute Belichtung der unteren Wandzonen. Daher entschied sich Guarino, den Kirchenraum zu zentralisieren und auf eine alles beherrschende, hell erleuchtete Hauptkuppel auszurichten, die in horizontal übereinandergetürmten Schichten jeweils ihren Charakter und ihre geometrische Struktur radikal verändert (□ 96). Die unbelichtete Kapellenzone ist als Oktogon aus konvex in den Raum einschwingenden, mit dunklem Marmor verkleideten Serlianen gestaltet (ein von den Turiner Straßenarkaden geläufiges Motiv), welche in unterschiedlich tiefen Nischen die Seitenaltäre bergen. Die breiteren und tieferen Diagonalkapellen gehen in der darüberliegenden Zone in vier mächtige Pendentifs über, die mit konvex in den Raum einschwingenden Lunetten abwechseln, welche wiederum von zweischichtigen Serlianen belichtet werden. Nach einem kräftigen, von Ochsenaugen unter Segmentgiebeln unterbrochenen, kreisrunden Konsolgebälk schließt sich ohne Tambour die Kuppelkalotte an, welche sich in ihrem Zenit in eine achteckige, eigens belichtete Laterne
203 □ 97 Turin, S. Lorenzo, Aufblick in die Haupt kuppel, G. Guarini, 1670 – 79, vgl. mit Córdoba, Kuppel der ehem. Moschee, 10. Jh. (nach Giedion), links
öffnet. Dieses Oktogon (□ 97) wird durch Diagonalrippen gebildet, welche einem achtzackigen Sternschema folgen. Die Gewölbezwickel zwischen den Rippen sind aber nicht geschlossen wie in der mittelalterlichen Architektur üblich, sondern in Kreissegment- und Fünfeckformen durchbrochen. Sie geben den Blick frei auf darüberliegende Gewölbefelder, welche durch verdeckte Fenster indirekt belichtet sind. Durchbrechung und Hinterlichtung sowie die Kombination sphärisch verzogener, ineinander übergehender geometrischer und architektonischer Motive prägen diesen überaus reichen, komplex und geheimnisvoll wirkenden Raum. Der Chor erscheint, ebenso wie die anderen Kapellen, als ein aus zwei gegenläufig geschwungenen Serlianen gebildeter ovaler Annex, der die Systematik des Hauptraums nicht unterbricht, sondern nur erweitert. Er ist von einem sechszackigen Sterngewölbe überdeckt und von einem dunklen Umgang, dem Mönchschor, hinterfangen. Alle Entwürfe Guarinos sind geprägt von einander komplex durchdringenden, gegensätzlichen, spannungsreichen Formen und Strukturen. Während man den Raumeindruck von Borrominis Architektur, z. B. das Innere der (im Vergleich mit S. Lorenzo einfach und über-
sichtlich wirkenden) Kirche S. Ivo (▶ 23) mit Begriffen wie ,plastisch geformt‘ oder ,dynamisch bewegt‘ charakterisiert hat, erscheinen Guarinos Bauten eher als genau kalkulierte, überkompliziert am Reißbrett ausgetüftelte Konstruktionen: Divergente, anscheinend nicht ursprünglich zusammengehörige Grundformen wie Kreuz, Quadrat, Stern, Polygon, Oval, Kreis und Bogensegment überlagern einander oder gehen scheinbar metamorphotisch auseinander hervor. Diese Körperdurchdringung wurde in Guarinos philosophischem Hauptwerk „Placita philosophica“ (1665) als etwas in der Natur Unmögliches bezeichnet, das nur durch Gottes Allmacht realisiert werden kann: Komplexe Geometrie als Entwurfsprinzip sollte somit ein Ausdruck von Glauben sein, indem sie übernatürlich wirkende, scheinbar technisch-statisch unerklärbare, nie gesehene und den Gläubigen faszinierende Räume erschuf (Müller 2002). Guarino benötigte keine illusionistischen Himmelsöffnungen mit plastischen Wolken, vergoldeten Sonnenstrahlen und freskierten Engeln |▶ 22, 39, 40|, um den Eindruck von Transzendenz im Kirchenraum zu erzeugen, auch wenn er sich wie in der Arkadenzone von S. Lorenzo der im Spätbarock zunehmenden Wertschätzung kostbarer, poly-
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chromer Oberflächen nicht entziehen konnte (Dardanello 2006, Taf. 72–84, S. 357–363). Er erzielte seine Effekte mithilfe virtuoser, genau auf die Betrachterwahrnehmung kalkulierter Durchleuchtungs- und Gegenlichtwirkungen: Der scheinbar ‚schwerelose‘ Eindruck einer auf ausgehöhlte Pfeiler gestützten Kuppel war nur mit einem erheblichen Aufwand an versteckten, raffinierten Hilfskonstruktionen aus Backstein, Holz und Eisen zu realisieren (Dardanello 2006, Taf. 67–71, S. 348–355). Genau diesen Effekt scheinbarer Fragilität und Schlankheit, hinter denen sich eine solide Statik verbirgt, bewunderte der Theatinerpater an der ‚ingeniösen‘ gotischen Architektur (Guarini 1737/1968, III.xiii.1, S. 207–210). Inwieweit mittelalterliche oder islamische Rippengewölbe direktes Vorbild oder entwurfssystemisch bedingte
Parallele waren, kann kaum sicher entschieden werden (Dardanello 2006, S. 50–57) – der Vergleich der Hauptkuppel von S. Lorenzo mit den mihrab-Gewölben der zur Kathedrale umgewandelten mittelalterlichen Moschee von Córdoba, erstmals von Sigfried Giedion vorgelegt, erscheint auf den ersten Anblick schlagend (Meek 1988, Abb. 44; nach Giedion 1949, Abb. 16–18, □ 97). Guarino nobilitierte die nicht zum klassischen Kanon der vitruvianischen Architektur zählenden gotischen Bauformen in seinem erst 1737 von dem Turiner Architekten Bernardo Vittone edierten Traktat „Architettura civile“ (□ 98) mit dem Ehrentitel einer „Ordnung“ (Kruft 1985, S. 120), was freilich nicht bedeutet, dass er mittelalterliche Bauformen exakt kopiert hätte. Seine Überzeugung, der formale Kanon der Antike sei nicht abgeschlossen, sondern könne nach Belieben erweitert werden, bekräftigte er mit eigenwilligen Erfindungen wie einem durch Dornen und Nägel dekorierten Passions-Kapitell für die Sindone-Kapelle des Turiner Grabtuchs in Turin (Dardanello 2006, Taf. 39). Es mag der Lage Piemonts (Pede-Montii) am Fuß der Alpen geschuldet sein, dass der nachhaltigste Einfluss Guarinos nicht in Italien oder Paris – seine dortige Kirche wurde im 19. Jh. abgerissen –, sondern im deutschen Sprachraum zu verzeichnen war. Obwohl die für Prag geplante Marienkirche, benannt nach dem bayerischen Wallfahrtsort Altötting, gar nicht realisiert wurde, waren doch seine Grundriss- und Gewölbefigurationen schon vor ihrer Publikation in dem postum veröffentlichten, großzügig illustrierten Traktat von größter Vorbildwirkung für die zutreffend als ‚Radikalbarock‘ bezeichnete Ästhetik der vor allem in Bayern und Böhmen tätigen Baumeisterfamilie Dientzenhofer und des aus derselben □ 98 Guarino Guarini: Grundriss von S. Lorenzo, Turin 1670, nach Guarini: „Architettura civile“, 1737
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Region stammenden Balthasar Neumann. Dabei lässt sich in vielen Fällen bei seinen Nachfolgern – wie schon bei Guarino selbst – eine Reise an den Ort mutmaßlicher Vorbildbauten kaum nachweisen. Da die ‚guarineske‘ Architektur aber vor allem durch bestimmte geometrische Entwurfsprinzipien geprägt wird, konnte deren spezifische, raumbildnerische Qualität von einem im Plänelesen geübten Architekten auch ohne unmittelbare Autopsie der Bauten verstanden und weiterentwickelt werden. Die Affinität zu angeblich ‚gotischen‘, also nicht genuin antikischen, originellen Konstruktionen und die Abneigung gegen alles Normative trafen im sich neu definierenden Savoyen ebenso wie im Reich auf ein interessierteres Publikum als in den Zentren Rom, Paris oder London, die ab 1700 immer stärker auf eine neuklassische, akademisch fundierte Geschmacksbildung durch Übersichtlichkeit und Regelhaftigkeit drängten. Guarino galt dort eher als abschreckendes Beispiel für den verderblichen Exzess zu großer formaler Frei-
zügigkeit, als ein Beispiel von Geschmacksverirrung in der Nachfolge Borrominis. Wie so oft in der Frühen Neuzeit erwies sich die mediale Multiplikation von Gebautem in gedruckter und gezeichneter Form als der eigentlich entscheidende Kommunikationsweg der Epoche – die vormalige ‚Peripherie‘ trat zugleich als Innovationszentrum, das künstlerischen Experimenten gegenüber aufgeschlossen war, gleichwertig neben die alten, vielbesuchten, aber zunehmend retrospektiv orientierten Metropolen. Mit Guarino, seinen Nachfolgern in Savoyen (Juvarra, Alfieri und Vittone, Pommer 1967) und nördlich der Alpen etablierte sich eine eigenständige mitteleuropäische Barockarchitektur, deren Wurzeln, Vorbilder und Maßstäbe nicht an der Seine und am Tiber zu suchen sind und die im folgenden 18. Jh. den qualitativen Vergleich dennoch nicht zu scheuen brauchte, weil sie die zunächst aus den Hauptstädten empfangenen Impulse nun selbständig weiterentwickelte | ▶ 39, 40|.
St. Peter in Rom II Petersplatz und Baldachin
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ls die neue Petersbasilika |▶ 21| nach hundertzwanzigjähriger Bauzeit im Jahr 1626 endlich geweiht wurde, ging die Arbeit daran erst richtig los: Die so mühevoll fertiggestellte größte Kirche der Welt musste nun innen ausgestattet und außen städtebaulich eingebunden werden. Wie ein maßstabsloses Steingebirge lag sie auf einem noch weitgehend ungeordneten, ungeformten Platz am nordwestlichen Stadtrand Roms zwischen dem Tiber, dem Gianicolo-Hügel, der Vorstadt Borgo und dem nördlich wie zufällig anstoßenden, äußerlich
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wenig repräsentativen vatikanischen Palast. Die riesigen überwölbten Schiffe waren für die liturgische Nutzung herzurichten und durch skulpturale Hinzufügungen in ihrer Funktion als Machtzentrum des Papsttums und Wallfahrtsheiligtum erfahrbar zu machen (Frings 2005). All diese vielfältigen Aufgaben konzentrierten sich auf einen einzigen Künstler, der von 1629, dem Ableben seines Vorgängers Maderno, bis zu seinem eigenen Tod 1680 als Petersbaumeister eine Lebensaufgabe fand: Gianlorenzo Bernini, der durch vielfältige Inno-
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vationen seine Epoche ebenso stark geprägt hat wie sein Amtsvorgänger Michelangelo im Jahrhundert zuvor. Während der Florentiner vor allem für kühne, kompromisslos vorangetriebene Idealentwürfe bewundert wurde, tat sich sein in Neapel geborener Nachfolger durch die überragende Begabung hervor, scheinbar unlösbare Gestaltungsaufgaben unter den Zwängen vorgefundener, unveränderlicher Rahmenbedingungen in so vollkommene Lösungen zu überführen, dass sie selbst zum Maßstab wurden, ja der Nachwelt als geradezu alternativlos und selbstverständlich richtig erschienen. Um es mit Berninis eigenen Worten zu sagen: ,Wenn man wissen will, was ein großer Mann zu leisten im Stande ist, bringe man ihn in Schwierigkeiten.‘ (Karsten 2006, S. 162.)
□ 99 Rom, St. Peter: Altar- baldachin (1625 – 33) und sog. Cathedra Petri (1656 – 66), G. L. Bernini
III. Schlüsselwerke
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Bernini war zunächst als Bildhauer mit statisch kühnen, technisch perfekten und erstaunlich sinnlich-realistisch wirkenden Marmorskulpturen hervorgetreten. Als einer seiner wichtigsten Auftraggeber, Kardinal Maffeo Barberini, 1623 zum Papst Urban VIII. gewählt wurde und dieses Amt ungewöhnlich lange, nämlich zwei Jahrzehnte ausübte, berief er seinen Lieblingskünstler an die Spitze der Petersbauhütte, da die wichtigsten Aufträge nun an der Schnittstelle zwischen Architektur und Skulptur angesiedelt waren. Bernini traf dort auf den nur ein Jahr jüngeren Francesco Borromini, einen Verwandten seines Amtsvorgängers Carlo Maderno aus dem Tessin, der zunächst als Maurermeister arbeitete und nach dem Ausscheiden aus dieser untergeordneten Position ab 1633 zum künstle-
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risch ebenbürtigen Konkurrenten seines ehemaligen Vorgesetzten wurde. Das erste und bis heute vermutlich berühmteste Projekt der Ausstattungskampagne entstand, wie erhaltene Zeichnungen belegen, in enger Zusammenarbeit der beiden Männer: der Bronzebaldachin über dem Papstaltar am Petersgrab (□ 99). Der programmatische Mittelpunkt des gesamten Neubaus befand sich aufgrund der komplizierten Baugeschichte deutlich azentrisch unter der riesigen Kuppel Michelangelos und drohte im allzu weitläufigen Langhaus optisch verloren zu gehen. Es erschien aber unmöglich, einen rückwärtig geschlossenen architektonischen Aufbau in der Art eines Altarretabels |▶ 12, 22| mitten in die Vierung zu stellen. Bernini ersann die geniale Lösung eines ebenso monumentalen wie transparenten Vierstützen-Aufbaus von 20 m Säulenhöhe, der unübersehbar war, ohne den Durchblick auf das Chorhaupt zu behindern. Um die hierfür benötigte gewaltige Bronzemenge bereitzustellen, schreckte man nicht davor zurück, antike Bauwerke wie den metallenen Dachstuhl der Vorhalle des Pantheons zu plündern, was der römische Volksmund mit dem bissigen, auf den Familiennamen des Papstes anspielenden Diktum quittierte: Quod non fecerunt Barbari, fecerunt Barberini! [Was die Barbaren nicht getan haben, taten die Barberini!] Bernini leistete dieser Identifikation Vorschub, indem er die Oberfläche der Bronzesäulen mit zahllosen Bienen dekorierte – dem persönlichen Emblem des sich selbst als überaus fleißig und produktiv verstehenden Papstes. Die merkwürdigen, korkenzieherartig gewundenen Säulenschäfte erinnern an das (freilich viel kleinere) vormalige Altarziborium von Alt-St. Peter, dessen gedrehte Säulen angeblich aus dem Tempel von Jerusalem stammten. Diese Spolien schmückten nun, Beleg für den erfolgten Maßstabssprung, die Balkone in halber Höhe der Vierungspfeiler, hinter denen
kostbare Reliquien der Passion Christi wie die sog. Heilige Lanze oder das Schweißtuch der Veronika verwahrt wurden. Um diese wichtigen Wallfahrtsheiligtümer im Raum präsent zu machen, wurden in den Nischen unterhalb der Balkone 5 m hohe Marmorstatuen aufgestellt, welche die mit den Objekten verbundenen Heiligen darstellen: Bernini schuf z. B. die Figur des römischen Hauptmanns Longinus, der zum Glauben fand, als er die Seite Christi mit der Lanze durchstieß, sein Schüler Bolgi die hl. Helena mit dem von ihr wiederaufgefundenen Kreuz Christi. Gleichzeitig gab der Papst schon zu Lebzeiten sein Grabmal bei Bernini in Auftrag, das an prominenter Stelle in einer Nische des Chorhaupts seinen Platz finden sollte. Erst unter Alexander VII. Chigi, dem zweiten Nachfolger Urbans VIII., wurde ab 1656 auch die dem Barberini-Grabmal benachbarte Hauptapsis gestaltet, in der eine weitere berühmte Reliquie sichtbar gemacht werden sollte: die Cathedra Petri, der aus dem 9. Jh. stammende, vermeintlich antike ‚Thron des ersten Papstes‘. Bernini ersann hierfür eine Inszenierung, die zwischen freiplastischer Gruppe und wandfester Kleinarchitektur oszilliert: Er verkleidete die von einem goldgetönten, ovalen Fenster durchbrochene Mittelachse mit einer vergoldeten Gloriole aus Engeln, Wolken und Strahlenbündeln, unter der in einer bronzenen Verkleidung der antike Thronsessel zu schweben scheint – mit Zugbändern am Aufsteigen gehindert von den vier Kirchenvätern, die als monumentale Statuen auf dem Altarretabel stehen. Eine solche, von gemalten Bühnenprospekten und allegorischen Gruppen inspirierte unauflösbare Verschmelzung aus Lichtinszenierung, Skulptur und Architektur bezeichnete Bernini als bel composto: Seine überaus sinnliche Kunst der ‚schönen Zusammenfügung‘ sollte vor allem für den nordalpinen Barock vorbildlich werden, wie ein Blick auf die Chorlösungen in Melk, Würzburg und der Wieskirche belegt |▶ 39, 40, 42|. Durch die Säulen des
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□ 100 Rom, Vatikanischer Palast: Scala Regia, G. L. Bernini, 1663 – 66
Baldachins gesehen, bildet dieser Aufbau ein eindrucksvolles, dank des dunklen Bronzetons als zusammengehörig empfundenes, in die Tiefe gestaffeltes raumgreifendes Ensemble. Ein weiteres ungelöstes Problem stellte die Konstellation von Basilika und Palast dar, die beide wie zufällig aneinanderstießen, ohne dass ein würdiger Hauptzugang oder eine mehr als zufällige Verbindung beider Baukomplexe erkennbar gewesen wäre (□ vgl. 87). Nahe beim nördlichen Ende der Peters-Vorhalle befand sich im Obergeschoss des Palastes der zeremonielle Empfangssaal für königliche Besucher, genannt Sala Regia, zu der eine kei-
III. Schlüsselwerke
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neswegs königliche, ebenso langgezogene wie schmale und dunkle, einläufige Treppe namens Scala Regia hinaufführte, die lediglich an ihrem Wendepodest von einem einzigen Fenster beleuchtet wurde (□ 100). Diesen zwischen zwei Monumentalbauten eingeklemmten, notdürftigen Korridor in ein nie gesehenes Architekturerlebnis verwandelt zu haben, war vielleicht Berninis Meisterstück, dem er sich ab 1663 widmete. Er entschied sich für die interessante gestalterische Taktik, die Zwänge der räumlichen Vorgabe einerseits dramatisch zu überhöhen, andererseits vorsichtig abzumildern. Er verschmälerte die sowieso schon zu enge, bis zu ihrem oberen Ende ungleichmäßig sich verjüngende Treppenflucht noch zusätzlich, indem er beidseitig ionische Freisäulen einstellte, die ein eingezogenes, kassettiertes Tonnengewölbe tragen. Diese ‚Röhre in der Röhre‘ ist so gestaltet, dass sie wie ein perspektivisch gestaffeltes Bühnenbild die Tiefe des Korridors durch ein allmähliches Verschmälern der Laufbreite noch unterstreicht, deren Neigung und Verengung aber zugleich vermindert und den Raum so regelmäßiger erscheinen lässt, als er ist. In der Mitte des Laufs wird die Tonne durch ein seitliches Oberlicht kurz unterbrochen und erhellt, während der Blick des Aufsteigenden auf das Ziel des Perspektivs, ein hohes Rundbogenfenster, fixiert bleibt, das den Wendepodest in strahlendes Gegenlicht taucht. Der zweite, um 180° gewendete Lauf ist als unauffällige, dunkle Röhre gestaltet, lebt aber von der Nachwirkung des Erlebnisses, das die Besucher auf dem unteren Teil ihres Aufstiegs genießen konnten (Marder 1998, S. 168–185). Die Schaltstelle zwischen Kirche und Palast wird geschickt durch die Aufstellung einer Reiterstatue des ersten christlichen Kaisers Konstantin betont: Sie ist aus der Vorhalle frontal sichtbar, durch ein weiteres Oberlicht dramatisch schräg beleuchtet und lockt den Besucher an – hat er die Skulptur erreicht und wendet sich nach links, steht er vor dem grandiosen Antritt der Treppe, die von
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zwei Fanfaren schwingenden Engeln mit dem Chigi-Papstwappen bekrönt wird. Madernos Langhaus |▶ 21| schließt mit der bereits erwähnten zweigeschossigen Vorhalle ab, welche die Kuppel Michelangelos, die die Außenansicht doch eigentlich beherrschen sollte, im Wortsinne allzu weit in den Hintergrund treten lässt. Daher beschloss die päpstliche Baukommission, nach dem Vorbild des nicht realisierten Sangallo-Modells die Fassade durch die Anfügung von Ecktürmen stärker vertikal zu akzentuieren, und verbreiterte sie hierfür auf nunmehr neun Achsen. 1637 entwarf Bernini elegante Glockengeschosse, musste aber bei deren Errichtung ohne die professionelle Hilfe Borrominis auskommen und stieß als im Baufach dilettierender, gelernter Bildhauer schmerzlich an seine technischen Grenzen: Der Untergrund, das vormalige Circus- und Friedhofsgelände, erwies sich als instabil, so dass die ersten, probeweise errichteten Turmgeschosse auf der Südseite nach Setzrissen in der Fassade wieder abgetragen werden mussten. Dies hatte zur Folge, dass die verbreiterte, aber dauerhaft turmlose Front Madernos nun noch unproportionierter wirkte als zuvor. Der trapezförmige, unregelmäßig begrenzte Vorplatz machte die Sache nicht besser. 1586 hatte Papst Sixtus V. versucht, durch die technisch äußerst mühsame, vielbewunderte Versetzung eines seit der Antike auf der Südseite der Kirche platzierten Obelisken unter Leitung des Architekten Domenico Fontana den Raum zwischen Basilika und Borgo zu zentrieren – mit mäßigem Erfolg, wie der Blick des Zeichners Israel Silvestre von der Kuppel über Berninis (um 1640 noch nicht wieder beseitigtes) Turmfragment hinweg belegt (Satzinger 2005, S. 69): Der Vorplatz besaß damals auf der Nordseite vor dem Palast eine taschenartige Erweiterung, die in ihrer Unregelmäßigkeit von einem ohne Beziehung zum Obelisken aufgestellten Springbrunnen Madernos optisch eher noch betont wurde.
Berninis letztes Meisterstück, realisiert von 1657–67, bestand nun darin, dem Petersplatz jene scheinbar völlig regelmäßige, unverwechselbare Form und Gestaltung zu verleihen, die ihn bis heute zur berühmtesten städtebaulichen Lösung seiner Epoche macht (Birindelli 1987). Statt die völlig disparate Umgebung baulich vereinheitlichen zu wollen, legte der Künstler ähnlich wie bei der Scala Regia eine neue Figur in den vorgegebenen Rahmen, die keine andere Funktion hat, als einen optisch wirksamen Binnenraum zu schaffen, der der Würde des Ortes, dem Andrang der Gläubigen und den Dimensionen der Basilika angemessen sein sollte. Nur der obere Teil des Vorplatzes behielt seine Trapezform und kehrte hierdurch den perspektivischen Trick der Treppe um: Während diese aufgrund des Zusammentretens der Wände länger erscheint, als sie ist, wirkt die sich zur Vorhalle hin verbreiternde sog. Piazza Retta optisch verkürzend und vermindert so die störende Breitenwirkung der Fassade. Bernini versetzte den vorhandenen Brunnen auf die Höhe des Obelisken und spiegelte ihn durch ein Pendant auf der anderen Seite, so dass nun eine von drei Punkten fixierte Querachse wie auf der Piazza Navona |▶ 26| entstand. Durch Ankauf und Abriss von Gebäuden an der südlichen Platzflanke wurde ein quergerichteter Freiraum geschaffen, dem Bernini ein Oval aus umlaufenden toskanischen Kolonnaden einbeschrieb. Wie der bauzeitliche Stich von Falda (□ 101) zeigt, hätte der vierfache, von Heiligenfiguren bekrönte Säulenkranz bis auf zwei schmale, zu den Straßen des Borgo geöffnete Durchbrüche eigentlich ganz geschlossen sein sollen, doch wurde der sog. Dritte Arm gegenüber der Peterskirche aus Kostengründen nicht mehr ausgeführt. Dies erleichterte im 20. Jh. die Neudeutung des Petersplatzes: Mussolini ließ die kleinteilige Bebauung der sog. Spina del Borgo 1936 abreißen und schuf an ihrer Stelle den allzu breit geratenen Aufmarschboulevard der Via della Conciliazione, die heute
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□ 101 Giovanni Battista Falda: Berninis Projekt für den Petersplatz in Rom mit dem östlichen, sog. Dritten Arm (nicht ausgef.), 1657
eine kilometerlange axiale Verbindung mit dem Tiberufer und der Engelsbrücke bietet, aber den von Bernini intendierten Kontrast von engem Borgo und weitem Petersplatz empfindlich beeinträchtigt. Andererseits ermöglicht erst dieser Fernblick die ungestörte Zusammenschau von Kirchenfassade und Kuppel, wie sie Michel angelo eigentlich intendiert hatte. Die für ihre Entstehungszeit extrem reduzierte, antikennahe Formensprache der Kolonnade – Jacob Burckhardt nennt sie „fast gar nicht barock“, daher „bei weitem das Beste, was er überhaupt gebaut hat“ (Burckhardt 1855/2001, S. 274) – ist ihrer untergeordneten Funktion geschuldet, kündigt aber auch schon die im 18. Jh. allgemein zu konstatierende Rückwende zu vereinfachten, klassisch-vitruvianischen Formen an. Dieser ,fortschrittlichen‘ Tendenz entspricht auch die von Bernini formulierte Deutung des architektonischen Motivs als „geöffnete, die Gläubigen an sich ziehenden Arme der Kirche“ – ein Verständnis der Bau-
III. Schlüsselwerke
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kunst als Bilderrede, die im 18. Jh. unter dem Namen architecture parlante zunehmend an Bedeutung gewinnen wird (|▶ 50|, Strunck 2007, S. 389–394). Bewundert man an Michelangelo vor allem die Radikalität seiner Ästhetik, so gilt für Bernini das genaue Gegenteil: Sein Einfühlungsvermögen in die konkrete Situation, seine Bereitschaft und Fähigkeit, Hindernisse in Vorzüge umzudeuten und Individuelles schließlich als Allgemeingültiges erscheinen zu lassen, prädestinierten ihn zum wahrscheinlich meistrezipierten Künstler seiner Epoche. Dagegen zeigte er deutliche Schwächen, wenn er wie beim Louvre-Wettbewerb |▶ 35| ,auf dem weißen Blatt‘ eine neue Architektursprache erfinden sollte: Er wuchs eben, wie er selbst zutreffend konstatierte, an und mit den Herausforderungen der von zahllosen Vorabfestlegungen bedingten konkreten Aufgabe, wie sie das Rom der Päpste in so unvergleichlicher Dichte, Fülle und ebensolchem Anspruch bot.
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Zeichnung, Druckgrafik und Modell als Entwurfs- und Kommunikationsmedien
V
itruv (I.2.2) unterschied drei Formen der graphischen Architekturdarstellung: ichnographia (Grundriss), orthographia (Ansicht) und scaenographia (Perspektive). Die Neuzeit fügte noch den Schnitt (sectio) hinzu, der wie Grund- und Aufriss eine verzerrungsfreie Orthogonalprojektion ist. Mithilfe dieser vier Darstellungsmodi war es möglich, dreidimensionale Architektur vollständig im zweidimensionalen Medium der Grafik zu entwickeln und abzubilden. Der größeren Anschaulichkeit wegen wurden oft noch dreidimensionale, maßstäbliche, meist farbige Modelle (bevorzugt aus Holz) hergestellt, die vor allem den Auftraggebern, die meist Laien waren, die räumliche Vorstellung erleichterten. Die heute gebräuchlichen ‚Arbeitsmodelle‘ als Werkzeug der Formfindung haben sich dagegen nicht erhalten, vermutlich waren sie nicht gebräuchlich oder aus nicht dauerhaftem Material erstellt. Die Architekturzeichnung diente aber nicht nur als Entwurfswerkzeug, sondern auch als Gedächtnisstütze und Informationsmedium, um über weite Entfernungen hinweg Kenntnisse von Gebautem und Geplantem zu vermitteln. Sie dokumentierte nicht ausgeführte oder verworfene Projekte, Entwicklungsschritte oder Diskussionsprozesse, die iterative Annäherung an eine endgültige Lösung oder auch gänzlich phantastische, niemals zur Ausführung gedachte reine Gedankenexperimente. So beschränkt sich z. B. der Beitrag Leonardo da Vincis zur Architekturgeschichte auf einen großen Bestand von originellen Skizzen (□ vgl. 20), die ohne Auftrag und konkreten Anlass entstanden, während seine Mitwirkung an realisierten Bauten bis heute nicht nachgewiesen ist. Die Diskussion um den Neubau von St. Peter lässt sich zu großen Teilen allein aus dem vorhandenen Zeichnungsbestand rekonstruieren, da die Mehrzahl der Vorschläge (z. B. von Raffael oder Peruzzi) niemals zur Ausführungsreife gelangte. Die Vor- und Zwischenzustände der immer wieder veränderten Kö-
nigsresidenz Versailles |▶ 36| sind vor allem durch Pläne, perspektivische Ansichten oder Vogelschaugemälde dokumentiert. Durch die genaue Analyse der Faktur, etwa Zirkeleinstiche, Radierungs- und Überzeichnungsspuren, spätere Ergänzungen oder Überklebungen lässt sich, z. B. bei Borromini, anhand der erhaltenen originalen Arbeitsblätter oftmals der Weg der Entwurfsgenese rekonstruieren. Mehrheitlich haben sich aber sog. Präsentationsrisse erhalten, die zur Entscheidungsfindung und Werbung für ein Projekt beim Bauherrn dienten, z. B. bei Berninis nicht realisierten vier Louvreprojekten |▶ 35|. Neben diesen im Rahmen des Planungsprozesses entstandenen Unikaten spielen aber auch graphische Reproduktionen eine kaum zu überschätzende Rolle in der europäischen Architekturdiskussion. Die nach 1500 rasch expandierende Druckkunst erlaubte es, Themenblock · nicht nur Texte und Lehrbücher ( Säulenordnungen, S. 99, Hart 1998), sondern auch aufwendige, oft großformatige sog. Stichwerke über realisierte oder geplante Bauten zu verbreiten. Michelangelos Zentralbauprojekt für St. Peter, durch das Langhaus Madernos bereits während der Ausführung stark verändert, erfreute sich als Stichserie Etienne Dupéracs weitester Verbreitung und Bekanntheit (□ vgl. 89). Manche nur kurzzeitig existente Bauzustände, z. B. die wieder abgetragenen Fassaden der Pariser Place de nos Conquêtes (□ vgl. 133), sind allein durch ihre graphische Darstellung überliefert. Kunstvoll gestaltete Stadtpläne, oft als Vogelschaubilder, dokumentierten in ihren regelmäßigen Neuauflagen die bauliche Entwicklung von Metropolen wie Paris oder Rom. Manchmal initiierten sie durch eine spezifische Darstellungsform eine völlig neue Art der Architekturwahrnehmung: Giovanni Battista Nolli machte mit seinem 1748 erstmals publizierten Rom-Stadtplan den heute noch gebräuchlichen, abstrahierenden sog. Schwarzplan populär, bei dem bebaute Flächen als kompakte schwarze Masse,
Zeichnung, Druckgrafik und Modell als Entwurfs- und Kommunikationsmedien
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□ 102 G. B. Nolli: Stadtplan von Rom, Nördliches Stadtgebiet mit Piazza del Popolo und Spanischer Treppe, 1748 alle Freiräume dazwischen als weißer, neutraler Bildgrund dargestellt werden (□ 102). Das exakte Aufmaß (□ vgl. 17, 26) oder die oft phantasievolle Rekonstruktion (□ vgl. 27) antiker Bauten war ein zentraler Gegenstand wissenschaftlicher Publikationen. Vitruvübersetzungen und Kommentare wurden oft mit eigenen Illustrationen versehen (□ vgl. 2, 25) und dokumentierten nicht nur den Stand der archäologischen Forschung, sondern auch die jeweiligen ästhetischen Ideale der Herausgeber, z. B. Palladios oder Perraults. Die Zusammenstellung exemplarischer Bauwerke eines Landes wie z. B. in Colen Campbells „Vitruvius Britannicus“ sollte nicht nur informieren und dokumentieren, sondern geschmacksbildend wirken und dem Ruhm der jeweiligen Nation oder des Bauherrn vermehren. Ob der gezeigte Zustand bereits realisiert war oder jemals vollständig ausgeführt würde, spielte hierbei eine untergeordnete Rolle (Millon 1994 und 1999).
III. Schlüsselwerke
Manche Architekten wie Sebastiano Serlio erwarben durch ihre oft mehrbändigen, illustrierten Traktate (□ vgl. 22, 43) größeren Ruhm als durch ihre (wenigen) Bauten; andere wie Andrea Palladio nutzten das Medium zur Propagierung ihres künstlerischen Œuvres, wodurch sie für das eigene Werk implizit den Anspruch erhoben, mit den antiken Exempla konkurrieren zu können. Der in Rom um 1750 tätige Giambattista Piranesi errichtete lediglich eine einzige, mäßig bedeutende Kirche, gelangte aber durch sein umfangreiches druckgraphisches Werk – von Architekturphantasien über exakte Stadtansichten (sog. Veduten) bis zu Bühnenbildern, archäologischen Bauaufnahmen und Rekonstruktionen – zu europäischem Ruf (□ vgl. 27, 28). Sein Zeitgenosse Etienne- Louis Boullée reduzierte die Wirkung von Architektur schließlich auf ihre Bildhaftigkeit und begnügte sich mit der suggestiven graphischen Imagination von Projekten, die keinerlei Chance auf Realisierung hatten.
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Piazza Navona in Rom Stadtbaukunst als Transformation
A
uf der Piazza Navona schlägt das Herz des barocken Rom. (Raspe 1996, S. 315.)
Das Grundprinzip der römischen Architekturund Kunstgeschichte in der Frühen Neuzeit lautet, in einem Wort zusammengefasst: Rivalität. Während in Venedig die Kontinuität der Republik, im Hl. Römischen Reich Deutscher Nation die freie Konkurrenz der Fürsten und Stände, in Frankreich und Russland die Selbstdarstellung der absoluten Monarchie dominierte, so war die Stadt der Päpste geprägt vom beständigen Ringen und dem neidvollen Schielen auf die wichtigsten Aufträge, die bedeutendsten Künstler, die mächtigsten Mäzene. Motor dieses umtriebigen Kampfes um die Vorrangstellung war der unberechenbare Wechsel der Familien auf dem Papstthron; abgesehen vom unmittelbaren Zentrum der kirchlichen Macht, dem Ausbau der Peterskirche und des Vatikans |▶ 21, 25|, ließ dieses ständige Stühlerücken kaum die Pflege langfristiger Strukturen und dynastischer Kontinuitäten zu. In den meist nur wenigen Jahre jedes Pontifikats musste die Machtposition der eigenen Familie so entschlossen und unumkehrbar im Stadtbild verankert werden, dass sie mit den Zeichensetzungen der rivalisierenden Vorgänger und Nachfolger zumindest mithalten konnte. Nicht anders erging es den Künstlern, deren Klientelverbindungen nach jedem Konklave neu geknüpft werden mussten (Karsten 2006, S. 111–152). Dies alles spielte sich in einer bemerkenswert engen Arena ab, denn der Stadtkern von Rom als die alles entscheidende Bühne bot kaum jemals die Gelegenheit, sich so ungehemmt auf jungfräulichem Grund entfalten zu können, wie es den Territorialherrschern, Immobilienspekulanten
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und Großgrundbesitzern nördlich der Alpen möglich war. Die kurze Frist der pontifikalen Selbstdarstellung war vielmehr einzubinden in die schier endlose Kontinuität einer seit der Antike ununterbrochen umgebauten Stadt, die sich selbst als ‚ewig‘ verstand. Das wohl anschaulichste Zeugnis für diese charakteristische Herausforderung, weitgespannte städtebauliche Ambitionen allein durch Adaptionen und Transformationen des Vorgefundenen und zufällig Verfügbaren zu befriedigen, stellt die Piazza Navona im Zentrum der römischen Altstadt dar. Die langgestreckte, an ihrem nördlichen Ende gerundete Großform des Platzes lässt noch deutlich erkennen, dass es sich in der Antike um den seit 86 n. Chr. bezeugten sog. Circus Agonalis des Domitian handelte, ein innerstädtisches Stadion, in dem zeitweise auch Christenverfolgungen stattgefunden hatten: Der Überlieferung nach war dort die hl. Agnes zu Tode gemartert worden, woran etwa in der Mitte der westlichen Langseite des Platzes die ursprünglich mittelalterliche Kirche S. Agnese in Agone erinnert. An beiden Enden der Piazza errichtete Giacomo della Porta im Auftrag Papst Gregors XIII. ab 1574 je einen Brunnen, die im 17. und 19. Jh. mit den Statuen eines fischenden ‚Mohren‘ und des Meeresgottes Neptun verschönert wurden. Die Versorgung der Stadt mit Wasser gehörte zu den traditionellen Aufgaben des Papstes in der Nachfolge der Imperatoren, deren Titel Pontifex Maximus – oberster Brückenbauer – die Nachfolger Petri übernommen hatten und meist auf die Erneuerung der für das Überleben der Großstadt unverzichtbaren Aquädukte bezogen. Die große Stunde des Platzes schlug im Jahr 1644, als der aus Rom gebürtige Kardinal Gio-
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□ 103 Giovanni Paolo Pannini: Die Überflutung der Piazza Navona, 1756, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover
vanni Battista Pamphili zum Papst Innozenz X. gewählt wurde. Die Familie besaß seit 1470 an der Südwestecke der Piazza einen kleinen Palazzo und erwarb nun alle Grundstücke bis hin zur Kirche S. Agnese, so dass sich etwa ein Viertel der gesamten Platzrandbebauung in ihrer Hand befand (□ 103, links). Zwischen Kirche und Palast ließ Innozenz einen Galeriebau für päpstliche Empfänge einfügen und in die erweiterte Palastfassade integrieren (Leone 2008). 1652 beauftragte der Papst den Neubau der Agnes-Kirche, welche somit als unmittelbare Fortsetzung seines vergrößerten und mit einer neuen, vereinheitlichenden Fassade versehenen Familienpalastes erschien: sozusagen als ‚private Hauskapelle‘, indem der Eckrisalit des südlich anschließenden Palastes auf der Nordseite der Kirchenfassade noch einmal wiederholt wurde, als sollten die beiden Pamphili-Projekte unauflöslich miteinander verklammert werden (□ 104). Tatsächlich erfolgte die Weihe des Gotteshauses erst 1672 unter Clemens X. Altieri, dem zweiten Nachfolger des Stifters Innozenz X., der mit einem erst 1729 vollendeten, merkwürdig unrepräsentativen Grabmal über
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dem Portal (!) der Kirche geehrt wurde. Angeblich waren beim überraschenden Tod des Pamphili-Papstes im Januar 1655 weder die mit der Sicherung des nun akut bedrohten, zusammengerafften Erbes beschäftigten Verwandten noch sonst ein Mitglied des päpstlichen Hofes bereit, für die christliche Bestattung des Verstorbenen zu sorgen, bis sich ein barmherziger Mönch nach drei Tagen des verwesenden Leichnams annahm. Offensichtlich war der von ihm selbst initiierte Kirchenneubau der einzige Platz in Rom, an dem diesem ungeliebten und charakterlich schwierigen ‚Stellvertreter Christi‘ ein dauerhaft positives Andenken gegönnt war: Zu Recht bezeichnet man die Piazza Navona bis heute als ‚Pamphili-Insel‘. Nachdem ein vom ‚Hausarchitekten‘ der Familie, Girolamo Rainaldi, 1652 begonnenes Projekt zum Zankapfel zwischen dem Papst und seinem eigenwilligen Neffen Camillo Pamphili geworden war, gelang es Francesco Borromini schon im Folgejahr, den Auftrag an sich zu ziehen und vor allem den Außenbau neu zu gestalten (□ 104): Mit sicherem Gespür erkannte er, dass die fast schlauchartige Proportion
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□ 104 Rom, Piazza Navona: Kirche S. Agnese in Agone, F. Borromini u. a., 1652 – 71, Vierströmebrunnen, G. L. Bernini, 1648 – 51
des Platzes eine breit ausladende Fassadendisposition, zugleich aber auch einen markanten Quer- und Höhenakzent verlangte und dass die Schaufront vor allem in der Schrägansicht überzeugen musste. Er entschied sich für die in Rom nicht übliche Kombination von Kuppelund Doppelturmfassade, die spannungsvolle optische Überlagerungen ermöglichte, und modellierte die Abfolge der Travéen als ein rhythmisiertes Spiel sanft ein- und ausschwingender Elemente. Den Kirchenraum selbst, eine etwas unentschiedene Überblendung von Kreuz und Oktogon, konnte er nur noch partiell verändern. Doch auch Borrominis Glückssträhne ging zu Ende: 1657 wurde er wegen zu langsamen Baufortschritts von Camillo Pamphili entlassen, das Projekt wanderte wieder zurück an Rainaldis Sohn Carlo; schließlich durfte sogar sein ewiger Konkurrent Gianlorenzo Bernini letzte Hand anlegen, nachdem er sich schon den prestigeträchtigen Auftrag des Brunnens vor der Kirchenfassade mit nicht ganz lauteren Mitteln gesichert hatte (Raspe 1996, Eimer 1970).
Angesichts der Flüchtigkeit der wechselnden Pontifikate erschien es besonders geraten, der eigenen Familie eine – selbstverständlich fiktive – Kontinuitätslinie bis zu den mythisch-heidnischen Gründern der Stadt zuzuschreiben. Im Falle der Pamphili lag es nahe, die historische Wurzel der Platzform, nämlich ihre vermeintliche ursprüngliche Funktion als antiker Circus, wiederzubeleben (□ vgl. 27). Die Mitte jeder römischen Wagenrennbahn war durch eine Trennmauer besetzt, die man spina (Rückgrat) nennt und die durch Obelisken als metae (Wendemarken) geschmückt war – auch der heute den Petersplatz zentrierende vatikanische Obelisk hatte einst als Wendemarke eines Circus gedient |▶ 25|. Anknüpfend an diese Tradition entschied der Papst, die Mitte der Piazza Navona ebenfalls mit einem solchen Monument zu besetzen und hierdurch die spina optisch wieder im Stadtraum präsent zu machen. Als Wiederanknüpfung an eine antike Tradition ist auch der Brauch zu verstehen, an bestimmten Tagen die Abflüsse der Brunnen zu verstopfen, die Straßeneinmündungen abzusperren
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und den Platz temporär so zu fluten, dass die Mitglieder des römischen Adels mit ihren Kutschen in diesem künstlichen See spazieren fahren konnten: So wurde die Volksbelustigung der „Naumachie“ wiederbelebt, eine Sonderform der Circusspiele, bei der in der mit Wasser befüllten Arena Schau-Seeschlachten aufgeführt wurden (□ vgl. 103). Trotz dieser großzügigen Erneuerung entsprach die Piazza nur sehr bedingt den Idealen barocker Stadtbaukunst, denn die Umgestaltung konzentrierte sich auf lediglich ein Viertel der Platzfronten, ließ also Symmetrie, Geschlossenheit und axiale Ausrichtung vermissen. Um die Mitte der Anlage angemessen zu betonen, beauftragte Innozenz 1648 die Anlegung einer weiteren Wasserleitung und als deren sichtbares Zeichen die Errichtung eines dritten, größten Brunnens im Zentrum der Platzfläche – und somit leicht versetzt vor der Fassade von S. Agnese. Bernini, der aufgrund seiner engen Beziehungen zum vorigen Papst Urban VIII. aus dem Hause Barberini in Ungnade gefallen war, gelang es mit Hilfe eines Verwandten der Pamphili, ein von ihm ohne Auftrag gefertigtes Modell für den Brunnen in den Palast zu schmuggeln; dessen ‚zufälliger‘ Anblick begeisterte Innozenz so sehr, dass er sich förmlich gezwungen sah, dem Entwerfer den Auftrag zu erteilen (Avery 1998, S. 193–209). Borromini hatte zunächst ein ziemlich nüchternes, neutrales Postament für den Obelisken vorgesehen (Bösel/Frommel 2000, S. 391–409): Bernini verstand es dagegen, den Sockel zur eigentlichen Attraktion des Brunnens zu erheben. Er griff auf das antike Motiv liegender Flussgötter zurück, wie man sie z. B. auch am Senatorenpalast findet (▶ 20). Statt der von seinem Konkurrenten Algardi vorgesehenen Personifikation des Tibers griff der Künstler demonstrativ weiter aus und stellte die vermeintlich längsten Flüsse der vier damals bekannten Kontinente dar: Donau, Ganges, Nil und Río de la Plata. Während die monumentalen Sta-
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tuen nach seinem Entwurf von verschiedenen Mitarbeitern ausgeführt wurden, gestaltete der Meister die eigentlich nur dekorativ begleitenden, aber Charme und Lebendigkeit des Ganzen ungemein erhöhenden Tierfiguren selbst: Eine stets durstige Wasserschlange verkleidet den Abfluss des Troges, ein badendes Pferd und ein saufender Löwe scheinen aus dem vor Ort und bewusst grob bearbeiteten Travertin gerade erst hervorzuwachsen; sie brechen wirkungsvoll die steife Feierlichkeit eines Bildprogramms auf, das die Weltgeltung des Papsttums vielleicht allzu demonstrativ hervorkehrt. Statt aus Rohren schießt das Wasser scheinbar unkontrolliert aus Felsspalten hervor. Das Papstwappen droht herunterzurutschen, wird aber vom sich umwendenden Donau-Gott gerade noch an seinem Platz gehalten. Das Spiel mit scheinbarer Instabilität und Zufälligkeit findet seinen Höhepunkt im Zentrum des Sockelaufbaus unter dem Obelisk: Hier, wo man aus statischen Gründen unbedingt ein Postament hätte erwarten müssen, gähnt ein Hohlraum, als könnten der Papst und sein Künstler durch Invention sogar die Schwerkraft überlisten. Die Spitze des Obelisken zeigt unmissverständlich, wem diese Sensation eigentlich zu verdanken sei: Statt eines Kreuzes, mit dem die Kirche ihre Vereinnahmung der von heidnischen Schriftzeichen bedeckten, altägyptischen Obelisken meist zu zeigen pflegte, sieht man hier eine Taube mit Ölzweig und Lilien als Symbol des gerade erst geschlossenen Westfälischen Friedens und Familienwappen der Pamphili, die sich so ein weiteres Mal als Stifter zu erkennen geben und den traditionellen Anspruch Roms und des Papsttums als caput mundi (Haupt der Welt) in unübersehbarer Form manifestieren (Preimesberger 1974). Das absturzgefährdete Papstwappen und die demonstrative, aber beherrschte Instabilität könnten auch als Anspielung auf die aktuelle politische Situation verstanden werden, denn die Kirche hatte gerade erst leidvoll hinnehmen müssen, dass die neue europäische Friedens-
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ordnung auch ohne ihre Mitwirkung, ja gegen ihren Protest ausgehandelt werden konnte. Umso dringlicher erschien es, wenigstens auf dem Feld der Kunst den traditionellen Vorrang zu wahren. Bernini sollte wenige Jahre später in Paris schmerzlich erfahren, dass auch dieser Anspruch nicht mehr dauerhaft zu verteidigen war. In vielen Fällen wissen wir nichts Konkretes über die Reaktion der Bevölkerung auf die kostspieligen Bau- und Repräsentationsprojekte der Regierenden. Die Piazza Navona stellt hier eine seltene Ausnahme dar, denn in einer Hausecke an ihrem südlichen Ende befindet sich ein antiker Torso mit dem Spitznamen Pasquino, dem das Volk von Rom durch angehängte Zettel gerne gedichtete, unbequeme Wahrheiten ‚in
den Mund legte‘: ein Brauch, der sogar eine eigene literarische Gattungsbezeichnung für verunglimpfende Spottverse, das sog. Pasquill, hervorbrachte. Als während der baufreudigen Regierungszeit Innozenz’ X. eine Hungersnot ausbrach, kommentiert der Pasquino grimmig: Non vogliamo guglie e fontane; pane volemo, pane, pane! (‚Wir wollen keine Obelisken und Brunnen, Brot wollen wir, Brot, Brot!‘) Der Papst hatte hierzu wie zu erwarten eine andere Meinung. Er erlebte Berninis Ideen als so unwiderstehlich, dass es nur eine Möglichkeit gebe, ihre geradezu zwanghafte Realisierung zu vermeiden: Man dürfe seine Entwürfe gar nicht erst ansehen (Karsten 2006, S. 138, 141).
Scalinata di Spagna in Rom Die Treppe als Platz
W
ill man für die Renaissance eine typische städtebauliche Figur benennen, so wäre es das rotationssymmetrische egalitäre Raster, das ‚Idealplanungen‘ wie Freudenstadt |▶ 13| zugrunde gelegt wurde. Für das Barockzeitalter würde wohl der Dreistrahl oder ‚Gänsefuß‘ genannt werden, eine geometrische Figur, bei der an einem Punkt eine zentrale Achse so mit zwei schräg auseinanderführenden Straßen zusammentrifft, dass keine Kreuzung, sondern eine spitzwinklige, dreifache Gabelung entsteht |▶ 36|. Das berühmteste Vorbild dieser einladend-dynamischen, zum Weiterschreiten auffordernden und tiefe Blickachsen eröffnenden Wegeführung findet sich am nordwestlichen Stadtrand von Rom hinter der Porta del Popolo, also jenem Punkt, an dem die Besucher von Norden kommend die ‚Ewige Stadt‘ betraten (□ vgl. 102). Die drei
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Straßen, deren Gabelung seit ca. 1660 durch überkuppelte Zwillingskirchen des Bernini-Schülers Carlo Fontana markiert wird, dienten vor allem dazu, den Pilgern ein schnelles und direktes Erreichen jener weit verstreuten Hauptbasiliken zu ermöglichen, die man möglichst alle an einem Tag besuchen wollte, um den erwünschten Ablass der im Fegefeuer zu erwartenden Sündenstrafen zu erlangen (Birindelli 1987, S. 168 f.). Als Wegmarken dienten hierbei die in der Antike aus Ägypten nach Rom überführten Obelisken, die seit dem späten 16. Jh. an den wichtigsten Kreuzungspunkten wieder aufgerichtet wurden und ein innerstädtisches Koordinatensystem bildeten. Die mittlere der drei Straßen, der Corso, führt direkt ins Stadtzentrum und zum Kapitol |▶ 20|, die westliche zum Tiberhafen Ripetta und damit zum Vatikan |▶ 21|, die östliche
Scalinata di Spagna in Rom
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zur Marienkirche S. Maria Maggiore auf dem Esquilin, die so bedeutende Reliquien wie die Krippe Christi und ein angeblich vom Evangelisten Lukas gemaltes Marienbild bewahrt. Um dorthin zu gelangen, galt es allerdings eine beträchtliche Höhendifferenz zwischen dem Platz vor der Spanischen Botschaft, der Piazza di Spagna, und der oberhalb auf dem Pincio-Hügel gelegenen, von französischen Paulinermönchen bis 1585 neu erbauten Kirche SS. Trinità dei Monti (Strunck 2007, S. 192–197) zu überwinden. Hatte man diesen steilen Anstieg erst bewältigt, führte die parallel verlaufende, schnurgerade Via Sistina, um 1590 angelegt unter und benannt nach Papst Sixtus V., direkt zur Marien-Basilika (Krautheimer 1985, S. 114–125). Es leuchtet ein, dass dieses topographisch hervorgehobene Nadelöhr, weit sichtbar oberhalb der Kernstadt und zentral zwischen den Papstpalästen Vatikan, Quirinal und Lateran gelegen, eine hervorragende Gelegenheit zur baulichen Selbstdarstellung der in der ‚Ewigen Stadt‘ um unübersehbare Präsenz buhlenden europäischen Mächte bot. Die spanische Monarchie hatte sich um 1500 mit S. Pietro in Montorio einen wichtigen Gedenkort gesichert (▶ 6) – nun lag es nahe, dass sich die französischen Könige zu Füßen eines von ihnen geförderten Klosters ebenfalls mit einem bedeutenden Bauvorhaben verewigen wollten. Die französischen Botschafter hatten die Bergkante unterhalb der Kirche schon mehrfach für die Zurschaustellung temporärer, kulissenartiger Installationen, sog. Festapparate, benutzt, z. B. 1662, um die Geburt des Dauphins, des erstgeborenen Sohnes Ludwigs XIV. zu feiern (□ vgl. 107). Den Entwurf lieferte kein Geringerer als der Petersbaumeister Gianlorenzo Bernini (Erben 2004, S. 254–280). 1661 hatte der französische Diplomat Étienne Gueffier einen namhaften Geldbetrag hinterlassen, um die bisher lediglich aus einer schräg den Hang durchquerenden Allee bestehenden Wegeverbindung dauerhaft auszubauen, wobei
III. Schlüsselwerke
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zunächst offenblieb, ob der Aufstieg auch für Kutschen oder nur für Fußgänger ermöglicht werden sollte. Wie bei den Pariser Königsplätzen |▶ 38| war geplant, im Zentrum der Anlage eine Reiterstatue des Sonnenkönigs aufzustellen – eine exterritoriale Denkmalsetzung, die zu Recht als informelle Inbesitznahme und diplomatischer Affront aufgefasst worden wäre und daher von den Päpsten unterbunden wurde (Lotz 1969, bes. S. 53, 60–66). 1717 wurde das Projekt auf Initiative Clemens’ XI. Albani wieder aufgenommen, wobei sich in einem der inzwischen üblich gewordenen Wettbewerbe Francesco de Sanctis durchsetzte, der – Zufall oder nicht – Hausarchitekt des Paulinerklosters war. Ein ernstzunehmender Konkurrent war Alessandro Specchi, Mitarbeiter der römischen Straßenbaudirektion und seit 1721 auch Petersarchitekt, der 1703–11 den bereits erwähnten Tiberhafen Ripetta als großartig geschwungene Treppenanlage errichtet hatte. Unter dem nachfolgenden Papst Innozenz XIII. wurden schließlich ab 1723 Elemente beider Entwürfe der Ausführung zugrunde gelegt – ein für das frühe 18. Jh. durchaus geläufiges ‚Amalgamierungsverfahren‘, das sich ähnlich auch beim gleichzeitigen Bau der Würzburger Residenz oder dem Marinehospital in Greenwich |▶ 42, 44| beobachten lässt und die zeitgemäße Vorstellung widerspiegelte, dass nicht die Originalität eines einzelnen Künstlers, sondern vielmehr eine eklektische, aus verschiedenen Modellen das jeweils Beste auswählende Gestaltungsweise zu den überzeugendsten Ergebnissen führen müsse – ein Modell, das dem Bauherrn erhebliche Bedeutung als Koordinator und Letztentscheider zubilligte (Lehmann/Petri 2012). Die besondere Leistung dieser ‚Stadtreparatur‘ lag darin, dass sie die zahlreichen, einem typischen barocken Reißbrettplan eher hinderlichen Rahmenbedingungen der städtebaulichen Situation so perfekt überspielte, dass das Ensemble schließlich als Ergebnis einer konsis-
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tenten Planung erschien, obwohl Jahrhunderte zwischen den hierdurch erstmals baulich aufeinander bezogenen Elementen liegen, und die Achsbeziehungen zwischen den rahmenden Bauten und Straßen keineswegs jene Präzision aufwiesen, die dem Ideal der Epoche entsprach (□ 105). Das geschickte Überspielen von vorgefundenen Unregelmäßigkeiten verbindet das Konzept der Spanischen Treppe mit der Piazza Navona |▶ 26|. Die in der Planungskultur des Spätbarock besonders hoch entwickelte Fähigkeit, regelwidrige topographische und städtebauliche Vorgaben als anspruchsvolle gestalterische Herausforderung virtuos zu bewältigen, findet ihren Ausdruck auch bei der Disposition Pariser hôtels oder einer Klosteranlage wie Melk |▶ 37, 39|. Während die Architektursprache des Manierismus entweder demonstrative Asymmetrie | ▶ 5, 10| oder kompromisslose Perfektion |▶ 9, 19| präsentierte, fungiert die scheinbare Spiegelgleichheit bei kaum merklicher Verschiebung der Achsen hier als unterschwelliges Spannungsmoment. Die ornamentale Gesamtform des Grundrisses mit ihren geometrisch nicht klar bestimmbaren, gegenläufig geschwungenen Konturen zeigt eine gewisse Verwandtschaft mit jener zeittypischen, modischen Ornamentform der Rocaille, die dem gleichzeitig beginnenden Rokoko seinen Namen verleihen sollte (□ vgl. 8). Die Treppe vermittelt optisch zwischen dem schon 1627 errichteten, bootsförmigen sog. Barcaccia-Brunnen des jungen Bernini auf der Piazza di Spagna und dem erst 1786 am oberen Ende aufgestellten Obelisken (□ 106). Der untere Treppenlauf ist durch benachbarte Gebäude in seiner Breite beschränkt, während der obere Absatz nicht schmaler als die verdoppelte Treppenrampe der dahinter als point-de-vue aufragenden Trinità-Kirche ausfallen sollte, als deren gewaltiger Sockel die gesamte Anlage nun erscheint. Nicht mehr geometrische Strenge und antikennahe Regelhaftigkeit, sondern varietà und invenzione, Abwechslungs- und Ein-
fallsreichtum galten den Entwerfern offensichtlich als zentrale Prinzipen qualitätvoller Gestaltung: Die gravitätisch-monumentale Wirkung, welche ein gerade durchgeführter Treppenlauf in einheitlicher Breite nach Art der Cordonnata an Michelangelos Kapitolsplatz |▶ 20| hätte erzielen können, wurde ebenso vermieden wie die ermüdende Wiederholung immer gleicher, gegengerichteter gerader Rampen quer zum Hang. Stattdessen entschied sich de Sanctis für ein zweimaliges Auseinander- und wieder Zusammenführen der Treppenläufe in insgesamt vier Kompartimenten. Das untere Viertel besteht aus einer einläufigen, sich nach oben verjüngenden Zone, die von eingeschobenen Postamenten in drei Bahnen gegliedert wird. Dann teilt sich die Bewegung in zwei schmale auseinanderlaufende Rampen, die einen konvex-konkav begrenzten, von einer Schildmauer hinterfangenen breitgelagerten Podest einschließen. Hier erreicht die Anlage ihre weiteste Ausdehnung, tritt dann aber wieder zu einem sich verschmälernden, zentralen Lauf zusammen, um sich zuletzt erneut halbmondförmig in zwei Rampen aufzuteilen und rechts und links der Kirchenfassade zu münden. Hierdurch entstehen zwei platzartig geweitete Zwischenzonen, die an Bühnenpodeste erinnern und dem Straßenraum den Charakter eines in die Tiefe gestaffelten Theaterprospektes verleihen. Die Anlage erinnert aber auch an die Terrassengärten von Villen wie im nahen Tivoli oder die wohl berühmteste antike, ehemals von einem Tempel bekrönte monumentale Treppenanlage in Palestrina südlich von Rom (Merz 2001, bes. S. 94 u. 141). Die Assoziation einer versteinerten Wasserkaskade stellt sich sicher nicht nur zufällig ein. Vergleicht man die Spanische Treppe mit anderen städtebaulichen Konzepten in diesem Buch, z. B. Michelangelos Kapitol oder Berninis Peterskolonnaden |▶ 25|, so zeigen sich unerwartete Parallelen, aber auch Unterschiede: Man empfindet den hierdurch gebildeten Stadtraum eher als architektonisch gefasste
Scalinata di Spagna in Rom
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220 □ 106 Rom, Spanische Treppe, Ansicht von der Piazza di Spagna, F. de Sanctis u. A. Specchi, 1723 – 26
□ 105 Rom, Spanische Treppe, Schematischer Grundriss, F. de Sanctis u. A. Specchi, 1723 – 26
Platzfläche, denn als praktisch begründete, verkehrstechnisch notwendige Verbindung zweier Straßenachsen. Diese Disposition erzeugt eine spezifische Aufenthaltsqualität, schafft eher Ruhe- als Bewegungsräume. Die vielfache, abwechslungsreiche Brechung und etwas unentschiedene Variation konvexer und konkaver Begrenzungen vermeidet jede ehrfurchtgebietende Monumentalität, die den beiden anderen Platzräumen durchaus zu eigen ist. Es handelt sich jedoch nicht um einen allseitig geschlossenen Binnenraum wie bei der Piazza Navona |▶ 26|, der Piazza S. Marco |▶ 16| oder der
III. Schlüsselwerke
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Place Vendôme |▶ 38|, sondern vielmehr um einen axial gerichteten Aussichtsbalkon, der wie der Crescent in Bath |▶ 47| zwei völlig gegensätzliche, aber gleichwertige Blickrichtungen bietet: entweder hinauf zur rahmenden Architektur oder hinunter in die Stadtlandschaft. Quer- und Schrägblicke spielen dagegen keine Rolle, wie die völlig unauffälligen, aber keineswegs störenden, seitlich die Treppen flankierenden Hinterhäuser belegen. Das Gebilde der Spanischen Treppe erscheint, ähnlich wie Michelangelos Laurenziana-Ricetto ( □ vgl. 10), eher als plastische denn als architektonische Konzeption: Konventionelle Würdezeichen und Bedeutungsträger, z. B. Skulpturen, Wappen, Brunnen oder Elemente klassischer Ordnungsarchitektur, welche die ab 1732 errichtete, berühmte Fontana di Trevi Nicola Salvis so überreich prägen (Strunck 2007,
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S. 440 ff.), sind in der realisierten Fassung weitestgehend vermieden. Es handelt sich um eine in ihrer rhetorischen Intention demonstrativ neutralisierte Zwischenzone, die gerade durch den Verzicht auf ein explizites Zentrum, auf das barocke Platzanlagen sonst mehrheitlich
ausgerichtet sind, ihren zentrierenden Charakter gewinnt. Vielleicht erklärt gerade diese unprätentiöse Neutralität und Offenheit die unübertroffene Beliebtheit der Scalinata di Spagna bei den Rom-Touristen aller Zeiten und Länder.
Ephemere und illusionistische Architektur: Für Zeit und Ewigkeit
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ür die überwiegende Mehrheit gläubiger Menschen der Frühen Neuzeit war die Ewigkeit statt der knapp bemessenen Lebensspanne auf Erden der eigentlich relevante Zeitmaßstab: sei es im Hinblick auf die Auferstehung nach einem hoffentlich gnädigen Gericht oder den eventuellen Nachruhm auf Erden. Hierfür war einmal mehr die Antike der Maßstab, denn man wusste aus der literarischen Überlieferung, dass deren Herrscher und Heroen bei triumphalen Einzügen in die Städte, nach militärischen Siegen oder auch zum Gedenken ihres Todes mit aufwendigen temporären Aufbauten, sog. ephemeren (flüchtigen, vergänglichen) Architekturinszenierungen geehrt worden waren. Diese Installationen im öffentlichen Raum, auf Straßen, an Hausfassaden oder in Kirchen dienten nicht nur als Kulisse während der meist nur wenige Stunden oder Tage dauernden Feierlichkeit selbst, sondern wurden danach durch Gemälde und Zeichnungen Themenverewigt und mittels Druckgrafiken ( block · Zeichnung, Druckgrafik und Modell, S. 211 f.) verbreitet. Der elaborierte rhetorische Apparat der Säulenordnungen, Embleme, ikonographischen Anspielungen, Tugendpersonifikationen, Wappen, Inschriften und Historienbilder dieser Aufbauten ergänzte das flüchtige sinnliche Erlebnis der Festteilnehmer zu einer zumindest als Abbildung dauerhaften, weltweit verfügbaren, multimedialen Propagandabotschaft. Das ephemere Medium stellte eine Schnittstelle zwischen Architektur, BühnenThemenblock · Theater, S. 174 ff.) und Bildkünsten (
dar, da man aus Kosten- und Zeitgründen oft auf bemalte Leinwandkulissen und mit Textilien oder Stuckplastiken reich dekorierte Holzgerüste zurückgreifen musste (Philipp 2011, S. 26 –74). Wichtige Ereignisse im Leben der Fürsten, zu denen neben Krönung, Hochzeit, der Geburt eines Thronfolgers auch der Tod einer Standesperson gerechnet wurden, dienten als Anlass, in vielen Städten des In- und Auslandes parallel Gedenk- und Jubelfeiern auszurichten, deren Pracht und Aufwand zugleich als diplomatisches Zeichen der Wertschätzung und des Ranges der Gefeierten verstanden wurden. So kam es in Rom zwischen den Großmächten Frankreich, Spanien und dem Reich zu regelrechten Wettbewerben, wer die aufwendigsten Festapparate in der Stadt der Päpste errichten ließ (Fagiolo 1997): Bernini gestaltete z. B. 1662 im Auftrag der französischen Krone anlässlich der Geburt des dauphin genannten Thronfolgers den Abhang, an dem später die sog. Spanische Treppe |▶ 27| entstand, für einige Tage in eine Art Vulkan mit überlebensgroßen allegorischen Figuren, Wolkenmassen und Kandelabern unter einer schwebenden Königskrone um (□ 107). Feuerwerke und Festbeleuchtungen (sog. Illuminationen) hoben das Gebaute auch bei Nacht hervor und lockten Schaulustige an, deren Anzahl als Ausweis des Propagandaerfolges galt. Zum Andenken verstorbener Fürsten wurden in den Kirchen sog. castra doloris, prunkvolle Schein-Katafal-
Ephemere und illusionistische Architektur
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tie, sog. quarant’ore-Feiern, errichtet wurden. Pozzo bezeichnete diese Installationen als theatrum sacrum, ein Begriff, in dem die spätere Forschung ein beherrschendes Grundprinzip barocker Kirchenraumkunst erkannte |▶ 22|. Infolge nicht vorhandener Ansprüche an Dauerhaftigkeit und konstruktiv-funktionaler Praktikabilität diente die ephemere Architektur oft als Experimentierfeld für Ideen, die später in formal reduzierter, aber materiell kostbarer Form ‚verewigt‘ werden konnten – das zeigt sich besonders deutlich an Berninis Schöpfungen |▶ 25, 26| und dem sakralen Rokoko |▶ 40|.
ke errichtet, in deren Mitte ein leerer Schau-Sarkophag oder ein Wachsbildnis stand, welche die meist längst an anderer Stelle Beerdigten repräsentierten und durch die Darstellung ihrer Taten und Tugenden in Wort und Bild ehrten (Popelka 1994).
Im ästhetischen Konzept und künstlerischen Anspruch bestand kein grundsätzlicher Unterschied zwischen ephemerer und dauerhafter Architektur. Manchmal wurden Altäre, Gebäudeteile, Fassaden oder ganze Themenblock · Tore, Brunnen, Denkmalbauten ( Denkmäler, S. 269 f.) zunächst als temporäre Kulissen errichtet, um später durch ihre steinerne, dauerhafte Ausführung ersetzt zu werden, falls die Mittel dafür zur Verfügung standen. So besitzt die römische Jesuitenkirche S. Ignazio bis heute keine gebaute, sondern nur eine von Andrea Pozzo auf Leinwand gemalte, an der flachen Holzdecke montierte sog. Scheinkuppel. Das Fresko des Langhauses zeigt ein scheinbar den Raum erweiterndes, gegen den Himmel geöffnetes Arkadengeschoss, das von schwebenden Heiligen und Engeln auf Wolken bevölkert wird.
Aufgrund der hohen Relevanz dieser Aufgabe wurden auch berühmte Maler wie Peter Paul Rubens mit dem Entwurf ganzer ‚Einzüge‘ samt der zugehörigen sog. Festapparate betraut (Martin 1972). Der Jesuitenfrater Andrea Pozzo (Battisti 1996), welcher 1693 in Rom ein in viele Sprachen übersetztes Lehrbuch zur Perspektivdarstellung („Perspectiva pictorum atque architectorum“) publizierte, war vor allem für seine raumfüllenden temporären Aufbauten in Kirchen berühmt, die dort anlässlich bestimmter Riten, z. B. einer vierzigstündigen Anbetung der geweihten Hos-
Täuschend echt gemalte statt gebauter Architektur, sog. Quadratura (Bleyl 2011), spielte seit der Renaissance (z. B. Palladios Villa Barbaro mit den Gemälden Paolo Veroneses oder die Galleria Farnese der Brüder Carracci, □ vgl. 34) eine bedeutende Rolle im Palastbau. Um 1700 eroberte diese Kunst auch die Kirchengewölbe, die nun als Träger für großformatige Fresken genutzt wurden, die neben Himmelsausblicken oft auch perfekt perspektivisch konstruierte Bauwerke und Innenräume als Bühne der dargestellten sakralen Szenen zeigten (| ▶ 22, 39, 42|).
□ 107 Festapparat zu Ehren der Geburt des französi schen Thronfolgers in Rom bei SS. Trinità dei Monti, G. L. Bernini und J. P. Schor, 1662
III. Schlüsselwerke
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Kathedrale und Palast von Granada Renaissance und Reconquista
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eweine nicht wie ein Weib, was du nicht verteidigen konntest wie ein Mann!‘, soll die verbitterte Mutter des letzten muslimischen Emirs von Granada ihrem Sohn Mohammed XII. (dessen Name von den Spaniern zu ‚Boabdil‘ verballhornt wurde) vorgeworfen haben, als dieser einer Legende nach beim letzten Blick zurück auf seine verlorene Residenz in Tränen ausbrach. 1492 wurde nach über 700-jähriger Herrschaft das letzte islamische Territorium auf spanischem Boden von den vereinigten Königreichen Kastiliens und Aragóns annektiert. Diese sog. Wiedereroberung – reconquista – führte zu einer bedeutenden Verschiebung des europäischen Kräftegleichgewichts: Das nunmehr durch die Hochzeit von Isabella und Ferdinand, den sog. ‚Katholischen Königen‘, politisch vereinigte Spanien erlangte die Vorherrschaft im Atlantik und dem westlichen Mittelmeer. Von dieser gesicherten Basis aus konnten in den folgenden Jahrhunderten ungehindert die im selben Jahr durch Kolumbus entdeckten und wenige Jahre später eroberten amerikanischen Kolonien ausgebeutet werden (Bénassar/Vincent 1999). Der Osten des Mittelmeers geriet dagegen infolge der Eroberung von Byzanz durch die Türken 1453 unter muslimische Vorherrschaft (▶ 15). Es lag nahe, dass sich das Königspaar sozusagen auf neutralem Grund in seiner wichtigsten und letzten Eroberung zur ewigen Ruhe betten lassen wollte. Doch anders als die Osmanen war ihnen nicht an der Übernahme und Umnutzung der Gotteshäuser der bisherigen Herrscher gelegen, sie gedachten vielmehr neue, kontrastierende und eigenständige Zeichen zu setzen. 1504–21 wurde neben der vormaligen mezquita (Hauptmoschee) Gra-
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nadas durch Enrique Egas die Capilla Real als dreijochige kreuzförmige Wandpfeiler-Saalkirche errichtet. Dieselben Stifter, die in Rom von Bramante den Tempietto bei S. Pietro in Montorio (▶ 6) in gerade wiederentdeckten antiken Formen erbauen ließen, entschieden sich bei ihrer Grabkapelle für die nationale Tradition der spanischen Spätgotik: ein weiterer Beleg dafür, dass die Formenwahl um 1500 nicht einseitig nach ästhetischen ‚Fortschrittskriterien‘, sondern als Resultat einer Option für ein bestimmtes Zeichensystem, hier das der demonstrativen stilistischen Kontinuität, erfolgte (▶ 7). Lázaro de Velasco, der um 1560 in Granada die erste spanische Vitruvübersetzung anfertigte, unterschied noch zwischen dem ‚römischen‘ (antiken) und ‚modernen‘ (also gotischen [!]) Stil (Rosenthal 1961, S. 15). Der über der Stadt gelegene ehem. Palast der Emire, genannt Alhambra, erhielt erst unter Karl I. (nach spanischer Zählung), dem Enkel und Nachfolger der Eroberer, eine neue Gestalt. Der in den Niederlanden geborene und seit 1516 regierende König wurde 1519 als Nachfolger seines anderen Großvaters Maximilian auch zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gewählt, dort als Karl V. Er vereinigte somit in seiner Person mehrere europäische Kronen und residierte nur zeitweise in Spanien; Granada sollte vielleicht zum Hauptsitz des Königtums erhoben werden. 1527 befahl der Kaiser den Ausbau der Alhambra: Die mittelalterlichen Hofanlagen aus der Zeit der ‚Mauren‘ sollten renoviert und durch einen zeitgemäßen, dem kaiserlichen Anspruch des Bauherrn gemäßen Anbau ergänzt werden. Hierfür wurde ein kleinerer Teil des nasridischen Palastes in direkter Nachbarschaft des berühmten Löwen-
Kathedrale und Palast von Granada
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hofes abgerissen bzw. umgebaut, in dem das Königspaar kurz nach seiner Hochzeit einige Wochen gewohnt hatte. Der überwiegende Teil der mittelalterlichen Anlage wurde aber weiterhin sorgfältig erhalten und gepflegt, denn er sollte wohl als Denkmal der Überwindung des Islam durch die Christen gleichsam als Kontrastfolie bestehen bleiben. Ob der Entwurf des erst ab 1537 realisierten Palastes wirklich dem aus Toledo stammenden, in Rom geschulten Maler Pedro Machuca zuzuschreiben ist, der mehrfach in den Quellen genannt wird und dessen Sohn später nachweislich die Bauleitung innehatte, erscheint fraglich – es wäre sein erstes und einziges Bauwerk. Ein konkreter, plausibler Gegenvorschlag liegt freilich bis heute nicht vor: Giulio Romano oder Antonio da Sangallo d. J., die aus stilistischen Gründen in Frage kämen (Stiglmayr 2000), waren nicht vor Ort, könnten also allenfalls Ideen geliefert haben, aber nicht für die qualitätvollen Details der Bauausführung unter den Machuca verantwortlich zeichnen. Wie viele andere Projekte jenes Herrschers, der sich, um sein Weltreich zu regieren, unablässig auf Reisen befand, blieb auch dieses ein Torso. 1550 starb Pedro Machuca, sechs Jahre später dankte der Bauherr zugunsten seines Sohnes Philipp ab, der seine eigene Residenz in die Mitte Spaniens verlegte und hierfür den Klosterpalast El Escorial |▶ 9| errichten ließ. Bis ins 20. Jh. waren die Außenmauern nicht überdacht (Rosenthal 1985, Taf. 1), da die Bauarbeiten 1637 endgültig eingestellt worden waren. Der Palast für Karl V. konnte seine intendierte Funktion somit niemals erfüllen; dies erklärt vielleicht, warum sein innovatives Potential und seine außergewöhnlichen gestalterischen Qualitäten in den folgenden Jahrhunderten relativ wenig beachtet wurden. Auf der Alhambra entstand einer der ersten genuin ‚italienischen‘ Paläste außerhalb der Halbinsel, aber nur bedingt ‚im Ausland‘: Halb Italien, von Mailand über Sardinien bis Sizilien, wurde damals von Spanien regiert; der Bauherr war
III. Schlüsselwerke
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der letzte persönlich vom Papst gekrönte Kaiser und gedachte seinen ‚römischen‘ Anspruch auch hier zu demonstrieren. Das Ergebnis dieses Transfers steht in Qualität und Originalität weit über jenen braven ‚wörtlichen‘ Kopien italienischer Vorbilder, wie sie Karls Bruder Ferdinand gleichzeitig in Prag realisierte |▶ 7|, und ist mit der späteren Initiationsleistung von Inigo Jones für den englischen Palladianismus |▶ 44| zu vergleichen. In interessanter Analogie zu Palladios späterer Villa Rotonda |▶ 18| experimentierte der Architekt mit der Überlagerung von Quadrat und Kreis, indem er den erhöht liegenden Innenhof als runde, doppelgeschossige Kolonnade gestaltete. Unmittelbares Vorbild war wohl die Villa Madama, welche Raffael in Rom ab 1517 für Papst Leo X. Medici errichtete (Frommel 2009, S. 144 ff.) und die selbst wiederum die Rekonstruktion einer antiken Villa, wie sie Plinius beschrieben hatte, darstellen sollte. Die Außenfassaden (□ 108) entwickeln mehrere Themen, die für den Palastbau der späteren Jahrhunderte geradezu kanonisch werden. Jede Schaufront ist durch ein kräftiges Gebälk in zwei gleich hohe, von Kolossalpilastern auf Postamenten gegliederte Stockwerke geteilt, die jeweils ein Haupt- und ein Mezzaningeschoss zusammenbinden. Die drei mittleren Achsen der Westfassade sind deutlich verbreitert und als Mittelrisalit hervorgehoben: Diese Ansicht ist hierdurch als Hauptfront ausgewiesen und sollte die Räume des Kaisers aufnehmen. In der etwas bescheidener gestalteten Südfassade ist nur die zentrale Achse, und zwar durch das Motiv der Serliana, betont: Hier hätte die Kaiserin Isabella von Portugal residiert. Die Nordostecke des Palastes, welche an den maurischen Löwenhof der Alhambra stößt, bricht aus dem Quadratschema aus, denn hier war eine doppelgeschossige achteckige Palastkapelle geplant – vermutlich als Verweis auf das Aachener Vorbild des kaiserlichen Amtsvorgängers und Namensvetters Karls des Großen.
225 □ 108 Granada, Alhambra, Palast Karls V., Südfas sade, P. Machuca (?), beg. 1537
Im Unterschied zu den meisten italienischen Palästen der Zeit |▶ 4, 5, 16, 19, 20| werden in Granada somit die internen Hierarchien und Funktionsdifferenzierungen der Gebäudeteile äußerlich ablesbar gemacht: Die Fenster der Halbgeschosse sind als runde Oculi eindeutig den darunterliegenden Rechteckfenstern beigeordnet. Das Erdgeschoss ist durch eine derbe, auch die Pilasterschäfte übergreifende Rustika und die toskanische Ordnung als Sockel ausgewiesen. Das Obergeschoss besitzt dreifach variierende, teilweise unkanonische Fensterverdachungen und ionische Stützen. Der Mittelrisalit der Westseite zeigt auch im Erdgeschoss glatte Wände und die hierarchisch höherrangige dorische Ordnung; die Stützen sind hier gekuppelte Halbsäulen. Vielschichtigkeit, Plastizität, Verschränkung und Differenzierung der einzelnen Elemente sind in ihrer Komplexität mit dem Louvreflügel Lescots |▶ 35| oder dem Palazzo del Te in Mantua zu vergleichen |▶ 5| – der bis dahin in Spanien vorherrschende, sog. Platereske Stil (Hänsel/ Karge 1992, S. 20 f.), eine Mischung aus arabischen, gotischen und Renaissanceformen,
ist hier durch eine dogmatisch vitruvianische, aber durchaus eigenständige und souveräne Formensprache ersetzt. Vergleicht man den Reichtum dieser Fassaden mit der ostentativen Kargheit und Strenge des späteren Escorial |▶ 9|, so versteht man, warum dessen glatte Mauerflächen als bewusste Reduktion, als ‚entschmückt‘ (desornamentado) gedeutet wurden. Wie bedeutend Granada für Karl V. war, beweist auch seine Einflussnahme auf den Neubau der Kathedrale, welche ab 1523, wiederum nach Plänen von Enrique Egas, an der Stelle der vormaligen, zum Abriss freigegebenen Hauptmoschee direkt neben der Capilla Real errichtet werden sollte. Anscheinend wollte der Kaiser hier zur demonstrativen Herstellung der Kontinuität mit den ausgestorbenen Häusern Aragón und Kastilien eine Grablege für sich selbst und damit die in Spanien noch junge habsburgische Dynastie errichten lassen – eine Funktion, die von seinem Sohn Philipp schließlich auf den Escorial übertragen wurde. 1528 übernahm Diego de Siloé die Bauleitung, 1561 war zumindest der Chor benutzbar, erst 1704 erfolgte die Fertigstellung der Westteile (Rosenthal 1961).
Kathedrale und Palast von Granada
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□ 109 Granada, Kathedrale, Inneres von Westen, E. Egas u. D. de Siloé, beg. 1523
Egas’ Entwurf lehnte sich anscheinend eng an die bisher von ihm betreute, 1226–1493 erbaute gotische Kathedrale von Toledo an, eine fünfschiffige Basilika mit nicht hervortretendem Querschiff und Umgangschor. Die äußeren Abmessungen dieses kaum über die Fundamente hinausgelangten ersten Projektes wurden beibehalten, die aufgehende Architektur sollte aber nach Wunsch des 1526 neu gewählten Erzbischofs Pedro Ramírez de Alba im ‚römischen Stil‘ weitergeführt werden. Damit stellte sich ein ähnliches Problem wie bei St-Eustache in Paris |▶ 11|: Wie konnte man einen gotischen Kathedralplan ‚vitruvianisch‘ umsetzen, ohne dass ein unerfreulicher Kompromiss dabei herauskommen musste? Siloé bewies, dass dies möglich war, indem er keine wörtliche Übersetzung, sondern eine freie Interpretation des Grundschemas lieferte. Er besetzte den inneren der beiden um das Chorhaupt gelegten Umgänge durch keilförmige Zungenmauern mit Pfeilerstirnen zum Binnenchor. Gegen die westlich anschließenden inneren Seitenschiffe wurden diese Wandpfeiler mit Altären besetzt und betonten zugleich das an dieser Stelle anschließende Querhaus ( □ 109). Der Binnen-
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chor verwandelte sich hierdurch in eine Rotunde mit acht Pfeilern und Umgang, von einem zehneckigen Rippengewölbe überdeckt und an zwei Seiten zum Mittelschiff geöffnet. Jenseits des Querschiffs schließt sich das erst im 17. Jh. vollendete fünfschiffige Langhaus an, welches im Westen ein weiteres, nur drei Joche übergreifendes Querhaus aufweist, das vielleicht durch eine Laterne hätte bekrönt werden sollen. Diese zunächst fremdartig wirkende Kombination aus Zentralbau mit Umgang und Basilika evoziert ein berühmtes Vorbild: die Grabeskirche Christi in Jerusalem, in Europa durch graphische Reproduktionen hinreichend bekannt. Diese Bezugnahme erschien mehrfach gerechtfertigt: Zum einen erinnerte man an die noch immer nicht ganz aufgegebene Idee, auch das Heilige Land dereinst aus muslimischer Oberherrschaft ‚befreien‘ zu können, wie dies in Granada ja gerade gelungen war; zum anderen war kaum eine würdigere Bauform für das hier geplante habsburgische Mausoleum denkbar – auch die Fürstenkapelle von S. Lorenzo in Florenz |▶ 2| könnte von diesem Projekt inspiriert worden sein. Der Zentralbau des Chores, in dessen Mitte wie bei St. Peter |▶ 25| der Hochaltar frei aufgestellt
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wurde, ist durch die Superposition zweier korinthischer Kolossalordnungen eindrucksvoll hervorgehoben. Im anschließenden Langhaus stellte sich das Problem, wie man die gotisch gestreckten Schiffshöhen mit antikisch proportionierten Säulen fassen sollte: Siloé entwickelte eine Art vitruvianischen Bündelpfeiler auf Kreuzgrundriss, der auf mächtigen, gerundeten Postamenten sitzend die Schlankheit der korinthischen Ordnung, statische Plausibilität und antikischen Formenkanon miteinander verband. Die erst im 17. Jh. geschlossenen Gewölbe verstärkten noch einmal den gotischen Charakter, indem sie als Rippensterne ausgeführt wurden. Vergleicht man die architektonischen Konzepte, mit denen die Eroberer am westlichen und östlichen Rand des Mittelmeers ihre neuerworbene Stellung demonstrierten, so erkennt man entgegengesetzte Prinzipien: Während die ‚osmanische Renaissance‘ am Bosporus im Sinne einer Traditionsübernahme die Kontinuitätsaspekte durch Perfektionierung des Vorgefundenen betonte |▶ 15|, so inszenierten die siegreichen Habsburger in Andalusien die Wiedereroberung als demonstrativen Bruch, der einen Innovationsschub auslöste – sei es als
Modernisierung symbolträchtiger frühchristlicher Modelle wie beim Kathedralneubau, sei es als intelligente Adaption genuin römischer Innovationen wie beim Kaiserpalast auf der Alhambra. Eine gezielte, gar affirmative Auseinandersetzung mit der nicht-christlichen Tradition Andalusiens stand dagegen nicht zur Debatte: 1492 wurde mit dem Alhambra-Edikt von Granada aus die Zwangstaufe aller spanischen Juden geboten, während den Moslems zunächst noch eine Gnadenfrist gewährt wurde. 1569 setzte ein blutig niedergeschlagener Aufstand der inzwischen zwangskonvertierten sog. Morisken einen grausamen Schlussstrich unter die kurze Blütezeit der Reconquista-Renaissance; 1609 wurden alle Andersgläubigen Spaniens ins Exil gezwungen und bewirkten z. B. in den Niederlanden einen wirtschaftlichen und kulturellen Innovationsschub – für Spanien bedeutete dies vielleicht den Anfang vom Ende des Weltreichs, dessen imperiale Überdehnung in seiner für unüberwindlich gehaltenen Machtfülle und katholischem Dogmatismus erstarrte. Die ‚Tränen des Boabdil‘ waren doch nicht so unangemessen, wie es der stolzen Königin zunächst erschien.
Die Wallfahrtskirche von Ocotlán Kolonisation und Transkulturalität
A
m 27. Februar 1541, 20 Jahre nach dem Sieg des spanischen Expeditionscorps unter Hernán Cortés über die Azteken, durchquerte der Indio Juan Diego einen Ocotefichtenwald nahe der Stadt Tlaxcala im heutigen Mexiko, damals Vizekönigreich Neuspanien. Er wollte als heilkräftig bekanntes Wasser aus einem nahen Fluss holen, um es seinen an der Pest erkrankten Verwandten zu bringen. Da erschien ihm
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eine weiße Frau, die sich als die Jungfrau Maria zu erkennen gab. Sie wies ihm einen Brunnen, dessen Wasser noch deutlich heilkräftiger sei. Außerdem möge er gemeinsam mit den Franziskanern des Ortes nach einem verbrannten hohlen Baumstumpf in der Nähe suchen, in dessen Innerem er eine makellose Statue der Muttergottes finden werde, die er zur zukünftigen Verehrung in die Kirche von San Lorenzo bringen
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□ 110 Ocotlán, Wallfahrtskirche, Chorraum, unbek. Architekt, beg. 1670
lassen solle. Das war der Ursprung der bis heute blühenden Wallfahrt zur wundertätigen Quelle der Muttergottes von Ocotlán (Kaplan 1986). Die Elemente dieser populären Wallfahrtslegende greifen bekannte christliche Schemata auf, so z. B. den Dialog Jesu mit der Samariterin am Brunnen (Joh. 4,5–26), den brennenden, aber nicht verbrennenden Dornbusch des Moses (Ex. 3,1–10), die wundersame Erscheinung eines nicht von Menschen gemachten Kultbildes und schließlich jene Art der Offenbarung, welche sich – durchaus analog zur bayerischen Wieswallfahrt – zuerst an einfache, ungebildete, aber fromme Landleute richtete, die sie dann den Geistlichen übermittelten. Die Erzählung belegt, wie die importierten Denkschemata von den nur selten freiwillig christianisierten indigenen Völkern aufgenommen und transformiert wurden – das Christentum sah sich auf einmal mit neuen Herausforderungen und Chancen konfrontiert, Südamerika wurde zum Kontinent mit (bis heute) den meisten Katholiken. Vielleicht ist es auch kein Zufall, dass sich die Tlaxcalteken frühzeitig mit den spanischen
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Invasoren, die sich selbst conquistadores – Eroberer – nannten, gegen ihre bisherigen Unterdrücker, die Azteken, verbündet und entscheidend zu deren Untergang beigetragen hatten. Diese Erscheinung der Madonna war nicht die erste in Mexiko: Schon 10 Jahre zuvor war die Muttergottes in Gestalt einer dunkelhäutigen Frau zum ersten Mal im späteren Guadalupe gesehen worden, dem heute größten Marienwallfahrtsort des Kontinents. Hier zeichnete sich das Bild einer in der spanischen Stadt gleichen Namens bereits verehrten Madonnenstatue auf dem Mantel eines Eingeborenen ab, der ebenfalls Juan Diego geheißen haben soll. Das Heiligtum wurde am Ort des Wunders auf dem Berg Tepeyac errichtet, auf dem zuvor eine ‚heidnische‘ Erdgöttin verehrt worden war. Inwieweit die Legende von Ocotlán tatsächlich einen historischen Kern hat, oder ob es sich schlicht um eine spätere Paraphrase der bekannteren Guadalupe-Erzählung handelt, ist kaum zu entscheiden. Die – falls nötig auch gewaltsame – Christianisierung der als Menschenfresser diskre-
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ditierten Ureinwohner war die zentrale Rechtfertigung und – neben dem dort reichlich zu gewinnenden Gold und Silber – eine wichtige Triebfeder der Hispanisierung Südamerikas. Die Bauten der hierbei zunächst tonangebenden Bettelorden – die Jesuiten (Alcalá 2002) traten erst ab 1572 hinzu, übernahmen dann aber wie in der gesamten katholischen Welt eine führende Position im Schul- und Bauwesen – zeichnen die stufenweise Wandlung der Glaubenspraxis vom Import- zum Eigengut eindrucksvoll nach. Neben den Kirchen, die vor allem den Ordensgeistlichen und Spaniern vorbehalten waren, entstanden von Mauern eingegrenzte Höfe, gut vitruvianisch ‚Atrien‘ genannt, die an mindestens einer Seite eine offene Loggia als ‚Chorkapelle‘, genannt capilla de indios, besaßen, in welcher der Altar für die Freiluftmesse stand: In Calpan hat sich ein eindrucksvolles Ensemble dieser Art erhalten (Rojas 1970, S. 16–37). Der Bau steinerner Gotteshäuser war zunächst mühsam und ästhetisch anspruchslos: Sie erhielten durch Zinnen und Wehrgänge oft die Gestalt von Forts, als gelte es sich hier stets gegen heidnische Angriffe zu wappnen. Als Beispiel kann die 1543–80 errichtete Franziskanerkirche von Tapeaca dienen: ein schlichter, einschiffiger Saalbau, der bereits eine für die gesamte Kolonialarchitektur charakteristische Eigenart zeigt, nämlich die enge, offensichtlich durchaus zeichenhaft gemeinte Verbindung mit den Bautraditionen des Mutterlandes. Die ersten Kirchen der Neuen Welt erhielten (nach-)gotische Stern- und Netzrippengewölbe, die auch in Spanien erst allmählich durch klassische Formen abgelöst wurden |▶ 9|. So lässt sich z. B. das Innere der 1571 als Hallenkirche begonnenen Kathedrale von Guadalajara unschwer auf Diego de Siloes Kathedrale von Granada zurückbeziehen (|▶ 28|, Kubler/Soria 1959, S. 69–83). Die Ornamentik der Bauten erinnert oft an präkolumbische Kunst. Während man früher annahm, dass lokale Kunsthandwerker sozusagen un-
ideologisch gewohnte dekorative Traditionen fortführten, erkennt die neuere Forschung hierin eine tendenziell dialogische Konstruktion, welche die doppelte Lesbarkeit indigener, nun christlich kontextualisierter Zeichen und Symbole bewusst einsetzte (Kern 2010). Das in der Legende erwähnte Franziskanerkloster von Tlaxcala ist ein solcher schlichter Saalbau unter einem offenen, hölzernen Dachstuhl im importierten mudéjar-Stil, also der spanisch-nachislamischen Tradition (Rojas 1970, Taf. 3). Wie die erste Wallfahrtskirche im nahen Ocotlán ausgesehen haben mag, falls es eine solche überhaupt schon gab, ist nicht überliefert. Vermutlich um 1670 begann der Bau des heutigen Heiligtums nach Entwurf eines gewissen Pater Juan de Escobar als Saalkirche mit flachen seitlichen Kapellennischen, Tonne und oktogonaler Flachkuppel über dem Presbyterium mit dem wundertätigen Madonnenbild. Hinter dem den gesamten Chorraum auskleidenden Retabel (□ 110) schließt sich der sog. Camarín de la Virgen an, eine nicht für die Öffentlichkeit bestimmte achteckige Kapelle, in der die Statue für die Prozessionen geschmückt wird und deren prächtige, Elemente der Volkskunst aufgreifende Stuckdekoration von dem einheimischen Künstler Francisco Miguel Tlayoltehuanitzin wohl ca. 1715–40 realisiert wurde. Das Heiligtum liegt an einem breitgelagerten, 50 × 70 m messenden, von geschwungenen Einfriedungen umgebenen Vorplatz, der vielleicht an die offenen Kapellenhöfe des Conquista-Zeitalters erinnert. Den wundertätigen Brunnen in einer eigenen kleinen Kapelle erreicht man über eine südlich ins Tal führende Treppenanlage. Die Doppelturmfassade der Kirche (□ 111), aus stilistischen Gründen um 1770 zu datieren, wirkt im unvermittelten Kontrast aus rotglasierten glatten Fliesen und blendendweiß verputzten, stark ornamentierten, plastisch zerklüfteten Baugliedern für europäische Be-
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trachter zunächst exotisch. Dennoch lassen sich vergleichbare Stiltendenzen zu Beginn des 18. Jh.s auch im Mutterland Spanien finden, z. B. in der berühmten, 1764 vollendeten Sakristei der Kartause von Granada, nur erscheinen sie westlich des Atlantiks noch kompromissloser, radikaler, konsequenter durchgeführt. Manuel Toussaint hat hierfür die sprechende Bezeichnung „Ultra-Barock“ eingeführt (Kubler/Soria 1959, S. 79 f., Taf. 13a) – ‚jenseits‘ des Meeres, aber auch jenseits aller akademisch-klassizistischen Tendenzen, die in jenen Jahren in Europa den Vorrang gewinnen und lediglich in Gebieten, die ihre gestalterische Autonomie gegenüber dem normativen Druck
der Metropolen mit hohen künstlerischen Ansprüchen verbinden, zu derart ausgeprägten Stilhaltungen führen konnten: Das statisch entgrenzte Extrem-Rokoko der oberbayerischen Wallfahrtskirche in der Wies |▶ 40| kann hier durchaus als Parallelphänomen gelten. Man bezeichnet diesen in der spanischen Welt geläufigen Schaufront-Typus auch als ‚Retabelfassade‘, da der stark reliefierte Mittelteil um das Portal wie eine vorgesetzte Altarwand erscheint – hier wird sie von einem Segmentbogen mit Muscheldekor, der an eine Federkrone erinnert, welcher auch den Altarraum im Innern bekrönt, nach oben abgeschlossen. Eine statisch-konstruktive Verklammerung mit dem Baukörper ist gar nicht angestrebt, die Stuckflächen sind vielmehr, ähnlich wie die Turmhelme, als isolierte, sekundär montierte Schaustücke konzipiert. Im Detail betrachtet, erkennt man in der Fülle der Zierformen kaum Elemente, die mit vitruvianischer Terminologie zutreffend benannt werden könnten: Die zugrundeliegende Struktur der Säulen und Gebälke, Giebel und Bögen wird geradezu ornamental überwuchert und von reichen figürlichen Darstellungen bevölkert. Hierbei dominiert ein der manieristischen Experimentierphase des 16. Jh.s entstammendes, balusterartiges Bauglied, das man estipite nennt und das die Grundform einer gelängten, vielfach gebrochenen, umgekehrten Pyramide aufnimmt. Diese Stilhaltung, welche eine vorgegebene Fläche in ein kleinteilig strukturiertes, flirrendes Relief auflöst, das von vielfach wiederholten, kaum hierarchisierten Elementen überzogen wird, bezeichnet man als churrigueresk. Das Leitmodell des Vitruvianismus, der statisch plausible, in sich logische Gliederbau aus antiken Formen, wird hierbei entschlossen negiert. Die Materialität, ob Stuck, Stein oder Holz, ist für die Formfindung irrelevant, wie die entmaterialisierende □ 111 Ocotlán, Wallfahrtskirche, Hauptfassade, unbek. Architekt, ca. 1770 (?)
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Weißfärbung hier oder die Vergoldung derselben Motive im Inneren zeigt. Es ist kein Wunder, dass der bevorzugte Säulentyp Südamerikas die sog. Salomonische, also gewundene Kompositordnung war, wie sie als Sonderlösung z. B. von Bernini für den Baldachin von St. Peter in Rom |▶ 25| verwendet wurde, in Neuspanien aber – wie z. B. im Camarín von Ocotlán – geradezu als Regelfall gelten kann. Die mexikanische Kunst des Spätbarock ist alles andere als eine provinzielle Kopie europäischer Vorbilder. Sie erscheint vielmehr als qualitätvolles Eigengewächs einer ästhetischen ‚Freihandelszone‘, in der radikalere Lösungen als in den Zentren entwickelt werden konn-
ten. Peter Cornelius Claussen hat anlässlich eines anderen Beispiels für dieses Phänomen den Begriff ‚Transperipherie‘ vorgeschlagen (Claussen 1994): Man versuchte in Übersee nicht, die Muster aus Paris, Rom, Madrid oder Granada so gut es eben ging in der Lokalsprache nachzubuchstabieren, sondern nahm deren Stichworte auf, aber dichtete sie selbständig und ohne falsche Bescheidenheit in durchaus eigener, phantastischer Diktion weiter. Die katholische Kolonisation der Frühen Neuzeit war, wie man erst in letzter Zeit zunehmend erkennt, keine Einbahnstraße, sondern das Geben und Nehmen einer transkulturellen Aushandlungssituation.
Das Pellerhaus in Nürnberg Kaufmannsstolz und Humanismus
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ine Kernthese dieses Buches ist die vom ‚Mediencharakter‘ der Architektur in der Frühen Neuzeit. Das Pellerhaus in Nürnberg ist ein gutes Beispiel dafür, dass diese Deutung nicht nur auf öffentliche Gebäude wie Kirchen, Rathäuser und Paläste zutrifft, deren Zeichenhaftigkeit ja auch in anderen Epochen außer Frage steht, sondern ebenso für den privaten Wohnbau bestimmend war. Das hier vorgestellte Haus eines Nürnberger Textilmagnaten war für die Abwicklung der Fernhandelsgeschäfte des Erbauers irrelevant und nur in zweiter Linie familiäre Wohnung. Seine eigentliche Bedeutung lag in der steingewordenen Anmeldung des Anspruchs, in der geschlossenen Standesgesellschaft einer der führenden Handelsmetropolen des Reiches zukünftig jenen Rang einzunehmen, welcher der wirtschaftlichen Potenz eines der (neu-)reichsten Männer der Stadt eigentlich angemessen wäre: ein
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Aufstieg, den die starre Sozialverfassung der oligarchischen Stadtrepublik aber zunächst verwehrte und der somit auf dem Umweg repräsentativer Überkompensation erzwungen werden sollte. Wie die Medici zuvor und die Fürstbischöfe von Würzburg danach baute Peller weit prächtiger, als es Anstand, Konvention und bisheriger Status eigentlich erforderten, um die Botschaft des unbedingten Aufstiegswillens unmissverständlich in die Mit- und Nachwelt zu tragen. Der Bauherr Martin Peller, Bürgermeistersohn aus Radolfzell, heiratete 1590 die Tochter eines aus dem Venezianischen stammenden Nürnberger Textilgroßhändlers namens Bartholomäus Viatis. Der Schwiegervater selbst hatte, dem Brauch der Zeit entsprechend, 1568 die Witwe seines vormaligen Arbeitgebers Jerg Scheffer geehelicht und so das Nürnberger Bürgerrecht erworben. Die beiden Familien besa-
Das Pellerhaus in Nürnberg
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□ 112 Nürnberg, Pellerhaus, Ansicht des Innenhofs, J. Wolff d. Ä., 1602 – 07 (Zustand vor 1945)
ßen bereits ein stattliches Haus an der Barfüßerbrücke, wollten aber höher hinaus. Direkter politischer Einfluss stand – ähnlich wie in der Oligarchie Venedigs – nur einem kleinen Kreis von 42 Familien zu, die die sog. Ratsfähigkeit, eine Art Adelsstatus der Stadtrepublik, besaßen. Obwohl Viatis vom Kaiser geadelt war, dem wichtigsten Wirtschaftsgremium der Stadt angehörte und gemeinsam mit seinem Schwiegersohn und Geschäftspartner 1621 die erste Nürnberger Girobank gründete, blieb ihm diese letzte Stufe der Reputation verwehrt. Um sich dem ‚echten‘ Patriziat schrittweise anzunähern, erwarben Peller und Viatis im Jahr 1600 das für Nürnberger Verhältnisse stattliche, aber den lokalen Gepflogenheiten entsprechend bescheiden auftretende Doppelhaus der zum ‚Uradel‘ der Stadt gehörenden Familie Groland am vornehmen Egidienplatz zwischen den Anwesen der ebenfalls ratsfähigen Imhoffs und Ebners. Das bestehende Haus
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wurde abgerissen und in einem zähen Kampf gegen die Einsprüche der Nachbarn und der kritischen Baupolizei unter beständiger Dehnung aller Vorschriften durch einen Neubau ersetzt, wie ihn Nürnberg noch nicht gesehen hatte. Die zulässigen drei Stockwerke wurden durch einen steilen Giebel um drei weitere Etagen erhöht, welcher die traufständige Normalbauweise der Stadt in markanter Weise konterkarierte |▶ 33|. Die zahlreich erhaltenen Alternativprojekte zur Fassade (Böckel 2009, S. 23–26) belegen die angestrengte Suche nach einer möglichst aufwendigen, reich reliefierten Gestaltung, die mit Quadermauerwerk im Erdgeschoss und darüber in Superposition angeordneten rustizierten Säulenordnungen deutlich auf den langjährigen Aufenthalt der Bauherren in Venedig, hier besonders auf die Zecca (Münzprägeanstalt) Sansovinos |▶ 16|, verwies. Auf die Giebelspitze ließ Peller keinen Geringeren als den römischen Göttervater Jupiter setzen, zwei Stockwerke darunter folgte eine Darstellung des Namenspatrons, des hl. Martin, vielleicht auf die katholische Herkunft der pragmatisch zum Luthertum konvertierten Familie verweisend. Als Architekten verpflichtete man, wiederum halblegal, den eigentlich auf öffentliche Bauten beschränkten Ratsbaumeister Jakob Wolff d. Ä. Während die Stadtfassade einen betont eigenständigen, eher an Patrizierhäuser in Lübeck, Danzig, Amsterdam oder Heidelberg erinnernden Akzent setzte, stellte der Innenhof (□ 112) ein Meisterstück der Adaption Nürnberger Bautraditionen und deren geschickte Steigerung durch die Verschmelzung mit aktuellen Renaissanceformen dar. Der lokal geläufige Haustypus bestand aus einer Hofanlage mit Vorder- und Hinterhaus auf einer meist schmalen Parzelle, die auf einer Seite von einem gangartigen Zwischentrakt mit den Wirtschaftsräumen gerahmt war. Die hierdurch entstehende einhüftige C-Form ließ eine Seite offen, was zur Beschwerde des östlich anschlie-
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ßenden Nachbarn Imhoff führte, da sein die traditionelle Bescheidenheit wahrendes Anwesen nun den Blicken des hochaufragenden Neubaus ausgesetzt würde. Daher entschloss sich Wolff, entgegen der lokalen Tradition auch an der östlichen Langseite des Grundstücks einen korridorartigen Arkadentrakt über drei Geschosse anzulegen, der so den Eindruck eines gleichmäßig umbauten, geschlossenen Cortile erzeugte, wie man ihn aus Italien gewohnt war. Das schmale und lange Grundstück war allerdings im Erdgeschoss nur drei Achsen breit, so dass abzüglich des westlichen Seitenflügels für den Hof nur zwei Travéen übrig blieben. Der Architekt machte aus der Not eine Tugend, indem er über den Mittelpfeiler der Schmalseite einen der ortstypischen mehrgeschossigen Erker, ein sogenanntes ‚Chörlein‘ anordnete und der Fassade des vom Vorgängerbau übernommenen und lediglich neu dekorierten Rückgebäudes hierdurch wiederum eine Dreiteilung verlieh. Das Motiv der polygonalen Erker wiederholte sich im dritten Joch der Langseiten und zentrierte diese geschickt, da die den Rhythmus störende sechste Achse als brückenartiger Altan vor die Rückfassade gestellt wurde. Die Hoffassaden verbanden italienische Motive – ein korbbogig variiertes Tabulariumsmotiv – mit nachgotischen Reminiszenzen wie den im Zusammenhang der sog. Dürer-Renaissance um 1600 gerade wieder in Mode kommenden Maßwerkbrüstungen; der Bauherr besaß sogar ein eigenes Gemälde dieses wohl berühmtesten Nürnberger Künstlers, die sog. ‚Holzschuher’sche Beweinung‘ Albrecht Dürers von ca. 1505. Was der Familie an Alteingesessenheit fehlte, machte sie durch demonstrativen Lokalpatriotismus wieder wett. Das dritte Vollgeschoss des Pellerhauses (□ 113) erlaubte eine aufwendige Erweiterung des großbürgerlichen Raumprogramms: Über einer rippengewölbten, neunjochigen Halle im Erdgeschoss folgten im ersten Obergeschoss die Privatzimmer der Familie und darüber die
eigentlichen Repräsentations- und Gasträume, die sog. Schöne Stube bzw. Kammer. Der kleinere dieser beiden reich getäfelten Räume, italianisierend Studieto genannt, besaß ein Deckengemälde, dessen Hauptmotiv, der infolge seiner Hybris von Jupiter samt dem Sonnenwagen vom Himmel gestürzte Phaeton, als merkwürdige Wahl für einen sozialen Aufsteiger erscheint. Ein prächtiges Bett verwies auf die intendierte Funktion des Raumes, nämlich als Quartier für hochgestellte Gäste zu dienen. Fast wäre die Rechnung aufgegangen, denn als Kaiser Matt hias 1612 im Haus des Nachbarn Imhoff nächtigte, sollte die Kaiserin im Pellerhaus beherbergt werden, was aber aus Gründen der Bequemlichkeit zuletzt unterblieb. Ein zweites, ähnlich prächtiges Gästezimmer befand sich im Rückgebäude hinter einem Festsaal. Wie in Italien üblich, lagen die vornehmsten Räume im obersten Geschoss. Teile der Ausstattung sind erhalten, denn sie wurden 1942 vorsorglich ausgebaut und sind heute im Stadtmuseum Fembohaus zu einem fiktiven Ensemble neu zusammengestellt. Nürnbergs Tradition als politisches Zentrum wurde schließlich auch dem Pellerhaus zum Verhängnis. Die ‚Stadt der (NS-)Reichsparteitage‘ war wie viele andere deutsche Altstädte mit vorwiegend hölzerner (also gut brennbarer) Bausubstanz im zweiten Weltkrieg ein bevorzugtes Ziel für Luftangriffe. Die schwer □ 113 Nürnberg, Pellerhaus, Grundriss des 2. OG, J. Wolff d. Ä., 1602 – 07
Das Pellerhaus in Nürnberg
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beschädigte Ruine ging gemeinsam mit dem benachbarten Imhoff-Haus in einem ab 1955 errichteten, zeittypisch eleganten und originellen Neubau für Stadtarchiv und Bibliothek von Fritz und Walter Mayer auf. Heute ist diese Ruinenästhetik und Modernitätsanspruch verbindende, in die Jahre gekommene Lösung wiederum bedroht von dem zeittypischen Wunsch nach Rekonstruktion im Krieg zerstörter Baudenkmale (Böckel 2009, S. 67–120). Die rührigen Nürnberger Altstadtfreunde starteten 2008 eine Initiative zum Wiederaufbau der Hoffassaden des Pellerhauses als eines verlorenen Hauptbeispiels nordalpiner Renaissancebaukunst. Der Wunsch nach der Wiedergewinnung des einen droht wie bei der Dresdner Frauenkirche |▶ 41| ein anderes Denkmal, hier das der partiellen Wiederherstellung der Nachkriegszeit, verschwinden zu lassen. Erschwerend kommt hinzu, dass auch
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der auf dem Sockel des Vorderhauses errichtete Neubau seine Nutzung inzwischen verloren hat und einer neuen Bestimmung harrt. Wolffs Pellerhaus zeigte, wie Baukunst als Botschaft funktionierte: In geschickter Verbindung von Einfügung, Überbietung und Durchbrechung lokaler Traditionen demonstrierte das Großbürgerhaus am Egidienplatz exakt jene Stellung zwischen Außenseitertum und Dazugehörenwollen, erwünschter Alleinstellung und erstrebter Augenhöhe mit den führenden lokalen Eliten, die seine Bauherrenschaft nonverbal zum Ausdruck bringen wollte. Die demonstrativen Antiken- und Italienbezüge vor allem der Hauptfassade unterstrichen zugleich einen Anspruch auf Weltläufigkeit und Bildung, welchen das patrizische Großbürgertum mit Fürsten und Humanisten nördlich und südlich der Alpen verband.
Das Rathaus von Antwerpen Renaissance auf Flämisch
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er beherrschende, auf das Jahr 1564 datierte Mittelgiebel des Rathauses in der belgischen Hafenstadt Antwerpen (Bevers 1985, S. 104 f., 204) zeigt unter einer Statue der Muttergottes und flankiert von den Tugendpersonifikationen Prudentia und Justitia (Klugheit und Gerechtigkeit) sowie den Zeichen der Kommune und des Herzogtums Brabant den vielgeteilten Wappenschild Philipps II., des Königs von Spanien und Erbauers des Escorial |▶ 9|. Auf der Spitze des Giebels ist dagegen mit dem Adler das Wappentier eines anderen Staates, des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, dargestellt. Diese für den modernen Betrachter nicht unmittelbar einleuchtende politische Ergebenheitsadresse ist essentiell für
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das Verständnis eines der anspruchsvollsten Kommunalbauten des Jahrhunderts nördlich der Alpen. In der Zugehörigkeit der südlichen Niederlande, des heutigen Belgien, zu Spanien und damit der katholischen Hälfte Europas manifestiert sich die einstmalige Bedeutung und die Tragik jener Region, die ein Jahrhundert lang die kulturell und wirtschaftlich führende in Nordeuropa war und dann dem aufstrebenden Nachbarn im Norden, den ‚Generalstaaten‘ unter der Führung Hollands, unterlag. Wie waren die Niederlande, welche staatsrechtlich zum Römisch-Deutschen Reich gehörten, unter die Herrschaft des geographisch und kulturell weit entfernten Spanien gekommen? Die Antwort liegt in der sprichwörtlich gewor-
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denen Aufforderung Bella gerunt alii – tu felix Austria nube (‚Lass andere Kriege führen: Du, glückliches Österreich, heirate!‘). Während die Könige von Frankreich versuchten, mit zweifelhaftem Erfolg militärische Eroberungen z. B. in Oberitalien zu machen, war es dem nicht besonders vermögenden, aber mit der Kaiserwürde ausgestatteten Friedrich III. aus der Familie Habsburg gelungen, durch Erbverträge und geschickte Verheiratung seines Sohnes Maximilian nicht nur Böhmen und Ungarn, sondern auch Spanien und die ‚Boomregion‘ Nordwesteuropas, das reiche Herzogtum Burgund, an das kleine Österreich zu binden. Durch die Wahl Karls V. zum Nachfolger seines ‚glücklich heiratenden‘ Großvaters Kaiser Maximilians I. entstand so im Jahr 1519 das vielzitierte Reich, in dem die Sonne nicht unterging, da es Spanien mit sämtlichen Überseekolonien und ganz Zentraleuropa umfasste. Es zeigte sich bald, dass diese ‚imperiale Überdehnung‘ die Kräfte eines einzelnen Herrschers überforderte; insbesondere die in Deutschland und den Niederlanden mächtig aufbrechenden Konfessionskonflikte waren militärisch nicht zu lösen. So teilte der amtsmüde Karl V. bei seinem Rücktritt in Brüssel 1556 das Erbe zwischen seinem Sohn Philipp und seinem Bruder Ferdinand: Das wirtschaftlich prosperierende Herzstück seiner Reiche und seine Geburtsheimat, die Niederlande, fielen dabei an den streng katholischen Philipp II., der König von Spanien wurde, nicht an den in Religionsfragen liberalen Bruder, der als Ferdinand I. die Kaiserwürde erhielt. Hierdurch wurde der schwelende Konflikt zwischen altem und neuem Glauben zu einem offenen Konfessions- und Sezessionskrieg, der in einem achtzigjährigen blutigen Ringen von 1565 bis 1648 zur Loslösung der mehrheitlich protestantischen sieben Nordprovinzen der Niederlande führte. An dessen Ende war Holland mit seiner Hauptstadt Amsterdam |▶ 32, 33| zur führenden See- und Handelsmacht des Kontinents aufgestiegen, während Antwerpen
seine einstige Rolle als mit 100 000 Einwohnern nach Paris größte und prosperierendste Stadt Westeuropas endgültig verlor. Hierzu trug auch die ungünstige geographische Lage bei, denn Antwerpen liegt nicht (wie Amsterdam) an der offenen See, sondern an der Mündung des Flusses Schelde, welcher von den Kriegsgegnern leicht zu sperren war, so dass der ungehinderte Warenverehr als Grundlage des Wohlstandes für Jahrzehnte zum Erliegen kam. In dieser krisenhaften Situation, auf dem Gipfelpunkt des wirtschaftlichen Erfolges, aber bereits bedroht von konfessionellen und nationalen Konflikten, entschied sich der Rat von Antwerpen nach einem Stadtbrand von 1541, sein unscheinbares, an der Ecke einer mittelalterlichen Häusergruppe am Grote Markt situiertes altes Stadthaus (Lampo 1993, S. 6, 11) abzureißen und durch einen Neubau auf dem Platz zu ersetzen, der nicht nur das Mehrfache des Volumens einnehmen, sondern zugleich die Weltläufigkeit einer global agierenden Handelsmetropole unter Beweis stellen sollte, indem er nicht nur in Konkurrenz mit den monumentalen gotischen Rathäusern der Region trat (z. B. Brüssel, 1401–55), sondern diese durch die Anwendung der modernen, antikischen Renaissanceformen übertraf. Beleg für die schleichende ‚Italianisierung‘ des lokalen Geschmacks war der 1539 von Pieter Coecke van Aelst in Antwerpen vorgelegte erste niederländischsprachige, an Vitruv orientierte Traktat mit dem bezeichnenden Titel „Die inventie der colommen“ (Die Erfindung der Säulen[-Ordnungen]) (Kruft 1991, S. 186). Wegen vordringlicher Aufgaben – die Kommune war nach der dringend notwendigen Erneuerung ihrer Befestigungsanlagen mit einer Mio. Niederländische Gulden (fl.) verschuldet – wurde das Rathausprojekt erst 1560 mit einem Wettbewerb unter zehn niederländischen Architekten wieder aufgenommen. Gewinner war wohl der mutmaßliche Entwerfer des in kürzester Zeit bis 1565 realisierten
Das Rathaus von Antwerpen
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□ 114 Antwerpen, Rathaus, Fassade, Cornelis Floris, 1560 – 65
Neubaus, der Antwerpener Bildhauer und Architekt Cornelis Floris. Zur Finanzierung wurde eine kommunale, mit 6–10 % verzinste Anleihe über zunächst 100 000, dann noch einmal 50 000 fl. aufgelegt – trotz Verschuldung und explodierender Baukosten trieb man ein für das Selbstverständnis der Stadt anscheinend unverzichtbares Projekt unter Hochdruck voran (Bevers 1985, S. 9f.). Kaum vollendet, brannte der prachtvolle Neubau 1576 bei einem Aufruhr der Besatzungstruppen, der sog. ‚Spanischen Furie‘, vollständig aus – ein Fanal des sich immer mehr verschärfenden Konfessionskonfliktes, der auch beim Wiederaufbau an der Rathausfassade seinen Ausdruck fand: In die Nische über dem Königswappen wurde 1587 statt der ursprünglich hier situierten (konfessionsneutralen) Figur des mythischen Stadtgründers Salvius Brabo, eines fiktiven Offiziers Julius Caesars, die Statue der Muttergottes als Patronin der Gegenreformation gestellt. Leider ist infolge eines tiefgreifenden Umbaus des späten 19. Jh.s (Lampo 1993, S. 27f.)
III. Schlüsselwerke
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außer einigen wenig aussagekräftigen Grundrissplänen (Bevers 1985, S. 205) kaum etwas über die ursprüngliche Innendisposition des Rathauses bekannt. Mit 67 × 25 m nimmt der Bau die Form eines breitgelagerten Rechtecks ein, in dessen Zentrum sich ein kleiner, ähnlich proportionierter Hof befand. Im Erdgeschoss waren unter Arkaden Verkaufsräume vorgesehen – durch die Mieteinnahmen sollte sich auch die Stadtkasse wieder füllen. Im repräsentativen ersten Obergeschoss, das man über eine Treppe neben dem Mittelrisalit erreichte, befand sich entlang der Außenwände eine Reihung von Sälen unterschiedlicher Größe für verschiedene Ratsgremien, Empfangs- und Verwaltungsräume. Im Gebäudekern gelegene, wohl nur mäßig über den Hof belichtete Verteilersäle dienten der Erschließung. Die Hauptfassade (□ 114) verschneidet zwei völlig unterschiedlich gestaltete Baukörper miteinander: 18 der 21 Fensterachsen bilden einen seriell gegliederten, breitgelagerten Kubus, der über einem rustizierten Arkaden-Sockel-
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geschoss aus Rotmarmor zwei mit Pilastern gegliederte, nahezu völlig in Kreuzstockfenstern gotischer Tradition aufgelöste, flächige Rastergeschosse zeigt. Das erste Obergeschoss ist dorisch, das zweite ionisch instrumentiert. Hierüber folgt ein niedriges, hinter einer Balustrade zurückspringendes Loggiengeschoss und ein steiles, ‚pagodenartig‘ geknicktes Walmdach. Einen ganz anderen Charakter zeigt dagegen der Mittelrisalit, der besonders in der Schräg ansicht wie ein freistehendes Giebelhaus oder ein Turmstumpf aussieht und in die serielle Fassade des Hauptbaus wie ‚hineingesteckt‘ erscheint. Hier türmen sich sechs Geschosse übereinander, so dass auf Rustica, Dorica und Ionica noch Corinthia, Composita und eine frei gestaltete Ordnung aus Hermenpilastern folgen: eine geradezu lehrbuchhaft entwickelte Superposition. Der Mittelgiebel wirkt in jeder Hinsicht plastischer und voluminöser als die Rücklagen, indem die Öffnungen, hier Rundbogen zwischen Doppelsäulen und genischten Wandflächen, als sog. rhythmische Travée in der Art des Theatermotivs ausgeführt sind. Wappen, Obelisken und Statuennischen vervollständigen den reichen Eindruck einer in Stein verwandelten, temporären Festarchitektur. Sie sollte offensichtlich als Bühne für die traditionelle feierliche Bestätigung der städtischen Privilegien durch den Landesherrn dienen, welche dieser im Rahmen eines ‚festlichen Einzugs‘ (blijde inkomste) in die Stadt regelmäßig erneuerte. Alle Einzelformen lassen sich genauestens auf die 1549–53 ebenfalls von Pieter Coecke in Antwerpen edierte niederländische Ausgabe von Sebastiano Serlios mehrbändigem Architekturtraktat zurückführen: Hierin bestätigt sich die besondere Bedeutung, die gedruckte Vorlagenwerke bei der Vermittlung der neuen Formen einnahmen ( Themenblock · Zeichnung, Druckgrafik und Modell, S. 211 f.), denn sie erwiesen sich als offen für Neukontextualisierungen. Betrachtet man die Disposition des Antwerpener Rathauses mit ‚italienischen Augen‘, also
gemessen etwa an der Markusbibliothek in Venedig, dem Palazzo Farnese, dem Alhambra-Palast Karls V. oder dem römischen Kapitol |▶ 16, 19, 20, 28|, so erscheint die disparate Gesamtkomposition und die Anwendung der Einzelformen verstörend, ja geradezu unorganisch. Die besondere Bedeutung des Floris-Entwurfs liegt aber just in seinen Abweichungen von italienischen Vorbildern, indem dieselben Elemente einem völlig anderen Gesamtverständnis von Architektur inkorporiert werden. Die Tradition anspruchsvoller flämischer Rathäuser wie z. B. in Brüssel zeigte serielle, weitgehend durchfensterte, horizontal gegliederte Rücklagen, die in der Mitte von der markanten Vertikale eines deutlich reicher gestalteten Turmrisalits, des sog. Belfrieds, unterbrochen und zentriert werden. Floris übersetzte das Turmmotiv in eine reich gestaltete dreiachsige Giebelfassade, wie sie an den gegenüberliegenden, etwa gleichzeitigen Bürgerhäusern des Marktplatzes immer wieder zu finden ist (Lampo 1993, S. 120 f.). Hierdurch gelang eine Rückbindung der in der Tat etwas akademisch reproduzierten Einzelformen an die Seh- und Baugewohnheiten der Region: Das Antwerpener Rathaus ist eben keine Importarchitektur, sondern vollzieht den wichtigen Schritt einer transkulturellen Übersetzung, welche die Aneignung des neuen Stils unter anderen Bedingungen erst möglich machte |▶ 29|. Hierbei kommt dem Floris-Bau eine ähnliche Schlüsselfunktion wie den Bauten Inigo Jones’ in England, der Basilius-Kathedrale in Moskau oder dem Pellerhaus in Nürnberg |▶ 14, 30, 44| zu: Gerade durch ihre Abweichung von der ‚Norm‘, als welche die italienische Hochrenaissance ihre Regelwerke und Vorbildbauten selbst gerne verstanden wissen wollte, machte sie die antikische Architektursprache anschlussfähig und regional charakteristisch. Interessanterweise war es Sebastiano Serlio selbst, der als Erster in seinem Traktat dargelegt hatte, dass sich die Baugewohnheiten
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nördlich der Alpen, die sog. costume di Francia (Kruft 1991, S. 85, bes. im postum erschienenen 7. Buch), erkennbar und notwendigerweise von denen Italiens unterschieden (□ vgl. 22). Erst die Bereitschaft von Künstlern und Auftraggebern, solche Variationen und Transformationen
zuzulassen bzw. einzufordern, verwandelte die italienische Mode der Antiken-Aneignung in einen wahrhaft ‚internationalen Stil‘, der in der Lage war, die hoch entwickelte und regional stark differenzierte Spätgotik endgültig und vollständig zu verdrängen.
Bürger bauen: Zwischen Fleischhalle und Zeughaus
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as erste ‚Schlüsselwerk‘ dieses Buches, das Waisenhaus von Florenz |▶ 1|, unterstreicht die Bedeutung des kommunalen Bauens für die Architekturentwicklung und relativiert den beim Blick auf die Frühe Neuzeit oft vorherrschenden Eindruck, die künstlerisch prägenden Kräfte der Epoche seien vor allem Adel, Monarchie und Klerus gewesen. Diese Annahme ist insofern zutreffend, als es im Vitruvianischen Zeitalter keine spezifisch ‚bürgerliche Ästhetik‘ gab: Vielmehr konkurrierten die Städter mittels analoger repräsentativer Strategien um dieselben Ideale der Antikennähe und humanistischen Bildung (Hesse 2012). Ihre Bauten galten als unverzichtbare Zeichen des Wohlstands, der politischen Autonomie und ‚guten Regierung‘. Charakteristisch erscheinen dagegen bestimmte Bauaufgaben, die je nach politischer Struktur entweder von den (meist als oligarchische Republiken) verfassten Bürgerschaften oder auch von den jeweiligen Fürsten als Stadtherren in Auftrag gegeben wurden. Kommunalbauten waren kaum jemals ‚reine Zweckarchitektur‘, sondern fast immer mit einer den Themenblock · SäulenGesetzen des Dekorums ( ordnungen, S. 99) entsprechenden repräsentativen äußeren Gestaltung, z. B. durch Wappen, Bildschmuck, Säulenordnungen und Inschriften, versehen.
Neben dem Rathaus, das meist auch als Gericht diente und oft den gleichzeitigen Palastbau zum Vorbild nahm, entstanden sog. Zunfthäuser, in denen sich korporativ organisierte Gewerbe wie z. B. die Metzger oder Tuchhändler darstellten, welche je
III. Schlüsselwerke
nach Region ‚Stadtmetzg‘, ‚Fleisch-‘‚ oder ‚Tuchhalle‘ benannt waren (□ vgl. 32). Oft wurden sie von einem beamteten Stadtbaumeister errichtet, der meist „zünftiger“ Zimmermann oder Steinmetz war. Waage, Börse oder Speichergebäude ergänzten je nach Art des Handelsschwerpunkts das Repertoire. Auch Verwaltungsbauten mit wirtschaftlichen und kulturellen Nebenfunktionen, z. B. den Prokuratien in Venedig |▶ 16|, Gefängnissen, Schulen, Hospitälern, Armenhäusern und Münzprägeanstalten wurde eine öffentliche Repräsentationsfunktion zugemessen. In Themenblock · Die Konfesevangelischen Städten ( sionen, S. 284) gehörte auch der Kirchenbau zu den kommunalen Aufgaben. Für die Sicherheit der Städte waren neben umfangreichen Festungsanlagen ( Themenblock · Festungsbau, S. 151 f.) auch Wachgebäude (meist am Marktplatz) und Depots für Waffen und Munition, sog. Zeughäuser oder Arsenale einzurichten. Die Tore, Grenzzeichen des städtischen Immunitätsbereichs, folgten in Nordeuropa noch lange dem traditionellen Typus des hochaufragenden Turms als weithin sichtbares Stadtzeichen, auch als diese Bauweise längst ihre militärische Funktion verloren hatte (z. B. in Augsburg unter Elias Holl um 1600, Roeck/ Behringer 1999). Bürgerliches Bauen war mehrheitlich strukturkonservativ: Regional eingeführte Haustypen, z. B. vielgeschossige giebelständige Hofhäuser mit schmaler
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Front, großer Parzellentiefe und steiler Dachneigung |▶ 33| wurden im Wesentlichen beibehalten und meist lediglich vitruvianisch neu ‚instrumentiert‘, um das Ideal tendenzieller bürgerlicher Gleichheit nicht zu verletzen. Oft war dies auch durch rigide Bauvorschriften gesichert. Meist bezeichnete die Adaption adeliger Bautypen, z. B. des hôtel particulier in Paris |▶ 37|, den Anspruch des jeweiligen, privaten Bauherrn auf sozialen Aufstieg in diesen Stand. Sehr oft waren nicht die Alteingesessenen, sondern zugezogene vermögende Aufsteiger mit Geltungsbewusstsein die Promotoren des architektonischen Fortschritts in den Städten. Die Ikonographie der Bürgerbauten unterschied sich erstaunlich wenig von derjenigen der Fürsten: Heidnische Götter und beispielhafte Gestalten aus Bibel
und antiker Geschichte betonten eher die Gleichrangigkeit mit den Monarchien als spezifisch ‚republikanische‘ Werte oder Ideale, wobei der Zeichenapparat oft auf die römische Konsularverfassung Bezug nahm und z. B. der Stadtrat als ‚Senat‘, die Bürgermeister als Consules tituliert wurden (Albrecht 2006). Meist sollte ein enges, vertrauensvolles Verhältnis zum Landesfürsten durch die Anbringung seiner Wappenzeichen (z. B. des Reichsadlers) demonstriert werden, um sich so der vom Herrscher einstmals verliehenen Autonomierechte und Privilegien zu versichern |▶ 32|. Die Bürger als Bauherren sahen sich stets in einer dreifachen Konkurrenz: innerhalb ihrer Kommune, im Wettstreit mit anderen Städten und als autonome Republiken um Gleichrangigkeit mit den Fürsten.
Das Rathaus von Amsterdam Palast der Republik
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s gibt Schlüsseljahre, die wie Brennpunkte historischer Entwicklungen erscheinen, in denen sich Jahrhundertereignisse ankündigen oder zum Abschluss gelangen. 1492 stieg Spanien zur Weltmacht auf, als Granada fiel und Kolumbus Amerika entdeckte. 1521 traten sich Kaiser Karl V. und Martin Luther in Worms erstmals gegenüber – die Bruchlinien innerhalb des westlichen Christentums waren seitdem nicht mehr zu kitten. 1648 wurde der bis dahin verheerendste aller europäischen Kriege beendet, der dreißig Jahre zuvor als innerdeutscher Religionskonflikt begonnen hatte und dessen Ende die Neuordnung der Machtverhältnisse Europas bedeutete. Auf dem Boden des ausgebluteten Reiches wurde ein Friedenswerk beschlossen, mit dem zwei alte katholische Führungs-
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mächte degradiert wurden und zwei andere an ihrer Stelle traten: Die Verlierer waren das Papsttum und Spanien, die Gewinner Schweden und Frankreich. Während die Vormachtrolle der Kriegsgewinnler ein Jahrhundert später von neuen Akteuren – England, Russland und Preußen – erneut relativiert wurde, fielen in Münster und Osnabrück sozusagen nebenbei auch Entscheidungen, die bis heute Gültigkeit haben: die Gründung zweier neuer, kleiner, aber selbstbewusster Staaten, der Vereinigten Niederlande und der Schweiz, die beide offiziell aus dem Verband ihrer bisherigen Großreiche ausschieden und nun international als vollwertige Rechtssubjekte anerkannt wurden. Spanien, das in den vergangenen 150 Jahren dank des aus Südamerika herausgepressten
Das Rathaus von Amsterdam
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Silbers als nahezu unüberwindlich galt, musste im Westfälischen Frieden nach achtzigjährigem Sezessionskrieg endgültig seine Ansprüche auf die sieben mehrheitlich protestantischen Nordprovinzen der Niederlande aufgeben. Wie die Schweiz verzichtete auch dieser neue Bundesstaat auf die in Europa sonst geradezu alternativlos erscheinende monarchische Verfassungsform, sondern begnügte sich mit der erblichen ‚Statthalterschaft‘ für die in den Unabhängigkeitskämpfen bewährte Familie Nassau-Oranien. Dies bot den einzelnen Bundesländern, hier ‚Provinzen‘ genannt, größtmögliche Autonomie und zugleich das Recht und die Verpflichtung, im Sinne vollgültiger Staatlichkeit nach außen zu repräsentieren. Die mächtigste Stadt der Provinz Holland und das nunmehr führende Handelszentrum der Welt, Amsterdam, sah sich daher geradezu verpflichtet, einen Palast zu errichten, der jedem Besucher bewies, dass diese Kaufmannsrepublik mit den konkurrierenden Königreichen durchaus mithalten konnte. Die spätere Nutzung des Gebäudes bestätigte diesen Anspruch: Seit 1808 dient das sog. Paleis op de Dam, wie das Amsterdamer Rathaus auch genannt wird, als temporäre, standesgemäße Nebenresidenz der in ihrem offiziellen Regierungssitz Den Haag eher bescheiden logierenden niederländischen Könige. Es gab in Europa um 1650 mindestens vier Kommunalbauten, deren Anspruchsniveau als vorbildlich erschien: das 1565 vollendete Rathaus der gerade auf die Plätze verwiesenen, konkurrierenden südniederländischen Metropole Antwerpen |▶ 31|, den Dogenpalast in Venedig |▶ 16|, Michelangelos römisches Kapitol |▶ 20| und das 1615–24 errichtete neue Augsburger Rathaus des dortigen Stadtbaumeisters Elias Holl (Baer 1985). Augsburg, heute nicht mehr als die drittgrößte Stadt Bayerns, hatte um 1600 als wirtschaftlich potenteste Handelsrepublik des Reiches Köln, Lübeck, Hamburg und Nürnberg überflügelt. Hier saßen die Fugger, die als
III. Schlüsselwerke
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‚deutsche Medici‘ durch Kreditvergabe unter anderem die Kaiserwahl Karls V. finanziert hatten. Bevor die den Italienhandel beherrschende Reichsstadt in den Strudel der Konfessionskämpfe geriet – keine der beiden Seiten konnte sich hier durchsetzen, so dass die Kommune ‚paritätisch‘ regiert wurde –, errichtete der Rat als einigendes, die Baukonjunktur ankurbelndes Gemeinschaftswerk einen riesigen, neungeschossigen Kommunalpalast ( □ vgl. 132 ), dessen Größe und Pracht nur mit der intendierten Nebenfunktion als potentieller Versammlungsort für den ‚Reichstag‘, das wandernde, zyklisch tagende deutsche Gesamtparlament zu erklären war. Leider kam es aufgrund der Kriegswirren nie mehr zu dieser Nutzung: Der Reichstag wurde nach 1648 im weit weniger bedeutenden Regensburg dauerhaft angesiedelt, aber das Augsburger Rathaus in seinen spröden, zugleich großartigen Renaissanceformen, dessen Programm nicht durch den Raumbedarf der kommunalen Verwaltung, sondern seine potentielle Würde als temporärer Ort einer Fürstenversammlung unter Leitung des Kaisers bestimmt war, hatte europäische Maßstäbe gesetzt. Amsterdam war gewillt, sie zu überbieten. Im Friedensjahr 1648 erhielt Jacob van Campen den Auftrag für den Rathausneubau, der ähnlich wie in Antwerpen das unansehnliche, historisch gewachsene Konglomerat eines gotischen Vorgängers ablösen sollte (Vlaardingerbroek 2011, S. 15–37). Der aus Haarlem gebürtige Architekt großbürgerlicher Herkunft war 1634 mit dem Bau eines kleinen, aber hochrepräsentativen Stadtpalais für Johan Maurits von Nassau-Siegen in Den Haag hervorgetreten (Bracker 1997, S. 133 f.). Der Bauherr war ein Verwandter der Statthalterfamilie und hatte als General unter anderem in Brasilien und Afrika den Kolonialbesitz der Niederlande vergrößert. Das heute als Museum Mauritshuis bekannte Gebäude übertrug den Typus einer frei stehenden, kubischen, palladianisch geprägten zweigeschossigen Villa |▶ 18| in den nordeuropäi-
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schen Kontext, indem ionische Kolossalpilaster aus Haustein mit Wandflächen in Ziegelmauerwerk kombiniert wurden: Während Inigo Jones’ Queen’s House bei London |▶ 44| mit seinen weißen Putzflächen und dem Flachdach die Andersartigkeit des Stilimports herauskehrte, erfand van Campen, der 1614–21 in Italien ausgebildet worden war, einen dezidiert niederländischen Palladianismus, dessen Formen- und Materialsprache sich auch sehr gut auf die ganz anders proportionierten Stadthäuser Hollands übertragen ließ |▶ 33|. Die architektonischen Details waren dagegen streng nach dem Vorlagenbuch des führenden venezianischen Architekturtheoretikers Vincenzo Scamozzi ausgeführt. Der 85 × 60 × 33 m mächtige Kubus des Rathauses (□ 115), das 1655 eingeweiht, aber erst 1665 vollendet wurde, ist im Grundriss durch zwei rechteckige Innenhöfe untergliedert, welche die direkte Belichtung auch der innen liegenden Räume erlauben. Der Außenbau zeigt, ähnlich dem Alhambra-Palast Karls V. |▶ 28|, zwei durch Kolossalpilaster (unten komposit, darüber korinthisch) zusammengefasste Doppelgeschosse über einem niedrigen Sockelgeschoss. Die Hauptfassade spiegelt die Binnenstruktur wieder: Zwei dreiachsige Eckrisaliten, ein siebenachsiger Mittelrisalit und zwei leicht eingezogene Rücklagen gliedern die Front in fünf Abschnitte, wobei die Mitte durch ein Dreiecksfrontispiz und einen Tempietto-Aufsatz als Glockenstuhl und Ersatz für den gotischen Rathausturm besonders hervorgehoben wird. Der Entwurf steckt voller nachweislicher oder mutmaßlicher Bezüge: Die fiktive Darstellung des Salomonischen
Tempels von Jerusalem durch den Spanier Villalpando, die wiederum vom Escorial beeinflusst war |▶ 9| (Lechner 1977); Palladios Rekonstruktion des römischen Forums nach Vitruv, die zuvor genannten Ratspaläste und Elemente der französischen Schlossbaukunst wie die Hervorhebung der Ecken als Pavillons mit höheren Walmdächern können hier genannt werden |▶ 35|. Die sieben Torbögen des Mittelrisalits dürften auf die ‚Sieben Provinzen der Generalstaaten‘, also die Niederlande anspielen. Neben der symbolischen und der repräsentativen war aber auch die funktionale Ebene zu berücksichtigen: So befindet sich im Sockelgeschoss des Mittelrisalits die Vierschaar, die bereits im Vorgängerbau vorhandene, zum Platz hin geöffnete Gerichtslaube. Die vielfältigen kommunalen Organe, darunter der Bürgermeister, verschiedene Ratsgremien, die Stadtkasse, die Waisenfürsorge, das Gefängnis, das Kommando der Stadtwache und die Wechselbank waren in einer großzügigen Folge von Sälen entlang der Außenwände beider Hauptgeschosse angeordnet. Die Mitte des Gebäudes, das sich wie eine Acht um die beiden Innenhöfe legt, ist dagegen ganz von zweigeschossigen, überwölbten Korridoren belegt, was dem hoch-
□ 115 Amsterdam, Rathaus, Modell von 1747, J. van Campen, 1648 – 65
Das Rathaus von Amsterdam
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242 □ 116 Amsterdam, Rathaus, sog. Bürgersaal, J. van Campen, 1648 – 65
modernen Funktionsschema des appartement semidouble entsprach: Alle Räume sind direkt und ohne wechselseitige Störung erreichbar. Im Zentrum des Gebäudes befindet sich der längsrechteckige Festsaal, der sogar vier Geschosse unter einem Tonnengewölbe vereinigt und beidseitig aus den Innenhöfen belichtet wird (□ 116). Ähnlich wie in Versailles |▶ 36| oder Würzburg |▶ 42| wird die gebaute Rhetorik des Gebäudes im gleichen Maße durch seine bildliche und skulpturale Ausstattung geprägt wie durch das architektonische Gerüst. Die Kostbarkeit und Fremdartigkeit der Materialien – Sandstein im Äußeren, weißer Marmor im Inneren – hebt das Rathaus unübersehbar aus dem städtischen Kontext hervor. Der Skulpturenschmuck wurde maßgeblich von Artus Quellinus, dem aus Antwerpen abgeworbenen, bedeutendsten niederländischen Barockbildhauer bestimmt: Das vordere Giebelfeld zeigt die Personifikation Amsterdams, eine junge Frau mit dem Stadtwappen, als Beherrscherin der Meere, und auf der Rückseite den ‚Welthandel‘ im Zentrum aller Kontinente, die ihre Waren herbeischleppen. Als Akrotere dienen die Darstellungen der Tugenden; eine Bronzefigur des Atlas, der die Weltkugel trägt, bekrönt den Giebel; Kaiserkronen schmücken die Eckpavillons, um an die
III. Schlüsselwerke
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Verleihung alter Privilegien aus der Zeit Karls V. zu erinnern (Goossens 2010, S. 30–45). In der Vierschaar werden in Marmorreliefs berühmte Urteilssprüche aus biblischer und antiker Überlieferung mahnend vor Augen gestellt. Trauernde Karyatiden, also Frauen aus der Stadt Karya, deren Gestalt nach einer von Vitruv (I.1) überlieferten Legende von den siegreichen Griechen als Architekturglieder nachgeahmt wurden, um auf immer an ihre Schande zu erinnern, tragen hier mit mitleidheischendem Ausdruck das Gebälk. Bekrönt wird dieser klassische Bildkanon durch ein Gemälde mit dem an dieser Stelle traditionellen Motiv des Jüngsten Gerichts, das der Architekt selbst anfertigte. Auch im Hauptgeschoss ist die Kombination aus wandfesten Ölgemälden und allegorischem Reliefschmuck prägend. Stolz präsentiert sich Amsterdam hier als Metropole der Malerei mit Werken der damals führenden Künstler wie Jordaens, Bol oder Flinck: Allein Rembrandts ‚Nächtliche Versammlung der Bataver unter Führung des Claudius Civilis’ gefiel offensichtlich nicht und ist heute nur noch als Fragment im Stockholmer Nationalmuseum erhalten. Die Themen der Wandbilder beziehen sich, anders als wenige Jahre später in Versailles |▶ 36|, nicht auf konkrete Ereignisse der unmittelba-
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ren Zeitgeschichte, sondern wählen die Verkleidung der historischen Analogie: So wird der Befreiungskampf der Niederlande gegen die Spanier umgedeutet in Tacitus’ Bericht vom (zumindest zeitweilig) erfolgreichen Aufstand der einstmals hier lebenden Bataver gegen ihre Besatzer, die Römer (Fremantle 1959, S 49–54). Biblische Themen wie der Sieg Davids über Goliath und Samsons über die Philister ergänzen das Programm. Es ist bezeichnend, dass der prachtvolle Hauptraum, in Augsburg Kaisersaal genannt, hier Bürgersaal heißt und dennoch oder gerade deshalb die Weltgeltung Amsterdams zum Thema hat. Auch hier ist der Atlas – Quellinus’ Gussmodell der Giebelfigur – als Träger des Himmelsgewölbes präsent. In den Marmorboden eingelassen finden sich drei Weltkarten: östliche und westliche Hemisphäre und die Sternbilder des nördlichen Himmels in der Mitte. Darstellungen der Elemente und Tugenden, der Planeten-Götter und der Allegorie des Friedens vervollständigen das Programm einer Aula, die man nach Vitruv als pilasterumstandenen ‚Ägyptischen Saal‘ und damit prächtigsten aller antiken Festräume klassifizieren kann.
Ähnlich wie in Augsburg und Venedig ist auch das Rathaus von Amsterdam weit mehr als ein Sitz der Stadtverwaltung: Es ist ein politischer Programmbau, der in der internationalen Sprache des Humanismus und Vitruvianismus den Anspruch der zunehmend unzeitgemäß erscheinenden Handelsrepubliken auf Gleichrangigkeit, auf ihren ‚Platz an der Sonne‘ in einer immer stärker durch zentralistisch regierte Großmächte geprägten Epoche anmeldet. War dieses Statement in Antwerpen noch in einem betont nordeuropäisch eingefärbten Renaissance-Dialekt erfolgt, in Venedig in trotzigem Festhalten an aus der Gotik übernommenen Bauschemata ablesbar, so zeigt sich die Weltläufigkeit Amsterdams in einem sozusagen akzentfreien, makellos dogmatischen Duktus, der als gleichwertiges Gegenmodell zum englischen Palladianismus, der französischen ‚Klassik‘ und dem in Italien und Deutschland bevorzugten Hoch- und Spätbarock gelten kann. Dieser ‚Palast der Republik‘ hat über viele Jahrhunderte und alle Regime- und Funktionswechsel hinweg nichts von seiner nationalen, republikanischen und quasi-monarchischen Symbolkraft eingebüßt.
Die Stadtanlage von Amsterdam Der Bürger als Stadtgestalter
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x bello pax (,Aus dem Krieg [entsteht] der Frieden‘; Motto der Amsterdamer Waffenfabrikanten Trip) Wenn das 20. Jh. als Zeitalter der Luft- und Raumfahrt und das 21. als das der weltumspannenden Datennetze gelten kann, so war die Frühe Neuzeit die Epoche des maritimen Welthandels. Aufstieg und Fall von Staaten hingen
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unmittelbar von der Gunst ihrer Seelage und den sich verändernden Warenströmen ab. Das erkannte auch Peter der Große, als er das ‚Fenster zum Westen‘ der vormaligen Landmacht Russland ausgerechnet an einem peripheren, aber eisfreien Zipfel der Ostsee eröffnete|▶ 34|. Die Ablösung Spaniens, der Vormacht des 16. Jh.s, durch England, das im 18. Jh. die Führung übernahm, war unter anderem eine Folge des
Die Stadtanlage von Amsterdam
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Übergangs der Seeherrschaft und damit des besseren Zugangs zu den Rohstoffen und Exportmärkten der außereuropäischen Kolonien. Die Eroberung Gibraltars und die Vertreibung der Franzosen aus Kanada und Indien bedeuteten vermutlich die entscheidenden Schritte zum Aufbau des weltumspannenden britischen Empires. Wo es Sieger gibt, gibt es auch Verlierer: Venedigs Abstieg folgte auf die Westverlagerung der Handelsrouten zum Atlantik. In den Niederlanden entschied zuletzt die Frage, ob eine Hafenstadt an einer Flussmündung oder einem Meerbusen lag, über Aufstieg und Fall unter den Metropolen Nordwesteuropas. Antwerpen, der bislang wichtigste Wirtschaftsmittelpunkt der südlichen katholischen Niederlande, war im achtzigjährigen Befreiungskampf der protestantischen Nordprovinzen durch die Sperrung seines Seezugangs, der Flussmündung der Schelde, ab 1565 systematisch stranguliert worden. Selbst in den kurzen Friedensperioden hatten die Vertreter Hollands stets darauf bestanden, diese Blockade unbedingt aufrechtzuerhalten, denn sie er zwang die Umlenkung der Warenströme nach Norden (Fremantle 1959, S. 27). Dort erstreckt sich das Mündungsdelta des Rheins in unmittelbarer Nähe der Zuiderzee (heute Ijsselmeer genannt), einer 100 km tiefen Meeresbucht der Nordsee, an deren Südwestspitze die zunächst mäßig bedeutende Hafenstadt Amsterdam lag. Namensgebend war der nur ca. 30 km kurze Wasserlauf der Amstel, die hier in die Zuiderzee-Bucht des Ij mündete. Die Stadt verdankte ihren Namen einem Damm, mit dem die Mündung der Amstel gefasst worden war und zu dessen beiden Seiten eine Siedlung entstand, die erst um 1300 Stadtrechte erhielt. Als Mitglied der Hanse wurde sie zum vorgeschobenen Endpunkt des Ostseehandels; diese kulturellen Verbindungen blieben über Jahrhunderte bestimmend, wie der Einfluss der Niederlande auf die Architektur des Baltikums und Skandinaviens belegt |▶ 10|.
III. Schlüsselwerke
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Die Stadterweiterungen erfolgten zunächst symmetrisch am Ost- und Westufer der Amstel; ein Querdamm teilte diese ab ca. 1400 in einen See- (Damrak) und einen Binnenhafen (Rokin). An der Amstelbrücke, genannt Dam, entstand das Stadtzentrum: östlich die Oude Kerk, westlich die Nieuwe Kerk mit dem Rathaus. Zwei bogenförmige Kanäle leiteten das Wasser des Flusses um die Stadt herum und formierten so deren Außengrenzen, die westlich mit einer Mauer gesichert wurden. Das Wachstum der folgenden Jahrhunderte verlief nach einem sich mehrfach wiederholenden Schema: Der vormalige Stadtgraben (singel) wurde zur Binnen-Wasserstraße (gracht), auf beiden Seiten bebaut und ein neuer Graben davor angelegt. Die Siedlung erhielt so die Gestalt eines U, dessen Außenlinien von mehreren parallelen Kanälen im Innern nachgezeichnet wurden. Jede neue Häuserzeile musste dem Marschland durch bis zu 18 m tiefe, aufwendige Pfahlrostgründungen abgetrotzt werden – daher der Beiname ‚Venedig des Nordens‘. Ein explosionsartiges Wachstum erlebte Amsterdam nach Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges, dem Verbot des katholischen und der Annahme des reformierten Glaubens durch die Stadtregierung 1585: Die Rückeroberung Antwerpens durch die Katholiken im selben Jahr führte dort zu einem Exodus aller Andersgläubigen, vor allem auch der großen, ursprünglich von der Iberischen Halbinsel stammenden jüdischen Gemeinde, die in Amsterdam tolerante Aufnahme fand und ihre spezialisierten Handwerkskünste wie Diamantschleiferei und internationale Handelsbeziehungen mitbrachte. 1602 wurde die Vereinigte Ostindische Kompanie installiert, welche den Handel mit Ostasien organisierte, z. B. dem 1619 gegründeten Batavia, heute Djakarta, die Hauptstadt Indonesiens: Die kleine, sich noch im Unabhängigkeitskrieg befindende ‚Republik der Generalstaaten‘ trat sofort als aufstrebende Kolonial- und Seemacht in direkte Konkurrenz zu Spanien und England.
245 □ 117 Amsterdam, Stadtplan mit den seit 1657 geplanten Erweiterungen des Grachtengürtels von 1612, gesüdet
In der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, als Deutschlands Bevölkerung sich halbierte, verdoppelte sich die Zahl der Einwohner Amsterdams nochmals von 100 000 auf 200 000. Hierdurch wurde ein ungeordnetes, behäbiges Wachstums nach dem bisherigen Prinzip der Jahresringe obsolet: Der Stadtrat bewilligte daher 1612 nach längerer Diskussion den Entwicklungsplan des Stadtzimmermeisters Hendrick Jacobsz. Staets, der die Fläche der Kommune nicht nur auf einen Schlag vervielfachen sollte, sondern geeignet erschien, ein systematisches, geordnetes und sozial-funktional differenziertes Wachstum über mehrere Jahrhunderte zu ermöglichen. 1657 wurde das Neubaugebiet östlich der Amstel erweitert und die Altstadt so mit der vermutlich ersten systematisch konzipierten Ringbebauung der Neuzeit umschlossen (□ 117). Das Projekt definierte drei in ihrer Nutzung und Gestaltung stark differenzierte Stadterweiterungszonen: Im Osten der Altstadt wurde der Seehafen großzügig ausgebaut. Im Westen und Süden erstreckte sich zwischen Ij und Amstel
eine tiefgestaffelte neue Siedlungszone, die von drei konzentrischen, Fluss und Bucht verbindenden Kanälen durchlaufen wurde, welche (von innen nach außen) Herren-, Kaiser- und Prinzengracht benannt und durch Radialkanäle mit der Innenstadt verbunden sind. Diese neue Vorstadt, in sich homogen und einheitlich parzelliert, wurde an private Investoren verkauft und von diesen nach strengen Vorgaben bebaut. Als Normgröße waren 26 Fuß Breite, aber 180 Fuß tiefe Grundstücke festgelegt, die somit von der Gracht bis zur Mitte des jeweiligen Blocks reichten. Die Haupthäuser sollten unmittelbar an den Uferstraßen entstehen und 160 Fuß Abstand bis zur Rückseite des gegenüberliegenden Hauses einhalten, so dass eine Bebauung von 56 % der Parzellen nicht überschritten würde. Hierdurch erreichten die Vorderhäuser eine erhebliche Tiefe, so dass die innen gelegenen Zimmer durch enge Lichthöfe (genannt open plaats) nutzbar gemacht werden mussten. Die weiten Abstände der Häuserzeilen dienten dem Brandschutz, aber auch der Anlage von groß-
Die Stadtanlage von Amsterdam
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zügigen, die Pracht und Gesundheit der Stadt befördernden streifenförmigen Privatgärten in den Hinterhöfen (Burke 1956, S. 141–153). Um das soziale Niveau der Neubauviertel einheitlich hoch zu halten, wurden geräuschund geruchserzeugende sowie feuergefährliche Gewerke im Grachtengürtel verboten. Für diese und die weniger wohlhabenden Zuwanderer war der dritte, nordwestlichste Stadterweiterungsbezirk, genannt Jordaan, reserviert: eine Verballhornung des französischen jardin, das auf die frühere Nutzung des Gebietes als Gartenanbaufläche verweist. Hier folgen die enger geführten Straßen noch der diagonalen Richtung der ursprünglichen Entwässerungsgräben, eine dichtere Bebauung und periphere Nutzungen wie Waisen-, Siechen- und Arbeitshäuser waren hier zugelassen. Vier neue reformierte Stadtkirchen, benannt nach den Himmelsrichtungen, entstanden nach Entwurf des Stadtbaumeisters Hendrik de Keyser, aber auch repräsentative Synagogen und eine lutherische Kirche durften im reformierten Amsterdam errichtet werden – eine Seltenheit im ansonsten auf religiöse Konformität bedachten Europa jenes Jahrhunderts (Ottenheym 2008, S. 46–63). Die planmäßige Anlage von Stadterweiterungen, finanziert durch private Investoren, findet sich auch in Monarchien wie England oder Frankreich. Dennoch zeigt die Stadtgestalt Amsterdams einen typisch bürgerlichen, sozusagen republikanischen Charakter: In Paris |▶ 38| und Bath |▶ 47| war die möglichst einheitliche, palastartig-geschlossen wirkende Rahmung großzügig freigehaltener Plätze das erstrebte Ideal: Die Vielzahl der Eigentümer verschwand hinter den z.T. schon vor dem Grundstücksverkauf errichteten Fassaden. Ziel war ein alle Bewohner gleichermaßen homogenisierendes und nobilitierendes, vom höfischen Bauen abgeleitetes Palastschema; Hauptanliegen blieb stets die Fassung des öffentlichen Raumes, der Verkauf der Parzellen war nur das Mittel zum Zweck, die edle Uniformität ein Werbeargument
III. Schlüsselwerke
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für private Investoren als Anreiz zur kollektiven Finanzierung vorher festgelegter Stadtbilder. Ganz anders in Amsterdam: Auf öffentliche Plätze, die den Profit geschmälert und von der Kommune selbst hätten finanziert werden müssen, wurde verzichtet. Die Normgröße der Parzellen legte eine bestimmte Fassadenbreite, meist drei Fenster, nahe. Auch die Höhe der Gebäude war mit drei oder vier Hauptgeschossen über einem hohen Souterrain und unter zwei Giebelgeschossen weitgehend normiert; die vorgegebenen Materialien, meist dunkel gefärbter Backstein, oft mit weißen Ornamenten und Gewänden um die möglichst großen Fensterflächen, wirkten ebenfalls vereinheitlichend. Dennoch wurde mehrheitlich Wert darauf gelegt, die Ablesbarkeit des giebelständigen Einzelhauses zu wahren. Nicht das Aufgehen in einem uniformen Gesamtorganismus, sondern eine wohlabgewogene Mischung aus Individualismus und republikanischer Gleichheit, ostentativem Wohlstand unter Wahrung der Vorgaben des Dekorums, erzeugte eine eigentümliche, unverwechselbare Stadtgestalt, die harmonisch, aber dennoch abwechslungsreich wirkt: strukturelle Äquivalenz auf hohem Niveau. Das Verstecken des privaten Reichtums hinter Schildmauern wie bei den Pariser hôtels |▶ 37| erschien in einer Welthandelsstadt ohne erzwungene Rücksichtnahme auf vorrangheischende Monarchen dagegen unnötig. Besonders deutlich wird dieser ‚Normalfall‘ an jenen wenigen Stellen, wo er demonstrativ außer Kraft gesetzt wurde. Die Brüder Trip, erfolgreiche Waffenhändler, erwarben zwei benachbarte Grundstücke am Kloveniersburgwal und beauftragten Justus Vingboons, einen der führenden Privatarchitekten Amsterdams, mit dem Bau eines Doppelhauses mit sieben (!) Fensterachsen und Kolossalpilastern, das die Anbringung eines gemeinsamen Mittelgiebels erlaubte. Das Vorbild des im Baujahr 1660 gerade fertiggestellten Rathauses |▶ 32| war hier unübersehbar – doch um die Gleichheit
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der Brüder zu wahren, wurde das mittlere als Blendfenster ausgeführt, weil die aus Brandschutzgründen vorgeschriebene Trennwand beider identischer Parzellen hier verlief (Bracker 1997, S. 139–143). Der berühmtere Bruder des Baumeisters, Philips Vingboons, löste gleichzeitig dasselbe Problem bei den sog. Cromhout-Häusern (benannt nach dem Bauherrn) an der Herrengracht weniger auftrumpfend, indem er vier formal einheitliche, in Proportion und Detaillierung aber differenzierte Sandsteinfassaden mit jeweils separaten sog. Halsgiebeln zu einer Reihe zusammenfügte (□ 118). Die in der Firstspitze montierten Kräne waren eine Übernahme aus jenen Zeiten, als die Dachgeschosse noch als Warenspeicher genutzt wurden. Dies war aber aufgrund des Bevölkerungsdrucks und der Bodenpreise im 17. Jh. nicht mehr wirtschaftlich: Da die schmalen Parzellen keine breiten Treppenhäuser zuließen, dienten die Seilzüge nun zum Transport größerer Möbel in die oberen Stockwerke. Drei der Häuser wurden vermietet, im vierten wohnte der Bauherr selbst. Auf der Rückseite fasste Vingboons in einem separierten Gartengebäude alle vier Parzellen zu einer dreizehnachsigen einheitlichen traufständigen
Fassade zusammen, was beim misstrauischen Kirchenrat der Stadt den Verdacht erweckte, der katholische Bauherr wolle hier ohne Genehmigung eine geheime Privatkirche für den in der Nachbarschaft wohnenden Bischof Zacharias von Metz einrichten: Das hätte die Toleranzgrenze der Welthandelsstadt freilich überschritten. 1671 erbaute der katholische Vingboons schließlich eine kleine Kirche seiner Konfession im Beginenhof, einer der wenigen geduldeten katholischen Exklaven in der Stadt, die sich aber nach außen (im Unterschied z. B. zur Synagoge) nicht als Sakralbau zu erkennen geben durfte (Ottenheym 1989, S. 75–109, 148f., 257 ff.). Wie faszinierend diese völlig neuartige, geordnete Stadtgestalt auf die Zeitgenossen wirkte, mag abschließend ein Auszug aus Philipp von Zesens „Beschreibung der Stadt Amsterdam“ von 1664 belegen: Aber auf diese drei letzten Graften schauen wir rund mit Bestürzung als in ein irdisches Paradies, als in einen großen Lustwald, mit so langen geraden Wasserströhmen durchzogen und mit so langen geraden Reihen überaus herrlich ausgeschmückter heuser die zuweilen als kleine Lustschlösser liegen. (Hier zit. nach Ottenheym 1989, S. 88 f.)
□ 118 Amsterdam, Herrengracht, sog. Cromhout-Häuser, P. Vingboons, 1660
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Städtebau: Schönheit der Regelmäßigkeit
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ie frühneuzeitliche Stadt (Benevolo 2007, S. 543–781) ist vor allem als Gegenbild zur traditionellen mittelalterlichen, ‚historisch gewachsenen‘ Siedlungsform zu verstehen. Einmal mehr war die bei Vitruv (I.4–7) überlieferte geometrisch-axiale, auf Rastergrundriss entwickelte Systematik der römischen Urbanistik das beherrschende Ideal. Der regelmäßig geordnete Plan erschien in jeder Hinsicht dem an den Vorgaben der Topographie und der ‚zufälligen‘ sukzessiven Entwicklung orientierten Stadtgrundriss überlegen: Er galt als gesünder, sicherer und besser beherrschbar. Die zeittypische Vorliebe für Normierung, Regulierung und Uniformierung sowie die klare Sichtbarmachung von Hierarchie und ordnender Hand wirkte hierbei bestimmend. Daher bevorzugte man bei Neugründungen eine möglichst neutrale, ebene Topographie. In vielen Fällen waren Brände und Kriegszerstörungen Auslöser für umfangreiche Stadtregulierungen, z. B. in London 1666.
Drei verschiedene Arten von Eingriffen waren vorherrschend (Hesse 2012, S. 207–242): Als Erstes die Anlage völlig neuer Planstädte |▶ 13, 34|, bevorzugt Themenblock · FesResidenzen oder Festungen ( tungsbau, S. 152), deren regelmäßiger Straßengrundriss wie in Karlsruhe (□ vgl. 14) oder Mannheim meist auf einen zentralen Platz oder ein Schloss ausgerichtet waren. Zweitens die systematische Stadt erweiterung durch sog. Vorstädte, die meist entlang vorhandener Ausfallstraßen als Annexe an den ummauerten Grenzen der Altstädte entstanden und sich durch eine andere, meist weniger restriktive Rechtsordnung, günstigere Grundstückspreise und dadurch offenere Bebauung unterschieden. Sie dienten oft zur Ansiedlung neuer Gewerke oder von Zuwanderern und erlaubten den Alteingesessenen die Übersiedelung in neue, bequemere, vorstädtische Häuser mit Gärten. Als dritte und häufigste Maßnahme findet man punktuelle gestalterische Eingriffe innerhalb bestehender Stadtstrukturen, die man als Regulierung
III. Schlüsselwerke
oder embellissement (Verschönerung) bezeichnete. Sie waren meist darauf gerichtet, vorhandene, unregelmäßige Strukturen so zu ersetzen, zu ergänzen oder zu überformen, dass sie als systematisch geplant und einheitlich gestaltet erschienen. Begradigte oder verbreiterte Straßendurchbrüche, die Plätze, Tore und bedeutende Bauwerke miteinander verbanden (□ vgl. 102), dienten der Verkehrsverbesserung und erhöhten das Ansehen der Regierung, welche die Verschönerung des Stadtbildes als genuine öffentliche Aufgabe verstand (Braunfels 1991). Sehr oft waren Straßen, Plätze und Vorstädte nach jenen Herrschern benannt, unter denen sie angelegt wurden (z. B. Via Giulia unter Julius II. 1508 in Rom, Friedrichstadt bei Berlin unter Friedrich III. 1688). Die Schaffung von Distanzzonen und weiten Blickachsen durch Abbruch störender Nachbarbebauung, um hierdurch Vorplätze für Kirchen (□ vgl. 36) oder Familienpaläste freizulegen, unterstrich die Bedeutung der hierdurch optisch hervorgehobenen ‚Prachtbauten‘ – daher wurde die real oft beengte innerstädtische Lage in zeitgenössischen graphischen Darstellungen gerne unverhältnismäßig geweitet. In den romanischen Ländern galten Kirchenfassaden als gesonderte Bauaufgabe unter primär städtebaulichen Aspekten und wurden oft zeitlich unabhängig vom Kirchenbau als separate Stiftungen errichtet. In Nordeuropa schätzte man Kirchen- und Stadttürme, manchmal auch Kuppeln als weithin sichtbare Wahrzeichen (□ vgl. 15). Dem Ideal der Regelmäßigkeit folgend, wurden bestehende oder neu zu errichtende Bauwerke oft mit Einheitlichkeit suggerierenden Fassaden verblendet (□ vgl. 12) oder (wie z. B. in Turin oder Bern) bestimmte städtebauliche Prinzipien, z. B. durchgehend die Straßen begleitende Arkaden, sog. Lauben, bindend vorgeschrieben. Platzecken oder -mitten sowie Torsituationen waren oft risalitartig betont, vorhan
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dene Bauten durch symmetrische Pendants ohne zwingende funktionale Notwendigkeit ergänzt. Um den neu angelegten Vorstädten die als repräsentativ empfundene Einheitlichkeit zu verleihen, wurden Normhaustypen vorgeschrieben, die zwar von privaten Bauherren realisiert, aber mit Steuerfreiheit und
anderen Vergünstigungen belohnt wurden. Bestimmte Baumaterialien (bevorzugt Stein), Gebäudehöhen, Dachformen, Hausabstände oder Parzellenbreiten waren (auch aus Gründen der Brandsicherheit) für alle Neubauten in bestimmten Zonen vorgeschrieben. Auch die Kolonialstädte Lateinamerikas folgen mehrheitlich dem Modell der Rasterstadt.
Die Stadtanlage von St. Petersburg Das Fenster zum Westen
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ermutlich hatte nur einer der Männer, die sich am 27. Mai 1703 auf der unwirtlichen Haseninsel am Nordufer des russischen Flusses Newa nahe seiner Mündung in die Ostsee versammelten, eine Ahnung von der zukünftigen Bedeutung jener Grundsteinlegung für die kleine Festung mit dem holländischen Namen „St. Pieterburch“. Es war der Namensgeber selbst, Zar Peter I. Romanow, der für eine Gruppe von Neugründungen an der alleräußersten Nordwestgrenze seines riesigen Reiches mit Bedacht deutsche statt russischer Benennungen wählte: Die vorgelagerten Festungen zum Schutz des Deltas erhielten die Namen Schlüsselburg und Kronstadt, der Hafen selbst wurde wenig später in „St. Petersburg“ umbenannt. Das bisher kaum besiedelte Gebiet an der russisch-finnischen Grenze war erst im Vorjahr der damals dominierenden Macht im Baltikum, dem Königreich Schweden entrissen worden. Es bot einen unschätzbaren strategischen Vorteil, nämlich den direkten, im Sommer eisfreien Zugang zur Ostsee und damit zu den Weltmeeren. Peter I. wollte hier aber mehr als einen Marinestützpunkt, Handelshafen, eine Grenzfestung oder ein lediglich symbolisches ‚Fenster nach Europa‘ eröffnen: Mit der ihm eigenen
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rücksichtslosen Konsequenz verlegte er im Jahr 1712 die Hauptstadt weg vom ‚Heiligen Moskau‘ an die äußerste Peripherie des aufstrebenden Russischen Reiches. Die Anlage neuer Residenzen als Gegenentwurf zu den alten Hauptstädten – man denke an den Escorial |▶ 9|, Versailles |▶ 36| oder Potsdam |▶ 43| – kann durchaus als zeittypische Strategie absolutistischen Regierens verstanden werden. Aber niemals wurde ein solches Projekt derart programmatisch und radikal ins Werk gesetzt, indem man sich anschickte, ganz Russland an diesem unter Einsatz von Zehntausenden Zwangsarbeitern aus dem Sumpfboden gestampften archimedischen Punkt als modernisierungswillige weltoffene Großmacht neu auszurichten. Nach dem Sieg über die Tataren war die russische Expansion um 1600 in der sog. Zeit der Wirren zunächst ins Stocken geraten. Der 1689 zur Regierung gelangte junge, ehrgeizige Zar Peter erkannte auf mehrjährigen Auslandsreisen, dass nur eine politische und kulturelle konsequente Westorientierung seines rückständigen Reiches dessen Anschluss an die Entwicklung der europäischen Staaten sichern konnte. Hierzu musste zunächst ab 1700 im zähen, zwanzigjährigen Ringen des ‚Großen
Die Stadtanlage von St. Petersburg
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□ 119 St. Petersburg, Stadtplan, Zustand ca. 1750
Nordischen Krieges‘ das seit einem Jahrhundert in Nordosteuropa dominierende Schweden ausgeschaltet werden. Gleichzeitig erfolgte eine Neustrukturierung der immer noch feudal rückständig geprägten russischen Gesellschaft, die in den ‚Petrinischen Reformen‘ mit provokativen Gesten wie dem Besteuern bzw. sprichwörtlichen ‚Abschneiden der traditionellen langen Bärte‘ ihr äußeres Zeichen fand. St. Petersburg sollte Einfallstor, Labor, Motor und Schaufenster dieser Transformation werden. 1721 manifestierte Peter den neuerworbenen Großmachtstatus seines Reiches, indem er für sich und seine Nachfolger den traditionellen Fürstentitel Zar durch Imperator, also ‚Kaiser und Selbstherrscher aller Russen‘, ersetzte. Die Anfänge St. Petersburgs waren beschwerlich und von erstaunlicher architektonischer Bescheidenheit geprägt. Der erste russische Ostseehafen sollte auf mehreren Inseln um den sich an dieser Stelle zum Delta verbreiternden Fluss entstehen (□ 119), wobei lange offen blieb, wo der Schwerpunkt der Ansiedlung liegen sollte. Das ‚Bacino‘ der Newa, welche sich nördlich und südlich der Basilius-
III. Schlüsselwerke
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insel in zwei Flussarme aufspaltet, war das eigentliche Zentrum der an drei Ufern sich entwickelnden Gründung. Diese ‚venezianische‘, von hohen Türmen beherrschte und durch zahlreiche Kanäle gegliederte Stadtgestalt auf mehreren Inseln an einer Meeresbucht |▶ 16, 17| war durchaus charakteristisch für die Metropolen des Ostseeraums wie Stockholm oder Kopenhagen. Peter ließ in den drei getrennten Siedlungskernen zunächst ohne klar erkennbare Priorität jeweils unterschiedliche Schwerpunkte anlegen. Keimzelle der nördlichen Haseninsel war die Peter-und-Paul-Festung, deren Kathedrale als zukünftige Grablege der Zaren mit ihrem 122 m hohen nadelspitzen Turm zum weithin sichtbaren Wahrzeichen der ganzen Stadt wurde. Hier stand auch die erste Behausung des Gründers, eine Blockhütte, die bis heute wie eine Reliquie der beschwerlichen Pionierepoche konserviert wurde (Hallmann 1967, S. 22). Der oberitalienische Hauptarchitekt dieser ersten Bauphase, Domenico Trezzini, vertrat eine nüchterne, an holländischem Pragmatismus orientierte, dezidiert mitteleuropäische Architektursprache, die alle Anknüpfungen an russische Traditionen vermied (Kahn-Rossi 1996). Auf dem gegenüberliegenden Südufer wurden gleich zwei Subzentren angelegt: im Osten der 1710 von Trezzini entworfene, an das bescheidene Kommandantenhaus einer Festung erinnernde sog. ‚Sommerpalast‘ des Zaren in einem gleichnamigen Garten (Chwidkowskij 1996, S. 21–29), im Westen das ab 1732 von Iwan Korobow errichtete Gebäude der Admiralität, das Russlands neuen Anspruch als Seemacht dokumentieren sollte und ebenfalls einen nadelartigen Turmhelm erhielt. Die westlich gelegene Basiliusinsel wurde zum Zentrum der Kultur und Staatsverwaltung bestimmt: Hier entstand ab 1724 die schnurgerade, 400 m lange Reihe der zwölf Kollegiengebäude nach dem Entwurf Theodor Schwertfegers: nüchterne dreigeschossige Kuben mit Mansarddächern, welche die neuorganisierte Zentralregie-
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rung des Gesamtstaates beherbergen sollten. Die dritte Höhendominante bildete ab 1718 der Turm der ‚Kunstkammer‘, einer dezidiert pädagogisch angelegten Mischung aus Kunstsammlung, Raritätenkabinett und Bildungseinrichtung, Keimzelle der späteren Russischen Akademie der Wissenschaften. Die Bauvorschriften dieser ersten Phase versuchten, sozial differenzierte normierte Typenhäuser und Steinbauten durchzusetzen, was ein regelhaftes, aber nüchtern-bescheidenes Stadtbild zum Ziel hatte (Egorov 1969, S. 10 f.). Aus dieser Periode haben sich nur wenige Beispiele wie z. B. das Palais des Zarengünstlings und Stadtgouverneurs Menschikow von ca. 1710 mit seinem originellen holländischen Kacheldekor erhalten (Chwidkowskij 1996, S. 34 – 43). Das kühne Projekt St. Petersburg wäre fast gescheitert, als der Enkel des Stadtgründers, Zar Peter II., 1728 die Hauptstadtfunktion wieder für wenige Jahre nach Moskau zurückverlegte. Erst seine Nachfolgerin Kaiserin Anna optierte 1732 wieder für die Stadt an der Newa und erließ 1737 den ersten offiziellen Gesamtbebauungsplan, der nun die südlichen Stadtteile als Zentrum definierte. Die großen, als Blickachsen konzipierten Straßen erhiel-
ten den sprechenden Namen „Prospekt“ (Per spektive). Bemerkenswerterweise verzichtete man zunächst auf ein dominantes kaiserliches Schloss als Zentrum der Stadtanlage, sondern richtete den für eine barocke Planstadt nahezu obligatorischen Straßendreistrahl auf den Turm der Admiralität aus, die so zum Mittelpunkt der sich auf dem Südufer allmählich herausbildenden Kernstadt wurde, welche durch den halbkreisförmig verlaufenden Fontanka-Kanal begrenzt war. Die östliche der drei Straßen, der sog. Newski-Prospekt, führte zum Unterlauf der Newa und dem Smolny-Komplex (□ 121), die westliche zur außerhalb der Stadt am Finnischen Meerbusen gelegenen prunkvollen Sommerresidenz Peterhof, ab 1723 zur Feier des Sieges über die Schweden errichtet, die mittlere nach Moskau. Als dritte Begründerin St. Petersburgs, die eine bis dahin eher spartanische Pionierstadt erst auf Augenhöhe anderer europäischer Metropolen erhob, kann die ab 1741 regierende Kaiserin Elisabeth I., eine Tochter Peters des Großen, gelten. In ihrer zwanzigjährigen Regierungszeit erweitertete, vergrößerte, ergänzte und ersetzte sie nahezu alle repräsentativen Gebäude aus der petrinischen Zeit. Erst un-
□ 120 Zarskoje Selo bei St. Petersburg, Katharinenpalast, Haupt fassade, F. B. Rastrelli, beg. 1751
Die Stadtanlage von St. Petersburg
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ter den Zarinnen erhielt der Winterpalast, die Stadtresidenz, welche sich östlich an das Admiralitätsufer anschloss, seine heutige monumentale Form als Vierflügelanlage. Architekt war ab 1754 Francesco Bartolomeo Rastrelli, einer jener für das 18. Jh. so typischen international ausgebildeten Baumeister, der 15-jährig mit seinem als Bildhauer tätigen Vater von Paris nach St. Petersburg übersiedelt war (Skodock 2006). Im Unterschied zu Trezzinis wenig origineller Architekturhaltung bemühte sich Rastrelli nun, eine genuin eigenständige, quasi ‚russische‘ barocke Formensprache zu entwickeln, die sich vor allem durch eine auffällige Buntfarbigkeit – weiße Architekturglieder mit goldenen Kapitellen auf blauem oder grünem Putzgrund – und ungewöhnlich kräftige, plastisch stark hervortretende Risalite, Giebel, verkröpfte Gebälke und Fensterumrahmungen auszeichnete. Die oft überlangen Fronten der Paläste wurden hierdurch wirkungsvoll rhythmisiert. Mit einer gewissen Unbekümmertheit setzte er, z. B. bei der ab 1751 realisierten Umgestaltung des Katharinen-Palastes, einer kaiserlichen Nebenresidenz im benachbarten Zarskoje Selo (‚Zarendorf‘), Atlanten zur Gliederung der Sockelzone ein (□ 120). Auch die Wiederaufnahme traditioneller Sakralbautypen wie der Kreuzkuppelkirche |▶ 14| mit vergoldeten Zwiebelhauben im 1748 begonnenen Smolny-Kloster an der Newa, von Elisabeth als ihr Altersruhesitz konzipiert (□ 121), bezeugen diese Suche nach einer (Re-)Nationalisierung der zunächst als Ausweis der Internationalität eingeführten barocken Formensprache (Chwidkowskij 1996, S. 102 ff.).
Elisabeths seit 1762 regierende Nachfolgerin Katharina II., genannt die Große, setzte zunächst auf Kontinuität, indem sie östlich des Winterpalastes ein kleines Privatrefugium mit angeschlossenem Theater, genannt Eremitage, anbauen ließ, das im 19. Jh. mit der Erweiterung Leo von Klenzes zum Kern des heutigen Museums zusammenwuchs. Wenig später leitete die wohl bedeutendste Herrscherin Russlands den von Westeuropa ausgehenden, mit der Aufklärung verbundenen stilistischen Umschwung ein |▶ 45, 49| und wurde so zur Initiatorin eines wiederum als ‚eigenständig russisch‘ verstandenen Klassizismus. Erster Vorbote des Geschmackswandels war das 1764–89 nach einem Entwurf von Jean-Baptiste Vallin de la Mothe und Alexander F. Kokorinoff erbaute, französisch geprägte Gebäude der Kunstakademie auf der Basiliusinsel. Die einige Jahre später aus dem Ausland berufenen Hofarchitekten der Zarin, Charles Cameron und Giacomo Quarenghi, importierten eine neue Stilhaltung aus England und Italien, den beiden ‚Stammländern‘ des Palladianismus. Das 1782–84 von Cameron errichtete Schloss des Kronprinzen Paul, Pawlowsks bei Zarskoje Selo, manifestierte den für das unter Katharina erneut reformierte Russland nunmehr prägenden Staatsstil. Mit der von Quarenghi ab 1783 geplanten Akademie der Wissenschaften auf der Basiliusinsel behauptete der neue Stil auch seinen Platz an der Newa. Zum 100. Stadtjubiläum wurde schließlich die gegenüberliegende Admiralität im nahezu identischen Umriss des barocken Vorgängers, aber nun in klassizistischen □ 121 St. Petersburg, Smolny-Kloster, Modell, F. B. Rastrelli, 1748 – 64
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Formen erneuert: Das Stadtbild häutete sich, hielt aber am ursprünglichen, entwicklungsträchtigen Konzept des dauerhaft geöffneten ‚Fensters nach Westen‘ fest. Katharina ehrte ihren Vorgänger, den Stadtgründer, mit der Errichtung eines 1782 vollendeten, originellen Reiterdenkmals durch den französischen Bildhauer Étienne-Maurice Falconet auf dem zum Fluss hin offenen Senatsplatz nahe der Admiralität. Im Unterschied zu den hier vorbildlichen, französischen PlaceRoyale-Anlagen (▶ 38) ist der Sockel dieses Monuments mit der lapidaren Inschrift Petro Primo Catharina Secunda nicht als architektonisches Postament, sondern als roher Felsblock gestaltet |▶ 26|, auf dem sich in der Levade, nur auf Hinterhufe und Schweif gestützt, mit seherisch
in die Ferne gerichtetem Blick der sog. Eherne Reiter erhebt. Wie zu erwarten, galoppiert der Zar auf das Newa-Ufer zu, also gen Westen. Seine Stadtgründung war das vielleicht kühnste und utopischste städtebauliche Projekt des 18. Jh.s: Architektur als Medium eines fundamentalen gesellschaftlichen und kulturellen Wandels, das die Neuorientierung eines Staatswesens nicht nur dokumentierte, sondern zugleich mit bewirkte. Was Filarete mit Sforzinda erträumte – die Erschaffung einer ganzen Stadt aus dem Nichts als ‚Kind‘ ihres ambitionierten Erbauers –, wurde 250 Jahre später am damaligen äußersten Rand Europas mit erstaunlich dauerhaftem Erfolg, Hartnäckigkeit, Weitsicht und unter Neuformulierung sich stets wandelnder, höchster ästhetischer Maßstäbe realisiert.
Der Louvre in Paris Die Wiege des grand goût
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in Auswahlkriterium für die hier vorgestellten ‚Schlüsselwerke‘ ist, dass sich in ihrer Errichtung oder Planung Entwicklungsschübe manifestieren, dass genau dort ein neues Kapitel der Architekturgeschichte aufgeschlagen wird. Der Pariser Louvre ist hierbei vielleicht das einzige Bauwerk, an dem sich solche epochalen Sprünge mehrfach festmachen lassen (als Einführung in die komplexe Entwicklung des Ensembles vgl. Beutler 1979, S. 67–89; Plan in Daufresne 1987, S. 14 f.). Beim Umbau des früheren Königspalasts an der Seine, der dem seit 1793 darin eingerichteten Museum den Namen gab, wurde gleich zweimal die französische Architektur neu erfunden – einmal in der Renaissance, einmal im Zeitalter des Barock. Der letztere Stilbegriff lässt sich jedoch auf Frankreich – im Unterschied etwa zu Italien,
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die iberische Welt und Mitteleuropa – nur sehr eingeschränkt anwenden. Man hat die Epoche des französischen Absolutismus daher mit anderen, mindestens ebenso missverständlichen Begriffen zu charakterisieren gesucht und vom âge classique gesprochen (Hautecœur 1943–57) – tatsächlich scheint jene Architektur, die von der um 1670 errichteten Ostfassade des Louvre abzuleiten ist, eher als eine frühe Spielart des Klassizismus, also einer reduktionistischen, dogmatischen und systematischen Gestaltungsweise auf Basis antikischer Formen. Die Stilhaltung der französischen ‚Klassik‘ beschreibt den geglückten Versuch, drei im Grunde widersprüchliche Ziele zu verbinden: die regelgerechte Anwendung des vitruvianischen Vokabulars, die Entwicklung einer eigenständigen, nicht von Italien abhängigen Disposition
Der Louvre in Paris
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dieser Formen und schließlich die Durchsetzung der hier gefundenen Lösungen als vorbildlich und modellhaft für ganz Europa. Der Leitbegriff dieser neuen Ästhetik ist ‚Geschmack‘ – dem europäischen Führungsanspruch des französischen Königtums gemäß musste sich dieser mit „Größe“ verbinden: le grand goût. König Franz I., der Erbauer von Chambord |▶ 8|, hatte ab 1527 den Mittelpunkt seiner Herrschaft von der Loire zurück in die alte Hauptstadt Paris verlegt. Der Louvre, an der westlichen Grenze der ehemals ummauerten mittelalterlichen Kernstadt am Nordufer der Seine gelegen, war bis dahin nur eine von mehreren, und nicht unbedingt die bevorzugte Stadtresidenz der Könige gewesen: eine nahezu quadratische Burganlage mit hohen Wehrmauern, Ecktürmen, Zinnen und einem runden, frei stehenden Donjon im Hof. 1546, ein Jahr vor seinem Tod, vergab der König an den Architekten Pierre Lescot den Auftrag, das Schloss nach bereits erfolgtem Abriss des Donjons durch die Neuerrichtung eines grand corps d’hôtel, eines großen Wohnflügels an der Südwestecke, partiell zu erneuern (Prinz/Kecks 1985, S. 465–479). Die künstlerische Bedeutung, welche dem Projekt postum als eine Art Unabhängigkeitserklärung der französischen Renaissancebaukunst zugesprochen wurde, spiegelt sich in einer Legende, nach der angeblich der in Frankreich lebende, bedeutende italienische Architekturtheoretiker Sebastiano Serlio selbst für den Entwurf seines einheimischen Konkurrenten statt für den eigenen plädiert habe (Ward 1976, S. 140). Vergleicht man die reich dekorierte Hoffassade Lescots (□ 122) mit derjenigen von Chambord und dem etwa gleichzeitig entstandenen Innenhof des Palazzo Farnese in Rom |▶ 19|, so wird ihre Innovationsleistung erkennbar. Chambord ist zwar hochoriginell, aber keineswegs zur Nachahmung oder Schulbildung geeignet: Dort fehlte wohl auch schon nach Meinung der Zeitgenossen bei aller Pracht entfaltung die Strenge, Systematik und formale
III. Schlüsselwerke
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Logik, welche die konsequente Anwendung des antiken Vokabulars eigentlich erfordert. Der in Frankreich beliebte phantasievolle skulpturale Schmuck musste in Einklang mit einer architektonischen Struktur gebracht werden, die variationsreich, aber in sich stimmig sein sollte. Die neunachsige, dreigeschossige (heute so g.) Lescot-Front kann als Nukleus der gesamten späteren ‚barocken‘ Fassadenentwicklung im Profanbau betrachtet werden. Während man im italienischen Palastbau noch auf eine Gleichgestaltung aller Achsen Wert legte, führte Lescot hier das zukunftsweisende System vor- und zurücktretender vertikaler Kompartimente ein, die man als Risalite – zwei an den Ecken, einer in der Mitte – und dazwischenliegende, jeweils dreiachsige sog. Rücklagen bezeichnet. Hinter dem nördlichen Seitenrisalit verbarg sich die Treppe zum Obergeschoss, deren Lage so nach außen kenntlich gemacht wurde. Die rigide horizontale Stockwerksteilung durch Gesimse oder Gebälke |▶ 28|, in Italien bis dato vorherrschend, wurde hier erstmals mit einem gleich starken, rhythmisierenden Gliederungsprinzip überlagert. Das italienische Motiv offener Arkaden im Erdgeschoss ist zitiert, aber auf die Tiefe einer Nische reduziert, hinter der sich direkt die weitgehend durchbrochene Wand anschließt. Die Rundbögen überschneiden hohe ‚französische‘ Fenster von etwas geringerer Breite und führen so, formal folgerichtig, aber quasi zufällig, den in Frankreich später vorherrschenden Segmentbogenabschluss ein. Die Fenster des ersten Obergeschosses sind wie am Palazzo Farnese (□ vgl. 83) mit alternierenden Dreiecks- und Segmentgiebeln in den Rücklagen sowie einer geraden Verdachung an den Risaliten bekrönt. Die Fensterachsen werden durch schlanke, flache, unten korinthische, darüber komposite Pilaster geschieden; an den Ecken der Risalite, welche um die Tiefe der Blendarkaden vor die Rücklagen treten, sind es Dreiviertelsäulen. Diese sind verdoppelt und flankieren einen schmalen Mauerstreifen mit einer Statu-
255 □ 122 Paris, Louvre, Cour Carré, sog. Lescot-Flügel, beg. 1546
ennische, so dass jeder Risalit in sich wiederum eine A-B-A-Rhythmisierung aufweist, die an die Gliederung von Triumphbögen erinnert, wie sie z. B. Alberti bei S. Andrea in Mantua (▶ 3) auf den Sakralbau übertragen hatte. Wie bei der dortigen Kirchenfassade springt die Öffnung der Mittelachse zwischen zwei rahmenden Pylonen zurück – das Gebälk zwischen Erd- und Obergeschoss ist nur an dieser Stelle markant unterbrochen. Jene Betonung des Zentrums, die an den römischen Fassaden des Gesù, des Palazzo Farnese und des Konservatorenpalastes |▶ 20, 22| so unorganisch erscheint, gelingt hier durch ein unauffälliges Zurücktreten, ein subtil ponderiertes Spiel von ineinander verwobenen Vertikalen und Horizontalen, geschichteten Wandebenen, großen Öffnungen und geschickt distribuiertem Dekor. Die seit der Gotik geschätzte Dominanz der Vertikalen, Eleganz, Systematisierung und Leichtigkeit als typische Charakteristika französischer Architektur werden hier in vollkommener und ungezwungener Weise ins Vitruvianische übersetzt. Das zweite Obergeschoss, eigentlich die Attikazone, ist reich mit figürlichen Reliefs des mit Lescot eng zusammenarbeitenden Bildhauers Jean Goujon dekoriert, aber deutlich niedriger als die beiden Hauptgeschosse darunter, so dass hier erstmals eine klare Hierarchie der Etagen entsteht. Die Risalite greifen durch Segmentgiebel über das
eher schwache Abschlussgesims hinaus und unterstreichen hierdurch die Prägekraft der drei betonten Achsen für die Gesamtkomposition. Ein Beleg für die anhaltende Bewunderung der Lescot-Fassade ist, dass man im folgenden Jahrhundert, als der ursprüngliche enge Louvrehof zur Größe der heutigen Cour Carrée vervierfacht wurde, deren Gestaltung einfach spiegelte und die beiden so gewonnenen identischen Flügel wiederum an einer neuen Symmetrieachse ausrichtete, die durch den sog. Pavillon d’Horloge Jacques Lemerciers (um 1624) gebildet wird (□ 123, oben Mitte). Um die Vertikale als Mittenbetonung zu stärken, setzte der Architekt hier ein viertes, wiederum höheres Geschoss, dekoriert von Karyatiden und bekrönt von einem Haubendach auf. Diese turmartige Steigerung des Risalits zum eigenen Baukörper, Pavillon genannt, ist charakteristisch für die französische Profanbaukunst und ihr Umfeld |▶ 31, 32, 42|, während die Betonung der Horizontalen durch flache Dächer, stark vorspringende Kranzgesimse und figurenbekrönte Balustraden für Italien bestimmend blieb |▶ 16, 25, 36|. Zu einem erneuten künstlerischen Kräftemessen dieser beiden Nationen kam es im Jahr 1664, als die Ostfront des erweiterten Louvrehofes, also die eigentliche Hauptfassade zum
Der Louvre in Paris
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256 □ 123 Paris, Louvre, O stfassade, C. Perrault u. a., beg. 1667
alten Stadtkern hin, neu gestaltet werden sollte (Petzet 2000, S. 7–331). Jean-Baptiste Colbert, der neuernannte ‚Bauminister‘ (surintendant des bâtiments) des Sonnenkönigs, forderte offiziell Konkurrenzentwürfe zu dem in seinen Augen ungenügenden, zu sehr an der kleinteilig-additiven Struktur der cour carrée orientierten aktuellen Projekt des Hofarchitekten Louis Le Vau |▶ 37| und lud hierzu auch die führenden Architekten Italiens ein. Man entschied sich schnell für den berühmtesten Künstler Roms, Gianlorenzo Bernini, und bat ihn nach Vorlage eines ersten, noch nicht befriedigenden Entwurfes zu einem mehrmonatigen Arbeitsbesuch nach Paris. Während Colbert gegenüber den insgesamt drei Entwürfen Berninis vor allem aus praktisch-funktionalen Gründen skeptisch blieb – er bemängelte u. a. die für das nordalpine Klima ungeeigneten Flachdächer und verschattenden Arkaden sowie die ‚Sicherheitslücken‘ einer allzu großzügig sich öffnenden Stadtfassade –, zeigte sich Ludwig XIV. begeistert vom dritten, eher monumental-spröden Vorschlag und verabschiedete den Römer nach erfolgter Grundsteinlegung mit allen Ehren.
III. Schlüsselwerke
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Ein diplomatischer Triumph des Papsttums, das seine kulturelle Führungsrolle (scheinbar) ein weiteres Mal bestätigt sah. Vor allem Berninis erster Entwurf (□ 124, oben) kann als Meilenstein der Fassadenkunst gelten. Statt einer geraden, additiv in kleinteilige Kompartimente aufgelösten Front schlägt er eine fünfteilige, zwischen kastenartigen Eckrisaliten konkav einschwingende zweigeschossige Kolonnade vor, deren Zentrum um einen ovalen Saal herum und von einem kronenartigen Tambour überhöht wieder konvex hervortreten sollte. Die zweite, etwas beruhigtere Variante (Mitte) nimmt diesen Gegenschwung zurück und fügt ein geschlossenes, rustiziertes Sockelgeschoss hinzu. Die dritte und die nur leicht abweichende, sog. vierte Ausführungsvariante (unten) wirken dagegen vergleichsweise uninspiriert und orientieren sich an konventionellen römischen Palastschemata, sind aber durch originelle Details wie einen Wassergraben belebt, aus dem sich der Sockel des Palastes als künstlicher Felsen nach Art des Vierströmebrunnens auf der römischen Piazza Navona |▶ 26| hätte erheben sollen.
257 □ 124 Gianlorenzo ernini: Drei Entwürfe B für die Ostfassade des Pariser Louvre, 1664 – 65 (nicht realisiert)
Kaum war Bernini abgereist, regte sich Widerstand unter der brüskierten französischen Architekturelite, die meinte, besser zu wissen, welche Architektur nach Paris und zu ihrem König passe. Colbert gründete 1667 einen mit Le Vau und dem Hofmaler Le Brun prominent besetzten Bauausschuss, den Petit Conseil du Louvre, in dem anscheinend ein hochgebildeter, in der Architekturtheorie versierter Laie, der Mediziner Claude Perrault, die entscheidenden Vorschläge einbrachte. Der Gegenentwurf des Kollektivs, der schließlich realisiert wurde (□ vgl. 123), adaptierte bestimmte Elemente Berninis – wie das Flachdach, die Fünfteilung, das hohe Sockelgeschoss über dem Wassergraben und das Motiv der Kolonnade –, setzte diese Elemente aber ganz anders, kompositionell strenger und zugleich leichter, also weniger massiv-geschlossen um. Die entscheidende Differenz lag in der Disposition der Kolossalsäulen: Während Bernini sie stets nur in Kombination mit Arkaden oder als plastischen Wandschmuck verwenden wollte, bestand Per-
rault, der in jenen Jahren Vitruv übersetzte, illustrierte und kommentierte (□ vgl. 25), auf einer regelkonformen, dem antiken Ideal gemäßen, d. h. frei stehenden Säulenreihe. Zugleich sollte ein genuin französisches Königsschloss aber auch der seit der Gotik bestehenden Vorliebe für schlanke, weitgespannte, transparente Konstruktionen entsprechen. Um Monotonie zu vermeiden und die Interkolumnien zu weiten, ‚kuppelte‘ man jeweils zwei korinthische Säulen zusammen und erzeugte so – ähnlich wie Lescot ein Jahrhundert zuvor – einen spannungsvollen A-BB-A-Rhythmus. Allerdings waren derart weite Achsabstände nicht mehr mit monolithischen Gebälken zu überdecken – Perrault entwickelte ein technisch hochinnovatives System aus sog. scheitrechten Bögen und in der Gebälkzone versteckten eisernen Zugankern, die ein Ausweichen der Säulen verhinderten. Das Zentrum der Kolonnade bildete eine Kombination aus Triumphbogen- und Tempelgiebelmotiv. De facto handelte es sich um die einzige Öffnung der Fassade, deren Transparenz
Der Louvre in Paris
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lediglich vorgespielt war, denn die Rückwand des Säulenganges blieb geschlossen: Da der König in jenen Jahren die Hauptstadtfunktion nach Versailles |▶ 36| verlegt hatte, wurden die ursprünglich geplanten Prunkräume hinter der prächtigen Front nicht benötigt und erst im späten 18. Jh. für die Museumsnutzung ausgebaut. Der eigentliche Zweck der aufwendigen Fassade bestand darin, mithilfe des Palastes den real abwesendenden königlichen Bauherrn in seiner bisherigen Residenz präsent zu halten. Die demonstrativen Tempel-Allusionen Perraults – Säulenperistyl und Dreiecksgiebel (□ vgl. 26) – verweisen auf eine zeitgenössisch belegte Deutung des Palastes als ‚Haus des Apollon Palatinus‘: eine Anspielung auf jenes Heiligtum, das Augustus in der Antike dem Sonnengott beim Bau der späteren Kaiserresidenz auf dem Palasthügel Roms errichtet hatte (Petzet 2000, S. 65 f., 161). Hierin manifestiert sich die in jenen Jahren innerhalb der querelle
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des anciens et des modernes genannten Debatte (vgl. S. 72) entstehende Idee, dass Frankreichs künstlerische Innovationskraft nicht nur das heutige, sondern auch das antike Rom übertreffen könne – ein damals heiß umstrittenes, in seinem Anspruch geradezu unerhörtes ästhetisches Fortschrittsmodell. Trotz seiner Funktionslosigkeit war der Louvre eines der einflussreichsten Projekte der Epoche: Der nicht realisierte, aber von Jean Marot um 1670 in seinem Stichwerk aufwendig publizierte dritte Entwurf Berninis wurde zum vielrezipierten Vorbild, z. B. für die um 1700 begonnenen Königspaläste von Stockholm (Nicodemus Tessin d. J.), Berlin (Andreas Schlüter) oder Madrid (Filippo Juvarra). Zugleich kündigte der Ausgang dieser Pariser Konkurrenz die Ablösung Roms als normative Instanz der europäischen Architektur an. Das 18. Jh. sprach und baute in weiten Teilen Europas bevorzugt französisch – der grand goût begann seinen Siegeszug.
Schloss, Kapelle und Garten von Versailles Die Residenz als Bild der Monarchie
F
ür etwas mehr als 100 Jahre, genauer gesagt von 1682 bis 1789, hieß die französische Hauptstadt de facto nicht Paris, sondern Versailles, und das mit gutem Grund. Die offizielle Verlegung des Regierungssitzes war die logische Konsequenz und formalrechtliche Umsetzung eines politischen Programms, das seinen äußeren Rahmen in einem Bauvorhaben fand, das in allen Nachbarländern höchste Beachtung und eine unübersehbar dichte Nachfolge auslöste. So ist z. B. die Gründung St. Petersburgs |▶ 34| und die folgende Erhebung zur Hauptstadt Russlands ohne dieses Vorbild
III. Schlüsselwerke
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nicht denkbar. In seiner Funktion als steingewordene Anmeldung eines europäischen Führungsanspruchs ist das Projekt Versailles in der Frühen Neuzeit nur mit einem einzigen ähnlich ambitionierten, allerdings sakralen Bauwerk zu vergleichen, der römischen Peterskirche |▶ 21, 25|. Der traditionelle Stammsitz der französischen Monarchie war der Pariser Louvre, der in den Jahren um 1665 unter der Leitung des Premierministers Colbert gerade seiner baulichen Vollendung entgegenging |▶ 35|. Es war durchaus üblich, dass der König in der näheren
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und weiteren Umgebung zusätzlich mehr oder weniger aufwendige Jagd- und Lustschlösser errichtete, in denen er sich temporär aufhielt, die jedoch keine staatspolitische Funktion einnahmen |▶ 8|. Im politisch unruhigen Jahrhundert zuvor hatte sich Paris aber als gefährliches Pflaster erwiesen: Heinrich IV. war dort 1610 von einem religiösen Eiferer auf offener Straße ermordet worden, seine Schwiegertochter Anna von Österreich, die Witwe Ludwigs XIII., konnte 1649 nur mit großer Mühe einen Adelsaufstand, die sog. fronde, niederringen. Immer wieder hatten mächtige Kardinäle im Ministerrang wie Richelieu und Mazarin für Jahrzehnte die informelle politische Vorherrschaft an sich gezogen. Ludwig XIV., der 1661 nach erlangter Volljährigkeit die Alleinherrschaft übernahm, war gewillt, die innenpolitische Unabhängigkeit und außenpolitische Hegemonialstellung des französischen Königtums endlich unanfechtbar zu machen – er gedachte, das weltpolitische Erbe Spaniens anzutreten, das im sog. Pyrenäenfrieden von 1659 seine europäische Vormachtrolle endgültig an Frankreich hatte abtreten müssen. Der junge König beschloss 1668, ein von seinem Vater Ludwig XIII. ab 1631 errichtetes, bisher wenig bedeutendes Jagdschloss |▶ 10| 20 km südwestlich von Paris zum weithin sichtbaren Zentrum eines neuartigen, allein auf die Person des Königs ausgerichteten Herrschaftssystems auszubauen: Sein Ziel war es, den Hof von der unberechenbaren Hauptstadt weg an einen nach seinen Regeln geplanten und leicht kontrollierbaren Ort zu verlegen. Dieses neue Regierungszentrum sollte zugleich zum künstlerischen Modell werden, um z. B. durch die gezielt geförderte graphische Publikation der neuen Schlossanlagen die Bewunderung und den Neid aller konkurrierenden Monarchien zu erregen. Die Erfindung des ‚Modells Versailles‘ war Teil eines umfassenden Regierungsprogramms, flankiert von kulturellem Hegemonialstreben, militärischer Expansion und sog.
merkantilistischer Wirtschaftsförderung, das ganz Europa von der Überlegenheit Frankreichs überzeugen sollte. Als äußerer Ausdruck und architektonisches Denkmal dieses neu verkündeten Anspruchs auf Universalmonarchie wurde nun eine Regierungszentrale errichtet, die das Vorbild des spanischen Escorial (▶ 9) überbot (Pérouse de Montclos 1996). Wie sehr Ludwig XIV. beim Ausbau von Versailles die familiäre Traditionspflege mit einem völlig neuen, expansiven Gestaltungswillen verband, belegt das Konzept, die ursprüngliche Dreiflügelanlage seines Vaters zu erhalten und als Herzstück in ein viel größeres Schloss zu integrieren, das sich wie ein ‚Umschlag‘ – Enveloppe – um den Altbau legen sollte. Die Keimzelle der neuen Residenz erhielt, abgeleitet von ihrer kostbaren Marmorpflasterung, den Namen Cour de Marbre und diente bei Hoffesten mehrfach als Bühne, auf welcher der König selbst als begabter Tänzer in prächtigen Ballettaufführungen brillierte. Versailles (□ 125) stellt typologisch ein ins Riesenhafte vergrößertes hôtel entre cour et jardin |▶ 37| dar: Auf der Paris zugewandten Ostseite befindet sich die regelmäßig angelegte kleine Vorstadt, ein Straßen-Dreistrahl mündet zwischen prächtigen konkaven Stallgebäuden vor einem schmiedeeisernen Gitter, hinter dem sich eine sehr tiefe, mehrfach gestufte Dreiflügelanlage öffnet. In der Mitte befindet sich das sog. Corps de Logis mit den repräsentativen Haupträumen im ersten Obergeschoss, die man über eine (bereits 1752 wieder zerstörte) prunkvolle Treppe, den sog. Escalier des Ambassadeurs, im nördlichen Seitenflügel erreichte (□ 126, t). Auf der Westseite schließt sich ein Garten an, der mit seiner kilometerlangen zentralen Achse bis zum Horizont zu reichen scheint. Die Gartenfassade des Enveloppe (□ 127), die nach der Verlegung des Hofes in ihrer Länge auf über einen halben Kilometer verdreifacht wurde, zeigt im Vergleich mit der bewusst altertümlich in Ziegel und Haustein
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belassenen Stadtfassade bereits die Innovationen der Diskussion um die Louvre-Ostfront: Die traditionellen hohen französischen Dächer, die noch den Ehrenhof prägten, werden nun durch Flachdächer hinter Balustraden ersetzt. Das Erdgeschoss besitzt Rundbogenarkaden in bandrustizierten Kalksteinwänden, im Hauptgeschoss darüber öffnen sich die Bögen zwischen Pilastern. Risalite werden nur durch kurze vorgestellte Kolonnadenabschnitte mit Vollsäulen angedeutet, während das abschließende Attikageschoss glatt durchläuft: eine beruhigte, feierliche, auf die schier endlose Wiederholung weniger Motive beschränkte serielle Architektur, die von Louis Le Vau |▶ 37| 1668 entwickelt und ab 1681 von seinem Nachfolger Jules Hardouin-Mansart |▶ 38| bruchlos fortgesetzt wurde (Hesse 2004, S. 72–86). Die meisten Staatswesen der Frühen Neuzeit waren von komplizierten, historisch ge-
□ 125 Versailles, Plan der Gesamtanlage mit Park, Schloss und Stadt, 1714, gewestet
III. Schlüsselwerke
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wachsenen politischen Mitspracherechten des Hochadels, etatbewilligender Ständevertretungen und dem Einfluss der Kirche geprägt. Ludwig XIV. ersetzte dieses komplexe System durch ein neues, auf seine Person konzentriertes Leitbild, das nach dem Modell des um ein Zentralgestirn kreisenden Planetensystems gebildet sein sollte – daher wählte er als persönliches Emblem die Sonne, deren Gott Apollo in Schloss und Park immer wieder als Identifikationsfigur auftaucht. So ist in einer Skulpturengruppe des Gartens das Bad des Sonnengottes dargestellt, in einem Brunnen sein Aufbruch zur Fahrt im Himmelswagen. Die Hauptraumfolge des Obergeschosses im Corps de Logis war in der ersten Bauphase nach dem Vorbild des Palazzo Pitti |▶ 4| – Ludwigs Großmutter war eine geborene Medici – den einzelnen Planeten gewidmet (□ vgl. 126, a – d).
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□ 126 Versailles, Schloss, Corps de Logis, Grundriss des zentralen
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Hauptgeschosses, Zustand ca. 1700
In den verschiedenen Um- und Ausbauphasen von Versailles spiegelt sich das im Wandel befindliche Selbstverständnis des königlichen Bauherrn, der sich in seinem Schlossbau gleichsam selbst porträtiert. Zunächst zeigte die Gartenseite zwei vorspringende Kopfbauten (e, g) mit einer dazwischen eingelegten Terrasse, welche die Wohnappartements des Königspaares und damit die Dualität zwischen dem Monarchen und seiner Gattin Maria Theresia aus der spanischen Habsburgerfamilie ausdrücken sollte. 1678 überbaute man die Terrasse mit einer 75 m langen Galerie, die von dem Maler Le Brun ausgestattet wurde |▶ 36| und wegen ihrer zahlreichen, von der Leistungsfähigkeit der französischen Spezialmanufakturen zeugenden Spiegel Galerie des Glaces genannt wurde ( f). Sie verband den ‚Kriegssaal‘ der Königsseite (e) mit dem gegenüberliegenden ‚Friedenssaal‘ seiner Gattin (g). Für das Bild-
programm wurde nun aber nicht mehr die allegorische Verkleidung gewählt, sondern die militärischen Erfolge des Königs – Eroberungsund Verwüstungskriege gegen die Niederlande und das Reich – werden ganz unverhüllt in Historiendarstellungen gefeiert. Nach dem Tod der Königin 1683 richtete Ludwig auf der Südseite des Marmorhofs ergänzend sein Privatappartement ein. 1701 schließlich verlegte er sein offizielles sog. Paradeschlafzimmer, eigentlich ein Audienzraum für die zeremoniell als ‚Aufstehen‘ und ‚Zu Bett gehen‘ (coucher et lever) gestaltete, zweimal tägliche obligatorische Versammlung des Hofes, ins Zentrum der gesamten Anlage (s), die nun nachträglich auf das königliche Prunkbett ausgerichtet schien, das durch einen Baldachin und eine Balustrade quasi sakral überhöht war. Selbst im Schlaf war der Roi soleil das Zentralgestirn seines Reiches.
Schloss, Kapelle und Garten von Versailles
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□ 127 Versailles, Schloss, Gartenfassade des sog. Enveloppe, L. Le Vau u. A. Le Nôtre u. a., beg. 1668
Der alternde Monarch, der erst 1715 nach 72-jähriger nomineller Regierungszeit von seinem Urenkel Ludwig XV. beerbt wurde, wandte sich erst in seinen letzten Lebensjahren wieder verstärkt der Religion zu. Deshalb errichtete Jules Hardouin-Mansart ab 1699 endlich eine seit zehn Jahren geplante, dem Rang des Schlosses angemessene Hofkapelle ( k ), deren etwas zufällig wirkende periphere Lage an der Hofseite des nördlichen Seitenflügels sehr deutlich von der reduzierten Bedeutung spricht, welche die katholische Kirche im Vergleich mit Spanien |▶ 9| in diesem monarchischen Konzept einnahm. Dennoch gelang hier ein eindrucksvolles Bauwerk, das die als typisch französisch gedeuteten formalen Innovationen der Louvre-Ostfront Perraults |▶ 35| mit dem traditionellen Konzept einer mehrgeschossigen Palastkapelle in der Nachfolge des Aachener Münsters oder der Pariser Ste-Chapelle verband ( □ 128 ). Am Außenbau verweisen hohe schmale Fenster und Strebebögen auf ‚gotische‘ Prinzipien des Skelettbaus; im Inneren erhebt sich über einer Pfeilerarkade eine äußerst luftige korinthische Kolonnade mit gerade durchlaufendem Gebälk: Sie bezeichnet mit dieser überhöhten Empore den hervorgehobenen Platz des Königs beim Gottesdienst.
III. Schlüsselwerke
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Das Gewölbe über dem Mittelschiff wurde als freskierte Stichkappentonne ausgeführt – eine dezente Reminiszenz an den überbordenden römisch geprägten Sakralbarock jener Jahre |▶ 22|. In ihrer Mischung aus klassischer Ruhe, konstruktiver Kühnheit und Klarheit, Transparenz und antikennaher Eleganz löste die von Robert de Cotte 1710 vollendete Kapelle in Versailles endlich ein, wonach die Protagonisten der französischen Sakralbaukunst seit St-Eustache |▶ 11| so lange gesucht hatten: die Versöhnung und bruchlose Verschmelzung traditioneller ‚nationaler‘ Raumideale und vitruvianischer Formen – eine Überbietung italienischer Vorbilder, welche für das folgende Jahrhundert zum Ideal und Maßstab werden sollte |▶ 49|. Noch eindrucksvoller als das Schloss verbildlichte der stets öffentlich zugängliche riesige Park das Staats- und Weltbild, welches in Versailles demonstriert werden sollte; der hier perfektionierte sog. Französische Garten sollte für ein halbes Jahrhundert zum nahezu konkurrenzlosen Modell werden (Brix 2009). Der König selbst verfasste den ersten Parkführer und gab sich somit als eigentlicher Schöpfer zu erkennen. Die Planung stammte vom Hofgärtner André Le Notre, der die aus italienischen
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Gärten übernommenen geometrisch geschnittenen Bosketts und Parterres in eine neue, die gesamte umgebende Landschaft diesem Konzept unterwerfende Weitläufigkeit überführte. In die Erde versenkte, nach Süden geöffnete, gewölbte Orangerien erlaubten die saisonale Unterbringung seltener Kübelpflanzen, die sonst nördlich der Alpen nicht dauerhaft hätten gedeihen können. Die entscheidende gestalterische Rolle kam aber dem Wasser zu, das in stets wechselnden, vielseitigen Inszenierungen – als hochaufsteigende Fontäne oder als kanalartig ruhiges, spiegelndes, kreuzförmiges Bassin – in Verbindung mit Skulpturen und Kleinarchitekturen stets neue Assoziationen zur ordnenden und belebenden Wirkung des gottgleichen Herrschers herstellte. Dieses Wasser war in Versailles ursprünglich gar nicht vorhanden, sondern sollte nach römischem Vorbild |▶ 26| über aufwendige (niemals vollendete) Aquädukte mit Pumpen unter immensen Kosten und dem Einsatz von bis zu 30 000 Arbeitern erst aus dem Fluss Eure herbeigeschafft werden: Selbst die an dieser Stelle ursprünglich eher öde und karge Natur wurde durch die gestalterische Kraft des Monarchen zu überlegener Kultur veredelt – eine Staatsund Naturphilosophie, welche die Eliten politisch anders orientierter Staaten wie die Engländer zum Widerspruch reizen musste |▶ 46|. Die Überspanntheit dieses Konzeptes wurde auch seinen Erfindern allmählich bewusst. So drängte der König auf die Schaffung scheinbar ‚privater‘ Reservate, in denen der permanente Hauptakteur staatlicher Macht in den Status größerer Intimität wechseln konnte – ein seit der italienischen Renaissance geläufiger, alternativer Modus fürstlicher Selbstinszenierung. Scheinbar informelle Villenanlagen wie der Palazzo del Te in Mantua |▶ 5| könnten als Vorbilder für das sog. Trianon de Marbre gedient
haben, das sich Ludwig XIV. ab 1678 als Rückzugsort für die Zweisamkeit mit seiner offiziellen Mätresse Madame de Maintenon in einer Randzone des Parks errichten ließ, mit der er sich nach dem Tod der Königin ‚zur linken Hand‘, d. h. staatspolitisch inoffiziell verheiratete. Diese reich mit buntem Marmor dekorierte flachgedeckte eingeschossige Anlage, die durch große französische Fenstertüren direkt mit dem Garten kommunizierte, wurde zum Vorbild zahlreicher, betont informeller ‚Orangerieschlösser‘ in ganz Europa |▶ 43|. Wie sehr das als Ausdruck universeller, überpersönlicher Monarchie konzipierte Versailles doch individuell geprägt war, bewiesen die Veränderungen unter den Nachfolgern des Sonnenkönigs, denen diese Bühne einfach viel
□ 128 Versailles, Schlosskapelle, J. Hardouin-Mansart u. R. de Cotte, 1699 – 1710
Schloss, Kapelle und Garten von Versailles
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zu groß und unbespielbar erschien. So ließ Ludwig XV. ab 1760 durch seinen Hofarchitekten Jacques-Ange Gabriel eine kleine, nahezu bürgerliche Villa, das sog. Petit Trianon, als Zufluchtsort für die Stunden mit seiner Mätresse Madame de Pompadour erbauen. Seine aus Österreich stammende Schwiegertochter Marie Antoinette trieb den Eskapismus schließlich so weit, dass sie 1783 nebenan einen hameau (Weiler), ein künstliches Dorf errichten ließ, in dem sie mit ihren Hofdamen das scheinbar sorgenfreie Leben glücklicher Landleute nachspielen konnte. Ab 1769 fügte Gabriel dem Schloss anlässlich der bevorstehenden Hochzeit Ludwigs XVI. ein Opernhaus an, in dem nun die Königsfamilie in einer schlecht einsehbaren Loge des Zuschauerraums statt wie ihre Amtsvorgänger auf der Bühne ihren bevorzugten Platz suchte. Die Flucht aus der Zwangsrolle eines permanenten Staatsschauspiels, dessen Gebot man in das (freilich fiktive) Motto L’etat, c’est moi! zusammenfassen könnte, war eines
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jener Signale, welche das Scheitern und die Kapitulation der französischen Monarchie, des sog. Ancien Régime, gegen Ende des Jahrhunderts ankündigten. Im Mai 1789 beorderte König Ludwig XVI. die seit 1614 nicht mehr einberufenen Generalstände nach Versailles, um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden. In der Tennishalle des Schlosses, dem sog. Ballhaus, erklärten diese sich wenig später zur verfassunggebenden Nationalversammlung. Das Zeitalter des sog. Absolutismus, der von jeder gesetzlichen Einschränkung ungebundenen Königsherrschaft, ging dem Ende zu. Am 5. Oktober desselben Jahres marschierten die nach Brot hungernden Pariser Unterschichten, angeblich angeführt von den Fischhändlerinnen, bis Versailles und zwangen Ludwig XVI. samt seiner Familie zur Rückkehr an die Seine: Das geschah unter dem ebenso zynischen wie naiven Schlachtruf: ,Wir bringen den Bäcker, die Bäckerin und den Bäckerjungen nach Paris zurück!‘
Hôtel Lambert in Paris Private Repräsentation entre cour et jardin
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ie zentralen Herausforderungen repräsentativen Bauens in den urbanen Zentren der Frühen Neuzeit waren die Bewältigung räumlicher Beengtheit und der unveränderlichen Vorgaben des jeweiligen lokalen Kontextes. Der Umgang mit diesen Restriktionen war von Land zu Land verschieden: Während die Stadtpaläste Italiens eine möglichst große Frontlänge an einem Platz einnehmen oder idealerweise sogar einen ganzen Baublock ausfüllen sollten |▶ 19, 26|, versuchte man in den Metropolen Nordeuropas in die Höhe oder die Tiefe |▶ 30, 33| des jeweiligen Grundstücks auszuweichen, wobei
III. Schlüsselwerke
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die Vorderfront des Gebäudes mit den Repräsentationsräumen zumeist so weit als möglich an die Straße herangerückt wurde. In Paris entwickelte sich dagegen ein anderer Typus, den man als hôtel particulier bezeichnet – der missverständliche Titel ‚private Herberge‘ oder ‚Gästehaus‘ verweist auf die mittelalterlichen Wurzeln dieser Bauweise. Es handelte sich nämlich zunächst um die städtischen Nebenwohnungen von Großgrundbesitzern, deren Hauptsitz auf dem Lande lag und die ihren aus dem bürgerlich-städtischen Kontext hervorstechenden Anspruch durch hofar-
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tige Anlagen mit Mauern, Türmen und Zinnen zum Ausdruck brachten. Als eines der wenigen bis heute erhaltenen Beispiele kann das Hôtel de Cluny gelten, die um 1334 begründete und ab 1485 baulich erneuerte Repräsentanz des gleichnamigen burgundischen Benediktinerklosters, welche heute das Nationale Museum des Mittelalters beherbergt und Assoziationen eines Burghofs inmitten der Großstadt erweckt (Pérouse de Montclos 2000, S. 180 f.). Die Verbindung aus privatem Wohnhaus, ständischer Repräsentationsfunktion und Wirtschaftshof führte zur für Paris typischen Bauform des sog. hôtel entre cour et jardin: Das eigentliche Wohngebäude ist hierbei von der Straße abgerückt und in die Mitte des Grundstücks zwischen den vorgelagerten Hof für Personal, Kutschen und Stallungen und den hinter dem Wohnteil gelegenen Garten gesetzt. Zur Straße schirmt eine Blendmauer mit großem Tor den Vorhof ab, der auch Ehrenhof – cour d’honneur – genannt wird. Wenn der Bauplatz es hergab, wurden die Wirtschaftsfunktionen gerne in einen zweiten, cour basse oder cour de service genannten, meist seitlich anschließenden Nebenhof ausgelagert. Falls die Grundstückstiefe es zuließ, verdoppelte man den Wohnflügel gerne und erhielt so zwei hintereinandergelegene, jeweils einseitig belichtete, aneinandergereihte Raumfolgen, sog. appartements, von denen das hofseitige öffentlicher, das rückseitige eher privat genutzt wurde. Die Grundrisse eines vorbildlichen hôtel mit einem derartigen appartement double stellte der einflussreiche Architektur-Theoretiker Augustin-Charles D’Aviler in seinem 1691 erstmals publizierten, danach mehrfach wiederaufgelegten und erweiterten Lehrbuch „Cours d’architecture“ vor (Köhler 1997). Der in seiner Zahl und Bedeutung stets zunehmende Verdienst- und Verwaltungsadel Frankreichs sah es im 17. Jh. als unverzichtbar an, sich einen standesgemäßen, mit den Höfen des alten ‚Schwertadels‘ und der Geistlichkeit konkurrenzfähigen hauptstädtischen Wohnsitz
zuzulegen. Ein gutes Beispiel für einen ambitionierten Neubau dieser Epoche ist das Hôtel de Sully im vornehmen, östlich des Louvre und der ummauerten Kernstadt gelegenen Viertel Marais in direkter Nähe zur Place des Vosges gelegen. Die Anlage wurde 1625–30 vermutlich vom Hofarchitekten Jean Androuet-Du Cerceau für den Finanzpächter Gallet errichtet und später vom Finanzminister Heinrichs IV., Maximilien Duc de Sully erworben, dem sie ihren heutigen Namen verdankt (Hesse 2004, S. 21–28). Es leuchtet ein, dass ein derartig raumgreifender Bautypus in einer Stadt, deren Einwohnerzahl und Besiedlungsdichte stets zunahmen, immer schwerer zu realisieren war und daher umgekehrt proportional an repräsentativer Bedeutung gewann. So erwies sich eine von der Nachbarbebauung und den restriktiven Vorgaben des Marktes determinierte, oft ungünstige Grundstücksform als die eigentliche Herausforderung beim Bau eines hôtel particulier: Es galt, in beengten Verhältnissen den Wunsch nach einer zumindest in der Fassadenwirkung möglichst vollkommenen Symmetrie der Hofanlage mit den Anforderungen an Repräsentationscharakter, Funktionalität und ‚Bequemlichkeit‘ (commodité) für die hochgestellten Bewohner zu verbinden. Die hohe Kunst, dies alles elegant und effektvoll unter einen Hut zu bringen, wurde in der französischen Architekturtheorie mit dem ursprünglich vitruvianischen Begriff der distribution bezeichnet und galt seit dem 17. Jh. als eine besondere Spezialität der dortigen Architekten. Ein Meisterstück dieser Gattung war das ab 1654 von Antoine Le Pautre in direkter Nachbarschaft zum Hôtel de Sully erbaute Hôtel de Beauvais (□ 129), das in ostentativer Virtuosität das völlig unregelmäßig begrenzte elfeckige Baugrundstück mit allen Funktionen eines hôtel particulier belegte, wobei die geschaffenen Räume für sich betrachtet jeweils den Eindruck vollendeter Regelmäßigkeit, Symmetrie und Axialität erzeugten.
Hôtel Lambert in Paris
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1608 begann ein Konsortium von Privatinvestoren, zwei bis dahin unbebaute kleine Inseln in der Seine, direkt östlich anschließend an die Kathedrale Nôtre-Dame auf der Île de la Cité, durch Brücken mit beiden Ufern zu verbinden, zu befestigen und für private Grundstückskäufer zu parzellieren (Bordier 1998, S. 19–63, 143–168). An der östlichen Spitze des nun Île St-Louis genannten Neubauviertels befand sich ein durch seine Lage besonders privilegiertes Terrain, das nach Osten einen freien Blick auf den Fluss bot. Allerdings war das Grundstück ungünstig trapezförmig geschnitten und nur von einer südlich vorbeiführenden Straße aus zu erschließen; die lange Seite des Baugrunds verlief hier parallel zur Erschließungsstraße statt wie bei den meisten Pariser Grundstücken quer dazu in die Tiefe, so dass es hier kaum möglich erschien, Vorhof, Wohnflügel und Garten in der gewohnten Staffelung hintereinander anzuordnen. Die Brüder Jean Baptiste und Nicolas Lambert de Thorigny, Letzterer als Präsident der königlichen Rechnungskammer ein hoher Beamter, betrauten 1640 den jungen Louis Le Vau mit dieser anspruchsvollen Aufgabe, die er so bravourös löste, dass er 1654 zum Hofarchitekten des Königs ernannt wurde und bis zur Berufung Berninis zehn Jahre später mit der Vollendung des Louvre, danach mit dem Ausbau von Versailles beauftragt war |▶ 35, 36|. Le Vau entschied sich, die Tiefe des Grundstücks vollständig für den Vorhof zu nutzen (□ 130). Er setzte den Rückflügel so an die hintere, von einer Brandmauer gebildete und daher unbefensterte Grundstücksgrenze, dass sich für einen Besucher, der durch das Tor an der Rue St-Louis eintrat, der □ 129 Paris, Hôtel de Beauvais, Grundriss des ersten Obergeschos ses, A. Le Pautre, ab 1654
III. Schlüsselwerke
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gewohnte Anblick einer fast quadratischen cour d‘honneur, hier mir elegant abgerundeten Ecken, ergab (□ 131). Das Zentrum des rückseitigen Hofflügels wird von einem in drei Interkolumnien völlig geöffneten, zweigeschossigen, von einem hohen Walmdach und einem Tempelgiebel bekrönten Mittelpavillon eingenommen, der ursprünglich nicht verglast war, da er nur das Treppenhaus aufnehmen sollte. Der eigentliche Wohnflügel befand sich dagegen, äußerlich nicht besonders hervorgehoben, im östlichen Seitentrakt und erlaubte eine beidseitige Belichtung, den ebenerdigen Zugang zum erhöht liegenden, als Terrasse aufgeschütteten Garten und den in der eng bebauten Stadt hochprivilegierten freien Blick auf die Seine. Der von Mariette 1727 publizierte Querschnitt durch die Anlage zeigt die innere Disposition dieses in den Seitenflügel verlegten sog. corps de logis, nämlich zwei übereinander angeordnete, gleichwertige appartements für die Dame (oben) und den Herrn des Hauses (darunter),
267 □ 130 Paris, Hôtel Lambert, Grundriss des ersten Ober- geschosses, L. Le Vau, ab 1640, nach Mariette 1727
□ 131 Paris, Hôtel Lambert, Ansicht des Treppenrisalits im Innenhof
die aus einer festen, zeremoniell bestimmten Reihe von funktional genau zugeordneten Zimmern bestanden. Le Vau setzte diese beiden Hauptgeschosse auf einen niedrigen Sockel, der unauffällig Serviceräume für Küche, Ställe und Dienerschaft aufnahm. An das rückseitige Treppenhaus schloss sich ein – hier als Gelenk in der Hofecke oval geformtes – Vestibül an, das in ein Vorzimmer, eine sog. antichambre führte. Auf diese folgte, wenn man sich nach rechts wandte, eine zweite antichambre – Besucher konnten somit ‚gefiltert‘ werden, indem sie ihrem Rang gemäß mehr oder weniger weit vorgelassen wurden. Den Hauptraum des Wohnflügels bildete ein grand cabinet, das mit drei Fensterachsen größte, eigentliche Empfangsund Wohnzimmer, in anderen Häusern auch salon genannt. An dieses schloss sich wieder ein kleinerer, aber noch kostbarer ausgestatteter Raum an, eine sog. chambre à l’italienne, die nach italienischem Vorbild eine von dem berühmten Eustache Le Sueur freskierte Decke besaß. Aufgrund der dargestellten Themen wurde der Raum als cabinet de l’Amour bezeichnet – in diesen eindeutig persönlich geprägten, besonders üppig dekorierten Bereich vorgelassen zu werden, bedeutete ein besonderes Privileg. Hieran schloss sich, ausnahmsweise an
der Straßenfront und direkt neben dem Hoftor gelegen, das Schlafzimmer des Hausherrn, die sog. chambre à coucher an. An der Nordseite dieses Zimmers befand sich eine alkovenartige Nische mit dem in der Wandmitte stehenden Bett: eine Disposition, die darauf hinweist, dass auch dieser Raum keineswegs im heutigen Sinne ‚privat‘ war, denn nach dem Vorbild des Königs empfingen Standespersonen in Frankreich ihre Besucher auf einem sog. ‚Paradebett‘
Hôtel Lambert in Paris
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sitzend. Der gegenüberliegende, westliche Seitenflügel des Hofes enthielt ein ähnlich disponiertes appartement, das aber durch einen zusätzlichen Raum, eine sog. garderobe, als ein ‚intimerer‘ Teil des Hauses zu deuten ist. Die Abfolge antichambre – chambre – cabinet bezeichnet somit das im Einzelfall vielfach variierte und ggf. erweiterte, unverzichtbare Grundgerüst jedes französischen appartement |▶ 8|. Wie viele gleich oder ähnlich strukturierte Zimmerfolgen es in einem hôtel gab, bestimmte die Anzahl der hochgestellten Bewohner, wobei das formale appartement de Parade oft noch durch eine zweite – bequemere – weniger offizielle Raumfolge ergänzt wurde. Offizielle Empfänge fanden im Hôtel Lambert in der galerie des Obergeschosses statt, einem langgestreckten, für die französische Schlossbautradition typischen Festsaal, welcher den Garten nach Norden begrenzt; im Erdgeschoss darunter befand sich die Bibliothek. Auch die Galerie war vollständig freskiert: Charles Le Brun, der später als Hofmaler des Königs mit Le Vau in Versailles zusammenarbeiten sollte, schmückte die Decke mit dem hochoffiziellen Bildprogramm der antiken Herkules-Mythologie. Dieser exemplarische Tugendheld thematisierte (im Unterschied zum für den König reservierten Apollon-Sonnenmythos) die Möglichkeit, durch eigene Anstrengung zum Status eines Halbgotts aufzusteigen: ein geeignetes Motiv für einen hohen Beamten, der seine persönliche Tüchtigkeit und Unersetzbarkeit ins rechte Licht rücken wollte. Da die Galerie nur an der Südseite Fenster besitzt – im Norden schließt ein schmaler Service-Hof sowie das benachbarte Wohnhaus Le Vaus an –, ist die gegenüberliegende Wand mit Landschaftsbildern als Pendant zum Blick in den Garten gestaltet. Die Spitze des Raumes öffnet sich in einer Konche mit drei französischen, also bodentiefen Fenstern hin zur Seine. Während die Hoffassade in Superposition aus dorischer und ionischer Ordnung gestaltet
III. Schlüsselwerke
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ist, schlägt die Gartenfront einen noch feierlicheren Ton an, indem hier beide Geschosse durch flache ionische Kolossalpilaster zusammengebunden sind. Diese etwas zu anmaßende Verwendung vitruvianischer Elemente kam in Frankreich wenige Jahre später im Privatbau aus der Mode und blieb dann öffentlichen Platzanlagen |▶ 38|, Staats- und Kirchenbauten vorbehalten. Der Kontrast zwischen einem eher nüchternen, zurückhaltend gestalteten, auf geschlossene Binnenhöfe bezogenen Äußeren als dezente Hülle und einer ebenso raffiniert und bequem wie luxuriös ausgestatteten Innendisposition wurde im 18. Jh. zur besonderen französischen Eigenart und unterschied sich vom ostentativen Prunk italienischer oder deutscher Adelspalais, deren Straßenfassaden weiterhin üppig geschmückt blieben. Man bezeichnete dieses gestalterische Ideal als bienséance, als bewusste Zurückhaltung, welche dem bürgerlichen Privatbau gemäß vitruvianischen Denken ‚angemessen‘ sei (Röver 1977). Ein anderer parvenu (Aufsteiger), der surintendant des finances Nicolas Fouquet, sollte wenige Jahre später den Bogen semiprivater Repräsentation überspannen, als er sich ab 1656 von demselben Künstlerteam sein aufwendiges Landschloss Vaux-le-Vicomte errichten ließ und seinen Dienstherrn, den jungen Ludwig XIV., am 17. August 1661 zur Eröffnung einlud (Hesse 2004, S. 38–42). Der König war tief beeindruckt, ließ den offensichtlich zu gut bezahlten Staatsdiener kurz darauf seines Amtes entheben und engagierte die Bauverantwortlichen für sein eigenes Projekt in Versailles |▶ 36|. Die Finanz oligarchie hatte einen neuen Repräsentationsstil initiiert, den das absolutistische Königtum für sich usurpierte und kurz darauf monopolisierte. Den Aufsteigern blieben die luxuriösen gated communities ihrer hôtels entre cour et jardin oder äußerlich nicht als solche erkennbare Eigenheime hinter den normierten Fassaden der places royales |▶ 38|.
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Tore, Brunnen, Denkmäler: Funktion, Symbol, Erinnerung
K
aum eine Baugattung der Antike ist so reich und vollständig überliefert wie ihre Denkmäler: Selbst nördlich der Alpen fanden sich gelegentlich noch aufrecht stehende römische Grabmonumente, z. B. die sog. Igeler Säule an der Mosel. In vielen Römerstädten hatten sich Torbauten wie die Trierer Porta Nigra erhalten. Literarische Überlieferung und Münzbilder dokumentierten die herausragende Bedeutung von Personendenkmälern (meist Freistatuen) und sog. Triumph- oder Ehrenbögen, die siegreichen Feldherren errichtet worden waren. In Rom war mit dem Septimius-Severus- und dem Konstantinsbogen, dem zur päpstlichen sog. Engelsburg umgenutzten Kaisermausoleum Hadrians, den am Tiber sekundär wieder aufgestellten, ursprünglich aus Ägypten stammenden Obelisken (□ vgl. 101, 103, 106) und den mit gewundenen Reliefbildstreifen geschmückten Säulenmonumenten Trajans und Marc Aurels (□ vgl. 4) überaus reiches Anschauungsmaterial vorhanden. Nur wenige antike Bronzedenkmäler (z. B. die Quadriga vor San Marco in Venedig und der Marc Aurel auf dem römischen Kapitol, |▶ 20|) waren der Umschmelzung ihres wertvollen Materials entgangen; dagegen wurden in der Renaissance zahlreiche, bislang als ‚heidnische Götzenbilder‘ verachtete Marmorstatuen wieder ausgegraben und dienten nun als Vorbild für moderne Standbilder: Das berühmteste war wohl die im Vatikan verwahrte, marmorne Laokoon-Gruppe. Die Bedeutung der (in der Nachantike mehrheitlich kommunalen) Wasserversorgung war an einer Vielzahl gut erhaltener Aquädukte, z. B. dem Pont du Gard in Südfrankreich abzulesen. Individuelle Denkmäler zur Erinnerung an Verstorbene oder an denkwürdige Ereignisse hatte es im Mittelalter nahezu ausschließlich in kirchlichem Zusammenhang gegeben. Das Grabmonument, traditionell eine mit Inschriften versehene, die Aufbahrung der Verstorbenen verewigende Liegefigur, die im 13. Jh. zur Standfigur weiterentwickelt wurde, war eine der
wenigen Formgelegenheiten für lebensgroße Porträtplastiken (Panofsky 1964/1993). Diese Gattung blieb auch in der gesamten Frühneuzeit die weitaus häufigste, konfessionsübergreifende Form der indiThemenblock · Epheviduellen Denkmalsetzung ( mere und illusionistische Architektur, S. 221 f.), wobei man zwischen dem den Begräbnisort bezeichnenden Grabmal, dem davon unabhängig in Kirchen errichteten, meist an der Wand angebrachten Denkmal (Epitaph) und dem Schein- oder Leergrab (Kenotaph, |▶ 50|) unterscheidet. Seit dem Mittelalter wurden für Familien eigene, an die Kirchen angelehnte Grabkapellen errichtet, nach antikem Vorbild auch Mausoleen genannt. Mit Brunnen und Stadttor wurden zwei geläufige, Thepraktisch gebotene kommunale Bauaufgaben ( menblock · Bürger bauen, S. 238) zu architektonischen Denkmälern erhoben und dem rhetorischen Verständnis des Vitruvianismus unterworfen (Morét 2003, Rippmann 2008, Schweizer 2002). So erinnerten monumentale Brunnen nicht nur durch ihren täglichen Gebrauchswert, sondern auch durch Inschriften, Statuen, Wappen und Reliefschmuck an ihre Stifter, wobei oft die symbolisch-allegorische Ebene bemüht wurde, indem z. B. der Spender des Wassers und Errichter des Brunnens mit einem antiken Gott, meist Neptun identifiziert wurde. In Augsburg ließ die von den Konfessionskämpfen aufgewühlte Reichsstadt um 1600 ein ganzes Ensemble von Brunnen mit antik inspirierten Bronzeplastiken errichten, um das Normativ-Verbindende der römischen Wurzeln dieser Stadtrepublik hervorzuheben: Kaiser Augustus vor dem Rathaus (□ 132) erinnerte an den Stadtgründer, Merkur an die Bedeutung des Handels, Herkules im Kampf mit dem Ungeheuer Hydra feierte die technische Beherrschung des Wassers (griech. hydor), der Erzengel Michael am Zeughaus den Sieg des Christentums über die Sünde,
Tore, Brunnen, Denkmäler
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der Adler am Stadtsiegelhaus betonte die Würde der Reichsunmittelbarkeit. Seit der Renaissance wurden Stadt- und Palasttore, aber auch Kirchenfassaden bevorzugt in Anlehnung an römische Ehrenbögen gestaltet, z. B. in Neapel oder Urbino. Wie ihre Vorbilder waren viele der neu errichteten Monumente aus der funktionalen Verbindung mit der Stadtbefestigung ( Themenblock · Festungsbau, S. 151 f.) gelöst und bezeichneten eine symbolische Grenze, z. B. der Gerichtsbarkeit oder der Zollerhebung. Sie dienten zugleich als Quartier der Stadtwache wie z. B. am Berliner Brandenburger Tor, wobei die aufwendige, weit sichtbare und für die Funktion überdimensionierte Architektur sehr viel mehr den Repräsentationscharakter als die praktische Nutzung hervorhob. In Paris wurden unter Ludwig XIV. nach der Schleifung der Stadtmauern und der Anlegung der Boulevards monumentale Torbauten wie die Porte-St-Denis als Denkmäler des Königs zur Erinnerung an militärische Siege errichtet (Hesse 2004, S. 88 f.).
Die wichtigste Innovation der Epoche im Bereich der Denkmäler stellt aber das frei stehende, auf einen Platz bezogene und diesen zentrierende Standbild dar. Vermutlich von Florenz ausgehend wurde der geradezu selbstverständliche Zusammenhang von ,Platz und Monument‘ (Brinckmann 1908/2000) zum stereotypen städtebaulichen Standardschema der Frühneuzeit. Die Pariser Königsplätze |▶ 38| belegen, dass in manchen Fällen sogar die begrenzenden Gebäude um ein bereits errichtetes Denkmal herum erbaut wurden. Ältere und komplexere Schemata, wie sie sich auf der venezianischen Piazza San Marco erhalten haben |▶ 16|, wurden durch die absolutistisch konnotierte, eindeutige Fokussierung auf das nun bevorzugte monumentale Reiterstandbild des Fürsten abgelöst. Die Verbindung mehrerer Typen, z. B. Brunnen, Triumphbogen und Standbild wie an der berühmten Fontana di Trevi in Rom, oder die Integration dieser Elemente in die weitläufigen Gartenanlagen der Epoche (|▶ 36, 46|; □ vgl. 30), eröffneten neue, komplexe Zusammenhänge. Gegen Ende der Frühneuzeit wurde diese Verbindung wieder gelockert: Die Platzanlagen in Bath |▶ 47| kommen ohne zentrierendes Denkmal aus, das Brandenburger Tor in Berlin erinnert formal an die Propyläen der Athener Akropolis, ohne hierdurch ein bestimmtes historisches Ereignis zu feiern oder den König als Erbauer ehren zu wollen; schließlich verwischte die Umwidmung ganzer Gebäude zu quasi-sakralen Personendenkmälern |▶ 49, 50| die zuvor meist beachtete Grenze zwischen Thereligiösem und profanem Totengedenken ( menblock · Ephemere und illusionistische Architektur, S. 221 f.). Am Ende der Entwicklung steht die Folge der Pariser Zollhäuser (□ vgl. 9), die Claude-Nicolas Ledoux ab 1785 für den sehr profanen Zweck der Steuereintreibung in den erhabenen, aber ihrer spezifischen Bedeutung beraubten Formen antiker Monumentalbauten errichtete (Andia 1997). □ 132 Augsburg, Augustusbrunnen und Rathaus, H. Gerhard u. E. Holl, 1588 – 94 und 1615 – 24
III. Schlüsselwerke
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Place Vendôme in Paris Die Vollendung der place royale
W
er aus einer kriegsversehrten und von zahlreichen politischen Systembrüchen gezeichneten deutschen Großstadt nach Paris kommt, mag beim Weg durch das auf den ersten Blick intakte, von ungebrochener Kontinuität und formaler Konsistenz geprägte Zentrum den Eindruck gewinnen, die Stadtbaugeschichte der französischen Metropole sei ohne jene Einschnitte und Katastrophen verlaufen, welche sich in das Gesicht vieler anderer europäischer Hauptstädte so tief eingeprägt haben. Gerade ein harmonisch geschlossenes Ensemble wie die achteckige, von lediglich einer Straße durchquerte und vom mächtigen Säulenmonument Napoleons beherrschte Place Vendôme nordwestlich des Louvre |▶ 35| bestärkt diesen Eindruck – und dennoch ist diese scheinbar so vollkommene, selbstverständlich wirkende Platzgestalt Zeugnis und Resultat einer wildbewegten Baugeschichte, die an Brüchen und Revisionen, Umgestaltungen und inhaltlichen Neubesetzungen kaum turbulenter gedacht werden kann. Hier ist vieles nicht so, wie es scheint: Hinter den vereinheitlichenden Fassaden befinden sich weder gleich gestaltete Paläste noch zusammenhängende öffentliche Gebäude; das Denkmal auf der Platzmitte ist weder das ursprüngliche noch stammt es aus jener Zeit, die es symbolisiert; schließlich war diese Anlage, welche zum Muster und Maßstab für einen Platztypus wurde, den man heute allgemein als place royale bezeichnet (Köstler 2003), weder vom König initiiert noch von ihm bezahlt. Der Platz hatte in seiner Geschichte viele Namen, allerdings niemals Place Royale – denn so hieß eine andere Anlage am entgegengesetzten östlichen Ende der Stadt, die seit 1800 unter dem unpolitischen Namen Place des Vosges bekannt ist.
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Die Geschichte der Königsplätze in Paris begann 1605 mit der Initiative Heinrichs IV., der durch seine Konversion zum Katholizismus die verheerenden Religionskriege in Frankreich beendete und eine neue Dynastie, die Bourbonen, auf den Thron hob. Der König plante an der weniger dicht besiedelten Peripherie seiner vernachlässigten Hauptstadt die Anlage von drei neuen, mit einheitlicher Randbebauung zu gestaltenden Plätzen: die dreieckige Place Dauphine (benannt nach dem Thronfolger, welcher nach seinem Erbbesitz, der Dauphiné, so tituliert wurde) auf der Île de la Cité an einer bis heute Pont Neuf genannten, damals neuen Seinebrücke und die quadratische Place Royale im später bevorzugten Wohnviertel des Adels am Ostende der Stadt, im Marais. Die halbrunde Place de France am Nordrand der Stadt, welche zukunftweisend als Straßenstern konzipiert war, wurde nach einem tödlichen Attentat auf den König nicht mehr in Angriff genommen. Alle Plätze sollten mit jeweils einheitlichen, nach genauen Vorgaben gestalteten Ziegel-Haustein-Fassaden versehen, die dahinter verborgenen Gebäude mussten freilich von Privatleuten gekauft, errichtet und bewohnt werden. Die quadratische Place Royale entstand an der Stelle eines ehemaligen Lustgartens der Könige, welcher nach dem hier erfolgten tragischen Unfalltod Königs Heinrichs II. beim Turnier (1559) vernachlässigt worden war. Heinrich IV. plante nun eine Wiederbelebung des Festplatzes durch dessen wirtschaftliche Anbindung an eine benachbarte Seidenmanufaktur: Die 36 vierachsigen, dreigeschossigen Häuser (vielleicht nach Entwurf von Métezeau und Du Cerceau), welche das 140 m Seitenlänge messende Quadrat rahmen
Place Vendôme in Paris
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sollten, waren für die Manufakturunternehmer bestimmt, die nach 10 Jahren erfolgreicher Tätigkeit in den Adelsstand hätten erhoben werden sollen. Das Bauprojekt war somit in ein zeittypisches, merkantilistisches Wirtschaftsprogramm eingebunden, welches die Herstellung teurer Luxusgüter im eigenen Land durch staatliche Privilegien fördern wollte. Der König finanzierte nur einen einzigen, daher Pavillon du Roi benannten und in der Höhe hervorgehobenen Torbau, den er aber nicht selbst bewohnte. Dennoch erkannte der sich dort ansiedelnde Adel schnell die repräsentative Wirkung des abgeschlossenen Carrés, das über einer vereinheitlichenden Arkade im Erdgeschoss zwei gleich gestaltete Obergeschosse bot, welche sich durch voneinander abgesetzte, hohe französische Walmdächer als eine Folge von Einzelhäusern darstellte. Das zweite, für den nachträglich so definierten ‚Typus der Place Royale‘ konstituierende Element, das Königsdenkmal in der Mitte, gehörte hier nicht zur ursprünglichen Konzeption, sondern wurde erst 1639 durch den Staatsminister Kardinal Armand du Plessis, Herzog von Richelieu, gestiftet. Es handelte sich um ein bronzenes Reiterstandbild Ludwigs XIII., den Sohn des Erbauers ehrend. Heinrich IV. selbst war auf der Place Dauphine 1618 von seiner trauernden Witwe, Maria de’ Medici, durch den Florentiner Pietro Tacca bereits ein Denkmal gesetzt worden. Vielleicht bezog sich die Königin hierbei auch auf Projekte ihrer Heimatstadt, z. B. die Neugestaltung der Piazza SS. Annunziata, die etwa gleichzeitig mit einem 1608 vollendeten Denkmal Großherzog Ferdinands I. von Toskana besetzt wurde und einheitliche Platzwände nach dem Vorbild von Brunelleschis Findelhaus |▶ 1| erhielt. Auch die Neugestaltung des römischen Kapitols durch Michelangelo |▶ 20| könnte als formales Vorbild der Pariser Anlagen gedient haben (Sarmant/Gaume 2002, S. 34 f.). Die Denkmäler der französischen Königsplätze wurden somit nicht von den Geehrten
III. Schlüsselwerke
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selbst errichtet – das wäre wohl allzu aufdringlich erschienen –, sondern von Höflingen und Verwandten, welche dadurch ihre unbedingte Loyalität, Dankbarkeit oder ein persönliches Naheverhältnis zum Monarchen unter Beweis stellen wollten. Die nächste place royale in Paris, nun einheitlich mit begrenzender Architektur und dem zentralen Denkmal konzipiert und realisiert, stiftete nördlich des Louvre Marschall François d’Aubusson, Herzog de la Feuillade, nach Abriss der Vorgängerbebauung. Es handelt sich bei der sog. Place des Victoires um einen Rundplatz von ca. 80 m Durchmesser mit fünf einmündenden Straßen, in dessen Mitte das 1686 eingeweihte bronzene Denkmal Ludwigs XIV. im Krönungsornat, bekränzt von der Siegesgöttin stand. Am Sockel des Monuments von Martin Desjardin waren vier angekettete Sklavenstatuen angebracht, die durch ihre Attribute den besiegten europäischen Nachbarn, z. B. dem römisch-deutschen und spanischen Reich zuzuordnen waren (Cleary 1999, S. 198 f., Abb. 40; Köstler 2003, S. 85–100). Die Architektur der Platzwände, welche erst nach dem Tod des Stifters und dem Abriss seines die Konformität störenden hôtel vollendet werden konnten, entwarf Jules Hardouin-Mansart, Erster Architekt des Königs und Erbauer der Versailler Schlosskapelle |▶ 36|: Er entwickelte jenen Fassadentypus, der seitdem geradezu kanonisch für die später in ganz Europa zahlreich errichteten Nachfolgeanlagen werden sollte (Jestaz 2008, Bd. 1, S. 303 f.). Über einem in Arkaden aufgelösten, bandrustizierten Sockelgeschoss folgen zwei Obergeschosse; das erste, die bel étage, ist höher als das zweite, wobei jede Fensterachse von kolossalen Pilastern, hier ionischer Ordnung, gerahmt wird. Das über einem durchlaufenden Kranzgesims folgende Dachgeschoss ist mit Lukarnen alternierender Formen und dem typischen, geknickten französischen Mansart-Walmdach gestaltet. Im Unterschied zur ersten place royale sind die einzelnen Kompartimente nicht mehr von
273 □ 133 Claude Avelines: Paris, Place de Nos Conquêtes, heute Place Vendôme, J. Hardouin-Mansart, nach 1684, erster Bauzustand
außen ablesbar – dies entsprach durchaus den realen baulichen Verhältnissen, denn hinter die vereinheitlichenden Fassaden setzten private Investoren Wohnungen und Stadthäuser unterschiedlicher Größe und unterschiedlichen Zuschnitts. Die Arkaden der Sockelzone konnten ebenso gut Läden wie Kutschenremisen oder Tordurchfahrten verbergen. Parallel zu diesem Auftrag betrieb der Architekt ein weiteres Projekt: Der mit Feuillade um die Gunst des Königs rivalisierende François-Michel de Tellier, Marquis de Louvois, konzipierte ab 1684 nur ca. einen Kilometer westlich der Place des Victoires ein noch ambitionierteres Konkurrenzprojekt, das unter dem hochfahrenden Titel Place de Nos Conquêtes nicht nur die Siege, sondern die territorialen Eroberungen des Sonnenkönigs verewigen sollte (□ 133). Als leitendem Minister gelang es Louvois, das eigene Projekt zu einem staatlichen zu machen, indem er den Kauf des Geländes und die Ansiedelung öffentlicher Funktionen wie der Münzanstalt, der königlichen Bibliothek und Akademien sowie einiger Botschafterresidenzen in den nach dem bekannten Schema Hardouin-Mansarts gestalteten, zunächst ohne dahinter befindliche Gebäude als Kulissen er-
richteten Fassaden betrieb. Um den Bauplatz von stattlichen 168 × 148 m an der Rue St-Honoré zu räumen, ließ der Architekt als Mitglied einer Investorengruppe das für 615 000 Livres erworbene, nach seinem ehemaligen Besitzer benannte prachtvolle Hôtel de Vendôme und ein benachbartes Kloster abreißen. Der Konvent der Kapuziner erhielt in der Achse des Platzes einen Neubau, dessen Kirche hinter einem zentralen Triumphtor als point-de-vue der Gesamtanlage und Grablege für Louvois dienen sollte. Da die Staatskasse aber zu leer war, um die geplanten Funktionen hinter den bereits fertiggestellten Fassaden zu realisieren, wurden diese nach dem Tod des Ministers wieder abgerissen, der Baugrund an die Kommune verkauft und ab 1699 etwas weiter nördlich ein modifiziertes, kleineres Platzkonzept realisiert, das als geschlossenes, nur durch die heutige Rue de la Paix/Castiglione mittig durchschnittenes längsgestrecktes Achteck von der Rue St-Honoré zurücktritt (□ 134). Man kehrte wieder zum bewährten Verfahren der ,Public-private-Partnership‘ zurück und verkaufte Grundstücke unterschiedlicher Größe an private Investoren (Köstler 2003, S. 104–122, Abb. 29; Cleary 1999, S. 202–208). Die nun Place Louis-
Place Vendôme in Paris
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□ 134 Paris, Place Louis-le-Grand, heute Place Vendôme, beg. 1699
le-Grand genannte Anlage wurde um das im Jahr 1699 eingeweihte, mit über 16 m Höhe seinerzeit größte Reiterdenkmal, das in einem Guss gefertigte Standbild des Namensgebers von François Girardon herum komponiert. Um die Monotonie allseitig gleicher Platzfronten zu vermeiden, versah der Architekt aus dem Büro Hardouin-Mansarts – vielleicht Robert de Cotte? – nicht nur die beiden Seitenmitten, sondern auch die vier abgeschrägten Ecken des Platzes mit Risaliten unter Dreiecksgiebeln. Er ersetzte dort die korinthischen Pilaster durch Halbsäulen, so dass der Eindruck von sechs hervorgehobenen Akzenten entstand, die jeweils besonders geeignet erschienen, anspruchsvolle Privatpalais dahinter anzusiedeln. Bis 1720 gelang es, alten und neuen Adel sowie reiche Financiers (z. B. John Law, den schottischen Erfinder der durch Grundbesitz besicherten Banknote) als Bauherrn und Bewohner zu gewinnen: Das Nobelhotel Ritz zeugt vom bis heute exklusiven Charakter des Quartiers (Sarmant/Gaume 2002, S. 281; Ziskin 1999, S. 5–33). Das Monument in der Platzmitte wurde dagegen zum Seismographen der politischen
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Konvulsionen, die Frankreich vor allem im 19. Jh. erschütterten. Das 1792 gestürzte und eingeschmolzene Denkmal Ludwigs XIV. – der Sockel diente der Aufbahrung des ermordeten Revolutionsführers Le Peletier – wurde 1806–10 im Auftrag Napoleons durch ein aus österreichischen und russischen Beutekanonen der Schlacht von Austerlitz gegossenes Monument der Grande Armée nach dem Vorbild der römischen Trajanssäule ersetzt. 1815 verdrängten die auf den Thron zurückgekehrten Bourbonen das Standbild des Korsen durch das royalistische Lilienbanner. Louis-Philippe, der nach der Revolution von 1830 um Versöhnung bemühte ‚Bürgerkönig‘, ließ erneut eine Statue Napoleons in Offiziersuniform montieren. 1848 ergriff der Neffe des Kaisers als Napoleon III. die Macht und verschönerte das Denkmal 1863 durch eine würdigere, antikennähere Darstellung des Dynastiegründers. Der jüngere Bonaparte unterlag 1871 den Preußen und dankte ab: Die radikaldemokratische Commune-Regierung des sich als Festung einigelnden Paris ließ daraufhin erneut alle Symbole der ‚Barbarei‘ entfernen und stürzte die Vendôme-Säule
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um. 1873 wurde sie nach der blutigen Niederschlagung des sozialistischen Experiments durch die erneuerte Republik unter Marschall Mac Mahon restauriert und (hoffentlich diesmal endgültig) wieder aufgestellt (Sarmant/ Gaume 2002, S. 23–31, 175–224). So widerspruchsvoll die Planungs- und Nutzungsgeschichte der Pariser Königsplätze, so groß war ihre Vorbildwirkung für Europa. Von Nancy (Place Stanislas, 1752–60 von Emanuel Héré) bis Kopenhagen (Amalienborg, 1749–54 von Nicolaus Eigtved) wurde das Modell der gleichförmig gestalteten Platzanlage um ein zentrales Herrscherdenkmal adaptiert (Köstler 1993, S. 183ff, 227 f.). Auch bürgerliche Gesellschaften wie die englische rezipierten das Schema privaten Wohnungsbaus hinter repräsentativ-vereinheitlichenden Palastfronten |▶ 47|,
verzichteten aber auf das Herrschermonument als ideelles Zentrum. Die zahlreichen, in den französischen Provinzhauptstädten seit 1685 errichteten Königsplätze zeugen dagegen von den starken Zentralisierungstendenzen der Monarchie, die ihrem vielgestaltigen Land so das Siegel staatlicher Uniformität aufprägen wollte. Die maßstabsetzenden Pariser Beispiele des Typus place royale werden oft als Staatsbauten des Absolutismus wie Schloss Versailles oder der Louvre |▶ 35, 36| wahrgenommen. Dies entspricht ihrer intendierten Wirkung, nicht aber der realen Entstehungsgeschichte, hinter der deutlich mehr privates Kapital und persönlicher Ehrgeiz steckt, als die nobel geschlossenen, nach strikten Vorgaben der Hofarchitekten gestalteten Fassaden es erkennen lassen.
Das Benediktinerkloster Melk Abt und Architekt
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s gibt eine bestimmende Kategorie der Architektur, die in den hier ausgewählten Schlüsselwerken eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielt: die Topographie. Die landschaftliche Lage, die von Vorgängerbauten geprägten Grunddispositionen und die Fernwirkung eines Gebäudes waren in der Architekturdiskussion der Frühen Neuzeit keine zentralen Fragen. In den dicht besiedelten Städten erschien die Einbeziehung dieser Faktoren meist unvermeidlich, aber oft verbunden mit dem Wunsch, die Zwänge des Kontextes zu überspielen und geschickt unsichtbar zu machen | ▶ 16, 20, 25–27, 37|. Das Ideal der Epoche war der Reißbrettplan auf einem möglichst ebenen, freien Bauplatz. Das hier vorgestellte Projekt erscheint somit in der retrospektiven Wahrnehmung eher
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als Ausnahme, stellt aber de facto den Normalfall dar: Die allermeisten Bauvorhaben waren viel stärker durch Vorgaben und Begrenzungen determiniert, als es der von ‚Spitzenwerk zu Spitzenwerk‘ schweifende, auf Innovationen orientierte Rückblick meist offenbart |▶ 7|. Dennoch ist das 1702–46 erneuerte Benediktinerkloster Melk in Niederösterreich auch eine zu Recht bewunderte Musterlösung geworden, deren eigentliche Qualität darin liegt, die Zwänge von Lage, Funktionskontext und vorgefundenem Baubestand in Qualitäten zu verwandeln: ein ebenso epochentypisches, wenn auch meist weniger beachtetes Gegenmodell zu den voraussetzungslosen Idealplanungen des Escorial, von Versailles und der Würzburger Residenz |▶ 9, 36, 42|.
Das Benediktinerkloster Melk
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□ 135 Melk, Benediktinerkloster, Vogelschauzeichnung von Westen, Franz Rosenstingl, 1736
Während in Würzburg und Versailles ein komplexes Geflecht verschiedener konkurrierender Künstler und inkonsistenter Bauherrenentscheidungen zu dem zuletzt dennoch eindrucksvoll einheitlichen Ergebnis führte, erscheint Melk wie der Escorial als Werk aus einem Guss, dessen Protagonisten man eindeutig benennen kann: Abt Bertolt Dietmayr und sein Architekt Jakob Prandtauer (Weigl 2013) – beide Namen sind, wie in Zeiten ohne Orthographie üblich, auch in anderen Schreibweisen geläufig. Wie die meisten Klöster Mitteleuropas, sieht man von den städtischen Jesuitenkonventen
III. Schlüsselwerke
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ab |12|, war Melk keine Neugründung, sondern ging auf eine 1098 umgewidmete vormalige Burganlage zurück: Bis zum Neubaubeschluss stand auf dem exponierten Bergsporn am Südufer der Donau ca. 90 km vor Wien ein komplett funktionsfähiger, zuletzt im 17. Jh. umfangreich restaurierter Komplex aus Kirche, Wohn-, Wirtschafts- und Repräsentationsbauten. Daher wurde zunächst nur eine partielle Renovierung der vorhandenen Anlage begonnen, die sich nach und nach zur völligen Überformung entwickelte, hierbei aber kaum etwas an den funktionalen Zuordnungen der einzelnen Elemente veränderte und den größten Teil der vorhandenen Mauersubstanz weiterverwendete, rundum neu gestaltete und akzentuierte. Nur der nach Westen zum Fluss hin ausgerichtete ‚Kopf‘ des Klosters mit den beiden vorgelagerten Saalbauten und der Kirche, eine relativ konventionelle Doppelturmbasilika nach dem Gesù-Schema |▶ 22|, wurde völlig neu erbaut. In der suggestiven Vogelschauzeichnung Franz Rosenstingls aus dem Jahr 1736, also noch vor der Fertigstellung (□ 135), erkennt man eine vielgliedrige Anlage von mehreren ungleich großen Höfen, die ganz der Form jenes Felssporns am rechten Donauufer angepasst ist, der sich nach Südwesten hin dreieckig verschmälert, nach Nordosten dagegen zu einem Bergrücken verbreitert. Die am rechten Bildrand steil zum kleinen Marktflecken Melk hin abfallende Südflanke des Klosterkomplexes scheint über ihre Gesamtlänge von 350 m wie mit dem Lineal gezogen und definiert die Hauptachse der Anlage. An ihrem Ostende, dem oberen Bildrand, ist diese Front durch mächtige Halbrundbastionen – eine stammt vom Vorgängerbau, die zweite wurde aus Symmetriegründen ergänzt – geschlossen. Auf der Nordseite sieht man eine unregelmäßige Abfolge trapezförmiger Höfe mit untergeordneten Wirtschaftsfunktionen und Resten mittelalterlicher Mauern und Türme. Hierdurch erhält der Baukomplex seine gleichsam naturgegebene
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Disposition und Struktur: Man betritt das Kloster von Osten über den Bergrücken beim sogenannten Torwartlhof und geht weiter durch einen imposanten palastartigen Portalbau zum längsrechteckigen Prälatenhof, in dessen Mitte ein Brunnen sprudelt. Durchquert der Besucher den Hof, so gelangt er in einen westlich sich anschließenden schmaleren Trakt, in dessen Mitte die Klosterkirche steht. Sie wendet dem Ankömmling freilich nicht das Hauptportal, sondern als geostete Anlage das Chorhaupt zu. Man muss die Kirche zuerst entlang ihrer Südflanke durch einen schmalen Korridor umschreiten, um in den sog. Kolomanihof (benannt nach dem Hauptheiligen des Klosters) auf der Westspitze des Plateaus zu gelangen, von dem aus man das Gotteshaus betreten kann. Der Hof öffnet sich nach Westen unter einem terrassenartig begehbaren Altan in einem als Serliana gestalteten Scheinportal, das einen großartigen Ausblick auf die Donau (am linken Bildrand) bietet, aber wegen der Steile des Felsens nicht benutzbar ist: Es dient nur zur Inszenierung der Topographie und signalisiert dem Reisenden auf dem Strom benediktinische Gastlichkeit. Die gedachte Mittelachse vom Hauptportal zum Kolomanihof teilt die Anlage in einen weltlichen und einen geistlichen Teil: rechts im Bild die schmalere, prunkvoll-herrscherliche Südhälfte mit den Gäste- und Repräsentationsräumen, hier Kaiserzimmer genannt, und links eine breitgelagerte, architektonisch anspruchslos und unregelmäßig gestaltete monastische Nordhälfte mit dem ziemlich unauffälligen Carrée des eigentlichen Klausurbereichs im Schatten der Kirche. Die Verklammerung beider Sphären bildet der quer zur Hauptachse gelagerte Trakt der Abtswohnung am westlichen Ende des Prälatenhofs. Während die rasterartigen Quadratpläne in der Nachfolge des Escorial – z. B. Ottobeuren in Schwaben oder das nahe Klosterneuburg – gemäß dem Denken der katholischen Reform eine Identität beider Sphären mit dem gemeinsamen Zentrum der
Kirche suggerieren, wird die Doppelgesichtigkeit geistlich-weltlicher Herrschaft im Reich in Melk zum Hauptthema des Entwurfs erhoben. Die Kopfbauten des Kolomanihofes, südlich der (kaiserliche) Fest- oder Marmorsaal und nördlich die (klösterliche) Bibliothek, stehen sich als Kulminationspunkte dieser ‚Zwei-Welten-Lehre‘ gleichberechtigt, aber getrennt gegenüber. Die homogenisierende Architektursprache Prandt auers vereint alle disparaten Teile dieser trotz ihrer Asymmetrie so regelmäßig erscheinenden Anlage zu einem geschlossenen Ganzen. Ähnlich wie in der Würzburger Residenz ist der ostentative Prunk der Anlage weniger auf seine geistliche Funktion als auf die standes- und zeitgemäße Verkörperung eines politischen Wertesystems ausgerichtet, dem man sich verpflichtet fühlte: Zum Ersten die Behauptung der eigenen, führenden Position innerhalb der ‚geistlichen Stände Niederösterreichs‘, mehrheitlich wohlhabender Klöster, die ebenfalls bereits Neubauten begonnen hatten oder dies sehr bald tun würden, um in der Konkurrenz nicht zurückzufallen. Zum Zweiten die offensive Werbung für die katholische Weltsicht, die zwar in Österreich nicht offiziell umstritten war, aber doch stets einer zeitgemäßen, attraktiven, rhetorisch brillanten Neuformulierung bedurfte, um die Gläubigen – zugleich Untertanen – weiterhin zu binden. Zum Dritten schließlich Appell und Reverenz an den Kaiser, der hier unmittelbarer Landesherr war und in den für ihn eingerichteten, nach ihm benannten Repräsentationsräumen jederzeit eine standesgemäße temporäre Residenz würde finden können. Das zeigt sich auch im Fresko des sog. Marmorsaals, dem Kampf der Pallas Athene gegen die Mächte der Finsternis: Die Göttin der Weisheit, deren Triumphwagen von (habsburgischen Wappen-)Löwen gezogen wird, erhält Unterstützung durch Herkules, jenen Halbgott, mit dem sich der gerade regierende Kaiser Karl VI. besonders gerne identifizierte (Bruckmüller 1989, S. 264–267).
Das Benediktinerkloster Melk
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□ 136 Melk, Benediktinerklosterkirche, Inneres von Westen, J. Prandtauer u. a., 1702 – 46
Betrachtet man die Komplexität, programmatische Stringenz und ästhetische Geschlossenheit dieses in lediglich einer Generation aus dem Boden gestampften Hauptwerks des österreichischen Barock, so stellt sich die Frage nach dem Spiritus Rector des Projekts. Ähnlich wie beim Alhambra-Palast Karls V. |▶ 28| kennt man mit Prandtauer zwar einen aktenkundig belegten Bauleiter, traut ihm die kreative und konzeptionelle Leistung aber allein nicht recht zu: Als der aus Tirol gebürtige, im nahen St. Pölten wohnende Landbaumeister 1702 unter Vertrag genommen wurde, hatte er keine vergleichbaren Großprojekte vorzuweisen; es fehlte ihm auch die Weltläufigkeit der damals gerade in Wien zahlreich zur Verfügung stehenden, in Italien ausgebildeten ‚berühmten Wanderkünstler‘ wie Johann Bernhard Fischer von Erlach, dem Erbauer der Karlskirche (□ vgl. 4), oder (etwas später) Johann Lucas von
III. Schlüsselwerke
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Hildebrandt, der nach seinem Meisterstück, dem Belvedereschloss, u.a. in Würzburg und im nahen Kloster Göttweig tätig wurde. Auch Prandtauers spätere Werke, meist die Vollendung bereits begonnener Klosteranlagen, erreichen selten die Differenziertheit und Raffinesse, die Melk durchgehend prägt. Man muss daher von einem bestimmenden Einfluss des Auftraggebers, des Abtes Bertolt Dietmayr, ausgehen, der sich trotz exzellenter Kontakte in die Kaiserhauptstadt für einen bodenständigen, aber flexiblen Baupraktiker mit Generalvollmacht entschied, dem er von Zeit zu Zeit frische Ideen und Impulse durch aus Wien hinzugezogene, meist italienischstämmige Spezialisten zuführte. Zu nennen wären etwa der gebürtige Bologneser ‚Hof-Theater-Ingenieur‘ Antonio Beduzzi und der Wiener Hofbildhauer Lorenzo Mattielli, welche unter anderem Entwürfe für die Altäre und die Skulpturen lieferten. Der Hochaltar geht dagegen auf das spätere Projekt eines anderen Bologneser ‚Theatralingenieurs‘, Giuseppe Galli-Bibiena (□ vgl. 13), zurück, die Deckengemälde stammten von den in italienischer Freskotechnik geschulten einheimischen Meistern Johann Michael Rottmayer und Paul Troger. Man könnte für Melk den heute noch geläufigen, aber von der neueren Forschung als anachronistisch kritisierten Topos vom ‚Gesamtkunstwerk‘ (er stammt aus dem 19. Jh.) vielleicht besser durch den Begriff ‚Regiekunstwerk‘ ersetzen, wobei die Rolle des Regisseurs dem Abt zufällt, während der Architekt nur sein – allerdings geschätzter und unverzichtbarer – Hauptdarsteller ist (v. Engelberg 2002 und 2008). Der Blick in das Mittelschiff der Abteikirche (□ 136) belegt, wie gut man an der Donau die italienischen Lektionen gelernt hatte, denn der Farb- und Materialrausch erinnert an die gleichzeitig in Rom aufblühende, üppige Phase des Spätbarock |▶ 22| mit seinen die Räume völlig neu von oben her definierenden Fresken. Vermittler war hier offensichtlich der in der Bauzeit in Wien tätige, aus Rom berufene Je-
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suitenfrater Andrea Pozzo, der die dortige Universitätskirche mit allen nur denkbaren illusionistischen Mitteln aufgefrischt hatte, was dem zeitweiligen Universitätsrektor Dietmayr nicht entgangen sein dürfte. Aus der Not an geeigneten Marmorbrüchen entstand in Mitteleuropa die Tugend einer vollendeten Beherrschung der illusionistischen Gipsdekoration mit hier kräftig rot leuchtendem sog. Stuckmarmor. Prandtauer ging aber über ein braves Nachbuchstabieren der Vorbilder hinaus, indem er die starre Wandstruktur nach Art des römischen Gesù scheinbar in Schwingungen versetzte: Die Gebälke über den Emporen biegen sich konkav nach außen, während die darunterliegenden Emporenbrüstungen konvex in den Raum vorstoßen. Die strenge Abfolge der mit freskierter Scheinarchitektur gefassten Flachkuppeln über dem Mittelschiff, sog. Platzlgewölben, wird durch die Fresken Rottmayrs aufgelockert, deren Szenen, die Gurtbögen überspülend, in das benachbarte Feld eingreifen.
Das Verklammern, Verschmelzen und Verbinden divergierender Elemente ist das leitende künstlerische Prinzip von Melk. Die gestalterischen Anteile Prandtauers, Beduzzis, Mattiellis, Galli-Bibienas, Rottmayrs, Trogers und der vielen anderen Beteiligten sind nicht immer zu trennen; sie werden vielmehr im Zentrum der Anlage, der Stiftskirche, zu einem neuen, maßstabsetzenden Modell amalgamiert: ein Gemeinschaftswerk gleichrangiger künstlerischer Kräfte, das den synthetisierenden, international orientierten Charakter des österreichischen Spätbarock begründete. Dass das ambitionierte Melker Projekt nicht wie viele andere klösterliche Konkurrenten, z. B. Göttweig, Weingarten oder Klosterneuburg, zuletzt Fragment blieb, sondern tatsächlich innerhalb eines halben Jahrhunderts zum Abschluss geführt werden konnte, verdankt sich seiner anscheinend glänzend harmonierenden, entschlussfreudigen, zielsicheren und tatkräftigen Doppelspitze aus Abt und Architekt.
Die Wieskirche bei Steingaden Der Himmel auf Erden
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empus non erit amplius (,[Von hier an] wird keine Zeit mehr sein‘, Offb. 10,6, Inschrift über dem verschlossenen ‚Tor der Ewigkeit‘ auf dem Fresko der Wieskirche von Johann Baptist Zimmermann) Eines der impliziten Themen dieses Buches ist es, ‚Schulweisheiten‘ über die Architektur der Frühen Neuzeit am konkreten Gegenstand auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen. Zwei solche Gemeinplätze sind die ‚Volksnähe bayerischer Rokokokirchen‘ und die angeblich beherrschende Leitidee des barocken Kirchenbaus,
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Zentral- und Langbautypus miteinander zu versöhnen. Beide Thesen lassen sich an dem hier vorgestellten, vielleicht berühmtesten Bauwerk dieser Kunstlandschaft, der 1754 vollendeten Wallfahrtskirche zum Gegeißelten Heiland in der Wies, erproben (Böning-Weis 1992). Beginnen wir mit der Volkstümlichkeit. Pater Benno Schröfl erläutert 1779 in seinem Bericht zur Entstehung der Wallfahrt: Im Jahr 1730 wollte Titl. Herr Hyacinth Abt zu Steingaden die geheimnisse unseres leidenden Heilandes am so genannten […] Charfreytag in einem öffentlichen Umgang nach Gebrauch selbiger
Die Wieskirche bei Steingaden
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Zeit fürstellen. Zu diesem Ende machte [er …] neben anderen auch eine Statue von 4 und einem halben Schuhe [Größe] aus unterschiedlich vorgefundenen Theilen zusammen, welche die Geisselung Christi vorstellen sollte. Diese Statue wurde nun drei Jahre hintereinander [… bei einer Prozession] herumgetragen. Danach wurde sie wegen ihres äußerlich geringen Ansehens nit mehr gebraucht, wie es höflich heißt, man könnte auch sagen: wegen ihrer allzu derben, billigen Machart ausrangiert. Zunächst verkam die Puppe zum Kinderspielzeug, dann wurde sie im Mai 1738 der Bäuerin Maria Lori geschenkt, die auf ihrem abgelegenen oberbayerischen Hof ‚in der Wies‘ zukünftig ihre Gebete davor verrichtete. Am 14. Juni desselben Jahres begann die Holzfigur während der Abendandacht auf einmal zu weinen, der Wiesbauer wischte diese Tränen mit einem Tuch ab und überbrachte es dem Initiator der Figur, dem Steingadener Prämonstratenser-Abt Gassner, als Beweis eines Wunders. Dieser zeigte sich wenig beeindruckt, im Unterschied zur ländlichen Bevölkerung, die eine ‚wilde‘, erst 1744 durch die Weihe einer kleinen Feldkapelle offiziell sanktionierte Wallfahrt zur nun als ‚Wies-Heiland‘ verehrten Figur des sog. ‚Schmerzensmannes‘, des ausgepeitschten Christus an der Geißelsäule begann. Der Nachfolgerabt Marian Mayr sprang auf den Zug der immer weitere Kreise ziehenden Verehrung auf und ließ 1746 den Grundstein zum Bau einer großen, prächtigen Wallfahrtskirche legen. Freilich blieb er weiter vorsichtig und beauftragte den im nahen Landsberg am Lech ansässigen, erfahrenen Baumeister Dominikus Zimmermann mit der Planung eines sozusagen modular erweiterbaren Gotteshauses: Zuerst sollte bis 1749 der Chor errichtet werden, der bei plötzlichem Nachlassen der Wundertätigkeit auch als eigenes Bauwerk hätte bestehen können. Dann folgte unmittelbar anschließend der Bau des deutlich größeren Langhauses, das nicht nur bis 1757 aufs Kostbarste ausgestattet
III. Schlüsselwerke
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wurde, sondern auch einen Schuldenberg von 180 000 Gulden (fl.) verursachen sollte, den das Kloster bis zu seiner Auflösung in der Säkularisation nicht mehr abtragen konnte. Zum Vergleich: Das Gesamtvermögen der Familie Zimmermann im Jahr 1715 betrug 700 fl. Immerhin war der Erfolg der ,von unten initiierten‘, dann aber vom bayerischen Kurfürsten geförderten und vom Kloster bis zum eigenen Ruin mitgetragenen Wallfahrt unbestreitbar, denn es entstanden in ganz Mitteleuropa über 200 Kopien des Gnadenbildes, die sozusagen als Empfangsstationen der von der Wies ausstrahlenden Gnadenkraft und als Multiplikatoren des neuen Wunders wirkten: Die Wallfahrt zu einer geweihten Nachbildung z. B. des Heiligen Grabes in Jerusalem galt in ihrer Heilswirkung als gleichwertig mit dem Besuch des nicht für jeden erreichbaren fernen Originals. Diese volkstümliche, sozusagen zufällige Entstehungsgeschichte ist charakteristisch für die zeittypische Bauaufgabe Wallfahrtskirche |▶ 29| und belegt tatsächlich, welch starke Position die Öffentlichkeit gegenüber der sonst so bestimmenden Obrigkeit in diesem spezifischen Fall der populären, spontanen Frömmigkeit ‚von unten‘ einnehmen konnte. Das bedeutet freilich nicht, dass die aus diesem Anlass errichtete architektonische Hülle ausschließlich auf der Ebene naiver Volkskunst zu verorten sei. Vielmehr gelang es den Künstlern des deutschen Südens, die bis heute anhaltende Popularität ihrer ‚frommen und heiteren‘ Raumschöpfungen mit hochkomplexen, theologisch und architektonisch durchdachten Bild- und Bauprogrammen zwanglos zu verbinden: Sie spielten sozusagen souverän und dennoch harmonisch auf mehreren Registern gleichzeitig. Die Wieskirche besteht, dem Bauauftrag gemäß, aus zwei Raumteilen, einem apsidial geschlossenen Langchor und dem daran anschließenden Hauptraum über ovalem Grundriss ( □ 137 ). Im Osten sind ein einfacher
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rechteckiger Turm und ein Priesterhaus für die Wallfahrtsseelsorger angebaut (hier grau schraffiert), im Westen eine halbrunde Vorhalle angefügt. Das Äußere wirkt merkwürdig teigig und unarchitektonisch gestaltet, belebt von phantastisch-ornamentalen Fenstergruppen, als verriete dies noch die Ausbildung des Architekten in Wessobrunn, dem Stuckzentrum Süddeutschlands. De facto ist die gesamte gestalterische Energie, anders als z. B. in Italien und Frankreich üblich, auf den dramatisch mit dem schlichten Äußeren kontrastierenden, überaus prachtvollen Innenraum konzentriert: Auf eine explizit gestaltete Fassade wurde verzichtet. Am Anfang des barocken Kirchenbaus vor allem in Italien steht tatsächlich das Ringen um den idealen Raumtypus, das in St. Peter mit einem unbefriedigenden, beim Gesù mit einem zukunftsweisend-praktikablen Kompromiss, dem basilikalen Langhausbau mit überkuppelter Vierung endete |▶ 21, 22, 39|. Ambitionierte Architekten beider Konfessionen bevorzugten aber weiterhin den symbolträchtigen Zentralbau, dem aus funktionalen Gründen ein separierter Chor additiv angefügt werden konnte |▶ 23, 24, 41|. In Süddeutschland dominierte schließlich eine dritte innovative Bauform, der einschiffige Wandpfeilersaal in der Nachfolge der Münchner Jesuitenkirche St. Michael |▶ 12|. Diese stellte sich als zeitgemäße Weiterentwicklung der in Deutschland seit der Gotik vorherrschenden und allseits beliebten Hallenkirche dar, eines Bautypus, bei dem Mittel- und Seitenschiffe gleich hoch gewölbt waren und in dem der als kontinuierliche Einheit wahrnehmbare
Raum von den durchfensterten Außenwänden reichlich Licht empfing. Zimmermann suchte nun nach einer Lösung, welche die Qualitäten aller drei genannten Raumarten miteinander verschmolz ( □ 137). Das Oval der Wieskirche kann als längsgerichteter Zentralraum unter flacher, vollständig freskierter Kuppel, als Wandpfeilersaal mit besonders stark durchbrochenen, nach innen gerückten Strebepfeilern oder als gerundete dreischiffige Hallenkirche mit Umgang gelesen werden. Die Stützen sind hierbei wie bei Perraults Louvrekolonnade (□ vgl. 123) paarig rhythmisiert. Der Chor (□ vgl. 33) variiert das Hauptraumschema, denn auch er ist zweischalig mit einer innenliegenden Säulenreihe angelegt, aber diese ist wie bei der Schlosskapelle von Versailles (□ vgl. 128) nobilitierend auf eine Pfeilerarkade gesetzt. Die Zone über dem in beiden Raumteilen jeweils umlaufenden Gebälk der Stützen ist in Längs- und Querrichtung jeweils so stark durchbrochen, als solle wie bei Soufflots gleichzeitiger Pariser Ste-Geneviève-Kirche |▶ 49| das ‚gotische‘ Ide-
□ 137 Wies bei Steingaden, Wallfahrts kirche, Grundriss und Längsschnitt, D. Zimmermann, 1746 – 54
Die Wieskirche bei Steingaden
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282 □ 138 Wies bei Stein gaden, Wallfahrts kirche, Inneres von Westen, J. B. u. D. Zimmermann, 1746 – 54
al der Überwindung der Schwerkraft in neuen Formen perfektioniert werden. Es fällt schwer zu sagen, ob die vielfältigen Bezüge dieser Architektur eines ländlichen Baumeisters aus Oberbayern als bewusste Zitate oder als genial-schöpferische Parallelbildungen zu deuten sind. Für die Autonomie seiner Ästhetik spricht die völlig unakademische Freizügigkeit, mit der hier das vitruvianische Vokabular umgedeutet ist: Merkwürdige Mischformen aus Säule und Pfeiler werden von korinthisierenden Kapitellen mit Engelsköpfen bekrönt. Firmitas, das Ideal der statischen Stabilität und Plausibilität, wird von textilartig durchhängenden oder ondulierten Bögen geradezu verhöhnt. Die scheinbare Schwerelosigkeit der Konstruktion verdankt sich vor allem der Zimmermannskunst, denn die ‚Kuppel‘ ist kein Steingewölbe, sondern (wie der Schnitt zeigt) eine vom Dachstuhl abgehängte, flache Holzlattenkonstruktion, die sich allein durch die Illusionswirkung des daran aufgebrachten Freskos zu wölben scheint. Das Grundprinzip dieser Architektur ist genuin dekorativ und ornamental, es greift die überkommenen Prinzipien des Dekorums sozusagen von der entgegengesetzten Seite an:
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Während der gleichzeitig in Westeuropa entwickelte Klassizismus auf eine systematische Reinigung, Klärung und Glättung der Großformen und Oberflächen setzt |▶ 47, 49, 50|, betreibt Zimmermann deren finale Auflösung in einem ästhetischen Rausch, der selbst vor leuchtend roten und blauen Stuckmarmorsäulen im Chor nicht zurückschreckt. In diesem Sinne kann die Wies tatsächlich als programmatische ‚Rokoko-Kirche‘ gelten, weil sie die namensgebende Ornamentform der Rocaille (‚Muschel‘, □ vgl. 8, 33), anders als in Profanbauten wie den Schlössern von Sanssouci | ▶ 43| oder Würzburg |▶ 42|, nicht als modisch-dekorative Applikation einsetzt, sondern zum gestalterischen Prinzip des ganzen Entwurfs erhebt. Manche Autoren meinen, in dieser spielerischen Auflösung der Form zugleich eine Distanzierung von den frommen Inhalten zu erkennen. Dazu besteht aber gerade im Milieu der Wieskirche kein Anlass. Sie verdankt ihre Entstehung nicht dem zynischen Skeptizismus der damals an Einfluss gewinnenden, kirchenkritischen Aufklärung, sondern ist vielmehr der adäquate Ausdruck einer geradezu fundamentalistischen Heilsgewissheit und Glaubens-
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bereitschaft, ohne die ein derart aufwendiger Bau auf dem flachen Lande niemals entstanden wäre. Die Endzeit, welche in den Fresken thematisiert wird, erscheint hierbei als überaus verlockende Vision. Der blutig gegeißelte Heiland wurde relativ unauffällig in einem verglasten Tabernakel auf dem Hochaltar platziert, wohingegen das übrige Bildprogramm allzu düstere Passionsanspielungen vermeidet. Der leidende Christus präsentiert sich vielmehr als gütiger Welterlöser: Daher zeigt das Chorfresko nicht etwa die biblisch beglaubigte Kreuzigung, sondern die fiktive Szene des ‚Ratschlusses der Dreifaltigkeit‘, indem Gottvater das Sühneopfer seines Sohnes zur Erlösung der Menschheit gnädig annimmt. Christus ist über dem Hochaltarbild in Gestalt des versilberten Gotteslammes präsent, darunter als Jesuskind auf dem Schoß Mariens dargestellt. In den Umgängen sind in kleinen Deckenbildern Szenen gewährter Vergebung für reuige Sünder wiedergegeben, darunter befinden sich die Beichtstühle als Aufforderung an alle Gläubigen, auch dieser Gnade teilhaftig zu werden. Das Hauptfresko schließlich stellt das bevorstehende Weltgericht als heitere Naturszene unter blauem Himmel dar, von Dominikus’ Bruder Johann Baptist in leuchtenden Farben suggestiv imaginiert: Über dem Kirchenportal ist das noch verschlossene Tor der Ewigkeit mit dem eingangs zitierten Motto und dem davor zu Boden gestreckten, entmachteten Zeitgott Chronos dargestellt. Gegenüber auf der Chorseite (□ 138) sieht man einen leeren Thron, auf dem der Weltenrichter, der im Zenit schwebende auferstandene Christus, in Kürze Platz nehmen wird. Er ruht noch auf einem Regenbogen, der im Alten Testament als Zeichen der Besänftigung des göttlichen Zornes nach der Sintflut beschrieben ist (Gen. 9,13–17). Das Ende aller Zeiten wird hier als hoffnungsfrohe Verheißung, nicht als disziplinierende Drohung angekündigt. Vom Eingang der Kirche aus betrachtet, bekrönt der freskierte Thron Christi
das darunter befindliche Gotteslamm des Hochaltars: Bild- und Realraum sollen trotz ihrer medialen Differenzierung als erzählerische Einheit gelesen werden. Die auf dem Fresko formulierte Vorhersage, ,es werde keine Zeit mehr sein‘, hat sich anders erfüllt, als sie vermutlich gemeint war. Die zunehmend aufgeklärt-rationalistische Obrigkeit begann gegen Ende des Jahrhunderts, die Exzesse einer naiv-ekstatischen Frömmigkeit einzudämmen. Der vom Bischof von Augsburg unmittelbar nach dem ‚Wunder‘ entsandte Gutachter befand die Figur des Wies-Heilands als für jeden Betrug geeignet. Sich für Kirchenbauten zu verschulden, die vor allem von der Landbevölkerung gefordert wurden, erschien den Staatsbeamten höchst unvernünftig. Als Bayern im Gefolge der napoleonischen Kriege 1803 die geistlichen Besitztümer annektierte und die Klöster auflöste, wurden auch die Wallfahrten vorübergehend als nutzloser Müßiggang, Aberglaube und Zeitverschwendung verboten. Die daher ‚überflüssige‘ Wieskirche sollte 1809 für ein Hundertstel ihrer noch immer nicht getilgten Baukosten an einen Forstbeamten verkauft werden – falls gewünscht, auch auf Abbruch. Der erbitterte Widerstand der Landbevölkerung verhinderte dies. Das ‚vernünftige‘ Königreich Bayern ist selbst seit einem Jahrhundert Geschichte – die Wieswallfahrt existiert immer noch, das späte Meisterwerk der Zimmermann-Brüder steht seit 1983 auf der UNESCO-Welterbeliste und dem Pflichtprogramm aller Kulturtouristen. Das letzte Wort gehört wieder Pater Benno Schröfl (S. 25): Was soll ich noch mehrer von diesem Gnadenfluß melden, da selber jetzt schon ganz Europa durchströmet, wenn sogar von Petersburg in Rußland, von Gotenburg in Schweden, von Amsterdam in Holland, von Kopenhagen in Dänemark, von Christianenburg in Norwegen, von Nimes in Frankreich, von Cadix in Spanien Wallfahrter da gewesen?
Die Wieskirche bei Steingaden
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Die Konfessionen: Grundlagen des Sakralbaus
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uropa wurde in der Frühen Neuzeit von den drei abrahamitischen Religionen Christentum, Judentum und Islam geprägt. Das Christentum differenzierte sich im Laufe dieser Epoche in drei verschiedene Konfessionen, von denen die eine, der sog. Protestantismus, wiederum in zahlreiche, spezifische Untergruppen zerfiel. Normalerweise herrschte in jedem Land nur eine bestimmte Religion/Konfession (meist diejenige des Herrscherhauses), und nur diese durfte Gotteshäuser mit Repräsentationsanspruch errichten. Religiöse Minderheiten waren oft geduldet, so auch das Judentum, allerdings wurde den nicht gleichberechtigten Konfessionen nur selten das Recht zugestanden, ebenfalls architektonisch anspruchsvolle Großbauten zu errichten. Das Hl. Römische Reich Deutscher Nation war seit 1555 offiziell bikonfessionell, Frankreich und Spanien dagegen strikt katholisch, England protestantisch. Diesen epochenspezifischen Differenzierungsprozess bezeichnet man auch als ‚Konfessionalisierung‘. In Osteuropa konkurrierte die sog. orthodoxe (‚rechtgläubige‘) Ausrichtung des Christentums mit dem expandierenden sunnitischen Islam, der im Osmanischen Reich nach der Eroberung Konstantinopels 1453 zur Staatsreligion wurde. Dadurch verlagerte sich das kulturelle Zentrum der Orthodoxie vom griechisch sprechenden Mittelmeerraum ins slawischsprachige Russland. Die westliche Kirche spaltete sich um 1550 in eine ‚katholische‘ (auch: altgläubige), auf den Papst in Rom ausgerichtete, lateinischsprachige Mehrheit im Süden und die in Nordeuropa dominierenden ‚evangelischen‘ (auch: protestantischen) nationalsprachlichen Kirchen. Alle Richtungen verstanden sich jeweils als die eigentlichen Bewahrer und Erneuer christlicher Werte, die ‚Andersgläubigen‘ dagegen als irregeleitete Abweichler vom einzig wahren Glauben. In katholischen Ländern blieb die Kirche eine autono-
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me, hierarchische Organisation, in protestantischen wurde sie zu einem Organ der staatlichen Obrigkeit. Prägend für alle christlichen Kirchenbauten ist die Ausrichtung auf ein liturgisches Zentrum (meist im Osten, dies ist aber nicht so streng geboten wie im Judentum und Islam), an dem der Abendmahlsgottesdienst gefeiert und die heiligen Texte verkündet und ausgelegt werden. Meist ist dieser Bereich besonderer Weihe, der sog. Chor, durch Stufen erhöht, durch Abschrankungen vom sog. Laienschiff getrennt und tritt nach außen als eigenständiger Baukörper hervor |▶ 2|. Die Form des Grundrisses ist nicht vorgeschrieben, längsgerichtete Bauten in Kreuzform waren im Westen üblich |▶ 22|, Orthodoxie und osmanischer Islam bevorzugten Zentralbautypen |▶ 14, 15|. Kuppeln und Türme konnten ggf. als Hervorhebung dienen, waren aber rituell nicht erforderlich|▶ 3, 17|. Palastkirchen wurden oft äußerlich völlig unauffällig in einen Flügel des Schlosses integriert |▶ 10, 42|. In evangelischen (□ vgl. 16) und orthodoxen Kirchen gab es jeweils nur ein liturgisches Zentrum in jedem Gotteshaus, die katholischen Kirchen waren dagegen polyzentrisch, sie besaßen Nebenaltäre (meist in Kapellen, |▶ 12|) für private oder separate Gottesdienste. Orgeln zur Begleitung des liturgischen Gesanges kannten nur die westlichen Kirchen. In der Frage des Bilderschmucks differierten die christlichen Konfessionen stark: Während dieser in Katholizismus und Orthodoxie eine wichtige Rolle spielte und meist auf die Altäre konzentriert wurde, waren die Protestanten hier geteilter Meinung. Die in Mittel- und Nordeuropa vorherrschenden Lutheraner schätzten Bilder und Kirchenschmuck durchaus. Die in Westeuropa dominierenden strengeren ‚Reformierten‘ hingegen – je nach Land auch Calvinisten, Puritaner oder Hugenotten genannt – teilten mit Juden und Muslimen die strikte Ablehnung derartiger ‚Götzenbilder‘. Aufwendige Grabdenkmäler gab es dagegen in allen Konfessionen.
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Die Frauenkirche in Dresden „Ein St. Peter der wahren evangelischen Religion“
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eutschlands jüngste Barockkirche, die Dresdner Frauenkirche, wurde am 30. Oktober 2005 eingeweiht (□ 139) . In einer international viel beachteten fünfzehnjährigen gemeinsamen Anstrengung ermöglichten Bürgerinitiativen, öffentliche Geldgeber, die evangelisch-lutherische Kirche, aber vor allem zahllose Privatspenden aus aller Welt die Wiedererrichtung eines 1945 im Bombenkrieg zerstörten Bauwerks, dessen künstlerische, städtebauliche und symbolische Bedeutung weit über seine sakrale Funktion als Gemeindekirche der sächsischen Landeshauptstadt hinausweist. Warum weckte gerade dieses Projekt so viele Energien und breite Zustimmung, während andere Rekonstruktionsvorhaben wie z. B. das Berliner Schloss bis heute keine allgemeine Akzeptanz genießen? Hieran hat die Qualität und Einzigartigkeit einer Kirche, deren Ruine als zentrales Friedensmahnmal der DDR diente und deren Wiederaufbau nach dem Mauerfall 1989 als eine Art informelles Einheitsdenkmal verstanden werden kann, einen entscheidenden Anteil. Schon bei ihrer ersten Errichtung (1722–43) war die barocke Frauenkirche ein Symbolbau, dessen Gestaltung und öffentliche Wahrnehmung mindestens so sehr an seiner architektonischen Wirkung wie an seiner unmittelbaren Nutzbarkeit als Gottesdienstraum orientiert war. Um dies zu verstehen, gilt es zunächst, einen Blick auf den religionspolitischen Hintergrund zu werfen. Der seit 1547 in Dresden residierende sächsische Kurfürst war der traditionelle Schutzherr des sog. Corpus Evangelicorum, des Zusammenschlusses der protestantischen Länder im Reich.
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Daher musste es den Lutheranern der Hauptstadt wie ein Schlag ins Gesicht erscheinen, als ihr Landesherr Friedrich August I., genannt der Starke, 1697 aus rein machtpolitischen Gründen zum katholischen Glauben konvertierte, um
□ 139 Dresden, Ev. Frauenkirche, Außenansicht nach der Rekonstruktion 2005
Die Frauenkirche in Dresden
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□ 140 Dresden, Ev. Frauenkirche, Innenraumansicht vor der Zerstörung, G. Bähr, 1722 – 43
sich daraufhin zum König von Polen wählen zu lassen. Die Sachsen durften zwar gemäß dem Westfälischen Friedensvertrag ihrer Konfession treu bleiben, aber dennoch erschien es mehr als geboten, die Eigenständigkeit und Vitalität, das Gottvertrauen und die Stärke des Luthertums für alle unübersehbar unter Beweis zu stellen. Nach damaliger allgemeiner Überzeugung gab es hierfür kaum ein geeigneteres Mittel als die Errichtung eines aufsehenerregenden, ambitionierten Bauwerks (Kuke 1996, S. 65–68). Als 1722 die spätgotische Frauenkirche auf dem Neumarkt, eine der beiden lutherischen Pfarrkirchen der Innenstadt, wegen Baufälligkeit ersetzt werden musste, beauftragte der auch als Kirchenobrigkeit fungierende Rat der Stadt seinen Zimmermann George Bähr mit der Planung eines geeigneten Neubaus, der den gestiegenen Platz- und Repräsentationsansprü-
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chen einer Hauptkirche der nunmehr königlichen Residenzstadt gerecht werden sollte. In den ersten zwei Jahrhunderten seit der Reformation hatten die lutherischen Bauherren dezidierte, wenn auch nicht unbedingt verpflichtende Vorstellungen von der für ihren Ritus geeigneten Kirchenbauweise entwickelt |▶ 10, 13|. Im Gegensatz zu den sog. Reformierten ( Themenblock · Die Konfessionen, S. 284) hatten die deutschen Lutheraner keine grundsätzlichen Bedenken gegen prachtvolle Gotteshäuser mit bildlichen Darstellungen, gipfelnd in einem monumentalen Hochaltar; sie verstanden ihre Kirchen vielmehr als Abbild der jeweiligen Gemeindestruktur, deren Selbstbewusstsein und Wohlstand sich durchaus in der angemessen prächtigen Gestaltung ihres Gebetshauses widerspiegeln sollten. Andererseits galt es, bestimmte funktionale Vorgaben einzuhalten: Möglichst viele Gläubige sollten gleichzeitig an den Hauptgottesdiensten teilnehmen und vor allem die Predigt gut verstehen können. Der Kirchenbautheoretiker Leonhard Christoph Sturm legte in seinen 1712 und 1718 edierten Lehrbüchern zahlreiche phantasievolle Varianten zur Grundrissgestaltung vor, darunter auch querorientierte Räume oder solche, die an die Sitzordnung antiker Theater (□ vgl. 82) erinnerten. Dennoch blieb auch der klassische längsgerichtete Kirchentypus stets ein wichtiges Vorbild, wie z. B. die ähnlich ambitionierte, 1751–62 neu errichtete Hamburger Michaeliskirche (Faulwasser 1901, Frank 2006) von Ernst Georg Sonnin und Johann Leonhard Prey belegt. Dieser neben der Dresdner Frauenkirche wohl bedeutendste evangelische Kirchenneubau im Reich verbindet eine monumentale Einturmfront mit einem Saalraum, der auf Basis eines griechischen Kreuzes zwischen Zentral- und Langbauschema vermittelt. Als besonders geeignete Bauform hatte sich der Zentralraum mit mehreren (hier drei) logenartigen Rängen bewährt (□ 140, □ vgl. 13). Diese Raumdisposition mit ihrer hierarchi-
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schen Staffelung stellte nicht nur ein Abbild der ständisch gegliederten Gemeinde dar, sie ermöglichte es den Wohlhabenden auch, durch den Erwerb privater, reservierter Kirchenstühle zur Baufinanzierung beizutragen (Wex 1984; Kuke 1996, S. 81 ff.). Die Frauenkirche besitzt keine hervorgehobene Hauptfassade, sondern betont die dem Zentralbauschema inhärente, tendenzielle Gleichwertigkeit aller Seiten mit vergleichsweise kleinen Portalen in den drei durch flache Portiken zwischen Kolossalpilastern ausgezeichneten Mittelrisaliten der Langseiten und in den vier Türmen, welche durch Treppenhäuser die Emporen erschließen. Die nahezu gleichrangige Bedeutung von Abendmahl, Predigt und Kirchenmusik im Protestantismus fand ihre ideale Umsetzung im Konzept des sog. Orgelkanzelaltars, der alle drei Funktionen miteinander verbindet. In der Frauenkirche konnte dies aufgrund der Tiefe des Chores nicht realisiert werden, so dass der Predigtstuhl hier nach Bährs originellem (beim Wiederaufbau umgesetzten) Konzept in der Achse des Altars wie ein Schiffsbug von der Chorschranke in den Laienraum hineinragt. Es erstaunt bis heute, dass der Rat der Stadt den von Bähr vorgelegten Entwurf eines monumentalen Zentralbaus mit angefügter Chor apsis ( □ 141) und riesiger, eigentlich nicht nutzbarer Kuppel über dem Gemeinderaum befürwortete. Das Projekt erfuhr während der langen Jahre seiner Realisierung immer wieder erhebliche Veränderungen, die vor allem auf die Einflussnahme und Kritik Dritter zurückzuführen waren, so zum Beispiel des kurfürstlichen Oberbauamtes unter der Leitung des Dresdner Stadtkommandanten Graf Wackerbarth und seines Architekten, des Landbaumeisters Johann Christoph Knöffel. Die evolutionäre Gestaltfindung kann man dank des reichen erhaltenen Planmaterials sehr gut nachvollziehen (Magirius 2005, S. 315–442). Das sog. Erste Projekt hatte Bähr 1724 noch auf Basis eines griechischen Kreuzes entwi-
ckelt. Von Knöffel übernahm er den Vorschlag, den Hauptraum über Kreisgrundriss mit acht Pfeilern zu gliedern und die Ecken durch kleinere Türme zu betonen. Im sog. Approbationsprojekt von 1726 erhielt der Gesamtbau seine im Nachhinein so schlüssig und konsequent erscheinende äußere Achteckform. Die einzigartige Steinkuppel schließlich wurde erst 1730 projektiert, weil die ursprünglich geplante Holzkonstruktion mit Kupferbedeckung als zu teuer erschien. Es verwundert, und ist doch vielleicht nur folgerichtig, dass ausgerechnet ein Zimmermann und kein gelernter Steinmetz diesen unkonventionellen, statisch heiklen, für das regenreiche Nordeuropa gewagten Vorschlag formulierte. Eine weitere Besonderheit liegt in der Verbindung des Gemeinde- mit dem Kuppelraum über einen großen, offenen Oculus (□ 142). Die praktische Nutzbarkeit dieser Raumerweiterung, etwa für zusätzliche Gottesdienstbesucher oder Musiker, steht in keinem Verhältnis zu dem hierfür umbauten Volumen,
□ 141 Dresden, Ev. Frauenkirche, Grundriss, G. Bähr, 1734
Die Frauenkirche in Dresden
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□ 142 Dresden, Ev. Frauenkirche, Querschnitt, G. Lindemann nach G. Bähr, 1734
denn die äußere Steinkuppel ist mit der sie bekrönenden Laterne nahezu gleich hoch wie der darunter befindliche Hauptraum. Dies wirft ein Licht auf die eigentlich bestimmende, symbolische und repräsentative Konzeption des Entwurfs. Für den zeitgenössischen gebildeten Betrachter bot der Bau eine Vielzahl von Querbezügen, welche seinen Anspruch unterstrichen: Die Zentralbauform erinnerte ebenso wie die gewaltige steinerne ‚römische‘ Kuppel an Michelangelos St.-Peter-Entwurf (□ vgl. 89). Durchbrochene Kuppeln fand man auch bei den bedeutendsten Kirchenbauprojekten der Epoche, etwa dem Pariser Invalidendom (1679–1712, Jules Hardouin-Mansart) oder der Londoner St.-Pauls-Kathedrale (1666–1708, Christopher Wren). Dennoch ist die Dresdner Lösung im höchsten Maße eigenständig, denn sie ersetzt den konventionellen, der Belichtung die-
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nenden Tambour durch eine konkav modellierte, die vier schrägstehenden Türme einbeziehende Vermittlungszone zwischen den Außenwänden und der Kalotte. Die Kuppel der Frauenkirche konkurriert also mit den anspruchsvollsten Sakralbauten Europas, besonders den katholischen, ohne sie nachzuahmen: Vielmehr versuchten die Erbauer, diese Vorbilder durch eine neue, einzigartige Invention zu überbieten. Wie ist diese Formenwahl zu deuten? Wollte der Rat der Stadt seinem zum Katholizismus konvertierten Landesherrn durch die unverkennbar ‚römischen‘ Anspielungen eine Reverenz erweisen – ist dies vielleicht auf den direkten Einfluss des Kurfürsten zurückzuführen? Es lässt sich belegen, dass August der Starke den Neubau zwar als Zierde seiner Hauptstadt schätzte, aber weder durch Weisung noch durch finanzielle Unterstützung auf dessen Gestaltung einwirkte. Der italienische Hofarchitekt Gaetano Chiaveri äußerte in einem Gutachten vielmehr erhebliche Zweifel an der Standfestigkeit der Steinkuppel und plädierte sogar für deren Abtragung. Es waren vielmehr George Bähr und seine Auftraggeber selbst, die diese Bezüge herstellten, allerdings nicht mit affirmativen, sondern mit kompetitiven Hintergedanken: Oberkonsistorialrat Löscher betonte bei der Grundsteinlegung, dass nicht der Papst in Rom, sondern der wahre (evangelische) Glaube das eigentliche Fundament der christlichen Kirche sei (Kuke 1996, S. 61–65). Diese Deutung belegt zugleich, dass eine direkte symbolische Gleichsetzung von Bautypus und Konfession – ‚Kuppel = katholisch‘ – nicht dem Denken der Epoche entspricht. Man versuchte nicht mehr wie zuvor in Freudenstadt |▶ 13|, eine unverwechselbar ‚protestantische‘ Baugestalt zu finden, sondern konkurrierte um ein gemeinsames, mit höchsten Ansprüchen verbundenes Formenrepertoire. In diesem Sinne war die Kuppel durchaus ‚funktional‘ begründet, weil sie ein unübersehbares Zeichen der selbstbewussten lutherischen Religion an die
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Dresdner Elbfront setzte. Die Bürgerschaft der Residenzstadt bewies, dass sie im Wettstreit mit ihrem baufreudigen Landesherrn durchaus mithalten konnte und wollte. Als die Kuppel sich der Vollendung näherte, wurde das ‚konfessionelle Gleichgewicht‘ durch die ganz anders gestaltete, aber ebenso wirksame Einturmfassade der katholischen Hofkirche Gaetano Chiaveris (erbaut 1739–55) wiederhergestellt: Vierzig Jahre lang hatte der Kurfürst und König bewusst darauf verzichtet, durch einen aufwendigen Kirchenbau dem eigenen Konfessionswechsel ein Denkmal zu setzen, nun nahm er die Herausforderung an (Caraffa 2006). Man kann trefflich darüber streiten, ob die Frauenkirche die vollkommenste evangelische Barockkirche auf deutschem Boden ist oder ob das überall spürbare ‚Zuviel‘ der bedeutungsträchtigen, überlagerten und gesteigerten Bauideen ihre primäre Funktion als Gottesdienstraum schwächt: So steht der tiefe, von einem prächtigen Retabel beherrschte Chor in unaufgelöstem Gegensatz zur Leitidee des Zentralbaus. Die oben erwähnte Hamburger Michaeliskirche kommt mit einem umlaufenden Emporenrang aus, wirkt also im inneren nicht
so steil und ‚theaterhaft‘, der Chorraum ist dort stärker mit dem Gemeinderaum verschmolzen. Dagegen war die ambitionierte städtebauliche Komposition und einzigartige formale Gestaltung, die konzeptionelle Offenheit und Vieldeutigkeit der ‚steinernen Glocke‘ sicher von entscheidender Bedeutung bei ihrer symbolischen Neubesetzung als Wahrzeichen für ganz Dresden und damit für ihre Wiederauferstehung nach 45 Jahren der Zerstörung. Ob die Totalrekonstruktion verlorener Bauwerke, selbst wenn sie so ‚archäologisch getreu‘ wie in Dresden erfolgt, ein legitimes und adäquates Mittel kultureller Selbstvergewisserung ist oder als ‚Geschichtsfälschung‘ das Bewusstsein für den Wert authentischer, originaler Bausubstanz unterminiert, zählt zu den besonders heftig umstrittenen Fragen des Umgangs mit dem historischen Erbe (Nerdinger 2010). Der Versuch, ermutigt durch den Wiederaufbau der Frauenkirche nun auch den umgebenden Neumarkt ‚nach barockem Vorbild‘ zu gestalten, belegt die gestalterischen Grenzen, aber auch die erstaunliche Sogwirkung dieser scheinbar einmaligen, vielleicht aber für das 21. Jh. Maßstab setzenden Initialzündung.
Die Würzburger Residenz Kaiser, Reich und Fürstbischof
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ie ‚klassischen‘ Leitfragen der Architekturgeschichte nach Funktion, Typus, Bauherr und Architekt sind in vielen Fällen einfach und klar zu beantworten. Es gehört aber zu den Eigenarten des frühneuzeitlichen Baugeschehens, dass derartig eindeutige Aussagen gerade bei bedeutenden Beispielen oft kaum möglich erscheinen, und zwar nicht aufgrund des Mangels an sachdienlichen Informationen, son-
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dern ganz im Gegenteil: Je mehr man über ein Gebäude weiß, je reicher die Quellenlage ist, desto mehr lösen sich die scheinbaren Sicherheiten auf. Die Würzburger Residenz, eines der bestuntersuchten Baudenkmäler des deutschen Barock, ist ein gutes Beispiel dafür. Lange Zeit glaubte man, dieses Schloss am östlichen Rand der mainfränkischen Bischofsstadt sei im Auftrag der Schönborn-Familie in
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deren Funktion als Fürstbischöfe von Würzburg nach Plänen des genialen fränkischen Baumeister Balthasar Neumann gemäß dem Vorbild von Versailles |▶ 36| erbaut worden. Keine dieser Aussagen ist gänzlich falsch, aber nahezu alle bedürfen einer Differenzierung und Relativierung. Die Bauherren, eben jene Fürstbischöfe von Würzburg, in einer für das Reich typischen Mischung sowohl geistliche Oberhirten als auch Territorialherren mit dem Titel eines Herzogs von Franken, benötigten eigentlich kein neues Schloss, denn sie residierten seit Jahrhunderten durchaus standesgemäß auf der Festung Marienberg hoch über der Stadt. Einen funktionalen oder politisch-programmatischen Bedarf wie bei der Verlegung des Regierungssitzes von Paris nach Versailles gab es somit nicht. Politisch bedeutendere Kirchenfürsten wie der ebenfalls aus der Schönborn-Familie stammende Mainzer Kurfürst und Erzkanzler des Hl. Römischen Reiches, Lothar Franz, verzichteten auf vergleichbare Neubauten in ihrer Residenzstadt. Es war offensichtlich die in jenen Jahren mächtig zunehmende repräsentative Konkurrenz zwischen den Reichsständen zweiter Ordnung, die im politisch wenig bedeutenden, eher machtlosen Würzburg den Wunsch entstehen ließen, nicht hinter den Standesgenossen zurückzubleiben. Die eigene weltlich-geistliche Doppelherrschaft sollte durch eine Vielzahl von Baumaßnahmen, von denen die Residenz nur die wichtigste war, in einer neuen Dimension und Qualität sichtbar gemacht werden (Süssmann 2007; Büttner 2008, S. 198–208). Tatsächlich war die Familie Schönborn für viele Jahre die treibende Kraft hinter dem Neubau, aber das Schloss gehörte ihnen nicht, obwohl sie anmaßend ihr Familienwappen am Giebel des Ehrenhofes anbringen ließen. Die Fürstbistümer des Reiches waren nämlich ähnlich wie das Papsttum Wahlmonarchien, und die Anwartschaft einer bestimmten Dynastie auf Erbfolge war auch hier keineswegs gegeben. So
III. Schlüsselwerke
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folgte auf Johann Philipp Franz von Schönborn, der 1720 den Grundstein zum Residenzneubau gelegt hatte, eine fünfjährige Stagnation unter dessen wenig baulustigem Nachfolger Christoph Franz von Hutten. 1729 – 46 regierte wieder ein Schönborn, Friedrich Carl, der zuvor in Wien als Vertreter seines Onkels Lothar Franz am Kaiserhof als Reichsvizekanzler gewirkt hatte, und brachte von dort den österreichischen Architekten Johann Lucas von Hildebrandt mit, dessen Handschrift den Bau unübersehbar mitprägte. 1746 folgte Anselm Franz von Ingelheim, der als Erstes den seit fast zwei Jahrzehnten zuständigen Bauleiter, den Artillerieingenieur Balthasar Neumann, entließ. Als Ingelheim schon drei Jahre später starb, nahm sein Nachfolger Carl Philipp zu Greiffenclau den Bau wieder auf, stellte Neumann wieder ein, setzte aber andere Akzente als seine Vorgänger: So verpflichtete er 1750 den berühmtesten italienischen Freskanten seiner Zeit, den Venezianer Giambattista Tiepolo, für die Ausmalung der von Neumann zunächst anders konzipierten Haupträume. Adam Friedrich von Seinsheim, unter dessen Regentschaft von 1755–79 der Bau vollendet wurde, leitete einen Stilwandel zum frühen Klassizismus ein. Die nur auf den ersten Blick homogen wirkende Anlage, scheinbar das Produkt des kongenialen Zusammenspiels eines Bauherrn mit seinem Architekt, ist also das Ergebnis einer durchaus wendungsreichen Entstehungsgeschichte. Neumann war bis zu seinem Tod 1753 über dreißig Jahre der Spiritus Rector des Projekts, musste aber die Vorschläge und Korrekturen zahlreicher Konkurrenten und Mitwirkenden, vom Mainzer Hofbaumeister Welsch über den Pariser de Cotte, den Wiener Hildebrandt, der z. B. die markant geschwungenen Giebel entwarf, und den Venezianer Tiepolo in seine Entwürfe integrieren. Die individuellen Handschriften des Hofschlossermeisters Oegg (er schuf die großartigen, nur teilweise erhaltenen Gittertore), der Stuckateurdynastie Bossi und des Bildhauers Johann Wolfgang von der Auvera (um
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nur einige exemplarisch zu nennen) trugen zu einem Ensemble von europäischem Anspruch bei, das ähnlich wie Versailles oder St. Peter in Rom nicht als konsequente Umsetzung eines genialen Masterplans, sondern als zuletzt erstaunlich homogenes Ergebnis eines work in progress, einer hochkomplexen Interaktion verstanden werden muss. Ein hervorragendes Beispiel für das spannungsreiche Zusammenwirken der beiden Architekten Neumann und Hildebrandt stellt die 1729–43 realisierte Hofkirche der Residenz dar (□ 143). Sie liegt an einer äußerlich unbetonten Stelle im südwestlichen Eckrisalit der Ehrenhofseite. Umso größer ist die Überraschung der Besucher, wenn sie im Inneren auf ein hochkomplexes Raumgefüge treffen, das den aus Versailles bekannten Typus der mehrgeschossigen, durch Kolonnaden gegliederten Palastkapelle mit dem für den österreichischen Spätbarock typischen Materialprunk | ▶ 39| und einem an Guarino anknüpfenden Gewölbesystem |▶ 24| verbindet. Der Gegensatz zwischen einer geometrisch einfach gestalteten äußeren Raumhülle und einer stark bewegten, aus sich überschneidenden Ovalen gebildeten Binnen struktur gehörte zu den besonderen Spezialitäten Neumanns: Er wandte sie unter anderem auch in seiner berühmten Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen (□ vgl. 38) oder der Benediktinerabteikirche Neresheim an (Franz 1998, S. 48–56). Neumann gliederte die Gewölbezone des langgestreckten Raumes durch drei Ovale, zwei quergerichtete über Chor und Eingang und ein längsgerichtetes Oval in der Mitte. Sie berühren sich so, dass ihre begrenzenden Gurtbögen in der Raummitte verschmelzen. Die Zwickel zwischen diesen Flachkuppelabschnitten sind durch in das Schiff einschwingende konvexe Logen besetzt. Altarraum und gegenüberliegende Fürstenloge wurden auf Wunsch des Bauherrn durch die nachträgliche Hinzufügung von Emporen unter den Randovalen zusätzlich
□ 143 Würzburg, Fürstbischöfliche Residenz, Hofkirche, B. Neumann, J. L v. Hildebrandt u. a., 1729 – 43
gegliedert. Eine Balustrade über dem vor- und zurückschwingenden, den gesamten Raum zusammenfassenden Hauptgebälk unterstreicht den Charakter der zweigeschossigen Palastkapelle, wobei im Unterschied zu Versailles die Kolossalsäulen hier der unteren Zone mit den Altären zugeordnet sind. Die überaus spannungsvollen Architekturformen werden in ihrer Ablesbarkeit noch zusätzlich durch die dunkelbunten Oberflächen Hildebrandts, den Stuck Antonio Bossis, die Skulpturen Auveras, die Altarbilder Tiepolos und die Fresken von Byss überblendet. Keiner der beteiligten Künstler allein hätte ohne die Einbindung der anderen jemals einen derart überkomplexen Raum realisieren können – dass sich ihre gestalterischen Ideen durch die vom Bauherrn aufgezwungene Konkurrenzsituation potenzierten, statt sich wechselseitig zu behindern, spricht für die Effizienz dieser zeittypischen Art der ‚Teambil-
Die Würzburger Residenz
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dung‘ . Sie entsprang einem im deutschen Spätbarock vorherrschenden Gestaltungsideal, das man ohne jeden negativen Unterton als ‚eklektizistisch‘ bezeichnen kann, weil es undogmatisch aus einem großen Pool von Ideen und individuellen Handschriften das jeweils Beste auswählte und so kombinierte, dass ein noch besseres, neuartiges, originelles Gemeinschaftswerk daraus hervorging (v. Engelberg 2012). In diesem Sinne kann auch das typologische Vorbild Versailles nur als bedingt verbindlich gelten, denn die Lage der Residenz am Rand der Altstadt, eingezwängt von den sternförmigen Bastionen des gerade erneuerten Festungsrings, wäre eher mit dem Louvre |▶ 35| zu vergleichen. Trotz der relativ beengten Situation wurde die Anlage durch einen weiten, ehemals von Gittern gegliederten Vorplatz und einen tiefen Ehrenhof von der Stadt abgerückt. Auch die Disposition des Hauptbaukörpers (□ 144) zeigt deutliche Unterschiede zum Schloss des Sonnenkönigs, denn die Residenz entwickelt sich nicht so stark in die Breite, sondern scheint aus zwei spiegelbildlich gegenüberstehenden viergeschossigen Vierflügelanlagen mit je zwei Innenhöfen zusammengefügt, die jeweils in etwa der Grundstruktur des Amsterdamer Rathauses vergleichbar sind |▶ 32|. Diese
□ 144 Würzburg, Fürstbischöfliche Residenz, Grundriss des ersten Obergeschosses, B. Neumann u. a., 1720 – 66
III. Schlüsselwerke
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beiden Blöcke, die durch ovale Mittelpavillons zu den nördlich und südlich anschließenden Gärten orientiert erscheinen, werden an ihrem stadtabgewandten, östlichen Ende von einem Querriegel zusammengespannt, der als corps de logis die wichtigsten Repräsentationsräume enthält und die Mittelachse der Gesamtanlage markiert. Hier entwickelt sich eine komplexe, fünfteilige Raumfolge aus Vestibül, einem zum Garten hin orientierten gewölbten Saal im Erdgeschoss (sala terrena), rechtwinklig von dieser Achse abzweigendem dreiläufigem Treppenhaus, Gardesaal und Kaisersaal: ein szenographisch inszenierter Weg für hochgestellte Besucher, der die mehrfach umgestaltete Raumfolge von Versailles durch seine Stringenz in den Schatten stellt. Während Neumann zunächst an eine allmähliche Steigerung der Ausstattungspracht in dieser Raumfolge gedacht hatte, entschied sich Greiffenclau nach der Berufung Tiepolos für eine rhythmisch ‚atmende‘ Abfolge freskierter und ‚nur‘ stuckierter Räume. So entstand an dem von Neumann über dem Treppenhaus errichteten flachen Muldengewölbe (□ 145) – einem Meisterwerk der Ingenieurs kunst, welches den verheerenden Bombenangriffen des zweiten Weltkriegs trotzte – das mit 30 × 18 m größte Deckengemälde der Welt, das die vier (damals bekannten) Kontinente und die Herrschaft des Fürstbischofs Greiffenclau als neues Goldenes Zeitalter des Sonnengottes Apoll darstellte (Alpers/Baxandall 1996). Nachdem die Besucher den in Weiß und Grau üppig, aber bildlos stuckierten Gardesaal – daher Weißer Saal genannt – durchschritten haben, betreten sie, sich erneut nach links wendend, den achteckigen Kaisersaal als Höhepunkt des inszenierten Weges. Hier werden unter Aufbietung allen materiellen Glanzes von Stuckmarmor und Gold Szenen aus der mittelalterlichen Würzburger Geschichte präsentiert: Tiepolo stellte in einer nicht um historische Exaktheit besorgten Szenerie die Vermählung Kaiser Friedrich Barbarossas mit Beatrix von
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Burgund in Würzburg und die darauf folgende Verleihung der Würde eines Fränkischen Herzogs an den Bischof dar. Hierdurch ist das Hauptthema der Gesamtanlage formuliert, nämlich die Hoffnung auf Fortdauer der engen synergetischen Partnerschaft von Kaisertum und fürstbischöflicher Herrschaft. Man kann die Residenz als einen monumentalen Appell an die gewählten Reichsoberhäupter und alle ausländischen Besucher lesen, sich dieser traditionellen Legitimation der politischen Struktur Deutschlands stets aufs Neue zu vergewissern: Nach mehreren politischen Niederlagen, z. B. der Eroberung Schlesiens durch Preußen |▶ 43| und der Wahl eines Gegenkandidaten aus dem bayerischen Hause Wittelsbach im Jahr 1742, tendierten die Habsburger dazu, sich auf den Ausbau ihres österreichisch-ungarisch-böhmischen Territoriums zu konzentrieren. Hierdurch erschien die seit der Reformation fragwürdige Existenzberechtigung der machtlosen, politisch unzeitgemäßen sog. Hochstifte (Territorien der Bischöfe) zunehmend gefährdet. Ähnlich wie die Stadtrepubliken in den Jahrhunderten zuvor, reagierten die geistlichen Fürsten des Reiches auf diese Infragestellung ihrer Position mit einer kulturellen Offensive, die Weltläufigkeit, wirtschaftliche Potenz, Konkurrenzfähigkeit und Selbstbewusstsein demonstrieren sollte. Diese Lesart der Würzburger Residenz als ‚Reichsschloss‘ und virtuelle, temporäre Kaiserresidenz (Stephan 2002) wird durch die Raumdisposition unterstützt: Der Fürstbischof residierte in einer wenig hervorgehobenen Raumfolge an der Südostecke des Ehrenhofes, während die 167 m lange Gartenfront von zwei Enfilade-Appartements |▶ 37| rechts und links des Kaisersaals eingenommen wird, die ausschließlich für die temporäre Nutzung durch hohe Gäste bestimmt waren. Würzburg lag auf dem Weg zwischen Wien, der Reichshaupt- und Residenzstadt, und dem Wahl- und Krönungsort der Kaiser in Frankfurt, so dass
□ 145 Würzburg, Fürstbischöfliche Residenz, Treppen haus, B. Neumann, G. B. Tiepolo u. a., 1752 – 53
in regelmäßigen Abständen mit allerhöchstem Besuch zu rechnen war. In den langen Jahren, die zwischen solchen Aufenthalten vergingen, konnte man aber jedem Besucher zeigen, dass jederzeit alles bereit war, um die uralte Allianz von Thron und Altar wiederzubeleben. Man kann somit zu Recht fragen, ob die Hauptfunktion dieses Schlossbaus wirklich die neue Herrschaftszentrale des Würzburger Hochstifts – oder nicht vielmehr wie beim Markusplatz, dem Escorial oder dem Antwerpener Rathaus |▶ 9, 16, 31| das Abbild und Monument eines um Selbstvergewisserung ringenden politischen Systems sein sollte. Künstlerisch war dieses Vorhaben ein voller Erfolg: Es entstand das wohl vollkommenste Barockschloss Europas, das die verschiedensten Vorbilder und Tendenzen unter der meisterlichen Regie Neumanns zu einer schlüssigen Einheit zusammenführte. Das politische Hauptziel wurde freilich nicht erreicht: Im sog. ‚Reichsdeputationshauptschluss‘, der letzten
Die Würzburger Residenz
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Sitzung des Reichstags in Regensburg 1803, wurde das Hochstift Würzburg wie alle anderen geistlichen Fürstentümer aufgelöst und an die durch das Vordringen der Revolutionsarmeen geschädigten weltlichen Fürsten als Kompensation verteilt. Infolge dieser Säkularisation ge-
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nannten Enteignung der Kirche residierten im gerade fertiggestellten, ehemals fürstbischöflichen Prachtbau am Main ab 1807 die aus ihrem Land vertriebenen habsburgischen Großherzöge der Toskana (!), bis Franken schließlich 1815 endgültig an Bayern fiel.
Sanssouci bei Potsdam Das Lustschloss als Selbstbild
I
n der Nacht des 17. August 1991, im ersten Jahr des wiedervereinigten Deutschland, wurde unter persönlicher Anwesenheit von Bundeskanzler Helmut Kohl König Friedrich II. von Preußen bei Fackelschein auf der Terrasse von Sanssouci bei Potsdam beigesetzt, wo er auf den Tag genau 205 Jahre zuvor verstorben war. Sein Wunsch, statt in einer Kirche im Garten seines Lustschlosses und nur in Gesellschaft seiner geliebten Windhunde, nicht aber in der Grabstätte seiner Vorfahren bestattet zu werden, erschien den Zeitgenossen so ungewöhnlich, dass man ihn erst zwei Jahrhunderte später nach manchen Irrfahrten des Sarkophags zu erfüllen wagte. Diese testamentarische Verfügung sagt viel aus über den Charakter und die Weltanschauung des Königs sowie die eminente Bedeutung, welche dieses höchst individuelle Bauwerk für seinen Erbauer hatte (Bentzien 1991). Friedrich II., genannt der Große, zählte für Generationen zu den mythischen Gestalten der deutschen Geschichte – ein Mythos, den der willensstarke und rücksichtslose Einzelgänger bereits zu Lebzeiten begründet hatte (Sachse 2012). Preußen war im Jahr seiner Geburt 1712 erst ein Jahrzehnt lang Königreich: Der ehrgeizige Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg hatte sich 1701 im außerhalb des Reiches gelegenen und daher nicht dem Kaiser unterstehen-
III. Schlüsselwerke
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den (Ost-)Preußen selbst gekrönt und schon zuvor begonnen, seine Residenzstadt Berlin standesgemäß auszubauen, unter anderem mit dem Stadtschloss Schlüters. Nach französischem Vorbild |▶ 36| begründete er aber auch eine nur wenige Wegstunden westlich gelegene Nebenresidenz im kleinen, später zur Garnison ausgebauten Potsdam. Der zweite König aus dem Hause Hohenzollern, Friedrich Wilhelm I., war der sparsame, strenge, pflichtbewusste, wenig kultivierte, dem Militär, aber nicht dem Kriegführen zugetane Vater des Erbauers von Sanssouci. Die Spannungen mit dem Sohn gipfelten 1730 im traumatischen Erlebnis einer gescheiterten Flucht nach Frankreich und danach folgender Festungshaft des Prinzen: Er musste der Hinrichtung seines Freundes und Fluchthelfers Katte auf Befehl des zürnenden Königs zusehen. Als Friedrich II. 1740 auf den Thron folgte, setzte er alles daran, sich zum Gegenbild seines Vaters zu entwickeln, um als Heerführer, Schriftsteller, ‚Philosoph auf dem Königsthron‘ und Kunstfreund gleichermaßen Ruhm zu erlangen. Die Distanz zum Vorgänger fand darin ihren Ausdruck, dass Friedrich es vermied, in den Schlossräumen seiner Ahnen zu residieren. Stattdessen schuf er sich einen privaten Rückzugsort oberhalb eines vormaligen Küchengartens, indem er auf einem nach Süden, also quer
295 □ 146 Potsdam, Schloss Sanssouci, Südfassade, Fried rich II. von Preußen, G. W. v. Knobelsdorff, 1743 – 47
zur Hauptachse des Potsdamer Schlossgartens ausgerichteten Hang ein kleines Lustschloss über einem neu angelegten Terrassengarten zum Anbau von Wein und Feigen errichtete (□ 146). Er gab dem Bauwerk einen programmatischen Namen: Sanssouci (ohne Sorge). Da der König direkt nach seinem Regierungsantritt durch einen Angriffskrieg das österreichische Schlesien erobert hatte, war er von 1740–1763 in drei blutige, zum Teil weltweit ausgetragene Konflikte verwickelt, in deren Verlauf England sich gegen Frankreich als führende See- und Kolonialmacht durchsetzte und Preußen zur europäischen Mittelmacht aufstieg. Der Titel des Schlosses war somit eher Wunsch als Wirklichkeit; angeblich sollte er sich nach Meinung des Erbauers erst in der bereits angelegten Gruft erfüllen (Giersberg 2005, S. 35, Abb. 152 f.). Nach dem hart errungenen, für Preußen glimpflichen Ende des letzten, Siebenjährigen Krieges ließ Friedrich noch ein weiteres, großes Schloss am westlichen Ende des Parks von Sanssouci errichten, das sog. Neue Palais, welches er aber kaum bewohnte. Der König stilisierte sich zum ‚Einsiedler von Sanssouci‘ und ‚Ersten Diener seines Staates‘, der viele Jahrzehnte mit dem aus Frankreich verbannten Philosophen Voltaire korrespondierte – natürlich auf Französisch, der vom König bevorzugten und am besten beherrschten Sprache.
Das 1743–47 von dem Hofarchitekten Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff errichtete Sanssouci entspricht dem Typus des sog. Orangerieschlosses, dessen Urbild sich im unter Ludwig XIV. errichteten sog. Trianon de Mar bre des Parks von Versailles |▶ 36| findet: ein eingeschossiges, breitgelagertes, schmales Gebäude, das sich mit bodentiefen Fenstertüren zum Park öffnet, als handele es sich um eines jener Pflanzenhäuser, in denen die im Sommer in den Gärten aufgestellten kostbaren Orangenbäumchen überwintert wurden. Die ‚erdnahe‘, flache Hierarchien suggerierende informelle Disposition war gebauter Ausdruck eines gelockerten Zeremoniells, einer hierdurch gleichsam legitimierten ‚Privatheit‘ des Monarchen: Hier konnte er den Zutritt nach eigenem Gusto regeln, während der Hofstaat, offizielle Empfänge und Staatsaktionen an das jeweilige Residenzschloss |▶ 42| gebunden blieben. Dass Friedrich ein ‚Lusthaus‘ oder eine villa suburbana |▶ 5, 7, 18| zum sommerlichen Hauptsitz erhob, ist ein Zeugnis seiner ebenso freidenkerischen wie wenig konzilianten persönlichen Haltung. Es ist bezeichnend, dass die 12 Räume von Sanssouci zwar mehrere Gästezimmer umfassten, aber keine Kapelle oder Wohnräume für die königliche Familie. Von seiner Frau Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel lebte Friedrich seit seiner Krönung getrennt,
Sanssouci bei Potsdam
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ihre Ehe war kinderlos, und an dem zeitüblichen Mätressenwesen war der König, wie am gesamten weiblichen Geschlecht, nicht interessiert. Friedrich selbst lieferte erste Skizzen zu dem Bauwerk, die Knobelsdorff im Wesentlichen professionell umzusetzen hatte, und beharrte in vielen Fragen auf seiner persönlichen Meinung, etwa beim Verzicht auf ein klimatisch, proportional und repräsentativ durchaus gebotenes Sockelgeschoss |▶ 45|. Mehrfach findet sich auf den Blättern der Hinweis comme à Rheinsberg als Verweis auf jenes Schloss bei Neuruppin, in dem der König relativ unbeschwerte Kronprinzenjahre verbracht hatte. So erinnern die eher zeremonielle, aber funktionslose Doppelkolonnade korinthischer Säulen auf der nördlichen Eingangsseite und die Rundform des Bibliotheksraums unmittelbar an diesen früheren, ebenfalls sehr privaten Landsitz. Der hochindividualisierte, informelle und ‚unbeschwerte‘ Charakter einer maison de plaisance ist in vielen Details betont: So wird das Gebälk der 15 Hauptachsen der Südfassade nicht durch eine Säulenordnung, sondern (wie beim Dresdner Zwinger) von gekuppelten Atlanten- und Karyatidenhermen getragen; in den Innenräumen seines Dekorateurs Johann Christian Hoppenhaupt finden sich reicher Rokokostuck süddeutscher Spezialisten und Deckengemälde des Hofmalers Antoine Pesne; Stimmung und Ikonographie bleiben hierbei mehrheitlich an die heitere Gartenatmosphäre gebunden. Den persönlichen Vorlieben des Königs sind jeweils eigene Räume zugewiesen: Östlich des ovalen, offiziell-repräsentativen Marmorsaals mit korinthischen Vollsäulen folgt ein schmales Speise- und Audienzzimmer, dann ein Konzertzimmer (□ vgl. 8) für den (wie viele andere Monarchen dieser Zeit) selbst musizierenden und komponierenden König; den Abschluss bildet der privateste Raum, die runde, am Ende der Enfilade hinter dem (nicht mehr im Originalzustand erhaltenen) Schlafzimmer als Kabinett angeordnete holzgetäfelte Bibliothek. Ihre Tür
III. Schlüsselwerke
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ist im Inneren als Scheinschrank ausgebildet, so dass der (meist einsame) Benutzer sich ganz unerreichbar fühlen konnte. Die königlichen Wohnräume verzichten völlig auf vitruvianisches Dekorum; die Wand- und Deckenflächen sind auf Basis einer symmetrischen Gesamtdisposition in ungleich große, zart umrandete, im Umriss meist asymmetrische Rahmen aufgeteilt, die mit Stuckreliefs, Gemälden oder Spiegeln gefüllt sind, wobei die horizontalen Feldbegrenzungen gerade Linien mehrheitlich vermeiden. Im Konzertzimmer wird der Leuchter scheinbar von einem goldenen Spinnennetz gehalten, stuckierte Hunde jagen Hasen auf dem Kranzgesims (Giersberg 2005, Abb. 112–143). Auf der Westseite des Marmorsaals liegen die zurückhaltend dekorierten Gästezimmer aufgereiht. Der Grundriss folgt dem Typus des sog. appartement semidouble, bei dem die Wohnflügel nur aus einem einseitig belichteten Hauptraum und einem auf der Rückseite angeschlossenen schmalen Servicebereich bestehen, der von Dienerräumen oder einem Erschließungskorridor eingenommen wird. Die Aufwertung des Gartenschlösschens zur informellen Residenz spiegelte sich auch in einer allmählichen Ergänzung und Erweiterung des Ensembles. Wie zwei vorgelagerte, aber unverbundene Seitenflügel flankieren die durch Georg Christian Unger 1771–75 zum Gästehaus der ‚Neuen Kammern‘ umgebaute Orangerie und die 1755–63 von Johann Gottfried Büring errichtete Bildergalerie die obere Schlossterrasse. Der 2,5 km lange Garten wurde mit den zeittypischen Parkbauten, darunter einer funktionsfähigen Windmühle und künstlichen Ruinen |▶ 46| ausgestattet: Am originellsten ist wohl Bürings 1755–64 errichtetes ‚Chinesisches Haus‘ (□ 147), das der Asienmode jener Jahre Rechnung trägt: Vergoldete lebensgroße Chinesen-Statuen flankieren die Palmen, welche statt Säulen die Loggien des in Blau und Grün porzellanartig bemalten Pavillons schmücken. Die ‚Exotik‘ dieser Phantasiearchitektur
297 □ 147 Potsdam, Schlosspark Sanssouci, sog. Chinesisches Haus, J. G. Büring, 1755 – 64
ist freilich begrenzt, denn man imaginierte sich die Hochkultur des Reiches der Mitte als ein fernes, gleichwertiges Spiegelbild der eigenen höfischen Welt (Streidt/Frahm 1996, S. 54–111). Das am Pfingstberg über dem Park gelegene sog. Drachenhaus ist exakt der Abbildung einer Pagode aus dem 1757 edierten Tafelwerk des englischen Architekturreisenden William Chambers und dem von ihm gestalteten englischen Garten von Kew (□ vgl. 31) nachgebildet. Sanssouci markiert in der Entwicklung der Schlossbaukunst einen Wendepunkt, indem der allgemeingültige, den Staat repräsentierende, überindividuelle Anspruch einer Residenz hier bewusst relativiert wird, um stattdessen ein persönliches Spiegelbild des Bauherrn mit seinen unverwechselbaren Vorlieben, Abneigungen und Obsessionen zu präsentieren – in gewisser Weise eine Rückkehr zum Selbstdarstellungsmodus der Renaissance |▶ 8| Während Ludwig XIV. sein Amtsverständnis in Versailles für alle Zeiten monumentalisierte, privatisierte Friedrich II. seine Herrschaftsauffassung mit dem Hinweis, dies alles soll nur bey meinem Leben dauern. So hielt der Alte Fritz, wie ihn die
Zeitgenossen schon nannten, hartnäckig an jenem französisch geprägten, sog. Fridericianischen Rokokostil fest, der zu seinem Regierungsantritt modern, nach 30 Jahren aber längst veraltet war. Sein Neffe und Nachfolger Friedrich Wilhelm II. nahm den großen Vorgänger insofern beim Wort, als er nach dessen Tod 1786 das Schlaf- und Sterbezimmer als einzigen Raum von Sanssouci durch den Dessau-Wörlitzer Baumeister Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff durchgreifend modernisieren ließ: Es trägt nun die Züge des in diesem Jahren allmählich nach Deutschland hereinstrahlenden englischen Frühklassizismus |▶ 45|.
Queen’s House und Marinehospital in Greenwich bei London England wird klassisch
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ie Mehrzahl der ‚Schlüsselwerke‘, welche in diesem Band als Beispiele für die Ausbreitung der Renaissance in Nordeuropa ausgewählt wurden, dokumentiert die Schwierigkeiten des damit verbundenen Adaptions-
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prozesses |▶ 7, 8, 10, 11, 14, 31|. Die Bauten zeugen von Autonomie, Stärke und Widerständigkeit der lokalen, meist noch gotisch geprägten Traditionen und den Spannungen, welche bei der Amalgamierung des neuen vitruviani-
Queen’s House und Marinehospital in Greenwich bei London
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298 □ 148 Greenwich bei London, Queen’s House, Ansicht von Süden, I. Jones, beg. 1616
schen Ideals und Vokabulars entstanden. Ganz anders bei diesem Komplex: Er steht für die geradezu selbstverständlich wirkende, souveräne, mühelose Translation des italienischen Kanons in ein weit entferntes, kulturell bisher völlig anders geprägtes Land. Ähnlich wie beim Pariser Louvre |▶ 35| werden im Folgenden zwei Bauphasen vorgestellt, die im Abstand etwa eines Jahrhunderts zwei Stufen der englischen Architekturentwicklung dokumentieren und mit den jeweils prägenden Künstlerpersönlichkeiten der Epoche verbunden sind: Inigo Jones und Christopher Wren. Zugleich dokumentiert die mit dem Umbau verbundene Nutzungsveränderung der Anlage in Greenwich den radikalen politischen Wandel, welcher sich in England in diesem Jahrhundert vollzog und damit jene Rahmenbedingungen schuf, unter denen das Vereinigte Königreich im 18. Jh. zum Epizentrum der Modernisierung Europas werden konnte. Greenwich, östlich von London am Südufer der Themse gelegen und bis heute bekannt durch den Nullmeridian, also die am Observatorium der britischen Admiralität ausgerichtete fiktive Teilung der Welt in östliche und westliche Breite, war seit dem 15. Jh. eine bevorzugte, hauptstadtnahe Nebenresidenz der englischen Könige. 1613 schenkte Jakob (James) I. aus dem Hause Stuart seiner Gattin Anna von Dänemark, der Schwester Christians IV., den ausgedehnten, aber unmodernen sog. Palace
III. Schlüsselwerke
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of Placentia. 1616 beauftragte sie den surveyor der königlichen Bauten, Inigo Jones, mit der Errichtung eines kleinen Pavillons am südlichen Rand der Anlage oberhalb des Schlosses. Der gerade aus Italien zurückgekehrte Architekt ersann einen äußert originellen Bau, der aus zwei schmalen, hintereinander angeordneten längsrechteckigen Flügeln parallel zum Fluss bestand, die durch eine Brücke im Obergeschoss H-förmig verbunden wurden. Hierdurch überspannte er die Landstraße zwischen London und Dover, welche bisher den am Themseufer gelegenen Palast von dem südlich anschließenden Waldgebiet störend geschieden hatte. Diesen Park konnte die Königin nun direkt erreichen und seinen Anblick durch eine Loggia im Obergeschoss der Südseite genießen (□ 148). Nach 1629 erweiterte Jones’ Schwiegersohn und Schüler John Webb das ‚Haus der Königin‘ für Henrietta Maria, die Gemahlin des nachfolgenden Stuart-Königs Karl I., indem er die bisher offenen Seitenmitten des H durch weitere Brücken schloss und dem Bau so seine endgültige, nahezu quadratische Grundform von 33 36 m verlieh. 1697 wurde die Straße verlegt, seit 1806 markieren ihre frühere Position flankierende Kolonnaden (Harris/Higgot 1989, S. 62–73; Bold 2000, S. 7–93). Noch revolutionärer als der originelle Grundriss erscheint die Formensprache des Gebäudes: ein radikaler Bruch mit allen Tradi-
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tionen der bisherigen sog. Elisabethanischen Renaissance, deren Charakter eher mit Frederiksborg |▶ 10| als der Villa Rotonda |▶ 18| zu vergleichen war. Den letztgenannten programmatischen Bau Palladios hatte Inigo Jones auf seinen Italienreisen ebenso wie die Medici-Villa Poggio a Caiano besichtigt und adaptierte deren Formen mit erstaunlicher Konsequenz: Ein scharfkantiger Kubus mit wenigen hochrechteckigen Fenstern, weiß verputzten, glatten, ungegliederten Flächen, ein flaches, hinter einer Balustrade verborgenes Dach, ein rustiziertes, als Sockel definiertes Erdgeschoss, eine Terrasse mit Freitreppe im Norden und die Kolonnade im Obergeschoss der Südseite spitzen die vitruvianische Reduktionsästhetik des Vorbildes sogar noch zu. Das Queen’s House begründete so eine ‚klassizistische‘, d. h. durch strenge, regelgerechte und sparsame Verwendung der antiken Formen geprägte Grundhaltung, welche die englische Architektur für die folgenden Jahrhunderte prägen sollte und die Jones selbst als ,männlich und unaffektiert‘ bezeichnete (Summerson 1966, S. 43–48). Greenwich blieb nicht lange königlicher Sommersitz: Die Stuart-Dynastie, die das Queen’s House erbaut hatte, geriet in den Strudel des 1642 von ihr ausgelösten Englischen Bürgerkriegs, in dessen Folge Karl I. 1649 sogar hingerichtet wurde. Die 1689 im Zusammenhang der sog. Glorious Revolution vom Parlament ins Land gerufenen Thronfolger aus dem niederländischen Herrscherhaus Nassau-Oranien, Wilhelm III. und Maria II. – eine Schwester des letzten, abgesetzten Stuart-Königs Jakob II. –, bevorzugten andere Schlösser wie das westlich gelegene Hampton Court, so dass für das große Gelände am Themseufer
eine neue Nutzung gefunden werden konnte. Das im Bürgerkrieg beschädigte und nur zum Teil ab 1661 von Webb wiederaufgebaute Palastgebäude wurde 1691 zum Marinehospital, einer Art Altersheim für im Krieg verwundete Seeleute der Krone, umgewidmet, umgebaut und in seiner Größe nahezu verdoppelt. Allerdings bestand die Königin darauf, dass ihr vormaliger Pavillon, der seit dem Abriss des alten Schlosses nun einen grandiosen Blick auf die Themse gewährte, als proportional zu kleines, aber hoch über dem Ufer thronendes Zentrum der neu zu errichtenden Anlage erhalten bleiben und auch nicht durch Neubauten verdeckt werden sollte (Jardine 2002, S. 393–403; Bold 2000, S. 80 f., 96). Der palastartige Hospitalbau (□ 149) wurde erst 1751 beendet und vereinte unter Leitung bzw. in der Nachfolge des Surveyor of the Royal Buildings, Christopher Wren, die renommiertesten Architekten des englischen Barock, Nicholas Hawksmoor und John Vanbrugh (□ vgl. 15, 16). Der Respekt vor dem Wunsch der Königin führte zu einer originellen, zweiflügeligen, sehr tiefen Ehrenhofanlage mit dem Queen’s House als point-de-vue. Um den beiden Hospitalflügeln angemessenes kompositionelles Gewicht zu verleihen, wurden sie jeweils mit einer hohen Kuppel versehen, die vor allem für die Silhouette der Wasserfront notwendig erschien: Im westlichen Flügel, dem ehemali-
□ 149 Greenwich bei London, Royal Naval Hospital, C. Wren, N. Hawksmoor u. a., 1691 – 1751
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gen Schlossgebäude Karls II., markiert sie den (wegen seines in England noch ungewöhnlichen Deckengemäldes) Painted Hall genannten Festsaal, im östlichen die Kapelle (Fürst 1956, S. 86–96; Bold 2000, S. 95–165). Gerade im direkten Vergleich mit Jones’ sprödem Palladianismus erscheint die Formensprache der Hospitalbauten von der plastischen Wucht des römischen Hochbarock geprägt. Die beiden Flügel nehmen eine Z-Form ein, so dass sie jeweils mehrere, in die Tiefe gestaffelte, konkurrierende Hauptfassaden besitzen. Die Fronten direkt am Ufer erinnern mit dem jeweils verdoppelten Motiv zweier der Fassade vorgeblendeter Dreiecksgiebel auf Halbsäulen unter hoher Attika an Madernos Petersdomfassade (□ vgl. 101); die Kuppeln auf den zurückliegenden, mit Kolonnaden umkleideten Eckrisaliten paraphrasieren mit ihren hohen, von Säulen umstandenen Tambours den nicht realisierten Entwurfs Bramantes für die Papstkirche. Christopher Wren hatte diese sozusagen ‚römische‘ Lösung bereits beim Wiederaufbau der 1666 im Großen Brand von London zerstörten St Paul’s Cathedral durchgesetzt (Fürst 1956, S. 140). Das Problem, den Schub der gewölbten Kalotte durch eine eher labile Kolonnade am Tambour abzufangen, hatte der als Mathematiker und Astronom ausgebildete Architekt in London noch ein wenig behelfsmäßig mit acht in den Säulenkranz eingeschobenen unauffälligen Strebepfeilern gelöst – in Greenwich wird die statische Notwendigkeit zum charakteristischen Motiv erhoben, indem vier Pfeilerblöcke markant vor den Säulenkranz treten und die Kolonnade hierdurch rhythmisieren (Bolton/ Hendry 1929, Taf. XXIX, XLII). Im Unterschied zu anderen Ländern wurde die an Palladio orientierte Formensprache in England schnell heimisch und nach wenigen Modifikationen als landestypisch akzeptiert. Zwischen 1715 und 1725 erschien ein dreibändiges reichillustriertes Werk des Architekten Colen Campbell, der Jones zum Palladio Eng-
III. Schlüsselwerke
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lands erklärte. Das Buch trug den programmatischen Titel „Vitruvius Britannicus“. Der Autor betonte die Kontinuitätsaspekte des englischen Palladianismus und kritisierte die ‚barocken‘ Abweichungen von dieser Tradition, welche er als negative Einflüsse des ‚Kontinents‘ verwarf (Mallgrave 2006, S. 93–113). Diese zunächst ästhetisch begründete Kritik verband sich mit der Indienstnahme bestimmter Stilformen durch die politischen Milieus der beiden konkurrierenden Parlamentsfraktionen, der eher monarchistisch gesinnten Torys und der quasi-republikanisch denkenden Whigs, welche die Könige als bestimmende politische Entscheidungsträger seit 1688 in England abgelöst hatten. So identifizierte man die internationale, eher römisch gefärbte Stilhaltung Wrens und seiner Nachfolger mit der sog. Restauration der europäisch vernetzten Stuart-Könige, die 1714 durch das Haus Hannover abgelöst wurden (Parissien 2000, S. 57–68). Die abnehmende politische Bedeutung der Monarchie in England erklärt auch, wieso der größte staatliche Bauauftrag kein Residenzschloss |▶ 36|, sondern ein palastartiges Gebäude der Sozialfürsorge |▶ 1| zugunsten jener Männer war, die den gleichzeitigen Aufstieg des Vereinigten Königreichs zur Weltmacht in jenen Jahren erst ermöglichten: den Veteranen der Royal Navy. Die repräsentative Aufwertung derjenigen, die ihre Gesundheit in den zahlreichen Kriegen der Epoche für die Expansion ihrer Nationen opferten, war gebauter Ausdruck der erbitterten Konkurrenz mit Frankreich: Seit 1671 hatte Ludwig XIV., ebenfalls in der Nähe seiner Hauptstadt am Flussufer, das schlossartige Hôtel des Invalides errichten und bis 1690 durch seinen Hofarchitekten Jules Hardouin-Mansart (Hesse 2004, S. 96–100) mit dem über 100 m hohen sog. Invalidendom, der Kuppelkirche St-Louis vollenden lassen. Der seit 1698 als Nachfolger Wrens mit dem Hospitalbau beauftragte Nicholas Hawksmoor benannte den Pariser Komplex ausdrücklich als zu überbietendes Vorbild (Bolton/Hendry 1929,
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S. 18) – von ihm stammen vermutlich auch die Kuppelentwürfe (Downes 1959, S. 83–98), die in vielen Details wie den vorspringenden Eckpfeilern auf den Invalidendom rekurrieren. Das Ensemble von Greenwich, dessen Bau nicht der König, sondern eine Parlamentskommission vorantrieb und finanzierte, erscheint
wie eine Verkörperung des britischen politischen Prinzips von checks and balances: eine geschickte Verbindung von Traditionswahrung, quasi-monarchischer Repräsentation und zugleich Aushängeschild eines dem Gemeinwohl verpflichteten, konstitutionell-parlamentarisch verfassten Staatswesens.
Chiswick House bei London Die Wiedergeburt des Palladianismus
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er italienische Architekturtheoretiker Antonio Averlino, gen. Filarete beschreibt das Bauen in seiner Epoche als eine Art Geburtsakt: Der Bauherr fungiere als ‚Vater‘, dessen Wunsch und Wille die Zeugung bewirke, während der Architekt als ‚Mutter‘ das Kind austrage (Filarete/Oettingen 1890, S. 66). Mal ist die Rolle des Auftraggebers höher zu gewichten, in anderen Fällen prägt der Baumeister ganz überwiegend die Gestaltfindung. Nur selten in der Architekturgeschichte fallen diese beiden Rollen in eins zusammen, kommt es sozusagen zur ‚Selbstbefruchtung‘ des Entwerfers mit dem Erbauer. Hierin liegt, neben ihrer epochemachenden Gestaltung, die besondere Bedeutung jener kleinen villa suburbana, die Richard Boyle, 3rd Earl of Burlington, für sich selbst errichtete und mit der er eine ganze Epoche der englischen und später der europäischen Architektur begründete: den sogenannten Neopalladianismus (Ruhl 2003, bes. S. 253–268). Die englische Kunst der Frühneuzeit ist, stärker als die französische, deutsche oder italienische, von politischen Umbrüchen geprägt. Während sich die Nachfolger Ludwigs XIV. in dem in jeder Hinsicht zu groß gedachten Versailles einrichten mussten und das Papsttum bis heute in jenen Bauten repräsentiert, die
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Michelangelo und Bernini ihm anmaßen, führten die politischen Umschwünge auf der Insel stets auch zu einer neuen Kunstauffassung, die jedoch nicht als radikaler Bruch, sondern als Reaktualisierung der eigenen Vergangenheit durch Neuinterpretation eines für vorbildlich erklärten, oftmals ursprünglich importierten Formenrepertoires verstanden wurden. Ein wichtiges Dokument hierfür ist der „Letter concerning the Art, or Science of Design“ des Philosophen Shaftesbury, der 1712 die möglichst exakte Nachahmung der ‚vollkommenen‘ antiken Formen als Modell für die Ausbildung einer typisch englischen, nationalen Kunstsprache empfohlen hatte (Mallgrave 2006, S. 98 ff.). Wie kam es zu dieser Identifikation von englisch = antikisch? Die Stuart-Könige hatten ab ca. 1610 als Nachfolger der letzten Tudor, Elisabeth I., die italienisch geprägte Renaissance ins Land gebracht, aber nicht durch Importkünstler: Inigo Jones wurde zum englischen Palladio, der nach Meinung seiner Landsleute oft das Vorbild übertraf. Nach 1688 setzte sich das Parlament gegen die Monarchie durch, die formal erhalten blieb und bisher den international geprägten ‚barocken‘ Geschmack bestimmt hatte; die führende Figur jener Jahre war Christopher Wren (□ vgl. 16), dessen Baukunst den Zeitgenossen
Chiswick House bei London
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aber zunehmend als fremdländische Überformung der eigenen, palladianischen Tradition erschien. Diese Quellen zu reinigen und wieder zum Sprudeln zu bringen, war das selbsterklärte Ziel jener Männer, die ab 1714 Politik, Selbstverständnis und kulturelles Leben des Vereinigten Königreichs bestimmten: die Magnaten der sog. Whig-Partei, deren Premierminister unter den aus Deutschland importierten, aber de facto entmachteten Königen mit dem Leitnamen Georg aus dem Hause Hannover nun die Geschicke lenkten. Die Epoche des Georgian style begann, die von ihren Zeitgenossen nach den Wirren der Bürgerkriegsära in Analogie zur römischen Geschichte als ‚Augustäisches Zeitalter‘ des wiedergewonnenen inneren Friedens und der (daraus resultierenden, bevorstehenden) Weltherrschaft gedeutet wurde. Richard Boyle kann als Inbegriff des englischen Gentleman seiner Zeit gelten, zu dessen Ausbildung selbstverständlich auch die sog. Kavalierstour oder Grand Tour nach Italien zählte, die er sogar dreimal durchführte. Er beließ es aber nicht beim Bewundern der inzwischen zu klassischen Reisezielen avancierten Bauten Palladios, sondern grub tiefer und erwarb ein großes Konvolut originaler Zeichnungen des Meisters, die er 1730 unter dem – bezeichnenderweise italienischen – Titel „Fabbriche antiche disegnate da Andrea Palladio“ publizierte. Ab 1725 hatte er bereits ein gebautes Manifest seiner neuen Ästhetik ins Werk gesetzt: ein streng palladianisches, kleines, wie die Villa Rotonda kaum bewohnbares Gartenhaus als Anbau an seinen älteren Landsitz in Chiswick nahe London (Harris 1994, S. 52–55). Hatte er sein Londoner Stadtpalais noch mit Hilfe von Colen Campbell umbauen lassen, so wurde er nun selbst zum Entwerfer, der sich lediglich bei der Innendekoration und der Gartengestaltung durch den von ihm in Rom ‚entdeckten‘ und geförderten Maler William Kent unterstützen ließ. Burlingtons ausgezeichnete Vernetzung unter den führenden Whig-Politikern – er war Mitglied des Oberhau-
III. Schlüsselwerke
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ses – verlieh seinem neuen Ideal eine Resonanz, wie sie in anderen Ländern nur regierende Fürsten erzielten. Pflanzschule dieser neuen Lehren war jedoch nicht eine staatliche Baubehörde oder eine königliche Akademie, sondern Clubs und informelle Zusammenschlüsse wie die 1734 begründete Society of Dilettanti, die Gesellschaft der (reichen) Italien- und Antiken-Liebhaber. Chiswick ist keine mehr oder weniger getreue Kopie eines einzelnen palladianischen Vorbilds wie z. B. das 1723 von Campbell errichtete Mereworth Castle (Harris 1994, S. 133). Burlington wollte vielmehr belegen, dass sich mit diesem Formenapparat Neues und Eigenständiges schaffen ließ. Als Grundtypus wählte er das Schema der ab 1576 erbauten Villa Rocca Pisana bei Lonigo des Palladio-Schülers Vincenzo Scamozzi (Ruhl 2003, S. 258). Von dort entlehnte er den quadratischen Grundriss mit achteckigem, überkuppeltem, mehrgeschossigem Zentralraum in der Mitte (□ 150, 151). Die sechssäulige, hier korinthische Portikus der Eingangsfront, bei Scamozzi rhythmisiert gestaltet und einer Loggia einbeschrieben, wird in Chiswick vor die gerade Außenwand des Kubus gezogen und im Sinne des klassischen Gleichmaßes aller Interkolumnien korrigiert (□ vgl. 26). Statt einer zentralen führen zwei seitlich angeordnete, kompliziert gegenläufige Treppenanlagen zum erhöhten Eingang – eines der wenigen Elemente, welche die gleichzeitige ‚barocke‘ Vorliebe für komplexe Strukturen widerspiegeln. Auch im Innern zeigt sich eine enorme Vielfalt von Raumtypen, indem das zentrale Oktogon von Rotunden, Quadraten, von Säulen geteilten Rechteckräumen und Galerien mit apsidialem Schluss umgeben ist – eine Art Musterbuch, nicht mehr wie in der barocken Enfilade seriell aufgereiht, sondern eher unvermittelt und bewusst kontrastierend montiert. Unkonventionell war auch die Platzierung der Bibliothek im Sockelgeschoss der Gartenseite. Der demonstrative und experimentelle Charakter des Bauwerks wird dadurch unter-
303 □ 150 William Kent: Chiswick House bei London, Südwestfassade und Grundriss, aus: „The Designs of Inigo Jones“, 1727, Taf. 70
strichen, dass die vier Fassaden jeweils unterschiedlich, aber mit sehr verwandten formalen Bausteinen gestaltet sind. Wie an Inigo Jones’ Queen’s House |▶ 44| dominiert die weiß verputze Mauerfläche eines Kubus, in die Öffnungen unterschiedlichen Typs eingelassen sind: schlanke Rechteckfenster mit und ohne Dreiecksgiebel, Serlianen als isoliertes oder (an der Gartenfront) dreifach wiederholtes Element. Im Kuppeltambour wird ein weiteres Leitmotiv des neuen Stils, das Thermenfenster, präsentiert – die flache Kalotte wiederum zitiert die Kuppel des römischen Pantheons (□ vgl. 17). Die musterbuchartige Verwendung divergenter Formen verweist darauf, dass neben der venezianischen Renaissance auch die römische Antike wiederbelebt werden sollte. 1730 publizierte Burlington Palladios Rekonstruktionszeichnungen der römischen Thermenanlagen; 1727 den Plan seiner eigenen Villa in einem Buch mit dem vielleicht bewusst irreführenden Titel „The Designs of Inigo Jones“. Der Wunsch Burlingtons, die nun zum englischen Gemeinerbe erhobenen palladianischen Formen weiter zu demokratisieren, zeigt sich auch im Bau eines öffentlichen Gebäudes, der 1730–32 errichteten York Assembly Rooms, ei-
ner Art Gesellschaftshaus, das auf die Gestalt des von Inigo Jones für König Jakob I. 1619–22 erbauten Banqueting House, den Thronsaal im ehemaligen Königspalast Whitehall in London, Bezug nimmt (Harris/Higgot 1989, S. 108 ff.): eine schlichte, dreischiffige Säulenbasilika, die dem von Vitruv überlieferten, von Palladio illustrierten Typus des sog. Ägyptischen Saals entspricht (|▶ 32|, Wittkower 1974, S. 135–144). Ein 1739 von Burlingtons Mitarbeiter William Kent in palladianischen Formen gestalteter Entwurf für den Neubau des Londoner House of Parliament, das den Palladianismus endgültig zum
□ 151 Chiswick House bei London, Ansicht von Südosten, Lord Burlington u. W. Kent, 1725 – 29
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englischen Nationalstil nobilitiert hätte, wurde freilich nicht realisiert (Harris 1994, S. 26–32). Während den Propagandisten des Palladianismus der Barock in seinem freien Umgang mit antiken Formen als ‚willkürlich‘ und ‚verdorben‘ erschien, werteten sie das eigene, gereinigte Stilideal nicht nur als ‚geschmackvoll‘, sondern auch als ‚natürlich‘. Daher schien es nur naheliegend, dass man sich der Gartengestaltung zuwandte, in welche die Modellbauten eingebettet werden sollten. In Chiswick schuf William Kent auf dem räumlich nicht sehr ausgedehnten Grundstück einen Meilenstein jener Kunst, für die England im 18. Jh. in ganz Europa berühmt werden sollte: den Prototyp des Englischen Gartens (▶ 46, Harris 1994, S. 212– 261). Im Unterschied zum architektonisch-formalen sog. Französischen Garten in der Tradition Le Nôtres |▶ 36| sollte hier mit hoher Kunstfertigkeit der Eindruck einer natürlich gewachsenen, scheinbar unberührten Landschaft vermittelt werden, aus der überraschend
antikische Bauwerke, Wasserfälle und künstliche Ruinen hervortraten, die – wenn auch im Maßstab deutlich verkleinert – die Erinnerung an ihre Vorbilder in Italien erweckten. So stellte Kent eine Miniaturkopie des eigentlich eng umbauten römischen Pantheons als frei stehendes Gartenhäuschen an den Rand eines aus aufsteigenden Rasenpartien gebildeten, mit Orangenbäumchen verzierten ‚Amphitheaters‘, dessen Mitte, die Orchestra, von einem runden Teich mit Obelisk gebildet wird (Harris 1994, S. 76 f., 103). Bauherr, Architekt und Besucher bestätigten sich hier wechselseitig ihre vorzügliche Bildung und ihren exquisiten Geschmack, konnten in Erinnerungen an die Kavalierstour schwelgen oder fühlten sich in ein Gemälde des damals berühmtesten Landschaftsmalers Claude Lorrain versetzt. Um es mit den Worten des Philosophen und Nachbarn Burlingtons, Alexander Pope, auszudrücken: All gardening is landscape-painting (Hammerschmidt/ Wilke 1990, S. 35f.).
Gärten und Parks: Von Tivoli nach Wörlitz
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eben dem Theater ( Themenblock · Theater, S. 174 ff.) stellt der Garten die wohl bedeutendste Wiederbelebung eines antiken Topos in der Frühen Neuzeit dar. Zwar haben sich keine Anlagen aus römischer Zeit erhalten, aber wiederum waren es die zahlreichen, oft panegyrischen Beschreibungen der durch Humanisten wiederentdeckten antiken Literatur, welche die Phantasie anregten (Hesse 2012, S. 187–206). War im Mittelalter das biblische Paradies als ein überschaubarer, von der Außenwelt scharf geschiedener hortus conclusus (ummauerter Garten) als Ideal erschienen, so setzte man sich nun den verschönernden Ausgriff in die Landschaft, das Umgestalten ganzer Berghänge zu Terrassengärten durch die Anlage von Freitreppen und Kaskaden
III. Schlüsselwerke
meist nach symmetrischem Schema zum Ziel. Das Ideal der italienischen Renaissancevillen, z. B. im vielbesuchten Tivoli bei Rom, war das ‚Wunder‘, eine in Erstaunen setzende Kombination aus streng formal gestalteten, kontrastierend voneinander abgesetzten Kompartimenten, die durch Aufstellung von Brunnen mit oft überraschend ausgelösten Wasserspielen, Grotten, Labyrinthen und im Umhergehen zu ‚entdeckenden‘ antikennahen Statuengruppen (□ vgl. 7) an den Bildungskanon der Besucher appellierten und in integrierten, pseudoantiken ‚Stadien‘ als Bühne für Feste, Bälle und Theateraufführungen dienten. Ab 1660 perfektionierte das von Ludwig XIV. nach Versailles berufene Team um den Gartenarchitekten
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Le Nôtre den Typus des sog. formalen Französischen Gartens, der nun, bevorzugt in der Ebene entwickelt, entlang großräumiger Achsen auf weite Blickbeziehungen angelegt war (▶ 36). Je nach Nähe zum Schloss wurden abgestuft elaborierte Schmuckformen der Grüngestaltung, z. B. Parterres (Zierflächen) oder Bosketts (Wäldchen) eingesetzt, welche die systematisch angepflanzten Gewächse soweit möglich geometrischen oder ornamentalen Mustern unterwarfen, um sie hierdurch in die Sphäre von Kunst und Rationalität zu erheben. Besonders in Nordeuropa galt die saisonale Aufstellung und Zucht südlicher oder exotischer Pflanzen als Ausweis von Souveränität und Weltläufigkeit (|▶ 43|; □ vgl. 40). Treillagen, d. h. architektonisch geformte hölzerne Rankgerüste, erlaubten die Schaffung quasi innenräumlicher Zonen in der durch strenge Gestaltung ‚veredelten‘ Natur. Der Blick des Herrschers aus dem Obergeschoss des Schlosses über die Mittelachse der Gesamtanlage galt als der ideale, die Struktur des Gartens ließ sich am besten durch Grundrisse und Vogelschaupläne vermitteln. Um 1730 entstand von England ausgehend ein Gegenmodell, das nun wiederum die Nachahmung der ‚unverfälschten‘ Natur in künstlich angelegten sog. Landschaftsgärten zum Ideal erhob. Konkrete Reiseerinnerungen und Assoziationen zu fremden, als annähernd gleichrangig betrachteten Kulturen wie der chinesischen (□ vgl. 31) oder islamischen erschienen
gleichberechtigt als ‚Staffagen‘ neben den verkleinerten Kopien berühmter antiker Bauwerke |▶ 45, 46|. Zuletzt wurden auch vermeintlich ,mindere‘ Formen der Architektur wie Ruinen (□ vgl. 30), mittelalterliche Bauten |▶ 48| oder Bauernhäuser in diese bildhaften, illusionistischen Inszenierungen integriert. Die ‚malerische‘, d. h. den Landschaftsgemälden der Epoche entlehnte Asymmetrie, gesehen aus dem Blickwinkel eines Spaziergängers, wurde nun zum Ideal, ältere französische Anlagen wurden umgeformt oder im neuen Stil erweitert, die beherrschenden Achsen gebrochen. Gemeinsam war allen frühneuzeitlichen Gärten eine rhetorische und symbolische Aufladung der Natur mit medial konzipierten, Sinn und Bedeutung transportierenden Kleinarchitekturen und Statuensetzungen (Wimmer 1989). Hierbei blieben die Anlagen fast immer auf ein Wohngebäude, Schloss oder Villa, und dessen Besitzer bezogen: ‚Öffentliche Gärten‘ im heutigen Sinne entstanden erst am Ende der Epoche, als z. B. ein ‚aufgeklärter‘ Fürst wie Leopold III. von Anhalt-Dessau um 1770 sein gesamtes, kleines Territorium bei Wörlitz nach englischem Vorbild in ein unmerklich in nützliche Felder und Weiden übergehendes ‚Gartenreich‘ zu verwandeln gedachte. Kurz darauf wurden in den Städten wie z. B. in München die ersten sog. Englischen Gärten zur Erholung für ein vorwiegend bürgerliches Publikum räumlich unabhängig von den Schlössern der Regierenden angelegt (Gothein 1926/1997).
Die Gärten von Stowe in Buckinghamshire ‚Kunst-Landschaft‘
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as 18. Jh. ist geprägt vom Aufstieg zweier neuer ‚Weltmächte‘, deren Wettstreit auch das folgende 19. Jh. prägen sollte: Russland und England. Beide mussten ihre Position erst in einem Europa finden, das seit etwa einen hal-
ben Jahrhundert von einem neuen kulturellen Zentrum aus bestimmt wurde, welches nicht mehr am Tiber, sondern an der Seine lag. Der Blick nach Frankreich, sei es bewundernd und affirmativ wie von St. Petersburg |▶ 34| aus,
Die Gärten von Stowe in Buckinghamshire
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oder kritisch distanziert aus Londoner Sicht, wurde bestimmend für die eigene Entwicklung. Nirgendwo zeigte sich dieses Ringen um künstlerische Autonomie bzw. Suprematie deutlicher als im Bereich des Gartens, in dem die englischen Innovationen ab 1750 die bis dahin dominierenden französischen Modelle als verbindliche Vorbilder ablösten. Der von William Kent gestaltete Garten in Chiswick |▶ 45| war aufgrund seiner Lage in einem eng bebauten vorstädtischen Villengebiet räumlich sehr eingeschränkt. Die seit 1714 politisch dominierenden Großgrundbesitzer der Whig-Partei besaßen dagegen stattliche, schlossartige Herrenhäuser inmitten ausgedehnter Ländereien in ihren jeweiligen Wahlkreisen, die es ihnen erlaubten, auch die umgebende Landschaft als ‚Park‘ in die Gestaltung der Gärten miteinzubeziehen. Die Mehrzahl der neuen Anlagen entstand jedoch nicht auf freiem Feld, sondern durch Umgestaltung der um die älteren Landsitze herum bereits angelegten regelmäßigen ‚französischen‘ Anlagen. In manchen Fällen, z. B. Schwetzingen bei Mannheim, existieren beide Parkteile bis heute nebeneinander und erlauben einen ausgezeichneten Vergleich beider Systeme (Troll 2009). Auch der Plan des hier besprochenen Beispiels Stowe zeigt noch die Überformung einer älteren, axial auf das neopalladianische Herrenhaus bezogenen, von geraden Alleen begrenzten Anlage, die durch Neugestaltung der Wasser- und Rasenflächen, der begrenzenden Bosketts und durch Auflockerung des ursprünglichen strengen Blickachsensystems allmählich modernisiert und stetig erweitert wurde (□ 152). Im Unterschied etwa zu Versailles (□ vgl. 125 ) wurden die Blicke nun nicht mehr primär auf das Schloss ausgerichtet, sondern stellten durch die sorgfältig vorausgeplante, für den Besucher aber unerwartete Zusammenschau verschiedener Elemente sinnstiftende Querbezüge zwischen zahlreichen gleichberechtigten Parkbauten her. Diese sog. follies hatten meist keine ande-
III. Schlüsselwerke
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re Funktion, als einen Blickfang zu bilden, als Stimmungsträger empfunden und durch ihre Bauform, Benennung oder darin aufgestellte Statuen als Bedeutungsträger entschlüsselt zu werden. Während der Französische Garten aus der Vogelschau oder in der Plandarstellung am besten zu erfassen ist, will der Englische Garten erwandert und dabei als eine Folge von ‚malerischen‘, meist asymmetrisch komponierten Landschaftsbildern entdeckt werden. In gewissem Sinne waren die scheinbar ‚naturwüchsigen‘ Englischen Gärten nicht weniger künstlich und bildhaft als die Französischen Gärten, nur bildeten sie etwas anderes ab: nicht die gleichsam architektonische, die Natur nobilitierende, alles umgestaltende Macht des Fürsten, sondern die paradiesische Schönheit eines scheinbar ‚freien‘, also unberührten und daher ebenso moralisch unverdorbenen wie vernünftigen Landes – eine Schönheit, die nach Meinung ihrer Gestalter ebenso ewig gültigen wie unbestreitbaren Gesetzen des erstmals so benannten ‚Naturrechts‘ folgte. Während der Französische Garten durch seine Symmetrie und übernatürliche Perfektion eine Art streng geometrische Rationalität verherrlichte, richtete sich der Englische Garten unmittelbar an die Sinne, sollte Stimmungen und Empfindungen wecken, Erinnerungen wieder wachrufen und somit die möglichst unverfälschte Natur als Abbild der vernünftigen, göttlichen, guten und freiheitlichen Weltordnung erkennbar machen, wie es die Gartentheoretiker Stephen Switzer und Joseph Addison um 1715 erläuterten (Wimmer 1989, S. 142–165). Ein gutes Beispiel für die raffinierte Herstellung ‚künstlicher Natürlichkeit‘ ist der sog. Aha (auch Ha-Ha), eine neue Form der unsichtbaren Einfriedung von Gärten. Statt Mauern und Zäunen, welche die Grenzen zwischen gestaltetem Garten und umgebender Agrarlandschaft, dem sog. ‚Park‘, allzu deutlich hervorkehren würden, führte man einen versenkten, auf der Gartenseite erhöhten Trockengraben ein, der
307 □ 152 Stowe in Bucking hamshire, Plan der Gartenanlage, Zustand 1753
das Hereinlaufen des Viehs verhinderte, aber die Blicke der Besucher ungehindert in die Umgebung und auf malerisch weidende Herden schweifen ließ (Robinson 1990, S. 72 f.). Stowe in Mittelengland zählt nicht nur zu den frühesten, prächtigsten und einflussreichsten Beispielen, sondern vereint auch die Tätigkeit der drei berühmtesten Gartenkünstler des englischen 18. Jh.s.: Charles Bridgeman, William Kent und ‚Capability‘ Brown (Robinson 1990). Sie arbeiteten nacheinander für Sir Richard Temple, einen Großgrundbesitzer, der für seine militärischen Verdienste zum Vis-
count Cobham erhoben wurde. Als geradezu fundamentalistisch gesinnter Whig geriet er nicht nur mit den Torys, sondern auch mit dem herrschenden Flügel seiner eigenen Partei und dem bis zu seinem Sturz im Jahre 1742 zwei Jahrzehnte die englische Politik dominierenden Premierminister Sir Robert Walpole in Konflikt. Cobham wurde zweimal, 1711 und 1733, aus politischen Gründen seiner militärischen Funktion enthoben: Er zog sich dann grollend auf das vom ‚Sumpf‘ der Londoner Regierungsgeschäfte angeblich nicht infizierte Landleben zurück und gründete dort mit anderen Opposi-
Die Gärten von Stowe in Buckinghamshire
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□ 153 Stowe in Buckinghamshire, Halkwell Field G arden, Palladianische Brücke, L. Brown, ab 1741
tionellen die informelle sog. Country Party. Ab 1720 begann er, seinen Landsitz zu einer Attraktion für Fremde auszubauen und zugleich seinen eigenen weltanschaulichen Überzeugungen ein Denkmal zu setzen – der Garten als ideologisches Bildersystem oder, wie es Adrian von Buttlar formulierte, der „Landsitz als Symbol eines liberalen Weltentwurfs“ (Buttlar 1982, bes. 140–166 und 1989, bes. 36–43). Ein besonders markantes Ensemble war das ab 1733 von Bridgeman und seinem Nachfolger Kent realisierte Arrangement dreier Parkbauten, die in ihrem räumlichen und bedeutungsmäßigen Zusammenhang eine den gebildeten Zeitgenossen unmissverständliche Botschaft formulierten. Ein nach dem ‚Paradies‘ der antiken Mythologie ‚Elysische Felder‘ benannter Teil des Gartens wird von einem Bach, der den Totenfluss Styx symbolisieren soll, durchschnitten. Auf dem erhöhten Westufer befindet sich eine von William Kent geplante Tholos, ein an Bramantes römischen Tempietto erinnernder Rundbau |▶ 6|, der den ‚Tempel der antiken Tugend‘ darstellen soll. Ihm gegenüber befindet sich am östlichen Ufer des ‚Styx‘ eine Exedra mit den Büsten von 14 „edlen Briten“,
III. Schlüsselwerke
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darunter Shakespeare, Inigo Jones und Newton, aber auch politische Gegner der von den Whigs bekämpften vormaligen Stuart-Könige. Ergänzt wurde das Ensemble durch eine (nicht erhaltene) verwüstete, verwilderte Ruine, die als ‚Tempel der modernen Tugend‘ deren Zustand treffend abbilden sollte und vor der eine kopflose Statue aufgestellt war – angeblich das Standbild Robert Walpoles, des politischen Erzfeinds Cobhams (Hammerschmidt/Wilke 1990, S. 51–61). Diese rhetorisch-plakative Instrumentalisierung der Gartenkunst wurde nach 1741 unter dem ersten hauptberuflichen Gartenarchitekten Englands von dem zukünftig vorherrschenden, eher gefällig-malerischen Ideal abgelöst: Lancelot gen. Capability Brown (Turner 1985, bes. S. 55 ff.), der über 200 Gärten in England gemäß den jeweils vorgefundenen Möglichkeiten (capabilities) ‚verbesserte‘, näherte die Modellierung des von ihm gestalteten Parkteils Halkwell Field noch stärker der umgebenden Landschaft an und fügte dem Ensemble Bauten hinzu, die nun vor allem in ihrem jeweiligen Duktus differierten und hierdurch auf verschiedene ästhetische Bezugssysteme und Bedeutungsebenen, z. B. das Mittelalter, die Antike, Palladio oder einen imaginierten Orient verwiesen. Nach dem Vorbild eines wenige Jahre älteren Englischen Gartens, Wilton House, gestaltete Brown eine Brücke in Anlehnung an Palladios nicht realisierten Entwurf für den Ponte di Rialto in Venedig (□ 153). Auf einen Hügel setzte der Architekt James Gibbs ein mittelalterlich anmutendes dreieckiges Gebäude, mit dem die Familie Temple auf die uralte Herkunft der englischen Freiheitsliebe anspielen wollte (□ 154). Der neopalladianisch-klassische Dogmatismus wurde so allmählich relativiert und durch weitere Facetten ergänzt – der im 19. Jh. vorherrschende, bedeutungstragende Stilpluralismus kündigt sich hier an. So fanden auch bald orientalische Szenerien Eingang, da man in der chinesischen Gartenkunst verwandte Prinzipien zu erkennen glaubte.
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□ 154 Stowe in Buckinghamshire, Halkwell Field Garden, Gotisches Haus, J. Gibbs, 1741 – 48
Ab 1749 ließ Richard Grenville-Temple, der 2. Earl of Temple, im Norden des Herrenhauses ein ‚Griechisches Tal‘ gestalten, dessen eyecatcher ein (irrtümlich an der römischen Maison Carrée in Nîmes orientierter) antiker Tempel war, den man als Pionierbau des nun einsetzenden Greek Revival, also der Wiederentdeckung der ursprünglichen griechischen Architektur ohne den Umweg über italienische Vorbilder verstand. Ab 1762 publizierten die Engländer Stuart und Rewett die Ergebnisse ihrer Bauaufnahmen der Athener Akropolis (vgl. □ 26) und gaben dem sich entwickelnden Klassizismus durch exakte Wiedergabe originaler griechischer Bauwerke neue, bald kanonisierte Vorbilder. Neben den (später nicht mehr so gehäuft eingesetzten) architektonischen Staffagen wurden vor allem die gärtnerischen Mittel immer mehr verfeinert: Die in geometrischen Ornamenten aus buntem Kies gestalteten sog. Broderie-Parterres in unmittelbarer Nähe des Herrenhauses wurden von sog. Bowling Greens, eingetieften Rasenflächen‚ oder mit Blumenbeeten geschmückten Pleasure-Grounds abgelöst. An die Stelle effektvoll sprudelnder, figurenreicher Fontänen traten nun sich schlängelnde, von
möglichst vielen Brücken überspannte Bachläufe, die gelegentlich durch kleine Wasserfälle und unregelmäßig geformte Teiche belebt wurden. Geschwungene Wege ersetzten gerade Achsen, statt geometrisch beschnittener Bosketts lockerte man die nun vorherrschenden Wiesen durch malerische Baumgruppen, sog. clumps auf. William Gilpin hat 1748 diese Bausteine am Beispiel von Stowe im literarischen Gewand eines Reiseführers beschrieben, in dem sich zwei Besucher über ihre Eindrücke austauschen und mit dem das Ideal des picturesque, also der ,bildhaft-malerischen‘ Gartengestaltung eingeführt wird (Wimmer 1989, S. 190–204). Der weltweite Siegeszug des Englischen Gartens ab der zweiten Jahrhunderthälfte kann als erster kultureller Triumph des aufstrebenden britischen Empires und damit Nordeuropas über die bisher tonangebenden romanischen Länder verstanden werden. Friedrich Ludwig von Sckell, einer der wichtigsten Propagandisten der neuen Kunst in Deutschland, Gestalter Schwetzingens und des Münchner Englischen Gartens, formulierte das Prinzip des landscape gardening so: Die Natur drückt sich nur zufällig bildlich aus, die Kunst thut dies mit Vorsatz (Buttlar 1989, S. 248).
Die Gärten von Stowe in Buckinghamshire
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Crescent und Circus in Bath Das Reihenhaus als Palast
D
ie Architekturgeschichte der Frühen Neuzeit wird in diesem Buch als eine Epoche der vorherrschenden Kontinuität beschrieben, die durch einen verbindenden Kanon, den Vitruvianismus, geprägt ist. Ähnlich homogen erscheinen auch die herrschenden Akteure und Bauaufgaben: Adel, Klerus und Bürgertum, Gotteshäuser und Paläste, Villen und Gärten, öffentliche Bauten und herrschaftliche Stadtplätze bestimmen das Baugeschehen der Epoche über vier Jahrhunderte. Der Aufbruch in die Moderne, der sich im 18. Jh. abzeichnet, wird erst bei genauerem Hinsehen erkennbar: mit der Wiederentdeckung der Gotik |▶ 48|, einer Neubestimmung des Sakralen und Monumentalen |▶ 49, 50| und schließlich neuartigen, für das allmählich die kulturelle Vorherrschaft erobernde Bürgertum spezifischen Strukturen. Diese kündigen sich besonders deutlich in einem neuen Stadttypus an: dem mondänen Badeort. Ein weiteres Mal erweist sich England als Vorreiter, wie ein Blick auf die Kleinstadt Bath im westenglischen Somerset belegen soll. Thermalbäder waren in Europa seit der Antike bekannt und führen ihre Traditionen häufig auf römische Wurzeln zurück: Im Schatten der gotischen Abteikirche von Bath befindet sich bis heute ein offenes Quellwasserbecken, das sog. Große Römische Bad des um 50 n. Chr. begründeten und seitdem kontinuierlich besuchten Aquae Sulis. Veränderte hygienische und gesellschaftliche Ideale ließen jedoch in der Frühneuzeit das jede gesellschaftliche Distinktion unterlaufende gemeinsame Baden im heilenden warmen Wasser aus der Mode kommen. Erst eine Epoche, die die strikte soziale Trennung gemäß Schicht- und Standeszugehörigkeit nicht mehr als alternativloses Grundgesetz
III. Schlüsselwerke
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jedes Zusammenlebens betrachtete, entwickelte wieder ein gesteigertes Interesse an Orten größerer sozialer Durchlässigkeit, als sie die rigide geordneten Höfe und Hauptstädte bieten konnten. Ein weiterer Motor für den Aufstieg des Badelebens war seine Verbindung mit dem zunächst beim Hochadel beliebten Glücksspiel, das hier an einem öffentlich zugänglichen Ort auch dem finanzstarken Bürgertum und abenteuerlustigen Aufsteigern verfügbar wurde. Politisch und religiös neutral, kosmopolitischer und toleranter disponiert als in den metropolitanen Zentren, wurden die Modebäder zu Laboratorien der gesellschaftlichen Öffnung durch Mobilität und ‚Niederschwelligkeit‘ ihrer Angebote an alle, die es sich leisten konnten. Es leuchtet ein, dass die Bauherren solcher Vergnügungsorte meist nicht die staatliche oder religiöse Obrigkeit, sondern mehrheitlich bürgerliche Unternehmer waren, welche die Schaffung eines geeigneten baulichen Rahmens für diese frühe Form der ‚Freizeitindustrie‘ als renditeorientierte Investition betrieben. Im Falle von Bath schlossen sich der Berufsspieler und Gesellschaftlöwe Richard gen. Beau Nash, der als Post-Pächter und Steinbruchbesitzer reich gewordene Ralph Allen, der Badearzt William Oliver und der einheimische Baumeister John Wood der Ältere mit der Absicht zusammen, Bath fashionable zu machen, um hierdurch den Zuzug von vermögenden Neubürgern und Saisongästen systematisch zu fördern – mit Erfolg: Zwischen 1705 und 1760 stieg die Einwohnerzahl von 2000 auf 10 000 Personen. Allen übernahm die Rolle des Landedelmanns, Bürgermeisters und Mäzens: Er ließ sich gegenüber der Stadt ab 1734 nach Woods Plänen aus dem lokalen, von ihm bis
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London exportierten Kalkstein das palladianische Herrenhaus Prior Park samt Englischem Garten errichten |▶ 46|. Dort beherbergte er viele Geistesgrößen der Zeit, wie den Philosophen Pope, den Maler Gainsborough, den Schauspieler Garrick oder den Schriftsteller Fielding – und erhob das Modebad dadurch zum zumindest saisonalen, kulturellen Nebenzentrum. William Pitt, der Nachfolger Walpoles als Premierminister, war von 1757–66 Abgeordneter für Bath im Unterhaus (Smith 1948, S. 67; Gadd 1971, S. 85–98). Der Aufstiegs Baths begann 1705 mit dem Neubau der pump room genannten Trinkhalle, die sich noch im mittelalterlichen Stadtkern in einem Knie nördlich des Flüsschens Avon befand. Die Stadterweiterungen, welche adäquaten Wohnraum für die anspruchsvollen Neubürger schaffen sollten, entstanden dagegen auf den nördlich und westlich ansteigenden Hängen oberhalb der Altstadt. John Wood entwickelte als Entwerfer und Investor zwei unterschiedlich gestaltete Stadtplätze, den rechteckigen Queen Square und den kreisrunden King’s Circus; sein gleichnamiger Sohn fügte den berühmtesten, auf Grund seiner ‚Halbmondform‘ Royal Crescent genannt, hinzu. In diesen drei Ensembles zeigt sich eine kontinuierliche Entwicklung städtebaulicher Konzepte vom Palladianismus zum Klassizismus, von der Übersetzung vorgeprägter, ländlicher Bauformen in einen städtischen Kontext bis zur Erfindung einer völlig neuen, maßstabsetzenden urbanistischen Figur. Dieser in England sehr geläufige Bautypus wurde terrace genannt: eine Häuserreihe gleichförmiger kleinerer Wohneinheiten hinter uniformen Fassaden | ▶ 13|. Bei den französischen Königsplätzen war zum ersten Mal erprobt worden, palastartige Fronten zu errichten, welche die Grenzen der dahinter von privaten Investoren angebauten individuellen Häuser bewusst verschleierten und den Eindruck eines zusammengehörigen, reprä-
□ 155 Bath, Royal Crescent, J. Wood d. J., 1767 – 75
sentativen Gebäudes erzeugen sollten. Dieses Schema wurde nun, wie die königlichen Anspruch suggerierenden Namen belegen, nach England übertragen und weiterentwickelt. Im Gegensatz zur Place Vendôme |▶ 38| errichtete der Privatinvestor Wood die Platzfronten in Bath aber nicht im Vornherein als Kulissen, um sie nachträglich zu ‚hinterfüllen‘; vielmehr wurde die Fassadenform nach vorgegebenem Schema erst dann realisiert, wenn ein Pächter das dahinterliegende, meist dreiachsige Haus nach eigenen, durchaus individuellen Plänen errichten ließ: ein Verfahren, das man treffend to buy windows nannte und das die auffällige Differenz zwischen homogener Vorderfront und gänzlich individualisierter, unansehnlicher Rückfront bei Circus und Crescent erklärt (Loosen-Frieling 1992, bes. S. 38–62; Ison 1948/1980, S. 94–102). Woods erstes Projekt, der 1728–35 erbaute quadratische Queen Square, verzichtete auf den Eindruck allseitig gleicher Platzfassaden, sondern verlieh der Nordseite (Benevolo 1995,
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S. 452) einen scheinbaren Vorrang, indem er hier einen Block mit 23 Fensterachsen errichtete, der durch zwei Eck- und einen Mittelrisalit mit Dreiecksgiebel sowie zwei Rücklagen |▶ 35| formal fünfgeteilt war und somit das Modell schlossartiger palladianischer Herrenhäuser |▶ 46| in die Stadt übertrug: Hinter der Fassade verbargen sich de facto sieben Einzelhäuser. Die anderen Platzseiten wurden mit siebenachsigen Doppelhäusern bzw. Hausreihen geschlossen, die gleichsam als Trabanten eines herrschaftlichen Schlosses erschienen. Die Platzmitte war als square ausgebildet, d. h. als umzäunte, abgeschlossene Grünanlage, die nur von den Anwohnern betreten werden durfte und deren Zentrum ein dekorativer Obelisk hervorhob. 1754 wurde die zweite Platzanlage Woods d. Ä., der noch im Jahr des Baubeginns verstarb, nördlich des Queen Square begonnen und mit diesem durch die Gay Street verbunden: der kreisrunde, von drei Straßen in gleiche Abschnitte geteilte King’s Circus, dessen anspruchsvoller Name wie bei der Pariser Place des Victoires Hardouin-Mansarts durch ein – hier allerdings niemals realisiertes – Standbild des Königs in seiner Mitte gerechtfertigt werden sollte ( □ 156, unten). Hinter den gleichlangen Abschnitten von 36 Achsen verbergen sich je 10–12 Häuser, allerdings ist hier (im Unterschied zum square) jede scheinbare Hierarchie der Platzseiten und der drei Stockwerke vermieden: Alle Fenster sind gleich groß und gleichermaßen schmucklos in die glatte Wand eingeschnitten. Dieser Wand ist eine Säulenordnung in Superposition mit der klassischen, aufsteigenden Abfolge dorisch – ionisch – korinthisch vorgelegt, die von den Zeitgenossen als theatrical style bezeichnet und als Paraphrase des römischen Colosseums (□ vgl. 1) verstanden wurde. Es gibt jedoch einige bezeichnende Unterschiede zum Vorbild: Die Säulenordnung schmückt hier das Innere eines Runds, die Stützen sind jeweils verdop-
III. Schlüsselwerke
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pelt, und die Arkaden als Verbindungen der Säulen entfallen. An den Einmündungen der Straßen bricht die vorgelegte Kolonnadenstruktur vor der Ecke ab, so dass dort die glatte Wand als ‚eigentliche Substanz der Architektur‘ unmittelbar sichtbar wird – die Säulen sind nur ornamental vorgelegt und dienen als dress and garnish of Building, wie es der Theoretiker Robert Morris 1759 formulierte (Morris 1759/1971, S. 136): Sie symbolisieren egalisierend die Würde aller Bewohner, ohne – wie am Queen Square – unbegründet durch eine scheinbare Hierarchie der Platzseiten die einen vor den anderen Hauskäufern auszuzeichnen. John Wood d. J. führte diesen Gedanken in der dritten Anlage, dem 1767–75 errichteten halbovalförmigen Royal Crescent weiter, den man vom Circus über die Brock Street erreicht (□ 156, oben): Diese terrace besteht aus einer durchgehenden Reihe von 30 Häusern, die mit 114 kolossalen ionischen Halbsäulen ausgezeichnet ist, welche die beiden oberen Geschosse zusammenfassen und auf einem völlig glatten, ungegliederten Erdgeschosssockel aufruhen. Die äußersten fünf Achsen bilden jeweils gerade Risalite, während das Gebäude dazwischen (wie bei Berninis zweitem Louvre-Entwurf, |▶ 35|) segmentbogenförmig zurückschwingt. Nur wenige Akzente sind gesetzt: Das mittlere Fenster der zentralen Achse ist rundbogig geschlossen, die Mittelachsen der Eckrisalite sind verbreitert, die Ecken und die Mitte des Bogens durch Kuppelung von Säulen betont (□ 155). Diese Akzente fallen jedoch optisch kaum ins Gewicht und erscheinen als letztes Relikt einer ‚barocken‘ Hierarchisierung, die von einem neuen Ideal, nämlich der monotonen Abfolge monumentaler, identischer Gliederungselemente abgelöst wird. Im Gegensatz zu den meisten anderen Platzanlagen wurde hier eine architektonische Geschlossenheit gar nicht angestrebt, sondern der unverbaute Blick in das nach Süden abfallende Avon-Tal als genuines Element in die Konzeption inte-
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□ 156 Bath, King’s Circus (unten) und Royal Crescent (oben), Luftaufnahme, J. Wood d. Ä. u. d. J., 1754 – 75
griert, die freie, schöne Aussicht in die Natur gleichsam ‚mitverkauft‘. Wie überzeugend diese Lösung der Topographie und der Bauaufgabe angepasst war, belegt ihre mehrfache Wiederholung, z. B. in dem 1789–93 von John Palmer errichteten Landsdown Crescent oberhalb des Royal Crescent (Ison 1948/1980, S. 171 ff.). Das System ungewöhnlicher Platzformen hat allerlei Spekulationen über versteckte Symboliken ausgelöst: So meinte man in dem kreisrunden, mit drei Eingängen versehenen Circus eine Anspielung auf die steinzeitliche Anlage von Stonehenge zu erkennen, über die Wood 1747 eine Publikation vorgelegt hat-
te (Brownell 1976). Den Metopenschmuck der dorischen Ordnung deutete Loosen-Frieling als Symbole der Freimaurerei, die Eicheln als Bekrönung der Balustrade könnten auf die heidnisch-druidische Tradition Englands verweisen. Für keinen dieser Deutungsvorschläge gibt es belegbare Äußerungen des Architekten, und es erscheint fraglich, ob die Anbringung eines derart kryptischen Zeichensystems an zur Verpachtung errichteten Wohnbauten einer Badestadt plausibel erscheint. Unmittelbar einleuchtend erscheint dagegen die für gebildete Zeitgenossen augenfällige Bezugnahme auf französische Platzanlagen und den Palladianis-
Crescent und Circus in Bath
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mus der englischen Aristokratie: nobilitierende Assoziationen, welche beim zahlungskräftigen und meist weit gereisten Publikum die Investitionsbereitschaft erhöht haben dürften. Eine ganz allgemeine Bezugnahme auf Forumsanlagen der Antike kann in jedem Falle vorausgesetzt werden, bleibt aber unspezifisch, da sie für nahezu jede Platzkonzeption der Frühneuzeit in Anspruch genommen wurde. Die Anlagen der Woods in Bath stehen am Ende der Entwicklung formal geschlossener, einheitlich gestalteter Plätze in der Frühen Neuzeit, die mit dem Florentiner Findelhaus |▶ 1| begann und über Freudenstadt |▶ 13|, Rom und Paris bis zur erneuten Relativierung und Auflösung dieses Ideals führte. Die Säulenordnung ist hier nur noch dekoratives und allgemein nobilitierendes Element, aber sie verliert ihre ‚vitruvianische‘ Sprachfä-
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higkeit, weil sie nicht mehr betont und hervorhebt, sondern vielmehr egalisiert. Die Risalite, Giebel und Achsweitungen korrespondieren mit keiner funktionalen oder hierarchischen Differenzierung im Inneren mehr, sondern zitieren lediglich als eyecatcher den Gebildeten bekannte Schemata. In diesem Sinne ließ auch Friedrich der Große die Bürgerhäuser Potsdams aus rein ästhetischen Gesichtspunkten mit Fassadenkopien aus Rom und Vicenza dekorieren, ohne sich zu bekümmern, welcher Handwerker oder Bürger später darin wohnen sollte. Wie das Modebad selbst ebnet diese Architektur bestehende Bedeutungs- und Standesunterschiede ein und macht alle, die es sich leisten können, zu tendenziell gleichwertigen Mitgliedern einer (zahlungskräftigen) ‚Guten Gesellschaft‘: der Bürger als Edelmann, das Reihenhaus als Palast.
Strawberry Hill bei London Gothic Revival
A
rt and Palladio had not reached the land, nor methodized the Vandal builder’s hand (Horace Walpole zur englischen Gotik, hier zit. nach Sheldon Lewis 1961, S. 101)
Die Schlüsselwerke der englischen Baukunst, die bisher in diesem Buch präsentiert wurden, erweckten den Eindruck einer unumkehrbaren, linearen Entwicklung hin zu einer immer reineren Ausprägung der vitruvianisch-antikischen Formen unter dem Label ‚Englischer Palladianismus‘ |▶ 45|. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille, und gerade in einem freiheitsliebend-demokratisch geprägten Land verwundert es nicht, dass zu dieser vorherrschenden Meinung auch eine starke Opposi-
III. Schlüsselwerke
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tion entstand, welche die Geschmacksdiktatur der jeweils Regierenden unter dem Leitbegriff des taste nicht ohne weiteres hinnehmen wollten. Sie wandten sich jener Form zu, die in ganz Europa als mehr oder weniger präsentes Gegenmodell zum internationalen Vitruvianismus verstanden wurde: der Tradition der einheimischen Gotik. Dem landestypischen Pragmatismus entsprechend wurde diese Differenz zunächst nicht laut und theoriegesättigt vorgetragen, sondern mit scheinbarer Selbstverständlichkeit je nach Bauaufgabe und Kontext einfach praktiziert. So errichtete jener Nicholas Hawksmoor, der das Marinehospital in Greenwich |▶ 44| in monumentalen barocken Formen vollendete, gleichzeitig die konsequent
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gotisch gestalteten Westtürme der Krönungskirche Westminster Abbey. In der Universitätsstadt Oxford entstanden im 17. und 18. Jh. zahlreiche Gebäude in jenen mittelalterlichen Formen, die man anscheinend selbstverständlich mit einem traditionsreichen College identifizierte (Worsley 1995, S. 175–195). Man hat diese unaufgeregte Kontinuität auch als Gothic Survival bezeichnet. Es war aber nur eine Frage der Zeit, bis auch diese Formensprache von einer neuen Gruppierung politisch und kulturell instrumentalisiert und ideologisch aufgeladen werden sollte (Tüting 2004). Wie oft in England war es ein vermögender Großgrundbesitzer aus politisch einflussreicher Familie, der durch den Bau eines Landsitzes die Stilwahl zum Manifest erhob: Horace Walpole, Sohn jenes Premierministers, den Viscount Cobham in seinem Garten in Stowe |▶ 47| als Heros des modernen Sittenverfalls verhöhnt hatte. Robert Walpoles eigener Landsitz, Houghton Hall, repräsentierte das Geschmacksideal der seit 1714 dominierenden Whig-Aristokratie: ein schlossartiges palladianisches Herrenhaus Colen Campbells in einem Garten von William Kent. So schien es fast natürlich, dass der sensible, politisch wenig ehrgeizige Sohn eines herrischen Staatsmanns einen Gegenentwurf zu dessen Lebenswelt gestaltete – eine interessante Analogie zu Friedrichs II. wenig früher begonnenen Sanssouci-Projekt |▶ 43|. Hier wie dort wurde ein betont kleiner, informeller Rückzugsort gestaltet: Walpole erwarb 1747 ein kleines Landhaus an der Themse in der Nähe von Burlingtons Chiswick House | ▶ 45|, um dessen dogmatisch-palladianischer Modellvilla eine ebenso selbst entworfene Antithese entgegenzusetzen. Das von ihm zusammengerufene Team, bestehend aus dem Graphiker Richard Bentley und Walpoles Grand-Tour-Reisegefährten John Chute, in dem sich bezeichnenderweise kein Profi-Architekt befand, gab sich den provokant-anmaßenden Namen Comittee of Taste. Die
drei griffen beim Ausbau jener kleinen, nun Strawberry Hill genannten Villa zu jenem Formenrepertoire, dass allen Vitruvianern als das glatte Gegenteil des (guten) Geschmacks erschien, nämlich die scheinbar regellose mittelalterliche Formenwelt, die man vereinfachend und abschätzig gothic nannte. Der Begriff war keineswegs wertfrei, sondern seit der Einführung dieses Terminus durch den italienischen Renaissancetheoretiker Vasari mit den Attributen ,barbarisch‘ und ,regellos‘ assoziiert. Zwar war die gotische Bauweise in England niemals so vollständig zurückgedrängt und entwertet worden wie in Italien und (unter anderen Vorzeichen) in Frankreich, aber man gestand ihr allenfalls einen relativen, vor allem historischen Wert zu, weil er an die ruhmreiche englische Geschichte erinnerte, sowie eine Art Narrenfreiheit als dekorativ kontrastierende, in ihrer Exotik etwa dem Chinesischen vergleichbare Variante von Parkbauten in Landschaftsgärten wie Stowe |▶ 46| oder Kew (□ vgl. 31). In den 1740er Jahren kamen pseudomittelalterliche Formen vor allem für Innendekorationen wieder in Mode, die das nun vorwiegend bürgerliche Publikum aus Musterbüchern wie Batty Langleys „Gothic architecture“ von 1742 übernehmen konnte. Auch Walpole propagierte seine Ästhetik mithilfe dieses Massenmediums, indem er in seinem Landhaus eine eigene Druckerei, die Strawberry Hill Press betrieb. Die innovative Bedeutung des kleinen Landhauses lag darin, dass Walpole ähnlich wie vor ihm Burlington einen programmatischen Bau schuf, der das Hauptgebäude des Anwesens selbst in unkonventionelle, hierdurch als den klassischen gleichwertig propagierte Formen kleidete. Dies geschah mit neuer gestalterischer Ernsthaftigkeit und Konsequenz, indem nicht nur konkrete historische Vorbildbauten rezipiert und originale Fragmente verbaut, sondern auch mit einem seit 300 Jahren herrschenden Dogma anspruchsvoller Architektur gebrochen wurde: dem Diktat der Symmetrie.
Strawberry Hill bei London
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□ 157 Strawberry Hill bei London, Grundriss des Ober geschosses, H. Walpole u. a., 1747 – 62, gewestet
Damit übertrug Walpole jenen ästhetischen Paradigmenwechsel zum Malerischen, der sich zuerst im englischen Landschaftsgarten vollzogen hatte, auf die Architektur selbst (Tüting 2004, bes. S. 267–276). Der ungewöhnliche, jede Symmetrie und klassische Proportion entschieden negierende Grundriss des zweigeschossigen, zinnenbekrönten Landhauses besteht aus dem östlichen Kernbau, nicht mehr als eine kleine Villa, und dem bis 1762 daran angefügten langgestreckten Westflügel, in dem sich vielgestaltige Räume wie die lange Galerie, der runde Turm, das polygonal geschlossene sog. Holbein-Zimmer sowie eine ‚Kapelle‘ auf Vierpassgrundriss nahezu unverbunden aneinanderreihen (□ 157). In seiner 1784 publizierten Beschreibung
III. Schlüsselwerke
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benannte Walpole für jeden Raum genau die gotischen Vorbilder, welche als Anregungen dienten (Miller 1986, S. 169 f.): So wurden die Sitznischen der Langen Galerie Bischofsgrabmälern in der Kathedrale von Canterbury, das Pappmaschee-Gewölbe der berühmten Kapelle Heinrichs VII. in Westminster Abbey nachempfunden (□ 158). Neben das dekorative trat gleichberechtigt ein antiquarisches Interesse, wie es bislang nur den klassischen, antiken Relikten gegolten hatte. Auch das Katholische, seit der Vertreibung der Stuarts 1688 in England eigentlich streng verpönt, erfuhr hier als konstitutives Element der frühromantischen Mittelalterbeschwörung wieder eine gewisse Anerkennung: Die konfessionelle Auseinandersetzung verlor im Zeitalter der Aufklärung spürbar an Schärfe, sakrale und profane Sphäre näherten sich einander an, wie auch – freilich in ganz anderer Formensprache – Soufflots Pariser Panthéon und Boullées Newton-Kenotaph belegen |▶ 49, 50|. Der Begriff gothic hat im Englischen eine Doppelbedeutung, und auch diese geht auf Walpole zurück, denn er schuf mit seiner Erzählung „The Castle of Otranto“ 1764 zugleich den Prototyp des in verfallen-labyrinthischen, mittelalterlichen Gemäuern spielenden Gruselromans. Sein Haus, das nicht wie Chiswick nach einem konsequent durchgeführten Plan errichtet, sondern allmählich über viele Jahrzehnte von 1753–92 sozusagen evolutionär entwickelt wurde, ist zugleich ein ‚Bau zum Buch‘, die dreidimensionale Umsetzung jener Szenerie, die der (in einem fiktiven Italien spielenden) Text evoziert, so wie man in Stowe die Ideallandschaften der griechischen Antike nachgestellt hatte (Miller 1986, S. 177–191). Die Gotik wurde von Walpole und seinem Umkreis weniger als politisches Signal denn als Stimmungsträger verstanden und wie eine Theaterszenerie illusionistisch einem privaten Wohnhaus inkorporiert, das zugleich als Touristenattraktion diente und unter Führung
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□ 158 Strawberry Hill, The Great Gallery, 1762
eines Hausmeisters besichtigt werden konnte. Hierbei verwendete Bentley z. B. im Treppenhaus illusionistisch mit Maßwerkdekor bemalte Tapeten und aus Kirchen translozierte Buntglasfenster, um die gewünschte ‚prä-romantische‘ Stimmung hervorzurufen (Chalcraft/ Viscardi 2007, S. 34–41, 51). England war nicht das einzige Land, in dem nach 1750 die Gotik wiederentdeckt wurde, doch geschah dies unter jeweils spezifischen und divergenten Perspektiven. Während man in Frankreich die Eleganz, Kühnheit und Klarheit der Konstruktion rezipierte und in Deutschland durch wörtliche Übersetzung Vasaris die namensgebenden ‚Goten‘ als Deutsche und damit die mittelalterliche als die eigentlich nationale Kunstrichtung wiederentdeckte – berühmtes Beispiel hierfür ist Goethes Aufsatz zum Straßburger Münster von 1772 –, begeisterten sich die Engländer vor allem an den dekorativen Effekten spätgotischer Fächergewölbe, an bunten Glasfenstern und der scheinbar bizarren Phantastik der Formen, die als Gegenmo-
dell zum starren Dogmatismus des Palladian Style –und dem gleichzeitig propagierten, feierlich-pathetischen Greek Revival hervortraten (Lewis 2002, S. 59–80). Diese Wiederentdeckung der eigenen Architekturgeschichte als Folge des in England im 18. Jh. entwickelten liberalen Pluralismus war eines von mehreren Signalen, die das Ende des Vitruvianischen Zeitalters einleiteten: Wenn die antikisch-klassischen Formen nicht mehr die einzig wahren, schönen und guten, sondern nur noch eine beliebig wählbare Spielart waren, büßten sie ihren für die Frühe Neuzeit konstitutiven, normativen Charakter ein. Zugleich bedeutete die Entdeckung der historischen Bedingtheit künstlerischer Stile – venezianisch, griechisch, gotisch – ihre Emanzipation und Kontextualisierung. Nun gab es auch theoretisch begründet mehr als eine Art und Weise, angemessen und richtig zu bauen. Die Moderne als Zeitalter des Relativismus und Individualismus begann ihren Siegeszug – ausgerechnet in mittelalterlichem Gewand.
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Ste-Geneviève, das Pantheon in Paris Vom griechisch-gotischen Ideal zum Tempel der Nation
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nsere gotischen Kirchen sind noch die annehmbarsten, die wir besitzen. […]. Daraus habe ich den Schluss gezogen, dass wir auf diesem Gebiet [dem Sakralbau] die richtige Art zu Bauen noch nicht gefunden haben. […] Ich habe schon darauf hingewiesen, dass es genügt, die Traveen der Kapelle von Versailles oder das Gebälk der Louvrekolonnade zu studieren. Vor diesen Beispielen lösen sich die Schwierigkeiten in Nichts auf. [… Ich lege daher im Folgenden den Idealplan einer Kirche vor:] Seine Einfachheit, Natürlichkeit und Eleganz wecken in vielen den Wunsch nach seiner Verwirklichung. […] Was das Äußere unserer Kirchen am meisten entstellt, sind Strebepfeiler und Strebebögen. Da es unmöglich ist, vollständig auf sie zu verzichten, muss man sie so gut verstecken, dass sie von keiner Seite sichtbar sind […] Die beste Art, das große Portal einer Kirche zu dekorieren, ist der Bau eines Portikus, der über die ganze Breite von Mittel- und Seitenschiffen geht […]. (Laugier/Böck 1753/1989, S. 142–159)
Diese Passage, die sich wie eine Beschreibung der Pariser Kirche Ste-Geneviève liest, wurde ein Jahrzehnt vor der offiziellen Grundsteinlegung verfasst. Der Zusammenhang von Text und Gebäude ist somit umgekehrt: Der bedeutendste Pariser Kirchenneubau der zweiten Jahrhunderthälfte überträgt das hier niedergelegte Programm eines Geistlichen und Architekturdilettanten, des ehemaligen Jesuiten und späteren freien Schriftstellers Abbé Marc-Antoine Laugier, sozusagen in die Realität. Seit der Entscheidung für Perraults und gegen Berninis Louvre-Ostfassade |▶ 35| hatte die
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französische Architekturszene ihre Autonomie, ja Vorrangstellung im Bereich des Profanbaus immer weiter entfaltet. Lediglich im Kirchenbau blieben die italienischen Modelle und gotischen Traditionen anscheinend übermächtig und alternativlos, obwohl sie vielen Betrachtern als unbefriedigender Kompromiss erschienen. Ein gutes Beispiel bietet die 1660 begonnene Pariser Pfarrkirche St-Sulpice (Hesse 2004, S. 47f.), deren Grundstruktur immer noch der traditionellen langgestreckten Basilika mit Querhaus und Umgangschor verpflichtet ist: Die Wandgliederung des Inneren erscheint dagegen als Derivat des römischen Gesù-Typus |▶ 22|, die Raumwirkung mit ihren massigen, spröden, behäbigen Pfeilerarkaden den lichten, transparenten, statisch kühnen gotischen Kirchen eindeutig unterlegen. Leider war die Übersetzung dieser geschätzten nationalen Tradition in die vitruvianische Sprache bisher nicht recht gelungen, wie das Beispiel St-Eustache |▶ 11| hinreichend belegte. Die Bekleidung von tragenden Pfeilern und Wänden mit lediglich dekorativ applizierten Pilastern und Halbsäulen erschien systematisch denkenden Architekturtheoretikern zunehmend als redundant, konstruktiv unwahr und ästhetisch unbefriedigend (Hesse 1984, S. 124–146). Die Versailler Hofkapelle | ▶ 36| deutete eine mögliche Lösung an, indem hier gotische Raumprinzipien konsequent klassisch umformuliert wurden. Allerdings fehlte in Paris bislang ein Großbau, der die Tauglichkeit dieses Modells für den Maßstab einer Kathedrale nachwies. Die in Versailles durch das traditionelle Palastkirchenschema begründete Doppelung der Systeme – unten Pfeilerarkade,
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darüber Freisäulenkolonnade – sollte in eine monumentale Eindeutigkeit überführt werden, indem nur eine kolossale Ordnung außen und innen das konstruktive und dekorative System bilden würde – einfach, natürlich und elegant, aber unter Vermeidung all jener kleinteiligen, in den Augen klassisch geschulter Betrachter ‚abstoßenden‘ und ‚irrationalen‘ Details, welche die gotische Architektur bei all ihren räumlichen Qualitäten so sehr in den Verruf der ‚willkürlichen Regellosigkeit‘ gebracht hatten. Die Gelegenheit zu einem monumentalen Kirchenbau auf beherrschender Höhe des linken Seineufers ergab sich 1744, als König Ludwig XV. die Erneuerung der uralten Augustiner-Stiftskirche der hl. Genoveva gelobte, zu welcher er um Genesung von einer schweren Krankheit gebetet hatte. 1757 wurde den Planungen Jacques-Germain Soufflots die Baugenehmigung erteilt, doch erst 1791, ein Jahrzehnt nach dem Tod des Architekten, konnte die Basilika mit vielen Planabweichungen vollendet werden. Soufflot, der in Rom studiert und bereits 1741 eine Abhandlung über die Gotik verfasst hatte (Petzet 1961, S. 135–142), wurde vom Surintendant des Bâtiments Marquis de Marigny, dem Bruder der Mätresse des Königs Madame de Pompadour, protegiert und erlangte so den prestigeträchtigen Auftrag. Der vom Architekten anscheinend intendierte, programmatisch absolute Anspruch, an diesem Projekt den gesamten von Laugier aufgelisteten Forderungskatalog an Sakralbauten abzuarbeiten, erwies sich schließlich als die – bekanntlich undurchführbare – Quadratur des Kreises. Der Bau sollte als dreischiffige Basilika über griechischem, also allseitig gleichem Kreuzgrundriss errichtet werden. Jeder Kreuzarm und die Vierung waren als gleich große, überkuppelte Quadrate konzipiert: ein rigides, an Palladios ähnlich kompromisslose Villa Rotonda |▶ 18| erinnerndes Grundrissschema. Die vier Arme folgten dem sog. Kreuzkuppelsche-
ma und sind von Flachkuppeln auf Pendentifs bedeckt (□ 159). Das Zentrum, unter dem der Schrein der Heiligen aufgestellt werden sollte, wurde als Ergebnis einer langen Planungsphase schließlich durch einen hohen Tambour mit innerem und äußerem Säulenkranz nach dem Schema von Bramantes nicht ausgeführter Peterskuppel (□ vgl. 5) ausgezeichnet |▶ 6, 21, 44|. Die Kalotte der Hauptkuppel war durchbrochen dreischalig konzipiert, um so den Pariser Invalidendom, St Pauls in London |▶ 44| und die Dresdner Frauenkirche |▶ 41| zu übertreffen (Pérouse de Montclos 2004, S. 89–105). Das innere Trag- und Gliederungssystem sollte aus nichts anderem als frei stehenden oder in die Außenwände eingestellten korinthischen Säulen bestehen, die Restflächen dazwischen so weit als möglich in Öffnungen aufgelöst werden. Selbst die schmalen Tonnenstreifen, welche die Pendentifs der Nebenkuppeln auf einspringenden Säulen abstützen, sind als Emporen durchbrochen: Dies entsprach dem aus der Gotik abgeleiteten statischen Grundverständnis Soufflots, alle Lasten auf die Stützen zu konzentrieren und die Zonen dazwischen ganz aufzulösen oder weitestgehend zu entlasten. Einzig die Vierungspfeiler mussten schließlich als im Querschnitt minimierte, gemauerte Dreiecksstützen mitten in den Raum gestellt werden. Eine solche ausgedünnte Skelettstruktur wurde in der Gotik durch Strebewerk und Bogenkonstruktionen stabilisiert, die aber dem klassischen Ideal widersprochen hätten und daher – wie von Laugier gefordert – unsichtbar gemacht werden mussten: Nach dem Vorbild von Perraults Louvrekolonnade sollten raffiniert verborgene Eisenanker und scheitrechte Bögen, die wie gerade Gebälke aussehen, die vitruvianische Norm gegen alle statische Plausibilität durchsetzen. Ziel war ein Bauwerk, das gotische Konstruktionsprinzipien des Skelettbaus reaktivierte, aber äußerlich aussehen sollte wie ein massiv gebauter antiker Tempel. Um es mit den Worten von Soufflots Nachfol-
Ste-Geneviève, das Pantheon in Paris
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320 □ 159 Paris, Stiftskirche Ste-Geneviève (das Panthéon), Innenansicht J.-G. Soufflot, beg. 1757
ger und Chefkonstrukteur Brébion zu sagen: […] reunir sous une des plus belles formes la légèreté de la construction des édifices gothiques avec la pureté et la magnificence de l’architecture grecque (Hesse 1984, S. 154). Vermutlich hatte der lichtdurchflutete, vielfältige Durchblicke gewährende Innenraum in seiner ursprünglichen Fassung größere strukturelle Ähnlichkeit mit der zeitgenössischen Wieskirche |▶ 40| als einer antiken, wie bekannt fensterlosen Tempelcella: ein durchaus geläufiges Ideal im Zeitalter der Aufklärung, das auf Französisch siècle des lumières, also Jahrhundert des Lichts genannt wird (Braham 1989, S. 19–82). Doch Soufflots ebenso phantasievolle wie technisch elaborierte Idealplanung stand unter keinem guten Stern: Der Klerikerkonvent setzte schon vor der Grundsteinlegung 1765 eine Verlängerung des Mittelschiffs um je ein halbes Joch an Chor und Fassade durch. Erste Setzrisse erzwangen noch vor der Bauvollen-
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dung Verstärkungen und Korrekturen, z. B. die nur schlecht kaschierten Strebepfeiler im äußeren Säulenkranz der Kuppel (□ 160). Als sich der Bau um 1791 endlich der Fertigstellung näherte, hatte er seinen eigentlichen Anlass, die Verehrung der Gebeine einer mittelalterlichen Heiligen, verloren: Die radikal atheistische Revolutionsregierung verwandelte die vormaligen ‚Stätten des Aberglaubens‘ in ‚Tempel der Vernunft‘ und unterstrich diese Umwidmung mit dem Beschluss, dort andere, zeitgemäßere Reliquien zur allgemeinen Verehrung auszusetzen: Mirabeau, Voltaire und wenig später Rousseau, die Vordenker der Freiheit, wurden feierlich als erste der neuen ‚Unsterblichen der Nation‘ in der Unterkirche des zum Panthéon des Français umgewidmeten Kuppelbaus bestattet. Mit der Symbolik sollte sich auch die Ästhetik wandeln: Ein ehrfurchtgebietender ‚Tempel aller Götter‘ und Geistesgrößen durfte nach dem Vorbild des gleichnamigen römischen
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Bauwerks oder Boullées gleichzeitigem fiktivem Newton-Kenotaph |▶ 50| keine lichtdurchflutenden, quasi-gotisch aufgelösten Wände haben. Daher ließ der vom Nationalkonvent mit der Leitung der Umgestaltung betraute Quatremère de Quincy die Fenster der Wandzone unterhalb des Hauptgebälks nahezu vollständig vermauern, so dass der gewaltige, düstere Raum nun scharf kontrastierend allein durch die Obergadenfenster belichtet wird. Seit Alberti war die Verschmelzung von Kirche und Tempel ein Leitbild der Vitruvianischen Epoche gewesen – Soufflot hatte dieses Ziel offensichtlich erreicht, denn beide Funktionen erwiesen sich im folgenden Jahrhundert gemäß politischer Opportunität als beliebig austauschbar: Je nachdem, ob die republikanisch-laizistische oder die katholisch-royalistische Fraktion in Frankreich gerade an der Regierung war, wurde aus dem profanen Pantheon der Franzosen wieder die katholische Kirche St-Geneviève und umgekehrt. ‚Erhabenheit‘, das ästhetische Leitbild der Epoche, war eine weltanschaulich unspezifische Kategorie, wie die programmatisch völlig divergenten, wichtigsten Nachfolger des Pariser Kuppelbaus belegen: die St. Petersburger orthodoxe
St.-Isaaks-Kathedrale (ab 1816), die katholische Kathedrale von Esztergom in Ungarn (ab1822), Schinkels evangelische Nikolaikirche in Potsdam (ab 1830) und das Kapitol in Washington (ab 1851). Ein Grundaxiom frühneuzeitlicher Architekturtheorie, nämlich der rhetorisch eindeutige Bezug bestimmter vitruvianischer Formen zu klar definierten Inhalten und Bauaufgaben, erwies sich nun endgültig als obsolet. Die Antike wurde zu lediglich einem ästhetisch-ideologischen Bezugssystem unter mehreren konkurrierenden, auch wenn sie die folgenden Jahrzehnte noch beherrschen sollte. Ihr war aber mit der wiederentdeckten Gotik inzwischen ein – zumindest im Bereich des Sakral- und Denkmalbaus – ebenbürtiger Konkurrent erwachsen. Als König Ludwig I. von Bayern ab 1830 für die Deutschen ein eigenes ‚Pantheon‘, die sog. Walhalla bei Regensburg, planen ließ, wurden gleichermaßen griechische und gotische Formen erwogen – zuletzt erhielt noch einmal das Modell des dorischen Tempels den Zuschlag. Die Wiederentdeckung und Neubewertung der Gotik verlief in Frankreich somit völlig anders als in England. Während dort die Stimmungswerte, die fremdartige Dekorationsfülle und der antiklassische Duktus des Mittelalters
□ 160 Paris, Stiftskirche Ste-Geneviève (das Panthéon), Äußeres von Südwesten, J.-G. Soufflot u. a., 1757 – 91
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als ein dezidiertes Gegenmodell zum konventionell gewordenen Palladianismus reaktiviert wurden, bemühte man sich hier um die ‚rationalistische‘ Versöhnung von Klassik und Gotik, zeitlosem Ideal und heimischer Tradition, und verband dies mit der Hoffnung auf Reinigung und Weiterentwicklung der ‚noch nicht zu Ende gedachten‘ Innovationen Brunelleschis und Bramantes: ein evolutionärer, kein revolutionärer Ansatz, der das Beste aus Antike, Mittelalter und Neuzeit zu einem durchaus dogmatisch verstandenen Ideal verschmelzen wollte. Diesen Versuch, ein neues, verbindliches, in sich konsequentes und alternativloses Regelwerk auf antiker Basis zu stiften, bezeichnet man als Klassizismus, also eine Ideologie des ‚Klassisch-zeitlos-Idealen‘, dessen Werke zugleich ‚vernünftig und natürlich‘ sein sollen: Es handelt sich hierbei weniger um einen historisch abgrenzbaren ‚Stil‘ als eine Haltung, und es gibt gute Gründe dafür, in Frankreich die Louvre-Kolonnade Perraults |▶ 35| als ihr eigentliches Ursprungswerk, das Panthéon als ihren ersten Höhepunkt zu betrachten. Um den mehrdeutigen Titel ‚römisch‘ zu vermeiden, aber den antikisch-universellen Anspruch hervorzuheben, bezeichnete man diese neue Architektursprache als goût grecque, also ‚griechischen Geschmack‘. Griechenland, seit der türkischen Eroberung abseits der Reiserouten, galt um die Mitte des 18. Jh.s als das wiedergefundene, wahre Mekka der reinen, guten Architektur: Die Engländer Stuart und Revett sowie die Franzosen Le Roy und St-Non hatten ab 1750 die Ruinen Athens (□ vgl. 15, 26), der Vesuvstädte Pompeji und Herculaneum und die unteritalienischen, archaisch-dorischen Tempel von Paestum ‚entdeckt‘ und publiziert – auch Soufflot hatte sie während seiner Grand Tour mit Marigny gezeichnet (Braham 1989, S. 29, 65). Erstmals lernte man jene Formen, die Vitruv beschrieben und gepriesen hatte, in ihrer ‚ursprünglichen, unverfälschten Vollkommenheit‘ kennen, die hier noch nicht von der römischen ‚Deka-
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denz‘ überformt erschien. Der Begründer der modernen Archäologie, Johann Joachim Winckelmann, formulierte 1755 das Ideal dieser neuen Bewegung: Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten – gemeint war die Nachahmung der Originalwerke der griechischen Antike, nicht ihrer römischen, vermeintlich schwächeren Rezeptions- und Imitationsstufe (Kruft 1991, S. 231–244). Durch diese Revision des bisher sicher geglaubten Wissens wurde nun die Antike erstmals selbst historisiert, indem man immanente Entwicklungen der Formensprache zu unterscheiden lernte, die man bisher lediglich als ‚Regelverstöße‘ hatte marginalisieren wollen. Hieraus ergab sich die Erkenntnis, dass die seit drei Jahrhunderten für kanonisch und allgemeingültig gehaltenen ‚Gesetze‘ Vitruvs kaum mehr waren als die wenig repräsentative Momentaufnahme einer zeitgebundenen, individuellen Position ohne jede normative Relevanz. Genau dieses verengende, normative Denken kritisierte Goethe in seinem berühmten Aufsatz „Von deutscher Baukunst“ (1772), in dem er zum ersten Mal die spielerische Formenvielfalt einer authentischen gotischen Kathedrale, des Straßburger Münsters – in den Augen dogmatischer Klassizisten nichts anderes als ,Willkür und Unvernunft‘ –, als deren eigentlichen Reiz benannte, den man emotional erspüren, nicht rational bemäkeln sollte: Mit welcher unerwarteten Empfindung überraschte mich der Anblick, als ich davortrat! Ein ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonierenden Einzelheiten bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte. […] Das ist deutsche Baukunst, unsre Baukunst, da der Italiener sich keiner eignen rühmen darf, viel weniger der Franzos. […] Macht es dir einen widrigen Eindruck, oder keinen, so gehab dich wohl, lass einspannen, und so weiter nach Paris.
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Der Newton-Kenotaph Utopie und Denkmalkult
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ature and Nature’s Law lay hid in night: God said, Let Newton be!, and all was light. (Alexander Pope 1732, hier zit. nach Vogt 1969, S. 304) Dieses Buch über die Architektur der Frühen Neuzeit beginnt mit einer imaginierten antiken Stadt und endet mit einer monumentalen Utopie: Étienne-Louis Boullées sog. Cénotaphe à Newton ist vermutlich das berühmteste nicht gebaute, genauer gesagt nicht baubare Gebäude der Welt. Ein Entwurf, der wie kein zweiter die Schwelle zwischen dem zu Ende gehenden Vitruvianischen Zeitalter und der beginnenden Moderne markiert: ohne Standort, ohne Maßstab, ohne Auftrag, ohne Funktion, ohne Angaben zur Konstruktion, bestehend allein aus drei Ansichten und drei Schnittzeichnungen – noch nicht einmal ein vollständiger Grundriss existiert! Was begründet den epochalen Ruf dieser megalomanen graphischen Architekturphantasie, wer war ihr damit zu spätem Weltruhm gelangender Schöpfer? Étienne-Louis Boullée führte seit der Jahrhundertmitte das Leben eines durchaus erfolgreichen, aber konventionellen Pariser Modearchitekten, der kleinere Aufträge für die Kirche und private Bauherren übernahm: Sein einziges erhaltenes Gebäude ist das Hôtel Alexandre, 1763–66 für einen höheren Verwaltungsbeamten im gerade sich durchsetzenden frühklassizistischen Stil errichtet (Pérouse de Montclos 1994, S. 46ff., 217 ff.). Bei prestigeträchtigen Projekten wie dem Bau der Börse, der königlichen Bibliothek, der Oper oder einem geplanten Umbau von Versailles |▶ 36| kam er dagegen nicht zum Zuge. Bereits 1747, also schon mit 19 Jahren, wurde er in den Lehr-
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körper der neugegründeten Ingenieursschule École des Ponts et Chaussées berufen und fand im Unterricht junger Bautechniker sein vorherrschendes Betätigungsfeld. Ab 1780 war er Mitglied erster Klasse an der prestigeträchtigeren Académie Royale d’Architecture und legte infolge seiner nunmehr gesicherten Stellung mehrere lukrative, aber zeitintensive Positionen in der öffentlichen Bauverwaltung nieder. Stattdessen begann Boullée mit der Ausarbeitung fiktiver, idealtypischer Projekte, wie sie als Wettbewerbsaufgaben an den Architekturschulen seit langem üblich waren, z. B. eine riesige, überkuppelte Kathedrale über Kreuzgrundriss, die eigene, nicht realisierte Planungen für die Pariser Madeleine reflektiert, das zweite große Kirchenbauprojekt jener Jahre neben Ste-Geneviève (Pérouse de Montclos 1994, S. 239 f., 248–255). In diesem Zusammenhang entstand wohl 1784 – dieses Datum findet sich auf einem der Blätter – der hier zu besprechende Entwurf, der vermutlich als Illustration zu einem geplanten Architekturtraktat dienen sollte, den Boullée 1793 mitsamt seinen Zeichnungen noch zu Lebzeiten der französischen Nation zueignete. Einmal mehr trat ein in der Baupraxis mäßig erfolgreicher, aber (deshalb) Theorieschriften verfassender Architekt in die Fußstapfen Vitruvs. In den Jahren der Revolutionsregierung zog sich der erkrankte Boullée zunehmend von öffentlichen Aufträgen und Positionen zurück: Seine Schüler Chalgrin – er entwarf den Arc de Triomphe de l’Etoile Napoleons – und Durand – Professor an der seit 1795 in École polytechnique umbenannten Ingenieurschule und Autor des vermutlich einflussreichsten Architekturlehrbuches seiner Epoche – überflü-
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gelten in der öffentlichen Wahrnehmung bald ihren heute wieder viel berühmteren, 1799 verstorbenen Lehrer. Boullées Traktat „Architecture – Essais sur l’art“ enthält neben allgemeinen Überlegungen zum Wesen der Baukunst kurze Texte zur Charakterisierung bestimmter öffentlich-monumentaler Bauaufgaben – bevorzugt solcher, zu denen der Verfasser selbst bereits Idealprojekte entworfen hatte. Schon durch den programmatischen Titel wird betont, dass Architektur als Kunst, nicht als Handwerk oder Technik verstanden werden solle. Wie Bild und Text in der Publikation verbunden worden wären, kann man nur mutmaßen, da das Werk zu Lebzeiten des Autors nicht gedruckt wurde. Als Lehrbeispiele und bildliche Erläuterungen der Texte sollten hier nicht wie bei Palladio das reproduzierte gebaute Œuvre, eine Sammlung antiker Vorbilder wie bei Serlio, eine praktische Handreichnung zur Proportionslehre wie bei Vignola, sondern – wie bei Filarete und Piranesi (□ vgl. 3, 27, 28) – eine Folge eigener, fiktiver, paradigmatisch gemeinter Entwürfe dienen. Diese 14 Beispiele propagierten unter dem Titel Programmes (etwa: Bauaufgaben) eine Haltung, ein Ideal, eine Ästhetik, ein Ziel, ohne dass sie dafür hätten realisiert werden müssen. Das überaus eindrucksvolle Bild selbst diente als adäquates Medium der Rhetorik, weshalb Boullée seinem Traktat das künstlerstolze Motto voranstellte: Ed’ io anche sono pittore (,Auch ich [der Architekt] bin ein Maler!‘) Er bezeichnete seine Werke als ,Architektur der Schatten, mit der Natur selbst gemalt‘. ‚Denkmalbauten für Geistesgrößen‘ waren in jenen Jahren eine wichtige neue Bauaufgabe, wie die gleichzeitig beschlossene Umwidmung der noch nicht vollendeten Pariser Genoveva-Kirche Soufflots zum profanen ‚Pantheon der Franzosen‘ belegt |▶ 49|. Boullée zeigt hier einen Kenotaphen, also ein denkmalartiges Schau- oder Leergrab für einen einzigen Verstorbenen, den englischen Naturforscher Sir
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Isaac Newton, mit dessen Erkenntnissen sich im 18. Jh. etwa jener Nimbus des unvergleichlichen Geniestreichs verband, der seit dem 20. Jh. dem Namen Einstein zugestanden wird: ein Denker, der das gesamte Weltbild seiner Zeit revolutionierte, oder wie es sein Landsmann Pope in fast blasphemischem Überschwang formulierte: ,Gott sprach: ›Es werde Newton‹, und es ward Licht!‘ Boullées Denkmalgebäude sollte zum einen den Geehrten durch das Abbild seiner Entdeckung verewigen, nämlich der Unendlichkeit des Weltalls, das nur durch die Gravitation der Himmelskörper zusammengehalten wird. Zum anderen illustrierte das Bauwerk das neue ästhetische Ideal des ‚Sublimen‘ (Erhabenen): die Überzeugung, dass der wahre Maßstab der Architektur nur die Natur in ihrer überwältigenden Größe und ihr ideales Vorbild nur die reinen Formen perfekter geometrischer Gebilde sein könnten. Als vollkommene Gestalt erscheint daher die Kugel, die durch ihre perfekte Symmetrie und Regelmäßigkeit von jedem Betrachterstandpunkt aus vollständig zu erfassen ist. Je glatter und homogener die Oberfläche eines Bauwerks, desto stärker wirke sein Eindruck. Die Dimensionen des geplanten Monuments wären somit nur durch den Vergleich mit der Natur selbst erfahrbar, hier drei Baumreihen, die nach der Art antiker Kaisermausoleen übereinandergestaffelt auf den Sockel gepflanzt werden sollten, sowie durch die zu Punktgröße reduzierten Menschen, die auf der Freitreppe vor dem höhlenartigen Eingang zu erkennen sind (□ 161). Boullée übertrifft sein offensichtliches Vorbild, das römische Pantheon (□ vgl. 17), aber nicht nur durch die Größe, sondern auch durch die Radikalität der Geometrie: Während dort das Kugelmotiv auf die Kuppel beschränkt bleibt, die sich auf einen Zylinder stützt, ist der Innenraum des Kenotaphs bis auf eine kleine, durch überwölbte Korridore erreichbare Aussichtsplattform am untersten Punkt eine unbe-
325 □ 161 É.-L. Boullée: Entwurf eines Kenotaphs für Newton, Außenansicht des Projekts, 1784
□ 162 É.-L. Boullée: Entwurf eines Kenotaphs für Newton, Schnitt der sog. Tagansicht des Projekts, 1784
tretbare Hohlkugel, so dass die Dimensionen des einbeschriebenen Raumes nicht mehr abschätzbar wären. Das Gewölbe sollte mit zahlreichen konischen Bohrungen durchbrochen werden, die durch unterschiedliche Größe und Lage am Tag den Eindruck eines steinernen Planetariums erzeugten (□ 162). In einer anderen Variante des Entwurfs hätte bei Nacht eine gewaltige Lampe in Form einer Armillarsphäre die von Newton beschriebenen Bahnen der Planeten sichtbar gemacht (Vogt 1969, S. 24, 263–314). Dass dieses Bauwerk zu Boullées Zeiten technisch und finanziell nicht realisierbar war,
ja dass alle Angaben über seine mögliche Konstruktion verweigert wurden, war in den Augen seines Erfinders kein Nachteil, sondern betonte die eigentliche Funktion des Künstler-Architekten im Unterschied zum praktischen Ingenieur: das Erschaffen suggestiver Bilder, die zu den Betrachtern nicht mithilfe des traditionellen Codesystems der Säulenordnungen, sondern unmittelbar durch ihre emotionalisierende Überwältigungswirkung sprechen. Diese redende Baukunst nannte die französische Theorie der Zeit architecture parlante, deren Hauptqualität der Verfasser als caractère bezeichnete: ,Einem Werk Charakter verleihen heißt also, alle
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geeigneten Mittel richtig anzuwenden, damit in uns nur die Empfindungen hervorgerufen werden, die dem Gegenstand angemessen sind […]. Die Architektur als Bild des Großen‘ (Boullée 1793/1987, S. 66, 69). Diese ganz auf ihre Sinnenwirkung reduzierte Architekturauffassung bezeichnet man, angelehnt an eine ebenfalls aus Großbritannien stammende philosophische Theorie des 18. Jh.s, als Sensualismus. Dass Boullées visionärer Beitrag zunächst in Vergessenheit geriet, lässt sich einfach dadurch erklären, dass es ihm nicht gelang, seinen Namen durch einen der beiden geläufigen Wege seiner Epoche bekannt zu machen: entweder durch bedeutende Bauaufträge oder durch viel beachtete theoretische Publikationen zu Fragen der Baukunst. Erst 1933 wurde eine vergessene Handschrift, eben jenes Essay-Manuskript Boullées samt den zugehörigen großformatigen Zeichnungen, wieder entdeckt – doch nicht bei Fundamentierungsarbeiten wie in Filaretes Sforzinda-Erzählung, sondern wie einst bei Poggio Bracciolini als ‚Flaschenpost‘ in den Depots der Pariser Nationalbibliothek durch den österreichischen Kunsthistoriker Emil Kaufmann (Boullée 1793/1987, S. 11 f.). Der Forscher erkannte die zukunftsweisenden Qualitäten dieser bisher weitgehend unterschätzten Epoche der Kunstgeschichte und publizierte seine Entdeckung 1933 mit dem programmatischen Titel „Von Ledoux bis Le Corbusier. Ursprung und Entwicklung der autonomen Architektur“. Er erfand auch das missverständliche, aber zugkräftige Label, unter dem er Boullée und seine Zeitgenossen wieder berühmt machen sollte: Revolutionsarchitektur (Metken 1971, Nerdinger 1990). Zutreffender sind die heute üblichen Assoziationen zur Aufklärung (Braham 1989) oder dem selbsternannten ,Zeitalter der Vernunft‘ (Kaufmann 1955), denn die Entwürfe der genannten Architekten entstanden mehrheitlich noch unter den Bedingungen und teilweise im direkten Auftrag der
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französischen Monarchie, hatten also mit der politischen Umwälzung von 1789 nichts zu tun, sondern zählten allenfalls zu ihren geistigen Begleiterscheinungen, Vorläufern und Parallelphänomenen. Unbezweifelbar ist dagegen der ästhetisch revolutionäre Charakter jener Schöpfungen, die dadurch auf die Moderne vorausweisen, dass sie das Band zur vitruvianisch verstandenen Antike entschlossen durchschneiden: Der Newtonkenotaph ist ebenso ein ‚Pantheon‘ (□ vgl. 17) wie die in jenen Jahren ihrer Fertigstellung entgegengehende, kurz darauf umgewidmete Genoveva-Kirche Souf flots |▶ 49| – und doch scheint er einer anderen Epoche anzugehören. Die Antike ist hier nur noch als kompetitiver Maßstab, nicht mehr als verbindliche Norm oder Referenz präsent. Nicht mehr die exakt aufgemessenen oder phantasievoll rekonstruierten Ruinen Roms und Griechenlands, sondern allenfalls die Pyramiden des Alten Ägypten könnten Boullées Projekten im Anspruch noch an die Seite gestellt werden. Proportionslehre, Säulenordnungen und Dekorum als vertrautes Zeichensystem einer Ständegesellschaft, die hier auch als Auftraggeber und Adressat keine Rolle mehr spielt, sind obsolet geworden. Die Ästhetik der unmittelbaren sinnlichen Überwältigung durch ‚Erhabenheit‘, also schiere Größe und Monumentalität, die direkte Ableitung der Formen aus Natur und Geometrie ohne Rücksichtnahme auf konstruktive, finanzielle oder gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die Anmaßung, einen bürgerlichen, ausländischen Naturwissenschaftler durch ein zweckfreies Denkmal ehren zu wollen, dessen schiere Größe Petersdom und Versailles in den Schatten stellen würde – all das war in den tradierten Wertesystemen der Frühen Neuzeit nicht mehr zu verankern, musste aber im Zeitalter seiner Wiederentdeckung, der Frühen Moderne, als prophetisch erscheinen.
IV. Anhang Zeittafel 1413 Florenz, Dom: Kuppeltambour fertiggestellt 1416 Mutmaßliche Wiederauffindung des Vitruv-Manuskripts durch Poggio Bracciolini 1419 Florenz, Findelhaus (Brunelleschi, bis 1427) 1422 Florenz, Alte Sakristei an S. Lorenzo: vermutl. aubeginn (Brunelleschi, bis ca. 1430?) B 1428 Florenz, S. Lorenzo: vermutl. Baubeginn ( Brunelleschi, bis ca. 1470) 1436 Florenz, Dom: Kuppelwölbung fertiggestellt (Brunelleschi) 1438 Venedig, Dogenpalast vollendet, Porta della Carta (bis 1442) 1442 Florenz, San Lorenzo: Langhaus (bis 1469) 1444 Florenz: Palazzo Medici-Riccardi (Michelozzo); Dom: Kuppel mit Laterne fertiggestellt (Brunelleschi) 1446 Filippo Brunelleschi gest. Rimini, Tempio Malatestiano beg. (Agostino di Duccio, Alberti) 1452 L. B. Alberti: De re aedificatoria (Ms.) 1455 Rom, St. Peter, Baubeginn des Nikolaus-Chors ( Rosselino) Florenz, Palazzo Rucellai (Alberti) 1456 Florenz, S. Maria Novella: Fassade (Alberti, bis 1470) Mailand, Hospital (Filarete) 1457 Florenz, Palazzo Pitti: 1. Bauphase (bis 1466) 1460 Mantua, S. Sebastiano (Alberti) 1461 Antonio Averlino gen. Filarete: Trattato 1471 Mantua, S. Andrea: Baubeginn (Alberti) 1475 Moskau, Uspenski-Kathedrale (Fioravanti, bis 1479) 1480 Rom, S. Pietro in Montorio: Erneuerung der Klosterbauten 1483 Venedig: Brand des Dogenpalastes, Neubau des Ostflügels (Rizzo) 1485 Poggio a Caiano, Villa Medici (G. da Sangallo) Paris, Hôtel de Cluny 1492 Mailand, S. Maria delle Grazie (Bramante) 1493 Prag, Hradschin: Wladislawsaal der Prager Burg (Ried, bis 1502) Venedig, S. Maria Formosa (Codussi) Toledo, Kathedrale: Bauabschluss 1496 Venedig, Markusplatz: Baubeginn Alte Prokuratien und Uhrturm (Codussi) 1502 Rom, S. Pietro in Montorio: Datierung in der Krypta des Tempietto (Bramante) Prag, Hradschin: Ludwigsflügel der Burg (Ried, bis 1510) 1504 Granada, Capilla Real (Egas, bis 1521) 1505 Moskau, Kreml: Erzengel-Kathedrale (Aloisio Nuovo, bis 1509)
1506 Rom, St. Peter: Beginn des Neubaus nach Plan Bramantes Esztergom, Bakócz-Kapelle 1513 Rom, Palazzo Farnese: Baubeginn (bis 1589, A. da Sangallo d. J.) 1514 Donato Bramante gest., Raffaello Santi (Raffael) wird Petersbaumeister 1515 Rom, Anlage der Via Giulia unter Papst Julius II. 1516 Florenz, Piazza SS. Annunziata: Platzrahmung nach dem Schema von Brunelleschis Findelhaus beg. 1517 Venedig, Markusplatz: Turmspitze des Campanile Rom, Villa Madama (Raffael, A. da Sangallo d. J. u. a.) 1518 Florenz, S. Lorenzo: Wettbewerb zu Fassade 1519 Schloss Chambord, Baubeginn (bis 1539) 1520 Florenz, S. Lorenzo: Neue Sakristei (Michelangelo, bis 1524) 1523 Granada, Kathedrale: 1. Projekt (Egas) 1524 Florenz, S. Lorenzo: Bibliotheca Laurenziana (Michelangelo, bis ca. 1560) 1525 Mantua, Palazzo del Te (G. Romano, bis ca. 1532) 1527 Granada, Alhambra: Palast Karls V. (Machuca?, bis 1568) 1528 Granada, Kathedrale: 2. Projekt (Siloe, Chor bis 1561, Langhaus bis 1704) 1532 Paris, St-Eustache (bis 1640) 1534 Prag, Lusthaus Belvedere (Spazio, bis 1563) 1536 Venedig, Markusplatz: Zecca (Münzgebäude, S ansovino) Landshut: Italienischer Bau der Residenz (bis 1543) 1537 Venedig: Markusbibliothek und Loggetta beg. ( Sansovino) 1538 Rom, Kapitolsplatz (Michelangelo): Planungsbeginn, Versetzung der Statue Marc Aurels; Antonio da Sangallo wird Petersbaumeister, Holzmodell für St. Peter (Labacco, bis 1545) 1539 Pieter Coecke van Aelst: Die inventie der colommen (1. niederländischer Architekturtraktat) 1540 Bestätigung des Jesuitenordens durch Papst Paul III. Farnese; Sebastiano Serlio: Terzo Libro (Antike Bauten inkl. Bramantes Tempietto) 1541 Rom, Palazzo Farnese: 2. Bauabschnitt Antwerpen: Stadtbrand, erste Pläne für den Rathausneubau 1543 Istanbul, Prinzen-Moschee (Sinan, bis 1548) Tapeaca (Mexiko): Franziskanerkirche (bis 1580) 1545 Einberufung des Konzils von Trient (sog. Tridentinum, bis 1563)
328 1546 Paris, Baubeginn Lescot-Flügel des Louvre 1547 Rom: Michelangelo wird als Nachfolger Sangallos Petersbaumeister, Vollendung des Palazzo Farnese, mutmaßl. Baubeginn des Senatorenpalastes auf dem Kapitol 1549 Vicenza, Wettbewerb Palazzo della Ragione (sog. Basilica, Palladio) 1550 Istanbul, Süleymaniye-Moschee (Sinan, bis 1557) 1554 Sabbioneta, Festungsstadt (Baubeginn) 1557 Florenz, San Lorenzo: Treppe der Laurenziana ( Michelangelo) Prag: Ausbau des Lusthauses Belvedere (Wolmut) 1558 Florenz, Neugestaltung des Innenhofs im Palazzo Pitti (Ammanati) Venedig, Markusplatz: Erhöhung der Zecca (Münze) auf drei Geschosse (Sansovino) 1559 Florenz, Neptunbrunnen (Ammanati) 1560 Antwerpen, Rathaus (Floris, bis 1565) Venedig, S. Giorgio Maggiore: Refektorium (Palladio) 1562 Vignola: Regola delli cinque Ordini 1563 Rom, Konservatorenpalast (della Porta, bis 1586) San Lorenzo de El Escorial (Juan Bautista de Toledo, Juan Herrera, bis 1584) Venedig, Justizgebäude (bis 1614, da Ponte) 1564 Michelangelo Buonarroti gest., Giacomo della Porta wird Petersbaumeister 1565 Venedig, S. Giorgio Maggiore: Neubau der Kirche (Palladio, bis 1610) 1568 Rom, Il Gesù (della Porta, Vignola, bis 1584) Rom: Duperac-Stich des Kapitols 1569 Vicenza, Villa Rotonda (mutmaßl. Baubeginn, Palladio, bis 1608) 1570 Andrea Palladio: I quattro libri dell’architettura 1574 Rom, Piazza Navona: Brunnen (della Porta) 1575 Rom, Palazzo Farnese: Gartenfassade (della Porta) 1576 Lonigo, Villa Rocca Pisana (Scamozzi) Florenz: Neptun-Brunnen im Boboli-Garten (Giambologna) Ducerceau: Les plus excellent Bastiments de la france 1577 Venedig, Kirche Il Redentore (Palladio, bis 1599); Brand des Dogenpalastes, Wiederaufbau 1578 Rom, Senatorenpalast: Erneuerung des Turms nach Blitzschlag (Longhi) 1580 Vicenza, Teatro Olimpico (Palladio, Scamozzi, bis 1588), Andrea Palladio gest. 1583 München, Jesuitenkirche St. Michael (bis 1597) Venedig, Neue Prokuratien (Scamozzi) Florenz, Grotte im Boboli-Garten (Buontalenti) 1585 Rom, Kirche SS. Trinità dei Monti 1586 Rom, Versetzung des Obelisks auf den Petersplatz (D. Fontana) 1587 Antwerpen: Wiederaufbau des Rathauses 1588 Rom, St. Peter: Kuppel (della Porta, bis 1593) 1590 Rom, Via Sistina angelegt 1593 Festungsstadt Palmanova gegründet; Päpstliche Accademia di San Luca in Rom gegründet 1594 Rom, Pal. della Sapienza (della Porta) 1597 Rom, Pal. Farnese: Ausmalung der Galleria (Carracci)
Anhang
1598 Wendel Dietterlin: Architectura 1599 Herzog Friedrich I. von Württemberg beauftragt Heinrich Schickhardt mit dem Bau von Freudenstadt 1600 Schloss Frederiksborg (bis 1624) 1601 Freudenstadt, Stadtkirche (bis 1615) Haarlem, Vleeshal (de Key, bis 1604) 1602 Nürnberg, Pellerhaus (Wolff, bis 1607) 1604 Villalpando: Rekonstruktion des Salomoni- schen Tempels von Jerusalem, erschienen in: […] In Ezechielem Explanationes 1605 Paris, Place Royale (des Vosges) beg. Florenz, Fürstenkapelle an S. Lorenzo beg. Rom, St. Peter: Langhaus (Maderno) 1608 Florenz, Denkmal Großherzog Ferdinands I. von Toskana auf der Piazza SS. Annunziata (Tacca) Paris, Île-St-Louis angelegt 1612 Rom, St. Peter: Mit der Vorhalle (Maderno) Neubau abgeschlossen Amsterdam, Grachtenplan (Staets) 1615 Augsburg, Rathaus (Holl, bis 1624) Vincenzo Scamozzi: L’idea della architettura universale 1616 Greenwich b. London, Queen’s House beg. (Jones, bis ca. 1630) 1618 Florenz, Isolotto im Boboli-Garten Paris, Denkmal Heinrichs IV. auf der Place Dauphine (Tacca) 1624 Paris, Louvre: Pavillon d’Horloge (Lemercier) 1625 Rom, St. Peter: Hochaltar-Baldachin (Bernini/Borromini, bis 1633) Paris, Hotel de Sully (Du Cerceau?, bis 1630) 1626 Rom, Schlussweihe von St. Peter 1627 Rom, Barcaccia-Brunnen auf der Piazza di Spagna (Bernini) 1629 Maderno gest., Bernini zum Petersbaumeister ernannt (bis 1680) 1631 Versailles, Jagdschloss Ludwigs XIII. (bis 1634, Philibert le Roy) 1634 Florenz, ‚Stadion‘ in der Exedra des Boboli-Gartens 1637 Rom, St. Peter: Fassadentürme (Bernini, nicht vollendet) 1638 Rom, S. Carlo alle Quattro Fontane (Borromini) beg. 1639 Paris, Denkmal Ludwigs XIII. auf der Place Royale (des Vôges) 1640 Paris, Hôtel Lambert (Le Vau, bis 1661) 1641 Florenz, Palazzo Pitti: Planetensäle (Cortona, bis 1647) 1642 Rom, Sant’Ivo alla Sapienza (Borromini, bis 1660) 1644 Rom, Palazzo Pamphili in Piazza Navona (Rainaldi, Borromini, bis 1649) 1648 Paris: Gründung der Académie royale de peinture et de Sculpture Amsterdam, Rathaus (van Campen, bis 1665) Rom, Vierströmebrunnen auf der Piazza Navona (Bernini, bis 1651) 1652 Rom, S. Agnese in Agone (Rainaldi, Borromini u. a., bis 1672) 1654 Paris, Hôtel Beauvais (Le Pautre)
329 1655 Rom, Kapitol: Palazzo Nuovo beg. 1656 Rom, St. Peter: Apsisgestaltung mit Cathedra Petri (Bernini, bis 1666); S. Maria della Pace, Fassade (Cortona, bis 1657) Vaux-le-Vicomte, Schloss und Garten (Le Vau, Le Nôtre u. a., bis 1661) 1657 Rom, St. Peter: Kolonnaden und Petersplatz (Bernini, bis 1667) Amsterdam: Erweiterung des Grachten-Gürtels nach Osten 1658 Rom, S. Andrea al Quirinale (Bernini, bis 1670) 1660 Amsterdam, Trippenhuis, Cromhouthuizen (Vingboons, bis 1662) Rom, Piazza del Popolo: Zwillingskirchen (Fontana, Bernini) 1661 Versailles: 1. Erweiterung (Ludwig XIV. von Frankreich übernimmt die Alleinherrschaft) Greenwich: Wiederaufbau des Palasts Karls II. 1662 Rom: Ephemerer Festapparat zur Feier der Geburt des Dauphins am Pincio (Bernini, Schor) 1663 Rom, Vatikan: Scala Regia (Bernini, bis 1666) 1664 Paris/Rom: Konkurrenzentwürfe zur Louvre-Ostfassade, Ernennung Colberts zum Surintendant des Bâtiments du Roi 1665 Paris-Reise Berninis, drei Louvre-Entwürfe, Grundsteinlegung für den Ostflügel 1666 Großer Brand von London, Wiederaufbau St. Paul’s Cathedral (Wren, bis 1708) Paris: Gründung der Académie Royale des Arts 1667 Paris: Gründung des Petit Conseil du Louvre, sog. Perrault-Ostfassade Turin, Kapelle des Grabtuchs Christi (SS. Sindone) am Dom (Guarino, bis 1683) 1668 Versailles: 2. Erweiterung, sog. Enveloppe (Le Vau, Hardouin-Mansart, bis 1671) Paris: Niederlegung der Stadtmauern und Bau der Boulevards (bis 1705, Bullet) 1670 Turin, San Lorenzo (Guarino, bis 1679) Ocotlán (Mexiko), Wallfahrtskirche beg. 1671 Paris, Hôtel des Invalides begonnen (Bruant, bis 1674); Académie royale d’architecture durch Colbert gegründet, Wettbewerb um die „französische Säulenordnung“ 1672 Rom, Il Gesù: Fresken (Gaulli, bis 1683) London, St.-Stephen-Walbrook (Wren, bis 1679) 1676 Paris, St-Louis-des-Invalides (Hardouin-Mansart, bis 1712) 1678 Versailles: Trianon de Marbre (Hardouin-Mansart, bis 1688), Spiegelgalerie beg. Rom: Vereinigung der französischen und päpstlichen Akademie 1682 Verlegung des französischen Regierungssitzes nach Versailles 1683 Versailles: Privatappartement des Königs auf der Südseite des Cour de Marbre, Gesandtentreppe 1684 Claude Perrault: Französische Vitruv-Ausgabe (2. Aufl.) 1685 Issy, Maison de Plaisance (Bullet)
1686 Paris, Place des Victoires und Place de nos Conquêtes (Hardouin-Mansart), Denkmal Ludwigs XIV. (Desjardin) 1687 Charles Perrault: Le siecle de Louis le Grand, Beginn der „Querelle des anciens et des modernes“ 1691 Greenwich b. London, Royal Naval Hospital beg. (Wren u. a., bis 1751) 1696 Rom, Il Gesù: Altar des hl. Ignatius (Pozzo, bis 1700) 1699 Paris, Place Louis-Le-Grand (Vendôme) beg., Denkmal Ludwigs XIV. (Girardon) Versailles, Schlosskapelle (Hardouin-Mansart, De Cotte, bis 1710) Neuf-Brisach bei Breisach, Festung (Vauban, bis 1703) 1701 Versailles: Paradeschlafzimmer des Königs im Mittelrisalit des Cour de Marbre eingerichtet 1702 Melk, Klosterneubau (Prandtauer, bis 1746) 1703 Rom, Ripetta-Hafen (Specchi, bis 1711) Gründung von St. Petersburg 1704 Bath, Pump Room 1706 Abbé Cordemoy: Traité 1709 Joseph Dézailler d’Argenvilles: Theorie und Praxis der Gartenkunst 1710 St. Petersburg, Peter-und-Pauls-Festung (Trezzini) 1712 Shaftesbury: Letter concerning the art […]; Verlegung der Hauptstadt Russlands von Moskau nach St. Petersburg; Leonhard Christoph Sturm: Architektonisches Bedencken von Protestantischer kleinen Kirchen 1715 Ocotlán (Mexiko), Wallfahrtskirche, Innenausstattung (bis ca. 1740) Karlsruhe, Stadtgründung Colen Campbell: Vitruvius britannicus, Bd. 1 (bis 1725) 1716 Wien, Karlskirche (Fischer v. Erlach, bis 1732) 1717 London, Burlington House (Campbell) Rom: Wettbewerb zum Bau der Spanischen Treppe 1718 St. Petersburg, Kunstkammer 1720 Würzburg, Residenz (Neumann u. a., bis 1766) Frederiksborg, Neugestaltung des Gartens Rom, Kapitol: Umbau des Konservatorenpalasts zum Museum (Specchi) 1721 London, St.-Martin-in-the-Fields (Gibbs, bis 1726); Johann Bernhard Fischer von Erlach: Entwurff einer historischen Architectur 1722 Dresden, Frauenkirche (Bähr, bis 1743) 1723 Mereworth Castle (Campbell) Rom, Spanische Treppe (Scalinata di Spagna, De Sanctis, bis 1727) St. Petersburg, Schloss Peterhof beg. 1724 St. Petersburg, Kollegiengebäude (Schwertfeger) 1725 Chiswick House bei London (Lord Burlington, Kent, bis 1729) Brühl, Schloss Augustusburg beg. (Schlaun, Cuvilliés, Neumann u. a.) 1726 Dresden, Frauenkirche, sog. Approbationsprojekt (Bähr u. a.) 1727 Granada, Kartause: Sakristei (bis 1764); Jean Mariette: L’Architecture françoise William Kent: The Designs of Inigo Jones
Zeittafel
330 1728 Bath, Queen Square (Wood d. Ä., bis 1735) 1729 Rom: Grabmal Innozenz’ X. in S. Agnese vollendet Würzburg, Hofkirche der Residenz (Neumann, Hildebrandt, bis 1743) 1730 York, Assembly Rooms (Burlington, bis 1732) Dresden, Frauenkirche: Kuppel Burlington: Fabbriche antiche disegnate da Andrea P alladio 1732 Mantua, S. Andrea, Kuppel (Juvarra) St. Petersburg, Admiralität (Korobov) Rom, Fontana di Trevi (Salvi, bis 1762) 1733 Stowe, Elysische Felder (Bridgeman, Kent) 1734 Bath, Landsitz Prior Park (Wood d. Ä.) 1737 St. Petersburg, erster Generalbebauungsplan Guarino Guarini: Architettura Civile von Vittone ediert 1739 William Kent: Entwurf für das House of Parliament, London Dresden, kath. Hofkirche (Chiaveri, bis 1755) 1741 Stowe, Halkwell Fields, Gotisches Haus (Brown, Gibbs) Soufflot: Memoire sur l’architecture gothique 1742 Batty Langley: Gothick Architecture, improved by the rules […] 1743 Potsdam, Schloss Sanssouci (Knobelsdorff, bis 1747) Vierzehnheiligen bei Staffelstein, Wallfahrtskirche (Neumann, bis 1772) 1744 Bayreuth, Markgräfliches Theater (Galli-Bibiena, bis 1748) 1746 Wies bei Steingaden, Wallfahrtskirche (Zimmermann, bis 1754) 1747 London: Walpole erwirbt Strawberry Hill, Beginn der Umgestaltung 1748 St. Petersburg, Smolny-Komplex (Rastrelli); William Gilpin: A Dialogue upon the Gardens […] in S towe in Buckinghamshire Giovanni Battista Nolli: Pianta Grande di Roma (sog. Nolli-Plan) 1749 Stowe, Grecian Valley 1750 Würzburg, Residenz: Fresken von Giambattista Tiepolo (bis 1753) 1751 St. Petersburg, Katharinenpalast in Zarskoje Selo (Rastrelli) 1752 Versailles: Umbau der Hofseite, Zerstörung der Gesandtentreppe 1753 Strawberry Hill, Westflügel begonnen (Walpole, bis 1762); Abbé Laugier: Essai sur l’architecture 1754 Bath, King’s Circus (Wood d. Ä.) Paris, St-Eustache, Westfassade (Mansart de Jouy, bis 1788) 1755 Potsdam-Sanssouci, Gemäldegalerie, Chinesisches Haus (Büring, bis 1764) Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst
Anhang
1756 Edmund Burke: Philosophical enquiry […] Ideas of the Sublime and Beautyful 1757 Paris, Ste-Geneviève: Baubeginn (Soufflot, bis 1791) Seligenstadt: Gewächshaus im Abteigarten William Chambers: Designs of Chinese buildings […] 1758 Julien-David Le Roy: Les Ruines des plus beaux monuments de la Grèce 1760 Versailles, Petit Trianon (Gabriel) 1761 Osterley Park b. London, Landsitz (Adam) Giambattista Piranesi: Della Magnificenza ed’ Architettura de’ Romani, Carceri d’Invenzione (2. Auflage) 1762 Strawberry Hill, Nordflügel (Walpole) London, Kew Gardens, chines. Pagode (Chambers) James Stuart, Nicholas Revett: Antiquities of Athens, 1. Bd. Piranesi: Campus Martius antiquae urbis 1763 Potsdam, Neues Palais (Büring, bis 1769) 1764 St. Petersburg, Kleine Eremitage und Kunstakademie; Horace Walpole: The Castle of Otranto Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums 1767 Bath, Royal Crescent (Wood d. J., bis 1775) 1769 Versailles, Opernhaus (Gabriel) 1770 Ocotlán (Mexiko), Wallfahrtskirche, Fassade (ca.) 1771 Potsdam-Sanssouci, Neue Kammern (Unger) 1772 Johann Wolfgang Goethe: Aufsatz Von deutscher Baukunst 1773 Bordeaux, Theater (Louis, bis 1780) 1774 Florenz, Caffehaus im Boboli-Garten Venedig, S. Giorgio Maggiore: Neubau des Campanile nach Einsturz Paris: Gründung der École des Ponts et Chaussées 1775 Saline von Chaux und Theater in Besançon (Ledoux, bis 1784) Coalbrookdale, Iron Bridge (Pritchard, Darby, bis 1779) 1778 Schönbrunn, Schlosspark: Römische Ruine (Hetzendorf) 1782 St. Petersburg, Pawlowsk bei Zarskoje Selo (Cameron, bis 1784); „Eherner Reiter“ (Falconet) 1783 St. Petersburg, Akademie der Wissenschaften und Staatsbank (Quarenghi) Versailles, Hameau (künstlicher Weiler) beim Petit Trianon (bis 1785) 1784 Boullée: Entwurf für einen Newton-Kenotaph 1786 Rom, Aufstellung des Obelisken an der Spanischen Treppe Paris, Zollhäuser (Ledoux, bis 1788) 1789 Bath, Landsdown Crescent (Palmer, bis 1793) 1791 Paris: Umbau von Ste-Geneviève zum Panthéon des Français (Quatremère de Quincy) 1792 Paris: Sturz des Denkmals Ludwigs XIV. auf der Place Vendôme 1795 Paris: Die Ecole des Ponts et Chaussees wird zur Ecole polytechnique, die Académie Royale d ’Architecture zur Académie des Beaux-Arts
331
Glossar Ädikula Wörtlich: Kleines Haus. Umrahmung einer
Architecture parlante Begriff der (franz.) Architekturtheorie seit ca. 1770: ‚Sprechende‘ Wirkung der architektonischen Gestaltung zur unmittelbaren emotionalen Vermittlung von Funktion und Bedeutung des Gebäudes an die ‚Seele‘ des Betrachters (vgl. → caractère).
ckel als sog. Balustrade oft zum oberen Abschluss eines Gebäudes verwendet. Bandrustika → Rustizierung eines Bauteils mithilfe horizontal durchlaufender Lagerfugen. Baptisterium Taufkirche, oft als eigenständiger Zentralbau bei einer größeren Kirche. Basilika Bautypus eines mehrschiffigen → Longitudinalbaus (in der Antike profan, danach meist als Sakralbau), bei dem das Mittelschiff höher ist als die Seitenschiffe und durch eigene Fenster (→ Obergaden) belichtet wird. Basis Fußteil eines vertikalen Stützglieds, in der frühen Neuzeit (im Unterschied zur Antike) bei allen → Ordnungen üblich. Belfried, Beffroi Niederl. für Glockenturm, oft frei stehen- der Stadt- oder Rathausturm in nordeuropäischen Städten. Bienséance Franz. für Angemessenheit, Wohlanständigkeit, meist verwendet für die formale Zurückhaltung bei der Gestaltung des Äußeren an Privatbauten (vgl. → decorum). Blendgliederung, -bögen, -arkaden, -felder etc. Architektonische Gliederung, die einer geschlossenen Wand dekorativ vorgelegt ist und häufig Strukturen eines Gliederbaus abbildet. Boskett Ital. boschetto, Wäldchen, geschlossene, meist geometrisch begrenzte Vegetationszone aus Büschen, Hecken oder Bäumen im sog. → Französischen Garten. Bowling Green Eingetiefte Rasenfläche in der Nähe des Hauses im → Englischen Garten. Die Form nimmt Bezug auf das durch eine Eintiefung begrenzte Boule-Spielfeld. Broderie-Parterre → Parterre mit ornamentaler Gestaltung aus Blumenbeeten und buntem Kies, an Stickarbeiten (broderie) erinnernd.
Arkade Ital. arco = Bogen, Bogenstellung, meist Abfolge mehrerer Bögen auf Säulen oder Pfeilern.
Campanile Italien. für Glockenturm, oft frei stehend
Öffnung durch eine → Sohlbank, seitliche Stützglieder (Säulen oder Pfeiler) und ein Giebelfrontispiz (meist segmentbogen- oder dreiecksförmig).
Aemulatio, Emulatio Aus der antiken Rhetorik-Theorie übernommene Strategie der verbessernden Überbietung eines geschätzten Vorbilds. Aha Auch: Ha-Ha. An der Innenseite erhöhter Trockengraben zur unsichtbaren Begrenzung von Parkanlagen, bevorzugt im → Englischen Garten des 18. Jh., benannt nach dem Ausruf der Überraschung beim Entdecken dieses Kunstgriffs. Altar Opferstein oder -tisch, in christlichen Kirchen zentraler Ort der Abendmahlsfeier, oft verwechselt mit dem dahinter befindlichen Aufbau (→ Retabel). Ante Seitliche Zungenmauern bei Säulenportiken. Appartement Aus Frankreich stammende, typische Raumfolge des frühneuzeitlichen Palastbaus, bestehend (mindestens) aus Vorzimmer (antichambre), Schlafund/oder Empfangszimmer (chambre/salle), privatem Rückzugsraum (cabinet) und evtl. funktionalem Serviceraum (garderobe) oder einer Kapelle (oratoire). Appartement double Grundrissgestaltung, bei der zwei durch → Enfilade organisierte Raumfolgen in einem Gebäude nebeneinander angelegt und jeweils einseitig belichtet sind. Apsis, Apsiden Chorabschluss, meist auf halbkreisförmigem oder polygonalem Grundriss und überwölbt.
Atlant Männliche Trägerfigur (vgl. → Karyatide) Atrium Eingangsraum, im römischen Haus nicht überdeckter kleiner Vorhof mit seitlichen Umgängen, in der Frühen Neuzeit oft als Synonym für Vestibül (Vorraum, Eingangsraum) verwendet. Attika (Halb-)Geschoss oder Aufbau oberhalb des Kranzgesimses eines Gebäudes. Aufmaß, Aufnahme Maßgenaue Abzeichnung eines vorhandenen Bauwerks. Aufriss Lat. (nach Vitruv) orthographia: Zeichnerische maßhaltige Darstellungsform der unverkürzten (Außen-)Ansicht eines Gebäudes in Orthogonalprojektion. Auszug Oberer, meist in der Breite verjüngter Teil eines mehrgeschossigen Fassadenaufbaus, z. B. bei Kirchen oder → Retabeln.
Baluster Kleines Stützelement, oft als Teil einer
Brüstung, wegen seiner gebauchten Form an einen Granatapfel (griech. balaustion) erinnernd. Mit seitlich rahmenden → Postamenten, einer → Sohlbank und So-
neben der Kirche (vgl. → Belfried). Caractère Begriff der (franz.) Architekturtheorie seit ca. 1750: Ausstrahlung eines Gebäudes, das Rang, Eigenart, Funktion und Bedeutung ‚aktiv‘ und unmittelbar durch seine Gestaltung dem Betrachter vermittelt (vgl. → decorum, → architecture parlante). Churrigueresk Ornamentreiche Stilhaltung des Spätbarock in Spanien und Lateinamerika mit dominantem Auftreten der sog. → estipite-Stützenform, benannt nach dem Architekten José Benito de Churriguera (1656–1725). Clump Engl. für Klumpen, gruppenartige Anpflanzung von Bäumen oder Büschen nach ‚malerischen‘ Gesichtspunkten im sog. → Englischen Garten. Commodité Franz. für Bequemlichkeit, bezogen auf die wohnlichen Qualitäten der → distribution. Corps de logis Franz. für Wohntrakt: Meist in der Mittelachse gelegener Hauptteil einer mehrflügeligen Schlossanlage. Cour d’honneur Franz. für Ehrenhof, Vorhof eines Schlosses oder → hôtel, meist dreiseitig durch Flügel-
Glossar
332 bauten begrenzt, zu unterscheiden vom ‚dienenden‘ Wirtschaftshof (cour basse, cour de service).
Fresko, pl. Fresken Von ital. al fresco, in den frischen Putz gemaltes Bild, meist auf Wänden oder Decken.
Decorum Auch: Decor, Dekorum. Vitruvianischer Leit-
Frontispiz Giebelmotiv, oft als Fassadenschmuck und Reduktionsform einer Tempelfassade.
begriff für die Angemessenheit und Ablesbarkeit von Form, Funktion und Rang der Bauherrenschaft in der Architektur; hiervon abgeleitet auch der zu diesem Zweck an einem Gebäude anzubringende, angemessene Bauschmuck. Dienst Vertikales Bauglied der gotischen Architektur, das entlang einer Wand oder eines Pfeilers die Ableitung der Kräfte des Gewölbes symbolisiert. Distribution Franz. für praktisch und ästhetisch überzeugende Verteilung bzw. Anordnung der Räume in einem Gebäude, nach dem von Vitruv geprägten Begriff → distributio. Donjon Turmartiger Kernbau einer (vor allem franz.) Burg, meist frei stehend im ummauerten Hof. Dreistrahl Auch patte de l’oye od. patte d’oie (Gänsefuß): Für den Barock typische Disposition von Straßen- und Blickachsen, wobei vom Kreuzungspunkt mit einer zentralen Achse zwei in verschiedene Richtungen weisende, gegabelte Achsen schräg abzweigen.
Eklektizismus, eklektisch Von eklektos (griech.), ausge-
wählt: künstlerisches Verfahren, durch Auswahl und neue Zusammenstellung verschiedener Vorbilder ein neues Werk zu generieren, das die unterschiedlichen Qualitäten der Vorbilder möglichst verbinden und dadurch steigern soll. Enfilade Franz. für Auffädelung, Anordnung der Türen einer Folge aneinanderstoßender Räume in einer optischen Achse. Englischer Garten Auch: Landschaftsgarten, meist malerisch-asymmetrisch und scheinbar natürlich gestaltet. Epitaph Denkmal eines Verstorbenen, meist in einer Kirche ohne räumliche Verbindung zur Grabstätte. Erhabenheit Franz. sublimité: ästhetische Kategorie des 18. Jh., die die Wirkung eines überwältigend großen, aus der Natur abgeleiteten Seheindrucks auf die Architektur übertragen will. Estipite Variation des → Balusters oder → Hermenpilasters im spanischen Spätbarock. Exedra Meist halbkreisförmige, nischenartige Erweiterung eines Gebäudes oder Begrenzung eines Freiraums. Im Grundriss oft mit einer Apsis zu verwechseln, aber im Unterschied zu dieser nicht überwölbt. Eyecatcher Blickpunkt, oft als optischer Zielpunkt einer Achse in Stadt oder Garten (vgl. → point-de-vue).
Fassade Von ital. faccia = Gesicht: Außenansicht eines
Gebäudes. Der Begriff Innenfassade wird nur für die Innenseite einer Schaufront verwendet, z. B. für die sog. Rückfassade eines Kirchenraums. Folly Engl. für Verrücktheit: Dekorative Parkbauten in → Englischen Gärten, oft funktionslos. Französischer Garten Auch: Formaler Garten, einem erkennbar künstlichen, geometrisch-regelmäßigen Grundplan folgend.
Anhang
Galerie Langgestreckter Repräsentationsraum, vor al-
lem im französischen Schlossbau. Durch die Dekoration mit Gemälden überträgt sich der Begriff später auf Bildersammlungen. Gated community Durch Tore und Mauern gesicherter, abgegrenzter Wohnbereich in Städten. Gebälk Horizontales, in der klassischen (Säulen-)Ordnungsarchitektur meist dreigeteiltes Bauglied, bestehend aus (von unten nach oben) Architrav, Fries und → Gesims (Geison). Gekuppelt Zwei gleiche Bauteile (z. B. Säulen, Fenster) werden nebeneinandergesetzt und zu einer Zweiergruppe verbunden. Gesims Horizontales, lineares Bauelement, oberster Teil des → Gebälks oder auch isoliertes Element, oft zur Stockwerksgliederung. Als oberer Abschluss eines Gebäudes häufig besonders hervorgehoben als sog. Kranzgesims. Gewände Seitliche Begrenzungen einer Öffnung (Fenster oder Tür). Griechisches Kreuz Kreuz mit gleich langen Armen. Grotte Element der Gartengestaltung, künstlich geschaffene, meist reich und unkonventionell dekorierte Höhle. Grundriss Lat. (nach Vitruv) ichnographia: Zeichnerische Darstellungsform eines horizontalen Schnitts durch ein Gebäude, die alle Wandstärken und Flächenmaße exakt wiedergibt. Oft durch die Einzeichnung der darüber befindlichen Gewölbeformen als Projektionen ergänzt. Gulden Gebräuchliche Währungseinheit im Hl. Römischen Reich, abgekürzt fl.= Florin als Verweis auf die in Florenz geprägten Goldmünzen, die den Währungsstandard garantierten.
Halle Raum aus mehreren gewölbten, gleich hohen →
Jochen. Herme → Atlant oder → Karyatide, deren ‚Unterleib‘ durch einen meist nach unten verjüngten Pfeiler ersetzt ist. Hôtel Wörtlich Herberge, franz. Pendant zu → Palazzo, d. h. innerstädtisches (Privat-)Haus für Adelige oder Institutionen (z. B. Klöster), deren Hauptwohnsitz auf dem Land liegt. In deutschen Städten oft ‚Hof‘ genannt. Hôtel particulier Franz. für ein anspruchsvolles, hofartiges Privatwohnhaus in der Stadt.
Imprese (Emblem) (Inoffizielles) Symbol oder Zeichen
einer Person oder einer Familie, oft mit einem Wahlspruch (Devise) zum Emblem verbunden, zu unterscheiden vom (offiziellen) Wappen und den Anfangsbuchstaben (Initialen) des Namens. Intendant, Surintendant Hoher Verwaltungsbeamter der französischen Monarchie. Interkolumnium Freier (lichter) Zwischenraum zwischen zwei Säulenschäften. Das Maß unterscheidet sich vom
333 Achsabstand (dem Abstand zweier Säulenmitten) um eine Säulenbreite und gilt seit Vitruv als zentrale Grundeinheit der Gebäudeproportionierung. Invention Auch Invenzio, (künstlerische) Erfindung.
Joch Gewölbeeinheit eines Bauwerks (mit den zugehörigen Stützgliedern).
Kairos Griech. für die glückliche Gelegenheit, die es am
Schopfe zu packen gilt. Kalotte Gewölbter Teil einer → Kuppel, Kuppelschale. Kannelur, kanneliert Gestaltung eines Stützenschaftes durch vertikale eingetiefte Rillen. Kapelle Kleiner Sakralraum, entweder selbständig oder in ein anderes Gebäude inkorporiert bzw. als Annex angeschlossen. Kapitell Verziertes Kopfteil eines vertikalen Stützglieds, prägendes Element zur unterschiedlichen Gestaltung der verschiedenen → Ordnungen. Karyatide Weibliche Trägerfigur (vgl. → Atlant, Herme). Kassettierung Gestaltung einer Fläche durch ein regelmäßiges Gittermuster mit eingetieften Flächen. Kathedrale von lat. cathedra = Thron (eines Bischofs), Rangbezeichnung einer Bischofskirche, Synonyme im Deutschen Dom, im Russischen Sobor. Kenotaph Schau- oder Leergrabgebäude als Denkmal eines Verstorbenen. Kolleg Von lat. collegium, Gemeinschaftshaus der Jesuitenniederlassungen, das auch Schulen u. ä. Funktionen einschloss. Kolonnade von ital. colonna = → Säule, Säulenfolge, meist mit geradem Gebälk. Kolossalordnung Auch Große Ordnung: Säulen- oder Pilastergliederung, die mehrere Geschosse eines Bauwerks zusammenfasst. Konsole An einer Wand angebrachtes vorkragendes Tragelement, oft in Form einer → Volute. Kreuzkuppelschema Kirchenbautypus, → Zentralbau, b estehend aus meist von Tonnen überdeckten, gleich langen Kreuzarmen und einer überkuppelten → Vierung. Külliye bzw. Imaret Islamischer Stiftungskomplex, bestehend aus einer Moschee mit zugehörigen sozialen und kulturellen Einrichtungen, meist in Hofform. Kuppel Gewölbte, oft turmartig erhöhte Überdeckung eines → Joches in runder oder polygonaler Form.
Lateinisches Kreuz Kreuz mit einem längeren Arm, tradi-
tionell bevorzugter westlicher Kirchengrundriss. Laterne Aufsatz auf dem Scheitel einer → Kuppel, meist durchfenstert zur Belichtung des Kuppelinneren durch ein → Opaion. Lizenz Ital. licenza, franz. licence, Freizügigkeit, künstlerisch begründete Regelabweichung. Loggia Überwölbte Halle, an mindestens einer Seite zum Freiraum geöffnet.
Longitudinalbau Bauform mit klar ausgeprägter Hauptachse, z. B. längsgerichtete → Basiliken über → Lateinischem Kreuz. Lukarne Dachfenster oder kleiner Zwerchgiebel, dessen Firstrichtung quer (= zwerch) zum Hauptfirst steht. Lunette Halbmondförmige Öffnung.
Maison de plaisance Lusthaus, informelles Neben-
Schloss, oft im Garten einer größeren Residenz, vgl. → villa suburbana. Mansart-Dach Geknicktes Walm- oder Satteldach mit unten steiler, oben flacherer Neigung (auch: Mansarde), gebräuchlich vor allem im französisch beeinflussten Spätbarock, benannt nach dem Architekten François Mansart. Mausoleum Meist monumentaler Grabmalbau, benannt nach dem als Weltwunder berühmten (nicht erhaltenen) Grabdenkmal des antiken Herrschers Mausolos in Kleinasien. Medrese Islamische Hochschule. Metopen-Triglyphen-Fries Wichtigstes Kennzeichen (neben der Kapitellform) der dorischen → Ordnung in der Frühen Neuzeit: Der Fries (mittlerer Teil eines Gebälks) wird abwechselnd durch vorstehende, zweifach geschlitzte Blöcke (Triglyphen) und zurückliegende, evtl. mit Reliefdekor verzierte Felder (Metopen) gestaltet. Mezzanin Italien. für Zwischengeschoss, meist mit reduzierter Höhe gegenüber den Hauptgeschossen. Mihrab Gebetsnische in der Moschee, welche die Ausrichtung der Betenden nach Mekka (Qibla) anzeigt. Minarett Turm an Moscheen für den Gebetsruf. Minbar Kanzelartiges Verkündigungs- und Predigtpodium in der Moschee. Modul Maß, Grundeinheit zur Berechnung von Gebäudeproportionen, z. B. die Breite eines Gewölbejochs, nach Vitruv meist der untere Durchmesser eines Säulenschaftes. Mudéjar Span., von arab. mudaggan, eine Person, die bleiben darf: Gestaltungsweise, die das Nachwirken der islamischen Kunst in Spanien nach der Reconquista erkennen lässt. Muqarnas Stalaktitendekor, typische islamische Ornamentform. Mythologie Überlieferung der griechisch-römischen Götterwelt als symbolisch-assoziative Bedeutungsträger, z. B. die Identifikation des Herrschers mit dem Sonnengott Apoll.
Narthex Griech., Vorhalle, meist einer Kirche. Obelisk Ital. guglia, nach oben spitz zulaufender frei
stehender Pfeiler, ursprünglich aus Ägypten stammend, im Rom der Frühen Neuzeit als Denkmal und → point-devue im Städtebau neu eingesetzt. Obergaden Auch Lichtgaden: Von Fenstern durchbrochene obere Wandzone des Mittelschiffs einer → Basilika. Oculus, pl. Oculi Lat. für runde Öffnung oder Fenster, wörtlich Auge, gelegentlich auch Ochsenauge (in ovaler Form) genannt, vgl. → Opaion.
Glossar
334 Opaion Griech. für Auge, kreisrunde Lichtöffnung eines Kuppelscheitels. Orangerie Gartengebäude zur Aufbewahrung von Kübelpflanzen, meist mit großen vollständig verglasten Fenstertüren versehen. Ordnung, Säulenordnung Architektonische Gliederung aus vertikalen (→ Säulen, → Pfeiler, → Pilaster) und horizontalen Elementen (→ Gebälk), die festgelegten Gesetzmäßigkeiten folgt und neben der konstruktiven und dekorativen vor allem semantische (zeichenhafte) Funktionen erfüllt; zentraler Gegenstand der → vitruvianischen Architekturtheorie.
Präsentationsriss Zeichnung, die nicht als Arbeitsmate- rial, sondern zur Vorlage beim Bauherrn dient. Presbyterium Griech. für Priesterraum: Teil des Chores, in dem der Altar steht. Proportion Verhältnismäßigkeit der Bauteile an einem Gebäude, bei Vitruv auch als → Symmetrie bezeichnet. Pylon Griech. für Torbau, die Toröffnung in der Mitte meist zurücktretend zwischen vorspringenden, oft geböschten Seitentürmen.
Quincunx Geometrisches Schema, das der Anordnung der Fünf auf dem Würfel entspricht.
Palazzo Ital. für Palast, größeres innerstädtisches,
öffentliches oder privates Wohn- oder Verwaltungsgebäude. Parterre Ebener Gartenteil in der Nähe des Schlosses. Patrozinium Titel einer Kirche oder Kapelle, meist benannt nach einem Heiligen oder einem christlichen Fest. Pavillon Turmartig überhöhter Bauteil der (vor allem) franz. Profanarchitektur, im Unterschied zum → Risalit durch ein eigenes Dach hervorgehoben. Pendentifkuppel Hängekuppel, meist in Kugelsegmentform. Zur Überleitung auf einen meist quadratischen Raum dienen vier dreieckige, sphärische Zwickel in den Raumecken, die sog. Pendentifs. Peripteros Ein von Säulen ganz umgebenes Bauwerk. Peristyl Griech. für einen rundum von Säulen umstandenen Hof. Perspektive Lat. (nach Vitruv) Scaenographia: Am Seh eindruck orientierte Darstellung eines räumlichen Zusammenhangs, die wegen Verkürzungen und fluch tenden Linien nicht maßhaltig ist. Pfeiler Rechteckiges oder polygonales Stützglied, meist in Anlehnung an den Aufbau einer → Säule gestaltet. Piano nobile Ital. für das ‚vornehme‘ oder Hauptgeschoss eines Palasts, meist im 1. Obergeschoss, oft durch größere Raumhöhe hervorgehoben (auch: Beletage). Pilaster → Blendgliederung in der Art eines → Pfeilers, einer Wand vorgesetzt. Place Royale Platztypus mit einheitlichen Fassaden und einem zentral aufgestellten Herrscherdenkmal. Plateresk Von platero, span. für Silberschmied: Spezifisch spanischer Ornamentstil des 16. Jh., der Elemente der Gotik, der Renaissance und der islamischen Kunst mischt. Pleasure-ground Teil des → Englischen Gartens zwischen dem → Parterre (Garten am Haus) und dem Park (Landschaftsteil, oft wirtschaftlich genutzt); oft mit dekorativen Blumenbeeten geschmückt. Point-de-vue Franz. für Sichtpunkt, optisches Ziel einer Achse in Gärten oder Städten (vgl. → Eyecatcher). Portikus, der oder die Vorhalle, meist → Kolonnade mit Giebel, ggf. auch → Arkade oder → Frontispiz. Postament Auch: Piedestal. Meist quaderförmiger, sockelartiger Unterbau einer Stütze oder Statue.
Anhang
Refektorium Speiseraum eines Klosters. Relief Plastisches Bild, man unterscheidet je nach Tiefe der Figuren auf dem Bildgrund Flach- von Hochrelief. Reliquie Lat. für Hinterlassenschaft, physische Spur eines christlichen Heiligen, entweder ein Teil seines Körpers oder ein von ihm berührter Gegenstand. Retabel Lat. für Rücktafel, Aufbau hinter dem Altartisch (Mensa), meist mit Bildern der dort verehrten Heiligen, oft auch irrtümlich mit dem → Altar selbst gleichgesetzt. Rhythmische Travée A-B-A-Schema der Wandgliederung, z. B. Wechsel von offenen und geschlossenen, breiteren und schmaleren Wandabschnitten. Risalit / Rücklage Vorspringender Teil einer Fassade, oft zur Betonung der Ecke oder Mitte und zur Rahmung der (meist weniger reich dekorierten) sog. Rücklagen. Riss Allgemein für (meist maßhaltige, proportionale) Bauzeichnung. Rustika, Rustizierung Raue, d. h. scheinbar unbearbeitete oder wenig bearbeitete Gestaltung einer Oberfläche, meist an untergeordneten Zonen, z. B. dem Sockel, oder als ‚Verstärkung‘ an Gebäudeecken, Stein oder Putz. Saal Ungeteilter Longitudinalraum, oft mit Gewölbe
versehen. Sakomari Blendbögen als oberer Abschluss der Wandgestaltung am Außenbau russischer Kirchen. Sala Terrena Ital. für (eben‑)erdiger Saal, zum Garten orientierter, meist gewölbter Saal im Erdgeschoss von Schlössern und Villen, oft mit Muschel- oder → Grottendekor. Salomonische Säule Komposite Säule mit gedrehtem Schaft, angeblich vom Salomonischen Tempel in Jerusalem stammend. Säule Rundes Stützglied mit → Kapitell und → Basis, deren Schaft meist leicht gebaucht ist (sog. Entasis), evtl. auch als Wandvorlage (Halb- bzw. Dreiviertelsäule). Die Proportionen der einzelnen Teile folgen bestimmten → Proportionsregeln. Schaft Mittelstück eines vertikalen Stützgliedes, seine Höhe steht im → Vitruvianismus je nach → Ordnung in einem festen Verhältnis zum unteren Durchmesser. Scheidbogen Bogen, der zwei Raumteile voneinander trennt (z. B. Haupt‑ und Mittelschiff einer → Basilika).
335 Scheitrechter Bogen Ein (scheinbarer) Balken, der kon- struktiv einem Bogen gleicht, indem er aus radial aneinander gestützten Keilsteinen besteht. Schiff Längsgerichteter Raumteil z. B. einer Kirche, meist aus mehreren → Jochen gebildet. Man unterscheidet je nach Lage Mittel- (oder Haupt-), Seiten- und Querschiff. Schnitt Lat. sectio, zeichnerische Darstellungsform eines vertikalen Schnitts durch ein Gebäude, die alle Wandstärken, Raum- und Deckenhöhen exakt wiedergibt. Bei Longitudinalbauten unterscheidet man Längs- und Querschnitt. Segmentbogen / -giebel Bogen in Form eines Kreisausschnitts. Semantik Lehre von der Lesbarkeit bzw. Bedeutung der Zeichen. Serliana Architekturmotiv, dreigeteilte Öffnung unter zwei geraden Gebälkstücken und einem Bogen, gestützt auf zwei Säulen, auch Palladio-Motiv genannt, durch den Traktat Sebastiano Serlios bekannt geworden. Sgraffito Ital. für ausgekratzt: Zweischichtige Putzdekoration, bei der unter einer hellen Deckschicht durch Auskratzungen eine dunkle Unterschicht partiell sichtbar wird. Sohlbank Auch: Fensterbank. Unterer Abschluss einer Öffnung. Stich Graphische Reproduktionstechnik einer Zeichnung, in der Frühen Neuzeit meist Kupferstich, Holzschnitt oder Radierung, oft auch zur Buchillustration. Strebepfeiler Stützkonstruktion einer Wand zur Ableitung von seitlich einwirkenden Kräften (z. B. Gewölbeschub), bevorzugt in der mittelalterlichen Architektur: Mauerstück, das meist im 90°-Winkel an eine Wand gestellt ist, um diese zu verstärken, oft auch zur Trennung von dazwischen angegliederten Räumen (→ Kapellen) genutzt. Sturz Oberer Abschluss einer Öffnung (Fenster oder Tür). Superposition Die axiale Anordnung mehrerer, meist unterschiedlicher Säulen- oder Pfeilerordnungen an einer Fassade in der Vertikalen. Als kanonisch gilt die Abfolge dorisch, ionisch, korinthisch (oder komposit). Symmetrie Von griech. Syn-Metron = Übereinstimmung der Maße: In der Antike und der Frühen Neuzeit allgemein für die ausgewogene Proportion aller Teile, in der Moderne meist reduziert auf die spiegelbildliche Übereinstimmung zweier Seiten eines Objekts.
Tambour Franz. für Trommel, gerade Mauerzone unter einer → Kuppelschale, meist durchfenstert. Terrace Engl. Reihenhausanlage mit einheitlich gestalteter Front. Theater- oder Tabulariummotiv Wandgliederung nach römischem Vorbild: Kombination aus → Pfeilerarkade
und → Kolonnade, wobei (Halb-)Säulen und → Gebälk die Bogenstellung einfassen. Thermenfenster Halbrund oder segmentbogenförmig be- grenztes Fenster, meist vertikal dreigeteilt, benannt nach seiner häufigen Verwendung in spätantiken Großbauten. Tholos Griech. für Rundtempel mit geschlossener Cella. Travée Element der Wandgliederung aus zwei flankierenden Stützen und einem dazwischen liegenden Wandfeld oder einer Öffnung unter einem Gebälk oder Bogen. Trikonchos Raumgefüge aus drei Konchen (muschelförmigen, d. h. gewölbten Nischen, vgl. → Apsis). Triumphbogen Frei stehender, monumentaler Ehrenbogen nach antiken Vorbild, auch: (östliche) Schildwand eines Kirchenraums zwischen Querhaus und eingezogenem (in Höhe und Breite gegenüber dem Langhaus reduzierten) Chor. Türbe Türkischer Grabbau (→ Mausoleum). Tympanon Wörtlich Trommelfell: Fläche innerhalb eines Giebelfeldes oder → Frontispizes.
Vierung Durchkreuzungspunkt von Haupt- und Quer-
schiff. Villa Lat. für Landhaus, meist repräsentativ gestaltetes Gutshaus mit angeschlossenem landwirtschaftlichen Betrieb. Villa suburbana Landhaus in unmittelbarer Stadtnähe für temporären Aufenthalt, meist ohne wirtschaftliche, aber mit repräsentativer Bedeutung. Vitruvianismus Vorherrschendes architekturtheoretisches Denkmodell der Frühen Neuzeit, benannt nach dem römischen Schriftsteller Marcus Vitruvius Pollio, das die regelgerechte, ‚richtige‘ Anwendung antiker Formen als Norm für gute Architektur voraussetzt. Vogelschau → Perspektivische Darstellung eines Gebäudes von einem meist imaginierten erhöhten Standpunkt aus. Volute Schneckenförmig gedrehtes dekoratives Element, z. B. als Eckvolute des korinthischen → Kapitells oder an → Konsolen. Votiv, ex Voto Aus einem Gelöbnis heraus errichtete Stiftung.
Wandpfeilerkirche Einschiffige Kirche mit seitlich an-
geschlossenen, querorientierten, durch eingezogene → Strebepfeiler getrennten → Kapellen, meist über → Lateinischem Kreuzgrundriss.
Zecca Ital. für Münzprägeanstalt. Zentralbau Bauform mit völlig oder annähernd gleicher Längen- und Breitenausrichtung, die auf eine Mitte hin orientiert ist, oft über einfachen geometrischen Grundformen.
Glossar
336
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Anhang
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Register der Orte und Bauten Die |in Striche| gesetzen Zahlen geben die Nummer des Schlüsselwerkes an. Kursiv gesetzte Seitenzahlen verweisen auf Abbildungen.
Aachen Münster, Pfalzkapelle 224,
262 Amsterdam 109, 137, 232, 235, 240, 241, 242, 243–246, 283 – Cromhout-Huizen 247 – Rathaus |32| 37, 42, 46, 66, 239, 240, 241, 242, 292 – Stadtanlage |33| 85, 243, 244, 245, 246, 247, 248 – Trippenhuis 246 Antwerpen 235, 237, 242, 244 – Rathaus |31| 14, 42, 124, 234, 235, 236, 237, 240, 243, 293 Athen 48, 75, 79, 98, 270, 309, 322 – Parthenon 75, 119 Augsburg 238, 269, 283 – Augustusbrunnen 270 – Rathaus, 46, 240, 243, 270
Bath 246, 270, 310, 311, 314
– Circus |47| 311, 312, 313 – Crescent |47| 220, 311, 312, 313 Bayreuth Opernhaus, 43, 44, 175 Berlin 44, 49, 152, 157, 248, 294 – Brandenburger Tor 270 – Quartier Schützenstr. 180 – Reichstag 29 – Residenzschloss 47, 200, 258, 285 Bologna S. Petronio 69 Bomarzo Sacro Bosco (Garten) 113 Bordeaux Theater 176 Brühl Schloss Augustusburg 44 Buda Königsresidenz 38, 123
Calpan Capilla de Indios 229
Chambord Schloss |8| 46, 124, 126, 127, 128, 129, 130–132, 136, 254 Christianopolis (fiktive) Idealstadt 151 Christophstal Bergbauort 148 Coalbrookdale Iron Bridge 90, 91 Córdoba Kathedrale, ehem. Moschee 97, 204
Den Haag Mauritshuis 240 Dresden – Frauenkirche |41| 46, 189, 234, 285, 286–288, 289, 319 – Kath. Hofkirche 289 – Zwinger 296
Edirne (Adrianopel) Selimiye-
Moschee 157, 160 El Escorial S. Lorenzo |9| 70, 85, 132, 133, 134, 135, 136, 148, 202, 224, 225, 234, 241, 249, 259, 275–277, 293 Esztergom Kathedrale, Bakócz-Kapelle 123, 321
Fanzolo Villa Emo 172 Florenz 11, 15, 26, 45, 48, 49, 60, 83, 105, 106, 141, 144, 152, 164, 171, 177, 186, 189, 191, 201, 270, 272 – Baptisterium 59, 96, 97, 101 – Belvedere, Festung 111 – Bibliotheca Laurenziana |2| 31, 36, 37, 100, 105, 116, 220 – Boboli-Garten |4| 33, 109–114, 116, 137 – Dom 59, 97, 105, 185, 189 – Findelhaus (Ospedale) |1| 93, 94, 95, 96, 97, 100–103, 110, 122, 181, 238, 272, 314 – Korridor des Vasari 111 – Loggia dei Priori 95, 97 – Neptunbrunnen 111, 113, 137 – Ospedale di S. Matteo 96
– Palazzo della Signoria (Vecchio) 42, 110 – Palazzo Medici-Riccardi 110 – Palazzo Pitti |4| 29, 85, 96, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 138, 176, 179, 260 – Palazzo Rucellai 62, 110 – Palazzo Strozzi 177 – Piazza SS. Annunziata 93–95, 272 – Ponte di SS. Trinità 111 – Ponte Vecchio 111 – S. Croce 103 – S. Lorenzo |2| 97, 100, 101,102, 103, 104, 105, 110, 160, 167, 226 – S. Lorenzo, Alte Sakristei 85, 101, 107, 110, 119 – S. Lorenzo, Neue Sakristei, 100, 105 – S. Maria Novella 58, 103, 195 – S. Miniato al Monte 96 – Uffizien 30, 186 Fontainebleau Schloss 126, 136 Freudenstadt Stadt und Kirche |13| 45, 147, 148, 149, 150, 151
Granada 132, 135, 223, 225–227,
239 – Alhambra, Palast Karls V. |28| 124, 225 – Kartause 230 – Kathedrale |28| 146, 158, 226, 229 Greenwich 298, 299, 301 – Marinehospital |44| 218, 299, 314 – Queen’s House |44| 44, 241, 298, 299, 303 Guadalupe Marienwallfahrtsort 228
Haarlem Vleeshal (Fleischhalle) 82,
138, 240 Hamburg 32, 71, 139, 152, 240 – Michaeliskirche 286, 289
Register der Orte und Bauten
346 Hillerød Schloss Frederiksborg |10| 45, 113, 136, 137, 138, 139, 299 Houghton Hall Landsitz 315
Issy Maison de Plaisance 39 Istanbul 46, 79, 157 – Süleymaniye-Moschee |15| 158, 159, 160, 161
Jerusalem 79, 156
– Grabeskirche, Hl. Grab 226, 280 – Tempel des Salomon 18, 70, 71, 135, 207, 241
Karlsruhe Residenz 48, 59, 248 Köln Jesuitenkirche 192, 240 Konstantinopel → Istanbul Kopenhagen 49, 137, 250, 275, 283 Kutna Hora (Kuttenberg) St. Barbara 123 Landshut
– Neue Residenz 45, 117 – St. Martin 146 London 32, 33, 49, 121, 205, 248, 297–317 – Chiswick House |45| 81, 301, 302, 303, 304, 306, 315, 316 – House of Parliament 303 – Kew Gardens 79, 80 – Osterley Park 78 – St. Martin-in-the-Fields 51 – St. Paul’s Cathedral 50, 288, 300, 319 – St. Stephen Walbrook 52 – Strawberry Hill |48| 314, 315, 316, 317 – Westminster Abbey 315, 316 – Whitehall Palace 303 Lonigo Villa Rocca Pisana 302 Ludwigsburg Stadt 149
– Erzengel-Kathedrale 155 – Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale 154 München 44 – Englischer Garten 305, 309 – Residenz, Königsbau 114 – St. Michael |12| 143, 144–146, 147, 170, 196, 281 – Theatinerkirche 201
Nancy Place Stanislas 275 Neresheim Benediktinerklosterkirche 291 Neubrandenburg 148 Neuf-Brisach Festung 152 Nîmes Maison carrée 283, 309 Nürnberg Pellerhau |30| 231, 232, 233, 234, 237, 240
Ocotlán Wallfahrtskirche |29| 46,
227, 228, 229, 230, 231 Ottobeuren Benediktinerkloster 136, 277
Padua 42, 101
Paestum Tempelruinen 76, 119, 322 Palestrina Fortunatempel 219 Palmanova Festung 149 Paris 33, 38, 39, 44, 45, 47–49, 72–74, 79, 89, 92, 127–143, 149, 152, 153, 189, 191, 201, 204, 205, 211, 217–219, 231, 235, 239, 246, 252–275, 290, 314, 318–326 – Église de la Madeleine 323 – Hôtel Alexandre 323 – Hôtel de Beauvais 265, 266 – Hôtel de Cluny 265 – Hôtel de Sully 265 – Hôtel Lambert |37| 264, 265, 266, 267, 268 – Île-St-Louis 266 Mailand (Milano) 14, 15, 17, 114, 120, – Louvre |35| 45, 47, 49, 73, 90, 124, 133, 154, 186, 189, 199, 224 110, 143, 191, 210, 211, 225, 253, Mannheim Kurpfälzische Residenz 254, 255–257, 258, 260, 262, 152, 248, 306 265, 266, 271, 272, 275, 281, 292, Mantua 148, 201 298, 312, 318, 319, 322 – Palazzo del Te |5| 31, 45, 83, – Nôtre-Dame 141, 266 114, 115, 116, 117, 225, 263 – Place Dauphine 271, 272 – S. Andrea |3| 86, 102, 105, – Place de France 271 106, 107, 108, 144, 167, 168, 176, – Place de Vosges (royale) 265, 271 193–195, 255 – Place des Victoires 272, 273, 312 – Place Vendôme |38| 142, 211, Maser Villa Barbaro 57, 171, 222 220, 271, 272, 273, 274, 275, 311 Melk Benediktinerkloster |39| 46, 83, – Pont Neuf 271 85, 207, 219, 275, 276, 277, 278, 279 – Rathaus (Hôtel de ville) 130, 140 Mereworth Castle 302 – St-Eustache |11| 140, 141, 143, Mömpelgard (Montbéliard) Grafschaft 143, 146, 155, 176, 192, 226, 262, und Stadt 148, 150 318, – St-Louis und Hôtel des Invalides Moskau 249, 251 288, 300, 301, 319 – Basilius-Kathedrale |14| 46, 153, – Ste-Geneviève, Panthéon |49| 154, 155, 156, 237
Anhang
89, 121, 143, 189, 281, 316, 318, 319, 320, 321, 322, 323 – Zollhäuser (Barrières) 35, 270 Pavia Kartause 83 Pienza 124 Plusiapolis 15, 16, 60 Poggio a Caiano Villa Medici 128, 299 Pompeji und Herculaneum 77, 322 Pontoise St-Maclou 140 Potsdam – Residenzstadt 249, 314, 321 – Chinesisches Haus 296, 297 – Schloss und Park Sanssouci |43| 34, 45, 282, 294, 295, 296, 297, 315 Prag 88, 141, 201, 204 – Belvedere (Lusthaus) |7| 121–124, 125, 124 – Wladislawsaal |7| 38, 121, 122, 123, 124, 125
Regensburg 240, 294
– Walhalla 321 Rom 12, 13, 17, 18, 27, 28, 31, 33, 43– 52, 55, 56, 62, 63, 65, 67, 69, 75–77, 79, 83, 84, 85, 86–88, 98, 104, 106– 113, 116, 118–121, 141–147, 164, 168, 170, 176–201, 205–222, 224, 227, 231, 241, 248, 256, 258, 262, 269, 270, 278, 284, 288, 300, 302–304, 314, 319, 326 – Barcaccia-Brunnen 219 – Colosseum 13, 55, 98, 99, 112, 119, 179, 312 – Engelsburg 42, 269 – Forum Romanum 119, 181, 241 – Il Gesù (Jesuitenkirche) |22| 40, 44, 64, 83, 89, 126, 142–145, 150, 170, 176, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 201, 255, 276, 279, 281, 318 – Janusbogen 108 – Kapitol |20| 85, 181, 182, 183, 192, 217, 219, 237, 240, 269, 272, 321 – Konservatorenpalast 168, 181, 183, 184, 255 – Konstantins-, Maxentiusbasilika 69, 106, 167 – Lateran 119, 181, 184, 218 – Marcellus-Theater 119, 174, 179 – Palazzo Farnese |19| 31, 43, 83, 84–86, 110, 112, 126, 135, 164, 176, 177, 178, 179, 180, 183, 192, 222, 237, 254, 255 – Palazzo Nuovo 182, 184 – Pantheon 17, 42, 55, 56, 59, 69, 79, 87, 107, 119, 172, 178, 186, 197, 198, 207, 303, 304, 320, 324, 326 – Pasquino-Statue 217 – Petersplatz |25| 59, 189, 209, 210, 215 – Piazza Navona |26| 37, 87, 196, 209, 213, 214, 215, 217, 219, 220, 256, 308
347 – Piazza und Porta del Popolo 212, 217 – Porta maggiore 165 – Ripetta (Tiberhafen) 217, 218 – S. Agnese in Agone 37, 198, 213, 214, 215, 216 – S. Andrea al Quirinale 87, 88 – S. Andrea della Valle 201 – S. Carlo alle Quattro Fontane 86, 197 – S. Ignazio 222 – S. Maria della Pace 87 – S. Maria in Aracoeli 181, 182 – S. Pietro in Montorio, Tempietto |6| 63, 85, 118, 119, 120, 121, 124, 153, 186, 218, 223 – S. Ivo alla Sapienza |23| 197– 199, 203 – Scala Regia (Vatikan) |25| 208, 209 – Scalinata di Spagna (Spanische Treppe) |27| 218, 219, 220, 221 – Senatorenpalast 182, 183, 216 – Septimius-Severus-Bogen 102, 269 – Sixtinische Kapelle 135 – SS. Trinità dei Monti 218, 219, 222 – St. Peter |21| |25| 17, 28, 50–52, 81, 85, 90, 108, 118, 134, 136, 143, 159, 170, 176, 181, 184 185, 186, 187, 188, 189, 190, 191, 194, 196, 197, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 213, 226, 231, 258, 281, 285, 291 – Tabularium 181 – Trajans-/Hadrianssäule 17, 269, 274, – Trevi-Brunnen 220, 270, – Vatikanischer Palast 28, 185, 205, 208, 213, 218, 269 – Vestatempel 119 – Via del Corso 217 – Via Giulia 177, 248 – Via Sistina 218 – Vierströmebrunnen |26| 113, 215, 216, 256 – Villa Farnesina 177 – Villa Madama 224 – Zecca (Münze) 183 Romorantin Schloss 130
Saar (Žd’ár nad Sázavou) Wallfahrts-
kirche 200 Sabbioneta Stadt und Festung 148, 152 Schwetzingen Schlossgarten 306, 309 Seligenstadt Gewächshaus der Abtei 91 Sforzinda fiktive Stadt 15, 21, 133, 199, 253, 326 St. Petersburg 45, 49, 66, 85, 249, 250, 251, 258, 283, 305, 321 – Smolny-Kloster 252 – Stadtanlage |34| 249, 250, 251, 252, 253 – Zarskoje Selo 251 Stockholm 47, 49, 200, 242, 250, 258 Stowe Garten |46| 85, 306, 307– 309, 310, 315, 316 Straßburg Münster 317, 322, Stuttgart Schlosskirche 149, 150
– Garten |36| 92, 260, 261, 262, 263, 304, 306 – Schloss |36| 66, 91, 114, 126, 130, 136, 137, 184, 211, 242, 259, 260–263, 264, 266, 268, 272, 290, 292 – Schlosskapelle |36| 263, 272, 281, 291, 318 – Trianon 263, 264, 295 Vicenza 45, 67, 117, 166, 170–175, 314 – Palazzo della Raggione, sog. Basilica 42, 43, 165 – Teatro Olimpico 174, 175 – Villa Rotonda |18| 68, 85, 117, 126, 169, 171, 172, 173, 224, 299, 302, 319 Vierzehnheiligen Wallfahrtskirche 89, 291 Vincennes Schloss 127
Vaux-le-Vicomte Schloss 126, 268 Venedig – Biblioteca Marciana 164, 165, 183, 237 – Dogenpalast 135, 163–165, 240 – Il Redentore 145, 169 – Markusplatz |16| 66, 81, 85, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 184, 293 – Rialto-Brücke 163, 165, 308 – S. Giorgio Maggiore |17| 165, 166, 167, 168, 169, 193–195 – Zecca 112, 164, 165, 232 Verona 83 Versailles 85, 249, 258, 260, 263, 264, 275, 276, 290–292, 297, 301, 323, 326
Washington Kapitol 121, 321 Weingarten Kloster 147, 279 Wessobrunn Kloster 147, 281 Wien 17, 26, 45, 46, 49, 124, 125, 152, 158, 276, 278, 290, 293 – Belvedere-Schloss 278 – Hofburg (Kaiserforum) 17, 29 – Jesuitenkirche (Universitätskirche) 279 – Karlskirche 17, 18, 70, 278 – Schönbrunn, Schloss und Park 60, 79 Wieskirche bei Steingaden |40| 83, 85, 207, 279, 280, 281, 282, 283, 320 Wilton House Herrenhaus mit Garten 308 Wladimir Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale 154 Wörlitz sog. Gartenreich 297, 305 Würzburg Residenz |42| 43, 45, 83, 85, 88, 135, 152, 190, 200, 207, 218, 231, 242, 275–278, 282, 289, 290, 291–293, 294 York Assembly Rooms 303
Almerico Paolo (16. Jh.) 173 Aloisio Lamberti da Montagnana, gen. der Neue (16. Jh.) 155 Ammanati Bartolommeo (1511 – 1592) 30, 111, 112 Andreae Johann Valentin (1586 – 1654) 151 Anna Jagiello Königin von Ungarn und Böhmen (1503 – 1547) 124
Anna von Habsburg (gen von Österreich) Königin von Frankreich (1601 – 1666) 259 Anna I. geb. Prinzessin von Dänemark, Königin von England (1574 – 1619) 298 Anna I. Romanow Kaiserin von Russland (1693 – 1740) 251 August, gen der Starke, Friedrich August I. von Wettin, Kurfürst
Tapeaca Franziskanerkirche 229 Tivoli 119, 219, 304 Tlaxcala Franziskanerkirche 227, 229 Toledo Kathedrale 224, 226 Turin 45, 46, 88, 248 – S. Lorenzo |24| 202–204
Personenregister Adam Robert (1728 – 1792) 77, 78 Addison Joseph (1672 – 1718) 306 Alberti Leon Battista (1404 – 1472) 21, 27, 58, 61, 62, 67, 71, 86, 92, 97, 102, 104–110, 160, 167, 168, 174, 190, 193, 194, 196, 255, 321 Alexander VI. Rodrigo Borgia Papst (1431 – 1503) 118 Alexander VII. Fabio Chigi Papst (1599 – 1667) 200, 207
Personenregister
348 von Sachsen, König von Polen (1670 – 1737) 285, 288
Bähr George (1666 – 1738) 59,
286–288 Barbaro Daniele (1513 – 1570) 32, 57, 171 Bayazid II. Sultan des Osmanischen Reichs (1447 – 1512) 159 Beduzzi Antonio (1675 – 1735) 278 Bentley Richard (1708 – 1782) 315, 317 Bernini Gianlorenzo (1598 – 1680) 21, 37, 46, 47, 49, 53, 70, 85, 87–89, 113, 180, 195–202, 205–211, 215–222, 231, 256–258, 266, 301, 312, 318 Blondel Jacques-François (1705 – 1774) 74 Boccador d. i. Domenico Bernabei Da Cortona (ca. 1465 – 1549) 130, 140 Boffrand Germain (1667 – 1754) 74 Borromeo Carlo (1538 – 1584) 17 Borromini d. i. Francesco Castelli (1599 – 1667) 21, 27, 37, 53, 85–89, 100, 196–201, 203, 205, 206, 209, 211, 214–216 Bossi Antonio (1699 – 1764) 290, 291 Boullée Étienne-Nicolas (1728 – 1799) 13, 21, 35, 74, 77, 80, 85, 92, 189, 212, 316, 321, 323–326 Bramante Donato (1444 – 1514) 27, 28, 63, 69, 81, 85, 89, 91, 118–121, 124, 153, 185–188, 223, 300, 308, 319, 322 Brébion Maximilien (1716 – nach 1792) 320 Bridgeman Charles (1690 – 1738) 307, 308 Brown Lancelot, gen. Capability (1716 – 1783) 307, 308 Brunelleschi Filippo (1377 – 1446) 13, 21, 23, 53, 59, 81, 85, 91, 93–97, 100–110, 119, 122, 141, 160, 167, 168, 180, 196, 272, 322 Bullet Pierre (1639 – 1716) 39 Buontalenti Bernardo (1536 – 1608) 33, 113 Burckhardt Jacob (1818 – 1897) 27–29, 37, 83, 210 Büring Johann Gottfried (1723 – ca. 1788) 296, 297 Burlington Richard Boyle, Earl of (1694 – 1753) 25, 45, 81, 301, 302– 304, 315
Cambiaso Luca (1527 – 1585) 135 Cameron Charles (1743 – 1812) 252
Anhang
Campbell Colen (1676 – 1729) 47, 212, 300, 302, 315 Caravaggio Michelangelo Merisi gen. (1571 – 1610) 23 Carracci Agostino (1557 – 1602) und Annibale (1560 – 1609) 83, 84, 180, 222 Cataneo Pietro (ca. 1510 – 1570) 55, 148 Chalgrin Jean-François (1739 – 1811) 323 Chambers Sir William (1728 – 1796) 79, 80, 297 Chiaveri Gaetano (1689 – 1770) 288, 289 Christian IV. König von Dänemark (1577 – 1648) 130, 136–139, 298 Clemens August von Wittelsbach Erzbischof von Köln (1700 – 1761) 44 Clemens VII. Giulio de’ Medici Papst (1478 – 1534) 57, 104 Clemens X. Emilio Altieri Papst (1590 – 1676) 214 Clemens XI. Giovanni Francesco Albani Papst (1649 – 1721) 218 Cobham Richard Temple, Viscount (1675 – 1749) 307–309, 315 Codussi Mauro (ca. 1440 – 1504) 163, 165, 167 Coecke van Aelst Pieter (1502 – 1550) 235, 237 Colbert Jean-Baptiste (1619 – 1683) 46, 49, 66, 72, 256–258 Cordemoy Jean-Louis de (1631 – 1713) 67 Cortona d. i. Pietro Berretini (1596 – 1669) 87, 114, 200 Corvinus d. i. Matthias I. Hunyadi König von Ungarn und Böhmen (1443 – 1490) 123 Cotte Robert de (1656 – 1735) 262, 263, 274, 290 Cuvilliés François d. Ä. (1695 – 1768) 44
d’Aviler Charles-Augustin (1653 – 1701)
265 Da Ponte Antonio (1512 – 1595) 165 de Key Lieven (1560 – 1627) 82, 138 de Keyser Hendrik (1565 – 1621) 137, 246 De Sanctis Francesco (1679 – 1731) 218– 220 de Vries Adriaen (1545 o. 1556 – 1626) 137 de’ Medici Cosimo, gen. Il Vecchio (1389 – 1464) 102, 110 de’ Medici Cosimo I. (1519 – 1574) 110 de’ Medici Ferdinand I. (1549 – 1609) 94, 272
de’ Medici Giovanni (1563 – 1621) 105 de’ Medici Giovanni di Bicci (1360 – 1429) 100, 102 de’ Medici Lorenzo, gen. Il Magnifico (1449 – 1492) 100, 104 de’ Medici Maria (1575 – 1642) Königin von Frankreich 260, 272 Della Luna Francesco (1373 – ca. 1446) 93, 96 Della Porta Giacomo (ca. 1532 – 1602) 30, 31, 86, 179, 182, 183, 189, 192, 194, 195, 197, 213 Della Robbia Andrea (1435 – 1525) 93 Della Stella Paolo (gest. 1552) 124 Delorme Philibert (1510 – 1570) 66 Desjardin Martin (1637 – 1694) 272 Di Giorgio Martini Francesco (1439 – 1501) 55, 58 Dietmayr Bertolt (1670 – 1739) 276–279 Dietterlin Wendel (1550 – 1599) 65 Donatello d. i. Donato Niccolò di Betto Bardi (1386 – 1466) 102 Du Cerceau Jacques Androuet d. Ä. (ca. 1510 – 1586) 265, 271 Dupérac Etienne (ca. 1520 – 1604) 182, 188, 211 Durand Jean-Nicolas-Louis (1760 – 1834) 323
Egas Enrique (ca. 1455 – 1534) 223– 226 Eigtved Nicolaus (1701 – 1754) 275 Eleonora I. geb. v. Toledo (Groß-)Herzogin der Toskana (1522 – 1562) 110 Elisabeth I. Romanow Kaiserin von Russland (1709 – 1762) 251, 252 Elisabeth I. Tudor Königin von England (1533 – 1603) 44, 299, 301 Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel Königin von Preußen (1715 – 1797) 295 Erdmannsdorff Friedrich Wilhelm v. (1736 – 1800) 297 Escobar Juan de (17. Jh.) 229 Falconet Etienne-Maurice (1716 – 1791)
253 Falda Giovanni Battista (1643 – 1678) 209, 210 Fancelli Luca (ca. 1430 – 1490) 106 Farnese Alessandro d. J. (1520 – 1589) 177 Feichtmayr Johann Michael (1709 – 1772) 89 Félibien André (1619 – 1695) 127
349 Ferdinand I. von Habsburg Dt. König und Röm. Kaiser (1503 – 1564) 124, 224, 235 Ferdinand II., gen. der Katholische König von Aragón (1452 – 1516) 118, 223 Feuillade François d’Aubusson, Herzog v. (ca. 1630 – 1691) 272, 273 Filarete d. i. Antonio Averlino (1400 – 1469) 11, 14–16, 21, 27, 53, 60, 61, 70, 133, 135, 154, 199, 253, 301, 324, 326 Fioravanti Aristotele (1415 – 1485) 154 Fischer von Erlach Johann Bernhard (1656 – 1723) 17, 18, 60, 71, 79, 278 Floris Cornelis (1513 – 1575) 236, 237 Fontana Domenico (1543 – 1607) 209, 217 Fouquet Nicolas (1615–1680) 268 Franz I. Valois König von Frankreich (1494 – 1547) 46, 129–132, 140, 254 Friedrich (Frederik) II. König von Dänemark (1534 – 1588) 137 Friedrich I. Herzog von Württemberg (1557 – 1608) 45, 148, 149 Friedrich I. (III.) von Hohenzollern Kurfürst von Brandenburg und König in Preußen (1657 – 1713) 248 Friedrich II. von Hohenzollern König von Preußen (1712 – 1786) 23, 43, 45, 294–297, 314, 315 Friedrich III. von Habsburg Dt. König und Röm. Kaiser (1415 – 1493) 235 Friedrich Wilhelm I. von Hohenzollern König in Preußen (1688 – 1740) 294 Friedrich Wilhelm II. von Hohenzollern König von Preußen (1744 – 1797) 297
Gabriel Jacques-Anges (1698 – 1782)
264 Galli (da) Bibiena Carlo (1728 – 1787) und Giuseppe (1696 – 1757) 43, 44, 175, 176, 278, 279 Gaulli Giovanni Battista, gen. Il Baciccia (1639 – 1709) 193, 195 Gerhard Hubert (ca. 1550 – 1623) 144, 270 Giambologna d. i. Jean de Boulogne (1529 – 1608) 30, 113, 137, 144 Gibbs James (1682 – 1754) 51, 308, 309 Gilpin William (1724 – 1804) 309 Girardon François (1628 – 1719) 274 Goethe Johann Wolfgang v. (1749 – 1832) 173, 317, 322 Gontard Carl v. (1731 – 1791) 44
Gonzaga Federico Herzog von Mantua (1500 – 1540) 114 Gonzaga Francesco Bischof von Mantua (1444 – 1483) 106 Gonzaga Lodovico II. Markgraf von Mantua (1412 – 1478) 106 Goujon Jean (ca. 1510 –ca. 1572) 255 Gregor XIII. Ugo Buoncompagni Papst (1502 – 1585) 213 Greiffenclau zu Vollrads Carl Philipp v. (1690 – 1754) 290, 292 Guarini Guarino (1624 – 1683) 45, 200–205, 291 Gueffier Étienne (gest. 1661) 218 Gunzenhäuser Elias (gest. 1606) 150
Hamilton William Douglas (1730 – 1803) 77 Hardouin-Mansart Jules (1646 – 1708) 260, 262, 263, 272– 274, 288, 300, 312 Hardouin-Mansart de Jouy Jean (1705 – 1779) 142 Hauser Arnold (1892 – 1978) 30, 31 Hawksmoor Nicholas (1661 – 1736) 51, 299, 300, 314 Heinrich II. Valois König von Frankreich (1519 – 1559) 129, 271, 272 Heinrich IV. Bourbon König von Frankreich (1553 – 1610) 259, 265, 271, 272 Henrietta Maria geb. Bourbon Königin von England (1609 – 1669) 298 Herrera Juan de (1530 – 1597) 132–135 Hildebrandt Johann Lucas v. (1668 – 1745) 278, 290, 291 Holl Elias (1543 – 1646) 238, 240, 270 Hoppenhaupt Johann Christian (1719 – ca. 1780) 269 Innozenz X. Giovanni Battista Pamphili
Papst (1574 – 1655) 214, 216, 217 Innozenz XIII. Michelangelo Conti Papst (1655 – 1724) 218 Isabella I., gen. die Katholische Königin von Kastilien (1451 – 1504) 118, 223 Iwan III. Großfürst von Moskau (1440 – 1505) 154 Iwan IV., gen. der Schreckliche Zar von Russland (1530 – 1584) 155, 156
Jakob (James) I. Stuart König von
England (1566 – 1625) 298, 303 Jakob (James) II. Stuart König von England (1633 – 1701) 299 Jones Inigo (1573 – 1652) 44, 53, 137, 173, 224, 237, 241, 298–301, 303, 308
Julius II. Giuliano della Rovere Papst (1443 – 1513) 28, 113, 186, 187, 248, 278 Julius III. Giovanni Maria Ciocchi del Monte Papst (1550 – 1555) 30 Juvarra Filippo (1678 – 1736) 108, 205, 258
Karl (Charles) I. Stuart König von Eng-
land (1600 – 1649) 298, 299 Karl (Charles) II. Stuart König von England (1630 – 1685) 300 Karl V. (I.) v. Habsburg König von Spanien, Dt. König und Röm. Kaiser (1500 – 1558) 31, 114, 124, 130, 132, 134, 223–225, 235, 237, 239–242 Karl VI. v. Habsburg Dt. König und Röm. Kaiser (1685 – 1740) 17, 18, 277 Katharina II. Kaiserin von Russland (1729 – 1796) 252, 253 Kaufmann Emil (1891 – 1953) 34, 35, 326 Kent William (1685 – 1748) 302–304, 306–308, 315 Klenze Leo v. (1784 – 1864) 114, 252 Knobelsdorff Georg Wenz349eslaus v. (1699 – 1753) 34, 295, 296 Knöffel Johann Christoph (1686 – 1752) 287 Kokorinoff Alexander (1726 – 1772) 252
Lambert de Thorigny Jean-Baptiste
(1608 – 1644) und Nicolas (unbek.) 266 Langley Batty (1696 – 1751) 315 Laugier Marc-Antoine (1713 – 1769) 71, 74, 318, 319 Le Brun Charles (1619 – 1690) 66, 257, 261, 268 Le Nôtre André (1613 – 1700) 262, 304, 305 Le Pautre Antoine (unbek.) 265, 266 Le Roy Julien-David (1724 – 1803) 75, 322 Le Sueur Eustache (1617 – 1655) 267 Le Vau Louis (1612 – 1670) 256, 257, 260, 262, 266–268 Ledoux Claude-Nicolas (1736 – 1806) 35, 270, 326 Lemercier Jacques (ca. 1585 – 1654) 255 Leo X. Giovanni de’ Medici Papst (1475 – 1521) 28, 104, 224 Leonardo da Vinci (1452 – 1519) 14, 21, 27, 54, 61, 130, 151, 211 Leoni Leone (1509 – 1590) und Pompeo (1533 – 1608) 134
Personenregister
350 Leopold III. Friedrich Franz Fürst von Anhalt-Dessau (1740 – 1817) 305 Lescot Pierre (1515 – 1578) 143, 225, 254, 255, 257 Liechtenstein Karl Eusebius Fürst von (1611 – 1684) 41, 53 Longhi Martino d. Ä. (1530 – 1591) 183 Lorrain d. i. Claude Gellée (1600 – 1682) 304 Louis Victor (1731 – 1800) 176 Louvois François-Michel de Tellier (1641 – 1691) 273 Loyola Ignazio López de (1491 – 1556) 192, 196 Ludwig X. von Wittelsbach Herzog von Bayern-Landshut (1495 – 1545) 45, 117 Ludwig XIII. König von Frankreich (1601 – 1643) 259, 272 Ludwig XIV. König von Frankreich (1638 – 1715) 23, 38, 43, 45, 49, 72, 152, 218, 256, 259–261, 263, 268, 270, 272–274, 292, 295, 297, 300, 301, 304 Ludwig XV. König von Frankreich (1710 – 1774) 262, 264, 319 Ludwig XVI. König von Frankreich (1754 – 1793) 35, 264
Machuca Pedro (1485 – 1550) 45, 135,
224, 225 Maderno Carlo (1556 – 1629) 51, 59, 85, 143, 189, 205, 206, 209, 211, 300 Malatesta Sigismondo (1417 – 1468) 106 Manetti Antonio (1423 – 1497) 60, 97, 102 Manetti Chiaccheri Antonio (1405 – 1460) 106 Maria II. Stuart Königin von England (1662 – 1694) 299 Marie Antoinette von Habsburg Königin von Frankreich (1755 – 1793) 264 Mariette Jean (1660 – 1742) 266, 267 Marigny Abel-François Poisson de Vandières, Marquis de (1727 – 1781) 319, 322 Marot Jean (1619 – 1679) 47, 258 Martinelli Fioravante (1599 – 1667) 199 Matthias I. v. Habsburg König von Böhmen und Ungarn, Dt. König und Röm. Kaiser (1557 – 1619) 233 Mattielli Lorenzo (1687 – 1748) 278, 279 Max Emanuel v. Wittelsbach Kurfürst von Bayern (1662 – 1726) 44 Maximilian I. v. Habsburg Dt. König und Röm. Kaiser (1449 – 1519) 223, 235
Anhang
Mayer Fritz (1889 – 1964) 234 Mayr Marian (gest. 1772) 280 Mehmet II., gen. Fatih (der Eroberer) Sultan des Osmanischen Reichs (1430 – 1481) 157 Michelangelo Buonarroti (1475 – 1564) 21, 23, 26–28, 30, 32, 33, 36, 37, 53, 59, 67, 81, 85, 100, 101, 104, 105, 112, 113, 116, 134, 135, 168, 169, 178–189, 192, 196, 206, 207, 209–211, 219, 220, 240, 272, 288, 301 Michelozzo di Bartolommeo (1396 – 1472) 101, 110 Mirabeau Gabriel de Riqueti, Comte de (1749 – 1791) 320 More (lat. Morus) Thomas (1478 – 1535) 60 Morris Robert (1703 – 1754) 312
Neumann Johann Balthasar
(1687 – 1753) 21, 53, 88, 89, 190, 200, 205, 290–293 Newton Isaac (1643 – 1727) 308, 323–325 Nikolaus V. Tommaso Parentucelli Papst (1397 – 1455) 185 Nolli Giambattista (1701 – 1756) 211, 212
Orsini Vicino (1523 – 1585) 113 Pacassi Nikolaus (1716 – 1790) 122 Palladio d. i. Andrea di Pietro della Gondola (1508–1580) 21, 25, 30, 32, 41–43, 45, 56–58, 67–69, 72, 81, 83, 105, 117, 120, 126, 128, 145, 165–175, 190, 193–196, 212, 222, 224, 241, 299–303, 308, 314, 319, 324 Palmer John (1738 – 1817) 313 Pamphili Camillo Kardinal (1622 – 1666) 214, 215 Panofsky Erwin (1892 – 1968) 32, 269 Paul III. Alessandro Farnese d. Ä. Papst (1468 – 1549) 143, 177, 181, 192 Paul IV. Gian Pietro Carafa Papst (1476 – 1558) 201 Paul V. Camillo Borghese Papst (1552 – 1621) 51, 52, 189 Peller Martin (1559 – 1629) 231, 232 Perrault Charles (1628 – 1703) 72, 73, 75 Perrault Claude (1613 – 1688) 25, 72, 73, 75, 90, 143, 212, 256–258, 262, 281, 318, 319, 322 Perret Jacques (ca. 1540 – 1619) 149
Peruzzi Baldassare (1481 – 1536) 211 Pesne Antoine (1683 – 1757) 296 Peter I., gen. der Große Romanow Zar und Kaiser von Russland (1672 – 1725) 45, 243, 249–251 Peter II. Romanow Kaiser von Russland (1715 – 1730) 251 Pevsner Nikolaus (1902 – 1983) 30, 31, 48, 82, Philipp II. von Habsburg König von Spanien (1527 – 1598) 130, 132–135, 148, 224, 225, 234, 235 Piranesi Giambattista (1720 – 1787) 76, 77, 176, 212, 324 Pitti Luca (1395 – 1472) 29, 110 Pius II. Enea Silvio Piccolomini Papst (1405 – 1464) 106, 124 Plinius Gaius Secundus, gen. d. J. (ca. 61 – 114) 57, 224 Poggio Bracciolini Giovanni Francesco (1380 – 1459) 11, 326 Pompadour Jeanne Antoinette Poisson, Marquise de (1721 – 1764) 264, 319 Pope Alexander (1688 – 1744) 304, 311, 323, 324 Pozzo Andrea SJ (1642 – 1709) 45, 196, 222, 279 Prandtauer Jakob (1660 – 1726) 46, 276–279
Quarenghi Giacomo (1744 – 1817) 252 Quatremère de Quincy Antoine Chrysostôme (1755 – 1849) 321 Quellinus Artus (1609 – 1668) 242, 243 Raffael d. i. Raffaello Santi (1483 – 1520)
27, 57, 101, 114, 186, 187, 211, 224 Rainaldi Carlo (1611 – 1691) 37, 215 Rainaldi Girolamo (1570 – 1655) 214, 215 Ramírez de Alba Pedro (1460 – 1528) 226 Rastrelli Francesco Bartolomeo (1700 – 1771) 45, 251, 252 Revett Nicholas (1720 – 1804) 75, 322 Richelieu Armand du Plessis Herzog von (1585 – 1646) 259, 272 Ried Benedikt (ca. 1454 – 1534) 123– 125 Riegl Alois (1858 – 1905) 26, 81 Rizzo Antonio (1430 – 1499) 163, Romano d. i. Giulio Pippi di Pietro Gianuzzi (1499 – 1546) 30, 31, 114– 117, 173, 224 Rosenstingl Franz (1702 – 1785) 276 Rosselino Bernardo (1409 – 1464) 185, 186
351 Rossi Aldo (1931 – 1997) 180 Rottmayr Johann Michael (1654 – 1730) 279 Rousseau Jean-Jacques (1712 – 1778) 71, 320 Rubens Peter Paul (1577 – 1640) 222
St-Non Jean-Claude-Richard de
(1727 – 1791) 322 Salvi Nicola (1697 – 1751) 220 Sangallo Antonio da d. J. (1483 – 1546) 57, 85, 134, 177–179, 187, 188, 209 Sangallo Giuliano da (1445 – 1516) 128 Sansovino d. i. Andrea Tatti (1486 – 1570) 66, 101, 112, 164–166, 184, 232 Santini-Aichl Johann Blasius (1677 – 1723) 200 Scamozzi Vincenzo (1548 – 1616) 66, 165, 173, 241, 302 Schickhardt Heinrich (1558 – 1635) 45, 148–150 Schinkel Karl Friedrich (1781 – 1841) 25, 321 Schlaun Johann Caspar (1695 – 1773) 200 Schlüter Andreas (1659?–1714) 258, 294 Schönborn Friedrich Carl v. (1674 – 1746) 290 Schönborn Johann Philipp Franz v. (1673 – 1724) 290 Schönborn Lothar Franz (1655 – 1729) 290 Schott Gerhard (1641 – 1702) 71 Schröfl P. Benno (18. Jh.) 279, 283 Schwertfeger Theodor (unbek.) 250 Sckell Friedrich Ludwig v. (1750 – 1823) 309 Sedlmayr Hans (1896 – 1984) 33–35, 198 Seinsheim Adam Friedrich v. (1708 – 1779) 290 Semper Gottfried (1803 – 1879) 29 Serlio Sebastiano (1475 – 1554) 14, 42, 46, 63–68, 119–121, 212, 237, 254, 324 Sforza Francesco Herzog von Mailand (1401 – 1466) 15 Sforza Galeazzo Maria Prinz von Mailand (1444 – 1476) 15 Siloé Diego de (ca. 1495 – 1563) 225– 227, 229 Silvestre Israel d. J. (1621 – 1691) 209 Sinan Mimar (1491 – 1588) 46, 158–161 Sixtus IV. Francesco della Rovere Papst (1414 – 1484) 186
Sixtus V. Felice Peretti di Montalto Papst (1521 – 1590) 209, 218 Sonnin Ernst Georg (1713 – 1794) 286 Soufflot Jacques-Germain (1713 – 1780) 89, 218, 319–322, 324, 326 Spazio Giovanni (16. Jh.) 124, 125 Specchi Alessandro (1668 – 1729) 184, 218, 220 Steenwinckel Hans d. Ä. (ca. 1550 – 1601) 137–139 Stuart James (1713 – 1788) 75, 308, 322 Sturm Leonhard Christoph (1669 – 1719) 36, 286 Süleyman II., gen. der Prächtige Sultan des Osmanischen Reichs (1495 – 1566) 132, 158, 159 Sustris Friedrich (1540 – 1599) 144–146 Switzer Stephen (1682 – 1745) 306
Tacca Pietro (1577 – 1640) 94, 272 Tessin Nicodemus d. J. (1654 – 1728) 258 Thiene Kajetan v. (1480 – 1547) 201 Tibaldi Pellegrino (1527 – 1592/96) 135 Tiepolo Giambattista (1696 – 1770) 45, 290–293 Tintoretto d. i. Jacopo Robusti (1518 – 1594) 166 Tlayoltehuanitzin Francisco Miguel (18. Jh.) 229 Toledo Juan Bautista de (ca. 1515 – 1567) 132, 133 Trezzini Domenico (1670 – 1734) 250, 252 Trip Elias (1570 – 1636) und Jacob (1575 – 1661) 243, 246 Troger Paul (1698 – 1762) 278, 279
Unger Georg Christian (1743 – 1799)
296 Urban VIII. Maffeo Barberini Papst (1568 – 1644) 197, 199, 206, 207, 216 Utens Giusto (gest. 1609) 111
Valeriano Giuseppe (1542 – 1596) 146 Vallin de la Mothe Jean-Baptiste (1729 – 1800) 252 van Campen Jacob (1596 – 1657) 45, 240–242 van Heemskerck Marten (1498 – 1574) 187 Vanbrugh John (1664 – 1726) 51, 299 Vasari Giorgio (1511 – 1574) 26, 27, 28, 30, 34, 48, 59, 65, 85, 96, 110, 111, 188, 315, 317
Vauban Sébastien le Prestre de (1633 – 1707) 151, 152 Velasco Lázaro de (ca. 1520 – nach 1564) 223 Veronese d. i. Paolo Cagliari (1528 – 1588) 135, 166, 171, 222 Vespucci Amerigo (1452 – 1512) 23 Viatis Bartholomäus (1538 – 1624) 231, 232 Vignola d. i. Jacopo Barozzi (1507 – 1573) 30, 64, 67, 68, 83, 86, 99, 192–194, 324 Villalpando Juan Bautista (1552 – 1608) 135, 241 Vingboons Justus (ca. 1620 – 1698) 246 Vingboons Philips (ca. 1607 – 1678) 247 Vitruv d. i. Marcus Vitruvius Pollio (1. Jh. v. Chr.) 11–14, 16, 21, 42, 52–59, 61, 63, 64, 67, 68, 70, 71, 73, 77, 78, 80, 97, 98, 103, 104, 106, 117, 119, 120, 151, 174, 178, 190, 235, 241–243, 248, 257, 303, 322, 323 Vittone Bernardo (1704 – 1770) 204, 205
Waldseemüller Martin (1472 – 1520) 23 Wallot Paul (1841 – 1912) 29 Walpole Horace (1717 – 1797) 314–316 Walpole Robert (1676 – 1745) 307, 308, 311, 315 Warburg Aby (1866 – 1929) 32 Webb John (1611 – 1672) 298, 299 Welsch Maximilian v. (1671 – 1745) 290 Wilhelm III. v. Nassau-Oranien König von England (1650 – 1702) 299 Wilhelm V. v. Wittelsbach Herzog von Bayern (1548 – 1626) 143 Wilhelmine geb. Prinzessin von Preußen, Landgräfin von Brandenburg-Bayreuth (1709–1758) 43 Winckelmann Johann Joachim (1717 – 1768) 76, 322 Wittkower Rudolf (1901 – 1971) 31, 32, 36, 37, 55, 69, 119, 169, 303 Wladislaw II. Jagiello König von Böhmen und Ungarn (1456 – 1516) 121, 123 Wolff Jakob d. Ä. (1546 – 1612) 232–234 Wölfflin Heinrich (1864 – 1945) 27, 29, 30, 87 Wolmut Bonifaz (1510 – 1579) 124, 125 Wood John d. Ä. (1704 – 1754) 310–313
Personenregister
352 Wood John d. J. (1727 – 1782) 311–313 Wren Christopher (1632 – 1723) 50–52, 59, 121, 288, 298–301
Zesen Philipp v. (1619 – 1689) 247 Zimmermann Dominikus (1685 – 1766) 83, 280–282
Zimmermann Johann Baptist (1680 – 1754) 83, 279 Zuccari Federico (1542 – 1609) 153
Abbildungsnachweis akg-images: Abb. 60, 64, 75, 128 akg / Bildarchiv Monheim: Abb. 12, 61, 155 akg / De Agostini Pict. Lib.: Abb. 48 akg / euroluftbild.de: Abb. 76 akg-images / A. F. Kersting: Abb. 158 akg-images / ANA: Abb. 134 akg-images / Andrea Jemolo: Abb. 36, 37 akg-images / Erich Lessing: Abb. 66, 67, 114 akg-images / Gerard Degeorge: Abb. 79 akg-images / Gilles Mermet: Abb. 110 akg-images / Hervé Champollion: Abb. 55, 59 akg-images / James Morris: Abb. 84 akg-images / Joseph Martin: Abb. 131 Allain, Yves-Marie: L’art des jardins en Europe, de l’évolution des idées et des savoir-faire, Paris 2006: Abb. 7 Alpatov, Michail V.; Brunov, Nikolaj I.: Geschichte der altrussischen Kunst, Augsburg 1932: Abb. 73 Arasse, Daniel; Tönnesmann, Andreas: Der europäische Manierismus 1520–1610, München 1997: Abb. 10 Argan, Giulio Carlo; Contardi, Bruno: Michelangelo architetto, Mailand 1990: Abb. 85 Barral i Altet, Xavier: Geschichte der spanischen Kunst, Köln 1997: Abb. 108 Baumstark, Reinhold (Hrsg.): Rom in Bayern. Kunst und Spiritualität der ersten Jesuiten, Ausst.-Kat. München 1997, München 1997: Abb. 90 Bayerische Schlösser und Burgen. Hrsg. v. d. Bayer. Verwalt. d. staatl. Schlösser, Gärten u. Seen, München 1979: Abb. 13. Bednorz, Achim, Köln: Abb. 33, 46, 47, 53, 81, 83, 86, 106, 132, 138 Belluzzi, Amedeo: Palazzo Te a Mantova, Modena 1998: Abb. 51 Benevolo, Leonardo: Metamorfosi della città, Mailand 1995: Abb. 156 Beyer, Klaus G., Weimar: Abb. 72 Borsi, Francesco: Leon Battista Alberti, l’opera completa, Mailand 1975: Abb. 18 Boucher, Bruce: Palladio. Der Architekt in seiner Zeit, München 1994: Abb. 52 © Philippe Devanne – Fotolia.com: Abb. 57 Diathek TU Darmstadt, FG Kunstgeschichte (Altbestand): Abb. 6 Du Cerceau, J. A.: Le premier volume des plus excellents bastiments de France, Paris 1576, Nachdruck Westmead 1972: Abb. 58 Egorov, Jurij Alekseevic: The architectural planning of St. Petersburg, Athens (Ohio) 1969: Abb. 119 Evers, Bernd: Architekturmodelle der Renaissance, die Harmonie des Bauens von Alberti bis Michelangelo, München 1995: Abb. 88 Ficacci, Luigi: Piranesi, the complete etchings, Köln 2000: Abb. 27 Fiore, F. P.: Storia dell’architettura italiana. Il Quattrocento, Mailand 1998: Abb. 42 Fischer v. Erlach, Johann Bernhard: Entwurff einer historischen Architectur [...], Wien 1721: Abb. 24 Foto Marburg: Abb. 40, 68 Foto Marburg / Fotografin: Schmidt-Glassner, Helga: Abb. 56 Fotolia / Luccazitto: Abb. 30 Frommel, Christoph Luitpold: Die Architektur der Renaissance in Italien, München 2009: Abb. 44
Anhang
Giersberg, Hans-Joachim; Julier, Jürgen: Preußische Königsschlösser in Berlin und Potsdam, Leipzig 1992: Abb. 8 Günther, Hubertus: Was ist Renaissance? Eine Charakteristik der Architektur zu Beginn der Neuzeit, Darmstadt 2009: Abb. 1, 19, 21, 22, 32, 43 Hager, Werner: Architecture baroque, Paris 1971: Abb. 16 Hammerschmidt, Valentin; Wilke, Joachim: Die Entdeckung der Landschaft. Englische Gärten des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1990: Abb. 152, 153, 154 Heiberg, Steffen (Hrsg.): Christian IV and Europe, Ausst.-Kat. Frederiksborg u. a., Herning 1988: Abb. 62 Hesse, Michael: Handbuch der neuzeitlichen Architektur, Darmstadt 2012: Abb. 14, 39, 82, 102 Hesse, Michael: Klassische Architektur in Frankreich. Kirchen, Schlösser, Gärten, Städte 1600–1800, Darmstadt 2004: Abb. 129, 130, 159, 161, 162 Hoppe, Stephan: Was ist Barock? Darmstadt 2003: Abb. 4, 25, 38, 92, 94, 95, 80, 115, 116, 127, 135, 136, 144, 145, 149 http://apah.lakegeneva.badger.groupfusion. net/modules/groups/homepagefiles/49961- 87537-66022-12.jpg, 01.07.13: Abb. 89 http://en.wikipedia.org/wiki/File:Pitti_boboli_ utens.jpg, 01.07.13: Abb. 49 http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/ f/fd/Saint_Martin_in_the_Fields-1.jpg, 01.07.13: Abb. 15 http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons /6/63/Frederiksborg_Slotskirke_Hilleroed_ Denmark_interior_from_altar_portrait_wide. jpg, 01.07.13: Abb. 63 http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons /7/7b/Saint_Eustache_P1150826.jpg, 01.07.13: Abb. 65 http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons /8/8c/Dresden_frauenkirche.jpg?uselang=de, 01.07.13: Abb. 139 http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/ 9/9a/Bijbels_Museum-Amsterdam.jpg, 01.07.13: Abb. 118 Hubala, Erich: Die Kunst des 17. Jahrhunderts, Berlin 1970: Abb. 126 Imhof, Michael, Petersberg: Abb. 91, 104 iStock: Abb. 74 Jones, Inigo: The designs of Inigo Jones, Published by William Kent, with some additional designs, vol. 1. [London] 1727: Abb. 150 Kalnein, Wend: Architecture in France in the eighteenth century, New Haven 1995: Abb. 160 Keller, Harald: Das alte Europa. Die hohe Kunst der Stadtvedute, Stuttgart 1983: Abb. 117 Keller, Harald: Die Kunst des 18. Jahrhunderts, Berlin 1971: Abb. 105 Kluckert, Ehrenfried: Parcs et jardins en Europe de l’Antiquité à nos jours, Köln 2006: Abb. 31 Krause, Katharina: Die Maison de plaisance: Landhäuser in der Ile-de-France (1660–1730), München 1996: Abb. 11 Kruft, Hanno-Walter: Geschichte der Architekturtheorie von der Antike bis zur Gegenwart, München 1985, Studienausg. 1991: Abb. 3, 20, 23, 26 Lorenz, Sönke; Setzler, Wilfried (Hrsg.): Heinrich Schickhardt, Baumeister der Renaissance, Leinfelden-Echterdingen 1999: Abb. 69
Magirius, Heinrich: Die Dresdner Frauenkirche von George Bähr. Entstehung und Bedeutung, Berlin 2005: Abb. 140, 141, 142 Marder, T. A.: Bernini and the art of architecture, New York 1998: Abb. 99, 100, 101, 107 Meek, Harold Alan: Guarino Guarini and his architecture, New Haven 1988: Abb. 96, 97, 98 Millon, Henry A.: The triumph of the baroque, architecture in Europe 1600–1750, Mailand 1999: Abb. 71, 137 Naredi-Rainer, Paul von: Architektur und Harmonie. Zahl, Maß und Proportion in der abendländischen Baukunst, Köln 1982: Abb. 2 Noviega Robles, Eugenio: Mexico Colonial, Florenz o. J.: Abb. 111 Ost, Hans: Borrominis römische Universitätskirche S. Ivo alla Sapienza, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 30/1967: Abb. 93 Perouse de Montclos, Jean-Marie: Paris: Kunstmetropole und Kulturstadt, Köln 2000: Abb. 124 Petzet, Michael: Claude Perrault und die Architektur des Sonnenkönigs, München 2000: Abb. 123 Photo SCALA, Florence: Abb. 77 Photo SCALA, Florence – courtesy of the Ministero Beni e Att. Culturali: Abb. 50 picture-alliance / DUMONT Bildarchiv: Abb. 109 Rykwert, Joseph und Anne: Robert und James Adam, die Künstler und der Stil, Stuttgart 1987: Abb. 29 Satzinger, Georg (Hrsg.): Sankt Peter in Rom 1506–2006, Beiträge der internationalen Tagung vom 22.–25. Februar 2006 in Bonn, München 2008: Abb. 87 Saudan, Michel: Coupoles, Genf 1989: Abb. 17 Serlio, S.: L’architettura. I libri I–VII, hrsg. v. F. P. Fiore, Mailand 2001: Abb. 54 Sheldon Lewis, Wilmarth: Horace Whalpole, London 1961: Abb. 157 Shvidkovsky, Dmitry: Russian architecture and the West, New Haven / London 2007, Abb. 120, 121 Stadtarchiv Freudenstadt: Abb. 70 Stadtarchiv Nürnberg / Fotograf: Ferdinand Schmidt: Abb. 112 Stadtarchiv Nürnberg: Abb. 113 Strunck, Christina (Hrsg.): Rom. Meisterwerke der Baukunst von der Antike bis heute. Festgabe für Elisabeth Kieven, Petersberg 2007: Abb. 35 Toman, Rolf (Hrsg.): Klassizismus und Romantik: Architektur – Skulptur – Malerei – Zeichnung, 1750–1848, Köln 2000: Abb. 9 Toman, Rolf (Hrsg. ): Die Kunst des Barock, Köln 1997: Abb. 34 TU Darmstadt, Fachgebiet IKA des Fachbereichs Architektur, Prof. Manfred Koob: Abb. 5 Vercelloni, Virgilio: Historischer Gartenatlas. Eine europäische Ideengeschichte, Stuttgart 1994: Abb. 125 Wilton-Ely, J.: The Mind and Art of Giovanni Battista Piranesi, London 1978: Abb. 28 WBG-Archiv: Abb. 41, 45, 78, 103, 122, 133, 143, 146, 147, 148, 151 Trotz sorgfältiger Recherche ist es nicht immer möglich, die Inhaber von Urheberrechten zu ermitteln. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgeglichen.
Informationen Zum Buch - Standardwerk zur europäischen Architektur - Alle wichtigen Entwicklungen und Themen im Überblick - Herausragende Bauwerke in Einzeldarstellungen - Mit Infokästen, Zeittafel, Glossar, Bibliographie und Registern St. Peter in Rom, Schloss Versailles und die Würzburger Residenz sind nur einige Höhepunkte der frühneuzeitlichen Baukunst. Dieser Band bietet einen profunden Überblick zur europäischen Architekturgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Beginn der Moderne. Anhand von 50 beispielhaften Bauten, die als Schlüsselwerke gelten können, wird die Vielfalt der Baukunst zwischen Reformation und Revolution, Renaissance und Klassizismus, verständlich gemacht. Eine ausführliche Einführung zeichnet die historische Entwicklung nach und erhellt die kulturellen, theoretischen und politischen Kontexte. Die Bedeutung von Künstlern und Auftraggebern, Architekturtheorie und Baupraxis wird ausführlich gewürdigt. Zeittafel, Glossar und Register schaffen Übersicht und erleichtern die gezielte Suche sowie das Verständnis für Zusammenhänge.
Informationen Zum Autor Dr. Meinrad von Engelberg lehrt Kunstgeschichte an der Technischen Universität Darmstadt und koordiniert den Studiengang Architektur. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Architektur der Frühen Neuzeit.
Dr. Meinrad von Engelberg lehrt Kunstgeschichte an der Tech nischen Universität Darmstadt und koordiniert den Studiengang Architektur. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Architektur der Frühen Neuzeit.
Meinrad von Engelberg
St. Peter in Rom, Schloss Versailles und die Würzburger Residenz sind nur einige Höhepunkte der frühneuzeitlichen Baukunst. Dieser Band bietet einen profunden Überblick zur europäischen Architekturgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Beginn der Moderne. Anhand von 50 beispielhaften Bauten, die als Schlüssel werke gelten, wird die Vielfalt der Baukunst zwischen Reformation und Revolution, Renaissance und Klassizis mus verständlich gemacht. Eine ausführliche Einführung zeichnet die historische Entwicklung nach und erhellt die kulturellen, theoretischen und politischen Kontexte. Die Bedeutung von Künstlern und Auftraggebern, Archi tekturtheorie und Baupraxis wird ausführlich gewürdigt. Zeittafel, Glossar und Register schaffen Übersicht und erleichtern die gezielte Suche sowie das Verständnis für Zusammenhänge.
Die Neuzeit
Bauen als Botschaft
Die Neuzeit
wbg Architekturgeschichte
Meinrad von Engelberg
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27023-1
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Christian Freigang ist Professor für Kunst- und Architektur geschichte an der Freien Universität Berlin. Forschungs schwerpunkte sind die Architekturgeschichte des Mittelalters und des 19. bis 20. Jahrhunderts, Architekturtheorie und -wahrnehmung sowie die Geschichte der Kunstgeschichte.
Christian Freigang
Von der Französischen Revolution bis heute, vom Klassizis mus bis zur Postmoderne spannt sich der Bogen dieser Architekturgeschichte. Sie verbindet die Vorstellung promi nenter Schlüsselwerke mit einer allgemeinen Charakte ristik der historischen und baukünstlerischen Entwicklung. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Europa, doch kommen auch Beispiele von anderen Kontinenten zur Sprache. Die Einbettung der Bauten in den kulturgeschichtlichen, theo retischen und politischen Kontext ist integraler Bestandteil der Architekturbeschreibung. Materialien, Organisationen, Bauausstellungen, Denkmalpflege und Stararchitekten werden kompetent diskutiert.
Die Moderne
Die Vielfalt der Stile
Die Moderne
wbg Architekturgeschichte
Christian Freigang
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27023-1
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wbg Architekturgeschichte Herausgegeben von Christian Freigang
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Christian Freigang
Die Moderne 1800 bis heute Baukunst – Technik – Gesellschaft
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Academic ist ein Imprint der wbg. Sonderausgabe 2018 (2., unveränderte Auflage 2018) © 2015 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Redaktion: Barbara Eggert, Berlin Layout, Satz und Prepress: schreiberVIS, Seeheim Einbandgestaltung: Harald Braun, Berlin Einbandabbildung: Berlin, Neue Nationalbibliothek, Ludwig Mies van der Rohe © akg-images / Hilbich Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27023-1 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73978-3 eBook (epub): 978-3-534-73979-0
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Vorbemerkung zur Neuauflage Überblickswerke haben – selbst wenn dies im Zeichen der Nachmoderne anachronistische Züge zeigen kann – immer etwas mit Kanonisierung zu tun: Ein bestimmter Blick auf einen Gegenstand soll in praktische, lehrreiche, informative, hoffentlich originelle Form gegossen werden. Die Autoren dieser Buchreihe waren sich dieser Herausforderung schon 2013 bei der ersten Auflage bewusst. Die Nachfrage hat aber gezeigt, dass durchaus Interesse und Bedarf an diesem Versuch besteht, einen bestimmten, individuellen Zugang zu über 1000 Jahren Architekturgeschichte zu eröffnen. Wir freuen uns daher, wenn diese Sonderausgabe der anhaltenden Nachfrage entgegenkommt. Berlin, Chapel Hill und Darmstadt 2018
Vorwort des Herausgebers Die WBG Architekturgeschichte umfasst drei Bände und erläutert kompakt die bedeutendsten Entwicklungen, Hauptthemen und wesentliche Schlüsselwerke des Bauens ab ca. 800 bis heute in Europa und ausgewählten weiteren Gebieten. Der erste Band („Klöster – Kathedralen – Burgen“) umfasst das Mittelalter bis ca. 1500, der zweite („Ordnung – Erfindung – Repräsentation“) behandelt die Architektur der Neuzeit von 1450 bis 1800, also Renaissance und Barock, der dritte ist einer ‚langen‘ Moderne, also der Epoche von der Französischen Revolution bis heute, gewidmet („Baukunst – Technik – Gesellschaft“). Die Epochenschwellen – um 1500 bzw. um 1800 – folgen einer lange bestehenden und gut begründeten Einteilung der europäischen Architekturgeschichte: Vor der Neuentdeckung der antiken Säulengrammatik, dem sog. Vitruvianismus, im 15. Jahrhundert und vor der gleichzeitigen Erfindung des massenhaften Bilddrucks war das Bauen grundsätzlich anders: eine virtuos gehandhabte Technik im Dienst von Liturgie und Ritual, Verteidigung und Verkehr. Danach, im vitruvianischen Zeitalter, wurde das Bauen zu einer rhetorisch-künstlerischen Sprache, die vermittels eines universellen Kanons verstanden und bewertet sein wollte. Dies wiederum änderte sich seit 1800 in grundlegender Weise: Architektur sollte nunmehr (auch) unmittelbar wirken oder aber vielfältig ältere Stile abrufen oder neue Bautechniken gestalterisch steigern; der Vitruvianismus unterliegt seither einer grundlegenden Verdammung oder zumindest Revision. In jedem Band bildet die exemplarische Darstellung von jeweils 50 besonders signifikant erscheinenden, realisierten und erhaltenen Ensembles den Schwerpunkt. Das stellt sicherlich eine knappe Auswahl berühmter und auch
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weniger bekannter Bauten dar, ein kleiner Ausschnitt aus der immensen Geschichte des Bauens. Doch geht es darum, die faszinierende Vielzahl der Kriterien, aus denen Architektur entstanden ist und entsteht, an konkreten Gebäuden, weniger an theoretischen Entwürfen, Konzepten und Diskursen zu erfahren. Bauen heißt im Gegensatz zu den anderen Künsten immer, in die Erde einzugreifen, mit der Schwere der Materialien richtig umzugehen, auf gesellschaftliche und politische Gegebenheiten zu reagieren und nicht zuletzt: omnipräsent zu sein, unübersehbar, wunderschön oder auch störend und beunruhigend, der Pflege wie der Kommentierung bedürftig. Das ist die Besonderheit von Architektur als kulturellem Faktor, und deswegen bilden hier hauptsächlich konkrete Bauten den Ausgangspunkt, Bauten, an denen beispielhaft größere und theoretische Zusammenhänge erläutert werden: Was etwa sind die Vorteile des Spitzbogens, warum benötigt ein Herrscher ein Schloss, kann und soll Architektur ‚sprechen‘, in welchem Zusammenhang können Philosophie und Architektur stehen? Die Beschreibung der Schlüsselwerke folgt prinzipiell einer chronologischen Ordnung, ohne dass beabsichtigt ist, hier eine kontinuierliche Entwicklungsgeschichte in allen Verästelungen vorzulegen. Deren Grundzüge sind gleichwohl in einem eigenen Kapitel ausgeführt, ebenso wie Erläuterungen zu essentiellen Themen der Architekturtheorie sowie zur Entwicklung der Erforschung der Architekturgeschichte. Wichtige Einzelthemen, zum Beispiel zur Bautechnik, den Säulenordnungen, der Architektenausbildung, zu Baugattungen und Vermittlungsmedien, sind in separaten Themenblöcken dargestellt. Querverweise sorgen dafür, dass sich die Kenntnisse vertiefen und erweitern lassen. Die Texte können also auch auswahlweise und springend gelesen werden. Literaturverweise ermöglichen es, Weiteres zu den Themen in Erfahrung zu bringen. Zeittafel und Register tragen zur praktischen Benutzbarkeit der Bände bei. Die Absicht der Autoren, allesamt Hochschullehrer im Bereich der Architekturgeschichte, ist es, nicht Altbekanntes vorzutragen, sondern neuere Erkenntnisse in ihre Texte einfließen zu lassen. Insofern beansprucht die WBG Architekturgeschichte, ein faszinierendes Thema aktuell und angemessen übergreifend zu überblicken: intensiv, ohne zu überborden; vielfältig, ohne beliebig zu sein; unterhaltsam, ohne ins Oberflächliche zu gleiten; originell, ohne Einseitigkeit zu forcieren; didaktisch, ohne belehrend zu wirken. Sie wendet sich an alle, die an der Geschichte der Architektur interessiert sind oder beruflich mit ihr zu tun haben. Berlin, im Mai 2013 Christian Freigang
Vorwort des Herausgebers
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Inhalt Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Geschichte der Geschichten der Architektur 1800 – 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Die Erfindung der Stile und der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Die Industrialisierung der Architektur: Materialien und Technologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Architektur und Emotionen: Wahrnehmungskriterien der Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
II. Grundzüge der Architektur 1800 bis heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
Sentiment und Vernunft: Landschaftsgarten und griechische Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft: Vom Historismus zur Eisenarchitektur . . . . . . . . . . . . 31 Großstadt und Landschaft nach 1850: Die Entstehung des Urbanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Um 1900: Architektur als Gesamtkunstwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Genese der Avantgarden im Ersten Weltkrieg: Die europäische Illusion des Neubeginns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Alternativen der Moderne: Pluralismus der Baustile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Bauen in Diktaturen: Architektur als Teil des Totalitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Neuanfänge und Kontinuitäten nach 1945: Wiederaufbau und Kritik der Moderne . . . . . . 64 High Tech und Partizipation: Utopien und Konsequenzen der Großtechnik . . . . . . . . . . . . . 70 Was ist Architektur? Bauen und Poststrukturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Themenblock · Medien der Architekturvermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Architekturtheorie 1800–2000: Vom ‚sprechenden‘ zum ‚fiktionalen‘ Bauen . . . . . . . . . . . . 79
III. Schlüsselwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |1| Wörlitzer Anlagen bei Dessau: Der Garten als Ort des Stilpluralismus . . . . . . . . . . . . |2| Die Saline von Chaux in Arc-et-Senans:
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Die Idealstadt der architecture parlante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
|3| Monticello und Virginia University: Beginn der Architektur in den USA . . . . . . . . . . . |4| Das Alte Museum in Berlin: Das Museum als neue Bauaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . .
109 113
8
Themenblock · Die Öffentlichkeit als Bauherrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
|5| |6| |7| |8| |9| |10|
Residenz und Ludwigstraße in München: Der Historismus des Auftraggebers . . . . 119 Houses of Parliament in London: Architektur und Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Erstes und zweites Hoftheater in Dresden: Wege der Neorenaissance . . . . . . . . . . . . 127 Bibliothèque Ste-Geneviève in Paris: Stein und Eisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Crystal Palace in London: Typisierung und Weltausstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Gare du Nord in Paris: Bauaufgabe Schienenverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
Themenblock · Architektenausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |11| Red House in Bexleyheath: Handwerklichkeit als Reformprogramm . . . . . . . . . . . . . . |12| Die Opéra in Paris: Selbstdarstellung des Großbürgertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145 146 150
Themenblock · Die Entstehung der modernen Denkmalpflege . . . . . . . . . . . . . . . . 154
| 13| | 14| |15| |16| |17| |18|
Die Wiener Ringstraße: Umbau einer Kapitale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Der Justizpalast in Brüssel: Hypertrophes Staatssymbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Galleria Vittorio Emanuele II in Mailand: Tempel des Konsums . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Die Mietskaserne in Berlin: Massenwohnbau und Industrialisierung . . . . . . . . . . . . 169 Guaranty Building in Buffalo: Die Geburt des Wolkenkratzers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Das Bayerische Nationalmuseum in München: Stilvielfalt als museologisches Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
| 19| Maison Horta in Brüssel: Dekoration des Lebens im Art nouveau . . . . . . . . . . . . . . . . |20| Das Postsparkassenamt in Wien: Ästhetik des Bekleidens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
180 184
Themenblock · „Ornament und Verbrechen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
| 21| | 22| | 23| |24| |25| |26| | 27|
Die Garnisonkirche in Ulm: Liturgiereform und sakrales Bauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Gartenstadt Hellerau bei Dresden: Die Gartenstadt als Reformbewegung . . . . . . . . 194 Die Turbinenhalle der AEG in Berlin: Der Werkbund und die Industrie . . . . . . . . . . . 199 Robie House in Chicago: Die Suche nach einem Stil der USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Das Théâtre des Champs-Elysées in Paris: Klassik und Betonarchitektur . . . . . . . . . . 208 Die Stadtbibliothek in Stockholm: Das Potenzial der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Une Ville contemporaine: Le Corbusier als Urbanist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Themenblock · Organisationen und Interessenverbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
|28| Haus Schröder-Schräder in Utrecht: Abstrakte Komposition im Raum . . . . . . . . . . . . |29| Zweites Goetheanum in Dornach: Anthroposophie und Expressionismus . . . . . . . . .
|30| Berliner Wohnsiedlungen: Wohnungen für den ‚neuen Menschen‘ . . . . . . . . . . . . . . Themenblock · Bauausstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . | 31| Bauhausarchitektur in Dessau: Synthese des Neuen Bauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |32| Das Verwaltungsgebäude der IG Farben in Frankfurt: Repräsentatives Bauen für die Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |33| Haus Schminke in Löbau: Organische Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt
221 226 230 235 237 242 247
9
| 34| Casa del Fascio in Como: Modernes Bauen im faschistischen Italien . . . . . . . . . . . . . | 35| Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg:
251
Staatsarchitektur im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
| 36| Kaufmann Desert House in Palm Springs: Life style in der Nachkriegsmoderne . . . | 37| Die Unité d’habitation in Marseille: Umsetzung der Charta von Athen . . . . . . . . . . . |38| Stalinallee und Hansa-Viertel in Berlin:
Wiederaufbau im Wettbewerb der Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . | 39| Torre Velasca in Mailand: Die Wiederentdeckung der historischen Stadt . . . . . . . . . |40| Seagram Building in New York: Wolkenkratzer und corporate identity . . . . . . . . . . . .
260 263 267 273 276
Themenblock · Architekten-Rollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
| 41| | 42| |43| |44| |45| |46| |47| |48| | 49| |50|
Technische Universität Otaniemi/Espoo: Landschaft und moderne Architektur . . . . 281 Brasília, Stadtanlage und Parlamentsbau: Eine Hauptstadt als Staatssymbol . . . . . 285 Rundfunk- und Pressezentrum in Kofu: Prozesshafte Großform . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Haus der Nationalversammlung in Dhaka: Monumentalität und Moderne . . . . . . . . 293 Die Wallfahrtskirche in Neviges: Formsuche im Sakralbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Das Olympiazentrum in München: Ökologie und sanftes Bauen . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Centre Beaubourg in Paris: Pop und High Tech . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Die Neue Staatsgalerie in Stuttgart: Strategien der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Jüdisches Museum in Berlin: Dekonstruktion und Fragmentation . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Das 21. Jahrhundert: Positionen der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
IV. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Register der Bauten und Stadtanlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
Inhalt
I. Einleitung
Geschichte der Geschichten der Architektur 1800 – 2000
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ie Architekturgeschichte des 19. und 20. Jh.s hat lange gebraucht, bevor sie sich selbst historisch reflektierte. Das lag daran, dass noch bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts das 19. Jh. als die Epoche der Dekadenz, der beliebigen Vielfalt und des lügnerischen Prunks galt und die Kontrastfolie für die Avantgarden seit dem Anfang des 20. Jh.s bildete. Einer solch negativ verorteten Epoche konnte kaum die Ehre einer profunden historischen Darstellung angetan werden. Auch für konservative Kunsthistoriker blieb lange die Architekturmoderne des 20. Jh.s fremd, ja sie unterlag weiterhin der populären Verdammung, die ihr seit den 20er Jahren entgegen gebracht wurde und die auch nach 1945 – trotz ihrer allgemeinen Rehabilitation in der Bundesrepublik als anti-nationalsozialistisches, demokratisches Bauen – vielfach weiterbestand. Diese Verurteilung galt ebenso im Osten Deutschlands, wo bis in die 60er Jahre die ‚westliche‘ Moderne als imperialistisch kritisiert werden konnte. – So ist es nicht unverständlich, dass es lange nur vereinzelte historische Gesamtdarstellungen gibt. Immerhin erschien 1915 und 1917 im „Handbuch der Kunstwissenschaft“ eine sehr knappe, expressionistisch-volkspsychologisch argumentierende Darstellung der Zeit ab 1800 (Griesbach 1915, Burger 1917). Gustav Adolf Platz veröffentlichte schon 1927 eine detaillierte Gesamtdarstellung der Architekturgeschichte seit 1900 als Ergänzungsband der „Propyläen-Kunstgeschichte“ (Platz 1927), ließ aber bezeichnenderweise das 19. Jh. aus. Den eigentlichen Ausgangspunkt der Geschichtsschreibung des Bauens des 19. und 20. Jh.s bildete Nikolaus Pevsners „Pioneers of the Modern Movement from William Morris to Walter Gropius“ von 1936 (Pevsner 1936), 1949 neu unter dem Titel „Pioneers of Modern Design“ herausgegeben. Die englische Arts-and-Crafts-Bewegung wurde hier zusammen mit der Industrialisierung zum Generator eines neuen zeitgenössischen Stils. Pevsner schrieb als Kunsthistoriker, der seine eigene Gegenwart – die Studien zu dem Buch entstanden schon vor seiner Emigration aus Deutschland nach England – historisch ‚ableiten‘ wollte. Das ist insofern bemerkenswert, als Berufskollegen wie Hermann Beenken und Hans Sedlmayr zur selben Zeit dem 19. Jh. insbesondere mangelnde Einheit und Größe attestierten – mit dekadentistischer, nationalsozialistisch gefärbter Note.
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Im Weiteren entstanden historische Gesamtdarstellungen, die aus den Blickwinkeln von Protagonisten der Moderne verfasst waren. Für mehrere Jahrzehnte wurde Sigfried Giedions „Space, Time and Architecture: The Growth of a New Tradition“ (Giedion 1941), 1941 in den USA erstveröffentlicht, zur Bibel sämtlicher Architekturstudenten. Die Moderne hatte sich hiermit eine historische Legitimation gegeben, erschien nicht weiter wie in den Avantgardediskursen der 20er Jahren als der deus ex machina zur Erneuerung des Bauens. Diese fast zwanghafte Traditionsbildung wird vor allem daran deutlich, dass Giedion die Entwicklung der Architektur eng mit derjenigen der Malerei parallelführt und daraus eine notwendige Entwicklung insbesondere zu den Architektursprachen von Le Corbusier und Alvar Aalto ableitet. Bruno Zevi, als Architekturkritiker ebenfalls engstens in die Diskurse um eine aktuelle ‚organische Architektur‘ involviert, legte 1950 eine detaillierte Gesamtdarstellung vor (Zevi 1950), in der als Star nunmehr Erich Mendelsohn auftrat. Henry-Russell Hitchcocks Überschau über das 19. und 20. Jh. von 1958, eigentlich eine etwas eintönige Geschichte von stilistischen Filiationen (Hitchcock 1958), stellte zum ersten Mal die Bedeutung der USA heraus. Wenig später las Reyner Banham, auch er intensiv in der damals aktuellen Diskussion um den Brutalismus engagiert, in „Theory and Design in the First Machine Age“ (Banham 1960) die Moderne als Geschichte ihrer technischen Herausforderungen. Die bis heute anspruchsvollsten Überschauen bieten Leonardo Benevolo (Benevolo 1960) sowie Manfredo Tafuri und Francesco Dal Co (Tafuri/ Dal Co 1967), jener wegen der Umfassendheit, mit der auch der Städtebau einbezogen ist, diese aufgrund ihrer methodischen Perspektivierung. Die Architekturgeschichte des 19. und 20. Jh.s wird hier in marxistischer Perspektive in Bezug auf das Kapital und die Produktionsbedingungen dargestellt und daraus Kritik an einer Moderne abgeleitet, die sich dieser gesellschaftlichen und politischen Bezüge nicht immer klar war. Unter den Überschauen seit den 80er Jahren (Frampton 1980, Colquhoun 2002) wendet sich insbesondere die globale Architekturgeschichte von Spiro Kostof (Kostof 1985), von der sich der dritte Band dem 19. und 20. Jh. widmet, in gewisser Weise von einer Erfolgsgeschichte der großen Namen ab, um dagegen auch unspektakuläre soziologische und urbanistische Entwicklungen ins Feld zu führen. Derartige Kontextualisierungen finden sich auch in den jüngsten Überblicken über das 19. Jh. (Bergdoll 2000) und das 20. Jh. (Cohen 2012), wo die Architekturgeschichte mit der Veränderung von Wahrnehmungsweisen und Weltdeutungen bzw. von Mentalitäten zusammengeführt ist. Seit kurzer Zeit ist zu Recht auch die jüngere Vergangenheit – die Architektur der 1960er und 70er Jahre – in den Blickwinkel der historischen Erforschung gerückt worden. Der folgende Extrakt aus einer Architekturgeschichte im betreffenden Zeitraum muss selektiv verfahren: ‚Große Erzählungen‘ oder gar der Versuch, ungebrochen fließende Entwicklungsströme nachzuzeichnen, sind verdächtig bzw. unmöglich geworden. Gemäß dem Untertitel des Buches sollen aber – implizit gesetzte – Akzente auf die Kriterien des künstlerischen Status von Bauwerken und ihrer Wahrnehmung sowie der technologischen und soziologischen Bedingungen gelegt werden. Bewusst ist die Geschichte der Architekturtheorie in einem eigenen Kapitel (vgl. S. 79 – 98) skizziert: Wenngleich sie auch vielfältig in die Praxis der baulichen Gestaltung verwoben ist, so geht es in diesem Buch doch nicht darum, Architekturgeschichte primär auf ihren gedanklichen Konzeptualisierungen aufzubauen, sondern konkrete Realisierungen in den Vordergrund zu stellen.
I. Einleitung
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Die Erfindung der Stile und der Geschichte
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war wird bereits seit der zweiten Hälfte des 20. Jh.s die Untergliederung der Geschichte in aufeinander folgende, klar abgrenzbare Epochen kritisch hinterfragt, doch bildet gleichwohl die Erfindung der Geschichte und – als Ableitung davon, der Stile – die Grundlage der historistischen Architektur des 19. Jh. und damit als Negativfolie auch der Moderne. Dass die Weltenläufe chronologisch und kausal als ‚Geschichte‘ zu fassen sind, ist erst ein Deutungsansatz der späten Neuzeit. Zwar gab es davor bereits Chroniken, Genealogien, Biographien und erzählende Mythen, doch waren diese in hohem Maße unabhängig voneinander und beruhten auf unterschiedlichen Vorstellungen davon, wie historische Abfolgen zu verstehen seien – etwa als Nacheinander von Anekdoten oder als göttliches Wirken. Erst in der Mitte des 18. Jh.s werden diese ‚Einzelgeschichten‘ zu dem sog. Kollektivsingular ‚der Geschichte‘ gebündelt, dabei kritisch geprüft und wissenschaftlich untersucht. Ein beobachtendes Subjekt deutet und interpretiert Geschichte mit einem ausgefeilten Instrumentarium, mit dem etwa eine gefälschte von einer echten Urkunde unterschieden werden kann, und somit eine ‚wahre‘, ‚richtige‘ Rekonstruktion historischer Abläufe zu ermitteln ist. Prinzipiell liegen hierbei komplexe, aber rational zu ermittelnde kausale Begründungsmuster zugrunde, um das Voranschreiten der Geschichte zu erklären. Zunehmend wird Geschichte als eine absolute, für sich selbst existierende Kategorie begriffen, was sich auch heute noch in Wendungen wie „die Geschichte wird zeigen“ oder „die Geschichte verlief“ ausdrückt. Das bedeutete vor allem, dass die Geschichte nicht mehr an Herrscherfiguren oder göttliches Wirken gebunden war, sondern einen komplexen, von Menschen produzierten Gesamtzusammenhang darstellte. Hierbei kann man vielerlei Einzelaspekte isoliert fokussieren und in eine Entwicklungsperspektive stellen: die Geschichte der Kunst, die Geschichte der Architektur oder die Geschichte einzelner Völker, Nationen oder Regionen. Geschichte soll nach der Auffassung des 19. Jh.s auch moralisch und politisch wirken, Anleitungen für gutes und richtiges Handeln bieten. Die Annahme eines gemeinsamen, weit zurückreichenden historischen Schicksals stellt denn auch eine wichtige Bedingung zur Ausbildung von Nationalstaaten im 19. Jh. dar. Dies wiederum macht verständlich, warum die Geschichtswissenschaften in dieser Zeit eine zentrale Rolle innerhalb der universitär vermittelten Geisteswissenschaften spielen: Es ist die Epoche des Historismus |▶ 4, 5, 12, 13, 18|. Dieser Optimismus ändert sich zwar gegen Ende des 19. Jh.s, als sich herausstellt, dass Geschichte kaum direkte Anweisungen für das Heute geben kann und auch ihre Erforschung ein mühevolles, ‚verstaubtes‘ Gewerbe ohne konkreten Bezug zur Gegenwart sein kann. Seit den sechziger Jahren des 20. Jh.s werden auch zunehmend die Gültigkeiten von ‚großen Erzählungen‘ (z. B. des Marxismus) in Frage gestellt und Geschichte als eine individuell erdachte Konstruktion, Fiktion oder Simulation begriffen |▶ 48|. Trotzdem vermittelt die Geschichte auch heute noch die grundlegende Erkenntnis, in einem unendlich komplexen und prinzipiell kausalen, also nicht etwa göttlich vorbestimmten, System zu leben.In diesem Zusammenhang spielt für die Architekturgeschichte auch der Begriff des Stils eine zentrale Rolle. Aus stylus, dem Handgriffel, abzuleiten, bedeutete Stil ursprünglich eine bestimmte persönliche Ausdrucksweise oder Redeebene, seit dem 16. Jh. auch regional unterschiedlich zu fassende,
Die Erfindung der Stile und der Geschichte
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in sich vergleichbare künstlerische Idiome. Später, und bis heute, bezieht man den Begriff auch auf Bekleidung, Einrichtungsensembles, Konsumgegenstände, Gastronomietraditionen und Geschmackskulturen. Als seit dem 18. Jh. die Bedeutung der Geschichte wie auch die Kenntnis historischer Architektur zunimmt, dient Stil vor allem auch zur Bezeichnung bestimmter Epochen, in denen die äußeren Merkmale der Bauten insgesamt jeweils vergleichbar erscheinen. So entsteht, teilweise kontrovers und mit unterschiedlichen Benennungen und national unterschiedlich diskutiert, eine Kunst- und Architekturgeschichte, die sich lückenlos in eine Abfolge von Stilen einteilen lässt. Im Deutschen am geläufigsten sind Romanik, Gotik, Renaissance, Barock, Rokoko, Klassizismus. Diese Grobeinteilungen können auch nach Früh-, Hoch- und Spätzeiten, Herrschernamen oder Regionen differenziert werden (‚Frühgotik‘, ‚Hochbarock‘, ‚Louis XV.‘). Entscheidend dafür, dass die Stile im 19. Jh. als Zeichensystem der Architektur so wichtig wurden, war aber die Vorstellung, dass sie für jede Epoche spezifisch seien und überdies die damaligen Mentalitäten und sozialen Gegebenheiten vollständig zum Ausdruck brächten. Überspitzt gesagt, sei Nordfrankreich im 12. Jh. einheitlich durch die Frühgotik geprägt, und dies verkörpere die aufstrebende französische Monarchie, die deutsche Renaissance war angeblich der typische Stil des Bürgertums, und das antike Bauen Griechenlands zeuge von der Geburt der Zivilisation. Somit standen vielfältige Bezugnahmen zur Verfügung, die auch gezielt miteinander kombiniert werden konnten. Die Prämisse jedoch, dass Stil immer ein notwendiger Ausdruck einer einheitlichen Epoche gewesen sei, legte um 1900 auch den Keim zu einer fundamentalen Kritik am architektonischen Historismus und an der Gegenwart. Denn wenn alle historischen Epochen sich deutlich und einheitlich in ihren jeweiligen Stilen vermittelt hatten, wo blieb dann der eigene, aktuelle Stil? Dieser musste um jeden Preis gefunden werden und rechtfertigte, dem Historismus seit ca. 1900 eine radikale Absage zu erteilen |▶ 19, 20, 27, 28|. In einem Zeitalter, das massiv durch neue Technologien und ihre industrielle Umsetzung geprägt war, trat nun vielfach Baumaterial und Bautechnik als das neue Paradigma einer zeitgemäßen Architektur in Erscheinung.
Die Industrialisierung der Architektur Materialien und Technologien
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n der Tat bildeten technische Entwicklungen eine der wesentlichen, unabdingbaren Voraussetzungen für die radikalen Veränderungen in der Geschichte der Architektur während des 19. Jh.s. Hierbei sind vor allem die massenhafte Verwendung von Metall, speziell Eisen und Stahl, sowie die Technik des Stahlbetons von entscheidender Bedeutung, die die Bauformen genauso betreffen wie die Produktionsweisen und grundsätzlichen Auffassungen von Architektur. Aus solchen Gründen ist die Geschichte der modernen Architektur früher gerne als eine Reaktion auf technologische Entwicklungen dargestellt worden. Das ist zwar etwas einseitig, doch müssen zum Verständnis des Bauens seit etwa 1850 die grundsätzlichen Merkmale der Eisen/Stahl- wie der Betonkonstruktion benannt werden, welche die traditionellen Bauweisen in Stein, Backstein und Holz ersetzten. Bei der Eisen-
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□ 1 Walzprofile und Nietverbindungen einer Eisenkonstruktion (Markthalle in Breslau von R. Plüddemann, E. 19. Jh.)
architektur bildet ein Metallskelett das konstruktive Grundgerüst, das etwa mit Backstein oder Glas ausgefacht oder mit verschiedenen Materialien verkleidet wird oder auch für sich stehen kann (Brückenbau, Eiffelturm, □ 15). Im Unterschied zum Steinbau entsteht ein Gebäude nicht durch allmähliches Aufschichten, sondern durch die Montage von industriell und vorab produzierten, vorwiegend Zugspannungen aufnehmenden Standardelementen (|▶ 9|, □ 1). Deren Produktion war erst seit der Zeit um 1800 möglich. Zwar gab es schon in Antike und Mittelalter handgeschmiedete Eisenklammern und Anker, doch waren diese nicht standardisiert und exakt berechenbar herzustellen. Roheisen, das Primärprodukt beim Schmelzen von Eisenerzen und dem Reduktionsmittel Koks oder Kohle, konnte zwar in Standardformen gegossen werden, war aber wegen seiner Sprödigkeit nur wenig auf Zugspannung zu belasten. Erst die Reduzierung des im Roheisen enthaltenen Kohlenstoffs (von 2,5 – 4 % auf unter 1,7 %) ermöglichte die Herstellung von schmiede- und vor allem walzbarem Stahl. Dies geschah seit 1776 durch das Puddelverfahren, bei dem hoch erhitzte Luft in das flüssige, ständig umgerührte Roheisen geblasen wurde. Seit Mitte des 19. Jh.s konnte mit der Entwicklung der Bessemerbirne die Stahlproduktion nochmals verbessert werden. Für die Stahlproduktion in industriellem Maßstab war also das Vorkommen von Eisenerzen und Kohle, zudem aber von Holz als Brennmaterial wichtig. Ebenso entscheidend war aber auch die Entwicklung von Walzverfahren seit dem späten 18. Jh., mit deren Hilfe gleichsam endlose Eisenprofile in gleichmäßiger Qualität produziert werden konnten. Die T-, I- und Doppel-T-Walzprofile bilden die Grundelemente der meisten historischen Stahlbauten. Diese Profilierungen verhindern bei weitgehender Material- und Gewichtsreduktion Belastungsverformungen, sie bieten aber auch genügend gerade Flächen zur einfachen Anbringung weiterer Trägereinheiten. Dies wurde bis in die erste Hälfte des 20. Jh.s mit Nieten oder Schrauben bewerkstelligt. Für diese mussten
Die Industrialisierung der Architektur
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sämtliche Löcher schon vor der Montage exakt berechnet und gebohrt sein (□ vgl. 1). Seit ca. 1930 kam auch das Lichtbogenschweißverfahren auf den Baustellen zum Einsatz. Bei dem zuvor meist angewandten Gasschmelzschweißverfahren wurden die Nähte temporär so geschwächt, dass sein Einsatz am Bau nicht möglich war. – Stahl als Baumaterial ist verhältnismäßig leicht, doch kann er industriell in Standardformen vorgefertigt und auch über weite Strecken transportiert werden. Zur Montage sind oftmals keine gesonderten Gerüste vonnöten, der Bau scheint gleichsam von selbst zu wachsen. Die hervorragenden Trägereigenschaften erlauben kühne, weitspannende Konstruktionen. Allerdings schwindet die Stabilität bei großer Hitze rapide, weswegen es im 19. Jh. immer wieder zu spektakulären Brandkatastrophen kam, bei denen die Stahlskelette weich wurden und in sich zusammensackten. Überdies eignet Eisen und Stahl als Baumaterialien nicht nur eine ‚schmutzige‘, rostende bzw. banale Oberfläche, den Skelettkonstruktionen fehlt auch die Körperlichkeit und plastische Kraft, die in der Auffassung des 19. Jh.s die essentiellen Kriterien waren, um eine künstlerisch wirksame, vom Licht modellierte Außenhülle zu kreieren |▶ 9|. Die frühe Kritik an der Eisenkonstruktion betraf aber auch ihre markante Technizität und die scheinbare Auflösung der Gattungsgrenzen (vgl. S. 36 und □ 15). Ein ausgiebiger und komplizierter Rechenprozess mit zahlreichen Parametern stand am Anfang des Entwurfs, nicht mehr eine künstlerische Idee. Zudem war das Grundmaterial der gewalzten Stahlprofile mit demjenigen von banalen technischen Apparaturen identisch: Eisenträger und Eisenbahnschienen sind grundsätzlich dasselbe |▶ 10|. Diese mangelnde Körperlichkeit hat die Betonkonstruktion nicht, die heute die am häufigsten angewandte Bautechnik ist (ital. cimento armato oder calcestruzzo armato; franz. béton armé; engl. concrete). Es handelt sich um eine Verbundbautechnik, bei der die Vorteile des auf Druck belastbaren (Kunst)Steins mit denjenigen der auf Zug belastbaren Stahlkonstruktion miteinander kombiniert werden. Das Eisen wird als innere Bewehrung innerhalb eines vielfältig formbaren Gemenges von Bindemitteln (Zement) und Zuschlagstoffen (Kiesel, Bims etc.) verwendet. Diese werden, mit Wasser vermischt, in flüssigem Zustand in vorab erstellte Negativformen der Konstruktion, die sog. Schalung gegossen oder gar gespritzt. Das Wasser wird in der entstehenden Hydratisierung gebunden, der gelöschte Kalk härtet unter Sauerstoffaufnahme aus, so dass insgesamt ein Kunststein entsteht, der innen armiert ist. Eisen/Stahl und die Zementmasse verbinden sich innig miteinander und weisen überdies denselben Wärmeausdehnungskoeffizienten auf, so dass sie bei Temperaturschwankungen identisch reagieren. Erfunden wurde die Technik in der Mitte des 19. Jh.s (François Coignet, Joseph Lambot, Joseph Monier), und zwar zunächst zur Herstellung von Kübeln und Boten, in deren Zementwände Drahtgitter eingelegt waren. Seit dem Ende des Jahrhunderts wurde die Technik in zahlreichen Abwandlungen weiterentwickelt, bald entstanden weltweit agierende Betonunternehmen wie François Hennebique, Wayss & Freytag u. a. Meist handelte es sich bei den Bauten um fachwerkartige Skelettkonstruktionen aus geraden Balken, die aus einfachen Verschalungen mithilfe von Brettern entstanden (□ 2, |▶ 25|). Der Betonbau hat viele Vorteile, denn außer seiner Tragund Bruchfestigkeit sowie seiner Härte ist er absolut feuersicher. Er kann schnell und höchst wirtschaftlich errichtet werden, hat zudem eine lange Lebensdauer bei insgesamt geringem Pflegeaufwand. Zudem können mit ihm standardisierte Einzelteile hergestellt werden, etwa Decken- und Balkenplatten, Hohlsteine, Wabenformen, Gewölbeelemente
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usw. Vor allem aber handelt es sich ästhetisch um einen plastisch-körperlichen Baustoff, der sogar nachträglich auf der Oberfläche bearbeitet werden kann. Je nach Zuschlägen können auch Farbigkeit und Musterung reichhaltig variiert werden, aufgrund des Grundstoffes Zement hat er aber eine grundsätzlich graue Tönung. Die Formen des Kunststeins sind wesentlich von den Schalungsformen abhängig. Diese selbst können prinzipiell sehr variabel sein, denn sie sind konstruktiv nicht wirksam |▶ 29, 39, 45|. Die aus □ 2 Schema eines Betontragewerks nach F. Hennebique ihnen gebildete Positivkonstruktion bildet in(um 1900) dessen eine monolithische Einheit, die in sich stabil und weder geschichtet noch montiert ist. All das ist präzise vorherberechenbar und entsprechend optimierbar. Beim Spannbeton, insbesondere für weit spannende Balken angewandt, werden die Zugspannungen der Armierung vor dem Verguss simuliert, um eine ideale Position der Stahlkerne zu garantieren. Ähnlich wie im Fall der Eisen- und Stahlkonstruktionen eignet dem Beton eine breite Einsetzbarkeit, denn er wird im Tief- wie im Hochbau eingesetzt. Da er im 19. Jh. lange für banale Konstruktionen verwendet wurde und die Grundfarbe Grau mit lebloser Neutralität assoziiert wird, haftete dem Beton lange der Makel des Unkünstlerischen an |▶ 25|. Vor allem aber gibt es keine natürlich sich aus dem Beton ergebende konstruktive Urform (wie etwa die aus Baumstämmen gefertigte Blockhütte), so dass es schwierig ist, eine ‚richtige‘, weil konsequent materialgerechte Betonkonstruktion zu benennen.
Architektur und Emotionen Wahrnehmungskriterien der Architektur
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ie Geschichte der modernen Architektur ist unter vielen Blickwinkeln beschrieben worden: als Überwindung einer moralisch bedenklichen Dekorationsarchitektur in Richtung auf eine ‚wahre‘ Baukunst, als Umsetzung neu entwickelter Techniken und Produktionsverfahren (vgl. S. 11 f.) oder als Erfüllung sozialer Aufgaben. Bis vor kurzem wurde kaum beachtet, dass Architektur, gerade in dem hier behandelten Zeitraum, auch die Aufgabe hat, in verschiedenster Weise auf Gemüt und Psyche zu wirken. Architektur nimmt insofern Einfluss auf eine in Öffentlichkeit agierende und kommunizierende Gesellschaft. Dies setzt schon im 18. Jh. ein, als wirkungsästhetische Ziele aus der Gartenkunst auf das Bauen übertragen werden. Insbesondere die Theorieentwürfe von Germain Boffrand, Jacques François Blondel und Nicolas Le Camus de Mézières ordnen der Architektur psychologische Wirksamkeit – zwischen den Gefühlen von Freude, Ernsthaftigkeit, Trauer, Schrecken und Erschaudern – zu. Daran knüpft unmittelbar Étienne-Louis Boullée am Ende des 18. Jh.s mit seinen Entwürfen an (von Engelberg 2013, S. 323 – 326), die das Ziel haben, die
Architektur und Emotionen
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erhabenen Naturwirkungen in der Architektur „ins Werk zu setzen“. Diese spätaufklärerische Ästhetik der Leidenschaften wirkt unmittelbar auch auf die deutsche Architekturdebatte. Im 19. Jh. findet sich die psychologische Wirkqualität indessen weniger prägnant begrifflich formuliert; die theoretische Literatur ist stark durch rationalistische Ansätze (Rolle von Konstruktion und Material) geprägt. Gleichwohl finden die psychologischen Kriterien in hohem Maße Eingang in die architektonische Praxis und Wahrnehmung. Begriffe wie Fröhlichkeit, Ernsthaftigkeit, Gelassenheit, Bedrückung, Erhebung usw. finden sich vielzahlig in Kritiken oder in Wettbewerbs- und Preisurteilen, unterschwellig aber z. B. auch im zentralen Kunsttraktat des französischen 19. Jh.s, in Charles Blancs „Traité des arts du dessin“ (1867). Vor allem aber berührt auch der in der ersten Hälfte des 19. Jh.s um die Frage der Farbigkeit der antiken Architektur in ganz Europa ausgetragene Streit die Frage nach der emotionalen Wirkung der gebauten Umgebung |▶ 12|. Was die Baupraxis angeht, so sind nur auf der Grundlage einer derartig weiterwirkenden psychologischen Ästhetik der Architektur die bewusst emotionslosen Häuserfassaden der Pariser Straßenregulierung unter dem Präfekten Haussmann einerseits wie die Dramatisierung architektonisch-psychologischen Erlebens in der Pariser Oper andererseits zu verstehen |▶ 12|. Farben, Materialien, Raumdispositionen und -abfolgen sind hier als empathische Inszenierungsmittel eingesetzt. Umgekehrt ist zu beachten, dass gezielt strenge Architekturen implizit auf die bürgerliche Maxime der ‚Sittlichkeit‘ als Gegenposition zu unkontrollierbaren Affektinduktionen zielen. Überspitzt formuliert stellt sich die bürgerliche Stadt des 19. Jh.s als eine regelrechte Topographie der Emotionenerzeugung, -konditionierung und -repression dar: Ernsthaftigkeit qua Bauten der Bildung, seelische Erbauung in der Kirche, Ausgelassenheit im Zirkus, Niedergeschlagenheit vor dem Gefängnis, Trauer auf dem Friedhof usw. Ende des 19. Jh.s entwickeln sich die Einfühlungsästhetik, die Psychophysik und die Psychologie zu eigenen Wissenschaften, die insgesamt die affektive Stimulierung der Psyche als Wahrnehmungsinstanz untersuchen. Solche Ansätze spielen sodann seit dem Ende des 19. Jh.s im Bauen, gerade auch des Jugendstils, eine zentrale Rolle |▶ 19|. Ziel des Architekten ist es, über seine Innenräume und Fassaden verschiedenartige Stimmungen zu erzeugen. Das wird vor allem im Privathausbau, in der Theater- und der Denkmalsarchitektur sowie im Kirchenbau wirksam. Den Hintergrund dafür bildet der Anspruch, dass Architektur nicht länger dadurch zu verstehen sei, dass man – mit entsprechendem Bildungshintergrund – Stile ‚erkennt‘ und allegorische Dekorationen dechiffriert. Im Gegenteil sollen die Bauten unmittelbar auf die Seele eines jeden wirken. Darin liegt aber gleichzeitig der Keim der radikalen Erneuerungsbestrebungen in der Architektur kurz nach 1900: Seelische Affizierung wird nun vielfach als emotionale ‚weibliche‘ Verführung durch Architektur abgewertet und diesem eine positiv verstandene ‚männlich‘-objektive Schönheit als Ideal guter Baukunst entgegengesetzt |▶ 25|. Die im Zusammenhang der Jugendstilkritik deutlich werdende Polarisierung zwischen Emotion und Ratio als entscheidende Sensorien bei der Produktion und Wahrnehmung von Architektur wird durch die Krise des Ersten Weltkrieges zugunsten einer als überzeitlich begriffenen, rationalen Architektur entschieden. Gleichwohl wirken die Kriterien sensueller Stimulierung und emotionaler Überwältigung gerade in der sich entwickelnden Moderne weiter. Gerade bei Le Corbusier als einem der theoretischen Wortführer spielt die emotionale Überwältigung durch die technische Rationalität der neuen Architekturen eine zentrale Rolle. Auch die
I. Einleitung
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Farbigkeit mancher moderner Architekturen, etwa in Wohnsiedlungen |▶ 30|, soll direkt erfahrbare psychische Energien erzeugen. Trotzdem wurde das Kriterium der emotionalen Wirkkraft von Architektur innerhalb der internationalen Moderne kaum explizit als Ziel benannt. Man wollte ‚sachlich‘ und ‚objektiv‘ sein. Umso leichteres Spiel hatte das Bauen in den Diktaturen, in denen emotionale Kriterien als massenpsychologische Instrumente neu aktiviert wurden, zwischen kameradschaftlicher Gemütlichkeit und pathetischer Überwältigung. Die Architektur der Nachkriegszeit hat die emotionale Komponente hingegen vielfältig ausgebaut. Vor allem im Kirchenbau und auch in Gedenkstätten gibt es zahlreiche Ansätze, seelisch irritierende Räume und Lichteffekte zu schaffen. Das reicht bis zu Projekten der jüngsten Vergangenheit wie Peter Zumthors Projekt zur Berliner „Topographie des Terrors“, Peter Eisenmans Denkmal für die ermordeten Juden in Europa in Berlin (S. 77, □ vgl. 38) und Daniel Libeskinds Jüdischem Museum in Berlin |▶ 49|. Darüber hinaus hat sich der Begriff der ‚Atmosphäre‘ in der neueren Ästhetik zu einem Leitbegriff entwickelt (Gernot Böhme), der auch von der Architektur bzw. dem Architekturdiskurs aufgenommen wird. Hier geht es um Stimmungswerte, die aus Umgebungen auf ein Individuum psychologisch wirken. Diese Umgebungen können architektonisch geformte Räume und Materialien sein, aber vor allem auch situative, durch bestimmte soziale Komponenten bestimmte Umgebungen. Vielfältig sind solche Mechanismen aber auch für Event- und Konsumarchitekturen umgesetzt, in denen es – etwa bei anspruchsvollen Shopping Malls – darum geht, komplexe Raumbildungen mit Infrastrukturen und emotional ansprechenden Ambientes zu verbinden.
Architektur und Emotionen
II. Grundzüge der Architekturgeschichte 1800 bis heute
Sentiment und Vernunft Landschaftsgarten und griechische Antike
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ngesichts der Bedeutung von Affekten und Emotionen in der Menschen- und Gesellschaftsauffassung seit dem 18. Jh. ist es auch kein Wunder, dass in den folgenden Grundzügen der Architekturgeschichte derartige Themen am Anfang stehen und auch in den Abschnitt der 50 Schlüsselwerke immer wieder eine wichtige Rolle spielen. – Eine der fundamentalen Veränderungen im Verhältnis zwischen dem Menschen, der Natur und dem Bauen ereignet sich im späten 18. Jh. mit der Vollendung des Konzeptes des Landschaftsgartens. Die scheinbar als regellos inszenierte Natur in all ihrer botanischen Vielfalt und ihren wechselnden Licht- und Farbeffekten, in die bedeutungshaft allerlei Architekturen und Denkmäler eingestreut sind, versteht sich gleichsam als ein riesiges, betretbares Landschaftsgemälde. Doch dieses Bild ist nicht in Öl auf Leinwand gemalt, also eine illusionistische Täuschung, sondern als Künstlerin tritt gleichsam die Natur selbst auf, die Komposition, Farbe und räumliche Tiefe verwirklicht und unmittelbar auf die Sinne einwirken lässt. Wesentliche Gestaltungsmittel sind bewegte Konturen, sinnreiche Tiefenstaffelungen, die bedeutungshafte Bezugnahme von point-de-vues, die über geschwungene Wege überraschend erreicht werden. All das soll in abwechslungsreicher Mannigfaltigkeit der Naturformationen (Hügel, Täler, Wiesen, Felsen, verschiedenste Baumarten, Wälder, Lichtungen, Seen, Teiche, Bäche, Wasserfälle, Inseln usw.) strukturiert und mit assoziationsreichen Kleinarchitekturen bestückt sein, welche stimmungshaft das Wirken der Zeit (Ruinen), die Größe historischer Epochen, moralische Ideale (Eintracht, Freundschaft) oder die Autorität von Philosophen und Dichtern evozieren. Die empfindsame Reaktion soll sich im Gemüt einer individuell fühlenden Seele ereignen. Nicht ohne Grund steht dahinter eine philosophische Grundhaltung, der Sensualismus, wie in Bezug auf den Landschaftsgarten schon zu Beginn des 18. Jh.s vor allem von Anthony AshleyCooper (3. Earl of Shaftesbury), Joseph Addison, Alexander Pope oder Henry Home vertreten. Demnach sei die Erfahrung und Beurteilung der Welt sowie von Moral und Schönheit über die individuellen Sinneseindrücke und einen angeborenen moral sense möglich. Dieses erzeugt natürliche Gemütsbewegungen, die – in richtiger Mischung – echte Moralität
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unabhängig von religiösen Normvorstellungen entstehen lassen. Entsprechend kann das Gemüt in besonderer Weise von vielfältigen Natureindrücken, dem Pittoresken im Gegensatz zum künstlich geordneten Schönen, in idealer Weise stimuliert werden und somit die göttliche Harmonie in der Naturschöpfung erkennen lassen. Insofern ist es auch nicht ganz richtig, den Landschaftsgarten vom älteren französischen Barockgarten deswegen abzusetzen, weil dieser die Beherrschung der Natur durch die göttlich legitimierte fürstliche Macht, jener aber das aufklärerische Ideal von Freiheit ausdrücke. Der Landschaftsgarten will nicht alleine etwas versinnbildlichen, sondern unmittelbar auf die Sinne und das Gemüt wirken. Ein Kind der Aufklärung ist der Landschaftsgarten aber insofern, als hier unaffektierte, nicht von höfischer Etikette verdorbene Natürlichkeit und Aufrichtigkeit erlebt werden sollen. Solche Rückbezüge auf ein ursprüngliches Paradies, einen Garten Eden, beinhalten auch eine Reihe neuer Lebensmodelle und Entwürfe. Idealtypisch sind sie von Jean-Jacques Rousseau formuliert, dessen Ideale von echter Liebe und aufrichtiger Freundschaft nicht umsonst als ein „Zurück zur Natur“, also als ein programmatisches Abwenden von Stadt und Herrscherhof zu verstehen sind. Den historischen Vorlauf hat diese Bewegung im Umfeld einer liberalen neuen englischen Aristokratie, die sich seit dem 17. Jh. im Gegensatz zu Frankreich nicht dem König, sondern individuell dem eigenen Land verantwortlich fühlte. Insofern hatte jeder Adelige als man of taste Bildung und moral sense zu erwerben und staatsmännisch umzusetzen. Die Bildungsreise zu den verehrten Stätten von Zivilisation und Moral im antiken Italien (Grand Tour) verschafft insoweit ein intensives Erleben nicht nur von alter Kunst, sondern von einer als arkadisch wahrgenommenen mediterranen Natur. Denn hier, in der nicht domestizierten, wilden Natur regiert die Göttin der Freiheit (Addison). Bald kommen auch andere Kulturen hinzu, insbesondere fernöstliche. Die prägendsten Formulierungen realisierte William Kent in der Mitte des 18. Jh.s für Lord Burlington in Chiswick, für den Viscout Cobham Sir Richard Temple in Stowe (von Engelberg 2013, S. 301– 309), für den Bankier Henry Hoare d. J. in Stourhead: Gesamtkunstwerke, die sich an den römischen und italienischen Landschaftsgemälden etwa eines Nicolas Poussin oder Claude Lorrain orientierten und sie mit Tempelchen für moralische Tugenden und Laster ausstatten. Lancelot Brown, wegen seiner trickreichen Erfindung in der Gartengestaltung Capability Brown genannt, wurde insbesondere deswegen wichtig, weil er die vorgefundene Naturformation zum Ausgangspunkt jeweils individueller Gärten machte. Es ist bezeichnend für die Konjunktur des Landschaftsgartens, dass sie schon um 1780 in Form eines Handbuches systematisiert wurde. Christian Cay Lorenz Hirschfelds fünfbändige „Theorie der Gartenkunst“ (1775 – 85) unterteilt die Gärten nach verschiedenen Auftraggebern, Typen, Funktionen und Ausstattungsmitteln. Darunter rangiert zum ersten Mal auch der Volksgarten, also der öffentlich zugängliche Landschaftspark, der bald ein unverzichtbares Element des Städtebaus werden wird, das sowohl der Erholung und der Volksbildung als auch der urbanistischen Auflockerung sowie der klimatischen Verbesserung der verrauchten Städte dient. Derartige Vorgaben nahmen vor 1800 die aufgeklärten Fürsten in ganz Europa auf und führten sie weiter. Der Wörlitzer Landschaftsgartens |▶ 1|, initiiert durch Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau, fügt sich insofern ein in ein wahres Reformprogramm, das auch Pädagogik und religiöse Toleranz umfasste und in dem auch der Fürst selbst nach
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den Rousseau’schen Idealen echter Liebe lebte. Im Seifersdorfer Tal bei Dresden schufen die Grafen Brühl um 1780 einen Landschaftsparcours der von ihnen verehrten Dichter. Goethe und Herzog Carl August entwarfen in Weimar den Ilmpark, einen wildbewachsenen Wiesengrund mit mehreren sentimentalen Erinnerungsorten; wenig entfernt davon entstand in der Sommerresidenz der Herzogin Anna Amalia in Tiefurt ein Gartenort, in dem sich Literatur und Landleben vereinten und der der gesellige Ort des Weimarer Literaturlebens wurde. Auch in Kassel-Wilhelmshöhe wurde der bereits bestehende barocke, von einer großartigen Kaskade dominierte Garten zunächst durch einen empfindsamen Landschaftsgarten mit Philosophendenkmälern, wenig später durch einen romantischen Park mit der neugotischen Löwenburg erweitert. Diese sollte allerdings weniger melancholische Reflexionen auslösen, sondern diente dem Landgrafen Wilhelm dazu, seine Anciennität vorzuführen. In der Folgezeit schmücken sich alle großen Fürstenhäuser mit bis heute genussreich genutzten, weiträumigen und großzügigen Landschaftsgärten, für die professionelle Gartenarchitekten tätig waren, welche zumeist eine Studienzeit in England wie in Italien verbracht hatten: Das gilt für Erdmannsdorff in Anhalt-Dessau, Ludwig von Sckell in Bayern und der Pfalz, Peter Joseph von Lenné in Preußen. Von Sckell erweiterte den barocken Schwetzinger Schlossgarten, u. a. mit einer künstlichen Moschee, und schuf vor allem in München den Englischen Garten, der, größer als der New Yorker Central Park, die bayerische Landeshauptstadt bis heute städtebaulich prägt. Der Park wurde seit 1789 unter dem pfälzischen Kurfürsten Karl-Theodor als Militär- und Volkspark im Nordosten der Stadt angelegt (□ 3). Die Idee dazu verdankte der Herrscher dem aus Massachusetts stammenden Kriegsminister Benjamin Thompson, die Ausführung des Landschaftsgartens wurde 1799 von Sckell übertragen. Über fünf Kilometer erstreckt sich ein Naturgelände, das in Stadtnähe noch höfischen Charakter hat, aber an der Peripherie gleichsam in reiner Natürlichkeit aufgeht. Als Fixpunkte dienen exotische Staffagearchitekturen wie die Pagode des Chinesischen Turms (nach dem Vorbild des Londoner Parks von Kew) und der griechische Rundtempel (Monopteros). – Für die preußischen Könige gestaltete Peter Joseph von Lenné im zweiten Viertel des 19. Jh.s die weite Umgebung Potsdams zu einem umfangreichen Gartenreich um: Der Neue Garten, Klein-Glienicke, Charlotten-
□ 3 München, Englischer Garten, Plan A, Ludwig von Sckell, 1804.
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hof, die Parkerweiterung von Sanssouci, die Pfaueninsel und Babelsberg formen die Seenlandschaft der Havel zu einem Gesamtkunstwerk um, in dem verschiedenste Ambientes – römische Antike, Byzanz, Gotik, Bauernhof, italienische Mittelmeerlandschaften – evoziert sind. Die hier errichteten Architekturen sind nicht nur □ 4 Paris, Parc des Buttes-Chaumont, J.-Ch.-A. Alphand, 1860 – 70 Staffagearchitekturen, sondern von namhaften Architekten wie vor allem Karl Friedrich Schinkel und Ludwig Persius entworfene Großbauten (Schloss Klein-Glienicke, Schloss Babelsberg). Den ausgedehntesten europäischen Landschaftsgarten entwarf ab 1815 Hermann Fürst von Pückler für die Umgebung von Muskau. Das alte Dorf wurde selbst Teil der Anlage, die insgesamt eine Gesamtschau der Geschichte liefern sollte. – In Frankreich wurde der Landschaftsgarten recht früh übernommen, allerdings zunächst, wie im Park Monceau in Paris (1769) im Sinne einer Abfolge von Theatertableaus. Einen empfindsamen Garten mit zahlreichen Stationen zur philosophischen Reflexion ließ der Gönner von Rousseau, der Marquis de Girardin, seit 1766 in Ermenonville anlegen. Im Zuge der Stadtregulierung von Paris unter Haussmann |▶ 12| wurden auch die Parks in Volksparks umgewandelt, wobei soziale Distinktionen durchaus wirksam werden konnten: Die großen innerstädtischen Parks in Paris, der Parc Montceau und der Parc des Buttes-Chaumont wurden beide in den 1860er Jahren vom Gartenarchitekten Jean-Charles-Adolphe Alphand umgestaltet bzw. neu angelegt. In beiden Fällen handelt es sich um Landschaftsgärten, doch bleibt beim Parc Montceau, im noblen 8. Arrondissement gelegen, die Tradition des französischen Barockgartens weiter wirksam. Von einem eleganten hohen Metallgitter eingefasst, ist die Wegeführung gut ersichtlich. Im Parc des Buttes-Chaumont hingegen wurde ein ehemaliger Steinbruch innerhalb eines armen Arbeiterviertels im Osten der Stadt zu einem bewegten, pittoresken Landschaftsrelief mit windungsreichen Wegen, Grotten und Kaskaden umgestaltet (□ 4). – Weitere großangelegte Landschaftsgärten in Europa finden sich etwa in Tsarskoye Selo und Pavlovsk (1770/1780, Landschaftsarchitekt Charles Cameron) oder um die Franzensburg bei Wien, seit 1800 ausgeführt. Etwas überspitzt kann man sagen, dass die britische Entwicklung von den aufklärerischen Idealen insbesondere die individuelle Freiheit als Kriterium der Architektur umsetzt: als ein subjektiv-stimmungshaftes Erlebnis des gestalteten Raums. In Frankreich wird hingegen ein anderes emanzipatorisches Ideal zum architektonischen Grundprinzip: Eine – vor allem baukonstruktiv begründete – Vernunft soll sich dem Äußeren des Gebäudes vermitteln, das dadurch als das Produkt strenger Naturgesetzlichkeit zu erkennen ist. Hier setzt sich letztendlich eine Tradition der Gotik mit ihrer virtuosen Beherrschung der Baukonstruktion fort. Dass Architektur durch ihre sie tragenden und schützenden
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Glieder bestimmt wird, kann auch auf die klassisch-vitruvianische Architektursyntax angewandt werden. Marc-Antoine Laugier etwa fordert in seinem „Essai sur l’architecture“ von 1756, das rationale Prinzip der hölzernen Urhütte – Stämme, die ein Giebeldach tragen – müsse immer im Bauen ablesbar sein. Giebel in Superposition etwa seien deswegen verboten, denn jedes Haus könne nur ein Dach haben. Das bedeutendste Gebäude, das die Verbindung von kühnster Konstruktion, gotischer Proportionierung und klassischem Formenapparat wagt, stellt die Kirche Ste-Geneviève in Paris (sog. Panthéon) dar, von Germain Soufflot 1757 begonnen (von Engelberg 2013, S. 318 – 322). Hohe schlanke Säulen tragen ein Gebälk, über dem nochmals Bögen aufgesetzt sind, und führen insgesamt zu einer virtuosen Reduktion von Mauermasse trotz aller gewaltigen Dimensionen der Kirche. Das Pendant zu dieser Bedeutung der Konstruktion bildet die Gründung der technologisch ausgerichteten École des Ponts et chaussées 1747 und der École polytechnique im Jahre 1794 ( Themenblock · Architektenausbildung, S. 145 f.). Sowohl die Entwicklung in England als auch in Frankreich als den beiden architektonisch maßgebenden Nationen wurden durch ein neues Ideal befördert: die Entdeckung der griechischen Kunst und Architektur der Antike. Zwar war seit langem bekannt, dass diese älter als die römische war und folglich als der unverfälschte Ursprung der Architektur zu gelten hatte. Doch wie diese Architektur beschaffen war, blieb trotz einiger weniger Erkundungsfahrten von Gelehrten bis zur Mitte des 18. Jh.s unbekannt bzw. rein spekulativ. Dabei war das Bestreben, auf eine ‚reine‘ Architektur zurückzugreifen, gerade in England seit der ersten Hälfte des 18. Jh.s sehr ausgeprägt. Der englische Palladianismus verstand sich als Gegenbewegung zum angeblich unvernünftigen und verschwenderischen Barock, der Renaissancearchitekt Andrea Palladio mit seinen kubisch-klaren Gebäuden, die vor allem durch Säulenportiken ausgezeichnet sind, hingegen als der getreueste Vermittler antiker Reinheit. Davon zeugen eine Reihe von Bauwerken, etwa im Umfeld von Lord Burlington und des Architekten William Kent (von Engelberg 2013, S. 297 – 305). In solchen Zusammenhängen waren nach dem Vorbild der Pariser Akademie 1717 die Society of Antiquaries und 1732 die Society of Dilettanti als Club von gentle men gegründet worden, die den Grand Tour hinter sich gebracht hatten. Das Ziel einer guten Geschmacksbildung ließ hier nun den Plan entstehen, die vorbildhaften Bauten in Griechenland wissenschaftlich präzise zu untersuchen. Einflussreich waren hierbei die Exkursionen von Nicholas Revett und James Stuart, bei denen seit der Jahrhundertmitte detaillierte Vermessungen der antiken Bauten Athens vorgenommen und in großen Mappenwerken unter dem Titel „Antiquities of Athens“ von 1762 – 1816 veröffentlicht wurden. Konkurrenziert wurde das Unternehmen durch ein sehr viel oberflächlicheres, schnell angefertigtes Bildkonvolut der griechischen Bauten durch David Le Roy („Ruines des plus beaux monuments de la Grèce“, Paris 1758), doch bestätigt dies nur die Konjunktur griechischer Kunst. Ergänzend dazu hatte Johann Joachim Winckelmann („Geschichte der Kunst des Altertums“, 1764) die griechische Skulptur, die durch „edle Einfalt und stille Größe“ gekennzeichnet sei, als Gipfelpunkt der Kunst vorgestellt, hervorgegangen aus einem klimatisch begünstigten Volk voller Freiheitsliebe. Weitere graphische Dokumentationen griechischer Monumente aus dem Nahen Orient (Palmyra, Balbec) und Süditalien ergänzten die Nachfrage nach Vorbildern idealer Bauten. Dort, in Süditalien, waren zudem seit 1711 die Ausgrabungen in den von der Vesuvasche verschütteten Städten Herculaneum und seit 1748 Pompeji
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in Gang gekommen und hatten mit einem Mal Einblick in eine antike Alltagskultur, vor allem vermittels der Bilder auf den in Süditalien gefundenen griechischen Vasen, gegeben. Aus dieser Griechenlandbegeisterung leitete sich ein um 1800 einsetzender archäologisch inspirierter, allerdings die Einzelmotive meist kreativ neu kombinierender Klassizismus ab. Dessen erstes großes Werk ist das Brandenburger Tor in Berlin, 1788 – 91 von Carl Gotthard □ 5 Berlin, Brandenburger Tor, Carl Gotthard Langhans, 1788 – 91 Langhans nach dem Vorbild der Propyläen der Akropolis errichtet (□ 5). Allerdings wandte er für die Säulen eine römische Dorica, nicht die basenlose griechische Variante an. 1797 entwarf Friedrich Gilly für sein Denkmal Friedrichs des Großen einen dorischen Tempel, der sich über hohen Substruktionen erheben sollte. Auch Friedrich Schinkels frühen Werke, etwa die Neue Wache (1816) oder das Schauspielhaus (1818, □ 6) in Berlin, fügen archäologisch präzise studierte Säulenvorhallen vor klare stereometrische Baukörper. Diese sind, gerade am Schauspielhaus, durch eine durchaus nicht direkt aus der Antike abzuleitende Rasterstruktur aus Mauerabschnitten und Balken gegliedert, aufgrund derer eine flexible Inneneinteilung entsteht. Wirtschaftlichkeit in Konzeption und Ausführung verbindet sich
□ 6 Berlin, Schauspielhaus, Karl Friedrich Schinkel, 1818 – 21
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mit eminent erzieherischen Zielen der Architektur |▶ 4|: Die große, zu dem Portikus führende Freitreppe des Schauspielhauses macht den Besuch der Bildungsinstitution zum Besteigen des Parnass, dem mythischen Wohnsitz des Dichtergottes Apoll, der auch im Giebel dargestellt ist. Im Spätwerk Schinkels wird die ökonomische Rationalität der Konzeption zu einer konsequenten Gerüstarchitektur geführt, die nur noch mittelbar mit der griechischen Antike zu verbinden ist: Die 1832 – 35 erstellte Bauakademie in Berlin (□ 7) bildet eine viergeschossige Vierflügelanlage, die aus einem rasterartigen Steinskelett besteht, das nachträglich □ 7 Berlin, Bauakademie, Karl Friedrich Schinkel, 1832 – 35 mit standardisierten Backsteinelementen der Mauern, Fenster und Reliefs ausgefacht wurde. Auch hier spielt der erzieherische Charakter eine wesentliche Rolle, denn die Terrakottareliefs thematisieren die Geschichte des Bauens. Und dieses beschränkt sich nicht darauf, vorbildliche antike Formen zu imitieren, sondern entsteht – ähnlich wie dies zur selben Zeit Heinrich Hübsch formuliert hatte (vgl. S. 81 f.) – aus den Bedingungen von technischer Konstruktion und sozialem Zweck. – Leo von Klenze schuf nach einem Entwurf von 1817 die Propyläen auf dem Münchner Königsplatz als genau studierte Kopie des gleichnamigen Athener Gebäudes, und für die Walhalla (1830 – 42) wählte er das Vorbild des Athener Parthenons (□ 8). In Frankreich schlug sich die rationalistisch-klassizistische Auffassung des Bauens vor allem in großen öffentlichen Theaterbauten nieder: Der anti-höfische goût à la grecque begleitete in bezeichnender Weise auch eine Bauaufgabe, die den Ort schlechthin abgab, um einer neuen bürgerlichen Öffentlichkeit Moralität und Rechtsstaatlichkeit zu vermitteln. Das 1773 – 89 von Victor Louis errichtete Große Theater in Bordeaux (□ 9), die von Marie-Joseph Peyre und Charles de Wailly 1779 – 82 erbaute Comédie française (Théâtre de l’Odéon) in Paris oder das Theater in Besançon (1778 – 84) von Ledoux |▶ 2| bilden frei stehende – also nicht mehr in Schlossbauten integrierte –, kubische Blöcke, denen eingangsseitig eine kolossale Kolonnade als Vorhalle zu einem öffentlichen Platz angegliedert ist. In der □ 8 Donaustauf bei Regensburg, Walhalla, Leo von Klenze, großzügigen, auf Geselligkeit ausgelegten 1830 – 42
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□ 9 Bordeaux, Grand Théaˆtre, Victor Louis, 1773 – 89
Innenerschließung mit großem Treppenhaus, Foyer und kreisrundem Zuschauersaal bildet das Bordeleser Theater das Vorbild späterer französischer Theaterbauten |▶ 12, 25|. Die neue Bedeutung der frei stehenden Säule als dominantes Element zeigt sich auch in vielen Kirchenbauten des späten 18. Jh.s, in denen Basiliken über Säulenkolonnaden mit kassettiertem Tonnengewölbe errichtet werden (z. B. St-Philippe-du-Roule in Paris von Jean-François-Thérèse Chalgrin, 1772 – 84; die Kathedrale von Arras von Jean-François Labbé und Pierre Contant d’Ivry, 1778). Das architektonische Vokabular reduziert sich insgesamt auf wenige Motive: geometrisch klare Formen wie Kuben, Zylinder (Tonnengewölbe, Kuppeltambours, Apsiden) und Kugelausschnitte (Gewölbekalotten, Kuppeln), Säulen und Gebälke sowie flache Dreiecksgiebel, Rundbogen- und Rechtecköffnungen. Die von Ledoux 1785 – 89 errichteten Zollhäuser am Pariser Stadtrand (erhalten davon die Barrière d’Enfer, die Barrière du Trône, die Rotonde de la Villette und die Rotonde de Monceau) bieten Musterbeispiele von Architekturen, die aus solchen Standardelementen zu in sich symmetrischen Zentralbauten komponiert sind. Wie in Arc-et-Senans |▶ 2| handelt es sich darum, die Aufgabe der kommunalen Steuererhebung zu monumentalisieren und insofern die staatliche Ordnung architektonisch zum Ausdruck zu bringen. In diese Tendenz lassen sich auch viele monumentale Idealprojekte einordnen, die die genannten Grundelemente in den Dimensionen und einer monotonen Repetition zu Überwältigungseffekten von erhabener Wirkung steigern. Étienne-Louis Boullées Riesenmonumente (von Engelberg 2013, S. 323 – 326) stehen insofern den gigantischen Entwürfen von Marie-Joseph Peyre (vgl. S. 80, □ vgl. 39) nahe. Aus diesen, an den Nischen- und Gewölbearchitekturen römischer Thermenanlagen orientierten Vorgaben leitet sich die Architekturdoktrin der 1816 gegründeten Pariser École des Beaux-Arts ab: Außenfassaden wie Innengliederungen müssen eine reliefhaft gegliederte und monumentale, streng axialsymmetrische Komposition von Vor- und Rücksprüngen ergeben.
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Die bedeutendsten Figuren des klassizistischen Englands sind William Chambers und dessen Erzfeind Robert Adam. Chambers errichtete seit 1781 das monumentale Gebäude des Sumerset House in London, eine Art Stadt- und Kulturhaus, in dem u. a. die Königliche Akademie und die Society of Antiquarians untergebracht wurden. Zur Themse erhebt sich das Gebäude über einer wuchtigen Terrasse und kündet somit bewusst monumental von der neuen Bedeutung derartiger öffentlicher Einrichtungen. Robert Adam hatte seit dem letzten Drittel des 18. Jh.s römische Formmotive neu aktualisiert, etwa in Übernahme der Disposition des Konstantinsbogens in die Ballsaalfront von Kedleston Hall (1759). Außerdem hatte er in der Art eines auf Ausstattungskultur spezialisierten Familienunternehmens zahlreiche Innenräume in ausgewählten Farbakkorden und variationsreichen Ornamenten ausstaffierte. Dabei kam ihm seine reiche Kenntnis zahlreicher italienischer Monumente der Antike und Renaissance zugute, so dass sich in den Ausstattungen römische, pompejanische und ‚etruskische‘ Ornamente, u. a. aus der antiken Vasenmalerei entnommen, verbinden (Osterley Park, 1775). Ende des 18. Jh.s prägte Adam den Ausbau der Altstadt und die Gründung der Neustadt von Edinburgh: Nach einem bemerkenswerten Plan von James Craig war die Neustadt über einem Raster mit drei parallelen Hauptstraßen angelegt worden, deren mittlere jeweils in einem großen Platz endet. Adam schuf hierfür die klassizistischen Entwürfe des Register House mit einer monumentalen überwölbten Halle im Inneren der rechteckigen Anlage sowie die Randbebauung des Charlotte Square (□ 10). In der Altstadt entstand nach den Plänen Adams und seiner Nachfolger William Playfair und Robert Reid ein umfangreiches Universitätsgebäude, dessen Bibliothekslesesaal in einer Art Basilika, von zwei Reihen viereckiger ionischer Säulen und einer kassettierten Tonne gebildet, eingerichtet ist. Zahlreiche weitere klassizistische öffentliche Bauten verleihen dem Stadtumbau von Edinburgh den programmatischen Anspruch eines neuen Athen. Der Einfluss Adams bzw. der klassizistischen schottischen Hauptstadt ging so weit, dass ein Schüler Adams, Charles Cameron, zum Hofarchitekten der Zarin Katharina II. berufen und u. a. für das Schloss Tsarskoye Selo tätig wurde. Davon ausgehend, sollte auch St. Petersburg zu Anfang des 19. Jh.s zu einer klassizistischen Hauptstadt ausgebaut werden (Kasaner Kathedrale, 1801 – 11, von Andrey Voronichin; Börse, 1805 – 10, von J. Thomas de Thomon; Admiralität, 1806 – 12, von Andreyan Zacharov). Im Zusammenhang eines programmatisch aufklärerischen Absolutismus im Königreich Dänemark ist die Karriere des Architekten Christian Frederik Hansen zu sehen. Das von ihm 1803 – 15 neu errichtete Stadtund Gerichtshaus von Kopen□ 10 Edinburgh, New Town, Entwurf der Gesamtanlage, James Craig, 1767
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hagen folgt in seiner klaren kubischen Blockhaftigkeit mit vorgelegtem Säulenportikus klar den palladianischen Vorgaben (□ 11). Allerdings ist die ionische Ordnung als kolossale Ordnung vor eine die gesamte Gebäudehöhe durchmessende Vorhalle mit Freitreppe gestellt. Die hier erreichte Würde und Ernsthaftigkeit wird durch das angegliederte Gefängnis variiert, dessen Sockel und Portal durch Bossierung Festigkeit und Stärke signalisieren, ganz entsprechend der Torinschrift: ‚Für die allgemeine Sicherheit‘. Die Werke Hansens bilden Musterbeispiele einer erzieherisch wirkenden architecture parlante (|▶ 2|, vgl. S. 79): Seine Kopenhagener Frauenkirche (1810 – 29) bildet einen langgestreckten Kubus, dessen Schmalseite eine Säulenvorhalle nach dem Vorbild griechisch-archaischer Tempel in Paestum vorgelegt ist, um der edelsten und ursprünglichsten Ordnung Reverenz zu erweisen. Aber auch für die USA wurde ein purifizierter Klassizismus zum Ausgangspunkt einer neuen, Wirtschaftlichkeit mit Eleganz und Würde verbindenden Architektur |▶ 3|. Jeffersons Entwurf des Capitols von Richmond von 1785 folgt getreu dem Modell des hervorragend erhaltenen römischen Podiumstempels im südfranzösischen Nîmes, der maison carrée, und das Weiße Haus in Washington (James Hoban, Benjamin Latrobe u. a., seit 1792) enthält in seiner nach vorne tretenden Säulenexedra Anklänge an römische Rundtempel. Diese Idiome bestimmten die gesamte nordamerikanische Architektur bis zum Bürgerkrieg. Die Präsenz Englands in den Kolonialländern führte dazu, dass sich der britische Klassizismus als sog. Kolonialstil auch in Indien (Regierungspalast in Kalkutta, 1798, nach Vorbildern Robert Adams) oder Australien (Camden Park House in Menangle, John Verge, 1831 – 35) verbreitete. Der gediegene, auf Vernunft und Moralität bedachte Klassizismus als Weltarchitektur insistierte in fast allen Fällen darauf, Ordnung als Prinzip der Weltschöpfung vorzuführen: in axialen Raumfolgen, symmetrischen Gebäudegruppierungen und erkennbar zitierten berühmten Vorbildern wie den Tempeln aus Paestum, den athenischen Propyläen oder
□ 11 Kopenhagen, Stadt- und Gerichtshaus, Christian Frederik Hansen, 1803 –15
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31 □ 12 London, Bank of England, John Soane, 1788 –1833, Tivoli Corner (1807)
dem römischen Pantheon. Doch gibt es auch kreative Verstöße gegen diese Regelhaftigkeit. Insbesondere John Soanes Ausbau der Bank of England in London 1794 – 1810 ist ein prominentes Beispiel dafür. Für das damals größte und politisch höchst bedeutungsvolle Finanzinstitut der Welt schuf der Architekt eine labyrinthisch anmutende Architektur, die einer Komposition aus Kuppelräumen mit zenitaler Belichtung und Übergangsräumen in verschiedensten Licht-Schatten-Modellierungen gleicht, dabei aber klassische architektonische Details und Proportionen abändert und verzerrt. Das Areal wird außen von einer hohen Mauer umschlossen, die sich an den Ecken bugartig ausprägt. An der Tivoli Corner schmückt ein Segment des berühmten Rundtempels der gleichnamigen italienischen Stadt die Gebäudeecke, zwängt sich gleichsam zwischen den Seitenmauern durch und wird zudem von einer Art rückspringender Palastfassade darüber bekrönt (□ 12). Solche Effekte des vielfältig unregelmäßigen Malerischen, des Pittoresken, waren schon in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s durch Piranesi als Gegenentwurf zum klassisch Griechischen propagiert worden.
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft Vom Historismus zur Eisenarchitektur
W
enn bereits im Landschaftsgarten Referenzen auf verschiedenste geschichtliche Erlebnissphären beabsichtigt waren, so ist der architektonische Historismus der Notwendigkeit geschuldet, die Vielfalt der Bauinitiatoren, Bauaufgaben und Bauorte geschichtlich zu legitimieren und die Bauwerke in dieser Hinsicht zum Sprechen zu bringen ( Themenblock Denkmalpflege, S. 154 f., |▶ 5|, vgl. S. 13 f.). Damit verbindet sich vielfach auch eine programmatische Absage an einen schnell akademisch-doktrinär gewordenen Klassizismus. Dieser verstand sich als ein überzeitlich gültiges Regelsystem, doch im Lichte der seit dem Beginn des 19. Jh.s blühenden historischen Erforschung der Welt war das unhaltbar. Im Bereich der Architektur war es vor allem der Polychromiestreit, der, aufbauend auf genauen historischen Untersuchungen, das Ideal einer weißen Klassik außer Kraft setzte (vgl. S. 82 f.). Die Evokation von Geschichtsepochen im Landschaftsgarten des 18. Jh.s, die romantische Entdeckung des Mittelalters als Sehnsuchtsziel in ganz Europa |▶ 6|, aber auch die sich etablierende nationale Geschichtsschreibung – z. B. in Jules Michelets „Histoire de la France“ ab 1833 oder Leopold von Rankes „Deutsche Geschichte im Zeitalter
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
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der Reformation“ ab 1839 – schlugen sich seit dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jh.s auch darin nieder, die gesamte Bandbreite historischer Stile für repräsentative Bauaufgaben umzusetzen. Dabei lässt sich eine zunehmende Erweiterung der Vielfalt feststellen: Trat zunächst vor allem die Gotik als Alternative neben die römische und griechische Antike, so folgten bald Renaissance, Byzanz, Romanik, Barock und Orient als weithin verwendete Stiloptionen. So ist zu betonen, dass schon früh in den Werken eines einzigen Architekten und für einen einzigen Auftraggeber auf verschiedenste Idiome zurückgegriffen wurde: Das macht etwa die Ausgestaltung Münchens durch Leo von Klenze unter Ludwig I. von Bayern |▶ 5| deutlich. Mit einer solchen, etwa für Bayern aufzuzeigenden Inszenierung der Geschichte als Herrschaftslegitimation verband sich aber auch die Genese der Idee von Nationalstilen. In Deutschland erhielt dies durch den Sieg über Napoleon in den Befreiungskriegen einen klaren patriotischen Impuls: So entwarf Karl Friedrich Schinkel 1815 einen Befreiungsdom in neogotischen Formen, da diese angeblich typisch deutsch seien. Auch die seit derselben Zeit betriebenen Initiativen, den im Mittelalter als Bauruine liegen gebliebenen Kölner Dom zu vollenden, geschahen vor dem Hintergrund einer patThemenblock · Denkmalpflege, S. 154 f.). Auch die sich riotischen Mittelalterbegeisterung ( als Institution gesetzlich verfestigende Denkmalpflege wandte sich zunächst vor allem dem Mittelalter als einer angeblich besonders ruhmvollen Epoche zu. – Auch in England, wo noch in den 20er Jahren der mächtige klassizistische Säulenportikus zum Erkennungszeichen jedes öffentlichen Gebäudes gehört hatte (Robert Smirkes British Museum in London, 1823 – 46), wählte man im folgenden Jahrzehnt programmatisch den perpendicular style als ebenso reformerischen wie landestypischen Ausdruck |▶ 6|. Bis weit in das 20. Jh. werden die teilweise mit aller Härte ausgetragenen Dispute um die Deutungshoheiten andauern, welcher ‚Stil‘ für welche Nation, welche Region, welche soziale Schicht bzw. welche Bauaufgabe der jeweils angemessene sei. Der Historismus der ersten Hälfte des 19. Jh.s beinhaltete aber nicht nur eine Absage an eine angeblich überzeitliche klassizistische Norm, sondern setzte auch den Blick für die Gegenwart frei. Die geschichtlichen Verläufe mündeten in ein Jetzt, das auch Innovation bedeuten konnte, ja musste. Deswegen reichte es bald nicht mehr aus, ‚stilrein‘ auf jeweils eine Epoche Bezug zu nehmen. Kreative Neukombinationen von Stilen erschienen als innovative Vorgehensweisen, die Traditionen nicht nur rezipieren, sondern eigenständig fortführen sollten. In Frankreich sind die Lebensläufe von Antoine-Laurent-Thomas Vaudoyer und seinem Sohn Léon bezeichnend: Während der Vater, einer der Promotoren der neu gegründeten École des Beaux-Arts, einem klassizistischen Akademismus anhing, studierte und proklamierte der Sohn seit der Zeit um 1830 eine nationale Architekturgeschichte Frankreichs, aus der sich ein zunehmender zivilisatorischer Fortschritt ableiten lasse und den modernen Architekten demgemäß in eine strenge Pflicht nehme. Die historischen Stile werden insofern nicht zitiert, sondern nach Maßgaben des Bauprogramms und der regionalen Traditionen synthetisisiert: Vaudoyers Kathedrale von Marseille (beg. 1852, □ 13) verbindet insofern die Typologie der klassischen französischen gotischen Kathedrale mit Formen der Romanik und der byzantinischen Kuppelkirche (Bergdoll 1994). Auch die Pariser Oper |▶ 12| kombiniert wie in einem Museum Referenzen auf verschiedenste Epochen und setzt damit in der Tat einen Markstein, der als französischer Beitrag zum Neobarock weltweit beachtet wurde.
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□ 13 Marseille, Kathedrale, Léon Vaudoyer, 1852 – 93
Der Akzent, der bei diesen Prachtwerken der École des Beaux-Arts auf Bildlichkeit und Monumentalität gelegt wurde, sollte von der Moderne als oberflächlicher ‚Fassadismus‘ kritisiert werden. Doch stellten die Prinzipien der École des Beaux-Arts eben diejenigen Mittel zur Verfügung, die nötig waren, um den zahlreichen Stadterweiterungen weltweit eine würdevolle, komponierte urbane Ordnung zu verleihen. Diese bietet eine Vielzahl von malerischen Tableaus innerhalb eines Außenraums, in dem Perspektivfluchten und pointde-vues eine wichtige Rolle spielen |▶ 12|. Große Brunnen und Wasserbecken, unübersehbare Denkmäler und imposante Laternen bilden weitere sinnreiche Ausstattungsstücke. Als Beispiel diene die Stadterweiterung von Marseille (□ 14): Der die Prachtstraße der Canebière fortsetzende Boulevard Longchamp endet in einer großartigen stadtraumbeherrschenden Architektur, dem Palais Longchamp, das Henri Espérandieu 1862 – 69 realisierte. Die Verbindung aus einem riesigen künstlichen Wasserfall, einem Kunstmuseum und einem Naturkundemuseum bildet zugleich auch die Endstation eines Kanals, der die Stadt mit Wasser aus der Durance versorgt. Dieses tritt hier in einem neobarocken Brunnen zum Vorschein, umgeben von den Allegorien des Flusses Durance, des Weizens und des Weines sowie von mächtigen Stieren. Halbkreiskreisförmig steigen darum herum zwei gegenläufige Treppen auf, die von Kolonnaden hinterfangen werden. Hinter dem Palais Longchamp erstreckt sich als fließender Übergang in die damalige städtische Peripherie, ein schöner Park mit einen kleinen Zoo. Die neue Bedeutung des Außenraums reagierte auf eine veränderte Öffentlichkeit, in der geschäftiges Treiben, Feiern, Einkaufen, Flanieren, Ausgehen ein neues Moment der Dynamik und Mobilität anzeigen. Die klassizistische Tradition, mit der seit dem späten
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
34 □ 14 Marseille, Palais Longchamp,
Henri Espérandieu, 1862 – 69
18. Jh. eine zivile und institutionalisierte Öffentlichkeit sich architektonisch manifestiert hatte – in Theatern, Rathäusern, Zollstationen oder Gefängnissen |▶ 2, 4 – 8| –, gewann an Dynamik und Pracht. Öffentliche Transportmittel wie die Straßenbahn und Untergrundbahn (in London seit 1863) beschleunigten und kanalisierten diese Bewegung. Hier feierte das in Städten und Nationalstaaten endgültig verfasste Großbürgertum seine zivilisatorischen Erfolge. Dies schlug sich in zahlreichen neuen Bauaufgaben nieder, die den staatlich fest verankerten Institutionen Raum und Ausdruck geben: Regierungs- und Justizgebäude |▶ 13, 14|, Bauten der öffentlichen Bildung wie Universität, Schulen, Bibliotheken |▶ 8|, Theater |▶ 7, 12| und Museen |▶ 4|, sodann Bauten des Konsums |▶ 15| und der Verwaltung, des Feierns und des Bestrafens und schließlich auch Verkehrsbauten wie Bahnhöfe und Brücken |▶ 10|. Das Bewusstsein, innerhalb des Stromes der Geschichte zu stehen, in dem der traditionsbildenden und identitätsstiftenden Vergangenheit ein alltäglich erlebtes und zu bewältigendes Gegenwärtiges sowie ein Zukünftiges gegenüberstehen, war auch eine entscheidende Voraussetzung, aktuelle Baumaterialien und -techniken anzuwenden und zum Generator neuer Gestaltungsidiome werden zu lassen. Dies gilt vor allem mit Hilfe der neuen standardisiert und massenweise herzustellenden Eisenarchitektur, die ungeahnte Möglichkeiten hinsichtlich der Raumüberspannung, der Lichtfülle, der flexiblen Kombinationsmöglichkeiten bot (vgl. S. 14 f.). Die Notwendigkeit, derartige Konstruktionen physikalisch-mathematisch vorzuberechnen, half auch, Planung und Logistik vorab zu beschreiben ( Themenblock · Bauverwaltung und Architektenausbildung, S. 118, 145 f.): Zweckerfüllung und Kosten traten in ein kalkulierbares und bewertbares Verhältnis zueinander. So determinierte zumindest fallweise die neue Machart die Form: Die metallene eiserne Dachkonstruktion von Labroustes Bibliothèque Ste-Geneviève |▶ 8|, welche die Disposition des ganzen Gebäudes als gelängtes gleichmäßiges Rechteck bestimmt, lässt sich zwar formal mit dem gotischen Refektorium von St-Martin-des-Champs in Paris vergleichen, doch insbesondere bringt sie eine ungekannte Lichtfülle in den großen öffentlichen Bau, schützt (begrenzt) vor Feuer und zeigt mit all diesem den innovativen Beitrag dieser Architektur des Wissens für die allgemeine Wohlfahrt. Vergleichbar damit, wenn auch nicht auf die Eisenarchitektur bezogen, war der Beitrag von Heinrich Hübsch (vgl. S. 81 f.). Sein
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‚Rundbogenstil‘ ermöglichte ein flexibel einsetzbares Bogenrastersystem zur flexiblen und ökonomischen Eindeckung von komplexen Räumen. Solches geschah vielfältig für Verwaltungsgroßbauten seit den 40er Jahren des 19. Jh.s in Deutschland, deren regional unterschiedlichen Rundbogenstile sich zwar vage an Renaissancevorbilder anlehnen, vor allem aber mit der raschen Abfolge von Rundbogenfenstern in den Fassaden für eine flexible Ausgestaltung und Belichtung der Räume sorgen (|▶ 5|, Staatsbibliothek in München, □ vgl. 56). Ähnlich wie bei Schinkels Bauakademie geht es bei diesen Raster- bzw. Skelettkonzeptionen jedoch nicht primär um den Einsatz neuer Materialien und Bautechniken. In letzter Konsequenz für die Bahnhofs- und Ausstellungshallen angewandt, veränderte die Eisen/Glas-Architektur die architektonische Wahrnehmung radikal |▶ 9, 10|. In der Auflösung der Architektur als fester begrenzender Hülle gibt es nur noch eine rudimentäre Fassade. In dem gleichmäßigen Rapport bzw. der potentiellen Unendlichkeit der Konstruktion (Crystal Palace, |▶ 9|) wird die Forderung nach rhythmisierter Komposition unerheblich; doch zugleich erinnerten Bauten wie der Glaspalast an mythische Kristallschlösser der Vorzeit. Dieses Ungewöhnliche, ja Beunruhigende der Eisentechnik musste für vertrautere Bauaufgaben durch die Rückbindung der Skelettstruktur in die Geschichte gezähmt werden. Natürlich war es vor allem die grazile und technisch virtuos gehandhabte Baukunst der Gotik, die sich am ehesten mit der Eisenkonstruktion verbinden ließ. Beide Verfahren schienen auch einer vergleichbaren strengen Rationalität zu folgen, und insofern konnte etwa Viollet-le-Duc die Eisenkonstruktion als moderne, weite (demokratische) Versammlungssäle überspannende Technik in ihrem Innovationspotenzial mit der Fortschrittlichkeit der Baumeister des 13. Jh.s parallelisieren. Einige realisierte Eisenbauten setzten die neue Technik konkret in gotische Formen um; das gilt etwa für die Kirche St-Eugène-Ste-Cécile in Paris (1854 – 55, Louis-Auguste Boileau), aber auch für das naturkundliche Oxford Museum, das Benjamin Woodward 1855 – 60 als Eisen-Glas-Kathedrale errichtete. Wichtiger als der Bezug zur Gotik wurde aber das tendenzielle Auflösen der architektonischen Form und Körperlichkeit, wie sie der Kristallpalast vorgeführt hatte. Schlanke Träger, verglaste Seiten- und Dachöffnungen, dünne Zwischenböden schufen einen lichterfüllten, flexibel auszugestaltenden und auszufüllenden Innenraum, wie er für Markthallen und die neue Gattung der Kaufhäuser benötigt wurde. Die berühmtesten Beispiele für derartige Architekturen, in denen beständig neu arrangierte Waren die Wahrnehmung dominieren sollten, um von einem mobilen Publikum konsumiert zu werden, sind Victor Baltards zentrale Markthallen für Paris (seit 1851) und der Innenausbau des Kaufhauses Au Bon Marché 1872 – 74 durch Louis-Charles Boileau, Sohn des Erbauers von St-Eugène |▶ 15|. Ähnlich wie in der gleichzeitig errichteten Oper |▶ 12| schwebte man gleichsam auf den geschwungenen Treppen von einer Etage zur anderen, doch im Gegensatz zu Garniers Bau trat die Architektur zugunsten der luxuriösen und farbenprächtigen Warenauslage zurück. Der Kulminationspunkt dieser neuen Technologie ist zugleich ihr eigenes Denkmal: Der eiserne Turm, den das Ingenieursbüro Gustave Eiffel für die Weltausstellung 1889 als Denkmal zur Hundertjahrfeier der Revolution errichtete, glorifizierte den zivilisatorischen und technischen Fortschritt der jungen französischen III. Republik nicht mehr im Sinne einer allegorischen Statue – wie dies gleichzeitig von dem französischen Bildhauer Frédéric Auguste Bartholdi in Zusammenarbeit mit dem Ingenieursbüro Eiffel für die New
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
36 □ 15 Paris, Eiffelturm, Maurice Koechlin und Gustave Eiffel, 1886 – 89
Yorker Freiheitsstatue geschehen war –, sondern in einer architektonischen Monumentalisierung des technischen Fortschritts (□ 15). In seiner Genese stellt der Turm eigentlich einen vom Mitarbeiter Maurice Koechlin entworfenen Brückenpylon dar. Derartige Fachwerkstützen hatte das Unternehmen Eiffel für die Brücken über den Douro in Porto oder das Garabit-Tal im Zentralmassiv erfolgreich realisiert. Doch in der Umarbeitung vereinigt der Turm verschiedenste Typologien und sprengte sie durch seine Technologie gleichsam auf. Er ist vierseitiger Bogen und Turm zugleich, Pylon, Aussichtsplattform, Leuchtturm und Denkmal, steht wie eine Skulptur im Zentrum des Märzfeldes bzw. der Weltausstellung und ist bei alledem ‚nur‘ ein reines Skelett, dem jede Körperlichkeit und reliefhafte Durcharbeitung abgeht. Daran vor allem stießen sich die vielzähligen harschen Kritiken, weil ihnen die durchkomponierte, mit Licht und Schatten erreichte Modellierung des Turms als Kunstwerk fehlte. Zugleich aber war der Turm eine Architektur, die Wahrnehmungsweisen völlig veränderte: Entrückt vom Moloch der Großstadt durchstieß man bei der Auffahrt plötzlich deren Dreck- und Rußschwaden und konnte den banalen und enervierenden Alltag mit einem Mal auf einer im wahrsten Sinne des Wortes gesunden und erhebenden Distanz halten. Doch die Weltausstellungen des 19. Jh.s und ihre technologischen Höchstleistungen hatten noch weitere Folgen: Sie belebten den Markt von Konsumprodukten und ließen die Herstellung von kunsthandwerklichen Erzeugnissen beständig ansteigen. Dank der neuen Technologien war der gestiegenen Nachfrage durch eine halbindustrielle Fertigung in Serien zu begegnen, doch stieß dies auf vielfältigen Widerstand. Die Vorbilder der Formen waren uninspirierte Stilmodelle, die Produktion oblag nicht dem Menschen, sondern in hohem Maße Maschinen ( Themenblock · Bauschmuck, S. 188 f.). Um den Status von Kunst und Geschmack zu erhalten, waren Reformen vonnöten. Die Vielfalt der verfügbaren Formen aus aller Welt war wissenschaftlich zu erfassen und öffentlich zugänglich zu machen: Das war die Aufgabe des South-Ken-
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sington-Museums, des heutigen Victoria & Albert Museum in London und vieler weiterer derartiger Institutionen in allen Ländern |▶ 18|. Der bloßen Imitation von ornamentalen Formen zum Schmuck des Kunsthandwerks war durch deren kreative Aneignung beizukommen. Dies übernahm etwa Owen Jones, der das Farbkonzept des Crystal Palace entworfen hatte, in seinem umfangreichen Werk „Grammar of Ornament“ (1856), gefolgt von ähnlichen abstrahierenden Vorlagewerken wie Eugène Grassets „Méthode de composition ornementale“ (1905). Schließlich und vor allem waren die Produktionsprozesse generell zu reformieren, denn die maschinelle Fertigung hatte den solchermaßen Produzierenden im Gegensatz zum Handwerker von der Gesellschaft und ihren Bedürfnissen entfremdet. Die Arts-and-Crafts-Bewegung um William Morris und viele andere kreierte hier im Zusammenspiel mit der englischen Mittelalterbegeisterung und sozialistischen Reformen eine Kunstgewerbereformbewegung, die über das Konzept eines gattungsübergreifenden Gestaltens die Impulse der frühen Moderne lieferte |▶ 11, 16|, aber in ihren Ursprüngen als Gegenbewegung zur Industrialisierung zu begreifen ist.
Großstadt und Landschaft nach 1850 Die Entstehung des Urbanismus
D
ie Industrialisierung, die Landflucht und die Ausbildung eines immer größer werdenden Konsummarktes ließen die europäischen Großstädte im 19. Jh. rapide anwachsen und sich verdichten. Die Folge waren nicht nur soziale Probleme infolge von mangelnder Hygiene; sondern ebenso war die Stadt den Anforderungen an Handel und Verkehr, Erholung und Vergnügen kaum mehr gewachsen. Und überdies war es durch die sich verdichtende und ungeordnete Stadt immer schwieriger, öffentlich wirksame Repräsentationsbauten zu errichten. Der in vieler Hinsicht modellhafte Stadtumbau von Paris, der unter Kaiser Napoléon III. durch den Präfekten Georges Haussmann ab 1853 vorgenommen wurde, traf grundsätzliche Entscheidungen zur Behebung dieses Problembündels. Der Plan sollte eine Sanierung für die Wohlhabenden werden, nicht für die Arbeiter; im Gegenteil, der öffentliche soziale Wohnungsbau entstand in Frankreich erst um 1900 und zumeist aus philanthropischen Initiativen. Haussmanns umfangreiche, durch Enteignungen rechtlich abgesicherte Durchbrüche durch die gewachsene Stadt schufen die berühmten Boulevards, die zum attraktiven Außenraum einer Öffentlichkeit von Vermögenden wurde und entsprechend die Randbebauung der neuen Straßen zu attraktiven Wohn- und Geschäftslagen umwandelten. Davon profitierten die für 20 Jahre von der Steuer befreiten Bauspekulanten, so dass sich der Umbau selbst finanzieren konnte. Korrelat dieses Liberalismus war eine strenge Fassadenbauverordnung |▶ 16|, die ein einheitliches, geordnetes und repräsentatives Erscheinungsbild der Stadt zuließ. Zugleich trugen die geraden breiten Verkehrswege zu einer entscheidenden Infrastrukturverbesserung bei: Im Wesentlichen handelte es sich um die gegenseitige Verbindung der kaiserlichen Residenz des Louvre, der neuen Bahnhöfe, der Verkehrsknotenpunkte und des zentralen Markts durch ein System von kreuzweise und ringförmig angelegten Achsen. Eingelagert sind zudem
Großstadt und Landschaft nach 1850
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die neuen Zentren gesellschaftlicher Repräsentation wie die Opéra und die beiden Theater an der Place du Châtelet |▶ 12|, außerdem Krankenhäuser und öffentliche Gärten. Die geraden breiten Boulevards schufen nicht nur weite Räume des Flanierens mit sinnfälligen Zielpunkten (etwa auf die Oper, den Louvre oder die Bahnhöfe, |▶ 10|, sie sollten auch der raschen Mobilisierung gegen Volksaufstände dienen. Doch mehr als solche repressiven Maßnahmen führte die gezielt betriebene, bis heute sehr wirksame soziale Aufwertung der Stadt dazu, dass ärmere Schichten in die Peripherie verdrängt wurden. Und natürlich gingen bei den massiven Eingriffen in die alte Substanz zahlreiche historisch bedeutende Baulichkeiten zugrunde – was immerhin durch gezielte Fotokampagnen der Altbausubstanz kompensiert wurde. Haussmanns Modell wurde weltweit nachgeahmt, u. a. in Berlin |▶ 16| oder Buenos Aires. – Andere Stadterweiterungen hatten die soziale Frage eher im Blick, so der radikal egalitäre und nicht zentralisierende Ensanche-(‚Erweiterungs‘-)Plan für Barcelona von 1859 in Form eines gleichmäßigen Schachbrettrasters (|▶ 13|, □ vgl. 74). Und mit der Anlage der Ringstraße in Wien wies man die Flächen der öffentlichen Repräsentation in einem konzentrischen Bereich aus, der die Altbausubstanz unangetastet ließ |▶ 13|. Die massive Landflucht infolge der Industrialisierung hatte viele europäische Städte über das gesamte 19. Jh. zu unhygienischen und unsozialen Molochs werden lassen (|▶ 16|, □ vgl. 82). Der steile wirtschaftliche Erfolg, begünstigt durch die Vergrößerung von Konsumentenschichten und den zunehmenden Überseehandel, hatte insofern gefährliche Konsequenzen, denn die Verdichtung des Industrieproletariats hatte nicht nur sanitäre und medizinische Risiken, sondern trug den Keim von Aufständen und Unkontrollierbarkeit in sich. Die Lösung der sozialen Frage vor dem Hintergrund einer liberalistischen, kapitalistischen Wirtschaftsordnung wurde insofern zu einer der wesentlichen Konstanten von Politik, Soziologie, Philosophie und auch der Architektur. Marx’ und Engels Analyse dieses Systems hat insofern eine Reihe proto-sozialistischer Vorläufer, etwa Saint-Simons christliche Soziallehre, Pugins Mediavalismus |▶ 6|, Charles Fouriers Arbeitskommunen und Pierre-Joseph Proudhons Kritik des Eigentums und Ablehnung der Staatsgewalt. In städtebaulicher Hinsicht erschien daher die asoziale, unhygienische und unkontrollierbare Industriestadt als ein vielschichtiger Missstand, dem eben das Bauen in Natur und Landschaft positiv gegenübergestellt wurde. Diese Denkfigur der Natur als göttlich beseeltes Paradies war ja bereits in den aufklärerischen und romantischen Diskursen vorgeprägt. Die ersten Umsetzungen für den sozialen Wohnungsbau begannen in der Mitte des 19. Jh.s in England, als Unternehmen ihre Produktionsstätten auf das Land verlegten und hier Werkssiedlungen errichteten. Ein Beispiel dafür ist das nach einem regelmäßigen Raster geplante Städtchen Saltaire, im Auftrag des Fabrikanten Titus Salt 1850 – 63 in der Nähe von Bradford errichtet. Der hier wirksame sog. Paternalismus sicherte den Arbeiterfamilien ein Mindestmaß an Komfort, band sie aber eng an das Unternehmen. Die Notwendigkeit, selbst für Haus und Familie sorgen zu müssen, hatte zudem einen erzieherischen Nebeneffekt. Auf dem Kontinent übernahm etwa Krupp mit seinen ab ca. 1860 errichteten Arbeitersiedlungen in der Umgebung von Essen die englischen Erfahrungen. Als Weiterentwicklung der philanthropischen und utilitaristischen Elemente des Paternalismus entstanden seit dem Jahrhundertende in England mehrere Gartenstädte, etwa Port Sunlight bei Warrington, seit 1889 von William Owen für den Seifenhersteller Leverhulme
II. Grundzüge der Architekturgeschichte 1800 bis heute
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errichtet, oder Bournville, von Alexander Harvey für den Schokoladefabrikanten George Cadbury ab 1895 erbaut. Beide Städte sind in ausgedehnte Parkanlagen gesetzt, in denen die meisten Bewohner über einen eigenen Garten zur Selbstversorgung verfügen. Es gibt Bildungs- und Erholungseinrichtung, Kirchen und einen zentralen Platz. Subtil sind pittoreske Elemente des Landschaftsgartens wie geschwungene Wegführungen, points-de-vues und lebhafte Farben mit regelhaften Strukturen, etwa einem kreuzförmigen zentralen Platz in Port Sunlight, kombiniert. Das Ganze bildet ein vielschichtiges System, in dem Aspekte der Terrainerschließung, der Kanalisation, der Bautechnik, der Infrastruktur, der Gartenplanung und nicht zuletzt des architektonischen Stils zusammenwirken. Aus solchen Erfahrungen wurde die Urbanistik als eigenständige Disziplin geboren: 1909 gründete Leverhulme die Town Planning School in Liverpool, 1911 zog □ 16 Ebenezer Howard, „Tomorrow“, 1898, Schema der Cadbury mit einer vergleichbaren Schule in Garten- und Satellitenstädte" Birmingham nach. 1910 fand in Berlin die große Städtebauausstellung statt, die vor allem dem Wohnungsbau gewidmet war. Entscheidenden Einfluss daran hatte Ebenezer Howards 1898 erschienene Schrift „Tomorrow. A Peaceful Path to Real Reform“ (seit der Neuauflage 1902 „Garden Cities of Tomorrow“), in der die Gartenstadt als wirtschaftlich eigenständige, in ihrer Größe begrenzter und nicht der Spekulation anheimfallender Satellit im Grünen formuliert wird (□ 16, |▶ 22|). Hier war der Schritt einer Versöhnung von Natur und Stadt vorgedacht, deren Bedeutsamkeit sich international in vielen Gartenstadtvereinigungen niederschlug, so der 1899 gegründeten Garden Cities Association oder der sich 1902 zusammenschließenden Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft. Weitere umfangreich angelegte Gartenstädte entstanden: Hampstead von Raymond Unwin und Barry Parker wurde seit 1905 geplant, ab 1907 entstand Hellerau |▶ 22|, von 1909 an die von Georg Metzendorf entwickelte Gartenvorstadt Margarethenhöhe in Essen. Ernst May, der vor und nach dem Zweiten Weltkrieg in Breslau, Frankfurt, Magnitogorsk, Darmstadt usw. zahlreiche Siedlungen realisierte |▶ 30|, hatte von 1910 – 12 bei Unwin in Hampstead gearbeitet und dessen theoretisches Werk „Town Planning in Practice“ (1909) ins Deutsche übersetzt („Grundlagen des Städtebaus“, 1910). So sind also historisch auch noch die Schlafvorstadt der 60er Jahre des 20. Jh.s mit den Konnotationen von Paradies und Freiheit verbunden, wie sie der aufklärerische Landschaftsgarten entwickelt hatte. Die Wohnviertel im Inneren der Städte blieben im 19. Jh. durch einen liberalistisch-radikalen Funktionalismus geprägt, der sich im Wohnbau in der hochverdichteten Mietskaserne niederschlug |▶ 16|. Doch auch hier regten sich Reformansätze im Sinne einer mehr und mehr systematisch durchdachten Intervention in das
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urbanistische Gefüge. Paris und Berlin hatten seit der Mitte des 19. Jh.s Bauverordnungen, die zunächst Fassadenhöhen im Verhältnis zu Straßenbreiten regelten und begrenzten (Paris: 20 m, Berlin: 22 m), bald nach der hauptsächlichen Nutzung des jeweiligen Viertels unterschieden. Vor allem agierte nach der Reichsgründung 1871 auf kommunaler Ebene eine effiziente Bauleitplanung mit neutralen Fachbeamten, die etwa juristisch verbindliche Flächennutzungspläne ausarbeiteten und somit partikularen Wildwuchs und exzessive Spekulation unterbanden bzw. hygienische Standard (Belichtung und Belüftung) und ästhetisches Wohlgefallen im Ansatz sicherstellten ( Themenblock · Bauverwaltung, S. 118 f.). 1875 wurde für Preußen das Fluchtliniengesetz verfügt, 1906 eine Vorform des Flächennutzungsplans verordnet, nach dem auch etwa die Ausnutzung von Grundstücken (Grundflächenzahl: maximale Ausnutzung eines Grundstücks, Geschossflächenzahl: Verhältnis der gesamten Geschossfläche zu der Fläche des Baugrundstücks) Bestandteil des Genehmigungsverfahrens ist. Dies ging mit einer ausgesprochenen Fachliteratur einher, vor allem dem erstmals 1890 in der Reihe „Handbuch der Architektur“ erschienenen „Handbuch des Städtebaus“ von Hermann Joseph Stübbens sowie der Zeitschriftenreihe „Der Städtebau“. Somit entstanden administrative und politische Rahmenbedingungen für den im internationalen Vergleich sehr umfangreichen und letztlich effektiven sozialen Wohnungsbau der Weimarer Republik und auch der Nachkriegszeit |▶ 30|. Die städtebauliche Verschönerung folgte vielfach den von Camillo Sitte („Der Städtbau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“, 1889) und auch dem Brüsseler Bürgermeister Charles Buls („Esthétiques des villes“, 1894) formulierten Prinzipien. Die Fassaden sollen wie Theaterkulissen von malerischer Natur sein und beim Bewohner visuelles Gefallen auslösen. Dabei kam auch den historischen Monumenten eine zentrale Bedeutung zu. Die neue Bedeutung der Denkmalpflege wurde also in den Städtebau integriert, mitsamt den pittoresken Fassaden ein bisweilen nostalgischer Ton angeschlagen. Man kann die hiermit intendierte Identifikation mit einem wohlhabenden und funktionierenden städtischen Gemeinwesen auch als Kompensation von der durch Technik, rationale Funktionalität und Anonymität geprägten modernen Stadt begreifen. Beispielsweise markieren die historistischen Rathäuser in München (1867 – 1909, Georg von Hauberrisser) oder Hannover (1901 – 13, Hermann Eggert), aber auch von Paris (1874 – 88, Théodore Ballu und Pierre Deperthes) bis heute zentrale symbolische Orte dieser Städte. Man muss dieses Insistieren auf die alte monozentrale europäische Stadt vor dem Hintergrund ganz anderer Ansätze sehen, das ungezügelte Wachstum der Städte zu regeln, etwa Ildefons Cerdàs dezentrale, völlig rasterartige Stadterweiterung von Barcelona von 1859 |▶ 13|. Im Anschluss an diese radikale Rationalisierung entwarf Arturo Soria y Mata, Initiator der Straßenbahn und des Telefonnetzes in Madrid, 1882 den Plan einer Bandstadt, die entlang eines breiten Boulevards als zentraler, einem Rückgrat ähnlicher Verkehrsachse wachsen kann. Dieses Konzept sollte vor allem Auswirkungen auf Le Corbusiers Ville radieuse von 1935 haben |▶ 27|, in ihrer Zeit fügte sich Soria y Matas urbanistischer Plan aber ebenfalls in die Dichotomie Stadt vs. Land, die im Ausgreifen der schmalen Bandstadt in die Umgebung aufgehoben werden sollte, ohne dabei schädliche Verdichtungen, aber auch ohne zentralen Orte zu schaffen. Der Städtebau des 19. Jh.s war auch ein Mittel des Kolonialismus und der Kolonisierung. Die Zentren der ehemaligen Kolonien wurden nach den Modellen ihrer jeweiligen Mutterstaaten teilausgebaut, was etwa in Kairo, Alexandria, Oran und Algier bis heute wirksame
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□ 17 New York, Central Park, Frederick Olmstedt, 1859 – 63, Grundriss von 1875
städtische Bezugspunkte schuf. Aber auch die Erschließung der USA geschah über einen sich wandelnden Städtebau. Der massiv betriebene Eisenbahnbau und die großmaßstäbliche Industrialisierung schufen seit der Jahrhundertmitte Verkehrswege und Städte, ohne dass es hierfür gewachsene historische Strukturen gab. Die Logik der Wege und der Planstädte war zunächst allein eine betriebswirtschaftliche: Zahlreiche der neuen Ansiedlungen wie z. B. Pullman Town oder Tacoma waren entlang der Eisenbahnlinien errichtete sog. company towns, also riesige Werksiedlungen. In den auf rasterförmigen schematischen Grundrissen geplanten Städten herrschte ein vergleichsweise guter hygienischer Standard, aber auch eine problematische soziale Homogenität, waren diese Kommunen doch reine Arbeiterstädte. Gerade in den Industriezentren an den Großen Seen sollte diese Segregation zu großen sozialen Problemen führen. Dagegen standen Bestrebungen, über ein emphatisches Erleben der unendlichen, neu eroberten Natur Gemeinschaft zu stiften. Diese, mit der amerikanischen Romantik, dem sog. Transzendentalismus etwa eines Ralph Waldo Emerson und Walt Whitman verbundene Bewegung prägt das US-amerikanische Selbstverständnis bis heute; im 19. Jh. schlug es sich etwa in den Bildern großartiger, erhabener, von Siedlern eroberter Landschaften nieder, wie sie Alfred Bierstadt malte; und noch der Westernfilm fußt auf solchen Traditionen. Städtebaulich und architektonisch waren solche Auffassungen bereits bei der Planung der Mall in Washington mit ihren grandiosen Sichtachsen wirksam geworden |▶ 3|. Als gemeinschaftliche Identität stiftende Maßnahme war in diesem Sinn aber vor allem die Einrichtung des riesigen Central Park in New York durch Frederick Law Olmstedt beispielhaft. Seit 1853 geplant, wurde zwischen 1859 und 1862 die 3,41 Quadratkilomenter große Freifläche zwischen der 59. und 110. Straße im Sinne eines vielfältig für Sport, Erholung und Kommunikation nutzbaren englischen Landschaftsparks angelegt (□ 17). Olmstedt legte vier Durchgangsstraßen an, die aber dank vielerlei Brücken und Unterführungen die Kontinuität der landscape nicht beeinträchtigen. Der pittoreske Park ist nicht nur ein Ort der innerstädtischen Naherholung, sondern ein gelebtes Symbol individueller Freiheit inmitten einer grandiosen Natur (Tafuri/Dal Co 1977, S. 17 – 25). Und gleichzeitig wurde mit ihm eine rapide Aufwertung des Zentrums von Manhattan erreicht, das sich in einer hochrangigen Randbebauung v. a. durch Museen (Metropolitan Museum of Art, Guggenheim Museum) niederschlug. Olmstedt plante nicht nur zahlreiche weitere innerstädtische Parks als innerstädtische Nobi-
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litierungsmaßnahme sowie die Campusanlagen von Berkeley und Columbia University, sondern war in bezeichnender Weise auch für die Konzeption von Nationalparks wie des Yosemite National Park (1864) oder der Niagarafälle (1879) zuständig, in denen die Natur vor der industriellen Expansion geschützt werden sollte. In den USA gab es allerdings in den boomenden Städten New York, Philadelphia und Chicago eine sehr frühe City-Bildung in den Zentren. Bauen konnte hier bedeuten, Etagen in einem Kubus aufeinanderzustapeln und die Fassade so gut wie möglich als Lichtquelle zu benutzen, wie das schon um die Jahrhundertmitte im Cast Iron District in New York zum Ausdruck kam. Das nun konzeptuell entstehende Hochhaus stellte technische Anforderungen, etwa an die Tragfähigkeit der neu entwickelten Eisenskelette, aber auch an die Erschließung durch einen mechanischen Aufzug, der 1853 erstmals eingesetzt wurde |▶ 17|. Aber auch die adäquate Gestaltung blieb eine Frage, denn die monotone Rasterstruktur eines vielgeschossigen Gebäudes mit rascher Fensterfolge ließ sich nicht ohne weiteres mit historischen Gliederungselementen verbinden. So gab es eine Reihe von Lösungsvorschlägen unter den Architekten der sog. Chicago School, insbesondere bei dem Chicagoer Architekten William Le Baron Jenney, der im Home Insurance Building (1883 – 86) das freigelegte Stahlskelett zur Fassade machte bzw. es im Second Leiter Building (1889 – 91) mit einer nüchtern-unpersönlichen rechtwinkeligen Rasterstruktur verkleidete. Henry Hobson Richardson hingegen umgab seinen Marshall Field’s Wholesale Store (1885 – 87) vollständig mit Rundbogenarkaden in Rustikamauerwerk. Daniel Hudson Burnham unterließ es, das Hochhaus über referentielle Formen als herausragendes und vornehmes Werk des Handelszeitalters zu kennzeichnen. Sein Flatiron Building in New York, auf einem spitz zulaufenden Grundstück 1902 errichtet, gliedert vielmehr wirkungsvoll den städtischen Raum (Tafuri/Dal Co 1977, S. 58 – 74). Vor diesem Hintergrund, der Aporie einer Sprachfähigkeit des Wolkenkratzers und seiner Anonymität, treten die Ansätze des charismatischen Louis Sullivan hervor, seine Hochhäuser (Wainwright Building in Chicago, Guaranty in Buffalo, |▶ 17|) zu individualisieren – als kraftvollen und höchst eigenständigen Ausdruck amerikanischen Naturbewusstseins. Das Komplement zur buchstäblichen Auslagerung der Wohnviertel aus den kollabierenden Großstadtzentren in die ländlichen Außenbezirke einerseits und der nachdrücklich einsetzenden City-Bildung aus Verwaltungsgebäuden in den Zentren andererseits war deren prononcierte monumentale Verschönerung. Die amerikanische City-Beautiful-Bewegung entstand vor allem im Zusammenhang mit der Weltausstellung in Chicago im Jahre 1893, auf deren immensem Gelände Daniel Burnham eine ausgedehnte Komposition aus Bassins, Plätzen und Prachtachsen anlegte, die mit den monumentalen Ausstellungsarchitekturen verzahnt war (□ 18). Die größtenteils weißen Gebäude folgten – ganz entgegen den Bestrebungen der gerade genannten Chicago School – der neubarocken Formensprache der Pariser École des Beaux-Arts. Dazwischen integriert waren auch weite als Landschaftsparks angelegte Zonen in der Tradition von Olmstedt. Die Ausstellung führte mit dieser opulenten Architektur die wirtschaftlichen und innenpolitischen Erfolge der USA als geeinter Nation vor. In der Folge statteten weitere amerikanische Städte ihre Zentren mit monumentalen klassischen Gebäuden aus, auch mit der theoretischen Begründung, diese Verschönerung würde nationale Identität und moralische Integrität stiften. Das größte Projekt in diesem Zusammenhang war der sog. McMillan-Plan für die Washingto-
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□ 18 Chicago, Weltausstellung 1893, Gesamtansicht
ner Mall, die unter Mitarbeit von Burnham und Olmstedt jr. seit 1902 ihre monumentale Ausgestaltung in Form von nationalen Monumenten und Institutionen erhielt. Auch hier ist das charakteristische Zusammenwirken von landscape und Architektur wesentlich. Die City-Beautiful-Bewegung mit ihrem pompösen Prunk entstand in einem diffizilen Aushandlungsprozess, in dem ein uneingeschränkter Wirtschaftsliberalismus und die Lösung drängender sozialer Probleme infolge der kollabierenden Städte sowie philanthropische Elemente miteinander verbunden werden mussten. Flächennutzungspläne und Bauverordnungen als Mittel der weit vorausschauenden Planung waren hier nur in größter Allgemeinheit zu verordnen, wie das Beispiel New York zeigt: Die Zoning Resolution von 1916, nach der die Wolkenkratzer mit steigender Höhe zurückspringen müssen, ansonsten aber die volle Ausnutzung des Grundstücks möglich ist, diente lediglich dazu, die schlimmsten – weil renditeschädlichen – Auswüchse zu verhindern. – Die City-Beautiful-Bewegung in ihrer markanten Einbeziehung der Landschaftsgestaltung wurde international intensiv rezipiert, so von Edwin Lutyens in Neu-Delhi (1913, |▶ 42|) oder für die Stadtgestalt von Canberra. Der nur in Ansätzen verwirklichte Plan von Walter Burley Griffin sah eine sternförmige, im zentralen Capitol mündende Anlage von Monumentalachsen in einem von Seen und Hügeln bestimmten Terrain vor.
Um 1900 Architektur als Gesamtkunstwerk
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egen Ende des 19. Jh.s konsolidierte sich ein über viele Jahrzehnte andauernder Prozess, in dem das Bürgertum, institutionell und politisch etabliert, zur kulturell bestimmenden Schicht aufgestiegen war. Das galt vor allem auch deshalb, weil es nunmehr zu den wesentlichen Konsumenten von Verbrauchsgütern zählte: Die großen Kaufhäuser und
Um 1900
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zahllose Handwerksbetriebe rechneten damit, dem Geschmack der neuen Käuferschichten zu entsprechen bzw. ihn zu formen. Dabei kam auch eine soziale Differenzierung hinzu: Frauen wurden nämlich nunmehr immer wichtigere Akteure, ja diejenigen, die über einen besonders verfeinerten Geschmack verfügen sollten. Sie waren mittlerweile zumindest in den Oberschichten gut gebildet, hatten dabei vielfach auch eine künstlerisch-handwerkliche Technik, das Handarbeiten, in der Schule erlernt. Seit dem letzten Jahrhundertdrittel gab es zudem die Haute Couture, initiiert durch Charles Frederick Worth, die die Kriterien von Originalität und Geschmack in die Damengarderobe einführte. Solche Entwicklungen verzahnten sich auch mit der Frage des Interieurs bzw. der Inneneinrichtung besserer Wohnungen. Sie waren, häufig zu geregelten Zeiten, etwa dem Nachmittagstee, Orte einer gepflegten Geselligkeit und dienten dem Salonhalten, also exklusiven Empfängen, häufig durch die Dame des Hauses. Die Einrichtung des privaten home blieb somit nicht Privatsache, sondern erhielt eine halböffentliche, kommunikative Funktion, die über den Geschmack der Bewohner eines Hauses Auskunft geben konnte. In dieser Halböffentlichkeit bildete dieses Kriterium ein wesentliches soziales Distinktionsmerkmal, in dem mentale, künstlerische und politische Einstellungen deutlich zum Ausdruck kamen, etwa Aufgeschlossenheit, Originalität, Traditionsbewusstsein u. v. m. Verstärkt wurde dies durch die Entstehung eines privaten Kunstmarktes zu dieser Zeit, der seine Objekte analog zu den kunstgewerblichen Arbeiten in diese Ausstattungskultur einspeiste. Die neue Kunstgewerbereformbewegung ( Themenblock · Interessensverbände, S. 220 f., |▶ 18, 22|) wiederum rechnete mit diesen neuen Käuferschichten, die international vertreten waren – in Berlin ebenso wie in Paris, New York oder Moskau. Aus diesen Gründen ging es nicht nur um Fragen von Form, Produktion und Vertrieb, sondern hier wurden auch Geschmackskulturen verhandelt: Eine Reihe von – erstmals reich mit Fotoabbildungen versehenen – Zeitschriften („The Studio“, „Art et décoration“, „Deutsche Kunst und Inneneinrichtung“) machte die Diskurse um das Kunstgewerbe allgemein öffentlich und kritisch bewertbar. Vielfalt war dabei durchaus erwünscht, denn es ging nunmehr nicht länger um eingespielte Muster und kanonische Formen, sondern um den Ausweis origineller Individualität. Es ist aus solchen Gründen verständlich, dass industriell gefertigte Kunstgegenstände oder historistische Formenwiederholungen diese Bedürfnisse nicht mehr befriedigen konnten. Außerdem bestand der Anspruch, das Interieur geschmacklich aufeinander abzustimmen, also nicht etwa ein collageartiges Durcheinander vorzuführen. Dies wiederum stellte besondere Ansprüche an die Innenarchitektur: denn jedes Möbel und jeder Einrichtungsgegenstand sollte seinen eigenen Platz innerhalb eines klug ermittelten Innenraums haben, und dessen Einbindung in die Gesamtstruktur einer Wohnung oder eines Wohnhauses beeinflusste notwendigerweise die ganze Architektur. Derartige Aufgabenstellungen verbanden sich mit dem durchaus neuen Anspruch, psychologisch wirkende Stimmungen durch die Innenräume und die Fassaden zu schaffen (vgl. S. 17 f.). Die wesentlichen Mittel dazu waren nicht Verweise auf ältere Stile, sondern der Einsatz von bewegten Linien und lebhaften Farben sowie Lichtwirkungen. Das ging zurück auf die damals aktuelle Einfühlungsästhetik bzw. -psychologie von Friedrich Theodor Vischer und seinem Sohn Robert, was u. a. von den Kunsthistorikern Heinrich Wölfflin und August Schmarsow zur Deutung historischer Architekturen umgesetzt wurde. Die Kunsterfahrung entspreche dem körperlichen Empfinden, das Wahrnehmen der Architektur also dem Wahrnehmen des eigenen
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□ 19 Darmstadt, Mathildenhöhe, Ernst-Ludwig-Haus, Joseph Maria Olbrich, 1900
Körpers. Die wissenschaftliche Untersuchung der psychologischen Wirkung von Formen und Farben, wie sie von Wilhelm Wundt und Theodor Lipps betrieben wurde, rezipierten viele der um 1900 tätigen Architekten, so etwa Henry van de Velde, August Endell oder Hermann Obrist. Insofern wurde die schwingende Linie zu einer Art Leitform der Jugendstilarchitektur, denn sie vermittelte gattungsübergreifend Rhythmus und Vitalität, vermochte zudem Inneneinrichtung, Innenräume und Außenerscheinung einer Architektur zu einem synästhetischen Gesamtkunstwerk zusammenzubinden. Diese Ansätze sind an verschiedenen Orten gleichzeitig zu beobachten: Mit Victor Hortas eigenem Brüsseler Atelierhaus |▶ 19| sind zahlreiche weitere von ihm entworfene Privathäuser zu vergleichen; auch Henry van de Velde, der sich vom pointillistischen Maler zum Kunsthandwerker und Architekten entwickelte, kreierte in seinen eigenen Häusern (Bloemenworf bei Brüssel, 1895; Hohe Pappeln in Weimar, 1907/08) sowie mit seinen Villen (Villa Esche in Chemnitz, 1902/03; Haus Hohenhof in Hagen, 1906 – 08) programmatische Gesamtensembles. Van de Velde sollte diese Grundsätze auch in der von ihm gegründeten Kunstgewerbeschule in Weimar umsetzen und damit die Keime der Reformpädagogik des Bauhauses legen. Ähnliches gilt für Hector Guimard in Paris, dessen Hauptwerk, das Castel Béranger (1895 – 98), ein vegetabil belebtes, gezielt freudig stimmendes Etagenwohnhaus darstellt. Auf der Mathildenhöhe in Darmstadt entstand unter der Federführung von Joseph Maria Olbrich eine Künstlerkolonie, um im Auftrag des Großherzogs Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt geschmackvolles Kunsthandwerk zu produzieren. Die zumeist von Olbrich entworfenen Häuser für die Künstler und Fabrikanten achten darauf, in ihren Wegführungen und Räumen angemessene Stimmungen entstehen zu lassen (□ 19). Im Kreis der Wiener Sezession, dem Olbrich entstammte, wurde das Thema der Emotionserzeugung unter anderen Vorzeichen behandelt: Das 1905 errichtete Sanatorium Purkersdorf von Josef Hoffmann, ein aus abstrakten Quadratmodulen komponierter Bau, sollte ein nervenberuhigendes, gleichsam therapeutisches Ambiente kreieren. Sein Kontrahent Adolf Loos hingegen ( Themenblock · Bauschmuck, S. 188 f.) schuf insbesondere mit dem Geschäfts-
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und Wohnhaus gegenüber der Wiener Hofburg (Michaelerhaus) ein programmatisches Gebäude mit nackter, völlig neutraler Fassade, die jedes Ornament negiert (□ 20,|▶ 20|). – Diese prinzipiell vergleichbaren Tendenzen, die sich auch in Italien, Katalonien |▶ 19| und in Städten wie Glasgow, Riga usw. verfolgen ließen, wurden in ihrer Zeit emphatisch begrüßt, weil damit ein übernationaler Epochenstil entstanden zu sein schien, welcher entsprechend optimistisch intituliert wurde: Jugendstil, art nouveau, modernismo, stile Liberty. Die Ernüchterung setzte schon kurz nach der Jahrhundertwende ein. Schon die Gründung des Deutschen Werkbundes im Jahr 1907 als Dachverband der Kunstgewerbebewegungen markierte einen Umschwung. Hier verbanden sich die Traditionen der Artsand-Crafts-Bewegung, der Gartenstadt und der Lebensreform mit dem Jugendstil, um eine marktorientierte Qualitätssicherung der architektonischen und kunsthandwerklichen Produktion zu erreichen. Wichtige Gründungsmitglieder waren Hermann Muthesius |▶ 11|, Richard Riemerschmid |▶ 22|, Heinrich Tessenow |▶ 22| und Henry van de Velde. Aber die zu schaffenden Gesamtensembles standen unter dem Diktat einer programmatisch schlichten Form. Die Ehrlichkeit der ‚guten Form‘ sollte pädagogisch wirken und auch für eine industrielle Massenherstellung geeignet sein. Implizites Ziel war es, solchermaßen gleichsam von oben her die ersehnte Einheit einer gegenwärtigen ‚Kultur‘ wiederherzustellen |▶ 23|. Die Zeit luxuriöser Gesamtensembles in individueller Fertigung war vorüber. Ein Weiteres kam hinzu: Im Zuge der im Vorfeld des Ersten Weltkriegs stärker werdenden Konkurrenzen der europäischen Staaten untereinander nationalisierten sich die Diskurse in ausgeprägter Weise. Modernes Bauen hieß nunmehr auch, eine neue ‚männliche‘, jeweils angeblich national spezifische Monumentalität dem angeblich effeminierten, internationalen Jugendstil entgegenzusetzen. Die damit verbundene Entflechtung der im Jugendstil programmatisch integrierten Kunstgattungen sah die Architektur nunmehr wieder als die Königin aller Künste, die sich ihr sichtbar unterzuordnen haben. Zudem müsse die Konstruktion als objektives Grundprinzip der Architektur herausgestellt und radikal vom bloß applizierten Ornament abgesetzt werden ( Themenblock · Bauschmuck, S. 188 f.). Das implizierte auch, die industrielle Produktion als wesentliches Charakteristikum in die Architektur zu integrieren, wie das etwa nachdrücklich im Rahmen des Werkbundes propagiert wurde. Peter Behrens, Walter Gropius, Hans Poelzig, Max Berg und Auguste Perret entsprachen sich insofern prinzipiell in ihren Architekturkonzepten um 1910:
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Behrens transformierte mit seiner AEG-Turbinenhalle |▶ 23| eine kühne stählerne Werkhalle zu einem modernen Tempel, der auch zur Imagebildung der AEG beitrug. Denn Behrens war auch der Chefdesigner des Unternehmens, das sich eine kohärente corporate identity gab. Weitere vergleichbare Hallen von Behrens (Montagehalle und Kleinmotorenfabrik) sowie von Walter Gropius und Adolf Meyer (Alfeld a. d. Leine) sollten bis 1913 folgen. Hans Poelzig schuf mit seinem Kaufhaus in der Breslauer Junkernstraße (1911) eine künstlerische Umsetzung des Stahlbetons: Konsequent angewandt ergibt sich eine betont horizontale Gliederung, die dynamisch um die Gebäudeecke geführt ist, also keine zentriert komponierte Fassade mehr kennt. Die 1913 ebenfalls in Breslau errichtete Jahrhunderthalle von Max Berg verwirklichte eine riesige überkuppelte Festhalle in kühner Ausnutzung der Betontechnik. Die Halle erinnert über ihren Namen an die Befreiungskriege. Vor allem symbolisierte sie allein durch ihre gewaltige Größe Gemeinschaft und konnte dies ganz ohne Zuhilfenahme von sprechenden Zierformen tun. Auguste Perrets Pariser Théâtre des Champs Elysées versteht sich als konsequente Anwendung einer Betonskelettkonstruktion, die sich nach außen in einer streng rechtwinkligen Komposition aus vereinfachten klassischen Gliederungselementen in weißfarbigem Marmor äußert |▶ 25|.
Genese der Avantgarden im Ersten Weltkrieg Die europäische Illusion des Neubeginns
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er Erste Weltkrieg brachte das architektonische Geschehen zwar nicht zum Erliegen, doch schränkte er die Produktion selbst in nicht-kriegführenden Ländern merklich ein. Einige Architekten, etwa Erich Mendelsohn, waren zudem eingezogen. Vor allem in Deutschland beeinträchtigte zudem die nachfolgende Hyperinflation das Baugeschehen beträchtlich. Als Konsequenz blieben viele, gerade junge, noch nicht etablierte Architekten teilweise über mehrere Jahre ohne Aufträge und widmeten sich insbesondere theoretischen Entwürfen. Dies taten zumindest einige umso intensiver und radikaler, als schon vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs der Anspruch bestanden hatte, als Intellektueller und Künstler gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Der Künstler und insbesondere der immer im sozialen Raum agierende Architekt geriet insofern zum Propheten, zum Künder einer neuen Welt (vgl. S. 90). Hier mag zwar der schlichte Hintergedanke wirksam gewesen sein, mit radikalen Entwürfen auf sich aufmerksam zu machen, aber insgesamt hatte das über diese Schriften und Entwürfe verbreitete Pathos eines völligen Neuanfangs insofern seine Berechtigung, als in den 20er Jahren nun tatsächlich eine radikale Neukonzeption der Architektur festzustellen ist, es also nicht nur bei hohlen Worten blieb. Vor allem im Umfeld der De Stijl-Gruppe |▶ 24|, des russischen Konstruktivismus, bei den Mitgliedern der Gläsernen Kette und im Bauhaus sowie bei Le Corbusier verbanden sich theoretisches Nachdenken, publizistische Präsenz und praktisches Entwerfen in bemerkenswerter Weise ( Themenblock · Architektenrollen, S. 280). Und immer ist implizit oder explizit die Katastrophe des Ersten Weltkriegs mit seinen umfassenden sozialen, ethischen und politischen Umwälzungen als entscheidender Anlass zu benennen.
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Generell ist diese Proklamation eines Neuanfangs dadurch gekennzeichnet, dass überbrachte architektonische Elemente (Tür, Fenster, Mauer) dissoziiert, abstrahiert und neu kombiniert werden. Die damit einhergehende Herauslösung aus traditionalen Entwicklungen transponiert die meist in eine physikalische Naturgesetzlichkeit eingebundenen Architekturelemente auf eine höhere, gleichsam immaterielle oder metaphysische Bezugsebene: Aus der schweren Mauer wird die neutrale Scheibe, aus dem gerahmten Fenster die Rechtecköffnung, aus dem komplizierten Dach eine gleichsam schwebende Fläche. In dieser Weise entstehen Umwertungen von herkömmlichen Beurteilungskriterien, wenn etwa die Dialektik von Innen- und Außenraum als ein Oszillieren von beidem zu erfahren ist oder sich die physische Schwere der Tektonik in eine gleichsam erdungebundene Leichtigkeit auflöst. Diese Transponierung löst notwendigerweise die Architektur aus ihrer historischen Gewordenheit und kann somit in der Vorstellung eines kompletten, voraussetzungslosen Neubeginns Befreiung von Tradition und Freiheit zu radikalen Lösungen proklamieren. Insofern verstehen sich die Realisierungen wie auch die theoretischen Äußerungen immer als Manifeste, nicht etwa als ‚natürliche‘, allmähliche Lösungen eines Problems. In den Niederlanden konnte sich, da das Land nicht in den Krieg eingetreten war, das praktische Bauen während und unmittelbar nach den Kampfhandlungen am ehesten fortsetzen. Dies schlug sich in einer Reihe von Großsiedlungen und öffentlichen Gemeindebauten (Rathäuser, Schulen) etwa von Willem Marinus Dudok und Jacobus Johannes Pieter Oud nieder, in denen sehr früh Standardisierung, Wohnkomfort, gute Belichtung und kubische, schlichte Bauformen angewandt wurden |▶ 28|. In diesem Umfeld entstand 1917, vor allem aufgrund der Bekanntschaft zwischen Oud und Theo van Doesburg, die Gruppe De Stijl, die im Anschluss an die abstrakten, geometrisch rigiden Bilder Piet Mondrians beanspruchte, das Lebensumfeld derart aus elementaren Formen gestalten zu können, dass die Kluft zwischen Leben und Kunst bzw. zwischen zweckdienlicher Architektur und ihrer künstlerischen Ausstattung aufgehoben würde |▶ 28|. Der Ausgangspunkt der Formverschränkungen von kubischen Gebilden bildete die Villa Henny in Huis ter Heide von Robert van ’t Hoff (1915 – 19, □ 21). Aus dem für den Villenbau ungewöhnlichen, aber jedenfalls ‚künstlichen‘ Material Stahlbeton errichtet sind hier auf zwei Etagen kubische Formen zwischen deutlich vortretenden horizontalen Flächen (Sockel, Balkon, Vordach, Flachdach) angeordnet. Hier wurde ganz klar das Vorbild der prairie houses von Frank L. Wright |▶ 24| – den van ’t Hoff persönlich kannte – zu einer Großskulptur aus elementaren Formen und Räumen weiterentwickelt. Während van Doesburg sich vor allem damit beschäftigte, rechtwinkelige Farbfeldkompositionen als Innengestaltung von Fußböden, Wänden und Decken bzw. als Fassadengliederung anzuwenden, setzte Oud etwa für seine Siedlung Oud Mathenesse in Rotterdam 1923 farbliche unterschiedliche Blöcke als Grundelemente der Architektur ein. Starkfarbige Flächen als Leisten und Paneele entwickelte seit 1919 vor allem Vilmos Huszár zusammen mit Möbelbauern (Inneneinrichtung der Villa De Arendshoeve in Voorburg, 1919). Ein weiterer dieser Möbelbauer war Gerrit Rietveld, der seinen berühmten Rot-Blau-Stuhl als konsequente Konkretisierung der De Stijl-Auffassungen entwickelte: Kanthölzer und Platten sind scheinbar ohne konstruktive Verbindungen zu einem Sitzmöbel zusammengefügt, dessen Linien und Achsen mit denjenigen des umgebenden Raums in Beziehung gesetzt werden können. Aus solchen Prinzipien entstand auch das Haus Schröder-Schräder in Utrecht, das – ganz aus dem
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□ 21 Huis ter Heide, Villa Henny, Robert van ’t Hoff, 1915 – 19
Inneren entworfen – gleichsam als konsequent zu Ende gedachte, aus Einzelteilen montierte Raumkomposition gelten kann |▶ 28|. Über das architektonische Darstellungsverfahren der Axonometrie wurden solche Baukonzeptionen insbesondere bei van Doesburg rückübersetzt in Bildkompositionen aus regelmäßigen Rechtecken und Parallelogrammen, so dass auf dieser Ebene Architektur, Skulptur und Malerei eng miteinander verschränkt werden konnten. Für Frankreich, wo nach dem Ersten Weltkrieg die Vision einer Fortsetzung des ‚klassischen Geistes‘ des 18. Jh.s als Rezept einer nationalen Moderne beschworen wurde, gibt es eine einzige herausstechende Figur, die eine exponierte Rolle als Avantgarde-Erneuerer reklamierte: Charles-Edouard Jeanneret, seit 1920 alias Le Corbusier. Er äußerte sich vor allem in verschiedenen polemischen Artikeln von 1920 – 22 in einer von ihm mitherausgegebenen Kunstzeitschrift mit dem bezeichnenden Titel „Esprit nouveau“ (‚Neuer Geist‘). Diese Artikel erschienen 1923 zu einem Buch zusammengefasst unter dem Titel „Vers une architecture“ (vgl. S. 89). Vor allem auch die Stadtplanungsmodelle, 1925 in „Urbanisme“ veröffentlicht, visionierten einen kompletten Neubeginn des Urbanismus in einem paradiesischen Urzustand, in dem die historische Stadt vergessen ist |▶ 27|. Der bis 1917 in La-Chaux-de-Fonds im Schweizer Jura lebende Jeanneret hatte dort bereits einige bemerkenswerte Villenbauten errichtet und sich seit 1914 beim Wiederaufbau zerstörter französischer Städte engagiert, indem er ein flexibles Standardgerüstmodul für Einzelhäuser konzipierte. Das Dom-Ino genannte Haus besteht aus drei Betontrageböden, die durch sechs leicht nach innen gesetzte Metallstützen getragen werden sollten. Um und in diesem Gerüst können Außenwände und Inneneinteilung flexibel je nach Bedürfnis angebracht werden. Dieses radikal reduzierte Architekturkonzept wurde der Ausgangspunkt des gesamten ‚modernen‘ architektonischen Werks von Le Corbusier seit den 20er Jahren. Nach seiner Übersiedlung nach Paris begann er zunächst zum einen in einem spätkubistischen Stil (sog. Purismus) zu malen, zum anderen seine publizistisch-theoretische Tätigkeit zu verstärken (vgl. S. 89). Die seit 1922 realisierten Wohnhausbauten zeichnen sich dadurch aus, dass sie die architektonischen Einzelelemente (Fenster, Türe, Dach usw.) gedanklich in ihre Einzelfunktionen zerlegen und neu und ungewöhnlich, teilweise auch ironisch neu kombinieren. Die Krönung der Villenbauten dieser Zeit bildet die Villa Savoye in Poissy
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westlich vor Paris, inmitten eines großen Wiesenterrains 1928 – 31 errichtet (□ 22). Der nahezu quadratische Baukörper besteht aus drei Ebenen, von denen die mittlere, weißfarbige, äußerlich einen flachen rechteckigen, von einem überlangen Bandfenster durchzogenen Block zu bilden scheint. Dieser erhebt sich auf regelmäßig gesetzten dünnen Stützen, hinter denen das Erdgeschoss mit der Garage und den Bedienstetenwohnungen zurückgesetzt ist. In der Außenansicht ist also das Urthema der Architektur, das anschaulich gestaltete Verhältnis von Tragen und □ 22 Poissy, Villa Savoye, Le Corbusier, 1928 – 31 Lasten an Hand einer tempelartigen, regelhaften Baugestalt assoziiert. Aber die Stützen sind viel zu schlank, das ‚Gebälk‘ viel zu mächtig, um stabiles Tragen zu evozieren: Das Obergeschoss, in dem sich der Wohnbereich befindet, schwebt gleichsam schwerelos über dem Terrain. Darüber steigen sich rundende Bauelemente ähnlich der Brücke eines Ozeandampfers auf. Die Anspielung auf den noblen Bautypus des Tempels wird ergänzt durch eine abwechslungsreiche und geradezu zeremoniöse Erschließung des Gebäudes, die ganz im Sinne der vom Architekten intendierten promenade architecturale eine Serie wechselnder Sinneseindrücke bietet. Man nähert sich der Villa mit dem Auto, umfährt sie, um am rückseitig gelegenen Haupteingang auszusteigen, durch eine Glaswand in das Foyer einzutreten, in dem den Besucher paradoxerweise ein wie eine Skulptur frei stehendes Waschbecken empfängt. Im Wohnbereich überschneiden und durchdringen sich die Innen- und Außenbereiche. Ein Teil der Wohnfläche ist als gartenartige Terrasse unter freiem Himmel gestaltet. Aber diese Terrasse ist unverkennbar geordnete künstliche Natur: Wie in einem Zimmer gibt es einen fest eingemauerten Tisch, und vor allem schneidet ein langes Mauerband in Höhe der Oberkante des Obergeschosses eine streifenartige Fensteröffnung aus der Raumbegrenzung der Terrasse. Durch dieses Fensterband erscheint die umgebende Natur in einem Panoramablick, wie als gerahmtes Bild einer unnahbaren kruden Natur, von der sich das geometrisch harmonisch gestaltete Freiluftambiente der Terrasse markant absetzt. In Deutschland schlug sich die neue, emphatisch bekannte Verantwortlichkeit der Architekten in verschiedenen Gruppierungen nieder: Gropius, Bruno und Max Taut, Otto Bartning und einige expressionistische Maler gründeten 1918 den Arbeitsrat für Kunst, in dessen Rahmen eine Reihe utopischer Entwürfe kristalliner Architekturen auf Ausstellungen präsentiert wurden. Ähnliche Protagonisten waren auch in der 1919 ins Leben gerufenen Gläsernen Kette tätig, einem geheimbundähnlichen Zirkel, in dem utopische Projekte kursierten. Der utopische Sozialismus und der übersteigerte esoterische Messianismus von Bruno Taut äußerte sich auch in einer Reihe von dessen Publikationen in dieser Zeit (vgl. S. 90), unterstützten aber seine schon vor dem Krieg mit der Gartenstadt Falken-
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berg bei Berlin begonnene Stellung als Architekt von Sozialwohnungen. Der Arbeitsrat für Kunst war auch der Ausgangspunkt des 1919 von Walter Gropius gegründeten Bauhauses. Die programmatische Zusammenführung aller Handwerke in der gemeinschaftlichen Errichtung eines „Bau[s] der Zukunft“ (Bauhaus-Programm, 1919) manifestierte sich in den ersten Jahren in einer heterogenen Zusammensetzung des Lehrpersonals, in dem etwa Georg Muche und Johannes Itten stark esoterisch und eskapistisch agierten. Elitismus und überschwängliche Utopie markierten auch hier den radikalen Neubeginn. Gropius’ bedeutendstes eigenes Werk in dieser Zeit ist das Haus für den hauptsächlichen Förderer des Bauhauses, den Unternehmer Adolf Sommerfeld. Das 1920/21 aus wiederverwendeten Schiffsplanken in Berlin-Steglitz errichtete Haus folgte in seinem weit vorkragenden Dach und der markanten Horizontalität klar dem Vorbild der prairie houses von Frank L. Wright |▶ 24|, die generell eine zentrale Inspirationsquelle der Moderne darstellten. Hier verwirklichte sich idealtypisch die vom Bauhaus erstrebte Gesamtschöpfung, denn für die Innenausstattung arbeiteten Josef Albers (Glasfenster) und Marcel Breuer (Mobiliar). Nach Misserfolgen architektonischer Experimente, Veränderungen der Personalstruktur und einer radikalen Neuorientierung wurde innerhalb des Bauhauses ab 1923 die Zusammenarbeit mit der Industrie entschiedener verfolgt. Gropius nahm mit einem konsequent als Rechteckrasterstruktur konzipierten Hochhausentwurf am Wettbewerb für einen Wolkenkratzer teil, den die „Chicago Tribune“ 1922 ausgelobt hatte. Auch entwickelte er ein System vielfältig kombinierbarer Kubenmodule für Wohnhäuser („Baukasten im Großen“, 1923). Dieses sich als streng rational, sachlich und gezielt unemotional verstehende Bausystem wurde konsequent weiter angewandt – für die Dessauer Bauten |▶ 31|, im Weiteren aber vor allem auch für den Massenwohnbau, in dem Gropius für die Siedlung Karlsruhe-Dammerstock ( Themenblock · Bauausstellungen, S. 235 f.) und die Reichsversuchssiedlung Haselhorst in Berlin (beide 1928 – 29) Scheibenwohnhochhäuser in Zeilenbauweise mit identisch ausgerichteten, also jeweils von gleicher Besonnung profitierenden Wohneinheiten entwarf |▶ 30|. Gropius’ Nachfolger als Leiter des Bauhauses wurde Hannes Meyer, auf ihn folgte 1930 Mies van der Rohe. Der Architekt hatte bis 1926 vor allem Villen in einem strengen klassizistischen Idiom errichtet, war aber seit 1920 mit radikalen Vorschlägen aufgefallen. Für Berlin entwarf er 1920/21 ein vollständig mit Glas umhülltes Hochhaus, dessen ondulierende Fassade einer effizient reduzierten Stahlkonstruktion aus Auslegerträgern vorgehängt ist. Bei den Entwürfen für ein Landhaus aus Backstein (1923) bzw. aus Stahlbeton (1924) handelt es sich um bungalowartige Strukturen, die aus orthogonal zueinander gesetzten Mauerzügen bestehen, die derart angeordnet sind, dass sie Innenräume nur noch andeuten. Eingeschnittene Fenster- und Türöffnungen gibt es nicht mehr. Als Mies 1926 auch zweiter Vorsitzender des Werkbundes wurde, konnten solche Entwürfe auch realisiert werden, zunächst für den Appartementblock auf der Stuttgarter Weißenhofsiedlung, der bei größter Reduktion der architektonischen Gestaltungsmittel im Inneren eine flexible Raumeinteilung ermöglicht. Ganz aufgehoben von Gattungszwängen erscheint sodann sein Deutscher Pavillon für die Weltausstellung in Barcelona (|▶ 32|, □ vgl. 121): eine Orthogonalkomposition aus Rechteckflächen von unterschiedlichsten edlen Materialien wie Glas, Marmor, Wasser. In der Villa Tugendhat in Brno 1930 sind diese Konzeptionen des ‚fließenden Raumes‘ in ein bewohnbares Wohnhaus umgesetzt worden. Das
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am Hang liegende Haus wird vom Obergeschoss betreten und enthält im Hauptgeschoss einen riesigen, vollständig gegen den Garten geöffneten Raum, in dem über Wandstücke aus ausgesuchten Materialien Nutzungsinseln angedeutet werden. Der Essbereich etwa wird von einer halbrund geformten Wand aus Ebenholz ausgegrenzt. Vor allem in Deutschland verband sich der Utilitarismus der Internationalen Moderne – der sich dadurch legitimierte, dass diese ökonomisch rationalisiert, hygienisch und zur ‚Sachlichkeit‘ erziehend sei – mit dem Massenwohnungsbau |▶ 30|. Das gilt im Prinzip auch für den niederländischen und französischen Siedlungsbau. Hier wurde ein nachgerade revolutionäres Potential gesehen, bei dem erst die Anwendung moderner effizienter Techniken die perfekte Erfüllung elementarer menschlicher Bedürfnisse möglich macht. Die zu bewältigende diffizile Herausforderung an den Architekten und Stadtplaner war dabei, individuelle Ansprüche und Lebensformen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, der zudem auch möglichst klein – also wirtschaftlich sinnvoll – erschien. Die intelligente und erfindungsreiche Integration von adäquaten Raumeinteilungen, hygienischen Standards und modernem Komfort – etwa standardisiert hergestellten Einbauküchen (Frankfurter Küche) – musste aber in allen Optimierungskonzepten immer vom status quo ausgehen. Die unterschiedlichen Vorstellungen etwa eines Gropius und eines Ernst May auf dem CIAM-Kongress von 1929, ob ein finanziell optimiertes hohes Etagenwohnhaus oder standardisiert gefertigte Einzelhäuser in einer Siedlung die ultima ratio sein sollten, betraf zwar grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen vom Verhältnis zwischen rationalisierter Wohnungsproduktion und Mindeststandards der Wohnqualität. Doch keines der mit hohen politischen und finanziellen Investitionen verbundenen Modelle konnte auch nur eine mittelfristige Planungsperspektive einnehmen. Veränderung von Lebensmodellen oder der sozialen Struktur der Bewohnerschaft waren hier nicht vorgesehen. Man kann deswegen dem monofunktionalistischen Wohnungsbau der Weimarer Republik vorwerfen, dass er die soziale Frage prinzipiell vom falschen Ende angegangen habe, indem er einer Niedriglohnpolitik zuarbeitete. Dies setzte sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg fort, wo der in der funktionalistischen Moderne erprobte Massenwohnbau in städtischen Randbereichen als Gegenmittel zu sozialer Misswirtschaft fungierte. In der westlichen Welt wurde somit die Rendite von Bauinvestitionen in großem Stil gesteigert, in den Planwirtschaften der sozialistischen Länder ein mangelnder Geldumlauf kompensiert. Anders stellt sich dies übrigens in Wien dar, das zwischen 1919 und 1934 sozialdemokratisch regiert wurde. Bodenerwerb und Mietpreisobergrenzen wurden staatlich kontrolliert, so dass im Inneren der Stadt ein sozialer Wohnungsbau entstand, mit dem immerhin 60 000 Einheiten neu geschaffen wurden. Das Ideal war nicht die Vorstadtsiedlung, sondern der dicht bebaute ‚Hof‘, der einerseits aufgrund seiner Lage in die städtische Textur eingebunden ist, andererseits eine eigene Infrastruktur mit Läden, Bädern und Kultureinrichtungen aufweist. Außerdem sind die meisten Höfe von bedeutender Höhe und Größe, umschließen zumeist einen gemeinsamen Innenhof und weisen Identität stiftende Bildprogramme auf, zumeist in Form von allegorischen Skulpturen. Den berühmtesten der Wohnhöfe des ‚Roten Wien‘ bildet der Riesenkomplex des Karl-Marx-Hofes, 1929 von Karl Ehn mit fast 1400 Wohnungen errichtet (□ 23). Er mutet mit seinen über die siebengeschossigen Wohnblöcke hoch aufragenden und mit Fahnenstangen bewehrten Treppentürmen wie eine mittelalterliche Festung an. Majestätische Rundbogenportale führen durch
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□ 23 Wien, Karl-Marx-Hof, Karl Ehn, 1929
die Wohnblöcke in das Innere der Anlage. Trotz des relativ niedrigen Ausstattungskomforts – Bäder fehlen in den meisten Appartments – wird in den Wiener Wohnhöfen eine sozialistische Klassenidentität durchaus verwirklicht, erobern doch solchermaßen monumentale Arbeiterburgen die Innenstadt. Im bolschewistischen Russland war das Bauen engstens mit dem revolutionären Impuls verbunden, der ja nichts weniger als eine ‚Umformung des Alltagslebens‘ und eine totale Kulturrevolution prätendierte. Der allumfassende Umsturz mit der Auflösung des Privateigentums und der Leibeigenschaft, einer totalen Kollektivierung und ‚Proletarisierung‘ der Künste verstand sich als revolutionäre Modernisierung und griff deswegen die Technikbegeisterung und den Antiakademismus der Moderne reflexhaft auf. So maß sich Vladimir Tatlins berühmter Turmentwurf für die III. Internationale (1921) als kühne, unrealisierbare Konstruktion klar am Eiffelturm. In einer den Fortschritt symbolisierenden, sich kegelförmig verjüngenden Doppelspirale von 400 m Höhe waren in verschiedenen Geschwindigkeiten rotierende Gehäuse für Institutionen der Internationale aufgehängt. Vladimir Shuchov, ein begnadeter Ingenieur, realisierte eine vergleichbare Konstruktion in dem Shabolovka-Radioturm in Moskau (1922), einer äußerst grazilen Stahlnetzkonstruktion von 150 m Höhe. Vor allem aber der Entwurf für einen Arbeitspalast der Brüder Alexander, Leonid und Viktor Vesnin 1923 markierte – als radikale Abgrenzung von einer zaristisch-historistischen Bauweise – den Beginn einer frühsowjetischen Moderne, die zeitgleich mit Gropius, Le Corbusier und De Stijl klare geometrische Strukturen stark kontrastierend gegeneinanderstellt, im Fall des Arbeitspalastes in Form eines gigantischen Wolkenkratzers und eines monumentalen Kongresssaales auf ovalem Grundriss. Eine monumentale Realisierung fanden derartige Konzepte in dem 1929 begonnenen Gasprom-Baukomplex in Charkiv (Ukraine) von Samuil Krawetz, Mark Felger und Sergey
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Serafimow: Die hohen Stahlbetonblöcke sind untereinander durch Brückenpassagen in den oberen Geschossen verbunden. Das lässt monumentale Toreffekte und in der Silhouette die Wirkung von amerikanischen Wolkenkratzer-Skylines entstehen. Der Theorie von Moisey Ginzburg zufolge setzte sich diese als ‚Konstruktivismus‘ bezeichnete Architektur in ihrer konsequenten Beachtung industrieller Planungsmethoden zur Schaffung der Rahmenbedingungen des ‚neuen Lebens‘ im Sozialismus von der westlichen Moderne ab (Post 2004, 74 – 87). Nach dem Ende des Bürgerkriegs und einer gewissen wirtschaftlichen Konsolidierung wurde dies nach 1925 vor allem von den VChUTEMAS, auf universelle Fertigkeiten ausgerichtete, dem Bauhaus vergleichbare Kunsthochschulen, vermittelt und auf eine Reihe von völlig neuen Bautypen angewandt, insbesondere proletarische Kultureinrichtungen wie Arbeiterklubs, Volkshäuser, Volkspaläste und Arbeitspaläste. Der Zuyev-Klub der Kommunalarbeiter in Moskau (Ilya A. Golosov und Konstantin Melnikov, 1927 – 30) beherbergt in einem durch große Rechteckfenster geöffneten Block einen Veranstaltungssaal; ein großer Glaszylinder ist als Treppenhaus in den Block eingeschoben. Beim Rusakov-Klub (Melnikov, 1927 – 30) steigt die Baumasse der Zuschauersäle über einem dreieckigen Grundriss nach oben und kragt am breiten Ende in drei Baukörpern zwischen Glasschlitzen über die Straße. Der revolutionäre Impetus schloss nicht aus, westliche Architektenstars zu verpflichten: So errichtete Erich Mendelsohn 1926 eine große Werkhalle bei Leningrad/St. Petersburg. Zahlreiche Vertreter der Internationalen Moderne, unter anderen Hannes Meyer und Le Corbusier, beteiligten sich 1931 am Wettbewerb für den Sowjetpalast, aus dem schließlich 1934 Boris Iofans späthistoristischer Entwurf eines monumentalen Wolkenkratzers mit einer riesigen Leninstatue als Sieger hervorging (□ vgl. 25). Le Corbusier konnte immerhin ab 1928 den Centrosoyuz-Palast, den Sitz des Zentralverbandes der Konsumgenossenschaften in Moskau, entwerfen. Die Realisierung des aufgeständerten Beton-Glas-Gebäudes wurde allerdings durch den eklatanten Mangel an Rohstoffen verhindert. Generell stieß sich der revolutionäre Impuls an einer technologischen und ökonomischen Rückständigkeit des Riesenreichs, die nur durch eine massive Industrialisierung zu beseitigen war. So wurden Modelle von Massenwohnbauten mit extrem hoher Verdichtung kleiner Wohnungen mit Gemeinschaftseinrichtungen entwickelt. Das Moskauer Narkofimgebäude von Ginzburg (1927 – 30, □ 24), ein langer, horizontaler aufgeständerter Wohnblock für Mitarbeiter des Volkskommissariats für Finanzen, enthält zahlreiche unterschiedliche, meist kleine Familienwohnungen, teilweise als Maisonette. Gemäß dem neu erprobten Konzept der Kommunehäuser gab es ein Nebengebäude für die Gemeinschaftseinrichtungen wie Kantine und Sporthalle. Klar sind hier Konzepte von Le Corbusier |▶ 27, 37| vorweggenommen, von denen dieser sich auch direkt inspirieren ließ. Vor allem mit dem ersten ab 1928 umgesetzten □ 24 Moskau, ehem. Narkofimgebäude, Moisey Ginzburg, 1927 – 30
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□ 25 Moskau, Palast der Sowjets, Entwurf von Boris Iofan, 1934
Fünfjahresplan mit dem energischen Ausbau der Schwerindustrie bestand die Aufgabe, neue Städte für Millionen von Arbeitern zu planen und zu verwirklichen. Hierbei nahm der 1930 aus Frankfurt/M. abgeworbene Ernst May eine zentrale Rolle ein, besaß er doch intensive Erfahrungen in der Anwendung zonierten Städtebaus und rationalisierter Standardbauweisen im Wohnungsbau |▶ 30|. May konzipierte als oberste Planungsinstanz bis 1932 den großmaßstäblichen Bau zahlreicher neuer Städte wie Magnitogorsk, Stalingrad und Novosibirsk. Sein Idealkonzept waren flexibel erweiterbare Bandstädte, in denen die Nähe zur Arbeitsstätte und eine weitgehende Vergesellschaftung des Alltagslebens durch Großküchen, Großkinderhorte u. Ä. die essentiellen Merkmale darstellten. Die Wohnhäuser bildeten einfach hergestellte zwei- bis viergeschossige Typenhäuser. Angesichts der Unvereinbarkeit von modernen industriellen Bauformen und rückständiger Produktion sowie der Schwierigkeit, Millionen von Menschen über konstruktivistische Kunstkonzepte zum neuen sozialistischen Leben zu erziehen, aber auch in Folge einer massiven Lobbyarbeit konservativer Strömungen und einer internationalen Infragestellung der Moderne, schließlich auch aufgrund der Ablösung einer staatlichen Planwirtschaft durch eine Kommandowirtschaft setzte seit 1932 eine massive Umstrukturierung der Kulturpolitik ein. An die Stelle einer radikal unhistorischen, vielfach seriell konzipierten Architektur, die das Ideal einer völlig neuen, egalitären Gesellschaft baulich umsetzten sollte, trat nunmehr eine monumentale klassizistische Architektur, welche, als ‚sozialistischer Realismus‘ proklamiert, allenthalben den heroischen Sieg des stalinistischen Systems und die Bedeutsamkeit seiner Nomenklatura vor Augen stellen sollte (□ vgl. 25). Dies ging einher mit einer schlagartigen Diffamierung und Verfolgung der Internationalen Moderne, der
Genese der Avantgarden im Ersten Weltkrieg
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vorgeworfen wurde, rückständig und technisch qualitätslos zu sein, bloße ‚Schrott-Kästen‘ zu produzieren und insofern das ‚formalistische‘ Bauen des Kapitalismus zu übernehmen. Die ausländischen Architekten mussten überstürzt das Land verlassen, konnten vielfach, wie etwa Ernst May, wegen der nationalsozialistischen Verfolgung aber nicht in ihre Heimatländer zurückkehren.
Alternativen der Moderne Pluralismus der Baustile
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ie vorgenannten Architekturauffassungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die Frage, wie Architektur im 20. Jh. kommunizieren kann, grundsätzlich hinterfragen. Elementare Raumgefüge, kubisch-orthogonale Ordnungssysteme und die dezidierte Reduktion von Formen rechnen mit einem Bewohner oder Benutzer, der sich aufgrund elementarer anthropologischer Faktoren beschreiben und typisieren lässt. Diese klare, ‚aufrichtige‘ Sachlichkeit ist Ausdruck eines unsentimentalen Bewältigens und Begreifens der Moderne. Der ‚neue Mensch‘, wie er häufig genannt wurde, sollte seine (gebaute) Umgebung mit einer geläuterten Emotionalität wahrnehmen, doch begleitete diese Avantgardearchitektur von Anfang an der Vorwurf von atmosphärischer Kälte, schlechter Nutzbarkeit und Menschenverachtung. Diesem Vorwurf nicht entschieden genug begegnet zu sein, wird eine späte Erkenntnis mancher Protagonisten des Neuen Bauens, wie etwa von Gropius, der erst am Anfang seiner Lehrtätigkeit in Harvard 1937 das Thema reflektiert. Jedenfalls wurde die Kritik daran, dass das Neue Bauen den Menschen vor sich selbst entfremde, zu dem Grundtenor der konservativen Architekturkritik in allen Ländern, ein Grundtenor, der in Deutschland durch die Nationalsozialisten rassistisch gesteigert wurde, während der Stalinismus seit 1932/34 vergleichbare Kriterien als Imperialismuskritik verstand. Weitaus nicht alle modernen Architekten haben den radikalen Schnitt mit der Vergangenheit geteilt, sondern etwa versucht, architektonische Urformen des gesamten Bauens der Welt in ihrer Wirkqualität zu steigern. Hans Poelzig beispielsweise gestaltete sein Großes Schauspielhaus in Berlin (1919) als einen riesigen Kuppelbau, in dessen Schale Tausende von stalaktitenähnlichen Tropfenformen herabhingen; farbiges Licht umspielte diese künstliche Höhle, auch die palmenartig sich in die Gewölbe schmiegenden Pfeiler schimmerten in bunten Lichteffekten. Diese expressionistischen Architekturen sollte Poelzig zu monumentalen Bauten weiterentwickeln, in denen Materialoberflächen und leicht geschwungene Baukörper – etwa im Frankfurter IG-Farben-Gebäude (mit Travertin-Verkleidung, |▶ 32|) oder dem Rundfunkgebäude in Berlin mit dunkelroter Backsteinhaut (1928 – 30) – eine Belebung vermitteln, die von Poelzig als „Raumorchester“ (Rede „Der Architekt“, 1931) verstanden wurde und gegen die Technokratie der Internationalen Moderne gerichtet war. Ähnliche Übersteigerungen der Materialeffekte finden sich im Werk von Fritz Höger, der seinem Hamburger Kontorhaus (Chilehaus, 1923) eine regional typische Backsteinhaut gab und über eine gezackte Dachkontur spitze bugartige Silhouetten entstehen ließ. Im Werk von Hugo Häring und Hans Scharoun werden schwellende,
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abgerundete bzw. nicht rechteckig organisierte Grund- und Aufrissformen als Ergebnis einer komplexen, „organhaften“ (Häring) Funktionalität verstanden |▶ 31|. Scharoun, der in seinem Werk der 20er Jahre den dynamischen Impuls seiner Bauten auch als naturhaftes ‚Verschlingen‘ verstehen konnte, interpretierte Architektur mehr und mehr als eine vielfältig gestaltete Landschaft, was sich bis hin zu seinen Berliner Großbauten der Nachkriegszeit, der Philharmonie (1960 – 63) und der Staatsbibliothek (1964 – 78), fortsetzen sollte. Besonders Erich Mendelsohn begriff eine von starken Schatteneffekten gegliederte Bauform als energisch gestaltete, skulpturale Masse. In der Nachfolge der abstrakten Plastiken eines Hermann Obrist wurde sein Potsdamer Einsteinturm (1920 – 21, □ 26), ein Observatorium zur Lichtmessung, ein mit tiefen Kerben eingeschnittenes, organisches Gebilde, das keine geraden Kanten kennt |▶ 29|. Konsequent nehmen die weiteren Architekturen Mendelsohns Abschied von auf statische Betrachtung berechneten Fassaden. Die zahlreichen Verwaltungs- und Kaufhäuser (Mossehaus in Berlin, 1921 – 23; Kaufhaus Petersdorf in Breslau 1927/28, Kaufhaus Schocken in Chemnitz, 1927 – 30 (□ 27), Columbushaus am Potsdamer Platz in Berlin, 1931/32), inmitten der umtriebigen Stadtzentren errichtet, sind horizontal aus Fensterund Mauerbändern geschichtete Kompositionen, die sich dynamisch bewegt um bugartig gerundete Ecken oder Treppenhausexedren biegen. Daneben gibt es einen monumentalen Klassizismus, der zwar auf historistische Stilzitate verzichtet, aber intendiert, natürliche Materialien mit archetypisch reduzierten alten Motiven zu verbinden: Paul Bonatz’ zusammen mit Friedrich Eugen Scholer errichteter Stuttgarter Hauptbahnhof (1912 – 28) ist hierfür ein Hauptbeispiel: Die überlange, mit rauer Rustika umhüllte Empfangshalle wird durch hohe Eingangspavillons gegliedert, die sich in Rundbögen öffnen. Ähnliche Konzepte vertrat auch Wilhelm Kreis (Tonhalle Düsseldorf 1925/26 als überkuppelter Zentralbau über schlitzartigen Arkaden). Doch kannten sowohl Bo-
□ 26 Potsdam, Einsteinturm, Erich Mendel- sohn, 1920 – 21
□ 27 Chemnitz, ehem. Kaufhaus Schocken, Erich Mendelsohn, 1927 – 30
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natz als auch Kreis andere Ausdrucksformen: Das Stummhaus in Düsseldorf von Bonatz (1922 – 24) ist ein backsteinverkleidetes Turmhaus mit ausgeprägtem Vertikalismus, und Kreis’ Dresdener Hygienemuseum erinnert typologisch eher an einen Palast, ist allerdings in schlichten kubischen Formen formuliert. – Vor allem in Frankreich diente eine klassizistische Spielart der Moderne, deren Hauptvertreter Auguste Perret war |▶ 25|, dazu, eine angeblich uralte französische Tradition rationaler Klarheit auch mit Hilfe von modernen Bautechniken in Gegenwart und Zukunft wirksam zu halten. Bauten wie das Etagenwohnhaus in der Rue Raynouard (1932), das Mobilier national (1935) oder das Musée des Travaux publiques (1936, heute: Conseil social et économique) setzten die Ansätze Perrets aus der Vorkriegszeit fort, die rektanguläre Skelettstruktur der Stahlbetontechnik als Grundlage einer fein reliefierten – und auch Säulen nicht ausschließenden – Rechteckkomposition zu verstehen. Es war dies der Versuch, Schnelllebigkeit und Internationalisierung innerhalb der modernen Welt mit der Vorstellung abzuwenden, es gebe unabänderliche nationale Traditionen. In den skandinavischen Ländern entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg zunächst eine Moderne, die die dortigen klassizistischen Traditionen der Zeit nach 1800 (Christian Frederick Hansen in Dänemark, Carl Ludwig Engel in Finnland) aufgriff und etwa in Asplunds Stockholmer Bibliothek |▶ 26| oder Alvar Aaltos Bibliothek in Viipuri (1927 – 35) ihre herausragenden Realisierungen fand. Um 1930 wurden die Möglichkeiten von Stahlbetonkonstruktionen mit ihren klaren Formen in eine besondere Art des ‚organischen‘ Bauens umgesetzt, die menschlichen Bewegungen sowie den Wahrnehmungen von Materialien und Licht besondere Aufmerksamkeit schenkt. Aaltos Tuberkulose-Sanatorium in Paimio (1929 – 32) nutzt die Typologie der Hochhausscheibe, um jedes Krankenzimmer intensiv mit Frischluft und Licht zu versorgen, achtet aber auch im Inneren auf wohltuende Ausgestaltung wie etwa blendungsfreie Deckentönungen. In der Villa Mairea in Noormarkku, (1937 – 39) übernahm der Architekt Anregungen von Wrights Falling-Water-Haus |▶ 36| und schuf eine L-förmige Hausanlage, an die sich ein winkelförmiger Saunatrakt anschließt. In den teilweise über kurvigen Grundrissen angelegten Innenräumen dominiert Naturstein, Backstein und vor allem Holz, so dass eine Wohnlandschaft entsteht. Hier finden sich, vergleichbar mit den Bauten eines Hugo Häring oder Hans Scharoun |▶ 31|, die Ansätze eines ökologischen Bewusstseins, das im physiologischen Erleben des Wohnens über die Forderungen einer rationalen Optimierung von Grundrissen hinausgeht. Das Bauen in den USA zur Zwischenkriegszeit wurde vor allem durch eine neu sich entwickelnde Ästhetik der Wolkenkratzer bestimmt. Seit der New Yorker Bauordnung von 1916 mussten Hochhäuser über dem zwölften Geschoss Rücksprünge aufweisen, um ein Minimum an Lichteinfall zwischen den Bauten zu gewährleisten. In Verbindung mit der wirtschaftlichen Hochkonjunktur in den 20er Jahren und der technischen Herausforderung, so hoch wie möglich zu bauen, entstanden zahlreiche phantasievoll ausgestaltete Hochhausbauten. Nunmehr waren es nicht mehr klassische Motive der Fassadengliederung: Erinnerte der aus einem international beachteten Wettbewerb hervorgegangene Chicago Tribune Tower von Raymond Hood und John Mead Howells (1922 – 25) an neugotische Türme mit Strebewerk im oberen Abschluss, so erscheint im New Yorker Radiator Building von Raymond Hood ein ähnlicher Vertikalismus. Allerdings verschmel-
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zen die dunklen Fensteröffnungen mit der schwarzen Verkleidung des Hauses, der effektvoll goldfarbene Spitzen kontrastiert sind. Den bekanntesten dieser Art-déco-Wolkenkratzer bildet das Chrysler Building (William van Alen, 1928 – 30) mit seiner kurzfristigen Weltrekordhöhe von 319 m. Die markante Pyramidenspitze aus sich auftürmenden, edelstahlverkleideten Halbkreisscheiben geht überein mit überraschenden Kragfiguren am Turmschaft: Die Wasserspeiern ähnlichen Gebilde orientieren sich an Kühlerfiguren. Insofern stellt das gezielt auffällige Gebäude eine frühe Realisierung von branded architecture dar, damals als ‚Werbe-Architektur‘ für den Automobilhersteller bezeichnet. Wenige Monate später, 1931, wurde der Wolkenkratzer durch das Empire State Building (Richard H. Shreve, William Lamb u. Arthur Loomis Harmon, |□ 28|) übertroffen, das inklusive der nicht benutzten Zeppelin-Andockstation auf der Spitze 381 m erreicht. Es handelte sich um eine technische Höchstleistung auch hinsichtlich der Logistik und Innentechnik (Fahrstühle, Klimatisierung), so dass das Gebäude nicht ohne Grund als achtes Weltwunder bezeichnet wurde und als spektakuläre Filmkulisse (King Kong, 1933) diente. Zwar ist das Innere wie im Fall des Chrysler Building opulent im Art déco ausgestaltet, von außen erscheint die Architektur aber in kühler Eleganz, denn die □ 28 New York, Empire State Building, Richard H. Shreve, Kalksteinverkleidung ist vertikal von rahmenWilliam Lamb u. Arthur Loomis Harmon, 1929 – 31 den Chromnickelstreifen eingefasst und die Fenster alternieren vertikal mit abgestrahlten Aluminiumplatten. Zur gleichen Zeit schuf Raymond Hood, der schon den Chicago Tribune Tower und das Radiator Building errichtet hatte, mit dem New Yorker Daily News Building den ersten ‚sachlichen‘ Wolkenkratzer. Das schlichte Scheibenhaus (slab) verzichtet auf die nach oben ragende Spitze und jedes Bauornament, hüllt die Fenster vielmehr mit einer dichten Abfolge vertikaler spornartiger Streifen ein. Derartige abstrahierende Idiome setzten sich im schlank aufragenden RCA Tower des Rockefeller Centers in New York fort. Das hier entstandene Ensemble aus 14 Hochhäusern, als private Investition von John Rockefeller jr. inmitten der Weltwirtschaftskrise 1933 – 40 ausgeführt, schuf – wiederum unter wesentlicher Planungsarbeit von Raymond Hood – eine Stadt in der Stadt, mit Sportanlagen, Restaurants, Gärten, einer Eislaufbahn und einer riesigen Konzerthalle. All das staffelt sich auch in der Höhe,
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weil die Flachdächer zu benutzbaren Flächen werden. Der Wolkenkratzer, bislang ein monofunktionaler Solitär, erhielt somit einen öffentlichen Umraum als vielfältigem Ort von Kommunikation. Solche Entwicklungen waren allerdings nicht staatlicher Initiative, sondern einer großmaßstäblich agierenden gesellschaftlichen Verantwortung eines privaten Sponsors geschuldet.
Bauen in Diktaturen Architektur als Teil des Totalitarismus
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enito Mussolini wurde in den Architektenkreisen ganz Europas weithin verehrt, denn durch die Gründung von Architekturschulen in Venedig, Turin, Florenz und Mailand während der 20er Jahre schien nunmehr die Bedeutung des Bauens als Kunst auch institutionell gegenüber den Ingenieuren ( Themenblock · Architektenausbildung, S. 145 f.) abgesichert und konnte im revolutionären Aufbruchspathos des Faschismus eine herausgehobene Position reklamieren. Die Betonung einer angeblichen italianità, auf der das faschistische System Mussolinis wesentlich beruhte, wurde von der Rationalistengruppe so verstanden, dass sich in dem auf elementaren Formen beruhenden Architekturidiom (etwa eines Le Corbusier) in Wirklichkeit ein mediterraner Geist ausdrücke, der insbesondere in Italien als neuer Stil wieder aufleben müsse. Obwohl sich die Bewegung landesweit zum Movimento Italiano per l’Architettura Razionale (MIAR) unter ihren Leitfiguren Giuseppe Terragni und Adalberto Libera zusammenschloss, mehrere Ausstellungen organisierte und mit der Casa del Fascio in Como programmatisch faschistische Bauten verwirklichte |▶ 34|, konnte sie sich im Konzert der sich dem Duce anbiedernden Gruppierungen nicht durchsetzen. Architekten hatten sich, um Erfolg zu haben, in das korporatistische Gesellschaftssystem einzufügen, also dem Architektensyndikat beizutreten. Das institutionelle System der Architektur im Faschismus wurde von dem römischen Architekturprofessor Marcello Piacentini dominiert, der insgesamt aber versuchte, integrativ zu wirken, indem er verschiedene Formsprachen, selbst diejenigen der Rationalisten, bei Gemeinschaftswerken wie etwa der Città Universitaria in Rom (1932 – 35) zuließ. Eine Erneuerungskampagne der italienischen Bahnhöfe hatte eine Reihe von puristischen Neubauten zu Folge, die ohne historistische Anklänge in klaren kubischen Formen gestaltet sind (Hauptbahnhof von Florenz, 1933 – 35, Giovanni Michelucci). Ebensolches gilt für manche Einsendung für den Wettbewerb des Palazzo del Littorio, eine monumentale Gedenk- und Feierstätte für den Faschismus auf dem Gelände des Forum Romanum, der 1934 ausgelobt wurde. Insgesamt wurde ein allgegenwärtiger Vergleich von Mussolinis System mit der römischen Antike die ideologische Grundlage des Bauens. Dies schlug sich vor allem in der Freistellung antiker Monumente in Rom und dem Durchschlagen großer Aufmarschachsen an den antiken Hauptorten nieder: Die Via dell’Impero führt an den Kaiserforen vorbei, die Via della Conciliazione öffnete die (schon lange zuvor geplante) Verbindung zwischen Petersdom und Engelsburg. Die Verpflichtung auf romanità wurde vor allem auch in dem Weltausstellungsgelände südlich von Rom deutlich (E42 oder EUR). Entlang breiter, sich lotrecht schneidender Achsen stehen
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61 □ 29 Rom, Esposizione universale di Roma, ehem. Palazzo della Civiltà Italiana, Ernesto Bruno La Padula u. a., 1938 – 43
programmatische Ausstellungsgebäude, die insgesamt den Aufstieg der Zivilisation ausdrücken sollen. Ernesto Bruno La Padula errichtete einen mächtigen, glattflächigen Block als Palazzo della Civiltà Italiana, dessen Wände durch monotone Reihen von wie ausgestanzt erscheinenden Rundbögen, vage an das Colosseum erinnernd, geöffnet sind (□ 29). Die Klarheit des ornamentlosen Kubus sollte das Gebäude aber ebenfalls mit der Internationalen Moderne verbinden. Wie an vielen italienischen Gebäuden dieser Epoche zeigt sich die Intention, eine mythische Vergangenheit mit emphatischer Zukunftserwartung als von allen Architekten unisono geteilte faschistische Botschaft zu verbinden. Anders als in Italien verstand sich die Architektur im nationalsozialistischen Deutschland als Erfüllung einer massiven antimodernen Polemik, die in erstaunlich weiten Kreisen schon seit den 20er Jahren kursierte. Paul Schultze-Naumburg, Paul Schmitthenner, Karl Willy Straub und viele andere schmähten die Internationale Moderne ob ihres ‚undeutschen‘ Charakters und ihres ‚formalistischen‘ Spiels mir Rechtecken, ihres nur vorgeblichen Insistierens auf perfekter Funktionserfüllung. Was vor 1933 noch als politisch unterfütterte Eifersucht gegenüber einer publizistisch sehr präsenten modernen Architektur gelten konnte, schlug mit der Machtübernahme Hitlers in die ersehnte Erfüllung einer Prophetie um: eine neu errichtete ‚völkische‘ Einheit in allen Bereichen. Die Gleichschaltung aller Publikationsorgane, Fachinstitutionen und Hochschulen erfolgte binnen weniger Monate. Gleichwohl beteiligten sich gerade etablierte Architekten der Moderne weiter an Staatsaufträgen, wie etwa Mies mit seinem Entwurf für den Erweiterungsbau des Reichsbankgebäudes in Berlin. Spätestens 1938 waren zahlreiche Vertreter der Moderne zum Exil gezwungen, so Erich Mendelsohn, Bruno Taut, Walter Gropius, Mies van der Rohe, Ernst May, Adolf Rading. Andere, etwa Hans Scharoun, Otto Haesler oder die Brüder Luckhardt waren von größeren Aufträgen ausgeschlossen. Wie in den anderen Diktaturen des 20. Jh.s wurde auch im nationalsozialistischen Deutschland der Staat zu einem Bauträger von bislang unbekannter Größenordnung. Die gigantischen Summen, die hierbei verausgabt wurden, sollten aber nur im Nebeneffekt Wirtschaft, Verkehr und Wohnsituation verbessern. Dies gilt selbst für den Autobahnbau durch die Organisation
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Todt, der nicht eigentlich der damals kaum entwickelten individuellen Mobilität bzw. dem Güterverkehr diente, sondern vielmehr militärischen Zwecken sowie dem erhabenen Erlebnis ‚deutscher Landschaft‘. Die zahlreichen, wirtschaftlich unsinnigen Aufmarsch- und Repräsentationsbauten des Regimes verstanden sich als Vorführung einer angeblichen nationalen Einheit, so wie das früher die Tempel und Dome getan hätten. Daraus erklärt sich auch, warum die Großbauten in fast allen Fällen mit Naturstein verkleidet und in vereinfachten klassizistischen Formen errichtet sind: Das verlieh ihnen die erhabene und dauerhafte Aura antiker Architekturen, die gleichsam in erneuerter und vergrößerter Form neu erstehen |▶ 35|. Gezielt wurde der Entstehungsprozess dieser Architekturen publizistisch herausgestellt: als beständiger Schöpfungsprozess, für den letztlich der verhinderte Künstler Hitler selbst verantwortlich und für dessen Realisierung selbst Terror und Vernichtung nötig seien. Programmatisch dafür steht bereits das erste Großprojekt, das nach Plänen von Paul Ludwig Troost 1933 begonnene und 1937 eingeweihte Haus der Kunst in München. Mit seiner langen Kolonnadenvorhalle erinnert es ebenso an griechische Tempel wie an Schinkels Altes Museum |▶ 4|. Der klassizistische Königsplatz in München |▶ 5| wurde auf seiner Ostseite ebenfalls mit zwei ‚Ehrentempeln‘ und der Parteizentrale der NSDAP (Paul Ludwig Troost) ergänzt, somit zum ‚Parteiforum‘ umfunktioniert. Vergleichbare Foren als zentrale Orte der Propaganda waren für alle Gauhauptstädte geplant (verwirklicht in Weimar), München sollte zudem durch eine Ost-West-Achse und einen riesigen neuen Bahnhof erweitert werden. Berlin als Hauptstadt sollte weitgehend urbanistisch neu gegliedert werden, vor allem durch die Anlage einer 7 km langen, immerhin in Ansätzen verwirklichten Nord-Süd-Achse |▶ 35|. Dieser massive städtebauliche Eingriff übersteigerte bewusst Haussmanns Pariser Stadtregulierung |▶ 12| ebenso wie Mussolinis Monumentalachsen im historischen Zentrum Roms. Ebenfalls Bezüge zum französischen Klassizismus wies die Neue Reichskanzlei von Albert Speer auf (1938 – 43): Eine Anspielung auf die Spiegelgalerie des Versailler Schlosses sollte das Übertrumpfen der Kulturnation Frankreich vorführen. Der Inszenierung pseudomythischer Einheit dienten des Weiteren Assoziationen zum Mittelalter, wie dies in der Errichtung von sog. Ordensburgen und Thingstätten sowie dem Umbau der Stiftskirchen von Braunschweig und Quedlinburg als Feierstätten nationalsozialistischer Institutionen deutlich wird. Der Kontrast zur Baupolitik der Weimarer Republik zeigt sich in mehrfacher Hinsicht, denn diese hatte nur wenige repräsentative Staatsbauten errichtet, dafür aber den Massenwohnbau gefördert. Dieser wurde unter den Nationalsozialisten zwar fortgesetzt, aber dafür kaum mehr öffentliche Mittel zur Verfügung gestellt und der Ausstattungskomfort der meist schlichten Einzelhäuser radikal abgesenkt. Der hier wirkende antiurbane Reflex machte sich auch gestalterisch bemerkbar, denn allenthalben folgten diese nicht repräsentativen Architekturen regionalistischen Modellen oder der Reformarchitektur um 1910 |▶ 22|. Im nachrevolutionären Russland bzw. der Sowjetunion verstand sich die Avantgardebewegung der Konstruktivisten ähnlich wie der italienische razionalismo als programmatische Unterstützung des neuen diktatorischen Systems; in beiden Ländern trat dagegen aber auch eine gewichtige traditionalistische Strömung mit dem Anspruch auf, den überhistorischen Gehalt der Revolution in ewig dauerhafte klassische Formen umzusetzen. In Russland zeugt etwa die Moskauer Leninbibliothek (beg. 1928, Vladimir Tshuko u. Vladimir Gelfreich) davon. Die energischen Debatten und Polemiken zwischen den Fraktionen (OSA ‚Organi-
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sation zeitgenössischer Architekten‘ vs. VOPRA ‚Allunionsverband proletarischer Architekten‘) wurden durch die staatliche Verpflichtung auf einen monumentalen ‚sozialistischen Realismus‘ seit 1932 zugunsten der Vertreter akademischer Idiome entschieden, und zwar im Rahmen des Wettbewerbs für den Sowjetpalast im Zentrum von Moskau, in dessen Planung Stalin selbst eingegriffen hatte. Mit der Entscheidung für das gigantische, von einer riesigen Leninstatue bekrönte, nie über die Fundamentierung hinausgekommene Projekt von Boris Iofan (□ vgl. 25) äußerte sich die Sowjetunion architektonisch in einer auf kolossale Dimensionen gesteigerten klassisch-vitruvianischen Architektur, die fallweise Referenzen auf die Antike, die Renaissance, den Barock und den Klassizismus integrieren konnte. 1932 wurden zudem die Interessenvertretungen und Fachverbände gleichgeschaltet, 1933 die Allrussische Architekturakademie (VAA) als oberste Fachinstanz gegründet, Stalin selbst musste repräsentative Bauwerke genehmigen. Insofern ist der landläufig verwendete Terminus „stalinistische Architektur“ durchaus gerechtfertigt, verbindet sich dieses Idiom doch mit der Periode des Personenkults um Stalin und eines gnadenlosen und verlustreichen Terrors gegen (angeblich) Andersdenkende, der jede Architekturdebatte erstickte. Erst Chrustshov gebot diesen Auswüchsen nach dem Tod des Diktators 1953 ebenso Einhalt wie dem unsinnig verschwenderischen ‚Zuckerbäckerstil‘. Die monumentalen Entwürfe der 30er Jahre entstanden meist im Zusammenhang anspruchsvoller programmatischer Staatsbauten, so außer für den Sowjetpalast etwa für das Volkskommissariat für Schwerindustrie in Moskau oder den Rat des Zentralkomitees in Kiew. Verwirklichte Beispiele für die frühe stalinistische Architektur sind etwa das Theater der Sowjetarmee in Moskau (1934, Vladmir Simbirzev u. Karo Alabyan) – auf dessen Bühne Panzer einfahren konnten! –, das STO-Gebäude für den Arbeiter- und Verteidigungsrat in Moskau (1935, Arkadi Langman) und das Hotel Moskva in Moskau (1936, Alexej Shchusev). Die stalinistische Architektur hatte vor allem auch wesentliche Auswirkungen auf Grundprinzipien des Städtebaus, die vor allem für den 1935 vorgelegten Ausbauplan Moskaus, der neuen Hauptstadt des Reiches, zu ersehen sind. Das historische Zentrum sollte erhalten werden, aber mit monumentalen Gebäuden wie etwa dem Sowjetpalast als neuem Fluchtpunkt neu strukturiert werden. Radial und ringförmig angelegte Straßenachsen gewaltigen Ausmaßes erschließen diesen zentralen Bereich auch für Massenaufmärsche und Paraden. Um die Kernstadt legen sich Wohnviertel und Grüngürtel. Der Ausbau des Straßennetzes wurde durch denjenigen des Wasserstraßennetzes ergänzt; die Hauptstadt war insofern vermittels Kanälen mit fünf Meeren verbunden. Der Moskauer Umbauplan übernahm Stadtregulierungskonzepte, wie sie etwa Haussmann für Paris in der Mitte des 19. Jh.s angewandt hatte |▶ 12|, und stellte insoweit eine klare Gegenposition gegen die 1933 mit der Charta von Athen entwickelten Konzepte der Internationalen Moderne |▶ 37| dar. Allerdings wurde der Plan nur teilweise verwirklicht, vor allem deshalb, weil mit dem deutschen Angriff auf Russland die Bauarbeiten eingestellt wurden. Im Zusammenhang mit dem Ausbau Moskaus wurde auch mit dem bereits länger geplanten Bau der Metro begonnen, deren Anspruch es war, die Ausstattung der stalinistischen Hauptstadt mit sozialistischen Palästen auch unterirdisch fortzusetzen. So sind die Bahnsteighallen als neubarocke Galerien angelegt und vermitteln über reliefierte oder mosaizierte Bildzyklen alltäglich und unausweichlich stalinistische Propaganda. In der Station Komsomolskaya (1952, A. Shchusev und Pavel Korin) steigt die Bahnsteighalle in einer hohen Tonne auf, von der Kronleuchter herabhängen.
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Neuanfänge und Kontinuitäten nach 1945 Wiederaufbau und Kritik der Moderne
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er weltumspannende Krieg in der Mitte des 20. Jh.s hatte immense politische und wirtschaftliche Folgen nicht nur für die von Zerstörung betroffenen Gebiete und Staaten. In diesen boten sich aufgrund der durch den Bombenkrieg entstandenen tabula rasa in den Innenstädten die Möglichkeiten großzügigen Experimentierens. Konsequenter und zügiger Wiederaufbau, wie etwa der Innenstadt von Warschau, stand der Anwendung neuer Planungs- und Baukonzepte im Sinne aufgelockerter, zonierter Stadtlandschaften gegenüber: Scharouns Kollektivplan für Berlin 1946 hat klare Vorläufer im Londoner Stadtentwicklungskonzept der Gruppe Modern Architecture Research Society und Parallelen in den Neubauplänen für Mainz oder Saarbrücken, die Marcel Lods bzw. André Sive und Marcel Roux Ende der 40er Jahre vorlegten. Generell entsprechen diese Planungen den Forderungen der Charta von Athen (vgl. S. 93, |▶ 37|). Le Havre wurde nach den Prinzipien von Auguste Perret als geometrisch geordnete Stadt in relativ niedriger Blockbebauung neu errichtet. In England wurden in der Tradition der Satellitenstädte der Gartenstadtbewegung als Entlastung der Londoner City in den 50er Jahren zehn New Towns gegründet (Harlow, Stevenage u. a.), die zumindest prinzipiell auf eine lebensvolle soziale Durchmischung in Form von Nachbarschaftseinheiten achteten; seit den 60er Jahren folgten in ganz England Dutzende von neuen Mittelstädten von bis zu 250 000 Einwohnern. Ähnliches gilt für Frankreich, wo die wachsenden Ballungsgebiete, insbesondere dasjenige von Paris, durch Grands Ensembles in der banlieue entlastet wurden. Diese blieben allerdings reine Wohngebiete mit geringer Infrastruktur und wurden seit den 60er Jahren zunehmend privatwirtschaftlich entwickelt – mit bis heute zu spürenden sozialen Problemen. In der Bundesrepublik verfolgte man ein weites Spektrum eines neuen Urbanismus. In Münster bemühte man sich, den Altstadtplan unter Andeutung der alten Hausformen neu entstehen zu lassen, in Frankfurt am Main gab es vergleichbare Tendenzen, die aber bald ergänzt wurden durch prominente Bürohochhäuser – eine bis heute anhaltende Tradition. Nördlich der Stadt entstand in Ergänzung der nur teilweise realisierten Römerstadt unter Ernst May |▶ 30| die Nordweststadt (Walter Schwagenscheidt u. Tassilo Sittmann) als autofreie Parklandschaft mit Wohnhochhäusern. In fast allen größeren Städten wurden innerstädtische Schneisen angelegt, um für eine automobilgerechte Mobilität zu sorgen. Generell führte in der Fortsetzung der Politisierung der Architektur auch die Abgrenzung der Machtblöcke nach 1945 dazu, das Bauen weiterhin als sichtbaren Ausdruck der Politik zu begreifen. Einer massiven Amerikanisierung des Westens in allen Kulturbereichen (Musik, Kino, Nahrung) stand der zur Doktrin erhobene ‚sozialistische Realismus‘ im Ostblock gegenüber |▶ 38|. Gemäß der oben benannten, 1935 entwickelten Doktrin einer radial organisierten, von prächtigen Magistralen erschlossenen Stadt wurde Moskau bis in die 50er Jahre als Musterstadt des stalinistischen Städtebaus vergrößert. Als sich herausstellte, dass damit weder der Verwaltungs- noch der Wohnsektor ausreichend bedient wurde, wurde das Stadtzentrum als Verwaltungsbereich vergrößert und mit hohen Verwaltungshochhäusern entlang der Prachtstraßen versehen. Vor allem wurden unmittelbar nach dem Krieg für das Moskauer Zentrum acht gigantische Hochhäuser für Büros
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und Wohnungen sowie als Hotels und für die Universität geplant, sieben davon auch errichtet. Diese sog. ‚Sieben Schwestern‘ folgen in ihren weit ausladenden Baumassen, die in einer zentralen Spitze kulminieren, programmatisch dem geplanten Sowjetpalast, der insofern – obwohl nie errichtet – ein Supersymbol der Stalinzeit wurde. In ihrer zurückgestuften Silhouette sind zwar auch Bezüge zu amerikanischen Wolkenkratzern der 20er Jahre und auch zu gotischen Großkirchen wirksam, doch sollten die Moskauer Projekte ebenso als signalhafte Denkmäler fungieren: Die Gliederung der Baumassen, ihre Akzentuierung mit riesigen Vorhallen, das Ausbilden von Zwischenebenen als Plattformen für Plastiken und das Auftürmen der Bauten in einen spitzen Aufsatz, der wiederum ein pyramidenähnliches Gebilde mit dem Sowjetstern trägt, folgt einer skulpturalen Konzeption. In diesen Riesendenkmälern, von vielen Orten der Stadt sichtbar, sind die Funktionseinheiten gleichsam nachträglich untergebracht, das Gesamtensemble ähnelt einer bewohnten und benutzten Trophäe. Dieser ‚ideelle‘ Wert der Moskauer Hochhäuser unterscheidet sie von den US-amerikanischen Wolkenkratzern, deren Höhe lediglich eine Funktion der Renditeerwartung ist. Die markanteste dieser urbanistischen Orientierungsmarken bildet das 240 m hohe Gebäude der Lomonosov-Universität, 1949 – 53 von Lev Rudnev und Mitarbeitern auf einer hohen innerstädtischen Erhebung errichtet (□ 30). In den immensen Wohnvierteln der Außenbereiche entstanden riesige Wohnblöcke in standardisierter Fertigung, deren Eintönigkeit als Ausdruck der planvollen Zielstrebigkeit des Sozialismus gegenüber der angeblichen Heterogenität der westlichen Stadt interpretiert wurde. – Auch in der DDR legte man Wert darauf, eine kompakte Stadt zu erhalten, also neue Wohnviertel zentrumsnah entstehen zu lassen. Die alten Mittelpunkte wurden dabei aber zu Lasten der Altbebauung als repräsentative Achsen umgestaltet, so etwa in Dresden, Rostock, Magdeburg und vor allem in Berlin. Hier mündet die Stalinallee (heute KarlMarx-Allee, |▶ 38|) auf den gegenüber seinem Altbestand beträchtlich vergrößerten Alexanderplatz, an dem historische Baugattungen eines Kleinstadtmarktplatzes in überdimensionierter Form gesteigert sind: Ein Hotelhochhaus tradiert das zentrale Gasthaus, ein Kaufhausblock die Geschäfte am Marktplatz und der Brunnen der Völkerfreundschaft ist die übersteigerte Version eines Marktbrunnens. Gegen die Doktrin der zonierten, technokratisch aufgefassten Stadt ohne Geschichte, für die die Charta von Athen programmatisch steht, □ 30 Moskau, Gebäude der Lomonosov-Universität, Lev Rudnev, 1949 – 53
Neuanfänge und Kontinuitäten nach 1945
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formierte sich im Rahmen des CIAM zunehmender Widerstand, der dazu führte, dass sich die Vereinigung 1959 auflöste. Eine jüngere Architektengeneration protestierte gegen die übermächtig gewordenen Begründer der Moderne, und in diesem Zuge fanden auch Erfahrungen und Architekten aus außereuropäischen Regionen – Nordafrika, Japan, Brasilien – Eingang in die Debatte. Diese löste sich zunehmend von den Kriterien von sozialer Logistik und ökonomischer Effizienz und wandte sich Fragen von innerstädtischen Kontinuitäten, regionalen Spezifika und sozialer Kommunikation zu. Vor allem das Architektenehepaar Peter und Alison Smithson sowie die niederländischen Architekten Jacob Bakema und Aldo van Eyck, im Team X zur Vorbereitung des CIAM 1959 zusammengefasst, entwickelten vielfältig gemischte Stadtstrukturen, sog. Cluster, die in bestehende Bebauung eingefügt werden. Herausragendes Beispiel dafür ist das Economist Building in London, 1959 – 64 von den Smithsons errichtet. Mehrere Stahlbetonbauten von unterschiedlicher Höhe füllen die inmitten von historischer Bebauung liegende Parzelle auf, lassen zwischen einer Bank und einem Verwaltungsgebäude Gassen und platzartige Räume entstehen. Anstatt einer eleganten Eisen-Glas-Kiste handelt es sich bei den Bauten um recht massive Gebäude mit abgeschrägten Ecken. Der hier praktizierte sog. Brutalismus, vertreten etwa auch durch die Schule in Hunstanton von Alison und Peter Smithson (1949 – 54) oder die Torre Velasca von BBPR |▶ 39|, verstand sich durchaus nicht nur als Formenspielerei mit groben Betonblöcken, sondern setzte in der Integration in die gewachsene Stadt die Kriterien des CIAM außer Kraft. Süd- und Mittelamerika waren während des zweiten Drittels des 20. Jh.s in weit geringerem Maße als Europa den Schlachten der Ideologien ausgesetzt. Seit den 30er Jahren griff man hier das moderne Bauen auf, nahm aber Abstand von utilitaristischen und rationalistischen Konzepten. In Brasilien bildete das nach einem Urentwurf von Le Corbusier 1935 von Lucio Costa errichtete Erziehungsministerium in Rio de Janeiro den Ausgangspunkt (□ 31, |▶ 42|). Dabei gab es bezeichnende Veränderungen: denn die Pilotis, über denen das Scheibenhochhaus scheinbar schwebt, wurden in kühner Weise nach oben gestreckt, und die repräsentativen Innenräume mit farbenfrohen Azulejo-Kacheln verkleidet, was einerseits eine heitere Note beisteuert und andererseits die erwünschte Internationalität der neuen Architektur mit einem lokalen Akzent versieht. Oscar Niemeyer schuf seit 1940 die ersten Häuser der Modellstadt Pampulha, vor allem eine Kirche und ein Casino. Während die Kirche gleichsam unter einer in hohe Wel□ 31 Rio de Janeiro, ehem. Erziehungsministerium, Lucio len aufgewölbten Betonfläche untergebracht ist, Costa, Le Corbusier, Oscar Niemeyer, 1937 – 43 winden sich im mondänen Casino auf mehreren
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□ 32 Ronchamp, Notre-du-Haut, Le Corbusier, 1950 – 55
Ebenen kurvig geschwungene Galerien um Felsen und kleine Teiche der bestehenden Landschaft. Niemeyer hat mit vergleichbaren Architekturen, etwa dem großen Ausstellungspark Ibirapuera oder dem Copan-Gebäude (1957 – 66) in São Paulo Brasilien ein architektonisches Image gegeben, das in der neu errichteten Hauptstadt Brasília kulminierte |▶ 42| und auch nach Europa zurückstrahlte. Die Pariser Parteizentrale der Kommunistischen Partei Frankreichs (1965 – 71) mit ihrer geschwungenen Glasfassade verdankte sich der politischen Ausrichtung des Architekten. Daneben erfuhr der sog. Brutalismus in Brasilien eine besondere Ausprägung: In João Batista Vilanova Artigas’ Architekturfakultät in São Paulo (1966 – 69) umgeben zerklüftete Betonwände einen riesigen stützenlosen Innenraum. Die ondulierenden Formen in virtuoser Betontechnik gibt es auch in anderen lateinamerikanischen Ländern. In Mexiko experimentierte der spanisch-mexikanisch-US-amerikanische Architekt Felix Candela mit großen Falt- und Hyperboloidschalen, die wie riesige Muscheln freitragende Dachwerke für einen Freiraum darunter ausbilden (Kirche de la Virgen Milagrosa, 1954 und Los Manantiales Restaurant in Mexico City, 1958) und eine von Antonio Gaudí begründete Tradition kühner Gewölbekonstruktionen fortsetzten. Auch Le Corbusier hatte sich bereits seit Beginn der 30er Jahre geradezu sinnlich ondulierenden Formen und kruden Naturmaterialien zugewandt. In dem Studentenwohnhaus, das er für die Schweiz auf der Pariser Cité internationale universitaire 1932 errichtete, schwingt der Festsaal in einer Art Flaggenkontur aus, und die Stützen der Wohnblocks stehen auf nierenförmigem Grundriss. In der Villa für Helène de Mandrot in Le Pradet bestehen die Seitenmauern aus offen liegenden Bruchsteinen. Für den Architekten wirkten bei dieser Zurückdrängung technologischer Momente angeblich die heroischen Konturen der südamerikanischen Gebirge und eine weibliche Sinnlichkeit, welcher er bei seinen Aufenthalten in Südamerika seit 1929 gewahr geworden sei. Derartige Elemente – raue, ondulierende Konturen – finden sich auch an der Unité d’habitation (1945 – 52, |▶ 37|). Wie ein Donnerschlag wirkte aber die Kapelle von Ronchamp im französischen Jura, die der Architekt von 1950 – 55 als völlig untektonische, aber eminent skulpturale Form aus schwellenden und sich krümmenden Mauern und Decken errichtete (|▶ 45|, □ 32). Die früher bei Le Corbusier proklamierte Ordnung und das technische Kalkül sind nun einer effektvollen Bespielung des öffentlichen Raumes bzw. einer sensuellen Wahrnehmung
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von variationsreichen Innenräumen gewichen, in der vor allem die individuelle künstlerische Inspiration des Baukünstlers gewürdigt werden will. Aus solchen Gründen ist Le Corbusier für seine Kapelle scharf kritisiert worden, was aber ein intensives Weiterwirken solch organoider Idiome vor allem in den 50er und 60er Jahren, gerade auch im Kirchenbau nicht beeinträchtigt hat |▶ 45|. Nicht zuletzt beruht auch Le Corbusiers stark individualistische, ja pathetische Modellierung der indischen Provinzhauptstadt Chandigarh auf solchen Prinzipien |▶ 44|. Auch die skandinavische Nachkriegsmoderne ist stark durch sinnliche Materialien und Raumformen geprägt |▶ 41|. Für die USA waren die Nachkriegsjahre in architektonischer und städtebaulicher Hinsicht ebenfalls ein Einschnitt. In der Austeritätspolitik des New Deal in Folge der Weltwirtschaftskrise 1929 waren originelle Entwürfe eines extremen Funktionalismus entstanden, unter anderem von Richard Buckminster Fuller. Die Kriegsteilnahme hatte den USA indessen eine Wirtschaftskonjunktur in Zusammenhang mit einer politisch-moralischen Wertschätzung eingebracht, mit der die Rezession schnell überwunden wurde. Im Zuge des renewal und des dezidiert antikommunistisch grundierten Kapitalismus beschleunigte sich eine Tertiarisierung der Stadtzentren in Form von großen Hochhäusern; die Wohngebiete wurden nach außen verlegt, soziale Wohnungsbauprogramme größtenteils zurückgefahren. So ist die Nachkriegsarchitektur der USA ein Bauen im großen Maßstab, für Verwaltungs- und Kulturbauten oder auch für anspruchsvolle Villen |▶ 36|. Das Ende des New Deal bezeichnete auch eine programmatisch ausgerufene neue Monumentalität, die in einem großen Kongress von 1944 zum Thema „New Architecture and City Planing“ (Kongressakten hrsg. v. Paul Zucker) verhandelt wurde. Insbesondere bei Louis I. Kahn wurde dies dadurch umgesetzt, dass er die grazile, aus einer konsequenten Materialreduktion entstandene moderne Stützkonstruktion, wie sie etwa von Le Corbusier in seinem Dom-Ino-System oder von Mies van der Rohe in seinem Deutschen Pavillon für die Weltausstellung in Barcelona |▶ 32| formuliert worden war, konterkarierte. In den Richards Laboratories der Universität Pennsylvania in Philadelphia (1957 – 61) bilden massive, aus Beton und Backstein bestehende Türme vertikale Raumkuben, denen außen schlankere Stege angegliedert sind. Sie enthalten die in den Worten Kahns ‚dienenden‘ Elemente wie Ventilation und Aufzüge, die die ‚bedienten‘ Teile im Inneren versorgen und im Grundriss freihalten, aber selbst Teil der monumentalen Komposition werden. Dabei werden auch immer wieder Bezüge zu historischer Architektur wirksam – im Fall der Richards-Laboratorien etwa auf die mittelalterliche vieltürmige Stadt Carcassonne in Südfrankreich |▶ 44|. Dieser Bezug auf die Geschichte kennt aber keine Werthierarchien oder tiefsinnige Bedeutungen, sondern verankert Kahns Architekturen in einer wertneutralen Weltgeschichte des Bauens. Vor allem aber äußerte sich die nordamerikanische Konjunktur in einem außerordentlichen Boom des anspruchsvollen Hochhausbaues |▶ 40|, in dessen Zusammenhang sich einige Architekturbüros zu riesigen Bauplanungs- und Logistikunternehmen vergrößerten. Das beste Beispiel dafür ist SOM (Louis Skidmore, Nathaniel Owings und John O. Merrill), 1936 gegründet und auch heute noch existierend, in dem schon bald zahlreiche Architekten als Angestellte tätig waren und sind. Konzeptionell am wichtigsten war sicherlich der Beitrag von Mies van der Rohe, der, 1938 an das Illinois Institute of Technology in Chicago berufen, umgehend an die Gesamtplanung des Campus ging. Seit 1940
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□ 33 New York, ehem. TWA-Terminal, Eero Saarinen, 1957 – 62
entstanden außer dem Masterplan des Universitätsgeländes auch mehrere wichtige Einzelbauten darauf. Das Metal Research Building (zus. mit Holabird und Root, 1942 – 43) realisiert ein exaktes und regelmäßiges Stahlraster, das mit Backstein ausgefacht ist. Bei der Crown Hall ist der eigentliche kubisch strenge Baukörper in einen nach außen verlegten Stahlrahmen eingehängt, ein Prinzip, das Mies in kleinem Maßstab am Farnworth House in Plano (Ill.) 1945 – 51 vorexerziert hatte. Hier ist der Baukörper mit der vorgelagerten Terrasse zudem etwas vom Boden abgesetzt und vor allem vollständig verglast. Gleichsam entmaterialisiert öffnet sich das Gebäude der umgebenden dichten Natur. In Übertragung auf den Hochhausbau wurden die Mies’schen ‚Kisten‘, die beiden Wohnhochhäuser am Lake Shore Drive in Chicago (1948 – 51) und das Seagram-Bürogebäude |▶ 40|, zu den Inkunabeln perfekt regelmäßiger Blöcke mit veredelter Außenhaut. Die zahllosen, weltweiten Nachahmungen dieses Hochhaustyps haben häufig dessen wesentliche Kriterien missachtet: sorgfältigste modulare Kohärenz in den Proportionierungen und Gediegenheit der Außenhaut. Mies’ Architekturen beziehen sich bewusst nicht auf die dort stattfindenden Nutzfunktionen, sondern verstehen sich als erhabene Obdächer, die ähnlich wie der griechische Peripteraltempel (eine von Säulenreihen umgebene Cella) mittels einer kostbaren Hülle einen fast sakralen Raum umgrenzen. Nicht umsonst erweckt die Berliner Neue Nationalgalerie, Mies’ letztes großes Werk (1962 – 68), mit ihrem weit auskragenden, von wenigen Stützen getragenen Stahldach unmittelbare Assoziationen an einen Tempel. – Von dieser Auffassung der Architektur als erhabener Hülle abzusetzen sind stark skulptural konzipierte Architekturen in den USA, die häufig durch die Repräsentation einer corporate identity motiviert sind. Zu den berühmtesten dieser Bauten gehört das Flughafenterminal, das Eero Saarinen 1957 – 62 für die Fluggesellschaft TWA auf dem New Yorker Flughafen Idlewild (John F. Kennedy) errichtete (□ 33). Der technisch äußerst aufwendige Betonbau lässt sich als zwei Flügel eines majestätischen, sich in die Lüfte erhebenden Vogels verstehen. Die aerodynamisch wirkenden Kurven dieser Riesenskulptur wollen eine Eleganz und Mühelosigkeit des Fliegens vermitteln, welche auch im Inneren des Gebäudes wirksam ist. In einer aus dem Firmenlogo der Fluggesellschaft abgeleiteten Farbigkeit breitet
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sich hier eine mehrfach abgestufte kurvig geführte Landschaft aus, in der über die Namen von Restaurants wichtige Flugziele von TWA angedeutet sind. Der Bezug auf jeweils unterschiedliche corporate identities verschiedener Auftraggeber führte auch dazu, individuelle Architektenhandschriften unkenntlich zu machen. Wie auch SOM keinen spezifischen ‚Stil‘ hat, sind auch Saarinens weitere Großprojekte aus solchen Gründen in formaler Hinsicht sehr unterschiedlich. Ähnliche Ziele verfolgte das Guggenheim-Museum in New York von Frank Lloyd Wright (1943 – 1959). Es ähnelt einer Schüssel, in deren Innenwand die Ausstellungsfläche als lange Spirale eingefügt ist, welche in der Gebäudemitte einen inneren Schacht entstehen lässt, in dem sich die Schneckenfigur abzeichnet. Die Berühmtheit und penetrante Selbstinszenierung des Architekten spielte dabei eine wichtige Rolle, um hier ein signature building entstehen zu lassen, das Teil der Selbstinszenierung des Museums wurde. – In solch einem Zusammenhang ist auch Jørn Utzons Opernhaus in Zusammenarbeit mit dem Ingenieur Ove Arup |▶ 47| in Sydney zu sehen, 1957 begonnen, aber erst 1973 fertiggestellt. Zwei Reihen von Betonschalen in den Formen von aneinandergelehnten, aufrecht stehenden Bootsrümpfen oder geblähten Segeln bilden eine Silhouette, die umgehend zum logoartigen Erkennungszeichen der Hafenstadt wurde. Wie spätere derartige Eventarchitekturen bildete auch das Opernhaus umgehend ein neues, attraktives städtebauliches Zentrum aus, das an die Stelle von Sanierungsgebieten trat.
High Tech und Partizipation Utopien und Konsequenzen der Großtechnik ie Eroberung des Weltraums durch den Menschen, wie ein Paukenschlag initiiert durch den Flug von Sputnik 1 im Jahre 1957, hatte auch ihre Parallelen in den architektonischen Diskursen und Projekten seit den 50er Jahren. Hochleistungstechnik und eine immense Logistik erhielten aber nunmehr nicht mehr nur die Aufgabe, die statische Konstruktion und die Bauphysik zu optimieren, sondern eine Flexibilität in das Bauen zu bringen, die mit sich verändernden menschlichen und sozialen Bedürfnissen einhergehen sollte. Die vitruvianische Kategorie der Dauerhaftigkeit, technisch und ästhetisch begriffen, war in dieser Hinsicht zum Negativum geworden: Unfähig zur Anpassung an sich verändernde Bedingungen, räumlich in ihrer Unbeweglichkeit störend, ästhetisch rasch veraltend und überdies als Einzelfertigung teuer, war eine solche Architekturauffassung ethisch nicht mehr zu rechtfertigen. So gab es eine Reihe sich ergänzender, meist utopischer Entwürfe für eine standardisiert zu produzierende, einfach in kombinierbaren Modulen zu montierende und zu demontierende Architektur. In bezeichnender Hinsicht waren diese Vorschläge auch urbanistischer Natur, denn sie richteten sich ja auf die ständig im Fluss befindlichen sozialen und wirtschaftlichen Faktoren städtischer Gemeinschaften, die politisch teilweise mühevoll reguliert werden müssen. Yona Friedman entwarf Ende der 50er Jahre die ville spatiale: Eine vorgegebene Infrastruktur sollte mit flexiblen Sekundärstrukturen auszufüllen sein. Die Idee der Stadt als ein mobiles Raumschiff bzw. eine Raumstation, wie sie ironisch von der Gruppe Archigram in den 60er
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Jahren imaginiert wurde (vgl. S. 94), war insofern nicht weit entfernt von den im Rahmen der japanischen Metabolisten entwickelten Idee der Megastrukturen, also von urbanistischen Rahmenstrukturen, die flexibel mit unterschiedlichen kapselähnlichen Modulen ausgefüllt werden können |▶ 43|. Richard Buckminster Fuller entwickelte ebenso eine Reihe kurios wirkender metallener Einzelmodule, die er bezeichnenderweise aus militärischen Notwendigkeiten für flexible Unterkünfte abgeleitet hatte: Voll ausgestattete, aus Metall produzierte Badezimmer und vor allem das bereits 1929 in einer Vorversion erdachte Dymaxion-Haus, ein zusammenlegbares und transportables Aluminiumhaus. Als technisch optimierte Räume von extremer Leichtigkeit entwickelte Fuller die geodätischen Kuppeln, also eigenstabile Gitterstrukturen in Form von riesigen Polyedern aus in sich verwindungssteifen Dreiecken. Für die Weltausstellung in Montreal 1967 wurde eine solche Riesenkuppel als amerikanischer Pavillon errichtet. Unter den realisierten Werken – die allerdings in keinem Fall flexibel zu montierende und demontierende Module aufweisen – ist insbesondere Moshe Safdies Habitat 67 hervorzuheben, das ebenfalls für die Weltausstellung in Montreal errichtet wurde. Nach dem Baukastenprinzip sind kubische Wohneinheiten teilweise vorkragend bzw. mit Lücken übereinandergestapelt. Das Verwaltungsgebäude Centraal Beheer in Apeldoorn von Herman Hertzberger (1968 – 72) schuf über die intelligente Kombination von Standardkuben zahlreiche Raumbeziehungen und -nutzungsmöglichkeiten. In dieses Grundsatzkriterium flexibler Nutzung sind neben dem epochalen Centre Georges Pompidou in Paris |▶ 47| auch die Werke des Berliner Architektenpaares Ralf und Ursulina Schüler-Witte einzuordnen. Ihr Berliner Internationales Congress Centrum (1971 – 79) ähnelt einer Raumstation, ein metallischer Solitär mit Tiefgarage, zahlreichen Kongressräumen, Restaurants und Büros, alles durch Rolltreppen miteinander verbunden. Ähnlich funktioniert das ebenfalls 1971 entworfene, 1984 fertiggestellte festungsartige, aber starkfarbig gestaltete Universitätsklinikum Aachen. Vor allem ist der Anspruch auf eine prinzipiell flexible, indessen antimonumentale Architektur seit den 50er Jahren von Frei Otto verfolgt worden, dessen leichte Kuppeln, Schalen und Zelte ähnlich wie bei Fullers geodätischen Kuppeln flexibel einzurichten sind |▶ 46|. Ein wichtiges Vorbild bildete dabei Konrad Wachsmann, ein von Deutschland in die USA emigrierter Architekt, für den die maschinelle Produktion von Architektur nicht in monotone Standardprodukte führen durfte, sondern als flexibel einsetzbare und gleichwohl ökonomisch wie materiell optimierte Skelettstruktur aus Stäben und Knotenverbindungen zu konzipieren war (Entwurf eines kühn auskragenden Flugzeughangars aus Tetraederelementen für die United Air Force, 1950). Die Faszination, die das Centre Georges Pompidou ausübte, mündete aber insbesondere in eine eigenständige Ästhetik, die die offen in ihrer technischen Struktur zu Tage tretenden und monumentalen Tragwerke und Versorgungseinheiten zum wesentlichen Kriterium machte. Diese High-Tech-Architektur (benannt nach dem 1978 erschienenen Buch „High Tech: The Industrial Style and Source Book for The Home“ der Design-Journalisten Joan Kron und Suzanne Slesin) schafft sehr markante selbstreferentielle Bauwerke, die nicht in postmoderner Manier auf historische Referenzen oder auf den Ausdruck der Gebäudenutzung schielen müssen. In ihrer signalhaften Wirkung vermittelten diese Bauten zunächst vor allem für Finanzinstitute das Image von Potenz und Leistungsfähigkeit. Dabei stellte sich die schon um 1900 virulente Frage, ob die technische Struktur in teilweise
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prononcierter Weise freigelegt werden sollte oder aber ihre virtuose Behandlung ungewöhnliche Effekte bewirken könnte. Richard Rogers entwickelte die Maschinenästhetik des Centre Pompidou, auch als struktureller Expressionismus bezeichnet, weiter. Das Bankgebäude von Lloyd’s in London (1978 – 86) ist ein brutaler, innen hohler Kasten aus gewaltigen Stützen, dem außen die Versorgungseinrichtungen mit ihren riesigen Röhren und Nottreppenspindeln vorgelegt sind. Ein Vorläufer einer derartigen Ästhetik ist das 344 m hohe John-Hancock-Center in Chicago, ein sich nach oben verjüngender Wolkenkratzer mit auffälligen Diagonalverstrebungen (Skidmore, Owings & Merrill, 1965 – 69). Norman Fosters HSBC-Hauptgebäude in Hongkong (1983 – 85, □ 34) besteht aus acht gigantischen, durch Kreuzverbindungen gesicherten Stützen in die die Gebäudescheiben wie bei einer Hängebrücke eingehängt sind. Bei anderen Werken Fosters hingegen ermöglicht die kühne technische Beherrschung elegante, klassisch zu nennende Proportionierungen und Oberflächeneffekte: Das Sainsbury Center for the Visual Arts der Universität Norwich (voll. 1977) formt eine glatt ausgefachte Gitterkonstruktion als Hülle eines breit gelagerten, im Inneren völlig flexibel zu bespielenden Hangars. Das Commerzbankhochhaus in Frankfurt steht auf dem Grundriss eines Bogendreiecks mit abgerundeten Ecken; die glatte Außenhülle umspielt tageszeitlich wechselnd die Sonne. Nicht nur im Inneren spendet ein Innenhof Licht, sondern abschnittweise sind auch jeweils mehrere Etagen durch verglaste Gärten ersetzt. Santiago Calatrava beeindruckt durch kühn und dynamisch geschwungene Gitterstrukturen, die häufig an die Formen von Gerippen, Vogelschwingen, Tierpanzern oder auch hohen Bäumen erinnern sollen. Bevorzugte Bauaufgaben sind Brücken, Bahnhöfe (Gare do Oriente in Lissabon, 1994 – 98), Flughafenterminals, aber auch Kulturzentren (Kunst- und Wissenschaftszentrum Valencia, 1989 – 2006). Frank O. Gehry entwickelte seit den 70er Jahren eine Architektur, die zunächst collageartig mit Vorgefundenem und banalen Materialien umging (eigenes Wohnhaus in Santa Monica, 1977) und Einzelteile scheinbar zusammenhanglos kombinierte, z. B. in Form von außen angebrachten Treppen, aufgesplitteter Zimmerzusammenhänge, bei denen jeder Raum einen eigenen Kubus bildet. In diesem Sinne arbeitete er auch mit Pop-Art-Künstlern wie z. B. Claes Oldenbourg zusammen, der für das Chiat/Day-Gebäude in Venice/Cal. (1985 – 91, heute bezeichnenderweise Hauptsitz von Google) die Portikus in Form eines aufgestellten Fernglases gestaltete. Mit der Walt Disney Concert Hall (1987 – 2003), den Museen in Weil am Rhein (Vitra, 1987 – 89) und v. a. Bilbao für Guggenheim (1991 – 97, □ 35) nahmen seine Bauten kräftig-skulpturale, in große geschwunge□ 34 Hongkong, HSBC-Hauptgebäude, Norman Foster, 1983 – 85
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□ 35 Bilbao, Guggenheim-Museum, Frank O. Gehry, 1991 – 97
ne Formen zersplitterte Gestalt an, die zunehmend technische Höchstleistungen darstellen. Trotz seiner skulpturalen Qualitäten und seiner selbstgenügsamen technologischen Virtuosität geht das Museum in Bilbao in Wegführung und Silhouettierung subtil auf die städtebauliche Umgebung ein und bieten auch museologisch funktionale und gleichzeitig emotional zu erlebende Räume. Auch sind die architektonischen Vergleichsmöglichkeiten vielfältig, z. B. zu Le Corbusiers Kapelle in Ronchamp oder Scharouns Berliner Philharmonie. Die durch die signalhafte Architektur ausgelöste Konjunktur Bilbaos als Kulturstadt (sog. Bilbao-Effekt) ist auch der Tatsache zu verdanken, dass hier ein Joint-Venture-Verfahren zum Tragen kam: Schon beim Mutterbau in New York war darauf geachtet worden, dass sich das Image des Museums mit demjenigen des damals berühmtesten amerikanischen Architekten verbinden ließ: Frank Lloyd Wright (|▶ 37|, vgl. S. 70). Dieser schuf eine, ein ganzes Stadtviertel beherrschende, äußerst publikumswirksame Eventarchitektur. Diese Image-bildende Funktion eines Stararchitekten mit seinen äußerst markanten und technisch aufwändigen Architekturen wiederholte man in Bilbao. Und aus solchen Gründen entwarf Gehry auch den New Yorker Erweiterungsbau des Museumskonzerns (aufgegeben 2002) sowie die geplante Dependance in Abu Dhabi. Gehry gehörte zu den ersten Architekten, die mit einer aus dem Flugzeugbau übernommenen 3-D-Planungssoftware arbeiteten (seit 1992 mit dem Modeller CATIA: Computer Aided Three-Dimensional Interactive Application), um seine zunächst bildhauerisch als Modelle skulptierten Formen in tragfähige Architektur umzusetzen. Klassische statische Formeln beziehen sich auf regelmäßig geformte (gerade oder runde) Einzelteile, jede kurvig oder gar sphärisch gekrümmte Form lässt die Anzahl und Komplexität der Kräfteberechnungen so ansteigen, dass für manche älteren Bauwerke ganze Bücher an Formelberechnungen durch einen wochenlang mit Rechenschiebern oder computerartigen Rechenmaschinen (Konrad Zuse hatte diese seit 1941 entwickelt) arbeitenden Stab an Statikern notwendig wurden. Erst der Computer leistete hier Abhilfe, denn er macht eine komplex gekrümmte Architektur
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wie in Bilbao erst exakt darstellbar und statisch berechenbar. Vor allem kann die von ihm ermittelte Konstruktion über eine Robotersoftware, die CNC (Computerized Numerical Control) in die Fertigung von jeweils individuell geformten und mit je eigenen Kanten und Anschlüssen versehenen Einzelteilen umgesetzt werden. Gegen die architektonische Praxis der 60er Jahre mit dem verkehrsgerechten Ausbau der Innenstädte zu Verwaltungscities und den seelenlosen Schlafstädten in den Außenbereichen konnten die technologisch zwar ausgefeilten, aber nicht von Benutzerseite konzipierten utopischen Konzepte des frühen High Tech wenig ausrichten. Dies gilt vor allem deswegen, weil gerade die im Geist von Megastrukturen konzipierten Ensembles nur als autoritäre Maßnahme ‚von oben‘ funktionieren konnten. Dieser Zusammenhang zwischen Architektur, Städtebau und Politik wurde auch zu einem wichtigen Thema der Studentenproteste um den Mai 1968; auch aus solchen Gründen waren Architekturschulen wie die Pariser École des Beaux-Arts besonders aktive Zentren der Demonstrationen. Auch die wilde, deregulierte Vereinnahmung von städtischem Wohnraum in der Besetzerszene seit den 70er Jahren (Freistaat Christiana in Kopenhagen, seit 1971, Frankfurt/M., Münster) war Ausdruck der Kritik an einer verordneten Architektur. In institutionalisierter Form ging solch ein kritisches Bewusstsein in die seit 1977 geplante und 1984 – 87 veranstaltete Internationale Bauausstellung in Berlin (IBA) ein. Ziel war die Entwicklung von städtebaulichen Grundsätzen, die die historische Gewordenheit jedes Stadtviertels in die Planung einbezogen und deren soziale Prägungen akzeptierten. Die zentrale Aufgabe der IBA war demnach der Wohnungsbau inmitten der Kernstadt, der sich zum ersten Mal auch der kreativen Umgestaltung von Altbausubstanz widmete und dabei auch auf Erfahrungen der Besetzerszene zurückgriff. Im damals entwickelten Konzept der ‚Kritischen Rekonstruktion‘ waren traditionelle städtebauliche Untereinheiten wie Wohnung, Haus, Baublock, Straße und Platz, Garten und Parks die Ausgangspunkte für Collagierungen, Dekompositionen und Vermischungen, die aber immer auch ökologische Faktoren, individuelle Erinnerungskulturen jeder Einheit und die daraus resultierenden sozialen Beziehungen im Blick haben sollten. An derartige Erfahrungen knüpfen gegenwärtige Architekturpraktiken an, die in Entwicklungsländern nachhaltige Bauten aus lokalen und teilweise recycelten Materialien planen und dabei lokale Produktions- und Wahrnehmungsweisen beachten |▶ 50|.
Was ist Architektur? Bauen und Poststrukturalismus eit den 60er Jahren ist eine mit dem Begriff des Poststrukturalismus belegte grundsätzliche Infragestellung von überbrachten Repräsentationsmustern im Gang: In welcher Weise können Medien wie Sprache, Text und Bild Wirklichkeit vermitteln? Oder konstruieren diese Medien Realität nur als bloße Simulation (Baudrillard)? Das Internet mit seinen virtuellen Räumen und seiner Bilderflut hat diese Fragen in drängender Weise verschärft: Was ist Realität, was ist Imagination? Rational vermeintlich logische Sinnkon-
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□ 36 Paris, Fondation Cartier, Jean Nouvel, 1994
struktionen und Deutungsweisen der Welt erweisen sich als über bestimmte Diskurse konstruiert (Foucault). Und in jedem Entäußern und Wahrnehmen von Zeichen schwingen Nebenbedeutungen mit, so dass ein eigentlich Gemeintes gar nicht mehr vermittelt werden kann (Derrida, |▶ 49|). Insofern besteht die Aufgabe von Sozial- und Geisteswissenschaften darin, diese medialen Brechungen zwischen Realität und ihrer Repräsentation in einem Akt der Dekonstruktion bewusst zu halten. Diese Infragestellungen betreffen auch direkt die Architektur, die ja schon immer entweder als zeichenhafte Repräsentation, als Medium (architecture parlante, |▶ 2|), oder als buchstäbliche Wirkungsinstanz als Teil der ‚Realität‘ galt (etwa von Stimmungen, |▶ 1|). Der Poststrukturalismus in seiner kritischen Haltung gegenüber rein begrifflichen Herangehensweisen fällt in allgemeinem Sinn mit der Postmoderne im Sinne von pluralistischen Deutungsmustern zusammen |▶ 48|. Insofern kann auch die postmoderne Architektur in ihren intelligenten Realisierungen dazu beizutragen, historische Bezugnahmen kritisch zu hinterfragen, indem etwa Motivzitate neu kontextualisiert, collagiert oder gebrochen werden. Häufig aber handelt es sich um ein unerhebliches Spiel mit historischen Referenzen oder aber um eine anachronistische Untermauerung angeblich überzeitlicher Idiome, vor allem des klassischen Vitruvianismus, wie das bei Rob und Leon Krier oder Ricardo Bofill zum Ausdruck kommt. Die Dekonstruktion als Verfahren der Architektur zeigt sich denn auch nicht eigentlich in der architektonischen Postmoderne, sondern vor allem in Ansätzen, den Repräsentationsmodus von Architektur grundsätzlich neu zu formulieren. Jean Nouvel thematisiert insbesondere Raumgrenzen und -trennungen. Feste Wände werden durch Bildschirme als Portale virtueller Räume ersetzt. In der Fondation Cartier in Paris (1994, □ 36) tritt an die Stelle der klassischen Straßenfassade eine riesige Glasfront, hinter der das ebenfalls gläserne Ausstellungsgebäude erscheint, sich aber mit den Spiegelungen auf der Glasfront überblendet: Bild(schirm) wird Architektur, die Architektur erscheint nur noch als Projektionsbild. Die Bedeutung des Glases als Durchblicksmedium, Projektionsfläche
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und Konstruktionselement läuft indessen Gefahr, sich zum bloßen Showeffekt zu verwandeln, wie die irisierenden und verzerrenden Spiegeleffekte des gläsernen Innentrichters von Jean Nouvel im Kaufhaus Galeries Lafayette in Berlin (eröff. 1996) zeigen. – Nachgerade aufgeladen mit Kunstdiskursen und in sie eingebettet sind die Werke des Schweizer Architekturbüros Herzog & de Meuron: Auffallend häufig handelt es sich um Bauwerke für Museen, Ausstellungshallen, Konzertsäle, Bibliotheken und Stadien, die an der Außenhülle effektvoll mit Bildern (Hochschulbibliothek Eberswalde, □ 37 Cottbus, Universitätsbibliothek, Herzog & de Meuron, 1999 – 2004 1998) oder Buchstaben (Universitätsbibliothek Cottbus, 1999 – 2004, □ 37) übersät sind. Dagegen steht eine teilweise frappierend unarchitektonische Gestalt, wenn etwa die Riesenstadien von Peking (Olympiastadion, 2001 – 08) und München (Allianz Arena, 2002 – 05) als Nester oder Kissen von ausgeprägter ästhetischer Eigenständigkeit erscheinen. Die Architekturen sind eben keine zweidimensionalen Bildschirme, wohl aber synästhetisch wahrnehmbare Räume eines medialen Overkills von Erinnerung, Reflexion, Aneignung, Repräsentation, Symbol, Bild, Text: ein riesiges Ausstellungsobjekt, das seine Referenzen aus dem aktuellen Kunstdiskurs, nicht der Geschichte, der Konstruktion oder der Funktion des Gebäudes enthält (Ursprung in Ursprung 2002). – Rem Koolhaas und sein Architekturbüro OMA (Office for Metropolitan Architecture) weisen in ihren Konzeptionen überbrachte architektonische Paradigmen wie Tektonik, Block, Fassade, Freier Plan (vgl. S. 97 f.), Innen/Außen zurück. Deren angestammte Funktionen, Ordnung zu stiften und Beziehungen (etwa zwischen Innen und Außen) zu definieren, zeigen sich als aporetisch. Die Casa da Música in Porto (1999 – 2005) bildet einen zentral auf dem Boavista-Platz ‚gerollten‘ riesigen Solitär in Form eines unregelmäßigen Polyeders – also nicht einer klassischen ‚Schachtel‘. Dieser Block erscheint gleichsam ausgehöhlt, um den großen Konzertsaal aufzunehmen. Die Resträume erhalten unregelmäßige Zuschnitte und schiefe Decken, sind durch zahlreiche Treppen miteinander verbunden, so dass keine Stockwerkgliederung, sondern ein labyrinthisches Auf und Ab die Raumerfahrung bestimmt. Farblichteffekte und unterschiedliche Wandverkleidungen definieren nicht etwa klare Funktionsräume, sondern machen das Innere zu einem spannungsreichen Begegnungsort, in dem ein Restaurant, eine Bar und Wandelgänge um den Konzertsaal eher angedeutet sind. Im TGV-Bahnhofs-, Verwaltungsund Entertainmentkomplex Euralille, für den OMA das Grand Palais als Konzert- und Veranstaltungshalle entwarf, ist diese Überlagerung von Funktionen, Räumen und Bildern als internetähnliche Informationsflut in räumlicher Bewegung erfahrbar.
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77 □ 38 Berlin, Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Peter Eisenman, 2002 – 05
Daniel Libeskinds Bauten |▶ 49| verdanken ihre Form – die sich von keiner Stelle als klassische Einheit fassen lässt, sondern in verschiedene Ansichtsfragmente zerfällt – einer bewusst assoziativen, irrationalen und kryptischen Beziehung zu externen Sinnstrukturen, im Fall des Jüdischen Museums in Berlin etwa ehemaligen Wohnorten jüdischer Bürger, einer Oper von Schönberg, einem Davidstern. Diese werden in verschiedenen Medien vermittelt: Achsen, Schächten, Bewegung in der Architektur, Stimmungen, Texten usw. – Ganz aus dem Anspruch, etwas über Architektur symbolhaft zu repräsentieren, austreten will Peter Eisenmans Denkmal für die ermordeten Juden Europas (2002 – 05, □ 38). Die Hunderte, auf unebenem Terrain errichteten Stelen sollen in der Verfremdung von Raster und Logik, Weg und Ziel, Labyrinth und Achse Irritation und Nachdenken auslösen, nicht etwa als Objekte einen in seiner Unfassbarkeit nicht darstellbaren Völkermord versinnbildlichen. Allerdings wird ein solcher Anspruch von offiziösen Erklärungen konterkariert, die Blöcke sollen an jüdische Friedhöfe erinnern. Damit wird dem bewusst Uneindeutigen eine scheinbar klare, aber banalisierende ‚Erklärung‘ an die Seite gestellt oder vielleicht auch davon überblendet.
Medien der Architekturvermittlung Publikations- und Darstellungsformen
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ie Vermittlung von Architektur war bis um 1800 vor allem in Form des Buches geschehen: Lehrbücher, Essays und Stichwerke waren die üblichen Medien des Architekturdiskurses. Um 1800 und nochmals um 1900 erweiterte sich dies zu einer Vielzahl neuer Vermittlungsformen: Architekturzeitschriften,
Lexika, Manifeste, Fotobände, Filme, Videos kommen nun hinzu. Das ist zum einen neuen drucktechnischen Verfahren geschuldet: Die Lithographie und der Stahlstich erlaubten um 1800 eine Steigerung der Auflagenhöhe des Bilddrucks, und als um 1900 auch fotografische Bilder massenweise gedruckt vervielfältigt werden
Medien der Architekturvermittlung
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konnten, öffnete dies den Weg zu einer aktuellen Bildberichterstattung und Kritik der Architekturproduktion und -debatte. Vor allem zeigt diese Vielfalt, dass der Architekturdiskurs zunehmend öffentlich wurde. Bezeichnenderweise entstanden die ersten Bauzeitschriften aus der Tradition der aufklärerischen, allgemein bildenden Periodika, aber auch aus der Notwendigkeit, eine kompetente Bauverwaltung aufzubauen. Beispiele sind das 1789 zum ersten Mal erschienene „Allgemeine Magazin für die Bürgerliche Baukunst“ und die seit 1797 edierte „Sammlung nützlicher Aufsätze und Nachrichten, die Baukunst betreffend“. Einen umfassenden Spiegel der Baukunst bot dann von 1829 bis 1851 das „Journal für die Baukunst“. Zahlreiche Fachzeitschriften entstanden seit der Mitte des 19. Jh.s als Ausdruck der in Technik, Bauaufgaben und Bauverwaltungen immer komplexer werdenden Architektur. Um 1900 wurden dann, auch aufgrund der Erweiterung des Architekturdiskurses auf Innenausstattungen, viele neue Reihen gegründet, die Architektur im Zusammenhang mit allgemeinen Geschmacksfragen präsentieren („The Studio“, 1893 – 1974; „Deutsche Kunst und Dekoration“, 1897 – 1934). Im Einzelnen kann man etwa in der ersten Hälfte des 20. Jh.s folgende Medien unterscheiden (jeweils mit wenigen Titeln als Beispiel): Ingenieurszeitschriften: z. B. „Beton und Eisen“ (1902 – 40); „Le génie civil“ (1880 – 1977) ◫ Fachzeitschriften und Verbandsorgane: z.B. „Bauwelt“ (seit 1910); „Die Baugilde“ (1920 – 41, Verbandsorgan des BDA); „Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit“ (1922 – 35, Organ des Deutschen Werkbundes) ◫ Architekturzeitschriften: z. B. „Casabella“ (seit 1933), „L’architecture d’aujourd’hui“ (seit 1930); „Wasmuths Monatshefte für Baukunst und Städtebau“ (1914 – 32); „Stavba: meˇsícˇník pro stavební umeˇní“ (1922 – 38); „Baukunst und Werkform“ (1947 – 54) ◫ Institutionsreihen: z. B. „WerkbundJahrbuch“ (Kat. 23); Bauhaus-Bücher ◫ Lehrbücher: z. B. „Handbuch der Architektur“, 4 Teile, insg.
143 Bde, 1880 – 1943; Julien Guadet: „Eléments et théorie de l’architecture. Cours professé à l’Ecole nationale et spéciale des Beaux-Arts“, 4 Bde, Paris 1901 – 04; Ernst Neufert: „Bauentwurfslehre“, Berlin 1936 (viele Neuauflagen) ◫ Fachlexika: z. B. „Wasmuths Lexikon der Baukunst“, 1929 – 32 ◫ Architekturgeschichten: Gustav Adolf Platz: „Die Baukunst der Neuesten Zeit“, Berlin 1927 (= Propyläen-Kunstgeschichte, Erg.-Bd. 1) ◫ Kongressakten: z. B. „Internationale Kongresse für Neues Bauen: Die Wohung für das Existenzminimum“, 1930 ◫ Theorietraktate: z. B. Le Corbusier: „Vers une architecture“, Paris 1923 (S. 89); Herman Sörgel: „Ästhetik der Architektur: Theorie der Baukunst“, Berlin 1918 ◫ Essays: z. B. Fritz Schumacher: „Im Kampfe um die Kunst: Beiträge zu architektonischen Zeitfragen“, München 1913; Adolf Loos: „Ornament und Verbrechen“, 1908 (zuerst veröff. in „Cahiers d’aujourd’hui“ 1913) ◫ Werkmonographien: z. B. Fritz Hoeber: „Peter Behrens“, München 1913; Erich Mendelsohn: „Das Gesamtschaffen des Architekten“, Berlin 1930 ◫ Bildbände zu Baugattungen, Firmenbauten, städtischen Neubauten: z. B. Walter Müller-Wulckow: „Deutsche Baukunst der Gegenwart“, 4 Bde., Königstein i. T., 1929 – 32 (Reihe „Die Blauen Bücher“); Hans Hertlein: „Neue Industriebauten des Siemenskonzerns: Fabrik- und Verwaltungsgebäude, Wohlfahrtsanlagen“, Berlin 1927 ◫ Kulturwissenschaftliche Studien: Sigfried Giedion: „Mechanization takes command“, New York 1948 ◫ Ausstellungskataloge: Henry Russell Hitchcock (Hrsg.): „The international Style: Architecture since 1922“, Ausst.-Kat. New York, Museum of Modern Art 1932 (S. 92) ◫ Philosophische Abhandlungen: Friedrich Dessauer: „Philosophie der Technik“, Bonn 1927; Paul Valéry: „Eupalinos ou l’architecte“, Paris 1923 (S. 90 f.) ◫ Pamphlete: Alexander von Senger: „Die Brandfackel Moskaus“, Zurzach 1931 ◫ Propagandafilme: Ernst May: „Neues Wohnen in Frankfurt/M.“, 1927; Hans Richter: „Die neue Wohnung“, 1930; Pierre Chenal: „Architectures d’aujourd’hui“, 1930.
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Architekturtheorie 1800 – 2000 Vom ‚sprechenden‘ zum ‚fiktionalen‘ Bauen Schon in der Antike ist schriftlich niedergelegt worden, was Architektur sein soll, zu welchem Zweck sie dient und mit welchen Mitteln dies umzusetzen sei. Die „Zehn Bücher über die Baukunst“, die der röm. Militäringenieur Vitruv zwischen 33 und 14 v. Chr. verfasst hat, bilden das einzige aus dieser Zeit überlieferte Traktat, das sich mit diesen Fragen befasst. Allerdings hatte dieses seit dem 15. Jh. einen unerhörten Einfluss. Die bei Vitruv formulierten Grundelemente der Säulenordnungen (dorisch, ionisch, korinthisch) sollten zur weltumspannenden Syntax der sog. neuzeitlich-vitruvianischen Architekturästhetik werden. Deren Wirksamkeit reichte bis weit in das 20. Jh., ja teilweise bis heute. Mit der umfangreichen, deutlich um Systematik und Kohärenz bemühten Schrift wurde aber auch eine literarische Gattung geschaffen: die Architekturtheorie. Nicht belangloses Plaudern über das Bauen fällt darunter, auch nicht die Kurzformen der Architekturkritik und ebenfalls nicht die reine technische Fachliteratur zu Materialverhalten oder Bauvorschriften. Architekturtheorie zielt vielmehr auf eine systematische weltanschauliche Begründung des Bauens: „Architekturtheorie ist jedes umfassende oder partielle schriftlich fixierte System der Architektur, das auf ästhetischen Kategorien basiert.“ (Kruft, 1991, S. 11.) Insoweit vermittelt die Architekturtheorie weniger Informationen zum praktischen Bauen – auch wenn das immer wieder so gesehen wird und fallweise auch zutreffen kann – als zu künstlerischen, ästhetischen, philosophischen, sozialen und politischen Diskursen der Zeit. Das späte 18. und auch das frühe 19. Jh. brachten eine Reihe anspruchsvoller spätaufklärerischer Traktate hervor, die vor allem auf die erzieherische Wirkqualität von Architektur abheben. Sie bilden die Parallele zu zahlreichen gartentheoretischen Schriften, die – aufbauend auf der seit dem 17. Jh. zunehmenden Einsicht, dass das Gefühl neben der Vernunft Erkenntnis stiftet und Sinnesempfindung als alleinige Quelle der Wahrnehmung zu verstehen ist (Sensualismus) – die emotionalen Wirkeffekte von Landschaftsgärten mit ihren vielfältigen Stationen des Erlebens und Reflektierens systematisieren (|▶ 1|, allg. Wimmer 1989). Auf den Bereich der Architektur bezogen hatte Étienne-Louis Boullée in seinem in den 80er Jahren des 18. Jh.s entstandenen „Architecture. Essay sur l’art“ (allerdings erst im 20. Jh. veröffentlicht) – gefordert, das Bauen müsse megaloman sein, gemäß der Theorie des Erhabenen zur heftigsten Rührung (émouvoir) anstiften und hatte insofern der Architektur die Funktion zugewiesen, besser als die, etwa im Landschaftsgarten inszenierte, Natur zu wirken (von Engelberg 2013, S. 323 – 326). In Nicolas Le Camus de Mézières Traktat „Le genie de l’architecture ou l’analogie de cet art avec nos sensations“ (1780) erstellt der Autor eine Art Grammatik, wie über die Umrissformen von Bauwerken verschiedene Gefühle beim Betrachter erzeugt werden können, etwa die Kuppel des Petersdoms Würde und Größe vermittele. Der Architekt müsse derartige Gefühlswirkungen beim Entwurf wirksam werden lassen, insbesondere auch den Charakter der Hausbewohner über ihre jeweiligen Architekturen anzeigen. Auch Claude-Nicolas Ledoux geht es in seinem umfangreichen Traktat „L’architecture considérée sous le rapport de l’art, des mœurs et de la législation“ (1804) um die unmittelbare Wirkqualität einer ‚sprechenden‘ Architektur, die mahnen und moralisch erheben soll |▶ 2|.
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80 □ 39 Marie-Joseph Peyre, „Œuvres d’architecture“, 1765: Entwurf einer Kathedrale, Grundriss
Für die architektonischen Diskurse sehr viel wirkungsvoller als diese prominenten Theoriegebäude der missverständlicherweise so genannten ‚Revolutionsarchitektur‘ waren allerdings zwei andere französische Schriftsteller im Gefolge der Aufklärung. Marie-Joseph Peyres beeindruckend riesige, streng axial und symmetrisch konzipierte und subtil komponierte Idealprojekte in seinen „Œuvres d’architecture“ (1765) sollten die Lehre an der École des Beaux-Arts bis weit in das 20. Jh. prägen. Kennzeichnend für alle Entwürfe sind raumbestimmende Kompositionseinheiten, die von römischen Gewölbebauten der Antike sowie aus Kreisfiguren abgeleitet sind: Insbesondere halbkreisförmige Nischen und Apsiden, Exedren und Zirkusanlagen schaffen dominante Achsen, die durch Kuppeln bekrönt und mit akzentuierenden Säulenkolonnaden und Portiken weiter untergliedert sind (□ 39). Als wesentliche Prinzipien erachtet Peyre nicht den Umgang mit den Säulenordnungen. Für wahre Größe in der Architektur sei die richtige Anordnung des pleins et des vides, also der Massen und der Öffnungen entscheidend. Dem revolutionären Bestreben nach konsequenter Rationalisierung aller Lebensbereiche folgten hingegen die Architekturtraktate Jean-Nicolas-Louis Durands. Im Fall des „Précis des leçons d’architectures données à l’École polytechnique“ (1802 – 05) handelt es sich um eine in ihrer Konsequenz erstaunliche Standardisierung, ja Schematisierung der Architekturkonzeption. In einer als egalitär gedachten Gesellschaft steht das Prinzip der Wirtschaftlichkeit des Bauens an oberster Stelle. Im Architekturentwurf sollen also nicht mehr verschiedene, sozial unterschiedlich konnotierte Baumotive und -typen den Ausgangspunkt abgeben, sondern ein radikal systematisiertes Entwurfsprinzip in Form eines quadratischen Achsrasters. Wie in einem Steckbaukasten können hieraus alle Bautypen zusammengefügt werden. Davon setzt sich Durands „Recueil et parallèle des édifices de tout genre anciens et modernes“ (1799 – 1801) ab. Hier wird eine umfassende Historisierung der vergangenen Weltarchitektur vorgenommen, die nunmehr in einer Art imaginärem Museum umfassend und ohne bestimmte Idealbauten herauszustellen präsentiert wird. Gleichzeitig wird diese Architektur aber damit auf Distanz zum gegenwärtigen Architekturgeschehen gerückt – damit ist der Keim gelegt für die schon etwa in den 30er Jahren des 19. Jh.s etwa bei Gottfried Semper zu vernehmende, sich aber vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jh.s manifestierende antiakademische Schmähung der Architekturgeschichte als unaktuell.
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Schon am Anfang des Historismus also zeigt sich die Problematik, für die verschiedenen Stile theoretische Begründungen und Einsatzmöglichkeiten zu formulieren. Zwar etablierte sich eine subtile Herleitung der Tektonik, also der visuellen Veranschaulichung des Tragens und Lastens als den ästhetischen Hauptfunktionen der klassischen Architektur. Hier – etwa bei Antoine Chrisostôme Quatremère de Quincy, Aloys Hirt, Karl Bötticher oder Arthur Schopenhauer – geht es darum, die Konturen und Profile der Säulen als kraftvolles, gleichsam muskulöses Emporstemmen der getragenen Elemente zu verstehen und daraus eine Entwicklung, meist aus einem hölzernen Urtempel, der im steinernen Tempel in dauerhaftem Material verewigt wird, abzuleiten. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Beitrag des Sekretärs der Académie des Beaux-Arts, Quatremère de Quincy, zu. Seine Theorie bildet einen Brückenschlag von der Spätaufklärung in das 19. Jh., denn das von ihm verfasste „Dictionnaire historique d’architecture“ erscheint zwischen 1788 und 1832, also vom Ancien Régime bis zur Restauration. Er formuliert eine durch und durch klassizistische Theorie, in der die ‚Imitation‘ als die vernünftige, an Regeln gebundene und gleichzeitig als geniale Erfindung verstandene Nachahmung nicht der Formen, sondern der Gesetze der Natur den Kern abgibt. Die Nachbildung der Natur in der hölzernen Urhütte, die sich die ersten Menschen zu Schutzzwecken aus Stämmen gebaut hätten, sei eine solche Imitation. Deren Umsetzung in Stein, also ein anderes Material, lasse einen Abstraktionsprozess erkennbar werden, mit dem Form und Prinzipien der Naturhütte in dem wohlproportionierten griechischen Tempel repräsentiert würden. Was die freiheitlichen Griechen vorgeführt hätten, verpflichte auch die neuere Architektur auf einen solchen Imitationsvorgang, der in der Anwendung von Regeln wie von Erfindung die Ideale von Vernunft und Naturgesetzlichkeit präsent mache. Neben dieser klassizistischen Theorie lässt sich eine romantische Auffassung benennen, die das gotische Bauen vom mannigfaltigen, wachsenden Naturwerk ableitet. Architektur hat die Aufgabe, diese natürliche, gottbeseelte Mannigfaltig in eine Einheit zu überführen, die die göttlichen Prinzipien der geschöpften Natur erlebbar und erkennbar hält. Diese romantische Theorie wird in Variation von Goethe, Friedrich Schlegel und vor allem Karl Friedrich Schinkel in seinem Entwurf für ein „Religiöses Gebäude“ um 1815 vertreten. Allerdings bildet dieses nur die eine Seite von Schinkel als Architekturtheoretiker, denn er entwarf weitere anspruchsvolle Lehrbücher, von denen aber keines vollendet wurde. Neben der romantischen Theorie stehen extrem rationalistische Textfragmente, die ganz ähnlich wie bei Durand Material, Raumanordnung und Konstruktion zu den wesentlichen Kriterien der Architektur erklären. Aus deren richtiger Anwendung ergeben sich Charakter und Schmuck eines Gebäudes gleichsam von selbst. Seit den 20er Jahren des 19. Jh.s gewinnt also ein bemerkenswert früher technologischer Funktionalismus die Überhand. Der gute ‚Stil‘ eines Bauwerks entstehe aus der materialgerechten Anwendung und Veranschaulichung der Konstruktion eines Gebäudes, nicht aus dem Rückgriff auf bestimmte historische Gestaltungmotive. Ähnlich wie es später Viollet-le-Duc in seinen „Entretiens“ (1863 – 72) feststellen wird, seien in dieser logischen Vermittlung der Konstruktion das griechische und das gotische Bauen vergleichbar. Den drängenden Fragen, wie neue Baumaterialien und -techniken, neue Bauaufgaben und neue ökonomische Anforderungen in eine aktualisierte Theorie der Architektur Eingang finden sollten, widmet sich vor allem der Karlsruher Residenzbaumeister Heinrich
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Hübsch in seiner häufig missverständlich zitierten Schrift „In welchem Style sollen wir bauen“ (1828). Schönheit liege nicht in der Begründung von Stützsystemen, sondern in dem Zusammenwirken von vielen Faktoren, wie Klima, Konstruktionstechnik und Gebrauchsfunktion. Insbesondere die überkommene Säule im Inneren und Äußeren von Gebäuden behindere aber flexible und ökonomische Grundriss- und Fassadeneinteilung. Stattdessen fordert Hübsch einen vielfach variablen, aus verschiedenen Faktoren des Materials, des Klimas und der Funktion resultierenden ‚Rundbogenstil‘, der auch ästhetisch ansprechende Fassaden ermögliche. In der Tat werden Architekturen mit bisweilen fast monoton gereihten Rundbogenöffnungen zu einem Charakteristikum der deutschen Architektur von ca. 1830 bis in das späte 19. Jh., gerade für komplexe Bauaufgaben wie Verwaltungsbauten u. Ä. (|▶ 5|, □ vgl. 56). Hübsch stellt damit die grundsätzliche Frage an den Historismus, inwiefern ein Stil aus der Vergangenheit oder einer anderen Region die Gegenwart repräsentieren könne. Zudem muss man Hübschs Theorie als den Versuch ansehen, zwei damals auseinanderdriftende Sparten des Bauens wieder miteinander zu vereinen. Auf der einen Seite hatte sich die immer anspruchsvoller werdende, in eigenen Ausbildungswegen erlernte Technik des Bauingenieurs – Materialkunde, Statik, Ökonomie – etabliert, die ohne ästhetische Theorie auskam ( Themenblock · Architektenausbildung, S. 145 f.). Auf der anderen Seite stand die Auffassung der Architektur als Kunst und ästhetisches Phänomen, unabhängig von den profanen Aspekten wie Technik und Gebrauchsfunktion. Die idealistischen klassizistischen wie auch die romantischen neugotischen Konzepte wirkten in diesem Zusammenhang wie Bemäntelungen, Stil-Fassaden als unmoralische Verkleidungen. In diese polemische Zuspitzung sollte die Debatte jedenfalls um 1900 getrieben werden und als entscheidender Motor wirken, in einer reformierten Architektur Technik und Kunst wieder einander anzunähern. Zur selben Zeit, als Hübsch seine Infragestellung eines zu akademischen und blutleeren Historismus formulierte, wurde ein folgenreicher Streit in der Architekturtheorie ausgefochten, der ebenfalls die Grundfesten einer traditionellen Antikenverehrung erschütterte. Die Auseinandersetzung über die Frage, ob die verehrten griechischen Tempel und antiken Monumente steinfarben-hell bzw. weiß oder vielmehr farbig gefasst waren, ergriff seit den 20er Jahren des 19. Jh.s die gesamte gelehrte Welt Europas, insbesondere Architekten wie Jacques-Ignace Hittorff und Gottfried Semper, Altertumswissenschaftler wie Quatremère de Quincy, Désiré Raoul-Rochette und Carl Otfried Müller oder auch Vertreter der damals noch jungen Kunst- und Architekturgeschichte, etwa Franz Kugler. Aus heutiger Sicht wirkt es teilweise kurios, wie in der Debatte kleinste Farbreste oder philologisch unklare Textstellen als Argumente herangezogen werden. Doch zielte die Auseinandersetzung letztendlich darauf, die Geschichtswissenschaft als Leitwissenschaft zur Erkundung des Ursprungs der Zivilisation einzusetzen. Welche Methode kann hier überzeugen: die archäologisch-bauforscherische Untersuchung der Monumente, die textkritisch-philologische Quellenkunde oder etwa die künstlerisch-architektonische Intuition? Welche Disziplin kann die Deutungshoheit darüber beanspruchen, wie die ideale Kultur der Griechen als unhinterfragtes Vorbild wirklich beschaffen war? Entsprechend schwingen hier in hohem Maße auch politische Wunschvorstellungen mit. Vor allem der damals noch junge Gottfried Semper griff beherzt in den Streit ein. In „Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architektur“ (1834) kritisiert er heftig die angeblich blutleere historistische Architektur – die er seinem Erz-
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feind Leo von Klenze unterstellt |▶ 5| – ebenso wie den Schematismus der Rastermodule Durands. Ziel des Studiums der Antike sei vielmehr, in der Gegenwart Natur, Umgebung und Menschen mittels der Architektur zu verbinden. Auch Malerei und Plastik seien aufeinander bezogen, der Architekt leite diese Symphonie an, die inmitten einer farbig erlebten Natur zu realisieren sei. Durch Farbbehandlung werde Architektur in farbig erlebte Natur einbezogen, jetzt erst befreie sich die höchste Kunst aus ihren älteren Regelzwängen: Die farbige Architektur wird angesichts ihrer archetypischen Verortung im demokratischen Athen zum Vorboten republikanischer Freiheiten, und das lebensvolle, ‚malerische‘ Bauen benötige keine kleinlichen Proportionsregeln, um schön zu sein. Vielmehr sei das harmonische Zusammenwirken aller Künste – Architektur, Skulptur und Malerei – Symbol und Ergebnis der bürgerlichen Freiheit. Semper hat in den Folgejahrzehnten diese antirationalistische, ‚malerische‘ Architekturauffassung zu einer quasi wissenschaftlichen Fundierung der Architektur weiterentwickelt, die in origineller Form ältere, ‚konstruktivistische‘ Interpretationen – etwa der Ableitung der Architektur aus dem beständig verbesserten hölzernen Urtempel – konterkariert. Entscheidend ist nunmehr der Akzent, den Semper nicht auf die Konstruktionsprinzipien des Tragens und Lastens legt, sondern auf die prinzipiellen Eigenschaften der Materialien des Bauens. In „Die vier Elemente der Baukunst“ von 1851 unterscheidet er jeweils aus unterschiedlichen Stoffen bestehende Grundelemente der Architektur, die auch in eine entwicklungsgeschichtliche Reihe einzufügen sind: Herd, Dach, Umfriedung und Erdaufwurf. Die Wand sei entwicklungsgeschichtlich aus textilen Materialien entstanden. Urprinzip der Architektur sei mithin, Schutz und Wärme zu geben, nicht ein Konstruktionsprinzip zu verfolgen. In seinem theoretischen Hauptwerk „Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten“ (1860 – 63) hat Semper diesen Ansatz im Sinne einer umfassenden wissenschaftlich-ethnographischen Untersuchung vervollkommnet. Da sämtlichen Formbildungen der Menschheit ein bestimmtes, in einer bestimmten Technik zu einem bestimmten Zweck bearbeitetes Material zugrunde liege, könne man eine grundsätzliche Entwicklungsgeschichte der Materialien und Bearbeitungstechniken schreiben und daraus allgemeine Gesetze ableiten. Analog zu den „Vier Elementen“ sind die Urmaterialien der ‚technischen Künste‘ – Kunsthandwerk und Architektur sind darunter subsumiert – in vier grundsätzliche Kategorien zu klassifizieren: 1. Biegsame, zähe, feste Rohstoffe bilden die textilen Künste, aus denen das Gewebe, sodann die Umzäunung, schließlich der Wandbehang hervorgingen. 2. Aus weichen, biegsamen, sich in Form fügenden Materialien gehe die keramische Kunst hervor, aus der die Gefäßkunst, sodann der Herd als Feuerplatz entstanden seien. 3. Aus stabförmigen, elastischen Materialien von relativer Festigkeit sei die Zimmermannskunst – hier als Tektonik bezeichnet – entwickelt worden, aus der schließlich Gerüste und dann das Dachwerk ausgebildet worden seien. 4. Aus festen und dichten Materialien sei die Stereotomie, die Maurerei, abzuleiten, die in Mauern und Erdarbeiten, schließlich als Substruktionen umgesetzt worden sei. Die Entwicklung der Materialbehandlung folge, gemäß den umfangreichen ethnographischen Studien Sempers, bestimmten Gesetzmäßigkeiten: So gebe es einen sog. Stoffwechsel von einer Entwicklungsstufe zur anderen, bei dem die sich entwickelnde Technik die Form der älteren Stilstufe übernehme. So erkennt Semper etwa in hölzernen Wänden von bestimmten außereuropäischen Holzarchitekturen das ornamentale Teppichmuster der vorgängigen Webtechnik. Insgesamt lasse sich eine historische
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Abfolge der Urtechniken konstatieren. Die textile Kunst sei die älteste, die immer wieder von anderen Künsten nach dem Stoffwechselprinzip imitiert und wiederholt worden sei. Die Textilkunst erfülle Urbedürfnisse im Decken, Schützen und Abschließen und bilde auch die Grundprinzipien jeder Ornamentik, etwa des Prinzips der rahmenden Einfassung, die aus der Urtechnik der genähten Saumkante entstanden sei. Sempers Theorieentwurf greift weit aus, denn er versteht das Bauen nicht als die oberste der Künste, sondern eingebettet in eine Geschichte der Materialien und ihrer Technik, innerhalb derer sie einen zwar wichtigen Platz, aber nicht den Rang einer Ursprungsschöpfung einnimmt. Ihre essentielle, entwicklungsgeschichtlich scheinbar klar ableitbare Funktion ist der Schutz des Menschen, aus der sich alle Einzelelemente des Bauens als soziale Wirkqualität ableiten: die Wand, das Dach, der Herd und die Ummauerung. Die Stoffwechseltheorie unterscheidet implizit zwischen einem konstruktiven Kern und einer symbolisch-ornamentalen Hülle, die diesen entwicklungsgeschichtlich kennzeichnet: Die schützende Wand mit dem Teppichmuster ordnet dem Dekor nicht eine beliebige zierende Rolle zu, sondern verweist notwendig auf die vorgängige essentielle Funktion des Teppichs als konstruktiver Kern einer schützenden Umhüllung ( Themenblock · Bauschmuck, S. 188 f.). Eigenartigerweise behandelt Semper das neue Baumaterial des 19. Jh.s, das Eisen, nur an untergeordneter Stelle, es findet keinen Eingang in das magische – ganz offensichtlich gemäß der antiken Vierzahl der Elemente als Urstoffe der Welt konzipierte – Quartett der architektonischen Urelemente. Sempers wissenschaftlich fundierte Architekturtheorie war zu komplex, als dass sie im Ganzen weitergewirkt hätte. Sie leistete aber einen gewichtigen Beitrag zur Enttektonisierung der Architektur im Jugendstil und gab hinsichtlich der eindringlich dargestellten Zusammenhänge zwischen Funktion und Form, gerade auch von Gebrauchsgegenständen, eine wichtige Argumentationsbasis für die Kunstgewerbereform um 1900 ab. Hier wirkten aber auch noch zwei andere monumentale Theorieentwürfe des 19. Jh.s hinsichtlich des Topos von Werk- und Materialgerechtigkeit als moralischer Kategorie des Bauens: die Lehren von John Ruskin und Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc. John Ruskin muss nach Pugins eifernder, moralisierender Überhöhung mittelalterlicher Lebens- und Produktionsmodelle |▶ 6| als wichtigster Theoretiker gelten, der gotische Prinzipien theoretisierte und aktualisierte. Auch bei Ruskin ist die moralisch-beschwörende Zielsetzung zentral, wie aus seinem 1849 erschienenen Hauptwerk „The Seven Lamps of Architecture“ hervorgeht. Die Gesetze der Architektur sind identisch mit denen der menschlich-moralischen Existenz, die menschliche Natur entspricht den Gesetzmäßigkeiten des Materials, dem die mittelalterlichen Baumeister gerecht geworden seien. So sind auch die meisten der „Sieben Leuchten“ weit von vertrauten architektonisch-ästhetischen Kriterien entfernt, sondern nähern sich anthropologischen und ethischen Kategorien an: sacrifice (Opfer), truth (Wahrheit), power (Macht), beauty (Schönheit), life (Leben), memory (Erinnerung), obedience (Ehrerbietung). Das Ornament sei Ausdruck eines heiteren, mit der Welt und Natur versöhnten Schaffens, das Bauen reflektiere also jeweils einen bestimmten gesellschaftlichen Zustand. Deswegen wendet sich Ruskin als früher Theoretiker der Denkmalpflege gegen jede restauratorischen Eingriffe in alte Bausubstanz. Der Zusammenhang zwischen Natur, Produktion und Mensch müsse bestehen bleiben, insoweit auch an die Stelle der industriellen Fertigung wieder das Handwerk treten. Diese
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Ornamentauffassung wird in „Stones of Venice“ (1851 – 53) noch weiter ausgebaut. Die eingehende Analyse der mittelalterlichen Steinmaterialien der Lagunenstadt, ihrer Bearbeitung, Profilierung und Verwitterung, erlaubt Ruskin, abstrakte Prinzipien des gotischen Ornaments zu ergründen: Bei den Steinen handele es sich um Abstraktionen der göttlichen Schöpfung, die sich in charaktervollen Profillinien ausdrücken. Diese Konturlinien seien ewig dauerhafte Spuren von Menschen, welche in Gottvertrauen und ohne Entfremdung zu ihrem Produkt gewerkt hätten. Insofern geht es hier keineswegs um die Formulierung eines architektonisch-konstruktiven Systems, im Gegenteil sind gerade die Abwechslung, die Fehlerhaftigkeit und der Pasticcio-Effekt als Folgen eminent menschlichen Handelns zu würdigen. Die Seele der Gotik sei insofern von savegeness (Rohheit), changefulness (Variation), naturalism (Natürlichkeit bzw. auch Farbigkeit), grotesqueness (Komischem), rigidity (Starrheit) und redundance (Überfülle) gekennzeichnet. Das klingt wie ein ‚Aufruf zur Unordnung‘, und tatsächlich charakterisiert Ruskin den gotischen Erbauer als von Wildheit oder Rohheit, der Liebe zur Abwechslung und zur Natur geprägt, mit verwirrter Phantasie, von Eigensinn, aber Großmut. Wie bei Pugin |▶ 6| und wenig später in der Arts-and-Crafts-Bewegung |▶ 11|, deren Prophet Ruskin zweifellos war, wird hier eine widerständige, gegen die Industrialisierung und den Kapitalismus gerichtete Erneuerung gepredigt. Einer der Grundgedanken Ruskins, die Entfremdung des Handwerkers von seinem Produkt, taucht zur selben Zeit auch bei Marx und Engels als wesentliches Movens der proletarischen Revolution auf, und der von Ruskin geförderte Rollback sollte seine Auswirkungen noch auf agrarkommunistische Strömungen bei Mahatma Gandhi oder Mao Tse-Dong haben. Mit dem wissenschaftlichen Anspruch Sempers durchaus vergleichbar, mit dem ‚queren‘ Denken Ruskins aber inkompatibel sind die umfangreichen theoretischen Schriften des Architekten und Restaurators Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc. Sie schlagen sich insbesondere in einer umfangreichen historischen Darstellung der architektonischen Grundlagen, den 1863 – 72 erschienenen „Entretiens sur l’architecture“ nieder. Die spezielle Kompetenz Viollet-le-Ducs in der mittelalterlichen Architektur ist der Ausgangspunkt des umfangreichen, von 1854 bis 1868 publizierten „Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècle“. Im Gegensatz zu Vorgängerunternehmen wie dem Architekturlexikon von Quatremère de Quincy aus der Zeit um 1800 handelt es sich um eine minutiöse Realienkunde einer historischen Epoche, in der die grundsätzlichen Auffassungen Viollet-le-Ducs zur Architektur zwar in einigen wesentlichen Artikeln (z. B. Architecture, Construction, Restauration, Style usw.) explizit abgehandelt sind, ansonsten aber den zahlreichen Einträgen eher implizit zugrunde liegen. Die im 13. Jh. hervortretenden Prinzipien logischer, d. h. materialgerechter und effizienter Bauweisen hätten eine Skelettarchitektur entstehen lassen, die in den großen Bischofskirchen in ungeahnter Kühnheit ausformuliert worden sei. Die Einzelelemente des Bauens wie Pfeiler, Dienste, Strebepfeiler, Triforien usw. seien im Wesentlichen als Sekundärresultate der konstruktiven Notwendigkeiten der Rippenwölbung zu begreifen. Viollet-le-Ducs Funktionsbegriff ist durchaus komplex, enthält etwa auch Kriterien der Dauerhaftigkeit bzw. der gezielten Anschaulichkeit der Konstruktion oder der logistischen Bedingungen des Bauens, allerdings kaum Kriterien der konkreten Nutzung der Räumlichkeiten. Den ideologischen Hintergrund Viollet-le-Ducs gibt seine dezidiert antiklerikale bzw. bürgerlich-laizistische
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Position ab. Erst nachdem erstarrte Bauregeln in der Klosterkultur der Romanik von der angeblich säkularen Kultur der Städte überwunden worden seien, als nämlich diese sich aus der Abhängigkeit des lokalen Adels emanzipiert und freie Bürger die Bauträgerschaft über die großen Projekte übernommen hätten, sei der Gipfelpunkt des Bauens möglich geworden: Da sie nun in Korporationen tätig gewesen seien, habe sich den Architekten die Gelegenheit geboten, in reiner Logik und Vernunft nach den Naturgesetzen und zur konsequenten Erfüllung der Zwecke der jeweiligen Bauaufgaben zu bauen. Die Anwendung der Prinzipien von Vernunft und Logik generiere Fortschritt, der zum zentralen Begriff guter Architektur in emanzipierten Gesellschaftssystemen wird. Dies gelte insbesondere für die griechische und die gotische Bauweise, solle aber vor allem in der Gegenwart wieder angewandt werden. Einschränkende Faktoren des Fortschritts seien etwa bloßer formaler Traditionalismus und überkommene akademische Regelsysteme. Alle Objekte, die ihre Funktion in naturgesetzlich vollendeter Weise erfüllten, verfügten über die höchste – aus dem Begriffsrepertoire vor allem des 18. Jh.s tradierte – Qualität des style. Dies gelte auch etwa für eine funktions- und materialgerecht angefertigte Vase, ein Dampfschiff oder eine Lokomotive. Viollet-le-Ducs auf die konstruktiven Grundsätze der Architektur ausgerichtetes Theoriegebäude hat trotz seiner genialen Einseitigkeit (die insbesondere im Vergleich mit der zeitgleichen „Geschichte der Baukunst“ von Franz Kugler deutlich wird) bis weit in das 20. Jh. gewirkt. Dies gilt auch wegen des wohlfeilen Antiakademismus Viollets, der um 1900 zum Mantra aller Reformbewegungen wurde. Die Forderung nach konstruktiver Logik und materialgerechtem Bauen – gerade auch in der Eisenarchitektur und seit 1900 auch in der Betonarchitektur – zieht sich wie ein roter Faden durch die österreichische (Otto Wagner), deutsche (Walter Gropius), französische (Anatole de Baudot), aber auch etwa niederländische Architekturtheorie (Hendrik Petrus Berlage) der frühen Moderne. Besondere Verbreitung erfuhr dabei die in Form eines Buches in mehreren Auflagen verbreitete Schrift Otto Wagners „Moderne Architektur“, erstmals 1896 erschienen. Wagner entwirft einen auf aktuelle Situationen bezogenen Kriterienkatalog der Architektur. Die mit Augenmaß und Pragmatismus erstellten Forderungen lesen sich wie das Curriculum einer reformierten Architekturausbildung. Der moderne Architekt dürfe nicht in erster Linie in den Kategorien historischer Stile entwerfen, sondern vielmehr im Bewusstsein des Zusammenwirkens von Geschmack, Mode und Stil eine einheitliche, auch in das landschaftliche oder städtische Umfeld passende und vor allem – analog zur Kleidermode – zeitgemäße Gestaltung erarbeiten. Dies sei aber nur möglich, wenn neue Bauprogramme sinnvoll in die Komposition von Grundrissen umgesetzt würden und die Kenntnis der technischen Möglichkeiten sowie der ökonomischen Bedingungen in den Entwurf einflössen. Wagner gibt hier dem komplexen Anforderungsprofil eines Architekten der Zeit um 1900 Ausdruck. In der kompetenten Verbindung technischer und künstlerischer Kriterien entfaltet sich ein neues Bild von den Aufgaben des Architekten, der keineswegs im Bauingenieur aufgeht. Die in dieser Zeit europaweit als vorbildlich aufgenommene Wiener Architektur |▶ 20| erhielt durch Wagners Buch eine passende theoretische Ergänzung, deren Material umgehend als Ausgangspunkt weiterer theoretischer Entwürfe, etwa bei Adolf Loos, Walter Gropius oder Le Corbusier dienen sollte. Wagners Aktualität wird verständlich, wenn man seine Theorie mit den Lehrinhalten an der Pariser École des Beaux-Arts vergleicht, die 1894 von Julien Guadet in seinem umfangreichen Handbuch
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„Éléments et théorie d’Architecture“ niedergelegt werden. Zwar stellt Guadet keine historistische Stillehre vor; ausschlaggebend sei immer das einem Entwurf zugrundeliegende inhaltliche Programm, das pragmatisch mit historistischen Formen auszufüllen sei. Doch das Hauptkriterium guter Architektur müsse in einer gut proportionierten Komposition nach Symmetrie und Axialität begründet liegen. Baukonstruktive Fragen oder neuere Bauaufgaben spart der akademische Lehrer ganz aus. Zu Wagners Theorie vergleichbare Forderungen kommen indessen aus den Niederlanden. Hier beansprucht Hendrik Petrus Berlage in seinem Buch „Gedanken über Stil in der Baukunst“ (1905), die Lehren Sempers und Viollet-le-Ducs, also vor allem Material- und Technikgerechtigkeit in eine aktuelle Architekturauffassung umzusetzen, die unabhängig von Stilübernahmen ist. Stattdessen solle der Entwurf auf der Grundlage von abstrakten Proportionsrastern erfolgen. Auffällig ist die politische Stoßrichtung dieser Theorie, spielt sie doch die prunkvolle Stilarchitektur des Kapitalismus gegen eine demokratische und sozialistische moderne und schlichte Architektur aus. In den USA entwickelte sich über das gesamte 19. Jh. eine Architekturtheorie, die darauf bedacht ist, eine spezifisch nordamerikanische Grundlegung des Bauens zu formulieren. Dabei spielen der spätromantische amerikanische Transzendentalismus, vor allem eines Ralph Waldo Emerson, sowie religiös-protestantische Ideale eine ebenso große Rolle wie das Pathos der Landerschließung mit einfachen Mitteln und die Idee einer individuellen Freiheit in der Demokratie. Insbesondere der Bildhauer Horatio Greenough formuliert in der Mitte des 19. Jh.s ein extrem funktionalistisches Architekturideal, das überbrachte Formmotive konsequent ablehnt. Wesentlich ist die Analogie zu einer göttlich durchwirkten Natur, deren äußere Erscheinung nur Resultat komplexer Funktionen ist. Aus solchen Motiven kann Greenough (wie Viollet-le-Duc) das Bauen auch mit perfekt funktionierenden Maschinen in Zusammenhang bringen. Derartige Positionen sind auch die Grundlage für die vielen Äußerungen von Louis Sullivan gegen Ende des 19. Jh.s |▶ 17|. Dessen schlagwortartiges Diktum form follows function darf nicht als Ausdruck eines schlichten technologischen Funktionalismus, wie ihn der ehemalige Büropartner Dankmar Adler 1896 tatsächlich formulierte, missverstanden werden. Vielmehr geht der Funktionsbegriff über die Architektur hinaus, enthält emotionale und soziale Komponenten und schließt immer die Analogie zur Natur ein. So sei etwa auch der demokratische Geist eine Funktion, die kraftvollen Formausdruck suche. Im Bereich der Architektur wird der Naturbezug vor allem über das Ornament hergestellt, das aber individuell unterschiedlich immer aus dem Gebäude organisch ‚herauswachsen‘ soll. Eine besondere Herausforderung der Zeit um 1900 bestand darin, die theoretisch formulierte rationale Verbindung zwischen Technik und architektonisch-anschaulicher Gestalt auf die neuen Bautechniken wie den Eisen/Glas-Bau oder die gleichsam beliebig formbare Betonskelettarchitektur anzuwenden. Doch was nützt jede ethisch hochstehende Materialgerechtigkeit im technisch perfekten Gebäude, wenn dieses dabei seiner kommunikativen Fähigkeit verlustig geht, also nicht mehr etwa vermittels Säulen, Säulenordnungen, Gebälken und Giebeln repräsentativ sprechen kann. Das sollte die Architektur durchaus weiterhin, und sie tat es in der Tat häufig dadurch, dass eine anspruchsvoll skulptural gestaltete Fassade als Gebäudehülle einer ausgefeilten technischen Konstruktion vorgeblendet wurde. Damit aber fiel dem Architekten hauptsächlich die Aufgabe zu, diese Hülle ohne
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direkte Verbindung mit dem Gebäudekern zu gestalten. Dieser aber musste gerade bei Großprojekten technisch aufwendig von einem Ingenieur konzipiert werden. Das Leiden an einer tiefgreifenden Dekadenz in der Architektur, omnipräsent in der Architekturkritik und -theorie um 1900, lag also zum einen daran, dass die Profession des Architekten gegenüber dem technisch-professionellen Ingenieur zum bloßen Dekorateur degradiert erschien ( Themenblock · Architektenausbildung, S. 145 f.). Zum anderen wurde dieser Hiatus als Ausdruck einer fehlenden Einheit zwischen Kern und Hülle verstanden, mehr noch: In der angeblichen Beliebigkeit der Fassadendekoration schien sich eine epochale Krise zu äußern, die das Zusammenwirken von Bauherrn und Baumeister bzw. von Bautechnik und Baugestalt nicht mehr kennt. Die eklektische Fassadenvielfalt wurde insofern grundsätzlich als das Zeichen der verlorengegangenen Einheit zwischen Gesellschaft, Kunst und Architektur kritisiert. Die Architekturtheorie der einsetzenden Moderne ist insofern vielfach aus einer apologetischen Situation geboren, nämlich im Gegensatz zum unbeirrt rechnenden Ingenieur Bauwerke zu schaffen, die technisch aktuell sind, dabei aber einen gestalterischen Charakter haben, der auf Höheres verweist, beglückt oder vollendet schön ist. Daher rührt die bis lange in das 20. Jh. anhaltende radikale Verdammung der historistischen Architekturauffassung – eine Verdammung, die in höchstem Maße ungerecht ist, denn deren urbanistische und künstlerische Prägekraft war natürlich nicht nur beliebigen Verkleidungsstrategien geschuldet |▶ 12, 14, 18|. Daher rührt aber auch der Umstand, dass die Theorie der Moderne sich insbesondere am Leitthema der Technik bzw. der Maschine als dem ‚Kern‘ eines Gebäudes bzw. dem Ornament als seiner ‚Verkleidung‘ abarbeitet. Was bei Berlage oder Wagner angeklungen war, erschien nunmehr radikalisiert bei Adolf Loos, Walter Gropius und sodann bei Le Corbusier, dessen zahlreichen Schriften nach dem Ersten Weltkrieg den nachhaltigsten Einfluss auf das gesamte spätere Bauen und das Nachdenken darüber haben sollten. Adolf Loos schmäht in einem polemischen, 1908 verfassten Essay „Ornament und Verbrechen“ ( Themenblock · Bauschmuck, S. 188 f.) das Ornament als Verbrechen, denn es sei gleich einer Tätowierung primitiv, überdies nutzlos und teure Verschwendung. In bemerkenswerter Weiterführung der Metapher von Kern und Bekleidung stellt Loos dem alten bunten Schmuck den modernen Herrenanzug gegenüber. Dieser sei eine universelle und vor allem neutrale Hülle des zeitgemäßen modischen Großstadtmenschen (‚-mannes‘, müsste man präzisieren), der sein Inneres eben nicht nach außen preisgibt. Eine analoge ornamentlose Diskretion sei auch den neuen Architekturen angemessen, die überdies auf eine ökonomische Produktion achteten. Die Forderung nach ornamentloser Schlichtheit verbindet sich mit den Forderungen, reine geometrische Grundformen seien wirkungsästhetisch beruhigend, gleichsam eine Hygiene der Seele. Außerdem bietet sich insbesondere das Quadrat als vielfältig zu variierende Grundeinheit an, um Architektur, Innenausstattung und Kunsthandwerk als Einheit aufeinander zu beziehen. Schließlich galten Würfel, Kugel, Kegel usw. als geometrische Grundformen auf einer höheren Abstraktionsstufe angesiedelt als kleinliche Ornamente und können insofern in Klarheit und Reinheit ästhetisch wirken. In diesem Sinne veröffentlichte Gropius im „Werkbund-Jahrbuch“ 1913 eigentlich banale, aber stereometrisch klare Industriebauten als Vorbilder reiner Architektur. Später, 1923, sollte er einen „Baukasten im Großen“ entwickeln, bei dem kubische Grundmodule flexibel für verschiedene Wohnhaustypen kombiniert werden können. Auch in Le Corbusiers zentralem Buch „Vers
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une architecture“ von 1923 ist diese Berufung auf stereometrische Grundformen mit der Forderung verbunden, technisch zeitgemäß zu bauen. In eigenartiger Parallele erscheinen bei Gropius wie bei Le Corbusier riesige blockhafte oder zylinderförmige Industriebauten (Speicher, Silos) aus Übersee als Vorboten einer auf das Essentielle und ‚Wahre‘ reduzierten Architektur. In der ästhetisch richtigen Gestaltung des industriell gewordenen Bauens liege die eigentliche Aufgabe des Architekten, so Gropius. Noch weiter geht Le Corbusier, denn die ideale, in ihren reinen geometrischen Formen unerbittlich und maschinengleich auf die Seele wirkende Architektur entstehe aus einer gleichsam industriell logischen Produktselektion. Das Unnütze und Teure werde dabei ausgeschieden, um eine „Wohnmaschine“ zu kreieren, deren Gestaltungsprinzipien allein moderner Technik verdankt sind. All das sei von den – pauschal als blind diffamierten – Architekten bislang nicht erkannt worden. Le Corbusier fasst die daraus abgeleiteten Grundprinzipien des neuen Hauses 1927 in fünf Punkten zusammen (□ vgl. 22): Das Haus solle auf Stützen stehen (1), somit von der Erdoberfläche abgesetzt sein, der Grundriss könne dank der Reduktion von tragenden Stützen frei und daher funktional eingeteilt werden (2), ebenso die Fassade, die nur noch vor das Skelett vorgehängt ist (3). Das Fenster könne als umfassend belichtendes horizontales Band konzipiert werden (4), auf dem Haus bietet ein flaches Dach eine zusätzliche Terrassennutzfläche (5). Bei aller Variabilität der Ausbaumöglichkeiten sei eine solche Architektur wie ein Auto am Fließband standardisiert zu produzieren. Le Corbusiers provokanter und im Einzelnen inkonsistenter und unpraktikabler Entwurf hatte deswegen so durchschlagende Wirkung, weil er das Konfliktpotential zwischen Architekt und Ingenieur sozusagen an beiden Enden überzieht und zusammendenkt. Das Haus soll in der Konzeption, Produktion und Wirksamkeit eine Maschine sein, doch alles zusammen erbringt einen ästhetischen Mehrwert: nämlich Rührung ob der hier angewandten Ordnung und Regelhaftigkeit. In provokanter Weise wird dieser Gedanke durch die Behauptung untermauert, dass die griechischen Tempel nach den gleichen Prinzipien entstanden seien. Außerdem schafft das standardisierte Haus auf Stützen mit seiner Unabhängigkeit von verpflichtenden Straßenfluchten die Grundeinheit für weitreichende neuartige Städtebaukonzepte, die aufgelockerte Stadt |▶ 27|. Der Hintergrund für diese theoretischen Konzepte ist das seit Beginn des 20. Jh.s allgemein zunehmende Bewusstsein des Architekten, in sozialer Verantwortung für eine neue Gesellschaftsstruktur zu entwerfen. Gute Architektur für alle Schichten zu entwerfen, enthält prinzipiell das Bekenntnis für eine demokratische Gesellschaft, impliziert aber auch, technische und massenhafte Produktion als Grundbedingung des Bauens zu akzeptieren. Le Corbusier versteigt sich gar zur Behauptung, nur dadurch könne eine politische Revolution verhindert werden. Derartige Inhalte gelten insbesondere auch für die konstruktivistische Architekturtheorie in der UdSSR, die von Moisey Ginzburg formuliert wurde („Stil i epocha“‚ dt. ‚Stil und Epoche‘ 1924, engl. Übers. in Battisti 1977). In Absetzung von einer schrittweise in einer dekorativen Architektur versinkenden kapitalistischen Architektur prognostiziert Ginzburg ein neues Bauen in der Sowjetunion, das sich insbesondere der Arbeiterklasse mit allen Möglichkeiten der konstruktiven Rationalität und industriellen Standardisierung im ‚Pathos der Arbeit‘ widme. Die hier wirkenden dynamisch-pathetischen konstruktiven Kräfte, die ‚Konstruktivität‘, sollen sichtbar gehalten werden, somit Schönheit und einen neuen Stil entstehen lassen.
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90 □ 40 Bruno Taut, „Stadtkrone“, 1919: Ansicht des Zentrums der Idealstadt
Anders, weniger technokratisch, wird die sich allenthalben nach dem Ersten Weltkrieg manifestierende soziale Verantwortung in der Architekturtheorie des deutschen Expressionismus umgesetzt. Vor allem Bruno Taut engagierte sich gegen Ende des Ersten Weltkriegs vermittels einer Reihe von Publikationen gegen das Versagen der Politik. Stattdessen reklamiert er eine gottähnliche Rolle des Architekten als gleichsam religiöser Visionär und Retter der Menschheit. In einer sehr unsystematischen, Traditionen der deutschen Romantik, des utopisch-anarchischen Sozialismus und esoterisch-mystische Vorstellungen verbindenden Weise visioniert er – etwa in „Alpine Architektur“ (1920) – den architektonischen Umbau der Alpen und die Auflösung des Universums in einem Kristallstern: Gemeint ist eine totale Beseelung aller Dinge des Kosmos durch den visionären Architekten. Konkreter auf städtebauliche Vorstellungen bezogen ist sein Buch „Stadtkrone“ von 1919, das eine Idealstadt entwirft, die die Erkenntnisse der modernen Gartenstadt und des Siedlungsbaus vereint (|▶ 30|, □ 40): regelmäßige Grundrissanlage, Hygiene, funktionelle Hauskonzeptionen. Im Zentrum der auf 300 000 Einwohner berechneten Idealstadt erheben sich auf einem Plateau die öffentlichen Bildungseinrichtungen, nicht aber Regierungsgebäude. Stattdessen reckt sich ein immenser Kristalldom in die Höhe, den jeder Bewohner einmal in seinem Leben besichtigen solle, um dort im farbglühenden Erleben des kosmischen Lichts zu einem sozialen und friedlichen Mitglied dieser anarchistischen Gesellschaft zu werden. Ganz ähnlich und zur gleichen Zeit formuliert es das Eröffnungsmanifest und Lehrprogramm des Bauhauses in Weimar |▶ 31|: Das emphatische Zusammenwirken aller Menschen am Bau einer prismatisch funkelnden Kathedrale – so bildet sie der begleitende Holzschnitt von Lyonel Feininger ab – ist die Präambel der Kunsthochschule sowie einer Gesellschaftsvision. Prinzipiell aus ähnlichen Motiven wie die expressionistische Architekturtheorie gespeist, aber im Tenor deutlich klassizistisch, erscheint nach dem Ersten Weltkrieg auch in der französischen Architekturtheorie die Denkfigur des architektonischen Bauens als höchster menschlicher Tätigkeit. Dies hat vor allem der Schriftsteller Paul Valéry in seinem antikisierenden Dialog „Eupalinos ou l’architecte“ von 1921 formuliert. Der Text analysiert metaphorisch die Bedingungen menschlichen Erkennens und (Kunst-)Schaffens. Die Architektur sei die höchste Exemplifizierung einer durch den handelnden Akt des
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Menschen entstehenden „Konstruktion“, zu unterscheiden von dem durch die Naturkräfte bewirkten „Gewordenen“ und dem rein kontemplativen, nicht handelnden „Wissen“. In Wechselwirkung von denkendem Konzipieren und handelndem Konstruieren entstehe somit Schönheit, die – von vollendeten Proportionen – ein Bauwerk „singen“ lasse. Valéry formuliert damit eine durch und durch klassizistische Ästhetik, die energisch darauf achtet, die alte Einheit von Konstruktion und Schönheit in eine immerwährend gültige „Poesie“ umzusetzen. In Analogie zu der emphatischen Aufwertung des gemeinschaftlichen Bauens im deutschen Expressionismus erscheint bei Valéry die „Konstruktion“ als verallgemeinerbares Grundprinzip des Lebens. Hier wird aber im Gegensatz zum Expressionismus der Versuch unternommen, eine harmonisch ausponderierte Einheit zwischen Kunst und Leben wiederzugewinnen, die auf Hierarchie und Ewigkeit setzt – und dies durchaus als demokratiekritische Botschaft versteht. In den Bereich der Architekturphilosophie tendierend sind die theoretischen Schriften des vor allem als Kirchenarchitekten tätigen Rudolf Schwarz, die 1927 mit Überlegungen zur Bedeutung der Technik in der modernen Welt einsetzen. In Zurückweisung der oberflächlichen Auffassungen, Technik bzw. industrialisiertes Bauen seien bloß zweckrationalen und ökonomischen Zielen geschuldete Optimierungen, macht Schwarz auf die eigenartige Stellung des technischen Werks aufmerksam: Es sei von ausgeprägter und teilweise unheimlicher Materialität, entstehe aber aus Anwendung rein geistiger Prozesse auf der Grundlage naturwissenschaftlicher Erkenntnis, welche aber letztlich nicht in ihrem Tiefsten verstanden werden könne. In späteren Büchern („Vom Bau der Kirche“ 1938, „Von der Bebauung der Erde“ 1949) entwickelte Schwarz eine stark neoplatonisch geprägte, allgemeingültige Theorie der Gestaltbildung. Aus einer als Keim begriffenen Idee konkretisiere sich eine Blüte und bilde dabei eine Raumform, in der neue Samen heranreifen. Diese an Goethes Metamorphosenlehre angelehnte Auffassung gelte auch für das Bauen als einer „Gestaltwerdung der Idee im Raum“, die wie ein Keim zu verstehen sei, der sich verlebendigt und Substanz annimmt. Schwarz verbildlicht diesen zyklischen Wachstumsprozess durch Schemata: Ring, Offener Ring, Kelch, Weg, Wurf, Heiliges All, Der Dom aller Zeiten. Doch handelt es sich hierbei nicht um Grundrissfiguren für Kirchen, sondern um Diagramme eines universalen Prinzips der Gestaltwerdung – zu beziehen auf das Leben Christi oder jedes Individuums oder den katholischen Sakralbau, wo sich christlicher Geist im konkretisierten Raum verkörpert. Das vorgenannte Ästhetiktraktat von Valéry wurde auch häufig als Kronzeuge von Architekturauffassungen bemüht, die sich nicht primär auf Technik, Standardisierung und soziale Funktionalität beziehen wollen, wie dies das Neue Bauen zumeist tut. Stattdessen wurde als Reaktion auf solche Positionen gegen Ende der 20er Jahre in ganz Europa eine neue Symbolik der Architektur eingefordert, in der auch das Ornament wieder als belebendes und sprechendes Element eine positive Rolle einnimmt. Doch in der Zeit der fast weltweit extremen weltanschaulichen Polarisierungen wurde der Diskurs über Architektur in einer fatalen, für die Betroffenen unentrinnbaren Weise politisiert. So gab es allenthalben polemische Verdammungen der Internationalen Moderne, die als anti-national, internationalistisch und bolschewistisch bzw. als imperialistisch diffamiert wurde. Auch Paul Schmitthenners Versuch, in „Das deutsche Wohnhaus“ 1932 mit Hilfe von subtilen Kriterien der Wohnbaugestaltung (Proportionen, Raumdisposition, Wegführungen, Ein-
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richtungen, Bautechniken, Traditionspflege) an derartige Traditionen Heinrich Tessenows |▶ 22| anzuknüpfen, ist eingebettet in einen rassistisch-völkischen Rassismus, der sich in einem verpflichtenden ‚deutschen Haus‘ niederschlagen müsse. Die Suche nach einer neuen Symbolik des Bauens pervertierte sich in Deutschland in einen angeblich „deutschen“ Heimatstil bzw. das gigantomane repräsentative Bauen |▶ 35|. Gleichzeitig setzte man in der Sowjetunion in einer radikalen Wende seit 1932 auf einen monumentalen Klassizismus, der – gerade vermittels seiner großformatigen Baudekoration – von einer heroisch erhebenden Allgemeinverständlichkeit sein sollte. Ernstzunehmende Theorieentwürfe entstanden aus diesen Gründen in dieser Zeit des Terrors in Deutschland und der UdSSR keine. Ähnliche Tendenzen eines sozialistischen Realismus gelten ungeachtet der unterschiedlichen politischen Systeme auch für Spanien, Italien, aber auch etwa Frankreich. So erhielt die Theorie der Modernen Architektur mit Anfang der 30er Jahre eine Wende. Dies gilt trotz oder gerade wegen ihrer großangelegten Ehrenrettung, die 1932 vermittels einer bedeutenden Ausstellung „Modern Architecture: International Exhibition” im New Yorker Museum of Modern Art und der Begleitpublikation „The International Style: Architecture Since 1922“ durch Philip Johnson und Henry-Russell Hitchcock unternommen wurde. Die Bauten von Le Corbusier, Gropius, Mies van der Rohe und vielen anderen vereinen nunmehr nicht theoretische Begründungen – ihr sozialer Auftrag oder die Herausforderung durch Technik –, sondern ihre formal ähnlichen ästhetischen Qualitäten: kubisch-klare Formen, glatte Oberflächen, Ornamentlosigkeit und Regelhaftigkeit. Was die Theorien der Moderne eigentlich als sekundäre Resultate der Erfüllung anthropologischer Grundprinzipien erachtet hatten, die sich nicht in äußerlichen Formfragen erschöpften, wird nun zum ‚Stil‘, einer bloßen äußeren Erscheinung. Dass die weißen Kuben und Metallgeländer der Moderne eigentlich nur ein beliebiges Formenspiel seien, diente zur gleichen Zeit auch als negativ gemünztes Argument der anti-modernen Polemiker. Nunmehr wurde dies positiv als Weltstil konnotiert und in einer analysierenden Rückschau von Johnson und Hitchcock gegen die herrschenden nationalen Architekturbegründungen gewendet. Im Grunde hatten die amerikanischen Kuratoren Recht, wenn sie die teilweise inkonsistenten Theorien der Moderne schlicht missachteten, deren Produkte stattdessen in ihrem mondänen Life-Style-Image ernst nahmen und damit die Moderne zum neuen Stil bzw. einer Marke erhoben |▶ 36|. Das blieb auch nicht unwidersprochen, denn Sigfried Giedions umfangreiches Buch „Space, Time and Architecture“, 1941 zum ersten Mal erschienen, vielfach übersetzt und über Jahrzehnte das maßgebliche Referenzwerk über die Moderne, versucht, die höhere Notwendigkeit der Internationalen Moderne in einer historischen Perspektive herauszustellen und damit gegen ihre Rezeption als schicke ‚Playboy-Architektur‘ zu verteidigen. In einer Art kulturgeschichtlicher Analyse vergleicht der langjährige Sekretär der CIAM ( Themenblock · Organisationen und Interessenverbände, S. 220 f.) grundsätzliche Verständnisweisen von Welt und Architektur bzw. Städtebau seit der Renaissance, welche von einem durchwirkenden Rationalisierungstelos gekennzeichnet sei. So entspreche der Systematisierung des Bildraums durch die Zentralperspektive der Renaissance eine Modellierung des urbanen Außenraums. Mit der Erfindung neuer technischer Möglichkeiten, insbesondere der Eisenarchitektur, sowie einer gestiegenen moralischen Verantwortung des Architekten im 19. Jh. sei eine Wende eingeläutet worden, die die Auflösung der Perspektive mit sich gebracht habe und sich umfassend in der
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kubistischen Malerei wie der modernen Architektur, aber auch der Mathematik zeige: Zu den drei Dimensionen des Raumes trete nun die Zeit. Damit meint Giedion eine dynamische Auffassung der Welt, die sich architektonisch den neuen Produktionsbedingungen verdanke und in halb abstrakten, halb natürlichen, teilweise schwingenden und vor allem sich durchdringenden Formen (in der Malerei) und Räumen (in der Architektur) zeige. Trotz des Umfangs des Buches – der den zahlreichen gewissenhaft besprochenen Einzelbeispielen geschuldet ist – bleibt die Argumentation eigentümlich einseitig, denn sie blendet etwa den Expressionismus vollständig aus, ergreift dafür allzu ersichtlich Partei für wenige, ausführlich vorgestellte Protagonisten wie Le Corbusier, Gropius, Mies, Aalto und Jørn Utzon (den Erbauer des Opernhauses von Sydney). Giedions Handbuch, das man wohl eher als historische denn als theoretische Abhandlung zu verstehen hat, ist also auch eine Art späte Rechtfertigungsschrift einer Internationalen Moderne, die sich vor allem in den seit 1928 veranstalteten Congrès Internationaux d’Architecture Moderne konstituiert hat und aus der auch die für die Nachkriegsarchitektur folgenreichste Städtebautheorie hervorging: die 1933 beschlossene und 1943 mit vielen Änderungen von Le Corbusier publizierte Charta von Athen |▶ 37|. Das konsequent an Primärfunktionen – Arbeiten, Wohnen, Erholen, Fortbewegen – orientierte Regelwerk einer modernen Stadtplanung wurde aber ob seiner Einseitigkeit und Radikalität seit den 50er Jahren in den Reihen der jüngeren CIAM-Mitglieder zunehmend kritisiert |▶ 39|. In den 60er Jahren formierte sich daraus breiter Widerstand, etwa auch von psychotherapeutischer Seite (Alexander Mitscherlich: „Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden“, 1965), aber auch von Seiten einer neuen Architekturtheorie, welche mit dem Schlagwort der Postmoderne versehen worden ist. Sehr einflussreich war hierfür Aldo Rossis umfangreiches Buch „L’Architettura della Città“, 1966 erschienen. Entschieden stellt Rossi die Stadt nicht als einen Funktionszusammenhang dar, sondern als ein künstlich-ästhetisches Gebilde, das selbst Individualität habe. Völlig neu im Feld der Architekturtheorie, stützt sich Rossi auf Studien zur Erinnerungskultur des Menschen (Fustel de Coulanges, Maurice Halbwachs), welche Konstanz und Identität auch im Bauen stiften. Ganz anders als im Rahmen der frühen Postmoderne funktioniert die Kritik am starren Funktionalismus der Moderne, wie sie die japanischen Metabolisten um Kisho Kurokawa, Noboin Kawazoe und andere seit 1960 vortrugen („Metabolism 1960 – A Proposal for a New Urbanism“, 1960). Der Name leitet sich bewusst von biologischen Stoffwechselvorgängen ab – es war die Zeit wichtiger Entdeckungen in der Molekulargenetik – und bezieht diese Metapher auf städtische Gebilde, die einem unregelmäßigen und schnellen Wachstum unterliegen. Um die Flexibilität und Fluidität der urbanen Strukturen zu verbessern, fordern die Metabolisten Megastrukturen, also größere städtische Untereinheiten, in die Einzelkapseln und Funktionsmodule flexibel integriert und entfernt werden können |▶ 39|. Soziale Ordnung soll insofern über kybernetische geregelte Wachstumsvorgänge entstehen, die Stadt wird insofern als organischer – und nicht wie in Europa als historischer – Prozess aufgefasst. Damit ist auch eine spezifisch japanische Moderne formuliert, die im Rückgriff auf buddhistische Glaubensvorstellungen Architektur und Urbanismus als veränderlichen und fließenden Prozess versteht, während Europa an statischen und immobilen, auf Formen und Masterplänen insistierenden Architektur- und Städtebaukonzepten festhalte. Nicht ohne Grund veröffentlichen Kenzo Tange und Kurokawa auch
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□ 41 Ron Herron, „Walking City on the Ocean“, Collage 1966 (New York, Museum of Modern Art)
Bücher über die immer wieder gleich einem Naturprozess erneuerten Heiligtümer des Ise-Schreins und der Kaiservilla Katsura. Im Zusammenhang des Metabolismus ist vor allem auch die englische Gruppe Archigram zu sehen, die überdies einen entscheidenden Schritt weg vom Urmedium der Architekturtheorie, dem von einem Autor geschriebenen Buch, vollzog. Im Fall von Archigram sind es mehrere Verfasser, Zeichner, Typographiker, vor allem Peter Cook, Dennis Crompton, Ron Herron und Mike Webb, damals junge Studenten, die Archigram als neun Nummern einer zwischen 1961 und 1973 erscheinenden Pop-Architektur-Publikation präsentierten. Comic Strip, Werbegraphik und Collage sind neue Medien einer Architekturtheorie, die unkonventionell und humorvoll, lebensbejahend und unsystematisch ist. Vor allem utopische Projekte werden hier vorgestellt: Futuristische Architekturen in Riesengerüsten, in die neue Baueinheiten flugs ein- und ausgebaut werden können und in denen eine schnelle Kommunikation über Kapseln, Kräne, Röhren und Rolltreppen, nicht die überlebte Straße, gewährleistet ist. Futuristische, aus Science-fiction-Comics adaptierte raumschiffartige Walking Cities machen die Immobilität der Architektur obsolet, denn die Stadt, einem gigantischen Kriechtier ähnlich, kann sich auf Riesenbeinen fortbewegen, um Lebensbedingungen und die Energieversorgung äußeren Veränderungen anzupassen (□ 41). Architektur ist eine hedonistische Angelegenheit, ein wegwerfbares Konsumprodukt, dazu konzipiert, das moderne junge Leben, Konsum, Fernsehen, Werbung, Pop und Sex, gleichsam psychodelisch angeregt zu genießen. Insofern schlägt Archigram einen ironisch übersteigerten, auf eine kurzfristige Nutzung ausgerichteten Funktionalismus im Sinne eines buy-and-throw-away vor, der sich nicht mehr um Dauerhaftigkeit und äußere Form, um das Zusammenspiel von Kern und Fassade, um das Umgehen mit Raum und Licht, um Tradition und Gegenwart kümmert. Archigram ist das Pendant zu der englischen Pop-Art mit ihrer ironisch-optimistischen Bejahung der Popkultur (Ausstellung
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„This is tomorrow“ in der Londoner Whitechapel Gallery, 1956; Richard Hamilton) sowie zu den Beatles. Gleichzeitig dazu, 1966, erschien als US-amerikanisches Pendant die Schrift „Complexity and Contradiction in Architecture“ des Architekten und Theoretikers Robert Venturi. Es handelt sich um ein explizites Pamphlet, das sich den Idealen der Moderne – exemplifiziert vor allem durch Mies van der Rohe –, Formen und Bedeutungsgehalte möglichst zu vereinfachen, zu generalisieren oder zu typisieren, entgegenstellt. Anhand zahlreicher Beispiele aus der Architekturgeschichte bis in die Gegenwart – diese Öffnung gegenüber historischer Architektur allein ist ungewöhnlich – führt Venturi aus, dass nur Widersprüche, Kontraste und Konfrontationen in Architektur und Städtebau der Komplexität der Welt angemessen Ausdruck geben könnten. Dabei bezieht er sich zumeist auf Formanalysen, argumentiert aber auch mit Kriterien des Geschmacks, wenn etwa ‚Schönes‘ mit ‚Vulgärem‘ konfrontiert werden kann. Ähnlich der amerikanischen Pop-Art geht es darum, überlieferte Motive zu verfremden und in neue, überraschende Zusammenhänge zu übernehmen. Dabei wird das hierarchische Verhältnis von Hochkunst und Populärkunst kreativ außer Kraft gesetzt, nicht ohne dabei aber auf spielerische Weise Aussagedimensionen der Architektur als Assoziation oder Ironie neu zu gewinnen. In einer weiteren, zusammen mit seiner Frau Denise Scott Brown und Steven Izenour verfassten Studie, „Learning from Las Vegas“, widmet sich Venturi ebenfalls der Rückgewinnung von symbolischen Kommunikationsebenen der zeitgenössischen Architektur. In einer Gesellschaft, die sich primär im Auto bewegt, verändern sich die Wahrnehmungsbedingungen von Architektur. Wie im damaligen Las Vegas mit seinen überbreiten Straßen und riesigen Parkplätzen zu studieren, muss sich die Fassade als ein überdimensioniertes Hinweisschild am Straßenrand von dem eigentlichen, entfernt von der Straße liegenden Bauwerk trennen. Das riesige Schild und der Empfangsbereich selbst wiederum unterliegen, weil sie ja zum Konsum verführen sollen, einer hybriden Bildkultur, die verschiedenste Klischees ebenso respektlos wie assoziativ wirksam übereinanderblendet: Für Cesar’s Palace, schon im Namen auf das Klischee antiken Luxus anspielend, steht eine comicartig verzerrte Tempelfassade, in Kombination mit einer Western-Saloon-Schrift und übergroßen Kopien von Renaissanceskulpturen. Eine andere Möglichkeit der populären eindeutigen Semantisierung von Baulichkeiten sei, dass sie die Form des dort zu konsumierenden Produktes annehmen: Das Autorestaurant The Long Island Duckling signalisiert seine Funktion durch eine Ausformung als betretbare, große Ente. Venturi rückprojiziert dieses Insistieren auf den weiterhin aktuellen – in der modernen Konsumgesellschaft essentiellen! – symbolischen und kommunikativen Potentialen der Architektur augenzwinkernd auf die gesamte Architekturgeschichte: Diese lasse sich immer auf die beiden Grundprinzipien des decorated shed, des ‚dekorierten Schuppens‘ bzw. der duck, der ‚Ente‘ zurückführen (□ 42). Cesar’s Palace und die Chicken-Bude stehen also in einer Linie mit der Kathedrale von Chartres und dem Palazzo Farnese – warum nicht? In dieser Rückgewinnung der Sprachfähigkeit des Bauens liegt ein gewichtiger Beitrag der Architektur zur sog. Postmoderne. Dabei handelt es sich aber nicht um das ideologische Wiederbeleben erschöpfter klassisch-vitruvianischer Vokabulare oder historischer Stile, sondern um eine prinzipiell bereichernde, weil beziehungsreiche Neuverknüpfung und Collagierung, ironische Brechung und anspielungsreiche Fragmentierung zwischen
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96 □ 42 Robert Venturi/Denise Scott Brown: „Learning from Las Vegas“, 1972
Hochkunst und Populärkultur | ▶ 48|. Dieses Bewusstsein postmoderner Denkund Wissensstrukturen hat auch Charles Jencks in seinen sehr bekannten Entwurf einer postmodernen Architektur einfließen lassen, der 1977 unter dem Titel „The Language of Post-modern Architecture“ erschien. Jencks entwirft seine Theorie der postmodernen Architektur bereits aus einer gewissen Rückschau heraus, indem er die Postmoderne als umfassendes weltanschauliches Phänomen zur Grundlage nimmt und augenzwinkernd konstatiert, dass die Moderne am 15. Juli 1972 in St. Louis mit der Sprengung der Pruitt-Igoe Housings, 1952 – 55 von Minoru Yamasaki (dem Architekten des New Yorker World Trade Centers!) errichtet, gestorben sei. Das umfangreiche, durchgängig in humoriger Diktion verfasste Buch bringt zunächst die Gründe für die Erschöpfung der Moderne: Sie sei zu einer Formspielerei ohne Lebensbezug verkommen bzw. zum Büttel eines renditeorientierten Kapitalismus, die einstigen humanistischen, emanzipatorischen und rationalen Ziele seien in der Wirklichkeit irrationale Worthülsen geworden. Dagegen setzt Jencks eine neue Zeichenhaftigkeit der Architektur, die aber nun bewusst doppelt kodiert sei: Elitär und populär zu verstehen, dürfe sie aber nicht nur beliebig Bezüge zu anderen Sinnsystemen erstellen, sondern müsse primär Raumgestaltung bleiben. Die metaphorische Qualität von Architektur halte in der Imagination ein großes Sinnpotential bereit, wie etwa Eero Saarinens TWA-Terminal in New York zeige (□ vgl. 33): Denn der Flughafen mit zwei sich symmetrisch ergänzenden riesigen Betonschalen sei nicht nur ein ikonischer Verweis auf einen Vogel, sondern mache anhand der konsequenten Ausformung als Knochen, Sehnen und Flächen das Thema des Fliegens vielschichtig bewusst. Oftmals gefällt sich aber Jencks darin, solche Vielfalt der Bedeutungsdimensionen in vexierbildhaften Interpretationen von äußeren Formen auszumalen: Die berühmte Kirche in Ronchamp von Le Corbusier (□ vgl. 32) könne als Portrait Napoleons, als Ente usw. gesehen werden. Indem er den Metaphernbegriff in einem linguistischen Sinn weiter unterteilt – in Wort, Satz, Syntax usw. –, macht Jencks auf die komplexe Elastizität aufmerksam, mit der Sinnbezüge nicht nur in Texten, sondern auch in einer ‚radikal eklektizistischen‘ Architektur erstellt werden können. Mit solchen Forderungen ist allerdings die Annahme verbunden, dass die neue, pluralistische und vielschichtige Bedeutungshaftigkeit von postmoderner Architektur sich
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auch auf eine tatsächliche Realität bezieht, also auf die Geschichte oder moralische oder ästhetische Werte, mithin Komponenten der Welt, die durch die Architektur sinnstiftend repräsentiert werden sollen. Diese Zusammenhänge hat der Architekt und Theoretiker Peter Eisenman 1984 grundsätzlich in Frage gestellt („The End of the Classical. The End of the Beginning, the End of the End”, in Eisenman 2004, S. 153 – 168). Die Vorstellung, dass die Architektur seit der Renaissance ‚Welt‘ repräsentiere, gelte auch noch für die Moderne, auch wenn es nicht um den Verweischarakter von Säulenordnungen und Stilen geht. Doch noch im Dogma des Funktionalismus solle etwa ‚Wahrheit‘ vergegenwärtigt werden. Was bedeutet es nun aber, wenn – wie dies der Poststrukturalismus und insbesondere Jean Baudrillard erkannt haben – die ganze Welt und die Begriffe ihrer Erfassung nur eine gedankliche Konstruktion, eine ‚Simulation‘, darstellen? Eine Architektur, die Repräsentation leisten soll, hat somit ihre Bezugsebene in einer nicht zu erfassenden Realität verloren, die Repräsentation ist selbst nur noch eine Simulation. Alle Versuche insbesondere der Moderne, Allgemeingültiges – also Wahrheit und überzeitlich gültige Sinnzusammenhänge gegen die ‚lügnerische‘ und schnelllebige Dekorationsarchitektur des 19. Jh.s – vor Augen zu stellen, verlieren ihren Boden, denn sie gründen in nicht objektivierbaren Realitätsvorstellungen von Wahrheit und Zeitlosigkeit. Dies könne die Architektur nur dadurch beantworten, dass sie sich als bedeutungsfreie, beliebige und zeitlose Schöpfung (meaning-free, arbitrary, timeless creation of artificiality), als eine ‚Dissimulation‘ darbiete, die die Grenze zwischen Realität und Künstlichkeit offenhält. Sie wird das Zeichen eines Zeichens, offenbart beständig ihre eigene Fiktionalität, will keine Werte schöpfen und Utopien ankündigen und verzichtet darauf, die Kausalität von Welt vorzuführen. So bezieht sich Architektur nur auf sich selbst, gibt Anleitung zum Lesen und Agieren, macht Fiktionalität bewusst, ohne ein Ausdruck von etwas anderem sein zu wollen. Auch in Rem Koolhaas’ Buch „Delirious New York“ (1978) ist die Repräsentationsfähigkeit von Architektur radikal in Frage gestellt. Anhand einer geistreichen und vergnüglichen, bisweilen ironischen Analyse der Architekturgeschichte von Manhattan beschreibt Koolhaas die Entstehung von Superblocks, die als selbstgenügsame Container von vitaler Lebensenergie funktionieren. Ein zeitloses und dynamisch sich änderndes Leben – Wohnen, Arbeiten, Vergnügen – spielt sich im Inneren der Wolkenkratzer ab, die unabhängig von der Außenwelt sind. Entsprechend wird die Frage der Außengestaltung der Riesenblocks in einem Akt der Lobotomie (Durchtrennung der zentralen Nervenbahnen vom Gehirn) von dem phantasierend-wahnsinnigen (delirious) Vitalen im Inneren der Blocks separiert. Koolhaas’ Akzeptieren eines unbewusst-chaotisch Prozessualen versteht sich auch als eine prinzipielle Abrechnung mit Le Corbusiers ‚puritanischem‘ und kleinmütigem Konzept, durch eine aufgelockerte Stadtstruktur in grünen Landschaftsparks und mit funktionalistisch organisierten Hochhäusern urbane Probleme in klinischer Weise zu lösen, dabei aber berauschendes Lebensvergnügen zu verhindern. Diesen Antiurbanismus hat Koolhaas zusammen mit Bruce Mau in der opulenten, als typographische Collage in jeder Hinsicht überbordenden Publikation „S, M, L, XL“ (1995) weiterentwickelt. In einer über mehr als 1300 Seiten reichenden Collage aus Tausenden von Bildern, Plänen, Zeitungsausschnitten und Texten, Essays, Chroniken, Statements, Zitaten und Projektvorstellungen in verschiedensten Typographien wird die Gestaltung des Buches selbst zur theoretischen Textur. Zwar gibt es eine Art Blockstruktur und ein Raster: die Kapiteleinteilung
Architekturtheorie 1800 – 2000
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nach den Projektformaten (klein, mittel, groß, sehr groß) und schematisch durch das Buch laufende alphabetisch geordnete Begriffsdefinitionen. Doch innerhalb dieser Blockstruktur kommt es beständig zu unvorhersehbaren Überraschungen, Zusammenstößen, Konfrontationen. Das Chaos hat kaum eine rational begreifbare und in Handeln übersetzbare Struktur, sondern will im subjektiven Erleben assoziativ verknüpft und ‚geordnet‘ werden. Gleichwohl stellt Koolhaas implizit, z. B. im Essay „Bigness“, eindringliche Fragen nach den Lösungsstrategien von Städtebau innerhalb einer globalisierten Welt, in der über global players corporate identities vermittelt werden, anstatt – so wäre hinzuzufügen – dass ‚große Erzählungen‘ historische Identität stiften könnten. Im Abstreifen von Bezügen auf bestimmte Orte und Zeiten entsteht also eine Architektur der Transitorik, die in den riesigen Flughäfen, Bahnhöfen und Shopping Malls viel eher eine globalisierte Identität des mobilen Menschen stiftet als in ‚öffentlichen‘ Bauprojekten einer früheren Zeit.
II. Grundzüge der Architekturgeschichte 1800 bis heute
III. Schlüsselwerke
Wörlitzer Anlagen bei Dessau Der Garten als Ort des Stilpluralismus
I
n den Jahren vor 1800 bereitet sich ein grundlegender Wandel in der Architektur vor: Bislang war ein zentrales Qualitätskriterium gewesen, die seit der Renaissance von dem antiken römischen Architekturtheoretiker Vitruv übernommenen fünf Säulenordnungen gemäß der jeweiligen Bauaufgabe und in den richtigen Proportionen anzuwenden. Eine gute und regelgerechte Architektur sollte mit Hilfe der Vernunft erkannt werden können. Voraussetzung für dieses ‚Verstehen‘ war eine entsprechende Bildung. Nunmehr ändern sich die Kriterien: Zum einen soll Architektur direkt auf eine empfindsam reagierende Seele des Benutzers wirken, zum anderen kommt mehr und mehr zu Bewusstsein, dass der Weltverlauf sich nicht einem göttlichen Plan verdankt, sondern einem vielgestaltigen kausalen Entwicklungssystem, der Geschichte, folgt (vgl. S. 13 f.). Hiermit verbindet sich die Erkenntnis, dass die römische Antike, deren Monumente man vor allem kannte und wertschätzte, aus der griechischen Antike entstanden war. Erste Vermessungskampagnen auf der Akropolis, insbesondere durch die Engländer James Stuart und Nicholas Revett
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in der Mitte des 18. Jh.s, zeigten, dass es die griechische Architektur war, die als wirklich ursprünglich und rein zu gelten hatte. Daneben treten auch andere Hochkulturen und ihre Architekturen, insbesondere China, in das Bewusstsein des Architekturdiskurses. Der Ort, an dem diese Veränderungen in der Wertschätzung von Architektur zusammentreffen, ist der Landschaftsgarten des späten 18. Jh.s. Der englische Garten, entstanden im England des frühen 18. Jh.s, basiert ganz wesentlich auf dem Konzept, ‚mit der Natur zu malen‘, ihrem Licht, ihren Farben, ihren Stimmungen, aber auch mit ihrer historischen Umgestaltung in früheren Zeiten, in der Antike, im Mittelalter oder aus fernen Regionen. Staffagearchitekturen, die stimmungshaft empfunden werden sollen, nehmen deswegen historische Formen an. Der späte englische Landschaftsgarten steht insofern am Anfang zweier radikaler Veränderungen in der Architekturgeschichte: Der Wunsch nach unmittelbarer, direkt von den Sinnen aufgenommener Wirkung wird eine Konstante der Moderne. Historische Stile als Bedeutungsträger einzusetzen, wird vor allem im 19. Jh. zu
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□ 43 Wörlitz, Grundriss des Landschaftsgartens, Israel Salomon Propst nach Johann Chr. Neumark, 1784
dem dominierenden Grundsatz architektonischen Konzipierens. Das Gartenreich von Wörlitz zeigt all diese Aspekte umfassend und vielschichtig. Zudem offenbart es ein bemerkenswert frühes ökologisches, ethisch begründetes Umgehen mit der Natur. Auftraggeber war Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau, der zusammen mit dem ihm freundschaftlich verbundenen adeligen Architekten Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff und dem Gärtner Johann Leopold Schoch d. Ä. die weitläufigen Anlagen plante (□ 43). Begonnen hatte man schon 1764, dabei war zunächst ein Schloss mit Rokokogarten geplant, doch nach einer Reise des Fürsten mit seinem Architekten 1765 – 67 durch Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich, England und Schottland änderte sich
III. Schlüsselwerke
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die Planung umfassend. Es handelte sich um eine intensive Bildungsreise, genannt Grand Tour, um dem aufklärerischen Ideal des man of taste nachzukommen. Erst eine profunde Bildung konnte ‚Geschmack‘ als wesentliches Beurteilungskriterium für alle Dinge bewirken. Und nur auf einer solchen Grundlage konnte ein Grundherr oder Herrscher beanspruchen, gut und richtig zu handeln. So ging es in Wörlitz zunächst auch um landwirtschaftliche Erwägungen, denn es sollten die in dem Dessauer Umland häufigen Hochwasser von Elbe und Mulde in einem weiten Bereich um Wörlitz-Dessau, Oranienbaum, Mosigkau usw. eingedämmt und die landwirtschaftliche Nutzung reformiert werden. Dies wurde nun ganz im Sinne eines aufklärerischen Musterlandes umgesetzt, in welchem Nutzen und Schönheit, Antike und Gegenwart miteinander versöhnt wurden und dabei – anders als in England – für jeden frei zugänglich blieben. Die insgesamt fünf Wörlitzer Gärten sind um den vierarmigen Wörlitzer See angeordnet und über Wege, Fähren und vor allem Sichtachsen vielfältig miteinander verbunden. Überraschende Durchblicke, points-de-vue, kulissenhafte Staffelungen, Rahmeneffekte, Hell-Dunkel-Kontraste – und nicht zuletzt eine sich über das Jahr beständig verändernde Farbigkeit der Vegetation – schaffen hier vielfältige Kompositionen, gleichsam, als hätte man ein perfektes Landschaftsgemälde betreten, das so natürlich wirkt, dass man seine Kunsthaftigkeit vergisst. In der Tat ist das heitere und aufmerksame Ergehen das wesentliche Mittel, die zahlreichen Sinnbezüge zwischen Floratempel, Venustempel, Rousseauinsel, einer Nachbildung des Vesuvs, dem Gotischen Haus, dem Pantheon usw. wahrnehmen zu können. Auf den Dämmen erlauben sog. belt walks eine schöne Übersicht über die Natur, in der es keine Grenzen zwischen umgestalteter und gewachsener Landschaft zu geben scheint: Statt durch Zäune werden die Bereiche durch
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in Nahsicht überraschende, ansonsten nicht wahrzunehmende Gräben, sog. Ha-has (auch Aha) abgegrenzt. Es gab keinen vorgegebenen Plan, sondern aus landschaftlichen Gegebenheiten wuchs der Garten nach und nach, verquickte dabei agrarische Nutz- und Versuchsflächen mit scheinbar wilder Natur und der Evokation verschiedenster Stimmungsbilder. Dabei spielte die Kenntnis des Wachstums und der Farbigkeit der Bepflanzungen eine entscheidende Rolle. Zahlreiche Pflanzenarten kamen zum Einsatz, die sich zu mannigfaltigen Kompositionen und Bildachsenrahmungen in jahrzeitlich wechselnden Farben fügen und verschiedenste Stimmungen und Landschaftsbilder erzeugen sollen. Pappeln etwa dienen als Ersatz für Zypressen, zugeschnittene Kiefern imitieren Pinien, um eine mediterrane, die Antike evozierende Stimmung zu vermitteln. Die Hauptakzente innerhalb des Gartens bilden annähernd 60 Architekturen, Kleinbauten und Bildwerke, die mal omnipräsent, mal versteckt, teils farblich an die Vegetation angepasst, teils aufgrund ihrer weißen Farbe mit ihr kontrastierend, in den Garten eingefügt sind. Auch das alte Dorf Wörlitz wurde, um das Seeufer der Vegetation überlassen zu können, abgerissen und völlig umgestaltet neu errichtet. Ausgangspunkt der Anlage war ein Landschloss östlich des Wörlitzer Sees, das Erdmannsdorff an der Stelle eines barocken Jagdsitzes 1768 errichtete. Der kubisch klare und schlichte Baublock in einheitlich heller Farbigkeit erhält als einziges markantes Motiv eine übergiebelte Säulenvorhalle. In dieser Außenerscheinung erinnert das Schloss eher an ein Landhaus – und war in seiner schlichten Struktur und der Vorhalle sofort als Übernahme von Bauformen zu verstehen, wie sie Andrea Palladio im 16. Jh. im Veneto errichtet hatte. Für den Bauherrn verband sich mit diesem Palladianismus aber vor allem ein programmatischer Bezug auf England, hatte man dort diese schlichte und doch edel distinguierte Baukunst als Ideal des
erwähnten gesellschaftlich verantwortungsvollen, gebildeten man of taste verstanden. Dies war ebenso für Fürst Franz Programm und bestätigt sich auch im Schlossinneren. Hier betritt man zunächst eine Rotunde, in der antike Skulpturen präsentiert werden. Die übrigen Räume sind bewusst daraufhin konzipiert, bestimmte historische Vorbilder zu vergegenwärtigen: Der Festsaal führt ein Bildprogramm vor, das sich auf die italienische Hochrenaissance bezieht, daneben gibt es Räume nach chinesischer Mode, die Möbel sind nach englischem Vorbild grazil und schlicht. Hier wird ein aus den Reiseerfahrungen des Fürsten gespeistes Bildungsprogramm vorgeführt, das zeremonielle Anforderungen in den Hintergrund treten lässt: Die Treppen führen nicht in voluminösen repräsentativen Treppenhäusern nach oben, sondern sind wahre ‚Stiegen‘ zu Seiten der Eingangsrotunde. Das Gotische Haus, Wohnung und Werkstatt des Gärtners, Rückzugsort des Fürsten und zugleich ein Museum für zahllose mittelalterliche Bildwerke und Objekte, entstand ohne verbindlichen Gesamtplan in mehreren Erweiterungen zwischen 1773 und 1813 (□ 44). Gleich einer kleinen englischen Burg liegt es als unregelmäßiges Bauensemble inmitten von Weidefläche und Versuchsgärten. Die Rekurse auf die Geschichte der Architektur werden vielfältig vermittelt. In der dem Kanal zugewandten Front erhebt sich eine Fassade, die an die gotische Architektur Venedigs, vor allem die dortige Kirche S. Maria dell’Orto erinnert, während auf der Gartenseite eine englische Kirchenfassade der Spätgotik angedeutet ist. Die großen Maßwerkfenster belichten den dahinter liegenden ‚Rittersaal‘ und enthalten in ihrer Verglasung zugleich die Sammlung historischer Glasgemälde. Hier wird ein historisches Museum eingerichtet, das eine romantische Zwiesprache mit der ‚heroischen‘ Epoche des Mittelalters und die assoziative Rückbindung der Anhaltiner in die Geschichte erlauben sollte. Das Vorbild für diese museumhafte Inszenierung des Mit-
Wörlitzer Anlagen bei Dessau
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102 □ 44 Wörlitz, Landschaftsgarten, Blickachse auf das Gotische Haus mit Bepflanzung in Form eines Phallus
opold Wert auf den privaten Charakter seines Museums legte. Diese gleichsam bürgerliche Privatheit war Lebensprogramm, denn anstatt eines standesgemäßen Familienzeremoniells bevorzugte er es, mit der Tochter des Gärtners in wahrer, also persönlich empfundener Liebe zusammenzuleben. Gezielt einen anderen Stil nimmt das 1795 – 1797 von Erdmannsdorff konzipierte Pantheon im Ostteil des Parks ein (□ 45). Es folgt in Verkleinerung dem berühmten römischen Rundtempel mit vorgelagerter Portikus. Man kann den Tempel als gebautes Kunsttraktat verstehen: Das als Spitzenleistung der Architektur angesehene Pantheon ist eingebettet in eine hoch aufragende Baumgruppe und erhebt sich über einem Sockel aus rohem Fels. Die Kunst entsteht somit im innigen Verhältnis zur Natur, wächst gleichsam aus ihr hervor. Das Innere, eine kuppelbekrönte zweigeschossige Ro-
telalters war zweifellos der neugotische Landsitz Strawberry Hill, den sich der Politiker und Schriftsteller Horace Walpole 1748 in Twickenham bei London hatte errichten lassen (von Engelberg 2013, S. 314 – 317). Mittelalterentdeckung und Neugotik wurden um 1800 auch andernorts als dynastische Rückversicherung angewandt: Die Löwenburg im Landschaftspark von Kassel-Wilhelmshöhe diente als Grablege von Landgraf Ludwig IX. – und auch hier hatte man schon im 18. Jh. begonnen, neben Antiken auch prähistorische Überreste aus dem eigenen Land zu sammeln. Allerdings dient das Kasseler Ensemble eher einer öffentlich wirksamen Zurschaustellung der angeblichen Anciennität des Fürstentums, während in Wörlitz Fürst Le□ 45 Wörlitz, Landschaftsgarten, Blick auf das Pantheon, Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff, 1795 – 97
III. Schlüsselwerke
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□ 46 Wörlitz, Landschaftsgarten, Insel Stein und künstlicher Vesuv, Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff, 1788 – 94
tunde, ist nach einer damals von dem Berliner Archäologen Aloys Hirt vorgelegten Rekonstruktion des römischen Pantheons gestaltet. Hier war ursprünglich im wahrsten Sinne des Wortes ein ‚Musentempel‘ geplant, der antike Dokumente zu wissenschaftlichen Studien versammeln sollte. 1802 ausgeführt wurde allerdings eine Ausstattung mit griechischer antiker Skulptur und im unteren Teil mit Abgüssen nach ägyptischen Werken. Über die zahlreichen Kanäle führen verschiedenartige Brücken, die sich auf mehrere Regionen der Welt beziehen lassen: So gibt es fernöstliche Brücken, eine Kettenbrücke und sogar eine verkleinerte Nachbildung einer Inkunabel der Eisenarchitektur, der Coalbrookdale Brigde bei Shrewsbury von 1781. Konkret zu einem Erlebnis- und Stimmungsraum führt der sog. Stein im Südteil des Parks (□ 46). Hier ist inmitten eines künstlichen Sees auf einem schroffen Felsgelände eine Kopie der Villa des englischen Diplomaten und Kunstsammlers William Hamilton am Golf von Neapel ver-
wirklicht. Wie der charismatische Engländer vereinte auch Fürst Leopold hier eine Kunstsammlung, doch vor allem war hier sein Süditalien-Erlebnis zu wiederholen. Mithilfe eines Feuerwerks konnte ein Vesuvausbruch imitiert werden, mit einem Nachen konnte man wie in Capri in eine künstliche Blaue Grotte einfahren oder es war ganz schlicht möglich, ein ungezwungenes Bad im Wasser zu nehmen, wie es die Neapolitaner Jungen auch im Mittelmeer taten. Der landschaftliche und architektonische Erlebnisraum war eingebettet in durch und durch philanthropisch geprägte Reformbestrebungen im Fürstentum Anhalt-Dessau. Vor allem zahlreiche pädagogische und edukative Neuansätze versuchten, antikes Bildungsgut, vor allem in Moral und Ethik, auf natürliche und lebensvolle – sogar teilweise erotisch anregende – Weise zu vermitteln. Die programmatische religiöse Toleranz zeigt sich etwa darin, dass das neu gebaute Dorf Wörlitz auch eine Synagoge erhielt. Dies verband sich mit der Erforschung und Ausnutzung naturwissenschaft-
Wörlitzer Anlagen bei Dessau
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licher Gesetze, insbesondere im Bereich der Botanik und Landwirtschaft. Was die Architektur im Wörlitzer Gartenreich angeht, so ist ihr Stilpluralismus also nicht bloßem Streben nach pittoresker Vielfalt geschuldet, sondern Teil eines pädagogischen Reformprogramms, das umfassende Bildung als neues Ideal verfolgt. Jeder Stil und jeder Bautypus ist mit einem Netzwerk von Bedeutungen und Eindrücken versehen, die in unterschiedlicher Weise wahrgenommen werden können: als vage Stimmung, als erhabenes Erlebnis, als Evokation geschichtlicher Epochen oder als veranschaulichte Architekturtheorie. Es ist diese in Wörlitz exemplarisch zu beob-
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achtende Vielfalt der Konnotationen, die einen immensen Pool von Ausdruckmöglichkeiten der Stile bereithält, aus dem in der folgenden Zeit, in der Epoche des architektonischen Historismus, geschöpft werden wird. Die entschieden volkspädagogische Ausrichtung des Wörlitzer Gartenreichs wird dabei insbesondere von den Volksparks (□ vgl. 4) und auch den zoologischen Gärten aufgenommen werden, die vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jh.s als Erholungsbereiche innerhalb der umfangreichen Stadterweiterungen und -umgestaltungen angelegt werden (z. B. Wilhelma in Stuttgart, 1846; Parc Monceau in Paris, 1861; Volkspark Jungfernheide in Berlin, 1904).
Die Saline von Chaux in Arc-et-Senans Die Idealstadt der architecture parlante
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bgelegen in den bergigen Regionen des französischen Jura sollte eine der Musterstädte der späten Aufklärung entstehen, deren Zentrum und Ausgangspunkt kurioserweise eine Saline war. Architekt war Claude-Nicolas Ledoux (1736 – 1806), Schüler von JacquesFrançois Blondel und bald ein gefragter Architekt. 1771 hatte er den hochrangigen Posten eines Inspektors der Königlichen Salzbergwerke in der Franche-Comté eingenommen. Diese Anstellung sollte mitprägend für seine Theorie werden, denn er hatte sich fernab von Paris weniger um Repräsentationsbauten, sondern um Ingenieursprojekte, Forstwirtschaft, Kanalbau und logistisch-organisatorische Fragen zu kümmern. Hier entwickelte er eine umfangreiche und komplexe, völlig neue Architekturauffassung, in deren Zentrum die unausweichliche moralische und erzieherische Wirkung des Bauens auf den Menschen steht.
III. Schlüsselwerke
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Die Salzgewinnung in dem aufstrebenden Jurastädtchen Salins geschah durch Aufkochen und Verdunsten der Sole und war ein durchaus lukrativer und deswegen staatlich geregelter Produktionszweig, den Ledoux völlig neu aufbaute. Aus Brandschutzgründen verlegte er die Saline an den Stadtrand in die Nähe der Dörfer Arc und Senans und entwickelte zunächst ein Projekt in Form einer Vierflügelanlage um einen quadratischen Innenhof. Nachdem er aber umfangreiche Nutzungsrechte des umliegenden Waldes erworben hatte, plante er in großem Maßstab neue Wasserzu- und -ableitungen sowie ein Verkehrsnetz. 1775 bis 1778 wurde die neue Anlage ausgeführt, zu der aus 24 km Entfernung das salzhaltige Wasser zu den Gradieröfen herbeigeführt, das Salz als dicke Klumpen gewonnen und weiter vertrieben wurde. Bis 1895 lief der Betrieb, 1936 begannen Wiederinstandsetzungen.
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□ 47 Arc-et-Senans, ehem. Saline, Claude-Nicolas Ledoux, 1775 – 78
Nur ein kleiner Teil der geplanten Anlage wurde verwirklicht: Die Bauten gliedern sich entlang den Konturen eines Halbkreises an, in dessen Mitte sich das Direktorengebäude erhebt (□ 47). Dieses wird durch zwei langgestreckte, niedrige Gebäude flankiert, in denen die Sole gekocht wurde. Das Halbrund hingegen wird eingenommen von fünf Häusern, von denen das mittlere, in der Achse des Direktorenhauses, das Portal- und Pförtnerhaus bildet, während die seitlichen als Wohnhäuser der Salzsieder dienen. Die Gesamtanlage erinnert an ein aus Einzelpavillons bestehendes Schloss; allerdings ist der Hauptflügel nicht der Repräsentation eines Herrschers, sondern der Verwaltung und Produktion des Salzes gewidmet. Alle Gebäude scheinen zunächst nach einem gleichen Schema konzipiert zu sein: Ein
Querriegel unterbricht ein langgestrecktes Gebäude mit hohem Dachaufbau. Arbeiterhäuser und Direktorenhaus gleichen sich insofern einander an. Allerdings erhebt sich dieses über quadratischem Grundriss, steigt dominant auf zwei Geschosse an und wird durch eine markante dorische Vorhalle mit abwechselnd runden und quadratischen Säulentrommeln herausgehoben. Aber auch das Portalgebäude ist nach außen durch eine mächtige dorische Säulenvorhalle ausgezeichnet und erinnert unmissverständlich an einen griechischen Tempel. Im Inneren öffnet sich das Portal in einer mächtigen Nische, die, aus rohen Bruchsteinen gemauert, eine Grotte vorstellt, also die Herkunft des salzigen Wassers verbildlichen soll. Diese Thematik ist auch an den Siedehäusern aufgenommen, denn hier scheint – in Stein ge-
Die Saline von Chaux in Arc-et-Senans
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hauen – durch runde Öffnungen die dickflüssige konzentrierte Sole herauszuquellen. Die Architektur repräsentiert also in monumentaler Form nicht etwa soziale Hierarchien, Bildung oder Frömmigkeit, sondern die Produktion eines Konsumgutes und deren logistische Organisation: Sole und Salzgewinnung, die praktischen Kräfte (Sieder) und das administrative Zentrum, die Direktion. Die Arbeiterhäuser, von erstaunlicher Geräumigkeit, setzen sich jeweils aus einander symmetrisch ergänzenden Appartements zusammen und sind untereinander völlig identisch, eine frühe Standardisierung von funktionsgerechten Arbeiterhäusern. Alle Bewohner der Anlage erhalten somit einen angemessenen, wenn auch sicher nicht luxuriösen architektonischen Ort, der vergleichsweise geringe soziale Unterschiede aufweist, dafür aber alles auf die Salzgewinnung orientiert – fast vergleichbar mit moderner Unternehmungskultur mit ausgeprägter corporate identity. Geplant war eine utopische, aber sehr signifikanten Anlage: Sie sollte kreisrund sein, somit das Haus des Direktors nochmals deutlicher als heute sichtbar ins Zentrum stellen und sich nach außen in zahlreichen weiteren
□ 48 Claude-Nicolas Ledoux, Idealprojekt für Chaux nach „L’architecture considérée sous le rapport de l’art, des mœurs et de la législation“, 1804
III. Schlüsselwerke
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Bauten weit in die Landschaft erstrecken. Die veritable Stadt sollte Rahmen, Anleitung und Veranschaulichung einer utopisch-egalitären Gesellschaft sein, die ihr Tun ausschließlich auf eine effiziente Produktion und ihr Leben auf eine perfekte Moralität ausrichten sollte. Architektur und Städtebau regulieren und veranschaulichen in totaler Weise eine perfekte Gesellschaft. Ledoux hat diese spätaufklärerische Vision in einem in Text und Bebilderung umfangreichen, doch noch weit größer angelegten Traktat „L’Architecture considérée sous le rapport de l’art, des mœurs et de la législation“ (1804) dokumentiert (□ 48). In pathetischer und weitschweifiger Diktion wird eine weltumspannende Architekturvision vorgetragen, die keine sozialen Standesschranken mehr kennen soll, sondern die Gesellschaft nach ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern in monumentaler Weise architektonisch-anschaulich strukturieren will. Dahinter steckt zum einen die Rousseau’sche Idee des gemeinsamen Gesellschaftsvertrags, zum anderen der in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s entwickelte sog. Physiokratismus. Dieses erste Modell einer Nationalöko-
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nomie entwickelte die Vorstellung eines natürlichen Wirtschaftskreislaufs innerhalb eines abgeschlossenen Staatssystems. Eine endlose Abfolge von Tauschakten sollte – wie in einer ‚natürlichen‘, am Modell des Blutkreislaufs angelehnten Ordnung – Produktion, Bearbeitung und Umlauf der Waren beständig in Gang halten. In diesem Kreislauf sollen alle sozialen Klassen, insbesondere auch die landwirtschaftlich tätigen, ihr Recht auf Selbstdarstellung erhalten. Für Ledoux bedeutete das, dass die Architekturen nun nicht mehr den sozialen Rang ihrer Besitzer bzw. Benutzer anzeigen, sondern den in ihnen verrichteten handwerklichen und beruflichen Tätigkeiten und ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen Ausdruck verleihen sollten. Das Konzept der architecture parlante erhält deswegen eine ganz neue Funktion, die nicht mehr unter dem Oberbegriff der convenance, also der sozialhierarchischen Angemessenheit, sondern unter dem der Erziehung zu fassen ist. Die einzelnen Berufsgruppen sollen gleichsam Monumente bewohnen bzw. benutzen, die der Bedeutsamkeit ihrer Tätigkeit gerecht werden: Die (zur Herstellung von Fässern wichtigen) Reifenmacher sollen in riesigen radförmigen Häusern untergebracht werden. Dem Gemeinschaftshaus des pacifère, des ‚Friedensstifters‘, sind Liktorenbündel vorgeblendet, die Einigkeit symbolisieren. Im Fall des Hauses des Flussinspektors wird der Wasserlauf kurzerhand durch das Haus geleitet. Dem Projekt einer Schule hingegen ist nicht so einfach eine symbolische Form zu geben: Ihr kreuzförmiger Grundriss soll in der Mitte eine Kapelle enthalten; die einzelnen Unterrichtsfächer, die in den Kreuzarmen gelehrt werden, würden auf ein gemeinsames ideelles Ziel ausgerichtet sein, von dem überdies auch eine perfekte Überwachung der Schüler möglich sei. Besonders kurios wirkt das Projekt eines Massenbordells auf der Grundrissform eines riesigen Phallus. Auch hier ist die erzieherische Funktion entscheidend, denn der Besucher des
Hauses soll hier nicht etwa seine Fleischeslust befriedigen, sondern in der Erkenntnis, wie widerwärtig das dort vonstatten gehende Treiben sei, zu sittlicher Reife geführt werden. In diesem System haben die Säulenordnungen keinen Platz mehr, um soziale Ränge zu kennzeichnen. Vielmehr verwendet Ledoux zumeist urtümliche, gleichsam direkt aus der Natur entstandene Säulenordnungen wie die Dorica, um damit einen erhaben wirkenden Akzent zu setzen. Die landumspannende Strukturierung der Gesellschaft durch die Architektur lässt ansonsten ornamentales Beiwerk nicht zu: Schon die aufwendigen Blattkränze der korinthischen Ordnung sind unnützes, ja volkswirtschaftlich schädliches Beiwerk. Das Bekenntnis zur Befolgung von Naturkreisläufen schließt bei Ledoux auch eine unmittelbar in den Stichen deutlich werdende Stadtkritik ein. In Aufnahme der Ideen Rousseaus von einer natürlichen, in der Natur abseits der zerstörerischen Städte lebenden menschlichen Gemeinschaft, sind alle Projekte in ausgeglichenen, leicht hügeligen und von reichhaltigen Vegetationen aufgelockerten Landschaften angesiedelt. Dieses Paradies wird zum Zweck des Menschen kultiviert und mit Hilfe der Architektur strukturiert: Die radial um die Gradierwerke und das Direktorenhaus angelegten Arbeiterhäuser sind zwar in ihrer Eingeschossigkeit und den fehlenden Auszeichnungsmotiven dem zentralen Direktorenhaus deutlich unter- und ihm unmissverständlich zugeordnet. Aber sie verfügen alle über einen kleinen Garten zur eigenen Bewirtschaftung. Ledoux visioniert radikal wie kaum ein Zweiter an der Wende um 1800 die Architektur als Erfüllerin von komplexen sozialen Funktionen, die in geradezu totalitärer Weise die Lebenswelt bestimmen sollen. Die Architektur soll die Güte und Qualität dieser Utopie beständig erweisen und vor Augen führen. Ihr eigentlicher Schöpfer ist aber der Architekt, der dem ‚armen Menschen‘ wie dem ‚Armen‘
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die Gnade der Vernunft zuteil werden lässt: In einer berühmten Illustration zur „Schutzhütte des Armen“ (l’abri du pauvre) wird ein unbekleideter Mann unter einem verlassenen Baum am Meeresstrand gezeigt. Der Arme ist im Begriff, der Gnade der Musen des weiten olympischen Himmels darüber teilhaftig zu werden, um seine Unbehaustheit zu lindern. Unter den Göttern im Himmel, die wohl Urbedürfnisse des Menschen befriedigen sollen, befinde sich auch, so Ledoux, der Architekt. Dem armen ersten Menschen wird nicht mehr, wie in der vielfältig tradierten Urfassung des Topos der Urhütte bei Vitruv, das Ingenium zugestanden, seine Urbehausung selbst zu erfinden. Ledoux’ verstiegene Gesellschaftsvision, erst 1804 veröffentlicht, wirkte zunächst weniger über seine konkreten Bauvorschläge, sondern aufgrund seines grundsätzlichen Anspruchs, Architektur müsse moralisch erziehen. Das gilt etwa für die englische und deutsche Reformarchitektur |▶ 11, 22|, in der sich Schlichtheit, Aufrichtigkeit und Wahrheit ausdrücken sollen. Vor allem aber die klassische Moderne mit ihrem vielfach geteilten Ziel, einen ‚neuen Menschen‘ von zeitgemäßem Geschmack und rationaler Lebensführung über das ‚Neue Bauen‘ zu kreieren, lässt sich mit den spätaufklärerischen Entwürfen verbinden. Le Corbusier sollte gar so weit gehen zu behaupten, dass nur der Architekt die proletarische Revolution aufhalten könne |▶ 27|. Dass Architekturen ihre Funktionen konkret-bildlich anzeigen, ist außer in den Pop-Architektur-Konzepten ( vgl. S. 94 f. ) der 60er Jahre des 20. Jh.s – ein Verkaufsstand in Form eines überdimensionalen Donuts zeigt die dort verkauften Waren an – in der sog. branded architecture ein wichtiges Konzept geworden: Das elegante, aus vogelflügelähnlichen Betonschalen bestehende TWA-Terminal des John-F.Kennedy-Airports von Eero Saarinen etwa soll die elegante Eroberung der Lüfte vermittels der TWA vermitteln (□ vgl. 33).
III. Schlüsselwerke
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In Abwandlung begegnen Ledoux’ soziale und urbanistische Visionen auch im Konzept der Phalansterien des frühsozialistischen Theoretikers Charles Fourrier. Dieser konzipierte zu Anfang des 19. Jh.s eine Gesellschaftsvision, in der alle Mitglieder ihre Leidenschaften und Triebe ungehemmt verwirklichen sollten. Das bedeutete zum einen, dass jeder Einzelne seine Lust individuell ausleben könnte – insbesondere als freie Liebe –, zum anderen aber, dass diese Energien gleichsam naturgesetzlich in ein harmonisches Zusammenwirken einer idealen Gesellschaft fließen sollten. Fourrier ersann als Umsetzung dieser Gedanken eine Miniaturstadt in der Art eines riesigen Gemeinschaftsbaus, das sog. Phalansterium, in dem eine Wirtschafts- und Liebesgemeinschaft von über 1500 Personen gemeinsam und glücklich zusammenleben und arbeiten sollte. In der graphischen Umsetzung erscheint das als eine monumentale, dem Versailler Schloss ähnliche Anlage, in der im Hauptflügel die Gemeinschaftseinrichtungen wie Bibliothek und Speisesaal untergebracht sind, während die geräumigen Seitentrakte zum Wohnen und Arbeiten dienen. Tatsächlich wurden mehrere derartiger Bauten in Frankreich und den USA verwirklicht, waren aber meist von kurzer Lebensdauer. Folgenreicher war es, das Konzept als paternalistisches Modell eines privatwirtschaftlichen Unternehmens umzuwandeln. Noch erhalten ist das 1859 errichtete Familistère im französischen Guise (Aisne), das der frühsozialistische Fabrikant Jean-Baptiste André Godin als schlossähnliche Wohnanlage für seine Arbeiterfamilien errichten ließ. Von derartigen Unternehmungen inspiriert sind zahlreiche Werkssiedlungen des späten 19. Jh.s, in denen große Unternehmen wie Krupp oder Borsig ihren Arbeitern eigene Häuser oder Wohnungen zur Verfügung stellten. Als Nebeneffekt war beabsichtigt, dass über die Pflege von Haus und Garten Disziplin und Verantwortungsbewusstsein der Arbeiterfamilien gestärkt würden.
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Monticello und Virginia University Beginn der Architektur in den USA
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ie nordamerikanische Architektur, bis in das frühe 19. Jh. nur aus pragmatischen Behelfsbauten bestehend, hat einen klar zu bestimmenden Anfang, an dem sich die aufklärerischen Gründungsideale der jungen USA mit einem inhaltsreichen klassizistischen Bauen verbinden und dies zudem in der Figur des 3. Präsidenten und dilettierenden Architekten Thomas Jefferson vereint ist. Allein die Bauprogramme seiner architektonischen Entwürfe sind bezeichnend für die emanzipatorische Ausrichtung: das State Capitol in Richmond, der Hauptstadt von Virginia, die Beteiligung an der Stadtplanung von Washington, die Universität von Virginia in Charlottesville sowie eine Mustervilla als privates Landgut in Monticello bei Charlottesville. Damit beginnt das US-amerikanische Bauen, das sich im weiteren Verlauf, etwa bei Louis Sullivan oder Frank Lloyd Wright |▶ 17, 24|, eine markante eigene Identität verschaffen wird. Der Campus von Charlottesville vereint dezidierte Rückgriffe auf Architekturen des vene-
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zianischen Architekten und Theoretikers Palladio sowie auf die römische Antike als auch den englischen Landschaftsgarten mit innovativen und idealistischen Bildungsidealen. Das seit 1810 geplante, seit 1817 mithilfe der Architekten William Thornton und Benjamin Latrobe umgesetzte und 1826 weitgehend fertiggestellte Academical Village besteht aus zwei parallel geführten zweigeschossigen Pavillons – Unterrichts- und Wohnstätten jeweils eines Professors für jede der 10 Fakultäten –, die unter sich durch Arkadengänge verbunden sind (□ 49). Zwischen den Reihen erstreckt sich der Lawn, ein geordneter Park, von parallelen Baumreihen bestanden. Hinter den Pavillons gehen als englische Gärten gestaltete Terrains ab, die zu einer zu den Pavillons parallel geführten Reihe von zumeist eingeschossigen Hotels und Studentenhäusern führen. Die Hotelbauten wiederum wenden ihre Hauptfront rückwärtigen Erschließungsstraßen zu. Die Längsachse des Lawn mündet an der nördlichen Schmalseite in den Ziel- und Hauptbau der Anlage, die
□ 49 Charlottesville, University of Virginia, Thomas Jefferson, William Thornton und Benjamin Latrobe, 1817 – 26, Schema der Gesamtanlage nach Alden Hopkins
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Universitätsbibliothek in Form einer exakt im Maßstab 1 : 2 verkleinerten Kopie des römischen Pantheons. Es handelt sich also um eine im Wesentlichen durch die Gartenlandschaft bestimmte Anlage, in der geordnete und freie Gestaltungen miteinander verbunden sind: Der auf die Bibliothek gerichtete Freiraum des Lawn dient als ein öffentliches Forum im Grünen, während sich die Gärten an der Peripherie als frei gestaltete Reformnutz- und ziergärten im Sichtschatten der Arkadengänge darstellen. Alle Pavillons haben zwar jeweils einen gewissen Abstand voneinander und sind insofern klar als Einzelbauten innerhalb einer Reihe konzipiert, allerdings variieren diese Distanzen leicht, ebenso wie die architektonische Struktur jedes einzelnen Gebäudes. Alle weisen einen ähnlichen farblichen Grundakkord aus Backsteinmauern und weißen architektonischen Gliederungen auf. Palladianische Grundmotive, insbesondere der kompakte quadratische Grundriss zu zwei Geschossen sowie
die Markierung der Vorderfront durch eine zumeist übergiebelte Säulenvorhalle, geben hier das Grundvokabular ab, ohne sich dabei monoton zu wiederholen. Selbst die Säulenordnungen wechseln ab, auch ist die Portikus zumeist mithilfe über zwei Geschosse reichender Kolossalsäulen aufgebaut, doch auch das gilt nicht einheitlich. Gleichwohl ist darauf geachtet, dass alle Details, vor allem die Kapitellformen, exakt antiken Vorbildern entsprechen. Die Pavillons, im Erdgeschoss Lehrsäle und darüber eine Professorenwohnung enthaltend, sind also Anschauungsmaterial einer als ideal erachteten architektonischen Kultur der Antike. Insgesamt ergibt sich in der Sicht vom Lawn auf die Bibliothek eine klare, aber von leicht variierten Bauten gesäumte Perspektive. Als point-de-vue fungiert die Rotunde der Bibliothek, effektvoll durch mehrere Stufen leicht erhöht gegen die Landschaft dahinter aufragend ( □ 50). Auch hier ist der Bezug auf den seit jeher verehrten römischen Rundtempel ebenso klar wie individuell akzentuiert. Der grundsätzliche proportionale Aufbau ist identisch, denn in beiden Fällen ist der Kuppelradius gleich der Kuppelhöhe. Insofern lässt sich das Bauwerk im Grundriss wie im Aufriss in einen Kreis und ein Quadrat einschreiben. Allerdings weist Jeffersons Säulenvorhalle nur sechs statt acht Säulen auf, im Inneren sind drei Ebenen eingezogen, deren obere durch eine rund umlaufende Galerie auf korinthischen Säulen gebildet wird. Das Musterbeispiel harmonisch proportionierter Architektur, seit der Spätantike allen Heiligen geweiht, dient in seiner Umdeutung durch Jefferson als Universum des Wissens – als Bibliothek und zugleich lehrhafte Veranschaulichung des Kosmos: In der inneren Kuppelschale sollte ursprünglich nämlich ein Planetarium angebracht werden. □ 50 Charlottesville, University of Virginia, Thomas Jefferson, William Thornton und Benjamin Latrobe, 1817 – 26, Lawn und Bibliothek
III. Schlüsselwerke
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Man kann die grundsätzliche Anlage mit europäischen Vorbildern vergleichen, etwa der untergegangenen Schlossanlage in Marly bei Paris, bei der ebenfalls eine breite Gartenanlage von Pavillons begrenzt und auf den Hauptbau des Schlosses orientiert war. In der Tat hatte Jefferson als Botschafter in Europa insbesondere Frankreich und seine Architektur intensiv studiert. Auch war er bereits früh mit den architekturtheoretischen Werken Andrea Palladios sowie den damals neuen archäologischen Erkundungen in Pompeji und Athen vertraut. Doch handelt es sich bei dem Universitätscampus von Virginia trotzdem nicht um eine formale Übernahme europäischer Gartenkonzepte. Entscheidend ist vielmehr Jeffersons durch und durch aufklärerische Auffassung von öffentlicher Bildung. Diese – intensiv an antiken Maßstäben gemessen – stellt den Kern eines funktionierenden republikanischen Gemeinwesens dar, in dem unbeeinflusst von irrationalem Eigennutz der Ausgleich zwischen privaten Eigeninteressen und gemeinschaftlicher Verantwortung gelingen muss. Bildung stellt insofern das Fundament von Freiheit – also dem Kernelement der Amerikanischen wie der Französischen Revolution – dar, weil erst eine umfassende Bildung dieses Ideal erkennen und also auch fördern lasse. Entsprechend vereinen sich in Charlottesville anschaulich Individualität und Ordnung, erhabene Geste und pittoreske Vielfalt. Keiner der Pavillons sticht hervor, alle erscheinen gleich und doch jeweils individuell. Das architektonische Zentrum ist keine Kirche und auch kein Schloss, sondern eine Bibliothek – Fundament von Gleichheit und Freiheitlichkeit. Auch das Baumaterial hat republikanische Konnotationen: Der verwendete Backstein ließ sich trotz des Mangels an kompetenten Bauhandwerkern relativ einfach produzieren und einsetzen und vermied zudem Anlehnungen an steinerne Prachtbauten des europäischen Adels. Hinzu kommt jedoch auch eine geradezu emphatische Verehrung
der unermesslichen und weitgehend noch unerschlossenen amerikanischen Landschaft, die Jefferson und andere in den Kriterien des Erhabenen und Pittoresken erfuhren. Insofern komplettieren die vielfältigen Ausblicke in die weite Landschaft der sog. Neuen Welt die Rückbezüge auf die verehrte Antike, die mit den Bauten vermittelt wird. Auch die Gesamtkonzeption entspricht antiken Vorgaben, ohne sie formal zu kopieren. Denn mit der Auflösung eines kompakten, massiven Baublocks in einzelne villenartige Gebäude im Grünen, durch Säulengänge verbunden, folgte Jefferson einem aus der römischen Antike entnommenen Ideal, das in der villa suburbana, dem Landhaus vor der Stadt, Gestalt angenommen hat. Unbeschwert vom geschäftigen Treiben und den dienstlichen Verpflichtungen (dem negotium) inmitten der tobenden Stadt war hier in der luxuriösen Beschaulichkeit der Landvilla erholsame und unbeschwerte Zerstreuung (otium) möglich. Jefferson hat dies auch in seinen Privatbauten eindrücklich umgesetzt: Vor allem in seinem zweiten Landhaus in Monticello, 1796 bis 1809 errichtet, ist dies deutlich (□ 51): Inmitten eines weiten, botanisch sehr bewusst angelegten Gartens erhebt sich auf insgesamt einem Rechteck angenäherten Grundriss eine Villa aus rotem Backstein. An den Längsseiten springt jeweils eine blendend weiße Säulenportikus vor, auf der Gartenseite wird der dahinter liegende achteckige Salon von einer Achteckkuppel bekrönt. Der Bau wirkt einfach und klar, in Wirklichkeit entfaltet sich im Inneren ein wohlkalkuliertes Raumprogramm, dessen Zimmer dem gelehrten Studium, der musealen Präsentation verschiedenster Naturalien, Kunstwerke und ethnographischer Artefakte (indianische Kunst!) sowie einer gediegenen Gastlichkeit dienen. Die Anordnung der Räume und ihre großen Fenster sind auf den Tagesverlauf der Sonne und den umgebenden Garten und die Landschaft dahinter ausgerichtet, der Baukörper greift über
Monticello und Virginia University
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□ 51 Monticello, Landhaus Jefferson, Thomas Jefferson, voll. 1809
seitliche terrassierte Gänge weit in die unmittelbare Umgebung ein. Mit der Übernahme solcher Konzepte in die Universitätsarchitektur unterschied sich Jefferson klar von den Kollegien und höheren Bildungseinrichtungen der Alten Welt, die zwar in den englischen Colleges durchaus klosterartig um einen großen, begrünten Hof gruppierte Gebäude (Oxford, Cambridge) kannten. Auf dem Kontinent waren Universitätsgebäude aber kompakte Gebäudeensembles, Schlössern und Palästen ähnelnd und solchermaßen repräsentative bauliche Gefüge der Wissenschaften. Auch eine Kirche als geistlicher Bezugspunkt dieser Universen fehlte hier nicht, ganz anders als bei Jefferson. Eine bezeichnende Zwischenstufe zwischen den europäischen Traditionen und den in den USA neu begründeten stellt übrigens das Union College der Universität Schenectady (New York) dar, die Joseph-Jacques Ramée 1813 als aufgelockerte Palastanlage um einen riesigen, halbkreisförmig schließenden Campus-Park errichtete (Rückbrod 1977). Jeffersons Campuskonzepte sollten für viele spätere Universitätsanlagen in Nordamerika und später der ganzen Welt wirksam werden
III. Schlüsselwerke
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(Berkeley, Stanford, Harvard, Yale, Ohio State University, Columbus; University of British Columbia, Vancouver), vor allem aber wirkten sie auch auf andere mit dem Namen Jefferson verbundene Architekturen in den USA. Hier ist an erster Stelle die Anlage der neuen Hauptstadt Washington zu nennen, wo sich Jefferson mit einem eigenen Entwurf beteiligte. Auch wirkte er auf den grundlegenden Bebauungsplan des französisch-amerikanischen Architekten Pierre-Charles L’Enfant in hohem Maße ein. Dieser sah vor, als Kern der neuen Stadt ein immenses begrüntes Band – die sog. Mall – anzulegen, an dessen Ostende sich das Kapitol erheben sollte. In ihrem Westteil führte von Norden eine weitere Grünachse lotrecht auf die Mall; hier sollte sich zurückgesetzt das Haus des Präsidenten, das Weiße Haus, erheben. Im Kreuzungspunkt der beiden Achsen war ein Reitermonument für George Washington geplant – leicht davon abgerückt sollte das Monument in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s als riesenhafter Obelisk entstehen. Zu Seiten der Mall waren schon im Ursprungsplan eine Reihe von Sitzen nationaler Institutionen und Botschaften geplant. Die National Mall als architektonisch geordnete und unmittelbar
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anschauliche Repräsentation der Verfassungsorgane sollte das Zentrum der neuen Hauptstadt abgeben. Mit der Realisierung dieses Planes wurde umgehend begonnen, doch 1901 setzte im Zuge der City Beautiful-Bewegung die Errichtung der prächtigen Randbebauung ein. Diese in einen weiten Landschaftsgarten gesetzte, über Achsbeziehungen höchst aussagekräftige Architektur erinnert unmittelbar an das Academical Village, und wie hier wurden auch in Washington europäische Vorbilder – vor allem die Pariser Place de la Concorde mit ihren Bezügen zum Tuilerienschloss einerseits und zur Madeleinekirche andererseits – zu einem völlig neuen Gesamtensemble umgeformt. Um den Kern der Hauptstadt wurde ein regelförmiges Straßenraster mit diagonalen Hauptachsen
angelegt, welches die Bundesstaaten mithilfe der Straßennamen evozierte, und zwar derart, dass die Lage der Straße innerhalb der Stadt der topographischen Anordnung im neuen Staatenbund entsprach. Washington bildet also gleichsam ein städtebauliches Abbild der USA. Von zentraler Bedeutung war indes auch hier der Naturbezug, denn beide Hauptachsen waren, vergleichbar zur Universität von Virginia, nicht allseitig geschlossen, sondern liefen in die heroische Natur weiter, in die Ufer des Potomac im Westen und Süden und die dahinter sich erhebenden Berge. Bis zu ihrer Umgestaltung seit 1901 war die Mall im Wesentlichen ein immenser Landschaftsgarten geblieben, und auch heute dominiert dieser Charakterzug unverkennbar.
Das Alte Museum in Berlin Das Museum als neue Bauaufgabe
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er Baugattung des Museums – und insbesondere des Kunstmuseums – kommt unter den zahlreichen neuen Bauaufgaben seit etwa 1800 eine besondere Aussagekraft für ein verändertes kulturelles Bewusstsein zu, das bis heute ungebrochen wirkt. Die Gründe liegen in einem neuen Status der Kunst, die zum einen als Teil der Geschichte entdeckt wurde – und dabei deren Entwicklung in sublimierter Art als Teil der Zivilisation ausdrückte. Zum anderen aber kam zu Anfang des 19. Jh.s die Betrachtung von Kunst vielfach einer religiösen Handlung gleich: Nachdem es – gemäß der Erkenntnistheorie Kants – unmöglich geworden war, das Göttliche und Geistige direkt zu schauen und zu verstehen, konnte dieses nur indirekt anhand des Irdischen und Materi-
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ellen wahrgenommen werden. Wenn Kunst als dessen erhabener, gleichsam gereinigter Ausdruck gelten konnte, sollte nunmehr mit ihrer Hilfe die Welt in ihrem tieferen Sinne erfasst werden. Es versteht sich von selbst, dass die bislang als Aufbewahrungsorte für Kunstwerke genutzten fürstlichen Kuriositätenkabinette solch einer neuen Funktion kaum gerecht werden konnten, sondern eine der religiösen Aufgabe angemessene Präsentationsstätte entwickelt werden musste. Ein Drittes kam hinzu: Die nachrevolutionäre bürgerliche Gesellschaft, die sich in Nationalstaaten neu konstituierte und von einer patriotischen Begeisterung getragen wurde, wollte sich einer jeweils eigenen historischen Identität versichern, die gerade auch im Kunstbesitz sichtbar wurde – ein kul-
Das Alte Museum in Berlin
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tureller Schatz, der nunmehr auch für alle Mitglieder der Gesellschaft zugänglich sein sollte. Auch das musste die neue Bauaufgabe des Museums leisten. Ein besonders frühes und inhaltlich vielschichtiges, zugleich künstlerisch sinnreich geformtes und entsprechend berühmtes Beispiel stellt das Alte Museum in Berlin dar, in den Jahren 1822 bis 1830 von Karl Friedrich Schinkel unter dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. konzipiert und errichtet. Zwar waren schon zuvor Museen eingerichtet worden, so etwa 1793 die ehemals königliche Sammlung des französischen Königs im Louvre, bzw. eigenständige Museumsbauten konzipiert und errichtet worden. Dazu zählen etwa das Museo Pio Clementino im Vatikan (1771) oder das Museum Fridericianum in Kassel (1779, heute einer der Veranstaltungsorte der Documenta). Von Etienne-Louis Boullée (von Engelberg 2013, S. 323 – 326) oder Jean-Nicolas-Louis Durand waren großartige Museumsprojekte theoretisch entworfen worden. Doch in seiner Eigenschaft als öffentliches Museum, das eine umfassende Kunstsammlung in würdiger Weise der Öffentlichkeit präsentiert, steht Schinkels Gebäude am Anfang einer langen, noch längst nicht abgebrochenen Reihe des Museumsbaus |▶ 18, 48, 49|. Schon die Planungsgeschichte zeigt sehr signifikante Wendungen. Seit 1797 war eine Zusammenführung der königlichen Sammlungen, bislang in den verschiedenen Schlössern und teilweise unzureichend untergebracht, in Angriff genommen worden. Ziel der von dem Akademieprofessor Aloys Hirt betriebenen Unternehmung war es, die Künstlerausbildung in Berlin dadurch zu verbessern, dass alle verfügbaren Vorbilder zum Studium an einem Ort zusammengeführt wurden. Als Gebäudestandort war das sog. Kastanienwäldchen am Ostende der Straße Unter den Linden vorgesehen, unmittelbar neben der Akademie der Schönen Künste und dort, wo sich wenig später die Neue Wache Schinkels erheben sollte. An
III. Schlüsselwerke
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dem Wettbewerb dafür beteiligte sich neben anderen Architekten auch schon der junge Schinkel, der einen rechteckigen Vierflügelbau mit zwei Rotunden und einer Giebelvorhalle entwarf. Dieses Projekt, stark an den idealen französischen Vorbildern orientiert, sollte die Grundlage für den ausgeführten Entwurf abgeben. Die napoleonische Eroberung verhinderte die Ausführung dieser Pläne, doch wurde dies umso vehementer nach dem Sieg über Napoleon gefordert: 1817 waren die durch ihn geraubten Kunstwerke wie Trophäen nach Berlin zurückgeführt worden. Und zugleich hatte eine gezielte Ankaufspolitik vor allem italienischer und altdeutscher Kunst sowie von antiken Werken eingesetzt. All diese Bestände sollten nun auch der Öffentlichkeit präsentiert werden. Zunächst plante man nunmehr eine Zusammenführung von Akademiegebäude und Kunstmuseum am alten Areal Unter den Linden. Auch hierfür legte Schinkel 1822 einen Entwurf vor. Trotz der Forderungen nach einer öffentlichen Präsentation der Sammlungen setzte diese Planung weiterhin die Traditionen einer Studiensammlung für Gelehrte und Künstler fort, wie allein daraus deutlich wird, dass Museum und Akademie in einem Gebäudekomplex untergebracht werden sollten. Hier prallten unterschiedliche Konzepte aufeinander, die nicht nur zu Raumnot führen mussten, sondern sich in einer langwährenden Kontroverse zwischen Hirt und Schinkel niederschlagen sollten: Elitäre Künstlerausbildung stand dem Kunstgenuss einer egalitären Bürgerlichkeit gegenüber. 1822/23 wagte Schinkel durch einen radikalen, direkt dem König vorgelegten Konzeptionswechsel erfolgreich den Ausbruch aus dem Dilemma. Er schlug einen neuen Standort vor und pflanzte dadurch den Keim zu der zukünftigen Museumsinsel: Das Museumsgebäude sollte sich nunmehr nördlich des Lustgartens, also der – allerdings zum Exerzieren genutzten – Parkanlage auf der Nordseite des Schlosses auf der Spreeinsel erheben. Auch
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wenn Schinkel diese Standortverlegung gegenüber dem König mit höchst pragmatischen Argumenten rechtfertigte, bedeutete sie eine weitreichende Konzeptionsänderung, die die Umgebung der Hohenzollernresidenz und das Zentrum des preußischen Königreiches völlig umgestaltete. Schinkel hatte diese Aufwertung schon kurz zuvor begonnen: Die Schlossbrücke zwischen dem Schloss und den Linden, bislang ein hölzerner Übergang, wurde 1819 als steinerne, skulpturenbesetzte Brücke zu einem zwischen der Residenz und der Prachtallee vermittelnden Scharnier. Der Dom, ein querrechteckiger Saal mit zentraler Kuppel an der Ostseite des Lustgartens, erhielt durch Schinkel eine aufwertende Ausgestaltung, u. a. vermittels einer zentralen Giebelportikus. Vor allem aber wurde der Lustgarten zu einer gärtnerisch gestalteten Parkanlage von zentraler Qualität, die nach allen Achsen bedeutungshafte Perspektiven und Bezüge entwarf: Der Ausfahrt der Linden im Westen und dem barocken Zeughaus am Westufer der Spree steht der Dom als Ostabschluss des Parks gegenüber. Diese Achse wird in nord-südlicher Richtung überkreuzt von der Bezugnahme von Schlossfassade und Museum. Zeughaus, Dom, Schloss und Museum umschließen ein weites, dezidiert öffentliches Areal und machen somit grundsätzlich neue Konstellationen im Kräftefeld zwischen Militär, Kirche, Aristokratie und Bürgertum erlebbar. Der Hauptakzent liegt dabei aber zweifellos auf Schinkels Museum: Nicht nur wirkt der Lustgarten wie die Ouvertüre zu dessen Schaufront, sondern mit deren heller, durch Südlicht belichteten Säulenkolonnade gibt das Museum klar den Hauptakzent ab. Das Museumsgebäude, ab 1824 errichtet und 1830 eingeweiht, bildet einen sehr einfachen, leicht querrechteckigen, breit gelagerten Kubus, dessen fünf Flügel im Inneren zwei Innenhöfe ausbilden (□ 52). Den zentralen Flügel bildet eine breite Rotunde, deren Kuppel über das Gebäude hinausragt, allerdings von au-
□ 52 Berlin, Altes Museum, Karl Friedrich Schinkel, 1824 – 1830, Grundriss von Sockel, Haupt- und Obergeschoss
ßen nicht sichtbar ist, da sie von einem flach gelagerten attikaähnlichen Geschoss verblendet wird. Während alle nicht auf den Platz gerichteten Außenseiten von größter Schlichtheit sind, zieht die Südfassade in ihrer subtilen Originalität und einladenden Transparenz umso mehr Aufmerksamkeit auf sich: Über dem sehr hohen Sockelgeschoss bietet sich die Front als eine in voller Höhe und über die gesamte Breite verlaufende Vorhalle, die seitlich durch Antenmauern eingefasst wird (□ 53). 18 monumentale Säulen ionischer Ordnung sind in regelmäßiger Reihung in diese breit gelagerte Öffnung
Das Alte Museum in Berlin
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□ 53 Berlin, Altes Museum, Karl Friedrich Schinkel, 1824 – 30, Fassade zum Lustgarten
eingestellt und bilden eine symbolische Grenze zwischen innen und außen, ohne dabei abzuschließen. In dem Säulengang, immer wieder mit dem antiken Wandelgang einer Stoa verglichen, waren bis zum Zweiten Weltkrieg Wandbilder nach Schinkels Entwurf ausgeführt, die die Entwicklung der Menschheit darstellten. Zu der Wandelhalle führt eine hohe, das Sockelgeschoss überwindende Freitreppe von einem Drittel der Gebäudebreite. Nach Durchschreiten der Halle kommt man über eine hohe, von vier Vorhallensäulen gestützten Öffnung in das Treppenhaus, unmittelbar vor der zentralen Rotunde gelegen: Die doppelarmige gegenläufige, einmal gewendete Treppe nimmt ihren Anlauf im rückwärtigen Treppenlauf, so dass man zunächst über einen kurzen, dunklen Korridor das Treppenmassiv durchqueren muss, um dann nach der Treppenwendung wieder in Richtung des zum Freien gelegenen äußeren, von Tageslicht beschienenen Laufs zu gelangen. Auf dem abschließenden Podest befindet man sich in ungewöhnlicher Nähe zu den Kapitellen der inneren Vorhallensäulen und hat zugleich einen weit über die Stadt reichenden Ausblick – auf das Panorama von Dom, Lustgarten, Schloss, die Linden und das Zeughaus (□ 54). Innen und Außen, Natur und Architek-
III. Schlüsselwerke
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tur verschmelzen ebenso würdig wie annehmlich miteinander. Von dem oberen Treppenabsatz führen seitlich Türen zu den Schauräumen des Oberschosses, ehemals der Gemäldegalerie gewidmet; das mittlere Portal aber geht auf die Empore der Rotunde, der Klimax der sukzessiven, erlebnishaften Erfahrung des Museums. Die Rotunde, zweigeschossig und von einer durch 20 korinthische Säulen getragenen Empore innen umlaufen, versteht sich als eine klare Referenz auf das römische Pantheon. 117 n. Chr. errichtet und später als Kirche allen Heiligen geweiht, galt der berühmte Rundtempel seit der Renaissance als Inbegriff der römischen Antike |▶ 1, 3|. Bei aller Eindeutigkeit der Bezugnahme Schinkels (Proportionen, kassettierte Tonne, runde Scheitelöffnung) gibt es aber eine Reihe von Veränderungen, vor allem das Einziehen der Innenempore und eine ganz andere Wandgliederung. Das bewunderte Vorbild wurde den museologischen Nutzungen angepasst, denn hier standen die besten der antiken Skulpturen der Berliner Sammlung. Schinkels Museum will also trotz aller Strenge und trotz einer Reihe höchst pragmatischer Aspekte – so verdeckt es z. B. die Hafenanlagen auf dem Nordteil der Spreeinsel, und seine Untergeschosse sollten sogar als Lagerflächen die-
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nen – ebenso empfindsam erlebt wie intellektuell verstanden werden: Die einladende Öffnung der Fassade, das würdevolle Aufsteigen im Treppenhaus, das emphatische Eintreten in Rotunde und Sammlungsräume sollen ebenso genussvoll ‚gefühlt‘ werden wie die gelehrten Verweise auf die Architekturgeschichte entschlüsselt werden wollten. Dementsprechend ist diese Hinführung zu den Spitzenleistungen der Kunstgeschichte begleitet durch programmatische Wandgemälde und Skulpturen, die die Rolle der Kunst in der Zivilisation allegorisch vorführen. Vor allem aber sind auch die unverkennbaren Bezüge auf vorbildliche Architekturen – die Athener Stoa, das römische Pantheon, französische Museumsentwürfe sowie zahlreiche ‚korrekt‘ wiedergegebene Details der Säulenordnungen usw. – nicht als bloße gelehrte Zitate zu verstehen. Sie sind als unverzichtbare Leistungen der Architekturgeschichte vielmehr integriert in ein durch und durch neues Gesamtensemble, das städtebaulich, in der inneren Erschließung, aber auch in der museologischen Konzeption gleichermaßen intelligent gestaltet ist. Schinkel ging es darum, mit dem emphatischen Appell seiner Architektur dem fast religiösen Status von Kunst gerecht zu werden. Darin war er nicht unumstritten, denn Hirt zum Beispiel sollte, getreu seiner Auffassung, das Museum solle primär der Künstlerausbildung dienen, den luxuriösen Aufwand des Baues kritisieren. Auch um die Präsentation der Kunstwerke gab es eine bezeichnende Debatte. Die Hängung nach historischen ‚Schulen‘ implizierte ein primär intellektuelles Verstehen der Kunst, Schinkel hingegen ging es im Benehmen mit dem ersten Direktor Gustav Friedrich Waagen ebenso um ihr genussvolles Erlebnis an einem dafür angemessen gestalteten Ort. Dies entsprach auch der Position von Wilhelm von Humboldt, der diese ästhetische Erziehung als ethische Grundlage begriff und das staatliche Bildungswesen Preußens darauf ausrichtete.
Die Debatten um die Rolle des Museums zu Anfang des 19. Jh.s waren nicht auf Berlin beschränkt, in München etwa gab es ähnliche Auseinandersetzungen um den Bau der Glyptothek und der Neuen Pinakothek |▶ 5|. In der Folgezeit allerdings wird die wissenschaftlich-historische Perspektive zur bestimmenden und den Ausbau der Berliner Museumsinsel befördernden Position. Unmittelbar nördlich hinter dem Alten Museum wird 1841 – 59 durch den Schinkelschüler Friedrich August Stüler das Neue Museum errichtet. Es dient dazu, die ägyptischen und frühgeschichtlichen Werke, das Kunstgewerbe (Münzen und Medaillen) und die Gipssammlung im Kontext einer vielschichtigen historischen Entwicklung der Menschheit und der Künste zu präsentieren. Es folgte 1863 – 76 die ebenfalls von Stüler entworfene Alte Nationalgalerie neben dem Neuen Museum, um die zeitgenössische deutsche Kunst präsentieren zu können. 1904 wurde das Kaiser-Friedrich-Museum (heute Bode-Museum) an der Nordspitze der Insel nach einem Entwurf von Ernst von Ihne eröffnet. Die beträchtlich gewachsenen Sammlungen vor allem mittel-
□ 54 Berlin, Altes Museum, Karl Friedrich Schinkel, 1824 – 1830, Blick vom Treppenhaus durch die Kolonnade
Das Alte Museum in Berlin
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alterlicher Kunst wurden hier in historisierenden Sälen untergebracht |▶ 18|. In der Lücke zwischen Neuem Museum und Kaiser-Friedrich-Museum wurde schließlich das Perga-
mon-Museum 1907 – 30 erbaut (Alfred Messel), eine Art Erweiterungsbau, der vor allem der Erwerbung des kolossalen hellenistischen Pergamonaltars geschuldet ist.
Die Öffentlichkeit als Bauherrin Bauverwaltung und soziale Verpflichtung
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is in das 18. Jh. war geregelte Bauverwaltung eine Seltenheit. Zwar benannten insbesondere größere Kommunen Stadtbaumeister, doch wechselnde Ressorteinteilungen und Amtsbefugnisse sowie unklare Finanzierungsmodi und inkompetente Mitarbeiter behinderten weitgehend planvolles Bauen bzw. machten den jeweiligen Herrscher zur leitenden Instanz. Im Laufe des 18. Jh.s gab es zur Verbesserung der wirtschaftlichen Infrastruktur auf regionaler Ebene Landbaumeister, die die Aufsicht über Wirtschaftsbauten und Befestigungen übernahmen. Angesichts der wachsenden Erkenntnis, dass ein Gemeinwesen der Wohlfahrt bedürfe und insofern in ökonomischer und technologischer Hinsicht effizient zu führen sei, entwickelte sich etwa in Preußen seit 1770 ein Oberbaudepartement als Prüf- und Genehmigungsbehörde öffentlicher Bauvorhaben. Dies wiederum erforderte professionelle Kompetenz der Mitarbeiter und beförderte auch die fachliche Kommunikation, etwa über Zeitschriften („Sammlung nützlicher Aufsätze und NachrichThemenblock · ten, die Baukunst betreffend“, Medien, S. 77 f.), sowie die Einrichtung von Bauhochschulen, in Preußen die 1799 gegründete BauakaThemenblock · Architektenausbildung, demie ( S. 140 f.). 1804 wurde das Oberbaudepartement in die Oberbaudeputation auf Ministerialebene umgewandelt. Daraus entstand schließlich 1848 ein veritables Bauministerium nach dem Vorbild des 1830 eingerichteten französischen Ministère des Travaux publiques. Bis um 1900 entstanden schrittweise auf jeder Verwaltungsebene (Staat, Länder, Städte) Bauämter, in denen verbeamtete Bauspezialisten gemäß einer Bauordnung das Bauwesen kontrol-
III. Schlüsselwerke
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lierten. Die Kriterien waren insbesondere die technische und hygienische Eignung von Bauvorhaben, die Einhaltung der jeweiligen Bauvorschriften, die Vereinbarkeit mit Flächennutzungsplänen und die ästhetische Qualität. Obwohl diese von Beamten geleiteten Bauverwaltungen im 20. Jh. oftmals als Behinderung von Innovation und Originalität gebrandmarkt wurden, bestand und besteht die Hauptleistung von Bauverwaltungen darin, Bauen als eine Aufgabe der Gesellschaft staatlich kompetent zu regeln, also nicht dem Wildwuchs von Einzelinteressen oder den Gefahren von mangelnden Fachkenntnissen zu überlassen, wie das weiterhin vielfach in Schwellenländern zu beobachten ist. Gerade in der Frühzeit haben Baubeamte bemerkenswerte Innovationen geleistet, etwa Karl Friedrich Schinkel als Mitglied der Oberbaudeputation, der eine Reihe von ökonomisch verantwortungsbewussten Standardtypen für Kirchen und Wohnhäuser entwickelte. In der Weimarer Republik entfalteten gerade Stadtbauräte wie Ernst May in Breslau und Frankfurt/M., Bruno Taut in Magdeburg oder Martin Wagner und Bruno Taut in Berlin |▶ 30| eine äußerst innovative Tätigkeit, die sich in einem gesunden Massenwohnungsbau, aber auch der Förderung von modernen Infrastruktureinrichtungen (z. B. Straßenbahn in Frankfurt, Strandbäder Wannsee und Müggelsee in Berlin) niederschlug. Auch heute haben Stadtbauräte bzw. Stadtbauverwaltungen einen teilweise bedeutenden Einfluss auf städtebauliche Prinzipien bzw. Einzelprojekte. So förderte etwa Hans Stimmann in Berlin nach der Wiedervereinigung eine entschieden traditionsverbundene – keineswegs unumstrittene – Erneuerung der Stadt.
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Residenz und Ludwigstraße in München Der Historismus des Auftraggebers
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echnischer und sozialer Fortschritt, Bildung und historisches Bewusstsein stehen am Anfang des 19. Jh.s in engem Zusammenhang – und zwar gerade auch bei manchen Monarchen des 1803/06 aufgelösten Hl. Römischen Reichs Deutscher Nation. Spätestens mit dem Wiener Kongress, der nach der napoleonischen Herrschaft über weite Teile Europas die politische Einteilung Deutschlands in zahlreiche Fürstentümer festlegte, traten diese in eine durchaus produktive Konkurrenz miteinander. Das betrifft auch und gerade die Residenzstädte, die in vielen Fällen ihre alten, einschnürenden Befestigungsanlagen schleifen und damit ihre Gebiete erweitern, wobei sich Identitäten und Images ausbilden, die bis heute wirksam sind. Insofern hat etwa die sprichwörtliche Konkurrenz zwischen Bayern und Preußen eine historische Grundlage in Gestalt zweier innovativer, aufgeklärter Monarchien, die in puncto Bildung, Verkehr und Wirtschaft vergleichbare Wege gehen. Dieses soll sich auch sichtbar und unabweisbar in den Residenzstätten niederschlagen: als Werk gebildeter Staatsführer gleichermaßen wie als Resultat einer wirkungsvollen und umfassenden staatlichen Administration. Der Fall München kann insofern parallel zu Berlin verstanden werden, denn in beiden Fällen nimmt hier im zweiten Jahrzehnt des 19. Jh.s eine umfassende städtebauliche Erweiterung der Hauptstädte ihren Ausgang, verbunden mit der Errichtung programmatischer Gebäude. Im Vergleich zu Berlin geht diese Expansion in München aber sehr viel weiter und ist historisch sehr viel pointierter mit einem Monarchen zu verbinden: Ludwig I., der das seit 1806 als Königreich bestehende Bayern von 1825 bis
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1848 regiert und auf der Grundlage eines intensiven, allerdings eigenwilligen historischen Interesses seine Hauptstadt umfassend vergrößert und neu gestaltet. Der maßgebliche Architekt für diese Aufgaben war Leo von Klenze (1784 – 1864), der zu Recht als das bayerische Pendant zu Schinkel in Preußen anzusehen ist: Das gesamte Areal im nordwestlichen Sektor vor der Altstadt, die Maxvorstadt, geht auf seine Stadterweiterungen zurück. Das umfasst im Einzelnen die Anlage des Königsplatzes im Westen, mit dem Antikenmuseum und der Glyptothek und einem neuen Stadttor nach dem Vorbild der Propyläen auf der Athener Akropolis. Von hier aus führt die Achse der Brienner Straße bis an die alte Residenz am Nordrand der Altstadt. Vom dortigen Odeonsplatz aus erstreckt sich die Ludwigstraße als neue lange Prachtachse nach Norden, führt über das Siegestor in das Umland, wo sie zunächst von der pappelbestandenen Ausfallallee Leopoldstraße fortgesetzt wird. Auf dem Terrain zwischen diesen Achsen entstehen zwei höchst innovative Museumsneubauten: die Alte und die Neue Pinakothek. Den bezeichnenden städtebauliche Ausgangs- und Brennpunkt für diese städtische Neugliederung bildet aber sinnvollerweise der Umbau der alten fürstlichen Residenz, eine der ausgedehntesten Schlossanlagen Mitteleuropas. Ehemals außerhalb und in Opposition zur Bürgerstadt um Rathaus und Frauenkirche gelegen, wird die Residenz nunmehr zum Scharnier zwischen Altstadt und ludovizischer Erweiterung. Auf dem Gelände zwischen den beiden Stadtteilen befand sich ursprünglich das Franziskanerkloster. Dieses musste dem von Carl von Fischer 1810 – 18 unter Maximilian I. errichteten neuen Hoftheater
Residenz und Ludwigstraße in München
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□ 55 München, Residenz, Königsbau, Leo von Klenze, 1826 – 35
(heute Bayerisches Nationaltheater) weichen. Aber erst die Umbautätigkeit Klenzes an der Residenz seit 1826 schuf eine höchst aussagekräftige städtebauliche Situation. Es handelte sich um eine regularisierende Ummantelung der alten Residenz, die also im Kern bewusst erhalten wurde. Nach Süden hin errichtete Klenze 1826 – 35 den sog. Königsbau, der die (zeremoniellen) Privatgemächer der Königsfamilie enthielt und eine breite Schaufront rechtwinklig zur Säulenhalle des Nationaltheaters ausbildet (□ 55). In ihren Rundbogenfenstern in deutlicher Geschossgliederung sowie der wuchtigen Rustikaverkleidung zitiert diese Front den Palazzo Pitti in Florenz. Insgesamt entstand damit südlich vor der Residenz ein großzügiger Platz mit dichtem Aussagegehalt, nach Westen begrenzt von der Bildungseinrichtung des Theaters und im Norden von der Altstadt. Die Gemächer des Monarchen wandten sich nunmehr der Stadt zu, und die Bezüge auf die Erbauer des Florentiner Vorbildes, die Familie Medici, sollten Ludwig als vergleichbaren kunstsinnigen Mäzen ausweisen. Klenze band
III. Schlüsselwerke
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die Fassade des Königsbaus klug in die westliche Kontur der Residenz ein, die hier entlang der Dienerstraße ein Beispiel der deutschen Renaissance ist. Nach Osten fügte Klenze die Allerheiligenhofkirche gemäß normannisch-byzantinischen Inspirationen Ludwigs an. Im Norden wurde die Residenz durch den sog. Festsaalbau reguliert, der die neuen Empfangssäle der Residenz enthielt und entsprechend im Stile eines monumentalen Palladianismus gestaltet ist. Ganz gemäß diesem höfisch-festlichen Charakter wurde die alte Gartenanlage davor zu dem von Arkadengalerien gerahmten Hofgarten umgebaut. Westlich vom Nordteil der Residenz und dem Hofgarten sowie gegenüber der barocken Theatinerkirche öffnet sich der rechteckige Odeonsplatz, von dem aus die Ludwigstraße als prächtige Ausfallstraße nach Norden sowie die Briennerstraße nach Westen ihren Ausgang nehmen. Die Residenz fungiert also einerseits als eine ‚volkstümliche‘ Anbindung der staatlich-monarchischen Institutionen an die Bürgerstadt – auf prinzipiell vergleichbare Maßnahmen populärer Traditionsschaffung
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durch Ludwig gehen viele heute zum Klischee erstarrte Einrichtungen wie das „Oktoberfest“ zurück. Zum anderen schuf Klenze mit dem Odeonsplatz ein unzweifelhaft aristokratisches Ambiente: Stilistisch angemessen erhebt sich auf der Westseite das für den Schwiegersohn des Königs von 1816 – 21 errichtete Leuchtenbergpalais als ein großer Block in – damals ungewöhnlichen – Formen der italienischen Renaissance. Von hier aus wurde eine weitere Erschließung der Ludwigstraße in Form von luxuriösen Wohngebäuden in klassizistischen Palais betrieben. Allerdings hatte man sich bei diesen Investitionen verrechnet – der Markt für exklusive Wohnungen war um 1830 saturiert. Im Zusammenhang mit solchen finanziellen Schwierigkeiten und dem autokratischen Selbstverständnis des Königs, vor allem aber mit konzeptionellen Änderungen der Ludwigstraße ist auch der plötzliche Wechsel von Klenze zum seither von Ludwig favorisierten Architekten Friedrich von Gärtner zu sehen. Mit der
Thronbesteigung Ludwigs 1825 sollte die Ludwigstraße gemäß den Prachtstraßen der Pariser Champs-Elysées und dem Berliner Lindenboulevard verlängert werden und durch ein Prachttor als Landstraße weitergeführt werden. Die seit 1827 zunächst für einen Standort am Königsplatz geplante Staatsbibliothek kommt nun an die Ostseite der Ludwigstraße zu stehen und wird dort 1832 bis 1843 errichtet (□ 56). Nach Norden folgt die für das neu erschlossene Wohnviertel notwendige Pfarrkirche, die Ludwigskirche Gärtners von 1829 – 44, in Anlehnung an die italienische Spätgotik (□ 57). Als Abschluss der Prachtstraße und als Pendant zum Odeonsplatz folgt schließlich das Universitätsforum, zunächst als runder Platz in Anlehnung an die Place de l’Étoile in Paris geplant, doch aus funktionalen Erwägungen rechteckig gestaltet. Den Platz umschließen die Gebäude der durch Ludwig I. von Landshut nach München transferierten Universität sowie des Priesterseminars Georgianum. Nördlich des Univer-
□ 56 München, Staatsbibliothek, Friedrich von Gärtner, 1832 – 43
Residenz und Ludwigstraße in München
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□ 57 München, Ludwigskirche, Friedrich von Gärtner, 1829 – 44
sitätsforums, in der Mitte der Straße, erhebt sich als symbolische Stadtgrenze das Siegestor (1834 – 52, Gärtner), eine klare Referenz auf den Anfang der Champs-Elysées in den Tuileriengärten des Louvre. Hier steht der an römischen Triumphbögen (Konstantinsbogen) orientierte Arc du Carrousel (1807 – 09), und das Siegestor nimmt das in seinen Formen unmissverständlich auf. Es antwortet städtebaulich auf die Feldherrnhalle (1841 – 44, Gärtner) als dem südlichen Abschluss des Odeonsplatzes zwischen Theatinerkirche und Residenz – auch diese eine klar als solche erkennbare Architekturkopie, nämlich der Loggia dei Lanzi in Flo-
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renz aus dem späten 14. Jh. Im Gegensatz zu der Bebauung Klenzes im südlichen Teil der Ludwigstraße mit ihren isolierten Einzelpalais eignet den Gebäuden Gärtners in der Nordhälfte eine neue und radikale Großformigkeit und fast monotone Regelmäßigkeit: Die Staatsbibliothek bildet eine langgestreckte flache Fassade aus, deren Horizontalität durch markante Geschosstrennungen in drei Ebenen noch betont wird. In jedem dieser Geschosse reihen sich rundbogige Fenster, absolut regelmäßig, ohne jegliche Rhythmisierung. Abrupt springt aus dieser abweisenden, geraden Mauerflucht in der Gebäudemitte eine doppelläufige Freitreppe als festlicher Eingang in den Außenbereich der Straße (□ vgl. 56). Auch nach dem Eintreten in das Gebäude zeigt sich die strenge Monumentalität der Staatsbibliothek, denn von hier aus führt eine mächtige einarmige Treppe in einem steil proportionierten Treppenhaus zu den Lesesälen im Obergeschoss. Auch die Universitätsgebäude weisen nüchterne, durch gleichmäßige Reihen von Rundbögen gegliederte Fassaden auf. Selbst wenn diese Nüchternheit auch auf Vorlieben des Auftraggebers zurückgeht, so entwirft Gärtners sog. Rundbogenstil insgesamt eine innovative rasterartige Modularchitektur, die sich vor allem funktionalen Erwägungen beugt: Hinter den Fassaden ist eine flexible Raumeinteilung möglich, die Rundbögen spenden ausreichend Licht, ohne die Wand als Innenbegrenzung aufzuzehren. Die Formen können im Einzelnen zwar auf historische Vorlagen bezogen werden, doch insgesamt wollen diese Gebäude nicht mehr programmatisch ideale Vorbilder oder Epochen evozieren. Das zeigt sich besonders deutlich an der Ludwigskirche (□ vgl. 57), die zwar Einzelmotive der italienischen Sakralarchitektur des Mittelalters zeigt, z. B. Fensterrosen oder Mosaikschmuck. Doch unterliegt das alles einer strengen rechteckigen Rasterung durch Gesimse und Lisenen, zumal die doppeltürmige Fassade sich trotz ihrer Breite flach in die Straßenkontur einfügt und in bo-
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gengeöffneten Flügelbauten fortgesetzt wird. Insgesamt kann man das Ensemble aus Residenz und Ludwigstraße als ein immenses Museum der Weltarchitektur begreifen, das, aus der Bildungsbeflissenheit des Fürsten entstanden, zum einen der für jede Bauaufgabe angemessenen Repräsentation dient: florentinisch als Ausweis des Mäzenatentums, französisch für hochstehende Wohngebäude, palladianisch für Festsaaltrakte. Zum anderen sind diese Bauten inhaltlich und symbolisch durch Skulpturen und Wandmalereien ergänzt, die eine ideale, aber komplexe Geschichte der Welt und Bayerns erzählen und sich auf das Haus Wittelsbach und die (militärische) Stärke Ludwigs I. beziehen. All das ist aber in hohem Maße öffentlich ausgestellt, dient der Bildung der Passanten und der Einbindung Münchens in ein
Netz historisch vorbildlicher Kulturen. Insofern ist der sich hier äußernde Historismus das Pendant zu den durchgreifenden frühen Denkmalpflegemaßnahmen ( Themenblock · Denkmalpflege, S. 154 f.) unter Ludwig sowie zu den ‚richtigen‘ Museumsbauten, die der König errichten ließ: Glyptothek, Alte und Neue Pinakothek. Doch beginnen sich mit Gärtner die historischen Versatzstücke zu isolieren. Sie werden neu und tlw. in unendlicher Reihe zusammengesetzt und lassen insoweit die Präsentation von Einzelstücken zusammenschmelzen in ein städtebauliches Gesamtensemble, das im nördlichen Teil der Ludwigstraße im raschen Vorbeiziehen in großer Emphase als eine Einheit zu begreifen ist, die den Bezug auf Vorbildensembles nur stellenweise – wie am Siegestor – als wichtig erachtet.
Houses of Parliament in London Architektur und Monarchie
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ie Verwendung historischer Stile im 19. Jh. geschieht nicht nur, um damit gelehrte Verweise auf eine aus politischen oder religiösen Gründen verehrte oder als ideal erachtete Vergangenheit zu geben. Ebenso wichtig war eine emotionale Erfahrbarkeit dieser Architekturen, und dies galt in besonderem Maße für den Einsatz mittelalterlicher Stile. Das emphatische oder empfindsame Erleben pittoresker Ensembles und Atmosphären bildete ja schon im Landschaftsgarten, in dem gotische Bauten und Versatzstücke zum Grundrepertoire gehören |▶ 1|, einen entscheidenden Faktor. Im Zuge der nationalen Begeisterungen in Folge der Befreiungskriege – also dem Ende der napoleonischen Herrschaft über Europa – vermischen sich Mittelalterbegeisterung, roman-
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tische Überhöhung der Kunst als Religion und Patriotismus, und dies wird in vielen Ländern auf mittelalterliche oder neumittelalterliche Architekturen projiziert. In ihrer Gesamtwirkung von beeindruckenden Raum- und Lichteffekten sowie Wandmalereien und Skulpturen eignen sich gerade gotische Räume für solch pittoreske Ensembles. Das gilt auch für die Vollendung von mittelalterlichen Bauten, die nunmehr an vielen Orten energisch betrieben wird: Von zahlreichen, sich wandelnden Bedeutungsschichten durchzogen ist hierbei insbesondere die Vollendung des Kölner Doms, seit 1815 als neukatholische und patriotische Aktion initiiert, 1842 begonnen und 1880 schließlich als Symbol der Reichseinigung vollendet. Prinzipiell vergleichbare Vollendungsunternehmen
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gibt es aber auch in Italien (Fassaden der Dome von Florenz und Mailand), Spanien (Fassade der Kathedrale von Barcelona) und Frankreich (Vollendung und Ausbau der Kathedrale von Clermont-Ferrand oder des Schlosses von Pierrefonds). Die neugotischen Neubauprojekte sind Legion, doch stehen auch sie sehr häufig in Verbindung mit der patriotischen Stimmung nach 1815, wie zum Beispiel Schinkels Entwürfe eines riesigen gotischen Denkmaldoms für den Leipziger Platz in Berlin zum Gedenken an die Befreiungskriege verdeutlicht. Auch in England, wo das Gothic Revival schon seit der Mitte des 18. Jh.s als sentimentale Rückversetzung in eine glorreiche Vergangenheit eingesetzt wurde (von Engelberg 2013, S. 314 – 317), wird die Neugotik im 19. Jh. zu einer monarchisch konnotierten historischen Stimmungslandschaft. So gilt dies zumindest für eine der viktorianischen Weltarchitekturen in London, die auch heute noch Symbol des englischen Regierungssystems ist: den Houses of Parliament am linken Themseufer, neben Westminster Abbey. Optisch und akustisch ist das riesige Gebäude nachgerade zu einem allgemein bekannten Erkennungszeichen von London geworden: Der Glockenturm des Big Ben ist allgemein sichtbar und tönt zugleich in charakteristischer Klangfolge. Die neugotische Formensprache des Palastes gibt insgesamt das bestimmende pittoreske Element der Londoner Ufer-Skyline ab. Die Erbauung des Palastes (1835 – 60) wurde notwendig, weil 1834 der Vorgängerbau – der königliche Westminster Palace mit dem Parliament’s House – durch einen spektakulären Großbrand weitgehend vernichtet wurde. Umgehend machte man sich unter der Leitung einer eigenen Kommission an die Neuerrichtung und Neustrukturierung des Gebäudes. Obwohl sich auch andere Standorte angeboten hätten, sollte der Neubau am Standort des alten Parlaments entstehen und diese Kontinuität insbesondere auch durch den Stil kenntlich machen: Verpflichtend vorgegeben war nämlich der goti-
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sche Stil des 13.–15. oder aber der sog. elisabethanische Stil des 16. Jh.s. Als Sieger ging der Entwurf von Charles Barry hervor, der diese inhaltlichen Vorgaben intelligent gestalterisch weiterführte. Nach zahlreichen Erweiterungen seines Urentwurfs stellt sich der Komplex als ein langgestrecktes Gebäude dar, das zwei Reihen von Höfen umschließt. Auf der Flussseite erstreckt sich eine hauptsächlich durch Eckpavillons gegliederte Front, an den Schmalseiten erheben sich zwei markante Türme: im Süden der mächtige Victoria Tower als königlicher Zeremonialzugang zum Oberhaus, im Norden der berühmte Glockenturm mit der großen Uhr und der großen Glocke, dem Big Ben. Auf der Westminster Abbey zugewandten Seite im Westen hat Barry den riesigen mittelalterlichen Versammlungssaal, Westminster Hall, erhalten, auf dem Standort der südlich angrenzenden St Stephen’s Chapel wurde die St Stephan’s Hall errichtet. Sie bildet einen majestätischen Zugang zu der Mitte des Gebäudes, der achteckigen, von einem weiteren Turm bekrönten Central Lobby (□ 58). Von dieser aus erstrecken sich die beiden Haupträume in dem Mittelflügel des Gebäudekomplexes, der Versammlungssaal des Oberhauses nach Süden, derjenige des Unterhauses nach Norden. Als Stil für sein Gebäude wählte Barry sehr geschickt den sog. perpendicular style, eine überaus typische englische Spielart der Gotik, die sich durch vertikal angeordnete, reich durchbrochene Maßwerkdekorationen auszeichnet. Damit war zum einen den Vorgaben der Baukommission hervorragend Genüge getan, denn Barrys Neugotik verbindet sich bruchlos mit dem erhaltenen ehrwürdigen Gebäude der Westminster Hall aus der Zeit um 1400. Zum anderen erweist sich das kleinteilige, aber auf zu komplizierte Maßwerkformen verzichtende Idiom als hervorragend geeignet, um jeder Grundrissform gerecht zu werden; mehr noch, dieser Stil erlaubte auch anspruchsvolle Räume, in denen zahlreiche Nischen und Rahmenfelder für dekorative Skulp-
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□ 58 London, Houses of Parliament, Charles Barry, 1835 – 60, Ansicht aus der Luft
turen, Wappen und Wandmalereien eingebracht werden können. Sehr gut ist das in der Central Lobby (□ 59) zu studieren, deren acht Seiten gleichmäßig von acht Spitzbögen gebildet werden, die abwechselnd als Zugangsportale bzw. als reich belichtende Maßwerksfenster ausgefüllt sind. Zusammengefasst wird der Raum durch ein kompliziertes Sterngewölbe. Durch und durch erscheint das Äußere wie das Innere als eine perfekte neugotische Anlage, in der zudem alles korrekt aus einer immensen Vorlagensammlung gotischer Bauskulptur entnommen und stimmig zusammengefügt ist. Diese Ausstattung ist das Werk eines der wesentlichen Wortführer des Gothic Revival, Augustus Welby Northmore Pugin. Beeinflusst durch die katholische Reformbewegung in England (eigene Konversion zum Katholizismus 1835) propagierte Pugin die ‚Wahrhaftigkeit‘
und Schönheit der gotischen Architektur. Diese ergebe sich konsistent aus Gebäudefunktion und Konstruktion, sei zudem katholisch und landestypisch. Vor allem in seinen 1836 – also zeitgleich zum Baubeginn am Parlamentsgebäude – erschienenen Werk „Contrasts“ zeigt Pugin in kontrastierenden, überaus polemischen Illustrationen, wie das Abweichen von den Prinzipien gotischen Bauens in der klassischen Architektur vom Auseinanderfallen von Bauform und -funktion, von Protestantismus und sozialem Niedergang, Industrialisierung und Revolutionen begleitet gewesen sei. Diese Sichtweise – die Dekadenz der Gegenwart durch die Wiederherstellung mittelalterlicher Zustände aufzuhalten – versteht sich nicht nur als eine Kunsttheorie, sondern als eine umfassende politische und soziale Botschaft. In der Kunstreformbewegung der Arts-and-Crafts-Be-
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□ 59 London, Houses of Parliament, Charles Barry, 1835 – 60, Central Lobby
wegung wird diese weltweite Wirkkraft entfalten |▶ 11|. Vor allem fügt sich die Position Pugins in eine damals durchaus gängige Mittelalterbegeisterung, die sich insbesondere in adeligen Kreisen höchster Beliebtheit erfreute: Mit mittelalterlichen Kostümen, Ritterspielen und Lektüren (z. B. Thomas Carlyle: „Past and Present“, London 1843) war eine zwar fiktive, aber alle Lebensbereiche umfassende Verankerung im Mittelalter möglich. Solche Aspekte gelten aber in besonderem Maße auch für das Parlamentsgebäude: Es steht nicht nur auf dem Ort der alten Königsresidenz, innerhalb derer
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das Parlamentsgebäude nur einen Teil abgegeben hatte, sondern konserviert die alte Königshalle und überträgt deren Stil auf die Neubauten. Dass es bei den Houses of Parliament schwerpunktmäßig um die Rolle eines sakral überhöhten Königtums und nicht so sehr um diejenige der verfassungsmäßigen Legislative ging, machen noch andere Aspekte deutlich: Pugins Thron und der an einen breiten, goldverzierten Schirm angebrachte Thronbaldachin als zentrales Ausstattungsstück im Oberhaus haben einen fraglos sakralen Charakter. Der große Turm im Süden, Victoria Tower (ehem. King’s Tower), dient als monumentales Portal für königliche Zeremonien, vor allem die Eröffnung des Oberhauses. Und zahllos sind die Skulpturen, die Monarchen der englischen Geschichte zeigen. Wenn man sich vor Augen führt, dass unmittelbar vor der Errichtung des Parlamentspalastes Volksaufstände England erschüttert hatten, die Industrialisierung ihre ersten Höhepunkte erreicht hatte und in den Great Reform Acts Zugeständnisse an untere Bevölkerungsschichten gemacht werden mussten, so ist das neue Parlamentsgebäude eine kolossale Inszenierung einer angeblich besseren Zeit, in der der Monarch die Geschicke eines Landes bestimmte, das als frei von den Problemen der Moderne erachtet wurde. Insofern sind die Houses of Parliament in ihrer Entstehungszeit auch weiterhin ein königlicher Palast. Da aber in Wirklichkeit dort die beiden Parlamentskammern tagten und ihre verfassungsmäßigen Aufgaben erfüllten, und auch Königin Victoria in ihrer langen Amtszeit das Parlamentsgebäude lediglich aus Anlass der vorgesehenen Zeremonien betrat, übernahmen es das neugotische Gebäude und seine perfekte Ausstattung, die rückwärtsgewandte Utopie eines monarchischen und adeligen Mittelalters emotional und theatralisch zu inszenieren. Als seit dem Ende des 19. Jh.s die politische Bedeutung des Königtums gegenüber den demokratischen Instanzen weiterhin abnahm, tat dies der
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Signifikanz und Funktionstüchtigkeit des Parlamentsgebäudes keinen Abbruch. Es wandelte sich gleichsam zu einem Museum oder einem „hohlen Filigran“, wie es John Ruskin ausdrückte, dessen Pracht und ästhetische Stimmigkeit indes dafür sorgen, dass hier bis heute das unangefochtene Symbol des englischen Parlamentarismus wahrgenommen werden kann. Die pittoreske Neugotik als Stil für repräsentative Parlamentsbauten hatte eine bedeutende Nachfolge, selbst wenn seit dem letzten Drittel des 19. Jh.s klassizistische, breit gelagerte und von einer hohen Tambourkuppel bekrönte Paläste in Anlehnung an das amerikanische Capitol ein vielfach angewandtes, sofort erkennbares Schema bildeten. Gerade auch in den jungen Staaten in Südamerika ist dies zu sehen (Buenos Aires, Montevideo). Ein
mächtiger neugotischer Palast entstand als klare Referenz auf das Londoner Vorbild aber für das kanadische Parlament in Ottawa (Thomas Fuller u. H. C. Jones, 1859 – 67) – auch als programmatischer Ausdruck der Zugehörigkeit Kanadas zum britischen Commonwealth. Auch in Budapest rekurrierte der Architekt Imre Steindl für das neue Parlamentsgebäude (1883 – 1902) auf London. Die ungarische Hauptstadt war damals die zweite Residenz des Österreich-Ungarischen Riesenreichs. Mit der langen, turmbesetzten Front entlang der Donau, in der zwei Parlamentssäle axial angeordnet sind, und durch die markante zentrale Kuppel folgt die Disposition sogar sehr genau Barrys Londoner Anlage, aber eben nicht dem wenig älteren Wiener Parlament mit seiner griechischen Formensprache |▶ 13|.
Erstes und zweites Hoftheater in Dresden Wege der Neorenaissance
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er weltberühmte Bau der sog. Semperoper, neben der Frauenkirche das Wahrzeichen der Stadt Dresden, lässt in dem Glanz und der Pracht, in der er heute erscheint, leicht übersehen, dass in seinem Kern weitreichende neue Ideen für das Theater enthalten sind, verbunden mit den Reformen Richard Wagners. Dass das Theater weniger als Ort gesellschaftlicher Repräsentation und Geselligkeit, sondern als Institution gemeinschaftlicher, ja demokratischer Bildung und moralischer Erbauung zu begreifen sein solle, und insofern auch eine genau darauf abgestimmte räumliche Hülle benötigt, verdankt man wesentlich dem ersten Gebäude von Gottfried Sempers königlichem Hoftheater in Dresden, das allerdings bald
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durch ein zweites ersetzt wurde, welcher unser Bild der Dresdner Oper prägt. Die Diskussion um einen Neubau für das anspruchsvolle, aber baulich unzureichend untergebrachte Dresdner Hoftheater hatte sich über das gesamte erste Drittel des 19. Jh.s erstreckt, als der junge, 1834 eben zum Professor und Vorstand der Bauschule der königlichen Akademie berufene Gottfried Semper den Auftrag erhielt, einen Aufstellungsort für das Denkmal Friedrich Augusts I. zu ermitteln. Der Architekt nutzte die Aufgabe für eine komplette Umplanung des vom sog. Italienischen Dorf bestandenen Areals nördlich des Schlosses, zwischen Zwinger und Elbe. Ziel war die Schaffung eines Kulturforums, ähnlich wie dies in Berlin am
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Ostende der Linden seit dem späten 18. Jh. zur Verwirklichung gekommen war. Semper plante, an die Ostseite des Zwingers zwei parallele Flügel in Richtung Elbe anzuschließen, von denen einer die Gemäldegalerie, der andere die Orangerie und Skulpturensammlung aufnehmen sollte. Dazwischen hätte effektvoll das Kronentor des Zwingers einen point-de-vue abgegeben. An der nördlich gelegenen Orangerie sollte das neue Theater anschließen. Dieses Kulturforum kam allerdings nicht zustande, die ebenfalls von Semper entworfene Gemäldegalerie sollte schließlich, um 90 ° gedreht, 1839 – 55 als Osttrakt den Zwingerhof schließen. Der ursprünglich geplante Theaterbau wies eine Reihe bemerkenswerter Eigenschaften auf: Im Wesentlichen bestand er aus einem kubusförmigen Bühnenhaus, an das als Halbzylinder der Trakt des Zuschauersaals anschloss. Dessen Disposition folgte einer halbkreisförmigen Anlage der Logenränge und zweier, diese umlaufender, übereinander angeordneter Ringfoyers. Semper folgte in diesem Vorentwurf einer reformierten, bereits von Schinkel, Goethe und Tieck geforderten, aber erst um 1900 als sog. Reliefbühne wieder diskutierten Bühnenkonzeption. Die übliche Tiefenbühne sollte nur noch der Ort von Kulissen und Prospekten sein, den eigentlichen Hauptspielort hingegen das Proszenium, die Vorbühne, abgeben. Diese sollte durch stark abgeschrägte Bühnenrahmen mit architektonischer Gliederung eingefasst werden, über die die Bühne auch direkt betreten werden konnte. Die Proszeniumslogen mit schlechten Sichtbedingungen sollten entfallen. Zuschauer und Spieler wären also aufeinander ausgerichtet gewesen: Die halbrunde Sitzanordnung erlaubt gute Sichtbedingungen von allen Seiten, die Bühne mit dem dramatischen Geschehen ist nach vorne in Richtung des Zuschauersaals gerückt. Semper beabsichtigte damit, vor allem antike Bühnenkonzepte wiederzubeleben: ein Auditorium, das sich von halbkreisförmig geführten Sitzplätzen aus
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konzentriert dem Bühnengeschehen widmen kann, welches auf einer breit gelagerten Bühne (skene, proscenium) vor einer architektonisierten Wand, der scenae frons stattfindet. Dezidiert steckte dahinter die Idee einer demokratischen Teilhabe am Theater, wie es zu dieser Zeit in Dresden von Ludwig Tieck und Eduard Devrient konkret vertreten wurde. Entsprechend verzichtete Semper auch auf alle Nobilitierungen in Form von Fürstenlogen oder Prachteingängen. Auch die Rundfoyers sind, ganz anders als die festsaalartigen Foyers der meisten bürgerlichen Theater |▶ 12|, Wandelhallen, die zur Diskussion und Unterhaltung einladen. Diese Bühnenkonzeption wurde nicht realisiert. Bis 1841 kam dennoch ein bemerkenswerter Bau zur Ausführung. Zahlreiche akribisch unternommene Maßnahmen im Inneren sollten eine perfekte Akustik gewährleisten. Auch war Semper, der sich eben in diesen Jahren intensiv mit der malerischen Wirkung farbiger Architektur beschäftigte (vgl. S. 82), auch um eine gediegene, „anmuthige“ (Malgrave 2001, S. 134) Farbwirkung des Inneren bemüht, die hauptsächlich auf den Akkord Weiß und Grau mit goldenen Akzenten abgestimmt war. Die klare Struktur der Gesamtdisposition wurde dadurch erweitert, dass seitlich Vestibüle und Treppenhäuser inklusive einer Vorhalle angelegt wurden (□ 60). Diese hielten zum einen die markante Exedrastruktur des Zuschauersaals nach außen frei, zum anderen wurde ihr dreigeschossiger Aufbau durch ein Querdach bzw. einen Dreiecksgiebel nach oben abgeschlossen, so dass das Theatergebäude nun auch seitliche Fassaden erhielt. Ähnlich war die ‚Rückseite‘ gegliedert. Sempers Hoftheater folgte also insgesamt in seiner klar gegliederten Außenstruktur sehr konsequent den inneren Funktionseinheiten. Damit entsprach Semper aktuellen Theaterbauten, etwa in Mainz (1833) und Antwerpen (1834), die ihrerseits auf Entwürfe von Jean-Nicolas-Louis Durand oder Pietro Sangiorgio für das Teatro al Corso
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□ 60 Dresden, Ansicht des ersten Hoftheaters, Gottfried Semper, 1841 voll. (Gemälde von Chr. G. Hammer, 1845)
in Rom (1821) zurückgingen. Sempers Theater verbindet diese Disposition aber mit einem damals neuen Stilidiom, der Neorenaissance. Die äußere Gliederung wird durch gleichförmig umlaufende Bogenreihen mit vorgeblendeter Kolonnade, dem sog. Tabulariumsmotiv, gebildet und erinnert somit an italienische Renaissancearchitektur des frühen 16. Jh.s. Hier wird nicht prunkvoll akzentuiert, sondern die Gleichförmigkeit der Arkaden zum demokratischen Programm. Für Semper war die Renaissance aber vor allem auch eine Neubelebung der Antike – analog zu dem, was er selbst betrieb – und so erinnern die übereinandergelegten Arkaden auch an römische Amphitheater, etwa das Colosseum in Rom. Das antike Amphitheater mit seinen großen arkadenbesetzten Fassaden ist somit städtebaulich wirksam zu einer bürgerlich-demokratischen Bauaufgabe umformuliert. Semper führt als weiteren Grund für die Verwendung von Hochrenaissanceformen auch an, dass sie auf den mit Shakespeare verbundenen Aufschwung des Theaters im 16. Jh. verwiesen. Schließlich war dieser
Stil ein ‚neutrales‘ Idiom, das der „chamäleontischen Färbung“ (Semper 1849, S. 10) des Theaterbaus – mal Komödie, mal Tragödie zu umschließen – am ehesten gerecht wurde. Und in der Tat fügte sich das Theater mit seiner riesigen Rundung bestens zu den großen, bugartigen Exedren der benachbarten Großbauten des Zwingers bzw. der katholischen Hofkirche. Sempers Hoftheater ging in mehrerer Hinsicht mit Richard Wagners Konzeption des Gesamtkunstwerks überein, die dieser – seit 1842 Kapellmeister in Dresden, in dessen Hoftheater auch einige frühe Opern uraufgeführt wurden! – 1850 in seinem Aufsatz „Das Kunstwerk der Zukunft“ veröffentlicht hatte (Mallgrave 2001, S. 138 – 139). Als Weihestätte eines erneuerten Festspiels, das vom ganzen Volk zu erleben sei, müsse eine tempelgleiche Architektur, das Theater, dienen. Hier habe unter den besten akustischen und optischen Bedingungen ein vollständig illusionistisches Drama zur Aufführung zu kommen, in dem Wort, Gesang, Musik, Tanz, Skulptur und Bühnenbild sich zu einem kontinuierlichen, also
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□ 61 Dresden, Zweites Hoftheater, Gottfried Semper, 1871 – 78 (in Weiß die Umbauten der Nachkriegszeit)
nicht durch Pausen und virtuose Gesangseinlagen unterbrochenen Gesamtkunstwerk zusammenfügen. Semper und Wagner vereinte die Konzentration auf das Bühnengeschehen, der demokratische Anspruch eines neuen Theaters und die Vorbildlichkeit der Antike. Nicht umsonst sollte Semper später intensiv an Plänen eines Richard-Wagner-Festspielhauses für München arbeiten. 1848 beteiligte sich Semper ganz gemäß seiner vormärzlich-demokratischen Einstellung an der Revolution in Dresden, wurde aus dem Freistaat verbannt und musste ins Exil gehen. 1869 brannte das Hoftheater ab. Angesichts Sempers künstlerischer Reputation und dank der Aufhebung des Steckbriefes 1863 erhielt er den Auftrag, einen Neubau zu errichten, der von 1871 bis 1878 realisiert wurde (□ 61, 62). Gegenüber dem ersten Theater springt der Bau deutlich zurück, gibt deswegen die Sicht auf die mittlerweile errichtete Gemäldegalerie frei. Ansonsten übernahm Semper viele Eigenheiten des alten Projekts, vor allem die Grunddisposition als mächtiger Kubus mit prägnanter Exedra. Allerdings tritt diese nur
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noch als Kreissegment in Erscheinung, und auch der Zuschauersaal hat den Grundriss eines auf einer Schmalseite segmentbogenförmig schließenden Rechtecks. Demgemäß treten die nunmehr sehr raumhaltigen Vestibül- und Treppenhäuser an die Seiten des Zuschauertraktes, wodurch es umgekehrt möglich wird, das Bühnenhaus als (u. a. auch feuerschutztechnisch) eigenständigen Bereich zu gestalten. Das Bühnenhaus mitsamt seiner Technik steigt nunmehr prägnant als eigener bekrönender Bauteil über die umgebenden Bauteile des Theaters und selbst der Umgebung hervor. Insgesamt ist der zweite Theaterbau sehr viel reicher instrumentiert. Die ‚Grundtonart‘ ist weiterhin die Architektur der italienischen Hochrenaissance, doch erscheint sie nunmehr ‚volltönender‘ als beim Vorgängerbau. In Anlehnung an die Gemäldegalerie sind Erdgeschoss und Seitentrakte mit einer kräftigen Rustizierung versehen, die Pilaster im unteren sowie die Säulen im oberen Foyer erscheinen gedoppelt. Vor allem ist die Gebäudeachse platzseitig durch eine monumentale Nische ausgezeichnet, die – auf dem großen Rundbogen des Hauptportals im Erdgeschoss aufsitzend – die zweite Foyerreihe weit überstreicht und in einer monumentalen Figurengruppe gipfelt. Die Panthergruppe mit Dionysos und Ariadne (von Johannes Schilling) versinnbildlicht das im Theater sich ereignende Zusammengehen von Eros und Drama. Diese Nische dient als Austritt vom oberen Rundfoyer, das im Vergleich zum unteren einen sehr viel opulenteren Charakter annimmt. Es verbindet gleichsam schwingend die beiden aufwendig mit frei stehenden Doppelsäulen orchestrierten seitlichen Vestibüle, auf die großzügige Doppeltreppen führen. Im Inneren des Zuschauersaals hat die Außennische ihr Pendant in Form einer großartigen königlichen Galaloge, direkt gegenüber der Bühne. Diese wird in durchaus konventioneller Manier durch Proszeniumslogen begleitet, in doppelter Säulenstellung sich aufbauend. Hinzu kommt eine intelligent kon-
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zipierte, komplexe bildnerische Ausstattung des Gebäudes, die programmatisch vom Thema der durch die Liebe verführten Kunst (Ariadne und Apollon) in die verschiedenen Stufen von Tanz, Gesang und Rausch – quasi vom Apollinischen zum Dionysischen oder, auf die Erschließung des Gebäudes bezogen: vom Dezenten zum Opulenten – führt. Nicht zuletzt in seiner ausgefeilten technischen Ausstattung im Bereich von Bühne und Beheizung steht auch das zweite Dresdner Hoftheater neben den fast gleichzeitigen Opern in Wien (1861 – 69, August Sicard von Sicardsburg und Eduard van der Nüll) und Paris (1874, |▶ 12|. Im Vergleich hierzu zeigt sich der Dresdner Bau in einer damals unisono emphatisch hervorgehobenen Klarheit: Alle wesentlichen Bestandteile – Foyer, Treppenhäuser, Vestibül, Zuschauerraum –kommen in einer logisch strukturierten, zudem stadträumlich beherrschenden Gesamtkomposition zum Ausdruck. Die gut ablesbare,
in ‚Hochrenaissance-Gewändern‘ gekleidete Konstruktion kann man aber auch mit Sempers Bekleidungstheorie verbinden. Nach dieser lässt sich die Geschichte der Kunst und Architektur als ein beständiges, bestimmten Formgesetzen folgendes ‚Maskieren‘ der materiellen und strukturellen Realität, die dadurch ‚vernichtet‘ wird, begreifen (vgl. S. 83, Malgrave 2001, S. 316 – 317). Wie auch die Theater- und Opernaufführung selbst die Realität verhülle und die Alltagswirklichkeit ‚vernichte‘, kann man das Hoftheater selbst als eine theatralische Inszenierung begreifen, die, vergleichbar einer ephemeren Festarchitektur, in der sublimierenden Umhüllung der Konstruktion ihre eigentliche Aufgabe sieht. Damit markiert Sempers Hoftheater ein sensuelles und emotionelles, von der Evokation, von Stimmung und Atmosphäre gekennzeichnetes Architekturverständnis, das bis zum Jugendstil reichen wird (vgl. S. 17 f.).
□ 62 Dresden, sog. Semperoper, Gottfried Semper,
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Bibliothèque Ste-Geneviève in Paris Stein und Eisen
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m 19. Jh. entstand eine Wissensgesellschaft, die eine sich zunehmend ausdifferenzierende Wissenschaft als Erklärung, Beherrschung und Umgestaltung der Welt einsetzte. Das Medium dieses Wissens war das gedruckte Buch, dessen technische Entwicklung sich damals rapide beschleunigte. Die Druckkapazitäten wie die Informationsfülle stiegen an, Letzteres vor allem dank einer stetigen Verbesserung der Qualität gedruckter Bilder: von der Lithographie und dem Stahlstich bis hin zur Entwicklung fotomechanischer Druckverfahren. Diese Bücher als Medien der Wissenschaft waren und sind koordiniert zu sammeln und zugänglich zu machen: Dies stellt bis heute die Aufgabe der Bibliothek als Verwahrungs- und Konsultationsort des Wissens dar. Natürlich reicht die Bauaufgabe der Bibliothek bis in die Antike zurück und hat eine ungebrochene Kontinuität in den Kloster- und Hofbibliotheken (z. B. in Rom, Wien, Paris, Waldsassen, St. Gallen, Mafra) und bald auch den universitären Büchersammlungen (Cambridge, King’s College; Göttingen, Universitätsbibliothek; Coimbra, Biblioteca Joanina). Doch veränderten sich im 19. Jh. die Rahmenbedingungen beträchtlich. Zum einen gingen nach der Säkularisation die alten Kloster- und Hofbestände in staatlichen Besitz und staatliche Verwaltung über: Das ließ z. B. in Paris, München oder Berlin die Bestände sprunghaft anwachsen und verlieh ihnen den Status eines öffentlichen Gutes. Der Zugang dazu war seither zumindest prinzipiell jedermann gestattet, und der Zweck der Bibliotheken war nunmehr primär auf die Bildung ausgerichtet, während der frühere Aspekt der symbolischen Repräsentation durch gelehrte Büchersammlungen in den Hintergrund trat. Hinzu kam die
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steil ansteigende Buchproduktion, die bibliothekarisch systematisiert und organisiert sein wollte. Somit sah sich der Bautypus der Bibliothek mit einer Reihe neuer Anforderungen konfrontiert: Als öffentliches Gebäude musste es (feuer)sicher sein und einer großen Zahl von Lesern gute Lesebedingungen (Licht zu allen Tageszeiten, Heizung) verschaffen. Hinzu kamen gestiegene Bedürfnisse hinsichtlich der Magazinierung (Größe, Zugänglichkeit, Klimatisierung) und der Verwaltung. In dieser Hinsicht ist die Bibliothèque Ste-Geneviève in Paris ein vorbildliches, weil konsequent mit neuen Materialien und Techniken errichtetes Bauwerk. 1838 war Henri Labrouste, ihr künftiger Erbauer, der Architekt der Klosterbibliothek der in der Revolution aufgehobenen Abtei Ste-Geneviève geworden. Inmitten des Pariser Universitätsviertels gelegen, diente die Büchersammlung den Studierenden der Sorbonne, war allerdings völlig unzureichend in den alten Abteigebäuden untergebracht. Nach verschiedenen Vorstudien zwischen 1839 und 1842 erfolgte die Grundsteinlegung 1843, bis 1850 wurde die neue Bibliothek fertiggestellt. Der Standort nördlich des Panthéons, wo sich ein altes Gefängnis befand, wurde vollständig freigelegt, so dass der Bau frei stehen konnte. Er ist von einer, von den Zeitgenossen bisweilen kritisch vermerkten Nüchternheit (□ 63): Ein überlanger Block (21 × 85 m) zu zwei Etagen, gegliedert in 19 × 4 Achsen erstreckt sich, ohne weitere Vor- und Rücksprünge, unmittelbar nördlich des Pantheons (von Engelberg 2013, S. 318 – 322). Die untere Etage von äußerster Schlichtheit wird durch ein geradezu monoton erscheinendes Band von Festons nach oben
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□ 63 Paris, Bibliothèque Ste-Geneviève, Henri Labrouste, 1843 – 50, Außenansicht
abgeschlossen. Auf dieser Ebene befinden sich die Magazin- und Verwaltungsräume sowie ein quer durch die Gebäudemitte verlaufendes, durch ein Rundbogenportal zu betretendes Vestibül, das zu einer rückwärtig in einer Konche angelegten Treppe führt, über die man in das Obergeschoss gelangt (□ 64). Und dieses umschließt nun einen einzigen, in zwei Schiffe eingeteilten Hauptraum, den Lesesaal, ursprünglich angelegt für 600 Leser und 80 000 Bücher (plus 40 000 im Erdgeschoss magazinierte). Die besondere Bedeutung dieses Hauptraumes teilt sich auch am Äußeren mit, denn die Wände des Oberschosses bestehen aus gleichförmigen Arkaden auf schlanken Mauerstücken. In der unteren Hälfte der Bogenöffnungen erscheinen, gleichsam wie eine Brüstung eingesetzt, fünf Meter hohe Mauern, an denen im Inneren die Buchregale angebracht sind. An der Außenseite sind in regelmäßigen Zeilen und zu je drei Spalten geordnet die Namen von 810 Autoren eingraviert. Es handelt sich um
eine Art monumentalen Katalog der wichtigsten Verfasser, deren Werke in der Bibliothek zu konsultieren sind. Allerdings folgen die Namen nicht einer alphabetischen Ordnung, sondern einer chronologischen, beginnend mit Moses und endend mit dem damals gerade verstorbenen Chemiker Berzelius. Die Buchaufstellung im Inneren erscheint also symbolisch auch auf der Außenseite und bildet hier – anders als in den damals üblichen allegorischen Bildhauerarbeiten – eine Art konzeptueller Dekoration, die die Aufgabe des Baues verdeutlicht. Die Fassade verweist – allerdings ohne jedes Pathos – auf eine internationale Geschichte der Gelehrsamkeit, die zu pflegen und deren Werke bereitzustellen Aufgabe der Bibliothek ist. Der obere Teil der Bögen ist jeweils durch Fenster geöffnet, die das Innere des Lesesaals generös und von allen Seiten mit Licht versorgen. Diese Außenseite des Lesesaals bildet aber auch konsequent die innere Konstruktion ab: Das bemerkenswert weit erscheinende Innere wird
Bibliothèque Ste-Geneviève in Paris
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134 □ 64 Paris, Bibliothèque Ste-Geneviève, Henri Labrouste, 1843 – 50, Lesesaal
nämlich von einer Eisenkonstruktion überfangen, die eng und subtil auf die steinerne Außenhülle bezogen ist. Das, was außen als Tragmauer der Bögen sichtbar ist, erweist sich im Inneren als eine Abfolge von nach innen gezogenen Strebepfeilern. Dadurch entstehen im unteren Bereich Kompartimente, in denen die Buchregale eingelassen sind. Über den Abschlussgesimsen der Pfeiler sind eiserne Fachwerkbögen eingelassen, die 18 Mal als Doppelbögen quer durch das lange Innere geschlagen sind. In der Mittelachse stützen sich diese Doppelbögen auf eine Reihe äußerst schlanker Eisenpfeiler, die in Längsrichtung durch eiserne Bogenbinder versteift sind. Auch die Scheitellinie der Bögen erhält durch Firststreben eine Querversteifung, dazwischen bilden hellockerfarbene Tonnengewölbe den Raumabschluss, und darüber trägt die Eisenbogenkonstruktion das schmiedeeiserne Dachwerk. Die Freistützen erheben sich auf würfelförmigen Sockeln, die ursprünglich Teil von durchgehenden Regalen in der Mittelachse waren. Alle Elemente sind somit intelligent aufeinander bezogen: Die rasterförmige Eisenkonstruktion geht überein mit der kastenartigen Gesamtanlage, die relativ schlanken und monotonen Pfeilerarka-
III. Schlüsselwerke
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den im Obergeschoss sind der Unterbau des Eisengerüstes im Inneren. Labrouste hatte in seinen Studienjahren in Rom anhand der griechischen Tempel in Süditalien lange den Zusammenhang zwischen Materialökonomie und Ornamentformen der antiken Stützsysteme studiert, und diese Aspekte machen auch einen wesentlichen Aspekt seiner Bibliothek aus. So sind etwa die Übergangsstellen von Stein und Eisen ohne Brüche formuliert, und die kühnen frei stehenden Eisensäulen in der Mittelachse sind mit ionischen Kapitellen angeschlossen, aus denen stengelartig-elastisch die T-förmigen Querschnitte der Bögen aufsteigen. Die Bogenbinder, aus mehreren standardisierten Einzelteilen zusammengesetzt, sind zur Versteifung und Materialersparnis als Fachwerkbinder gegossen, doch ist dieses Fachwerk als eine Abfolge dekorativer Ranken formuliert. Das eiserne Dachwerk erlaubt große Fenster und somit Licht – aber keine ablenkenden Blicke nach außen – und macht das Gebäude zudem feuersicher, und das alles für eine sehr große Zahl von Lesern. Dass der Lesesaal und die Bücherregale im Obergeschoss platziert wurden, hat seinen Grund zum einen darin, dass hier bessere Lichtbedingungen als im Erdgeschoss
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herrschten, außerdem die Gefahr von Durchfeuchtung vermieden werden konnte. Zum anderen machte Labrouste dadurch den Weg zum Lesesaal zu einem Erlebnisparcours. Denn den strahlend hellen Lesesaal erreicht man erst, nachdem man über das dämmrige Vestibül den Bau gequert und dann rückwärtig nach oben aufgestiegen ist – vorbei an einer Kopie von Raffaels Programmbild der „Schule von Athen“. Im Inneren des Vestibüls, ebenfalls von Eisenträgern gestützt, begleiten Scheinmalereien von üppiger Vegetation mit davor aufgestellten Büsten den Ankommenden. Man durchschreitet gleichsam einen immergrünen Garten, vorbei an den Vorbildern der Gelehrsamkeit, bevor man in den abgeschiedenen Lesesaal in seiner strahlenden Helligkeit eintritt. Nicht nur am Tag, sondern auch abends und nachts war der Lesesaal gut beleuchtet; Hunderte von Gaslampen spendeten Licht für die Lektüre und schufen eine ganz eigenartige Lichtatmosphäre. Dieses klösterliche Moment wird nun auch sehr klar in einer signifikanten Bezugnahme auf das Refektorium des ehemaligen Pariser Cluniazenser-Priorats von St-Martin-des-Champs. Dieser Bau, um 1230 errichtet, ist eine Meisterleistung der Gotik, wird doch das Gewölbe durch eine Mittelreihe äußerst schlanker Pfeiler getragen – mehr noch: Auch dieser Raum wurde gleichzeitig zur Bibliothèque Ste-Geneviève, 1844, durch Léon Vaudoyer zum Lesesaal der École des Arts et Métiers umgebaut. Zu den technischen Finessen von Labroustes Bibliothek zählt auch eine ausgeklügelte Belüftung und Beheizung, die vermittels einer riesigen Apparatur im Untergeschoss Warmluft durch Gitter in den Lesesaal blies. Das Gesamtkonzept war derart erfolgreich, dass die Bibliothek umgehend intensiv frequentiert war – was auch einen durchaus erwünschten Domestizierungseffekt auf vergnügungssüchtige Studenten im Quartier latin hatte ... Labroustes Bibliothek ist nicht, wie das manchmal zu lesen ist, das erste Bauwerk, in
dem Eisen umfassend angewendet wurde. Es gibt zahlreiche Vorläufer, vor allem eiserne Dachstühle, die allerdings optisch nicht in Erscheinung treten. Der Bibliotheksbau vereint aber wie selbstverständlich und unübersehbar Eisen- und Steinbau zu einer vielschichtig funktionalen und zudem angemessen repräsentativen Einheit. Einige Jahre später konnte Labrouste sein Konzept in einem anderen berühmten Bibliotheksbau variieren, dem 1854 – 75 errichteten Lesesaal der Bibliothèque nationale in Paris, dessen weiter Raum von neun Kuppelschalen überdeckt wird, die von grazilen Eisenstützen im Inneren getragen werden. Das Licht strömt über verglaste Opaia (Rundöffnungen in den Kuppelscheiteln) ein. Der langgestreckte Rechtecksaal der Bibliothèque Ste-Geneviève ist allerdings für die Mobilität der Leser und die Erreichbarkeit der Bücher in den seitlichen Regalen nicht die ideale Lösung. Zukunftweisend für den Bibliotheksbau wurden deswegen zentral angelegte runde oder polygonale Lesesäle. In Innenhöfen gelegen, konnten sie über oben angelegte Fenster gut belichtet werden, während unten an den Wänden sowie in radial angeordneten Regalen Platz für zahlreiche Bücher war. Ein zentral positionierter Bereich für die Buchausgabe und die Information ließ sich störungsfrei und über kurze Wege von jedem Leseplatz erreichen. Diese Lösung wurde zum ersten Mal von der riesigen Lesesaalrotunde der British Library (eröffnet 1857) verwirklicht und auch für den Neubau der Library of Congress in Washington, der umfangreichsten Büchersammlung der Welt, für ihren 1897 eröffneten Neubau übernommen. Und als durch Ernst von Ihne zwischen 1903 und 1914 für die Staatsbibliothek in Berlin das damals weltgrößte Bibliotheksgebäude realisiert wurde, griff man für den Lesesaal auf einen zentralisierenden Achteckgrundriss von 43 m Durchmesser zurück, der von einer auf 34 m Höhe ansteigenden Kuppel überfangen wird.
Bibliothèque Ste-Geneviève in Paris
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Crystal Palace in London Typisierung und Weltausstellung
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s gibt Gebäude, die an Wunder grenzen – nicht allein aufgrund ihrer technischen Kühnheit, sondern auch wegen ihrer Eigenschaft, eine Epoche in vielfältigster und zugleich überraschender Weise zum Ausdruck zu bringen und dabei alle bislang herrschenden Konventionen außer Kraft zu setzen. Zu solchen Gebäuden zählt der Crystal Palace, 1851 für die Weltausstellung in London im Hyde-Park von John Paxton und Charles Fox errichtet, 1852 – 54 in Sydenham südlich von London in veränderter Form neu aufgebaut (□ vgl. 67) und dort 1936 durch einen Brand zu einer unförmigen Masse verglüht. Der Crystal Palace hat, auch wenn er letztendlich ein fragiles Gebilde war, die Architekturgeschichte verändert und wird insofern entgegen dem Prin-
□ 65 London, Crystal Palace, John Paxton, 1851, Teilauf- riss und Grundriss
III. Schlüsselwerke
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zip dieses Buchs, nur existierende Gebäude zu behandeln, hier besprochen. Der Crystal Palace war ein Gebäude von unendlichen, vom menschlichen Auge kaum zu erfassenden Dimensionen: Der Bau erstreckte sich in einer Länge von 615 m und einer Breite von 150 m; im Querschnitt staffelte er sich dreifach in die Höhe (□ 65, 66). Der obere Abschluss der fünf ‚Schiffe‘ war flach, das Innere bildete insofern eine endlos erscheinende gerade Allee aus. In der Mitte war diese durch ein ebenfalls dreifach gestaffeltes sog. Querhaus durchkreuzt, dessen Fronten mit den Längsseiten des Grundrissrechtecks fluchteten und dessen ‚Mittelschiff‘ von einer mächtigen Glastonne eingedeckt war. Ermöglicht wurde diese Konstruktion durch eine Rasterstruktur aus vollständig gleichförmigen Eisenrahmen von 7,3 m Breite. Im Prinzip wurden diese aus schlanken Eisenstützen gebildet, die durch jeweils identische eiserne Fachwerkträger oben verbunden waren. Der dadurch gebildete Rahmen konnte in Reihe und über quadratischen Grundriss gesetzt werden, er wurde fallweise durch diagonal eingesetzte Zugseile verspannt und diente als Auflager für Böden, weitere Rahmenreihen oder Glasdachkonstruktionen (□ vgl. 65). Diese hat Paxton, da die Produktion großformatigen Flachglases damals nicht möglich war, als parallel gesetzte schmale gläserne Satteldächer entworfen. Im sog. ridgeand-furrow-System (First und Furche) bildeten sich zwischen den Dachschrägen automatisch Ablaufkanäle für Regenwasser, das – auch dies eine der ingeniösen Erfindungen Paxtons – über Rinnen abgeleitet wurde, die im oberen Profil der Fachwerkträger eingearbeitet waren. Die grazilen Eisenstützen sollten im Ge-
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□ 66 London, Crystal Palace, John Paxton, 1851, Gesamtansicht (zeitg. Graphik)
samteindruck keineswegs optisch verschwinden, sondern waren gemäß einem Farbkonzept, das der Architekt Owen Jones – Autor des wichtigen Vorlagenwerks „Grammar of Ornament“ von 1856 – entwickelt hatte, farbig gefasst. Jones verwendete nur vier Farben – Rot, Gelb, Blau und Weiß – und wollte mit diesen psychologische bzw. physiologische Farbwirkungen zur Anwendung kommen lassen, um damit perspektivische Effekte zu erzeugen sowie Räume zu definieren und zu ordnen. Die konstruktiven Elemente des Eisengitters waren in diesem Sinne keine architektonischen Einheiten, sondern malerisch-graphische Linien im Raum. Vor dem Hintergrund des damaligen Architekturverständnisses konnte – und kann – man sich fragen, ob es sich bei dem Glaspalast überhaupt um Baukunst im eigentlichen Sinne handelte. Denn die grazile Rasterstruktur in – trotz der gewaltigen Dimensionen – äußerst klarer Kubatur zeigte ja keinerlei körperliches Relief, auf dem das Licht Plastizität modellieren konnte, so wie Architektur normalerweise mithilfe skulptural verstandener Gliederungselemente – Säulen, Giebeln, Gebälken usw. – ‚komponiert‘ wurde. Zudem ließen die rasterförmigen Standardelemente keinerlei Rhythmisierung
und Akzentsetzungen zu, sondern erzeugten eine monotone, gleichsam unendliche Reihung (□ 67, □ vgl. 66). Auch eine weitere Funktion von Architektur, nämlich über Mauern und Öffnungen ein Innen und Außen in beziehungsreiche Abgrenzung zu setzen, fehlte bei dem Londoner Gebäude weitgehend: Es gab keinen Schatten, vielmehr strömte ungehindert Licht ins Innere, die Grenze zwischen Innen und Außen schien nicht mehr zu existieren, zumal wenn sich die unendliche Reihung der Stützen in der Tiefe optisch nicht mehr nachvollziehen ließ. Übermenschliche Größe und Unermesslichkeit sind Wahrnehmungsmuster des Erhabenen, wie es etwa von Burke und Kant im 18. Jh. formuliert worden war: erschaudern machende Wirkungen der Natur, die mehr über das Gemüt als über den Verstand wirksam werden. Wie in einem Wunder aber gab es trotz dieser Aufhebung materieller Begrenzungen dennoch ein markant zu erlebendes Inneres: eine künstliche und geschützte Atmosphäre, in der auch nicht irgendetwas Beliebiges ausgestellt wurde, sondern programmatisch Produkte aus der ganzen Welt (□ vgl. 67). Diese waren um große Brunnen, Skulpturen und natürliche Bäume des Hyde-Parks geordnet. Hier
Crystal Palace in London
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138 □ 67 London, Crystal Palace, John Paxton, 1851, Inneres nach dem Neuaufbau in Sydenham Hill
war gleichsam ein neues Paradies entstanden, geschaffen vom Ingenium des modernen Menschen mit seinen industriellen Mitteln zur Verbesserung der Natur. Der Palast, der diese neue Schöpfung barg, reflektierte das Licht, ließ es eindringen und irisieren, so dass der Name Crystal Palace keineswegs ein bloßer Titel war. In der Anspielung auf den Kristall lebte zum einen die Erinnerung an die wunderhaften gläsernen Schlösser der mittelalterlichen Literatur weiter, zum anderen ist dem Kristallinen eine merkwürdige Zwischenstellung zwischen einem natürlich gewachsenen Naturprodukt und unergründlicher geometrisch-abstrakter Regelmäßigkeit eigen. Dieses Wunderwerk war zudem nicht in architektonisch traditioneller Weise aufstapelnd gemauert worden, sondern mithilfe zahlreicher Transportmaschinen (fahrbare Arbeitsbühnen, Kräne usw.) ohne Gerüste montiert worden, und zwar in der Rekordgeschwindigkeit von 17 Wochen. Die Bewunderung und Faszination, die das Werk ausübte, teilten alle, die es sahen – mit einem Mal benötigte die Wertschätzung der neuen Architektur nicht mehr elitäre Bildung und Geschmack.
III. Schlüsselwerke
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Doch konnten sich gerade auch Intellektuelle und Aristokraten – allen voran und leidenschaftlich Königin Victoria – der paradoxen Faszination des Glaspalastes nicht entziehen: Ein offensichtlich mit allen Mitteln technischer Vernunft errichtetes Gebäude erzeugte ein Höchstmaß an irrationalen Effekten. Ebenso paradox erschien auch der Kontrast, mit dem die unentwirrbare Vielfalt von 10 000 Ausstellungsobjekten von einer höchst repetitiven, einheitlichen Baustruktur eingefasst wurde. Hier konzentrierten sich, wie die vielen zeitgenössischen Berichte deutlich machen, alle bürgerlichen Ängste und Fantasien: Diese Vielfalt war ein Dschungel, aber ohne Gefahr; hier versammelte sich die größte damals gesehene Menschenmenge, aber ohne Revolutionsabsichten zu haben; eine neue ‚Natur‘ war komponiert, die echt und künstlich zugleich war, sogar in dem Treibhaus besser als sonst gedieh, doch als Gefahren höchstens den Kot der vielen Vögel im Inneren kannte. Trotz aller Faszination war die hier inszenierte sorgenfreie Routine auch kritisch zu hinterfragen. Gottfried Semper und dem Dichter Fyodor Dostoyevski etwa fehlte an der kalten und ex-
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akten Rationalität das Moment der kritischen Selbstbefragung. Der Palast führe zu Langeweile und Überdruss, zu einem Leben ohne Abenteuer und Kreativität. Diese Kritik hat angesichts von heutigen banalen Shopping Malls nichts von ihrer Weitsicht verloren. Der Crystal Palace war überdies Ergebnis und Zeugnis eines tiefgreifenden Wertewandels: Die maßgeblichen Promotoren der Weltausstellung innerhalb der 1754 gegründeten Society of Arts waren keine Künstler oder hommes des lettres, sondern Ingenieure und Unternehmer: Robert Stevenson, der Vater der Dampflokomotive, Henry Cole, der Promotor der Weltausstellung, Charles Fox und John Paxton agierten mit höchstrangiger Unterstützung durch Prinzgemahl Albert. Die neue Maxime lautete: Wachstum und Fortschritt, und dies sollte durch Wettbewerb dergestalt angestachelt werden, dass die Vorherrschaft Frankreichs, vor allem im Bereich der Luxusgüter, gebrochen werden konnte. Dieser internationale Wettbewerb, der, demokratisch orientiert, an die Stelle kriegerischer Auseinandersetzungen treten sollte, benötigte ein Forum – die Weltausstellung – und dieses einen Ort, nämlich die Ausstellungshalle zum simultanen Vergleich aller Güter ( Themenblock · Ausstellungen, S. 235). Das alles geschah in atemberaubender Zeitnot: Im März 1849 formulierte die Society of Arts die Idee einer großen Ausstellung, das königliche Ausstellungskomitee beschloss im Januar 1850, die Schau im Hyde-Park abzuhalten, am 1. Mai 1851 wurde sie eröffnet; für die Vorbereitung und Aufrichtung des Riesengebäudes wurden also lediglich sieben Monate benötigt. Als Kosten waren 100 000 Pfund angesetzt. All das waren produktionstechnische Superlative: Noch nie war ein Gebäude dieser Dimensionen mit weniger Geld und Zeit errichtet worden. Vorangegangen war in durchaus programmatischer Weise ein Wettbewerb, für den 233 Einsendungen eingingen. Den Zuschlag bekam aufgrund königlicher Intervention – nach in-
tensiver, aber fruchtloser Diskussion zwischen Ingenieuren und Architekten – allerdings der Landschaftsgestalter John Paxton, der sich auf ein reines Ingenieurswerk ohne gezielt künstlerische Eingriffe festlegte. Voraussetzung dazu bildeten seine ingeniösen Verwirklichungen als Gartengestalter. So hatte er kurz zuvor eine riesige Wasserlilie, die Victoria-Regia-Lilie gezüchtet und den Garten von Chatsworth mit einem monumentalen Gewächshaus, dem Great Stove von 100 m Länge und 20 m Höhe bereichert. Hierfür wurde das ridge-and-furrow-System entwickelt (zunächst aus Holz) sowie die Wärmeausdehnung und die Kondenswasserableitung gelöst; zudem musste Paxton riesige Bäume versetzen und eine auf 100 m Höhe aufsteigende Fontäne konstruieren. Technisches Ingenium und vielfältigste Problemstellungen verbanden Paxton persönlich mit herausragenden Ingenieuren seiner Zeit, etwa dem genannten Robert Stevenson. Paxton ging dabei von empirischen Befunden aus, etwa, wenn er die komplizierte Blattadernkonstruktion der schwimmenden Victoria-Regia-Lilie in seine Eisenkonstruktion umzusetzen wusste. Architektur als Kunst, die auf Regeln und Traditionen baut, spielte hier keine Rolle mehr. Im Gegenteil folgte der Crystal Palace vielmehr den neuen wirtschaftlichen Prinzipien: Freihandel und Kapitalismus erklärten die Welt als einen wirtschaftlichen Mechanismus, und dem folgte gleichsam programmatisch der Ausstellungspalast: Er war nicht eigentlich eine modellierte und komponierte Form, sondern das Ergebnis von Optimierungs- und Rationalisierungsprozessen. Entscheidend waren die Logistik und der Produktionsprozess: Dieser konzipierte standardisierte Einzelelemente, die unabhängig von der schließlich erreichten Form, dafür aber kombinierbar und wiederverwendbar waren – ganz ähnlich wie dies für andere technische Produktionen galt, etwa den Schiffsund Eisenbahnbau. Das war radikal entfernt vom traditionellen Anspruch an Architektur,
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vermittels der künstlerischen Inspiration ein unverwechselbares ‚Original‘ zu schaffen. Der Montagecharakter des Gebäudes war während der Errichtung klar zu verfolgen, es brauchte keine verhüllenden Gerüste, und dieser Montagecharakter blieb dem Gebäude auch nach Vollendung unmissverständlich anzusehen. Der Erfolg des Crystal Palace führte dazu, dass ähnliche Konstruktionen auch an anderer Stelle ausgeführt wurden. August von Voit errichtete in München 1854 einen ebenfalls sehr großen ‚Kristallpalast‘ als Ausstellungshalle der Ersten Allgemeinen Deutschen Industrieausstellung. Der Palast diente bald als Kunstausstellungshalle, brannte 1931 ab und wurde in bezeichnender Weise nicht wieder
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aufgebaut, sondern durch den 1937 an anderer Stelle eröffneten Monumentalbau des Hauses der Deutschen Kunst abgelöst. Auf dem Dach des Festsaalbaus der Münchener Residenz |▶ 5| ließ König Ludwig II. um 1870 einen voll verglasten Wintergarten errichten. Auf einer Fläche von 70 × 17 m entstand eine künstliche Welt aus exotischer Flora und Fauna, mit einem künstlichen See, einem maurischem Kiosk, einer Fischerhütte und großen austauschbaren Panoramagemälden. Die großen Ausstellungshallen, die 1900 für die Pariser Weltausstellung errichtet wurden, insbesondere das Grand Palais, verhüllen allerdings ihre kühne Eisen-Glas-Architektur hinter einer monumentalen neubarocken Fassade.
Gare du Nord in Paris Bauaufgabe Schienenverkehr
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ohl kaum eine Baugattung drückt die massiven kulturgeschichtlichen Veränderungen des 19. Jh.s nachdrücklicher aus als der Bahnhof. Er ist notwendiger Bestandteil des sich schlagartig ausweitenden Schienenverkehrs als eines völlig neuen Fortbewegungsmittels. Diese Neuartigkeit betrifft nicht nur die unerhörte Geschwindigkeit, mit der man sich seit den 40er Jahren fortbewegen konnte, sondern sie betrifft in vieler Hinsicht auch die grundsätzliche Art, wie die Welt wahrzunehmen war. Fortbewegen und Reisen war bislang eng an die Natur gebunden: Über windungsreiche Wege zogen der Mensch oder Reit- und Zugtiere ihre Bahnen. Nunmehr übernahm eine Maschine auf Schienen diese Aufgabe – und diese durchschnitt radikal die Landschaft, überwand rücksichtslos Täler und durchdrang Berge, im ständigen Hin und Her
III. Schlüsselwerke
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zwischen zwei Zielen. Wo es bislang ruckartig voranging, durch Wind und Wetter beeinträchtigt, da war nunmehr eine Art Gleiten und Schweben, mehr oder weniger sicher vor den Naturgewalten. Die vorbeieilende Landschaft löste sich gleichsam vom Reisenden ab, dieser befand sich seither etwas erhöht über ihr, blickte eher auf sie als dass er sie direkt erlebte, und auch dieses Blicken war eine ganz neue Erfahrung: Bilder wechselten rasch, schienen sich zu verwischen, die ganze Welt war plötzlich ein bewegtes Bild. Und mehr noch: Sie wurde scheinbar kleiner, denn Ziele, die bislang weit abgelegen waren, konnten plötzlich in wenigen Stunden erreicht werden. Umgekehrt wurden von dort Waren und Rohstoffe transportiert: Die bunte Welt der Markthallen, Kaufhäuser und Ausstellungshallen ist ohne die Eisenbahn nicht denkbar. Sie ermöglichte, dass die Welt
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mit ihren vielfältigen Menschen und Erzeugnissen sich gleichsam komprimierte, insbesondere in den – eben durch solche Prozesse bewirkten – Großstädten und Metropolen, die die Knotenpunkte des Eisenbahnnetzes und der Nationalstaaten wurden: London, Paris, Berlin, Wien, Budapest, Moskau, New York. Geschwindigkeit, Mobilität und eine neue Reichweite des Bewusstseins konnten ein Gefühl von optimistischer Ungebundenheit vermitteln, aber ob der irritierenden Vielfalt und Neuartigkeit auch verunsichern (Schivelbusch 2000). Die Eisenbahn war aber nicht nur neu, sondern erforderte präzise Planung und Unterhaltung. Vor allem war sie in unerhörtem Maße raumgreifend, durch Bahndämme, Tunnel und Brücken, insbesondere aber durch die Bahnhöfe. Diese bildeten die neuen Einfallstore in die historisch gewachsenen Städte und formten zugleich kulturelle Schnittstellen: zwischen Land und Stadt, zwischen rascher und langsamer Fortbewegung, zwischen Eisen und Stein bzw. Holz, zwischen Neu und Alt. Aus diesen Gründen war es in den meisten Fällen unmöglich, Bahnhöfe zentral anzulegen; sie entstanden vielmehr an den Stadträndern, vielfach entlang der geschleiften alten Befestigungen, also dort, wo ehemals Tore und Durchlässe den Eintritt in die Stadt kennzeichneten. Auch die Bahnhöfe, prinzipiell immer aus den zwei Bereichen von Empfangshalle und Bahnsteigen bestehend, bildeten also solche modernen Versionen von repräsentativen Stadttoren. Sie entwickelten sich aufgrund ihrer verkehrstechnischen Bedeutsamkeit sehr schnell zu neuen urbanen Zielpunkten und Zentren, gaben immer auch den Fokus neuer Achsen ab, um die sich Konsum- und Geschäftsviertel ansiedelten, die wiederum städtebauliche Entwicklungen anstießen. Der andere Bereich des Bahnhofs waren (und sind) die Gleise und Bahnsteige, untergebracht in einer Art Maschinenhalle, weit, hell und hoch, um das Gedränge nicht zu behindern, Dampf und Rauch entweichen zu lassen,
Wind- und Regenschutz zu bieten, das Zischen und Fauchen zu dämpfen und den Funkenflug nicht zur Gefahr werden zu lassen. Dem repräsentativen Empfangsgebäude, zumeist mit luxuriösem Hotel, Restaurant und Wartesälen ausgestattet, steht also eine Eisen-Glas-Konstruktion, feuersicher, weit und hell gegenüber, ein technisch optimiertes Industriebauwerk. Und diese ‚hässliche‘ Seite erstreckte sich gleichsam unsichtbar noch weit ins Hinterland der Bahnhöfe: Drehscheiben, Lokschuppen, Kohlelager, Wassertürme, Stellwerke waren durch den Bahnhof abgeschirmt von der theatralischen Bühne, die der urbane Raum zur Verfügung stellte. Ingenieur und Architekt waren hier gleichermaßen gefordert: jener für die umfangreichen Bereiche von Bahnsteighalle und Gleistechnik, Letzterer für den vergleichsweise kleineren, aber alle Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Empfangsbereich. Dieser bildete eine Zone des Übergangs, vor allem in einer Zeit, in der Reisen wie ein Zeremoniell stattfand: Vom Bahnhofsvorplatz – eine Art Ehrenhof eines Schlosses – gelangte man in die Schalterhalle und die nach verschiedenen Klassen eingeteilten Warteräume am Querbahnsteig und musste dort so lange warten, bis die Aufforderung zum Betreten der Waggons ertönte und das Abenteuer der Reise begann. Exemplarisch kann diese Aspekte die neue Gare du Nord in Paris veranschaulichen: Ab 1843 wurde ein erster Nordbahnhof für die französische Hauptstadt geplant und 1845 – 46 vom angesehenen Architekten und Ingenieur Léonce Reynaud als recht große zweischiffige Halle (133 × 35 m) ausgeführt. Dass der Auftrag an Reynaud ging, ist bezeichnend, denn er war Schüler der École polytechnique und der École des ponts et chaussées, und er machte seine Karriere in erster Linie als Bauingenieur, nicht etwa als Architekt. Der Standort des neuen Bahnhofs am damaligen Stadtrand von Paris war ideal, denn hier traf der Verkehr von Norden (Brüssel) in die Stadt, um sich von dort
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□ 68 Paris, Gare du Nord, Jacques Ignace Hittorff, 1851 – 65, Stadtfassade
fächerförmig nach Westen, Süden und Osten zu verteilen. Diesen Achsen folgten die bald angelegten Boulevards La Fayette (zur Oper, |▶ 12|), Strasbourg (zum Zentrum) und de Magenta. Doch dieser Bahnhof erwies sich schnell als zu klein, um die ständig wachsende Zahl der Reisenden aufzunehmen. So wurde seit 1858 ein neues Bahnhofsgebäude geplant, das die Anzahl der Gleise auf zwölf erhöhte und eine repräsentative Front zur Stadt vorsah. Hier waren zunächst die Ingenieure der Eisenbahngesellschaft tätig, doch übernahm bald der aus Köln stammende, aber in Paris zu hohen Ehren gekommene Architekt Jacques Ignace Hittorff die architektonischen und teilweise auch die konstruktiven Planungen. Das seit 1861 ausgeführte und nach vier Jahren vollendete Grundkonzept ist im Prinzip einfach zu erfassen: Eine aus Stahl und Glas gefertigte Bahnhofshalle wird an drei Seiten umgeben von einer aus Stein und Backstein gemauerten Hülle, die
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gleichzeitig auch eine repräsentative Fassade als Einkleidung der ‚Maschinenhalle‘ im Innern ausbildet. Vor allem die Hauptfront nach Süden, zur Place Napoléon-III, zeigt sich als intelligente Synthese einer mit Hilfe der alten Architektursyntax sprechenden Architektur einerseits und einer innovativen Konstruktion andererseits (□ 68). Es handelt sich um eine breit gelagerte Front, die – einem klassischen Palast vergleichbar – an den Ecken und in der Mitte klare Akzente erhält. Die Mitte wird gebildet aus einer mächtigen, sofort an Triumphtore erinnernden übergiebelten Dreibogenstaffel mit einer hohen und weiten Mittelarkade. Getrennt sind diese Bögen durch breite kolossale Doppelpilaster mit robusten ionischen Kapitellen, die durch ein Gebälkstück oben verbunden sind. Hier wie auch auf den Giebelspitzen erheben sich mächtige allegorische Figuren, vor allem französische Städte repräsentierend. Seitlich davon schließen sich arkatierte Verbindungstrakte an, die mit einer Art Pavillon enden. In den Dimensionen sind sie vergleichbar den kleineren Bögen der zentralen Dreibogenstaffel. Zwischen ihren seitlichen Kolossalsäulen öffnet sich eine hoch aufsteigende Arkade, die bis unter den giebelförmigen Abschluss des Pavillons reicht. Die Eckpavillons sind nicht nur kompositorisch notwendig, sondern bilden auch die Fassaden der hier in die Tiefe führenden seitlichen Bahnhofsflügelbauten. All das erinnert zwar an eine gelungene Komposition in klassischer architektonischer Formensprache, doch ungewöhnlicherweise steigt der Mittelteil sehr hoch giebelartig an: Er entspricht dem Querschnitt des dahinter abgehenden Dachs der Bahnsteighalle (□ 69). Diese, eine dreischiffige Perronhalle, wird aus einer regelmäßigen Abfolge von schlanken Eisenstützen getragen. Darüber lagert über einer grazilen Eisenkonstruktion ein Dach auf, das im Firstbereich aus Glas besteht. Diese Transparenz des Inneren zeigt sich aber auch in der Fassade selbst, denn vor allem innerhalb der großen Bögen zeigt
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sich die Stockwerksstruktur dahinter, die durch bemerkenswert große Fenster gegen das Äußere geöffnet ist. Das ist insofern folgerichtig, als die Hauptfront im Inneren nur eine große Empore trägt, ansonsten aber der Querbahnsteig direkt dahinter beginnt. Die Fassade der Pariser Gare du Nord umhüllt also keine Empfangsräume – diese befinden sich in den Seitentrakten –, sondern bringt in ihrer Transparenz und ihrer Kontur die technische Bahnsteighalle zum Ausdruck und verwandelt sie intelligent in eine wohlgeordnete, städtebaulich wirksame architektonische Komposition. Es gibt verschiedenste Lösungen, Bahnsteighalle und Empfangsgebäude aufeinander zu beziehen. Bei den Durchgangsbahnhöfen verläuft als Empfangshalle zumeist eine palastartige Einflügelanlage entlang der Bahnsteighalle. In den größeren Städten wurden zumeist Kopfbahnhöfe wie in Paris verwirklicht. Im Gegensatz zur Gare du Nord aber, in der die Bahnsteighalle in eigenartiger Weise gleichsam bis
an die Innenseite der Hauptfassade hineinreicht, wird das Empfangsgebäude ansonsten zumeist als eigenständiger Querflügel von teilweise beträchtlicher Tiefe konzipiert (Frankfurt, 1888, Hermann Eggert; Leipzig, 1906 – 15, William Lossow und Max Hans Kühne, Ing. Louis Eilers; Stuttgart, 1910 – 28, Paul Bonatz und Friedrich Eugen Scholer). Seit Lokomotiven nicht mehr durch Dampf, sondern durch Elektrizität betrieben werden konnten, hatte das auch auf die Bahnhofsarchitektur gewichtige Auswirkungen, denn nunmehr konnten die großen, weiten Bahnsteighallen entfallen. Für den größten Bahnhof der Welt war dies die Voraussetzung: Grand Central Terminal in New York. Schon der Vorgängerbau von 1871, in Auftrag gegeben von dem Eisenbahnmagnaten Commodore Cornelius Vanderbilt, war ein kolossaler Kopfbahnhof mit 19 Gleisen. Die Bahnhofshalle wurde von der damals weitspannendsten Eisen-Glas-Konstruktion überfangen, die Empfangshalle bot sich
□ 69 Paris, Gare du Nord, Jacques Ignace Hittorff, 1851 – 65, Bahnsteighalle
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als monumentales Palastgebäude im Stil des französischen Second Empire an. Der Bahnhof lag mitten in Manhattan, zwischen der 42. und der 48. Straße. Die Zufahrtsgleise wurden bald tiefergelegt, seitlich darüber die Park Avenue angelegt. Schon 30 Jahre später war der Bahnhof aber zu klein. Unter dem Ingenieur William J. Wilgus entstand zwischen 1903 und 1913 nun ein in seiner Logistik und seinen Dimensionen kaum zu übertreffender Neubau. Wilgus begann damit, den gesamten Zugverkehr nach Manhattan zu elektrifizieren. Die Gleisharfe wurde auf 56 Gleise vergrößert, diese auf zwei unterirdischen Ebenen angelegt, die äußeren Gleise umrunden als Wendeschleife die Harfe. Dazu musste auch das Gleisterrain massiv erweitert werden: Es nimmt zwei Grundstückblockreihen zwischen der 42. und der 50. Straße ein. Das eigentliche Bahnhofsgebäude entstand zwischen der 42. und 45. Straße, nördlich davon errichtete man ein riesiges Plateau über den Gleisen, das verpachtet wurde und auf dem bald Hochhausbauten errichtet waren. Die Zufahrt wurde nun komplett untertunnelt und damit aus der Park Avenue ein luxuriöser Boulevard gemacht. Die dank der Elektrifizierung mögliche Verbannung der Bahnsteige in zwei relativ niedrige Untergeschosse ermöglichte es nun, die Empfangshalle als monumentales Bauwerk darüberzusetzen. Es wurde vom Büro Whitney Warren & Charles D. Wetmore als beeindruckende Beaux-Arts-Architektur entworfen und besteht im Prinzip aus einem riesigen Rechteckblock von zwölf Geschossen, der sich an der Hauptfassade im Süden in drei riesigen Bögen mit begleitenden kolossalen Doppelsäulen öffnet. Dieses Gebäude erhebt sich seinerseits auf einem riesigen Sockel, dessen Plateau auf derselben Ebene liegt wie die von Süden über eine Brücke eintreffende Park Avenue. Von der niedriger liegenden 42. Straße gelangt man direkt in den Sockel, der die eigentlichen Zugänge zum Bahnhof bietet. Das Innere besteht vor allem aus einer unglaublich
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weiten und hohen, in ihrem Niveau gegenüber dem Außenbereich abgesenkten Empfangshalle, mit einer majestätischen Tonne überwölbt und von römischen Thermenfenstern von oben generös belichtet. Die immense Weite der Empfangshalle erlaubt zahlreiche Schalter und seitliche Zugänge zu den allesamt unterirdischen Bahnsteigen. Diejenigen zu den Fernzügen erreicht man ähnlich wie bei einem gewöhnlichen Kopfbahnhof direkt über eine nach unten führende Rampe. Auf der höher, auf Straßenniveau gelegenen Peripherie des zentralen Empfangssaales liegen u. a. der elegant ausgestattete Wartesaal und exklusive Restaurants. – Die vorab genannte Ambiguität zwischen Technik und Baukunst ist also im Fall des Grand Central Terminal anders als etwa in Paris gelöst. Die Schnittstelle zwischen beiden Bereichen ist in den Erdboden verbannt, ja gleichsam heimlich unterirdisch entfernt man sich aus der Stadt bzw. kommt in ihr an. Die Architektur mit ihrer majestätischen Geste wird insofern zu einer Art Forum, das einen urbanen Zusammenhang vermittelt. Der große Bahnhof ist dadurch einer der wesentlichen Beiträge zur amerikanischen City Beautiful-Bewegung, die mit den Architekturauffassungen der École des Beaux-Arts – klassische monumentale Formen, Axialität, Symmetrie – eine opulent orchestrierte Stadtverschönerung betrieb. Das monumentale Pendant dazu war in New York die 1910 eröffnete Pennsylvania Station (McKim, Mead & White, 1963 abgerissen), die sich unübersehbar an römisch-antiken Basiliken und Thermen orientierte – allerdings auf weite Eisen-Glas-Hallen nicht verzichten konnte. Die überragende zentrumsbildende Funktion von Grand Central ist auch daraus zu ersehen, dass in unmittelbarer Umgebung bald eine Reihe prestigeträchtiger Bauvorhaben realisiert wurde, wie das Chrysler Building von 1928 – 30 (William Van Alen, vgl. S. 59) oder das MetLife Building von 1960 – 63 (ehem. PanAm Building; Emery Roth & Sons, Walter Gropius, Pietro Belluschi).
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Architektenausbildung Vom Meisterschüler zum Diplomingenieur
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m 1800 veränderte sich der Status des Architekten und seiner Ausbildung grundsätzlich. Zuvor hatte er sich zumeist als Handwerker begriffen, der als Geselle, oftmals im familiären Umfeld, an der praktischen Produktion geschult worden war. Zudem hatte er Zeichnen gelernt und eventuell auch eine akademische Einrichtung besucht, in der er mit ästhetischen Fragen repräsentativer Bauten und mit nützlichen bzw. originellen Grundrissentwürfen konfrontiert worden war. Nunmehr, im Zuge von industriellen Fertigungsmethoden und komplexer werdenden logistischen Ansprüchen, im Angesicht zahlreicher neuer Bautypen und effizient arbeitender Bauverwaltungen sowie einer neuen gesellschaftlichen Verantwortung des Architekten, verwissenschaftlichte sich das Metier des Architekten und damit auch seine Ausbildung. Bauen war seither vor allem auch eine technische Angelegenheit, in der präzise und verlässliche Vorberechnungen der eigentlichen Realisierung vorangehen. Entwurf und Produktion trennten sich zeitlich und örtlich. Voraussetzung dazu war ein enormer Aufstieg der Naturwissenschaften im 18. Jh.: Materialverhalten und statische Prinzipien wurden experimentell untersucht und daraus verallgemeinerbare, universal anzuwendende physikalische Formeln abgeleitet. Erst auf solcher Grundlage konnte die neue Eisenarchitektur entstehen, bei der vorgefertigte Standardteile im Montageverfahren zusammengesetzt werden (□ 8 – 10, vgl. S. 14 f.). Dieser technisch-naturwissenschaftlichen Spezialisierung des Bauwesens entsprach eine Neuorientierung der Architektenausbildung, die sich schon in der Gründung der École royale des ponts et chaussées in Paris im Jahr 1747 angekündigt hatte. Vor allem die Eröffnung der École polytechnique 1794 setzte einen Markstein, denn die hier ausgebildeten Techniker sollten an der – bald auch militärisch unter Napoleon – vorgenommenen baulichen Erschließung Frankreichs und Europas entscheidenden An-
teil haben: Verkehrswege, Tunnels, Brücken, bald auch Bahnhöfe, Werk- und Markthallen usw. waren die Voraussetzung dafür, die Nationen bzw. die Erde in riesigem Maßstab wissenschaftlich und wirtschaftlich verfügbar zu machen. In der École polytechnique gab es ein einheitliches Curriculum, das nach Klassen unterrichtet wurde. Labore, Modellwerkstätten und Fachbibliothek ergänzten die technische Ausbildung, die nicht speziell auf Bauingenieure zugeschnitten war. Für die weitere Entwicklung wichtig war die 1829 in Paris gegründete École centrale des arts et manufactures, die von vornherein auf die industrielle Produktion eingestellt war und neue Materialien und Technologien in ihren Lehrplan aufnahm. In Deutschland folgte 1825 die Polytechnische Schule in Karlsruhe dem Pariser Modell; diese wiederum wurde für das 1855 gegründete Polytechnikum in Zürich (Eidgenössische Technische Hochschule) vorbildlich, das nunmehr in verschiedene Fakultäten eingeteilt war, die bis heute auch Geistes- und Sozialwissenschaften umfassen. Die technisch-konstruktive Ausrichtung dieser technischen Hochschulen Frankreichs führte bis in das frühe 20. Jh. zu einer steigenden Konkurrenz mit den Architekturklassen der École des Beaux-Arts, die 1816 aus der alten königlichen Akademie neu gegründet worden war. Hier lag der Schwerpunkt klar auf der Vermittlung ästhetischer Prinzipien, insbesondere des Zeichnens und der richtigen Komposition auf der Grundlage des klassischen Formenvokabulars. Das pädagogische System beruhte in hohem Maße auf einer Anzahl von Ateliers, die von berühmten Architekten geleitet wurden. In einer Reihe von Wettbewerben wurde jährlich ein Stipendiat für einen mehrjährigen Studienaufenthalt in Rom ermittelt. Diese mühevollen, aber prestigeträchtigen Karrieren sollten insbesondere zu repräsentativen Staatsaufträgen befähigen. Obgleich die Technikferne und die mangelnde pädagogische Struktur dieser künstlerisch-historischen Ausbildung zu einem immer wie-
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derholten Gemeinplatz der antiakademischen Kritik wurde, hatte diese künstlerische Gestaltungslehre nach den Prinzipien von Axialität und Symmetrie einen weltweiten Einfluss. Im Zuge der Kunstgewerbebewegung waren Ende des 19. Jh.s zahlreiche Kunstgewerbe- und Gewerkschulen entstanden, die den Umgang mit Material, Technik und Gestaltung in den Mittelpunkt des Unterrichts stellten und damit handwerkliche Ausbildungen ersetzten sowie sich gleichzeitig gegen die industrielle Fertigung von Kunstgegenständen wandten. Bald wurde hier auch die Architektur in den Unterricht aufgenommen, um dem lebensreformerischen Ideal um 1900, Gesamtensembles zu schaffen, besser zu entsprechen. Nach den Vorbildern der Arts-and-Crafts-Bewegungen schuf etwa Henry van de Velde 1908 in der Kunstgewerbeschule Weimar eine solche Lehranstalt. Auch die Nachfolgeinstitution, das 1919 gegründete Bauhaus |▶ 31|, fußte auf solchen Ideen (unterrichtete die Architektur allerdings erst ab 1928).
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Unbesehen verschiedenster Reformen ist über das 20. Jh. eine (Fach-)Hochschulausbildung Voraussetzung für den Architektenberuf geworden. Erst nach dem Studienabschluss (bis vor kurzem in Deutschland meist der Dipl.-Ing.) und einer gewissen Berufserfahrung kann die geschützte Berufsbezeichnung geführt werden und damit ein Bauantrag gestellt werden. Allerdings bestehen auch die grundsätzlich unterschiedlichen Traditionen der Architektenausbildung weiter: Wird an technischen Hochschulen der Akzent vor allem auf die konstruktiven Aspekte des Entwerfens gelegt, so nehmen an künstlerischen Hochschulen oft ästhetische Kriterien des Entwurfs eine wichtige Rolle ein. Die seit dem 17. Jh. traditionellen Entwurfsmittel – kippbarer Zeichentisch mit Reißschiene, Kurvenlineal, Bleistift, Tuscheziehfeder und Rechenschieber – sind seit den achtziger Jahren des 20. Jh.s leistungsfähigen Computern gewichen, die über CAD (computer-aided design) Entwerfen in drei Dimensionen und eine robotergesteuerte Fertigung der Konstruktionselemente ermöglichen.
Red House in Bexleyheath Handwerklichkeit als Reformprogramm
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ie industrielle Revolution, die sich so nachdrücklich im 19. Jh. auf die Architektur auswirkte – ihre Bahnhöfe und Brücken, den Crystal Palace |▶ 9| und den Eiffelturm –, hat auch ihre architektonisch wirksame Gegenreaktion in England seit der Mitte des Jahrhunderts: Die Arts-and-Crafts-Bewegung beanspruchte sogar, durch eine Rückkehr zu mittelalterlicher Handwerklichkeit die Entfremdung des Menschen in einer zunehmend technisierten Welt überwinden zu können. Es ging hier um mehr als nur
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um rein Architektonisches: Betroffen war vielmehr gerade auch das Kunsthandwerk, das die Innenräume zu gestalten hatte, in denen sich Geschmack und Moral unmittelbar zu zeigen hatten. Damit waren weitreichende Themen und Diskurse eingeleitet, die allenthalben für die radikale Wende und typische Positionen der Moderne ab 1900 bestimmend werden sollten. Generell handelte es sich also um die Frage einer von Aufrichtigkeit bestimmten allumfassenden Geschmackskultur, die Zeichen und Förde-
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rer einer gesteigerten Moralität war. Es ging im Weiteren um die Forderung, Architektur im engen Zusammenhang mit der Inneneinrichtung zu verstehen, zu entwerfen und dies in eine reformierte Ausbildung einfließen zu lassen. Und schließlich stand die Frage des Publikums zur Debatte, das tendenziell – schon aus konsumorientierten Interessen – als ein demokratisches, umfassend reformorientiertes begriffen wurde. Der Jugendstil und die Reformbewegung um 1900 |▶ 19|, die Gartenstadtbewegung |▶ 22|, die Architekturen eines Louis Sullivan und F. L. Wright in den USA |▶ 17, 24| und schließlich der Werkbund |▶ 22, 23| und noch das Bauhaus |▶ 31| sind ohne die Vorgaben von Arts and Crafts nicht zu verstehen. Eine programmatische Verbindung der Künste stellte bereits das Red House dar, das 1859 von Philip Webb in Bexleyheath für William Morris, den Wortführer der Bewegung schlechthin, und seine junge Frau Jane Burden errichtet wurde (und das sie allerdings schon sechs Jahr später wieder verließen). Entstanden war das Haus kurz nach zwei ausgedehn-
ten Entdeckungstouren durch Nordfrankreich mit seinen mittelalterlichen Bauten, die Morris mit seinen Freunden, darunter dem berühmten präraffaelitischen Maler Edward BurneJones, 1856 und 1858 unternommen hatte. Die Freundschaft Morris’ mit Webb resultierte aus einem gemeinsamen Aufenthalt im Atelier des neogotischen Architekten George Edmond Street. Der aus solchen Verbindungen entstehende Wunsch nach einer alle Kunsthandwerke vereinenden ‚Bruderschaft‘ schlug sich in dem Plan eines gemeinsamen Hauses nieder. Der Bauplatz, zwischen London und Canterbury gelegen, war einerseits an die Eisenbahn angebunden, lag andererseits nahe der mittelalterlichen Pilgerstraße nach Canterbury, Schauplatz von Chaucers „Canterbury Tales“. Das Haus brach mit allen klassischen Kompositionsvorgaben von Symmetrie und Proportion: Auf L-förmigem Grundriss errichtet, umschließt es einen offenen Gartenhof, in dessen Winkel sich ein markanter, von einem Kegeldach überfangener Ziehbrunnen inmitten des wuchernden Gartens erhebt (□ 70).
□ 70 Bexleyheath, Red House, Philip Webb, 1859
Red House in Bexleyheath
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□ 71 Bexleyheath, Red House, Philip Webb, 1859, rückwärtige Ansicht
Das Baumaterial ist ein intensiv orangefarbener und roter Backstein – daher der Name des Hauses –, der nicht verputzt wurde, sondern seine farblich changierende Oberfläche zur warmtonigen Haut des Hauses machte. Auch für das Dach wurden warmrote Dachziegel verwendet. An allen Seiten drücken sich in den relativ schmalen, von einem gartenseitig liegenden Korridor erschlossenen Flügeln die Räume gleichsam von innen nach außen durch und sind an der Außenseite jeweils individuell durch Giebel überfangen oder in Erker eingelassen (□ 71). Das gilt insbesondere auch für das leicht spitzbogige Eingangsportal, das sich in der Mitte des kürzeren Flügels auf der Nordseite in einen querhausähnlichen, übergiebelten Risalit einlässt. Die sich hinter dem Eingang längsrechteckig erstreckende Halle durchmisst die ganze Gebäudetiefe und drückt sich in der Innenecke des Grundrisswinkels als von einem eigenen Dach bekrönter eckiger Vorsprung durch. Hier erschließt im Inneren eine steile, zweifach gewendete Eichenholztreppe das Obergeschoss. Auch die Fensteröffnungen in den unterschiedlichsten Formen – rund oder hochrechteckig, gerade, spitz- oder rundbogig abschließend – tragen in der Außenansicht
III. Schlüsselwerke
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stark zu der pittoresken Vielfalt der Gesamterscheinung bei, folgen im Übrigen den Funktionen der dahinter liegenden Räume, die sie teilweise opulent belichten. Das Prinzip guter Belichtung und durchdachter Funktionalität liegt auch dem jeweils individuellen, teilweise L-förmigen Zuschnitt und der Anordnung der Innenräume zugrunde. Auch variieren die Zimmerdecken, die mal als offener Dachstuhl formuliert sind – als Bekrönung der Treppe –, mal in Anpassung an die Dachneigung in geknickter Kontur verlaufen. Die Inneneinrichtung entstand in einer Art Gemeinschaftsarbeit der ‚Bruderschaft‘ und ihrer Freunde. In der pittoresken Unregelmäßigkeit und der naturhaften Backsteinoberfläche passt sich das Haus bruchlos in den umgebenden Garten ein, halb romantischer Zier-, halb Nutzgarten, von Morris selbst entworfen. Das Haus steht also in engster Beziehung mit der umgebenden Natur, ihren Farben, Materialien und ihrer bewegten Kontur. Die Arts-and-Crafts-Bewegung gründete in der generellen Mittelaltermode des frühen Victorianismus in England, im Speziellen aber in der scharfen Zeitkritik, mit der Pugin seiner angeblich durch die Technik entwurzelten
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Gesellschaft den Spiegel eines harmonischen Mittelalters entgegengehalten hatte |▶ 9|. Insbesondere John Ruskin hatte die profunde Maschinenverachtung in weithin gelesenen Werken, „The Seven Lamps of Architecture“ und „The Stones of Venice“ (vgl. S. 84 f.) über das Gegenbild der gotischen Architektur begründet. Die lebendige, handgeschaffene Individualität der gotischen Steine, ihrer Profile und ihrer Altersspuren, und außerdem das detaillierte Naturstudium seien die eigentliche Grundlage, göttliche Schönheit zu schaffen, nicht maschinelle Standardproduktion. Die durch die Weltausstellung 1851 |▶ 9| ausgelöste Reform des britischen Kunsthandwerks, die u. a. zur Einrichtung des South Kensington Museum (heute Victoria & Albert Museum) als Sammlung mittelalterlicher Modelle führte, bildete die eigentliche Grundlage der Arts-and-Crafts-Bewegung. Ruskins Auffassung einer engen Zusammenarbeit zwischen dem mittelalterlichen Werkmeister und den Handwerkern wurde seit 1861 in der aus der klösterlichen ‚Bruderschaft‘ in Red House hervorgegangenen Manufaktur von Morris, Marshall, Faulkner & Co. realisiert, in der dekorative Malereien, Schnitzwerk, Möbel, Kunsthandwerk, Textilien, Tapeten, bald auch Druckwerke usw. nach alten, nicht ausschließlich mittelalterlichen Vorbildern produziert wurden. Der Erfolg dieser Werke verdankte sich unter anderem einer intensiven Neubelebung mittelalterlicher Kirchenausstattung im Zuge ihrer damaligen Restaurierungen. Architektur galt selbstverständlich als diejenige Gattung, die alle anderen Künste vereint, und so gründete der Architekt Arthur H. Mackmurdo 1882 die Century Guild, eine Berufsgenossenschaft für Architekten und Kunsthandwerker, über die dank der Veröffentlichung der populären Zeitschrift „The Hobby Horse“ die Artsand-Crafts-Bewegung weiteren Zulauf erhielt. Die dezidiert handwerkliche Produktion wurde in England konkret umgesetzt, um krisenanfällige Werkstätten auf dem Lande zu fördern. Die
Fertigung ging oftmals mit der Einrichtung von Handwerksschulen einher, und die Produktion umfasste alle Arten des Kunsthandwerks, von Textilien und Buchkunst über Metallarbeiten bis zu Möbeln. Das bildete Vorformen der jüngeren Kunsthandwerkreformen, wie sie etwa das Bauhaus betreiben sollte. Es entstand in diesem Zusammenhang ein neuer Berufstypus, derjenige des Designers, der, obzwar Teil der Gilden oder Werkstätten, nicht die Anfertigung, sondern den Entwurf, insbesondere der Ornamente und Dekorationen der verschiedenartigen Werke, ausarbeitete. Auch heute noch berühmte Namen sind Charles R. Ashbee von der Guild and School of Handicraft (1888 gegr.), Walter Crane und Charles F. A. Voysey. Letzterer trat maßgeblich auch in der Entwicklung preisgünstiger und einfachster, meist schlicht weiß verputzter Häuser sowie ihrer Inneneinrichtung in Erscheinung. Eine auf das Kunsthandwerk spezialisierte und in neuartiger Weise reich illustrierte Zeitschrift, „The Studio“, berichtete ab 1893, und bald in internationalem Rahmen intensiv rezipiert, von der englischen Reformbewegung im Bereich von Architektur, Innenausstattung und Kunsthandwerk. Das sog. englische Haus ist insofern in ganz Europa als innovatives Modell wirksam geworden, insbesondere in Frankreich und Deutschland, um Abstand von verpöntem falschem Luxus und historistischen Versatzstücken zu gewinnen und eine sichere Geschmackskultur zu propagieren. Davon zeugen allein begriffliche Übernahmen von zentralen Eigenschaften der englischen Wohnkultur: Das Cottagehaus bezieht sich auf eine vorstädtische Villa von gezielt pittoreskem Äußeren (verschieden große Fenster, bewegte Dachlandschaft, Balkone, Vorhallen usw.) mit zahlreichen Asymmetrien und natürlich belassener Außenwand. Das Innere ist sorgfältig funktional eingeteilt, weist allen Hausmitgliedern einschließlich der Dienerschaft gediegene Räume zu. Häufig wird die Eingangshalle zum zentral gelegenen
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Kern des Hauses, wie zum Beispiel beim Haus Freudenberg in Berlin-Zehlendorf (1907/08) von Hermann Muthesius – das sich im Übrigen auch in seiner winkelförmigen Anlage mit übergiebeltem Eingang von The Barn von Edward Schroeder Prior in Exmouth von 1896 ableiten lässt. ‚Das Heim‘ bzw. ‚le home‘ wird zum Ort einer besonders kultivierten Privatheit, in dem sich ein kultivierter persönlicher Geschmack spiegeln kann. Schlichte, aus einfachen Rahmen und Leisten gefertigte Möbel waren das Ideal. Das Ganze sollte die Düsternis überbrachter Neurenaissance-Innenräume überwinden. Deswegen waren große lichtspendende Fenster erwünscht, die im sog. bowoder bay-window – also dem über zwei schräge verglaste Außenseiten nach vorne tretenden
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Fenster – eine klare englische Markierung erfahren. Dieser nachhaltige Englandbezug kann in seiner Intensität kaum unterschätzt werden: Robert Dohme und Hermann Muthesius verfassten ausführliche Bücher über das englische Haus, Letzterer sogar in offiziellem Auftrag, der ihm einen mehrjährigen Studienaufenthalt in England gewährt hatte. Bedeutende Jugendstil-Zeitschriften, wie „Innendekoration“ des Darmstädter Verlegers Alexander Koch (gegr. 1890), bald konkurrenziert durch „Deutsche Kunst und Dekoration“ (gegr. 1897) oder das französische Pendant „Art & Décoration“ (gegr. 1897) verstanden sich zunächst als Umsetzer des englischen Impulses. Schließlich ging auch die Gartenstadtbewegung aus der Artsand-Crafts-Bewegung hervor |▶ 22|.
Die Opéra in Paris Selbstdarstellung des Großbürgertums
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n der Pariser Opéra ist hervorragend zu veranschaulichen, dass die lange kritisierte ‚pompöse‘ historistische Architektur des 19. Jh.s keineswegs als uninspiriertes und beliebiges Umhüllen mit Stilabklatschen zu gelten hat. Vielmehr lässt sich hier von einem subtilen architektonischen und städtebaulichen Inszenieren sprechen. Dieses Inszenieren ist nicht nur auf die Bauaufgabe ‚Oper‘ zu beziehen, sondern auch auf das sich dort darstellende Publikum, die Raumkomposition, den Einsatz von Farbe und Licht sowie die Gesamtkulisse der städtebaulichen Textur. Es ist nicht nur eine Redensart, die Pariser Oper als Symbol des Großbürgertums als der dominierenden Schicht des späten 19. Jh.s zu bezeichnen, denn ihre Grundstrukturen wurden in der ganzen Welt immer wieder wiederholt, wenn es
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darum ging, Luxus, Bildung und Soziabilität als gesellschaftliche Dominanten architektonisch auszudrücken. Ursprünglich ging die Initiative zu dem Opernhaus aber nicht auf eine bürgerliche Auftraggeberschaft zurück, sondern auf den französischen Kaiser Napoléon III. (reg. 1852 – 71), der ähnlich wie andere Monarchen des 19. Jh.s ein prunkvolles ‚Aufführen‘ zu den monarchischen Pflichten zählte. Das konnte insbesondere im Zusammenhang der umfassenden urbanistischen Regulierung von Paris geleistet werden, die unter dem Präfekten des Départements Seine, Eugène Haussmann, durchgeführt wurde. Nach dessen Plänen wurde bis Anfang des 20. Jh.s ein umfangreiches System von Prachtboulevards und neuen Plätzen angelegt, die der Stadt eine neue Funktionalität und
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vor allem eine moderne urbanistische Erfahrbarkeit verliehen. Napoléon wirkte hier mit der Anlage von umfangreichen Prachtprojekten mit: einem neuen Justizpalast auf der Île-dela-Cité, zwei Theaterbauten im Stadtzentrum (Place Châtelet), dem Ausbau des Louvreschlosses und einem neuen Opernhaus (vgl. S. 37 f.). In diesem Zusammenhang wurde 1860 ein Standort im Nordwesten der Stadt bestimmt, also in einiger Entfernung von der Kernstadt. Mit der Standortwahl erhielt das Viertel ein neues Zentrum und wurde völlig neu strukturiert. Die Oper entstand auf einem riesigen rhombusförmigen Platz, auf den mehrere der neuen Boulevards zulaufen bzw. sich dort kreuzen. Dabei bildeten sich höchst signifikante Sichtachsen: Vor allem die Avenue de l’Opéra verbindet den Louvre und das Hôtel du Louvre mit dem neuen prominenten Gebäude: In der Fernsicht formt dieses mit seiner Kuppel den abschließenden Schirm der Prachtstraße, steht man aber unmittelbar am Ende der Avenue, öffnet sich der Platz theatralisch in großer Geste und präsentiert die vielfach modellierte Bau-
masse des Operngebäudes (□ 72). Außerdem bestehen schnell zu bewältigende schnurgerade Achsverbindungen zu den Bahnhöfen Gare St-Lazare und Gare du Nord |▶ 10|. Auch das unmittelbare Umfeld der Oper wurde zu einem Zentrum von Konsum und Mobilität umgestaltet: Hier sollte das große Kaufhaus der Galerie Lafayette entstehen; das Café de la Paix und das luxuriöse Hôtel de la Paix wurden zeitgleich zur Oper errichtet. Deren architektonische Form wurde in mehreren Wettbewerben ermittelt, für die insbesondere ein Fassungsvermögen von 2000 Zuschauern, die Anlage von Prachttreppen und ein eigener Eingangsbereich für den Kaiser zu beachten waren. Als klarer Sieger ging der bislang unbekannte Architekt Charles Garnier, ein Schüler der École des Beaux-Arts, hervor. 1862 war die Grundsteinlegung, 1875 konnte die Einweihung gefeiert werden – mithin unter vollständig neuen, aber in bezeichnender Weise veränderten politischer Bedingungen. Denn das Zweite Kaiserreich hatte in Folge des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/71 und der politischen Um-
□ 72 Paris, Opéra, Charles Garnier, 1862 – 75, Hauptfassade zur Avenue de l’Opéra
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wälzungen des Commune–Aufstandes der parlamentarisch-demokratischen Staatsform der Dritten Republik Platz gemacht. Der Kaiserpavillon war als Teil des Gebäudes damit funktionslos geworden, gleichwohl entsprach der Bau in seiner Opulenz und seinem Luxus vollständig den Ansprüchen des neuen Großbürgertums als politisch und wirtschaftlich bestimmender Schicht. Garniers Aufgabe bestand zum einen darin, verschiedenste gewichtige Bestandteile sinnvoll anzuordnen: Der Kern des Gebäudes, der Zuschauersaal, war dabei nicht der zentrale Teil, wie das noch für die Theaterbauten des frühen 19. Jh.s gegolten hatte, als das Theater vor allem als moralische Lehranstalt verstanden worden war. Nunmehr kamen noch eine Probebühne und aufwendige Verwaltungseinheiten, vor allem aber prächtige Eingangspavillons, Garderoben, Prunktreppen, Galerien und, als Höhepunkt, das Foyer hinzu. Diese Orte, Korridore und Räume lenken und leiten die Besucher, inszenieren verschiedenste Richtungstendenzen und räumliche Stimmungen. Der repräsentative Aufwand führt dazu, dass das Raumvolumen der Erschließungsbereiche größer ist als dasjenige des Zuschauersaals. Dieser bildet gleichwohl die Mitte des Gebäudes, nach Norden folgt das hoch aufsteigende, aber durch die Kuppel über dem Zuschauersaal kaschierte Bühnenhaus, dahinter schließen sich ein Ballettsaal und die Verwaltung an. Der Zuschauer tritt entweder seitlich – über den überkuppelten Pavillon des Abonnées auf der Ostseite als Gegenstück zum Pavillon de l’Empereur im Westen – oder über die Hauptfassade in das Gebäude. In beiden Fällen erwartet ihn ein erlebnisreicher, langer Parcours, der über das Treppenhaus in das Foyer im Obergeschoß der Hauptfassade führt. Kommt man von der Seite, betritt man durch niedrige Gänge einen zentralen runden Garderobensaal, wird von dort gleichsam aus einer Grotte über einige Stufen in das prächtige, sich über die gesamte Gebäudehöhe erstreckende
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Vestibül geleitet. Von der Hauptfassade erreicht man es über mehrere niedrige, breit gestreckte, in ihren Niveaus stufenweise nach oben ansteigende Räume. Im Vestibül also treffen sich die Besucherströme, und von hier aus steigt die berühmte T-förmige Treppe in leichter Schwingung an, um auf eine Galerie zu münden, die das Treppenhaus umläuft und Zugang sowohl zum Zuschauersaal im rückwärtigen als auch zum Foyer im vorderen Teil gibt (□ 73). ‚Sehen und gesehen werden‘ wird durch zahlreiche Kunstgriffe ermöglicht, so ragen etwa balkonartige Emporen von der Galerie in das Treppenhaus, die Treppe ist von allen Seiten bestens einsehbar, die Korridore haben eine Breite, die entspanntes Wandeln vorsieht. Das Foyer, würdigster Zielpunkt des Parcours, erstreckt sich als immenser querrechteckiger Raum über die gesamte Gebäudebreite. Hier ist der gemeinsame Repräsentationsort der Besucher, die von hier aus auch eine Terrasse in Richtung der Avenue de l’Opéra betreten können. Natürlich genügt auch der Zuschauersaal selbst solchen Prinzipien: Kreisrund, können jeweils die gegenüberliegenden Logen und deren Gäste gut gesehen werden. Damit dies auch während der Aufführungen möglich war, wurde (bis 1936) das Licht des großen Kronleuchters in der Saalmitte nicht abgeschaltet. Eine allseitig gute Bühnensicht ist hingegen nicht vorgesehen. Dafür sind die Ränge in bequeme Logen eingeteilt, in denen sich eine intime Atmosphäre entwickeln konnte. Garniers Leistung liegt vor allem in der subtilen Verschränkung und Instrumentierung dieser Raumkomposition. Sind die passierten Räume zunächst niedrig sowie stark quer- bzw. längsgerichtet, von dämmriger Belichtung und in abgedämpften Tönen gehalten, so vermittelt das Treppenhaus einen triumphalen Vertikalzug, orchestriert durch verschiedene Marmorsorten und Farbakkorde, weißlich, rötlich, golden, die im künstlichen Licht glitzern und strahlen. Im Foyer herrscht wiederum eine andere, festlich-schwere Stim-
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mung, denn hier dominiert eine sehr schwere Instrumentierung aus Doppelsäulen, der Farbakkord changiert zwischen braun und gold. Es ist allerdings nicht nur die Gestaltung mit Licht, Farbe, Raumbezügen und -proportionen, sondern vor allem auch die Verwendung historisch bedeutungsvoller Architekturmotive und -dispositionen, die die gestalterische Komplexität des Baues ausmachen. In ihrer Dichte, aber auch in ihrer bisweilen eigenartig unvermittelten Positionierung bilden sie eine wahre Enzyklopädie der Baukunst, vom Kenner klar zu identifizieren, aber weit mehr als nur bildungsbeflissene Besserwisserei. Die Architekturreferenzen vermitteln nämlich je eigene Stimmungen, die sehr wichtig für die emotionale, unmittelbare Erfahrbarkeit des Gebäudes sind. Insgesamt nimmt die Raumabfolge, vor allem der runde Zuschauersaal, die Gesamtanlage des berühmten Theaters von Bordeaux von 1772 – 80 von Victor Louis (□ vgl. 9) auf. Das Foyer erinnert hingegen an die Spiegelgalerie im Versailler Schloss (von Engelberg 2013, S. 258 – 264), also den Archetyp eines französischen Festsaals. Allerdings versammeln sich nunmehr die Bürger und nicht mehr der Hof in diesem Festsaal. Auch die Anspielungen auf den schweren Louis-XIV-Stil im Foyer passen nicht nur historisch hierher, sondern vermitteln eine festliche ernste Würde, die nichts von leichtem Rokoko an sich haben soll. Ähnlich verhält es sich mit der Außenfassade, die eine siebenachsige zweigeschossige Front mit seitlichen Risaliten ausbildet (□ vgl. 72). Der untere Bereich öffnet sich hohen Mauerarkaden, im piano nobile hingegen überstreicht eine mächtige kolossale Ordnung aus gedoppelten Kompositsäulen eine Kolonnade auf schlanken Pfeilern, die die Fenster des Foyers rahmen. Den Gebäudeabschluss bildet eine schwere Attika, deren seitliche Abschlüsse als Sockel für riesige allegorische Figuren dienen. Hier sind zahlreiche Rückbezüge miteinander verwoben; in der Gesamtkomposition erinnert man sich an
□ 73 Paris, Opéra, Charles Garnier, 1862 – 75, Treppenhaus
Palladios Stadtpalast in Vicenza, die sog. Basilica; die Einstellung der kleinen Säulen hingegen nimmt Michelangelos Konservatorenpalast in Rom auf. Vor allem aber stellen die gekuppelten Kolossalsäulen nicht nur eine Kombination dar, die gemäß der vitruvianischen Grammatik als wuchtigster, gleichsam laut tönender Akzent eingesetzt werden konnte. Garnier zitierte nämlich mit den Doppelsäulen die berühmte Ostfassade des Louvre und schuf damit einen weiteren Bezug zum Bauen in Paris bzw. der französischen Monarchie. Diese gleichsam symphonische Orchestrierung des Gebäudes stellt also weit mehr dar als eine vergangenheitsselige, aber beliebige ‚Verhüllung‘, wie das bestimmte Wortführer der Moderne einige Jahrzehnte später behauptet haben. Die technische Struktur der Oper ist ebenfalls eine innovative, sich des Stahlbaus bedienende Leistung, gerade für die Bühnenmaschinerie und die Stützkonstruktion, aber diese ist eben nicht das
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Entscheidende. Vielmehr geht es um ein Gesamtkunstwerk, das – auch dafür ist die Pariser Oper signifikant – beansprucht, ein aufwändiges Bildprogramm in die äußerst kommunikative Architektur zu integrieren, in Form von Vollskulpturen, Reliefs sowie Wand- und Deckenmalereien. Hierfür kam zum einen der Motivvorat der klassischen Mythologie zum Einsatz, zum anderen aber finden sich historisch belehrende Programme zur Geschichte der Musik und der musikalischen Gattungen. Einige dieser Werke sind künstlerisch qualitätvolle Schöpfungen, wie etwa Jean-Baptiste Carpeaux’ Figurengruppe „La Danse“ (Der Tanz) vor dem östlichen Fassadenportal: Die Pariser Oper versteht sich auch als Museum, das bildet, Traditionen evoziert und vorbildhafte Kunstwerke präsentiert, ja die ganze Welt künstlerisch spiegelt (Steinhauser 1969). Der Dichter Théophile Gautier pries die Oper denn auch als „weltliche Kathedrale der Zivilisation, wo Kunst, Reichtum und Eleganz ihre schönsten Feste feierten“. Garniers Hauptwerk kennt keine kanonischen Epochen und Doktrinen, seien sie klassizistisch auf eine Formensyntax oder rationalistisch auf bestimmte Konstruktionsprinzipien verpflichtet; es verfährt gezielt eklektisch, und in seiner
Buntfarbigkeit folgt es dem Ideal einer malerischen Architektur, wie sich dies innerhalb der über die erste Hälfte des 19. Jh.s heiß debattierten Frage um die Polychromie der vorbildlichen griechischen Bauten herausgebildet hatte (vgl. S. 82 f.). Hier lag aber auch der Keim der Kritik, denn in der überbordenden symphonischen Gesamtanlage überlagerten sich die Töne, und in der Konkurrenz der Instrumente sollten sich einige Stimmen verselbständigen – sich buchstäblich von der Architektur befreien, wie das „La Danse“ vorführt. Damit wurde die Architektur desavouiert als bloßer Sockel oder banales Gerüst, dem das eigentlich Architektonische fehle, so lauteten die Vorwürfe seit der Zeit um 1900, um daraus eine gereinigte, sich auf sich selbst besinnende Baukunst begründen zu können. – Trotz solcher Kritik sind die Pariser Opéra und ihre Gestaltungsprinzipien in der ganzen Welt zum Archetyp vergleichbarer Bauaufgaben am Ende des 19. und Anfang des 20. Jh.s geworden: Das Teatro Colón in Buenos Aires (1889 – 1908, Francesco Tamburini, Angelo Ferrari, Victor Meano und Julio Dormal) oder das Theater von Rio de Janeiro (1905 – 09, Francisco de Oliveira Passos) legen davon beispielhaft Zeugnis ab.
Die Entstehung der modernen Denkmalpflege Debatten und Begriffe
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eit der Zeit um 1800 steht die jeweils aktuelle Architektur in einem Spannungsverhältnis zur ‚alten‘ Architektur: Diese kann als Vorbild gelten, als vielfältige historische Sinnstiftung, eine zu verbessernde Traditionslinie darstellen oder als dysfunktionaler Plunder diffamiert werden. Dies ist auch Ausdruck der Tatsache, dass sich im Zuge des historischen Bewusstseins (vgl. S. 13 f.) seit dieser Zeit eine institutionalisierte Denkmalpflege ausbildet. Sie hat die Aufgabe, den Umgang mit
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den alten Monumenten gemäß einer eigenen Gesetzgebung zu regeln und sie gegen die Einwirkung privater Einzelinteressen zu schützen. Bodenfunde und Altertümer wurden zum Beispiel im Fürstentum Kassel schon während des 18. Jh.s zunächst aus Gründen der dynastischen Legitimierung, im weiteren Verlauf aus einem generellen historisch-antiquarischen Interesse im eigens dafür 1769 errichteten Museum Fridericianum präsen-
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tiert. In diesem Zusammenhang wurden 1780 in Deutschland (Bayreuth und Hessen-Kassel) die ersten Denkmalschutzverordnungen erlassen. Diese frühen Formen der Denkmalpflege bildeten in der Romantik und im Frühhistorismus die Grundlagen für eine zumeist stimmungshafte Inszenierung historischer Denkmäler. Entscheidende Neubestimmungen für die Geschichte der Denkmalpflege brachte die Zeit nach den Freiheitskriegen mit sich: Der unvollendete gotische Kölner Dom wurde zum Nationaldenkmal, sein Weiterbau zum Symbol der zu vollendenden Einheit Deutschlands erhoben. Dies beförderte eine detaillierte Kenntnis mittelalterlicher Baukunst. Eine neue Auffassung des historischen Denkmals als Erinnerung der Gemeinschaft an eine ihr spezifisch eigene umfassende historische Kontinuität, der bürgerliche Anspruch einer detaillierten Geschichtsschreibung sowie der Aufschwung der Universitäten und der regionalen Gelehrsamkeit bildeten die Voraussetzungen zu einer intentional lückenlosen Inventarisierung und Erhaltung der nationalen bzw. regionalen Denkmäler. Diese erhielten nunmehr ihren Status als ideelles Eigentum bürgerlich-staatlicher Kollektive. Schutzverordnungen für Baudenkmäler waren entsprechend in den meisten europäischen Staaten bereits nach 1800 erlassen worden. Nach 1830 wurde dies in den meisten deutschen Ländern, ebenso aber auch in Frankreich und England gesetzlich verankert. In der Folgezeit entstanden umfangreiche Inventare v. a. mittelalterlicher Monumente, die auch unmittelbar in die gleichzeitige Kunstgeschichtsschreibung eingingen. Architekten wie Eugène Viollet-le-Duc und Gilbert Scott entwickelten aus ihrer intensiven Beschäftigung mit den Altbauten einen positivistischen Wissenschaftsoptimismus, der auch ‚ verbessernde‘ und verändernde Restaurierungen eines Gebäudes beinhaltete (S. 85 f.). Dieser auf ‚stilreine‘ Restaurierungen abzielenden Doktrin setzten insbesondere John Ruskin und William Morris (vgl. S. 84 f.,|▶ 11|) eine sich ergänzender Rekonstruktionen enthaltende Kon-
servierung der Vergangenheitsspuren entgegen. Vor allem auch in Deutschland führte die durch die ergänzende Restaurierungspraxis und die gründerzeitliche Baukonjunktur verursachte Denkmalsgefährdung in den Jahren um 1900 zu einer institutionellen Festigung der Denkmalpflege und einer Intensivierung des denkmalpflegerischen Diskurses. Vor allem Georg Dehio ging – mit der berühmten Devise „konservieren, nicht restaurieren“ – gegen die nachschöpfende Denkmalpflege an, indem er den archivalisch-historischen Quellenwert der alten Bauwerke betonte. Für Alois Riegl hingegen bildete der historische Wert nur eine von mehreren Denkmalskategorien, von denen insbesondere der ‚Alterswert‘, ein sentimentales Wahrnehmen des Verfallens, einen besonderen Stellenwert erhalte. Generell ging es in der Grundsatzdebatte also um die Neudefinition der Relation von Geschichte vs. Gegenwart, moderner Stadtentwicklung vs. Altstadtnostalgie, neuer Industrie vs. alte Handwerkstechniken. Dementsprechend waren mit der Debatte vielfach eher kulturpessimistische Perspektiven verbunden, die mit einer restaurierenden Denkmalpflege das Fehlen eines Gegenwartsstils auszugleichen suchten. Unter dem Nationalsozialismus sollten Denkmäler als assoziationsreiche, emotional wirksame Sinnbilder nationalistischer und rassistischer Geschichtsideologie dienen. Angesichts der massiven Denkmälerverluste und des Einflusses neuer urbanistischer Wiederaufbaupläne (zonierte, aufgelockerte Stadt,|▶ 38|) musste die Denkmalpflege nach 1945 neue, teilweise kontroverse Handlungsmöglichkeiten zwischen der Totalbeseitigung, dem Ruinenerhalt, der modernen Ergänzung bzw. Nachempfindung und der Teil- oder Gesamtrekonstruktion zerstörter Monumente definieren und abwägen. Die seit den sechziger Jahren im Westen zunehmende Kritik an dem ungezügelten Wachstum der Städte, dem einseitigen Rationalismus der Moderne und dem ökologischen Raubbau stand im unmittelbaren Zusammenhang mit der Erweiterung des Begriffs schützenswerter
Die Entstehung der modernen Denkmalpflege
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Denkmäler auf Gesamtensembles, technische Anlagen und auch jüngere Architekturen. So wurden v. a. in der Charta von Venedig 1964 und im Zusammenhang des Europäischen Denkmalschutzjahres 1975 auf internationaler Ebene Grundsätze der Denkmalpflege betont. Deren wichtigste Punkte sind: Primat der Konservierung und möglichst Nutzbarhaltung der Monumente, und zwar in ihrem komplexen historischen Zusammenhang und in der Vielfalt ihres
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Bestandes; restauratorische Eingriffe als Ausnahme und ohne Beeinträchtigung der Originalsubstanz; Erkennbarkeit, Dokumentation und Reversibilität der Eingriffe. Um die Denkmalserhaltung auch eng mit ästhetischen, emotionalen und pädagogischen Qualitäten zu verbinden, wird in jüngerer Zeit ein nuancenreiches, gestalterisch-aktives Eingreifen der Denkmalpflege in Fragen von Stadtplanung, Architektur, Geschichte und politischer Kultur gefordert.
Die Wiener Ringstraße Umbau einer Kapitale
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ine der größten Herausforderungen, die die Veränderungen des frühen 19. Jh.s in architektonischer und urbanistischer Hinsicht mit sich brachten, war es, die zumeist dicht besiedelten, engen und durch Befestigungswerke eingeschlossenen Städte zu modernisieren und erweiterungsfähig zu machen. Der sprunghaft gestiegene, durch eine neue Mobilität ermöglichte Warenumsatz benötigte breite und vielfältige Wege und Plätze: Straßendurchbrüche, Bahnhöfe, Markthallen. Die zahlreichen, durch die politischen, sozialen und kulturellen Veränderungen notwendig gewordenen neuen Bauaufgaben – Parlamente, Museen, Kaufhäuser, Universitäten, Schulen, Krankenhäuser usw. – waren an ein städtisches Umfeld gebunden und benötigten insofern Platz, mussten erreichbar und vielfach prominent sichtbar sein. Und ebenso bestand Bedarf, die rapide sich vergrößernden Industrieanlagen verkehrstechnisch auf die alten Stadtkerne zu beziehen und den in die Städte drängenden neuen Bewohnern Unterkünfte zu bieten. Aber neben solchen streng praktischen Aufgaben
III. Schlüsselwerke
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hieß es auch, die Stadt als öffentlichen Raum zum Kommunizieren und Erholen neu zu organisieren. Eine unerlässliche Voraussetzung für solche Maßnahmen war, die einengenden und militärisch schon lange nicht mehr notwendigen Befestigungsanlagen zu schleifen, deren Grundfläche aufgrund der weit ausgedehnten Bastionen und Kasematten oft ein Vielfaches der Kernstädte betrug. In vielen Fällen – vielfach aber erst im 20. Jh. – gewann die Altstadt durch die Eingemeindung von benachbarten Verwaltungseinheiten Erweiterungsfläche. Gleichwohl reichte der dadurch gewonnene Raum kaum für großmaßstäbliche Erweiterungsplanungen, und diese ließen sich aufgrund von rechtlichen Faktoren kaum gänzlich durchführen. In Paris schritt man deswegen zu einer inneren Neuordnung der Stadt in Form von breiten Straßendurchbrüchen und einer strengen Bauordnung |▶ 12|. Allein in Barcelona wurde eine immense Stadterweiterung nach einem rigiden Schachbrettmuster durchgeführt. Dort begann 1854 die Entfestigung der Stadt, und der Straßenbauingenieur und Sozi-
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altheoretiker Ildefons Cerdà bekam die Möglichkeit, eine entschieden egalitäre und verkehrstechnisch optimierte Stadterweiterung, die Ensanche, seit 1859 zu realisieren (□ 74). Damit konnte er sich über eine neubarocke Erweiterungsplanung hinwegsetzen, die von Antonio Rovira i Trias vorgelegt und vom einheimischen bürgerlichen Lager favorisiert worden war. Cerdà legte einen geometrisch strikten Rasterplan zugrunde, dessen Ausrichtung sich an bestimmten Achsen der Altstadtbefestigung und hygienischen Bedürfnissen orientierte: So sollte keine Hausfassade entstehen, die direkt nach Norden orientiert war. Durchstoßen wird das rigide Raster von dem diagonal dazu angelegten Prachtboulevard Avenida Diagonal. Das quadratische Straßenraster lässt knapp 600 Baublöcke entstehen, die jeweils 114 m Seitenlänge haben. Die Straßen sind mit 20 m sehr breit, und da auch die Blöcke breit abgeschrägte Kanten haben und dadurch jede Kreuzung wie ein kleiner, übereck gestellter Quadratplatz wirkt, ist es innerhalb der neuen Stadt sehr hell. Ursprünglich sollten zudem die Parzellen eher locker nur auf zwei Seiten bebaut werden, um dazwischen einen Grünstreifen zu erhalten,
doch das ökonomische Kalkül führte dazu, dass hier schnell verdichtet wurde. Im Ergebnis wurde bis zu Anfang des 20. Jh.s eine hohe Blockrandbebauung mit Innenhöfen und prunkvollen Straßenfassaden ausgeführt. Als revolutionär an Cerdàs Plan hat vor allem das Bemühen nach Dezentralisierung zu gelten: Denn statt eine Hierarchie zwischen reichen und ärmeren Stadtvierteln von unterschiedlicher Infrastruktur zu planen bzw. entstehen zu lassen, sollten öffentliche Einrichtungen – Kirchen, Markthallen, Schulen, Verwaltungsbauten, Erholungsparks – über das Straßenraster verteilt eingerichtet werden. Diese dezentralisierte Struktur sollte durch eine vorzügliche Mobilität ausgeglichen werden, die durch die geraden und breiten Straßen und Gehwege sowie den Einsatz von Nahverkehr gewährleistet wurde. Cerdà zielte nicht auf eine utopische Bewohnerschaft aus Menschen von jeweils ähnlichen Bedürfnissen, wohl aber darauf, die Arbeiter als gleichberechtigte Mitglieder in die Großstadt zu integrieren und somit eine soziale Mischung als neues Gesellschaftsideal zu bewirken. Ganz im Gegensatz zu der rigiden Rasterordnung in Barcelona funktionierte die in kom-
□ 74 Barcelona, Stadterweiterungsplan, Ildefons Cerdà, 1859
Die Wiener Ringstraße
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158 □ 75 Wien, sog. Grundplan für die Anlage der Ring- straße, 1859
plexester Weise baukünstlerisch komponierte Stadtweiterung in Wien: die Anlage der Ringstraße. Im Vergleich zu anderen europäischen Städten wurde Wien relativ spät entfestigt. Während etwa in München, Berlin oder Genf die Wallanlagen schon Ende des 18. Jh.s. geschleift worden waren, war man in Wien erst nach der Mitte des 19. Jh.s so weit, u. a., weil der symbolische Wert der Bastionen bei der Abwehr der Türken im 16. und 17. Jh. nicht beeinträchtigt werden sollte. Indessen entwickelten sich in der Hauptstadt einer der größten damaligen Staaten anachronistische Zustände: Die zunehmende Anzahl öffentlicher und karitativer Bauten, das Militär, vor allem aber das sich rapide vergrößernde Verkehrswegenetz, über Land und über Schiene, mussten sich entweder in der engen, gut einen Kilometer im Durchmesser zählenden, über 600 Jahre lang nicht erweiterten Kernstadt ballen. Die Folge waren galoppierende Grundstückspreise, unhygienischer Zustände und eine armselige Außenerscheinung der – in Wien innerhalb der Umwallungen gelegenen – Hofburg als herrscherlicher Zentrale. Oder aber sie waren, wie
III. Schlüsselwerke
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etwa die Bahnhöfe, in einem zerfließenden Umland ohne Bauordnung jenseits der Bastionen anzusiedeln, wo seit dem 17. Jh. ausgedehnte Adelspaläste mit großen Parks am Rand der Glacis errichtet worden waren. Der Verkehr zwischen beiden Bereichen musste über Umwege und enge Öffnungen innerhalb der mehrere hundert Meter tiefen Wallzone geführt werden. Immerhin bildete das Glacis seit dem späten 18. Jh. einen durchgrünten, von Alleen durchzogenen Naherholungsbereich zum Promenieren. Trotz mehrerer Initiativen zur Niederlegung der Wallanlagen und der städtischen Neuordnung kam erst 1859 der Durchbruch. Im Zuge eines von Kaiser Franz Joseph I. ausgelobten internationalen Concurs [sic!] mit 85 anspruchsvollen Vorschlägen wurde der sog. Grundplan beschlossen (□ 75). Zu beachten waren bei dem Wettbewerb bemerkenswert präzise Vorgaben, wie auch generell die Planung und Durchführung der Ringstraße von einer verschiedenste Aspekte berücksichtigenden Verwaltung geleitet wurde. Zu den Vorgaben gehörte zum einen die Einbeziehung der
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Votivkirche, die schon 1855 als Andenken an ein missglücktes Attentat auf den Kaiser auf dem nordwestlichen Teil des Glacis errichtet worden war. Vor allem war die Hauptmasse öffentlicher Gebäude in angemessener Weise auf dem Ringgelände zwischen Kern- und Vorstadt unterzubringen: General-Kommandantur, Stadtkommandantur, Opernhaus, Reichsarchiv, Bibliothek, Stadthaus (für Festivitäten), Museen und Galerien usw. Eine kompetent besetzte Kommission prüfte die Projekte nach einem detaillierten Kriterienkatalog: Schifffahrt, Eisenbahn, militärische Aspekte, innerer Verkehr (organischer Anschluss an Vorstädte, Regulierung der inneren Stadt, Boulevard-Gestaltung), praktische Bedürfnisse (Wohnungen, Markthallen), Behandlung der öffentlichen Gebäude, Rücksichten der Ausführung. Hier ging eine professionelle Institutionalisierung von Stadtplanung vonstatten, die sich als eigene Disziplin erst am Ende des 19. Jh.s ausbilden und sich etwa 1890 im berühmten Handbuch „Der Städtebau“ von Joseph Stübben niederschlagen sollte. Der durch die Architekten Ludwig Zettl, Julius von Wurmb und Moritz Löhr auf Grundlage insbesondere des Entwurfs von Ludwig Förster ausgearbeitete sog. Grundplan vereinte die gesamte Klaviatur urbanistischer Gestaltungsmöglichkeiten. Im Prinzip beschreibt der Ring ein fast regelmäßiges Fünfeck, an dessen Ecken Kasernen für den militärischen Schutz vorgesehen sind. Jede Seite bzw. die Eckzwickel sind auf eine übergeordnete Funktion ausgerichtet, mit einer mittig, axial oder in Parallelführung angeordneten Gebäudegruppe; von Norden entgegen dem Uhrzeiger: Kaserne, Universität mit Votivkirche, Paradeplatz mit Schauspielhaus, Hofburgbereich mit Kommandantur, Hofbibliothek u. a., Museumsgebäude und Operhaus, Markthalle; die nordöstliche Seite folgt als Quai dem hier passierenden Donaukanal. Ein ausgeklügeltes System hierarchisch gestaffelter Ring- und Querstraßen erschließt den Bereich, bindet ihn mit Kern- und
Vorstadt zusammen, gliedert und ordnet in subtiler Weise: So wird die in sich symmetrisch von einer doppelten Baumreihe (Allee), einer Zufahrtsstraße und einem Trottoir begleitete eigentliche Ringstraße außen von einer zweiten, parallel geführten Straße ergänzt, die die Zufahrt zu den von der Ringstraße abgerückten Gebäuden erlaubt. Diesem Doppelboulevard folgt an der Außenkante des Glacisterrains die wiederum parallel geführte Lastenstraße. Verschiedenste Sichtachsen und Perspektiveffekte waren im Grundplan vorgesehen: Das winkelig-zweiflügelige Universitätsgebäude umfängt kulissenartig die Votivkirche in seiner Achse, der von Bauten freie Paradeplatz bietet weite Überblicke, die parallel geführten Bauten vor der Hofburg bilden eine majestätische Platzrahmung für die alte Kaiserresidenz – der Ausgangspunkt für die ab 1869 u. a. durch Gottfried Semper betriebenen Planungen des die Ringstraße überschneidenden Kaiserforums. Demnach wurde der jenseits des Rings gelegene Teil (Maria-Theresia-Platz) durch die sich gegenüberstehenden Blöcke des Naturhistorischen bzw. des Kunsthistorischen Museums gebildet. Von diesen sollten monumentale, über die Ringstraße geschlagene Triumphbögen zu konkav seitlich ausschwingenden Gebäuden als Anschluss zur Hofburg überleiten. Der dadurch gebildete quergerichtete, ovale Vorplatz wäre ein kaum zu übertreffendes monumentales Entree zur Hofburg geworden, dessen Prunk durch ein weiteres Triumphtor am – hier platzartig sich verbreiternden – Ring als Durchlass zu dem Vorplatz noch gesteigert worden wäre. Diese – deutlich dem römischen Trajansforum folgende – Anlage blieb ein Torso: Verwirklicht wurden die Museumsbauten, das Triumphtor in der Hofburgachse sowie die südliche Exedra als Gebäude der Österreichischen Nationalbibliothek, nach Norden aber erstreckt sich statt des geplanten Exedrapendants der Heldenplatz in Form des Volksgartens.
Die Wiener Ringstraße
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160 □ 76 Wien, Parlamentsgebäude an der Ring- straße, Theophil von Hansen, 1873 – 83
Aber auch in den meisten anderen Bereichen erfuhr der Grundplan mannigfache und tiefgreifende Veränderungen innerhalb einer langen Bauzeit in vier Bauphasen zwischen 1859 und 1910. Die wichtigste war, dass ein Teil der immensen Rechteckfläche des Paradeplatzes für die symmetrisch als Dreiergruppe komponierten Gebäude des mittig und zurückversetzt platzierten Wiener Rathauses, der Universität im nordöstlichen Eck und des Parlamentsgebäudes als dessen Pendant im südöstlichen Eck weichen musste. Durch die Ausweisung einer Reihe von Grünflächen als öffentliche Volksgärten im englischen Stil (Rathauspark, Volksgarten und Hofgarten als Pendants vor der Hofburg, Stadtpark, Kinderpark) gewann die Ringstraße ihren öffentlich-bürgerlichen Charakter, wobei die Gebäude der Ringstraße, aber auch außerhalb von ihr und in der Altstadt gelegene Bauwerke über eine schier unendliche Zahl von Sichtachsen in einen gegenseitigen Dialog treten. Hier vollzieht sich eine höchst bedeutsame Aneignung der Residenzstadt, die durch Kaiser Franz Joseph vor allem prachtvoll verschönert und funktionsfähig gemacht werden sollte, durch das Bürgertum. Signifikant ist zum Beispiel das von Gottfried Semper und
III. Schlüsselwerke
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Carl von Hasenauer in Formen der venezianischen Renaissance errichtete k. k. Hofburgtheater (1874 – 88) an der Westseite des Rings (Franzensring). Eigentlich in der verlängerten Nordflucht der Hofburg situiert, wurde es mit der Errichtung des Rathauses genau westlich gegenüber zur städtisch konnotierten Institution. Diese über Sichtachsen vermittelten Beziehungen benötigen klare Erkennungszeichen, um mit inhaltlichem Sinn versehen zu werden: Diese werden durch die verschiedenen Stilidiome der einzelnen Gebäude gewährleistet. Prägnant ist vor allem das Parlamentsgebäude (□ 76), von Theophil von Hansen (1873 – 83) als griechischer Tempel ausgebildet, der sich auf die antike Demokratie bezieht und sich somit resolut von der Barock- und Neobarocksprache des Hofburgbereichs absetzt. Das Rathaus (Friedrich von Schmidt, 1872 – 83) erinnert an flämische Rathäuser als Inbegriff kommunalen Prestiges. Die Votivkirche (Heinrich von Ferstel, 1856 – 79) evoziert als perfekte Summe hochgotischer Architektur katholische Religiosität, während die Museumsbauten als Neorenaissancearchitekturen (Semper u. Hasenauer, 1871 – 91) auf die Wiege der neuzeitlich-klassischen Kunst in Italien verweisen.
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Der Justizpalast in Brüssel Hypertrophes Staatssymbol
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as 19. Jh. ist in Europa wie auf dem amerikanischen Kontinent durch die Etablierung (USA seit 1776) bzw. Entstehung von Nationalstaaten gekennzeichnet, in denen eine – wie auch immer definierte – Nation als Souverän auftritt und sich eine Verfassung gibt. Die hier regierenden Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative sowie die fundamentalen Werte jeder dieser Nationen, wie zum Beispiel ihre wissenschaftliche und künstlerische Leistungsfähigkeit, ihre heroische Geschichte oder ihre Fürsorge um das Gemeinwohl, sollten aber nicht abstrakte Begriffe bleiben, sondern öffentlich für alle sichtbar sein. Zusammen mit den großmaßstäblichen Stadterweiterungen und urbanistischen Umplanungen |▶ 13| führte das zu einer weitgehenden allegorischen und architektonischen Überformung praktisch aller Städte der Alten Welt. Parlaments- und Gerichtsbauten, Museen und Universitäten wurden zumeist als monumentale Paläste errichtet. Es handelte sich immer um riesige und räumlich komplexe Bauten, um die zahlreichen Funktionen zu bergen und räumlich zu strukturieren. Vor allem aber sollten diese Werke unübersehbar sein und vernehmlich ‚sprechen‘. Historische Stile und allegorische Bilder waren insofern ebenso unabdingbar für diese Staatsbauten wie die zahllosen Denkmäler und Statuen historisch wichtiger Personen und Ereignisse, die den öffentlichen Raum in eine immense Erinnerungslandschaft umformten. Einen Höhepunkt erreichte diese Ästhetik öffentlicher Architektur im Brüsseler Justizpalast, der allein in seinen schieren Dimensionen nur Superlative zu bieten hat: Die Grundfläche beträgt 26 000 m², die Höhenerstreckung 117 m, im Inneren befinden sich 27 Gerichts-
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säle und Hunderte weiterer Funktionsräume. Vor allem aber verstand sich der Palast als eine in ein gewaltiges Orchester eingefügte Summe der Instrumentierungsmöglichkeiten der klassisch-vitruvianischen Architektursprache mit Säulen, Gebälken, Giebeln, Risaliten, Pavillons und Kuppeln sowie begleitender skulpturaler Ausgestaltung. Begonnen wurden die Planungen für einen Justizpalast des 1830 gegründeten Königreichs Belgien im Jahre 1860. Er sollte alle juristischen Institutionen der jungen Hauptstadt, u. a. zahlreiche Verhandlungssäle, eine Bibliothek, außerdem ein Restaurant und ein Postamt aufnehmen. Ein erster Wettbewerb scheiterte, darauf beauftragte 1862 die Stadt ihren Stadtbaumeister Joseph Poelaert mit der Planung und Ausführung des monumentalen Gebäudes. Die Arbeiten begannen 1866, die Eröffnung fand 1883 statt, die zentrale Kuppel musste nach Kriegsschäden 1948 leicht verändert teilrekonstruiert werden. Signifikant ist allein die städtebauliche Lage, südwestlich des Zentrums, auf einer merklich ansteigenden Anhöhe, die nach Westen steil abfällt. Dort legte man eine nach Norden und Westen sich hoch in die Unterstadt schiebende Terrasse als Unterbau an. Somit thront der Palast von allen Seiten unübersehbar über der Stadt, scheint von einigen Seiten dramatisch in den Himmel zu wachsen und wird an diesen auch nur über ein System von Rampen erschlossen. Zudem aber wird er auf signifikante Weise in die Straßen- und Bedeutungsachsen der Stadt eingebunden: Auf dem Plateau treffen sich die Ausfallstraße Avenue Luise und die damals neu angelegte Rue de la Régence, die, zwischen Universitätsviertel und Königsschloss hindurchführend, direkt auf eine
Der Justizpalast in Brüssel
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162 □ 77 Brüssel, Justizpalast, Joseph Poelaert, 1866 – 83, Gesamtansicht (historische Aufnahme)
Ecke des großen Parc Royal trifft. Somit ist die Architektur der Justiz auf sinnfällige Weise mit anderen staatlichen Einrichtungen in Beziehung gesetzt. Diese markante städtebauliche Einbindung des Palastes ging allerdings mit massiven Enteignungen und der Zerstörung eines ganzen ‚volkstümlichen‘ Stadtviertels einher. Der Palast erhebt sich über einem annähernd quadratischen Geviert von 150 auf 160 m Seitenlänge, das insgesamt acht Innenhöfe umschließt. Jede Seite ist anders komponiert, doch stellt sich die Grundeinheit als breit gelagerter Flügel mit kolossaler, über zwei Riesengeschosse reichender Säulenkolonnade dar (□ 77). Hier herrscht eine strenge Achsensymmetrie, die durch kolossale Portalanlagen als Mittelbetonung und durch Eckpavillons angezeigt wird. Die inneren Hauptachsen erschließen das Gebäude kreuzförmig und treffen in der Gebäudemitte auf die Salle des pas perdus, einen riesenhaften, rechteckigen Saal, der sich in fast 100 m Höhe in die zentrale Kuppelkonstruktion in der Gebäudemitte erstreckt. Von außen türmt sich diese Kuppel über mehrere zurückspringende, kubusartige Blöcke steil nach oben. Diese in ihren Dimensionen gigantische und nur durch vielfältigen Einsatz von Eisenkonstruktionen
III. Schlüsselwerke
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(Konzeption François Wellens) ermöglichte Grundstruktur ist nun mit allen Formmotiven des klassischen Repertoires komponiert, angereichert und durchmodelliert. Dabei kommen aber nicht nur etwa die fünf klassischen Ordnungen zum Einsatz, sondern auch ägyptische und mesopotamische Vorbilder. Alle Elemente sind von volltönender, schwerer Wucht, oftmals eng nebeneinander gestellt, vollplastisch oder tief schattend modelliert. Man hat den Eindruck, dass die Hunderte von Ädikulen sich gegen die kräftigen Säulen zu ihrer Seite stemmen und über die Gebälke nach oben durchbrechen. Dabei spielt sich dieser Kampf der Säulen und Gebälke in mehreren Schichten ab. Die Hauptfassade zur Rue de la Régence etwa wird seitlich eingefasst durch weit nach vorne springende Eckpavillons – die so geräumig sind, dass sie jeweils große Gerichtssäle enthalten (□ vgl. 77). Die Fassade selbst wird gebildet durch eine offene Kolonnade, die in der Mitte durch ein gewaltiges, nach vorne und oben weit aufkragendes, übergiebeltes Hauptportal von 39 m Höhe (!) durchbrochen wird. Dieses übergreift indessen aber nur eine einzige hohe Öffnung, in die nun aber Säulen eingestellt sind, die trotz ihrer gewaltigen Größe nicht bis an die Unterseite des Portalsturzes reichen.
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Von hier aus geht die Hauptachse des Gebäudes in das Innere. Hinter der doppelreihigen Säulenkolonnade folgt nicht etwa ein Eingang, vielmehr erstreckt sich links und rechts des Portaldurchgangs je ein quergerichteter Peristylhof. Jeder enthält eine symmetrische Treppenanlage, die eine Galerie im Inneren des Hofes bedient, welche zu den genannten Gerichtssälen in den Eckpavillons führt (□ 78). Allerdings liegt die Höhe dieser so würdevoll erschlossenen Galerie gerade einmal auf einem Fünftel der Höhe der Portalädikula! Ein Grund für die erdrückende Dominanz von Säulen und Pilastern stellt auch ihre völlig unkanonische Verwendung in jeweils identischen Dimensionen pro Säulenordnung dar. So sind die Palmensäulen jeweils 20 m hoch, während die kompositen Säulen einheitlich gerade einmal 3,75 m erreichen. Damit wird zum einen der klassische Grundsatz, wonach Corinthia und Composita die würdigsten Ordnungen abgeben, gesprengt und durch einen Bedeutungsmaßstab der absoluten Größe ersetzt. Zum anderen kommen somit kleine neben großen Säulen zu stehen. Sie sind im Grunde nur in ihrer Gesamtheit als ins Hypertrophe gesteigerte Pracht bzw. als bedeutungslose Gliederungselemente zu verstehen. Säulen übereinanderzustellen, wie das durchaus üblich war (Superposition), hätte eine nicht angemessene Kleinteiligkeit ergeben. Dabei sind sämtliche Detailformen sehr getreu von einer Vielzahl berühmter antiker Monumente übernommen, in ihrer Massierung und unkanonischen Verwendung wird das zur ausgeklügelt komponierten, aber latent ironischen Collage von Klischees, allerdings mit dem Ergebnis, damit größtmögliche Raum- und Modellierungseffekte zu erreichen. Ähnliches gilt auch für das Innere, bei dem Poelaert vor allem auf äußerst variationsund erlebnisreiche Raumabfolgen in immer wechselnden Lichtstimmungen geachtet hat. Vor allem die Salle des pas perdus mit 3600 qm Grundfläche staffelt sich im Inneren über ein
virtuoses System von unterschiedlich belichteten Galerien, Emporen und Zwischengeschossen nach oben und kulminiert unter der inneren Kuppelschale. Das Auf und Ab der Treppen, die kurvierten Treppenhäuser, die überraschenden Austritte und Durchblicke lassen die Architektur in drei Dimensionen erleben, in atemberaubender und oftmals bedrückender und einschüchternder Weise. Hinzu kommt, dass sich Poelaert Steinverkleidungen unterschiedlichster Farbabstufungen bedient, die in
□ 78 Brüssel, Justizpalast, Joseph Poelaert, 1866 – 83, Treppenhaus
Der Justizpalast in Brüssel
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der dominierenden Hellfarbigkeit Akzente setzen. In diese komplexe Raumstruktur sind nun vielfach Bilder eingesetzt, die ähnlich wie barocke Allegorien das Rechtsverständnis erläutern. So stehen an den Treppenaufgängen in den seitlichen Peristylhöfen Statuen antiker Rechtslehrer (Demosthenes, Lykurg, Cicero und Ulpian, □ vgl. 78). Am letzten Kuppeltambour thronen an den Ecken riesenhafte Personifikationen von Kraft, Gerechtigkeit, Gesetz und königlicher Milde. Diese sollten der Bevölkerung präsent halten, dass in dem jungen Staat „eine durch das Gesetz geleitete und durch die königliche Milde abgedämpfte Gerechtigkeit als Souverän über die Nation regiere“ (Wellens 1881, S. 6). Hier vermittelt sich ein politisches Programm, das sich – auch wenn es dies nicht explizit benennt – mit allen Mitteln durchzusetzen hat, zum Beispiel gegen absolutistische oder klerikale Auffassungen – aber auch gegen eine eingesessene Brüsseler Bevölkerung in dem Stadtviertel, in dem dieses Staatssymbol errichtet wurde. Gleichwohl war diese, seit dem 19. Jh. sich etablierende Rechtsauffassung die entscheidende Legitimation der neuen Staaten, waren es doch allein sie, die die Gesamtheit des Rechts zu institutionalisieren und administrativ zu regeln hatten. Daraus erklärt sich, dass gerade auch Gerichtsgebäude eine derart monumentale Bauaufgabe vor allem im 19. Jh. bildeten. Außer dem Brüsseler Bauwerk kann man beispielsweise ähnlich opulente historistische Architekturen in Rom (Palazzo della Giustizia, 1889 – 1911, Guglielmo Calderini; Neorenaissance), London (Law Courts, 1870er Jahre, George Edmund Street; Neugotik), Berlin-Tiergarten (Amts- und Landgericht, 1902 – 06, Rudolf Mönnich und Carl Vohl; Neubarock) oder München (Justizpalast, 1890 – 97, Friedrich von Thiersch; Neubarock) nennen. In all diesen Beispielen fällt auf, dass die Wahl des Baustils ein gewichtiges Argument für die staatliche Selbstdarstellung im Sinne einer ideellen Verankerung in einer vor-
III. Schlüsselwerke
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bildlichen, identitätsstiftenden Vergangenheit bildet. Das Brüsseler Monument allerdings folgt dieser Logik nicht mehr, denn zu eklektisch sind die vielfachen Referenzen und zu ungewöhnlich ihre Kombination. Die Verbindung von Größe und Schönheit sollte in allgemeiner Weise an antike Riesenbauten erinnern. Noch stärker als die Pariser Oper |▶ 12| will der Justizpalast nicht nur ‚gelesen‘ und ‚verstanden‘, sondern unmittelbar in seinen Licht- und Raumeindrücken ‚erlebt‘ werden. Der respektlose und ironische Umgang mit dem klassischen Architekturvokabular deutet sicherlich auf die endgültige Krise des Historismus: Dieser veritable ‚Turmbau zu Brüssel‘ war zum einen Ausdruck einer Hybris, nämlich souverän über die Weltarchitektur verfügen zu können und ihre ehemaligen Regeln umzudeuten, doch offenbarte er zum anderen eine Sprachverwirrung bzw. kann stellvertretend für diese stehen. Welcher Stil für welchen Inhalt stehen konnte, wurde immer unklarer und förderte in der Architekturkritik um 1900 den Eindruck, der im Eklektizismus endende Historismus sei eine beliebige und bloß pompöse Dekorationsarchitektur. Insofern ist verständlich, dass sich die auf Poelaert folgende Generation belgischer Architekten (Paul Hankar, Victor Horta |▶ 19|, Henry van de Velde) darum bemühte, die genuin architektonischen Eigenschaften etwa des Justizpalastes zu den wesentlichen Architekturkriterien des sog. Jugendstil um 1900 zu erheben: komplexe Raumkomposition, Licht, Farbe, emotionale Wirkqualität, vgl. S. 17 f.). Der Weg dahin war aber nicht der einzig mögliche: Daneben stand ein pragmatischer Historismus, der Bauprogramme und ihre stilistische Ausführung unter funktionalen und formalästhetischen Kriterien betrachtete. Die pittoreske Stadtverschönerung war dabei ebenfalls wichtig, und insofern sollte dem lange verachteten Eklektizismus ein langes Leben, mindestens bis zu Anfang des 20. Jh.s, beschieden sein.
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Galleria Vittorio Emanuele II in Mailand Tempel des Konsums
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an hat die Ladenpassage, eine gedeckte innerstädtische Verkaufsstraße, die einen Baublock durchschneidet, zu Recht als einen Bautyp des 19. Jh.s bezeichnet, auch wenn die Voraussetzungen dazu uralt sind: arabische Bazare, Gefängnisse, Gewächshäuser, vor allem aber auch zum Promenieren errichtete Schlossgalerien sowie Markthallen für den Handel. Erst im 19. Jh. allerdings ergab sich die Möglichkeit, in den sich verdichtenden Großstädten ganze Häuserblöcke zu Zwecken der Spekulation anzukaufen, hier innen liegende Passagen anzulegen, die als reine Fußgängerzonen bereits bestehende Straßen und Plätze verkehrsgünstig verbinden und zudem mit einem bestimmten luxuriösen Ambiente versehen werden können. Eine konsum- und vergnügungsorientierte reiche Bürgergesellschaft fand hier – so hat es Walter Benjamin beschrieben – zerstreute Entspannung, in einer aus der lauten, verschmutzten, von Not und niedriger Geschäftigkeit der industrialisierten Stadt ausgegrenzten städtischen Insel des verfeinerten Luxus. Die Passage wurde zur Wohnung des Flaneurs, der in einer abgeschlossenen Außenwelt seinen hohen Bedarf an Sinnenreizen befriedigen konnte. Die Menge des eleganten Publikums, die exquisite Geschäfte und Restaurants besuchte, war beständig in Wechsel und Bewegung. Die Investition in solch einen Tempel des Konsums musste allerdings bestimmte Kriterien beachten, um erfolgreich zu sein: Zentrumsnah und zwischen belebten Orten der Stadt, von einem elitären Publikum frequentiert, sollte die Anlage architektonisch derart gestaltet sein, dass die Dimensionen und die Ausstattung von Binnenstraßen und Ladeneinbauten den Erwartungen des Ziel-
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publikums nachhaltig entsprach. Dazu waren konstruktive Voraussetzungen unabdingbar, insbesondere weit spannende transparente Dachwerke, die erst mit Eisenbindern und Glashaut befriedigend zu realisieren waren. All das – die urbanistischen, wirtschaftlichen, sozialen, mentalen und eben architektonischen Faktoren – macht die Passage neben dem Theater, dem Bahnhof und der Markthalle – zu einer typischen Gebäudegattung des 19. Jh.s. Die Passage entstand in Paris Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jh.s als Agglomeration von Läden (erhalten sind etwa die Galeries Vivienne und Colbert, 1824 – 26) und breitete sich rasch in allen Großstädten der Alten und Neuen Welt aus, vielfach als Mittel einer liberalistischen Stadtsanierung und als kommunale Prestigeprojekte. Große Beispiele sind etwa die Royal Opera Arcade in London (1816 – 18), die Galeries St-Hubert in Brüssel (1838 – 47), die Kaisergalerie in Berlin (1870 – 73), die Galleria Umberto I in Neapel (1885 – 92), die Torgowy Dom Glawny Uniwersalny Magasin (GUM) in Moskau (übers. Warenhaus Neue Handelsreihen, 1888 – 93) und die Cleveland Arcade (1888 – 90). Transformiert wurde der Typus schon bald, seit dem letzten Jahrhundertviertel, vom ganz anders architektonisch aufgebauten Warenkaufhaus, dem allerdings sowohl organisatorisch als auch hinsichtlich der Produktpalette der Käuferschichten der Anspruch auf elitären Luxus mehr und mehr abhandenkam. Einen Höhepunkt des Bautypus bildet aber sicherlich die monumentale und architektonisch sehr einflussreiche Galleria Vittorio Emanuele II in Mailand. Hier war die Passage kein privates Spekulationsobjekt, sondern zu einem kommunalen Prestigeprojekt geworden. Die
Galleria Vittorio Emanuele II in Mailand
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□ 79 Mailand, Galleria Vittorio Emanuele II, Giuseppe Mengoni, 1865 – 77
seit dem Beginn des 19. Jh.s begonnene Erweiterung und Regularisierung des Domplatzes überschnitt sich historisch mit der Befreiung Mailands von den Österreichern im Jahr 1859 und der Gründung des Staates Italien im folgenden Jahr. Seither wurde die städtebauliche Verbindung der Piazza del Duomo und der nördlich davon gelegenen Piazza della Scala energisch als städtisches Projekt betrieben. Umgesetzt wurde das Projekt des jungen Architekten Giuseppe Mengoni, der 1860 eine längsrechteckige Erweiterung des Domplatzes vorschlug, deren Nordseite von der Galleria als Verbindung zur Piazza della Scala durchdrungen wird (□ 79). Als Pendant auf der Südsei-
III. Schlüsselwerke
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te des Domplatzes sollte sich das triumphale Portal des Königspalasts erheben, dazwischen, im Kreuzungspunkt mit der Achse der Domfassade, die Reiterstatue des ersten italienischen Königs, Vittorio Emanuele II. (die erst Ende des 19. Jh.s westlich verrückt zur Ausführung kam). Eine eigens gegründete englische Finanzierungsgesellschaft übernahm die Investitionsplanung, neben dem Architekten Mengoni war der französische Ingenieur Henri Joret vor allem für die Eisen-Glas-Dächer tätig. Die Grundsteinlegung erfolgte 1865, schon zwei Jahre später konnte die Eröffnung gefeiert werden, doch erst 1877 war die Gesamtanlage mit dem Triumphtor zum Domplatz vollendet. Der Grundriss der Galerie ist einfach (□ vgl. 79): Zwei sich lotrecht kreuzende Verkaufspassagen von ca. 15 m Breite werden durch seitlich hoch aufragende, gleichmäßig durchlaufende Fassadenwände eingefasst und durch ein rundbogiges Glasdach über Eisenbinder eingedeckt (lichte Höhe 32 m). Die seitlichen Fassaden staffeln sich in vier Geschossen und folgen in ihrem Aufriss frühbarocken Kirchenschiffen: Die Wand öffnet sich im Erdgeschoss in hohen Rundbogenarkaden, darüber folgt ein hochrechteckiges Fenster mit einer balkonartigen Balustrade (□ 80). An den Pfeilerstirnen zwischen den Arkaden erheben sich doppelt aufgesockelte Pilaster, die unter einem weitausladenden Gebälk – gleichzeitig eine balkonartige Galerie – über dem ersten Obergeschoss enden. In der hochgestreckten Attikazone darüber wird die Hochwandgliederung in Variation weitergeführt: Zwei weitere Geschosse öffnen sich in je einem Rechteckfenster, die Pilaster verwandeln sich in Karyatiden. Die Mauerzone schließt mit einem Kranzgesims ab, das als einheitlich durchlaufendes Auflager für die Glastonne dient. Das barocke Traveensystem, bei dem eine Fensterachse durch dekorative Stützelemente – Pilaster – horizontal gegliedert und durch markante Gesimse abgeschlossen wird, ist in der Galleria zu einem Modulsystem ge-
□ 80 Mailand, Galleria Vittorio Emanuele II, Giuseppe Mengoni, 1865 – 77, zentrale Kuppel
worden, hinter dem sich ein rasterähnlicher Grundriss verbirgt. Jede Arkade entspricht einer Ladenparzelle von jeweils identischer Breiten- und Tiefenerstreckung, die aber auch zu größeren Einheiten zusammengefasst sein können. Somit entsteht ein eigenartiger Effekt zwischen innen und außen, der auch schon bei den barocken Saalkirchen mit Kapellenanbauten zu beobachten ist. Die Innenstraße bildet eine Außenzone, einer Straße oder einem Platz vergleichbar, von dem aus sich einladend große Arkaden zu halböffentlichen Räumen – den Geschäften und Restaurants – auftun. Diese Öffnung der Wandfassade ist auch – im Gegensatz zu den barocken Vorbildern – in den oberen Etagen angewandt, wo Balkone und umlaufende Galerien mit Eisenbrüstungen großflächige Austritte aus den dort befindlichen Büros und Clubs bieten und den Blick in die Ladenstraßen ermöglichen. Das Irritierende besteht aber darin, dass die Ladenstraßen mit der Eisenglaskonstruktion gedeckt sind: Somit sind sie räumlich und klimatisch abgeschlossen, erhalten aber dennoch Tageslicht und lassen den Blick in die Wolken zu. Auch am Abend strahlten 600 – 2000 Gaslampen ein behagli-
ches Licht aus. Man befindet sich zugleich in einem Innen- wie in einem Außenraum. Dieser Effekt ist am größten in dem zentralen Kreuzungspunkt der beiden Straßen: Er weitet sich, da die Ecken großflächig abgeschrägt sind, zu einer groß dimensionierten Platzanlage über achteckigem Grundriss. Hier steht verschwenderisch Raum für Außenterrassen von Cafés und Restaurants zur Verfügung. Da sich über jeder Seite des Achtecks Stichbögen wölben, die eine Ringkonstruktion tragen, über der sich die majestätische zentrale Kuppel erhebt, fühlt man sich sofort an die kuppelüberwölbten Vierungen italienischer Barockkirchen erinnert, und in der Tat wetteiferte Mengoni mit keinem geringeren Gebäude als dem Petersdom (von Engelberg 2013, |▶ 21|). Allerdings sind in Mailand die vormals massiven Gewölbe in eine hell erleuchtete Eisen-Glas-Konstruktion verwandelt. Im achteckigen zentralen Ort summieren sich auch allegorische Darstellungen in Form von Statuen, Fresken und dem Bodenmosaik, deren Inhalte Künste und Wissenschaften in Bezug zum Haus Savoyen setzen. Die Abgrenzung der Passagen nach außen wird vor allem durch monumentale Eingänge in die Galleria
Galleria Vittorio Emanuele II in Mailand
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□ 81 Mailand, Galleria Vittorio Emanuele II, Giuseppe Mengoni, 1865 – 77, Fassade zum Domplatz
verstärkt. Vor allem vom Domplatz aus ist dies unmittelbar deutlich: Denn inmitten der regulierten Arkadenfronten der Domplatzkante erhebt sich ein großer, dreitoriger Triumphbogen mit korinthischer Ordnung als Eingang in die Galleria (□ 81). Unverkennbar sind hier die Anklänge an antike römische Ehrenbögen, die in der ersten Hälfte des 19. Jh.s in ganz Europa als Vorbilder zahlreicher Denkmäler gedient hatten, so in Paris (Arc du Carrousel, 1806, Charles Percier und Pierre-François-Léonard Fontaine; Arc de Triomphe, 1806 – 36, Jean-François Chalgrin), Marseille (Porte d’Aix, 1825 – 39 von Penchaud), London (Marble Arch, 1828, John
III. Schlüsselwerke
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Nash), München (Siegestor, 1843 – 50, |▶ 5|, Friedrich von Gärtner). In Mailand ist der Bogen ebenso triumphales Monument wie eine Art einladendes, weit geöffnetes Stadttor, hinter dem sich der luxuriöse Bereich der Galleria erstreckt. Dabei ist der Bogen nicht nur wie eine äußere Verkleidung vorgesetzt, sondern entspricht in seiner inneren Öffnung genau dem Querschnitt der Passagenstraße dahinter. Insgesamt grenzt sich also die Galleria deutlich aus dem urbanen Geflecht aus, steht aber durchaus in vielfältigen Achsbeziehungen mit ihrem Umfeld: Sie markiert die Querrichtung zur Ost-West-Erstreckung des Doms mit seiner neugotischen Fassade, und auf der Piazza della Scala steht das Denkmal für Leonardo da Vinci in der Achse des entsprechenden Passagenarms. Trotz der Schwelle, die die Passage zu den umgebenden öffentlichen Bereichen bezeichnet, soll sie durchaus nicht abweisend wirken. Dieses Oszillieren zwischen Abgrenzung und Einladung hat seinen Grund: Es geht ja zum einen darum, einen luxuriösen Geschäftsbereich mit einer bestimmten Klientel und mit hohen Renditeerwartungen auszuweisen. Zum anderen aber musste den Mailänder Investoren daran gelegen sein, ein möglichst großes Publikum anzuziehen. Dieses fand und findet einen künstlich klimatisierten und sauberen urbanen Bereich vor, eine geschützte barocke Platzanlage, in der gelassen und unbeschwert zu flanieren, zu kommunizieren sowie, in den davon wiederum klar geschiedenen Läden und Restaurants, in unterschiedlichster Weise zu konsumieren ist. Dieses Prinzip der räumlichen Segregation von Shopping Malls als kontrollierbare innerstädtische Bereiche wird bis heute angewandt, allerdings mit dem Unterschied, dass das große urbane Flair in den Ladenpassagen – nicht ohne Zufall häufig nach dem geläufigen englischen Begriff für die Passagen ‚Arkaden‘ genannt – häufig zu Alibi-Einrichtungen – Pflanzinseln und lächerliche Brünnlein – verkümmert ist.
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Die Mietskaserne in Berlin Massenwohnbau und Industrialisierung
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ie Mietskaserne in Berlin ist zum Inbegriff unhygienischen und unsozialen Wohnens des 19. Jh.s geworden. Sie hat auch zum Mythos der deutschen Hauptstadt beigetragen, spätestens als Werner Hegemann sein Buch „1930. Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt“ herausgab, das wie ein Pendant zu dem ein Jahr zuvor erschienenen Roman „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin zu lesen ist. Vor allem aber nimmt die Mietskaserne in der Meistererzählung der Moderne die Rolle der überwundenen schlechten Vergangenheit ein. Denn das Neue Bauen der Weimarer Republik verstand sich in hohem Maße als Reform des Massenwohnungsbaus, der an Stelle der unhygienischen, dunklen Mietskasernen Häuser mit ‚Licht, Luft und Sonne‘ konzipierte. Doch gab es schon seit 1900 vielfältige und qualitätsvolle Weiterentwicklungen der Mietskaserne. Dass sie als Wohnkonzept noch darüber hinaus eine Zukunft hatte, zeigt ihre Wiederentdeckung ‚von unten‘, durch private Initiativen seit den 60er Jahren und vor allem durch die Internationale Bauausstellung in Berlin 1977 – 87, deren einer Teil, die IBA-Altbau, der kreativen Wiedergewinnung und Rehabilitation der Altsubstanz im Wohnbau gewidmet war. Spätestens seit dieser Zeit ist das ‚Leben im Kiez‘ zu einer lukrativen – weil hochverdichtet-städtischen – Wohnform hoher Lebensqualität, insbesondere in gentrifizierten Stadtteilen geworden. Vom architektonischen Konzept her ist die Berliner Mietskaserne der Zeit um 1870/80 ein meist fünfgeschossiger Baublock, der auf im Vergleich zu anderen Städten sehr großen, verhältnismäßig schmal und tief proportionierten Parzellen errichtet ist und auf der Schmalseite
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zur Straße hin eine ca. 6 – 12 Fensterachsen zählende, traufständige Fassade aufweist. Da diese Hausstrukturen ohne Zwischenabstand in Reihe geschaltet sind, ergibt sich eine strikte Blockrandbebauung, das heißt, die Straßenbzw. Gehwegkante ist identisch mit der Flucht der Häuserfassade. Dahinter erstrecken sich Seiten- und Querflügel, die auf höchste Verdichtung des Wohnraums achten: Knappstens bemessene Innenhöfe (ursprünglich nur nahezu 6 qm als Untergrenze zum Wenden der Feuerspritze) verschaffen ein Minimum an Licht und Luft, so dass in vielen Fällen mehrere Querflügel hintereinander angeordnet werden konnten (□ 82). Aus der Baustruktur ergibt sich, dass die in die Tiefe führenden Seitenwände des Mietshauses fensterlose Brandwände sind, also nur das zur Straße gehende sog. Vorderhaus Fenster zur Straße sowie zum rückwärtigen Innenhof aufweisen kann. Diese Vorderhauswohnungen enthalten zumeist zwei Reihen von
□ 82 Berlin, Ackerstraße, enggestellte Querblöcke einer Mietskaserne (historische Luftaufnahme)
Die Mietskaserne in Berlin
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Zimmern, die über einen mittleren Stichkorridor erschlossen werden. Der Rest der Wohnungen erhält nur von einer Seite, und dazu nur über einen Innenhof Licht. Die Mietskaserne war insofern ein Spiegel der Gesellschaft: Nur im Vorderhaus herrschten gute und komfortable Wohnbedingungen, zumal die Wohnungen fast immer winkelförmig über das sog. Berliner Zimmer (ein im Knick liegendes, großes, aber schlecht belichtetes Zimmer) in die Seitenflügel übergingen, wo häufig auch die Dienstbotenaufgänge und -wohnungen angelegt waren. Einzig die Vorderhauswohnungen konnten über eine Außenfassade repräsentativen Aufwand zeigen und mit dem öffentlichen Straßenraum kommunizieren, auch durch Loggien und Balkone. Doch von diesen Wohnungen im Vorderhaus gab es jeweils nur ca. fünf oder zehn, eben gemäß der Etagenanzahl des Hauses und der Lage des Treppenhauses: Liegt dieses mittig im Baublock, können von hier zwei Wohnungen pro Absatz abgehen (sog. Zweispänner). Aber auch innerhalb des Vorderhauses sind Hierarchien festzustellen, denn da die Berliner Mietshäuser fast niemals einen Aufzug besaßen, lag die anspruchsvollste Wohnung im ersten Obergeschoss. Im Erdgeschoss konnten Läden und von der Straße zugängliche Keller untergebracht sein. Hinter dieser funktionalen und repräsentativen Schnittebene zwischen Straßenund Wohnraum erstreckten sich aber Dutzende und Hunderte kleinerer Wohnungen ohne Komfort, Wohnstatt für den Großteil der Mieter. Erschlossen wurden die Höfe durch hohe, von Fuhrwerken passierbare Tore in Vorderhaus und den Querflügeln. In zumeist kleinen 1 – 2Zimmer-Wohnungen konnten hier unzählige Personen zur Miete untergebracht werden, die teils als Familien, teils als sog. Schlafgänger im Schichtwechsel hausten. Zumeist gab es nur einen heizbaren Raum und erst in den 80er Jahren wurde es üblich, die Wasserversorgung in die Häuser zu verlegen. Diese Baukonzeption war das Ergebnis einer liberalistischen Wirt-
III. Schlüsselwerke
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schaftsordnung, in der freie Bauunternehmer die Mietskasernen als reines Spekulationsobjekt, d. h. mit größtmöglicher Renditeerwartung errichteten – unterstützt durch ein Mietrecht, das dem Mieter fast keine eigenen Rechte einräumte. Dabei war das Baukonzept im Einzelnen flexibel auszutarieren: Je nach Stadtviertel, Lage und Mieterschaft konnte die Ausgestaltung der Fassade und der Vorderhauswohnungen, die Größe der Innenhöfe und die Qualität der hygienischen Einrichtungen variieren und dem Markt angepasst werden. Das Konzept und die Entwicklung der Mietskaserne entsprach auch dem System der Berliner Stadterweiterung, die im Zuge einer rasanten, in der Mitte des 19. Jh.s einsetzenden und nach der Reichsgründung sich nochmals verstärkenden Bevölkerungszunahme (auf über 2 Mio. nach 1900) dringend notwendig geworden war. 1853 hatte die Polizeibauordnung Minimalstandards bei Baumaßnahmen festgelegt, insbesondere eine Traufhöhe von 20 m (später auf 22 m erhöht). Der große Bebauungsplan unter James Hobrecht von 1862 sah vor allem eine zukunftsweisende Verkehrs- und Erschließungsplanung (Kanalisation) vor. Hobrecht konzipierte zwei große Ringstraßen und eine Reihe von boulevardartigen Radial- und Verbindungsstraßen, skandiert von teils großen Plätzen an den Wegekreuzungen. Das Pariser Vorbild der Stadterweiterung unter dem Präfekten Haussmann |▶ 12| ist hier unverkennbar. Allerdings handelte es sich bei Hobrechts Plan um einen reinen Fluchtlinienplan. Die Ausführung der Baulichkeiten übernahmen finanziell potente und kommunalpolitisch einflussreiche Terrainbaugesellschaften. Dies führte einerseits zu den auch heute noch zu bemerkenden unterschiedlichen Charakteristiken mancher – teilweise benachbarter – Stadtteile, die vor allem im Südwesten der Stadt auf ein wohlhabendes bürgerliches Publikum ausgerichtet waren. Andererseits breiteten sich in den Arbeitervierteln im Norden, Osten und Südosten der Stadt die
□ 83 Berlin-Steglitz, Wohnanlage des Beamten-Wohnungsvereins, Paul Mebes, 1907 – 08, Innenstraße
reinen Mietskasernen als privatwirtschaftliche Spekulationsobjekte ohne Komfort aus. Dass sich die Berliner Mietskaserne als ein bestimmter architektonischer Typ ausbilden konnte, liegt also an bestimmten Grundfaktoren: Die finanzielle Spekulation mit Mietswohnungen trifft auf eine innerhalb kürzester Zeit in unglaublicher Weise expandierende Stadt, deren Parzellierung allerdings vorbereitet ist. Hier, an den Rändern des damaligen Berlin, stand Bauland ohne Einschränkung zur Verfügung und ermöglichte eine großformatige Parzellierung. In anderen Städten Europas gab es diese Stadterweiterungen nicht in diesem Ausmaß oder aber nicht in vergleichbarer Weise durch Bauordnungen vorstrukturiert. Bei der erwähnten Pariser Stadtsanierung etwa unterlag nur das Kerngebiet der 20 Arrondissements einer seit dem 16. Jh. beständig aktualisierten Fassadenverordnung, die 1859 im Zuge der Stadtregulierung unter Haussmann |▶ 12| eine detailliert geregelte Strenge annahm: flache Fassaden von ca. 18 m, an den Boulevards maximal 20 m Höhe, durch klare Register hochrechteckiger Fenster geöffnet, zunächst ohne vorspringende Balkone. Bis 1902 wurden die Vorschriften schrittweise gelockert, so dass Vorsprünge, mächtige Konsolen, Balkone und vor allem eine reich silhouettierte Dachlandschaft möglich wurden. Doch diese insgesamt schlichten und strengen Pariser Straßenfassaden legen sich vielfach vor eine im Kern alte,
sehr unterschiedlich für den Massenwohnbau umgestaltete Bausubstanz, es entwickelt sich nicht ein regelrechter Typus daraus. Die Berliner Mietskaserne erschien Architekten und Stadtplanern seit der Zeit vor 1900 als Skandalon, nicht nur wegen der durch sie beförderten sozialen Missstände, sondern auch, weil sich der Anteil des genuin Künstlerisch-Architektonischen auf einige Motive an der Fassade beschränkte. Die Reformen des Mietshauses wurden zunächst durch neue Finanzierungsmodelle bewirkt: Baugenossenschaften und private Bauvereine wollten nicht Spekulationsobjekte errichten, sondern lebenswerten und bezahlbaren Wohnraum schaffen, je nach der sozialen Schicht, auf die die Genossenschaft abzielte. So entstanden vor allem für Angestellte und Beamte qualitätsvolle Mietshäuser, die hygienische Standards erfüllten, also insbesondere WC und Bäder aufwiesen. Auf den großen Parzellen wurden nunmehr Höfe zu einem Innenfreiraum zusammengefasst oder auch direkt zur Straße ausgerichtet: Das Vorderhaus mit großen Öffnungen und Austritten schmiegt sich dann um einen Vorgarten oder -hof. Der Innenhof gewinnt in den sog. Wohnhöfen generell eine neue Bedeutsamkeit als ruhiger Aufenthaltsort, und er ist groß genug, um den Lichteinfall in die Wohnungen nicht zu behindern. Viele der damals berühmten Berliner Architekten dieser Zeit waren mit einfallsreichen Lösungen im Bereich des
Die Mietskaserne in Berlin
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Mietshausbaues tätig, etwa Alfred Messel, der junge Bruno Taut |▶ 30| oder Paul Mebes. Von Letzterem stammt eine besonders gelungene Lösung in dem damals am Stadtrand gelegenen Steglitz (□ 83). Der Beamten-Wohnungsverein ließ durch Mebes 1907/08 eine pittoreske Anlage errichten, die sich durch eine mittig durchgeführte, leicht geschwungene Innenstraße auszeichnet. In der Mitte weitet sich die Innenstraße zu einer Art zentralem Platz, an den Außenkanten der Parzelle wird die Innenstraße durch die seitlichen Blöcke torartig eingeleitet. Die leicht unregelmäßig geführten Wohnblöcke erhalten ihr Licht von der Innenstraße wie von den Rückseiten, wo Versorgungsgärten angelegt sind. Zahlreiche Balkone und Loggien verschaffen Austritt und dienen zudem als variierende Fassadengliederung. Diese achtet geschickt darauf, interessante Perspektiven innerhalb der Innenstraße zu bilden. Trotz dieser bewusst malerischen Auffassung gibt es eine Reihe von standardisiert hergestellten Einzelformen, wie Fenster, Türen usw. Das Ganze erhält durch die unverputzten, intensiv dunkelockerfarbenen Ziegelaußenwände ein sehr warmtoniges, intimes Ambiente, zu dem die Baumbepflanzung und der Rasen in der Innenstraße als kühlender Kontrast wirken.
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Vor allem im Werk von Albert Gessner sind diese Reformen des Miethausbaues in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg weitergeführt. Der Außenraum wird nunmehr als Pendant zum Innenraum begriffen: Von Fassaden umstanden bildet er einen eigenen Raum aus, der vielfältig akzentuiert sein kann. Die Monotonie der Fassaden weicht Kompositionen, die versuchen, vor allem vermittels großer Giebel und Pseudomansarddächern die Allüre von Landhäusern bzw. mittelalterlichen Fachwerkhäusern in die städtischen Wohngebiete zu tragen. Jedes Haus ist als Individuum verstanden und stellt dies auch über seine Fassade dar. Generell sind die neuen Fassaden malerisch mannigfaltig und farbenfroh. Auch die Wohnungsgrundrisse variieren vielfältig, und selbst wenn es davon Wiederholungen innerhalb eines Hauses gibt, so dürfen diese nicht monoton übereinandergestaffelt sein. Die Grundrisse sind so gestaltet, dass alle Zimmer gut belichtet werden können, unter anderem dadurch, dass die Grundrisskonturen ondulieren oder zurückspringen. Hier sind Ideen der Arts-and-Crafts-Bewegung und der englischen Landhausbewegung sowie der Gartenstadt |▶ 11, 22| wirksam, ohne dass aber die städtische hohe Bebauungsdichte aufgegeben würde.
Guaranty Building in Buffalo Die Geburt des Wolkenkratzers
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ochbauten sind eine Konstante der Architekturgeschichte. Der Leuchtturm von Alexandria, eines der Sieben Weltwunder, oder die Westfassade der Kathedrale von Straßburg – bisweilen als achtes Weltwunder bezeichnet – waren technische Höchstleistungen, die vor allem symbolische Aussagekraft
III. Schlüsselwerke
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hatten. Die Geschichte des Hochhauses aber, also einer vielfältig nutzbaren, aus städtebaulichen Zwängen enger Bebauung in die Höhe gebauten Architektur, beginnt erst mit der fortschreitenden Entwicklung der Stahlskelettarchitektur in den 80er Jahren des 19. Jh.s und der Erfindung des absturzsicheren Fahrstuhls
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1853 durch Elisha Graves Otis. Außerdem waren zahlreiche infrastrukturelle Probleme wie die Versorgung mit Wasser, Elektrizität, Heizung und Frischluft sowie die innere und äußere Reinigung zu bewerkstelligen. Als erstes Gebäude, das derartige Kriterien erfüllte, gilt das Home Insurance Building in Chicago, 1883 von William Le Baron Jenney errichtet. Das Problem besteht aber nicht darin, einen sich in die Höhe reckenden Stahlrahmen zu konstruieren, der rein funktional dafür konzipiert wird, Büroräume aus Renditegründen übereinanderzustapeln. Ebensolche Gründe der finanziellen Spekulation haben gleichwohl das Wachstum der Turmhäuser zu Wolkenkratzern angefacht. Auf dem begrenzten Terrain von Manhattan etwa führte der Hochhausboom der Jahrhundertwende zur Verteuerung der Grundstücke, dem ökonomisch nur durch noch höhere Häuser begegnet werden konnte. Insofern hatte das Hochhaus lange Zeit das Image, eine gerade für die USA – und insbesondere für New York und Chicago – spezifische Architekturform zu sein, die auf baukünstlerische Faktoren zugunsten eines unbehinderten Fortschrittsvertrauens verzichten konnte. In der Tat waren der Wirtschaftsaufschwung nach dem Bürgerkrieg zum einen und das weitgehende Fehlen von Bauordnungen bzw. historischer Bausubstanz zum anderen wichtige Voraussetzungen dafür, dass gerade in den USA seit dem Ende des 19. Jh.s ein Hochhaus-Boom einsetzte. Erst in den 20er Jahren sprang er vereinzelt auf Europa über. Deutschland war hierbei relativ früh beteiligt, denn schon seit den frühen 20er Jahren entstanden hier Hochhäuser bzw., in der Diktion der Zeit, Turmhäuser, also Bauten, die die normale, behördlich vorgeschriebene Traufhöhe klar überschritten. Beispiele sind etwa der Borsig-Turm in Berlin von 1922 – 24 (Eugen Schmohl), das Hochhaus am Hansaring in Köln von 1924 – 25 (Jacob Koerfer) oder der Tagblatt-Turm in Stuttgart (1927 – 28, Otto Oßwald). – Das „hohe Bürogebäude, künstlerisch
betrachtet“ – gemäß Louis Sullivans berühmter theoretischer Schrift von 1896, „The Tall Office Building Artistically Considered“ – ist aber eine ganz besondere Herausforderung an die Architektur: Bei den hochgestreckten Proportionen und der rasterartigen, dicht Raum ausnutzenden Gleichförmigkeit des Hochhauses musste jeder Versuch einer Gliederung mit Hilfe der überkommenen neuzeitlich-vitruvianischen Grammatik mit Säulen, Bögen, Gebälken und Giebeln versagen – es sei denn, man wollte die Formen gotischer Türme übernehmen. Dies geschah auch einige Male, etwa am bekannten Chicago Tribune Tower von 1925 (Raymond Hood und John Mead Howells). Eine maßstabsetzende innovative Lösung dieser schwierigen Aufgabenstellung stellte das Baubüro Dankmar Adler & Louis Sullivan seit den 1890er Jahren vor, vor allem im Wainwright Building in St. Louis von 1890 (□ 84) und im Guaranty Building von 1894 – 96 in Buffalo (□ 85). Dieses ist eine den Baugrund voll ausnutzende, blockartige Stahlrahmenkonstruktion von 13 Geschossen. Die eigentlich banale Struktur wird vollständig mit Terracottaplatten eingekleidet, die dem Gebäudeäußeren seine besondere Gliederung verleihen. Die ersten beiden Geschosse sind unmissverständlich für den Publikumsverkehr konzipiert, denn im Erdgeschoss öffnet sich weit eine Säulenstellung, darüber verläuft eine Reihe querrechteckiger großer Fenster. Über einem Gesims ändert sich die horizontale Gliederung der Sockelgeschosse: Recht weit ausladende ornamentierte Rechteckprofile schießen über zehn Geschosse in die Höhe, zwischen sie sind zurückversetzt und in voller Breite die Fenster der Büros eingelassen, das sog. Chicagofenster. Es ergibt sich somit vertikal eine monotone Abfolge von Brüstungsplatten und Schiebefenstern. Im Grundriss ist dieser Bauteil U-förmig, so dass sich ein Lichthof ergibt, der ursprünglich in spektakulärer Weise die Sockelgeschosse mit Oberlicht versorgte. In ihrem oberen
Guaranty Building in Buffalo
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Abschluss biegen sich die Rechteckvorlagen in der Art von Rundbögen um und tragen zudem in Superposition jeweils ein Rundfenster. Ein weit kurvig ausladendes Gesims schließt das Gebäude mit einer kräftig horizontalen Dominante nach oben ab. Diese Gesamtstruktur folgt anschaulich der Inneneinteilung: Im horizontal gegliederten Sockel finden sich die öffentlich zugänglichen Bereiche, darüber – in dem vertikal aufsteigenden ‚Schaft‘ – sind die Büros untergebracht, gleichförmig, eines wie das andere und potentiell in weiteren Etagen nach oben zu vervielfältigen. Und im obersten Bereich findet sich ein Teil der Gebäudetechnik, Aufzugsmaschinen, Wasserbassins zum Feuerlöschen usw. Sullivan hat diese Einteilung, die im Prinzip der klassischen Einteilung einer Säule in Basis, Schaft und Kapitell folgt, auch in seinem oben genannten Essay beschrieben. Vor allem aber ist die gesamte Verkleidung gleichsam ‚poetisiert‘, denn die Konstruktion drückt sich expressiv in einer differenzierten Ornamentierung aus, ohne dass diese die Gesamtstruktur etwa kaschieren würde. Die Kapitelle der Erdgeschosssäulen etwa scheinen im dichten gekräuselten Laubwerk zu wuchern, doch dieses
ist genau auf die statisch relevanten Achsen des Gebäudes bezogen. Auch darüber verleugnen die Träger und Stützen ihren rechteckigen, ein H-förmiges Stahlprofil enthaltenden Querschnitt nicht, im Gegenteil erscheint dieser auf der Vorderseite als flaches Relief von Quadraten, gekippt und multipliziert, eingefasst in rahmende Bänder. Analoges gilt für die Streben der aufgehenden Teile: Auch sie sind mit – nunmehr tief reliefierten – diamantförmigen, von vegetabilen Linien umspielten Ornamentfeldern geziert. Oben, um die Bogen und Rundfenster scheint die vegetabile Verkleidung den Höhepunkt zu erfahren, denn Pflanzen gleich entwachsen hier vielfältige Rankenornamente, die sich trotz aller Überschneidungen und Verdrehungen als geordnete Umrahmungen der Öffnungen erweisen. Nur an den Gebäudekanten scheint dieses Wachstum so furchtbar zu sein, dass die Ranken über die ausladende Gesimskante wachsen und sie gleichsam festhalten. Sullivan übernimmt also keineswegs historische Stilformen für seine Ornamente, vielmehr sind diese aus den konstruktiven Grundformen heraus konzipiert. Aus Quadraten und Kreisen, auf denen auch die technische Konstruktion der Stahlprofile bestehen, wachsen, nach strengen Regeln, aber üppig und eigenwillig-fantasievoll, neue Ornamente hervor, die die Konstruktion beleben. Auf solche Zusammenhänge bezieht sich das – oft missverstanden verwendete – Schlagwort Sullivans „form follows function“: Es geht nicht um die Gesamtdisposition (alleine), sondern die formgebende Auszierung. Diese setzt die wuchtige technische Konstruktion gleichsam wieder in ein Naturwerk um. Dazu kommt das Material der Terracotta, die dem Gebäude nicht nur eine ausnehmend warme Tonigkeit verleiht, sondern eine eigentümliche Zwischenstellung zwischen Handwerk und Serienproduktion einnimmt: Aufmerksam und □ 84 St. Louis, Wainwright Building, Dankmar Adler & Louis Sullivan, 1890
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subtil modellierte, ‚natürliche‘ Erdmasse aus der näheren Region, wird sie im Brand zur festen und schützenden Umhüllung des stählernen Kerns. Dies alles zielt für Sullivan darauf, die banale Konstruktion poetisch zu inspirieren und sie gefühlsmäßig erlebbar zu machen. In dem aufmerksamen Naturstudium und dem Verfolgen von Wachstumsprozessen bezieht er sich zweifellos auf die Gotikinterpretation von John Ruskin (vgl. S. 84 f.); doch in dem Bestreben, dies kraftvoll und ‚männlich‘ in eine neue massive stählerne Architektur umzusetzen, vermitteln sich typische Elemente des amerikanischen Transzendentalismus eines Ralph Waldo Emerson und vor allem deren poetische Umsetzung bei Walt Whitman. Beide hat Sullivan intensiv rezipiert, ja in seiner Sprache selbst vergleichbare dichterische Ansprüche vorgeführt. Wie der Dichter den Geist Gottes in jeder Einzelheit der Natur erkennt und offenbart, so gilt das auch vom Architekten. Er weiß um den Geist und die lebensvolle, unermessliche und herrliche Kraft der Natur und hat sie in poetisierte Technik und künstlerische Form umzusetzen: Das Diktum „Die Form folgt der Funktion“ bedeutet eigentlich: „Die Form/ Materie folgt dem Gesetz/Geist“. Diese spätromantische Naturphilosophie versteht sich als entschieden demokratisch, denn jedem soll dieses Bewusstsein möglich sein, schöpferisch inmitten der Natur zu stehen. Hier ist eine spezifisch US-amerikanische Identität formuliert, und diese wurde in der Zeit Sullivans zur Grundlage auch eines neuen Selbstverständnisses in der Architektur, das sich abseits der Ostküste in dieser Zeit neu begründete. ‚Männlich‘ und spezifisch amerikanisch sollte sie sich von der angeblich zu traditionell-europäischen, an historischen Stilen orientierten Architektur an der Ostküste absetzen. Für Sullivan bedeutete dies etwa im Fall des Guaranty Buildings, an der aufragenden Hochhausstruktur den Rhythmus von Wachsen und Tod in erhabener Weise kenntlich zu machen – und eben nicht
□ 85 Buffalo, Guaranty Building, Dankmar Adler & Louis Sullivan, 1894 – 96
mit angestammten architektonischen Vokabeln zu arbeiten. Der Wolkenkratzer als junge US-Architektur bot sich in besonderem Maße für eine derartige Akzentuierung an, um nicht lediglich reine Stahlskelettstrukturen zu errichten. Diese gab es durchaus (Tacoma Building in Chicago, 1886 – 89, Holabird & Roche), doch sie waren eben primär funktional, nicht sprechend und nicht ‚architektonisch‘ modelliert, stapelten entsprechend schlicht ein Geschoss über das andere. Eben in Chicago versuchte deswegen Henry Hobson Richardson mit dem Marshall Field’s Wholesale Store (1885 – 87) Alternativen zu schaffen: Der Riesenblock ist vollständig mit Rundbogenarkaden in Rustikamauerwerk umgeben. Die dadurch zweifellos erreichte ‚männliche‘ Monumentalität erinnert allerdings sehr an europäische Burgen, den Pont du Gard bei Nizza oder vor allem Florentiner Stadtpaläste der Renaissance (Palazzo Strozzi). Diese monumentale Blockstruktur ist den typischen großen Parzellierungen in Chicago geschuldet. Sullivan hingegen sucht sich anders als Richardson
Guaranty Building in Buffalo
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nicht einen scheinbar passenden historischen Bautypus, sondern entwickelt die oben dargestellte neue Konzeption des Hochhauses. Die Abhängigkeit der Hochhauskonzeptionen von der Terrainparzellierung zeigt sich vor allem im Vergleich mit New York, wo die relativ beschränkten Grundstücksgrößen zum turmartigen Bauen zwangen. Insofern unterscheidet man die grundsätzliche Struktur von Hochhäusern nach Block, Scheibe und Turm. Bei anhaltend steigender Konjunktur verbanden sie diese Typen bis zu den 20er Jahren des 20. Jh.s zu regelrechten Hochhaus-Clustern. In New York als dem Vorreiter erheben sich diese vor allem im Financial District in Lower Manhattan auf der Südspitze der Insel sowie im Central Business District in Midtown, südlich des Central Parks. Hier bildete sich der vor allem in seinem oberen Abschluss auffällig gestaltete Typus des Wolkenkratzers als Höhendominante und Symbol von Potenz und Beherrschung. Mit Staunen wurde 1913 weltweit die Eröffnung des Woolworth-Gebäudes (Cass Gilbert) wahrgenommen, das sich auf 241 m erhebt; 1930 – 31 folgte das Empire State Building (William F. Lamb) mit einer Höhe von 381 m (□ vgl. 28). Charakteristisch ist, dass diese Hochhauscluster auf relativ dichter Parzellierung sich von etwas älteren amerikanischen Hochhaus-
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bauten unterscheiden, die zumeist aufgrund ihrer gesellschaftlichen Symbolkraft als hochaufragende Akzente errichtet wurden. Hierbei handelte es sich um gigantische Kuppelbauten, städtebaulich mehr oder weniger freigestellt und weithin gut sichtbar, auf monumentalen Baublöcken aufruhend. Das Kapitol in Washington, 1865 von William Thornton und Benjamin Latrobe als Pendant zu dem Obelisken des Washington-Monuments in der Mall (1848 – 84, Höhe 169 m) konzipiert, erreicht immerhin 82 m Höhe |▶ 3|. Und in der Gründungsstadt der USA, Philadelphia, entstand genau am Kreuzungspunkt die City Hall mit einem Turm von 156 m Höhe (John McArthur). Solche Dimensionen staatlichen Bauens sollten bezeichnenderweise erst wieder von den totalitären Staaten des 20. Jh.s angestrebt werden, etwa dem über 400 m hoch aufragenden Sowjetpalast für Moskau, 1934 geplant (aber in den Fundamenten steckengeblieben) durch Boris Iofan (vgl. S. 54 u. 63, □ 25), oder dem megalomanen Projekt einer dem römischen Pantheon nachempfundenen, aber 320 m hohen ‚Ruhmeshalle‘, die Albert Speer 1938 – 41 als nördlichen Abschluss der riesigen Nord-Süd-Achse in Berlin plante |▶ 35|, oder auch in dem 82 m hohen Präsidentenpalast in Bukarest (1982 – 89, Anca Petrescu).
Das Bayerische Nationalmuseum in München Stilvielfalt als museologisches Konzept
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as Bayerische Nationalmuseum kann als „der Höhepunkt des […] malerischen Bauens in München gesehen werden“ (Schickel, in: Hofer 2002, S. 143). Doch darüber hinaus vertritt das Museum auch eine ganz eigenartige Spätphase des Historismus: Gebaut, um
III. Schlüsselwerke
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die Geschichte des bayerischen Kunstgewerbes würdig zu präsentieren, zielt es darauf ab, dies auch in stimmungsvollen und belehrenden Ambientes vorzuführen. Das Bauwerk wird zu einem geschickt zusammengefügten Pasticcio verschiedenster Stil- und Motivvor-
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gaben. Das historische Museum ist nicht eine wie auch immer würdig, pompös oder neutral gestaltete Hülle, sondern stellt sich sozusagen selbst aus und überführt damit die Geschichte bruchlos in die Gegenwart: Alles, was ist, ist Geschichte, auch sämtliche Formen des prominenten Riesenbaues. Dieses Jonglieren mit den geschichtlichen Versatzstücken nimmt in vielem, vor allem in all seiner augenzwinkernden Virtuosität, Elemente der Postmoderne vorweg |▶ 48| – aber andererseits macht es auch ein Grundproblem der Zeit deutlich: Wenn alles Geschichte ist und man über diese souverän verfügen kann, wie soll es dann ein Neues oder Gegenwärtiges oder gar ein vielversprechendes Zukünftiges in der Architektur geben? Das war die Frage, die schlagartig und mit bohrender Dringlichkeit mit dem Anbruch des 20. Jh.s in den Vordergrund trat. Der Neubau des Nationalmuseums ist in mehrerer Hinsicht für wichtige politische und künstlerische Entwicklungen des späten 19. Jh.s ein repräsentatives Beispiel. Die Initiative ging nämlich von der parlamentarischen Volksvertretung, dem Bayerischen Landtag, aus, der damit auf bürgerliche Reformbewegungen antwortete. Dazu zählte insbesondere das gestiegene Bewusstsein einer eigenen regionalen, hochstehenden künstlerischen Tradition, aus der heraus eine qualitätsvolle und wirtschaftlich erfolgreiche neue Gewerbetradition abzuleiten war. Damit hatte sich auch in Bayern eine säkular-bürgerliche Auffassung durchgesetzt, wohingegen bislang kulturell eine kirchliche bzw. vor allem monarchische Selbstdarstellung gepflegt wurde. War diese unter Ludwig I. durchaus dem Gemeinwohl verpflichtet |▶ 5|, so galt das für die monarchistische Repräsentationswut unter Ludwig II. aber in deutlich geringerem Maße. München sollte in der bürgerlichen Kunstgewerbereformbewegung eine führende Rolle einnehmen, etwa über den 1851 gegründeten Bayerischen Kunstgewerbe-Verein. Um 1900 war München zu ei-
nem deutschen Zentrum des Kunstgewerbes aufgestiegen, doch schwenkte diese Modernität wenig später um in eine traditionsverpflichtete Pflege der ‚Volkskunst‘. Der Neubau des Museums wurde 1892 beschlossen und unter kräftiger Einflussnahme der mächtigen Münchener Kunstszene, insbesondere des Malerfürsten Franz von Lenbach, als höchst repräsentativer, ‚schöner‘ Bau propagiert. Vermittels eines beschränkten Wettbewerbs ging 1893 der Auftrag an den mit Lenbach verbundenen Münchener Stararchitekten Gabriel von Seidl. Dieser schlug einen Standort am Ostende der kürzlich angelegten, von der Residenz nach Osten führenden Prinzregentenstraße vor. Ein Jahr später begannen die Bauarbeiten, 1900 konnte das Museum feierlich eröffnet werden. Von Seidls Entwurf war revolutionär, denn er verzichtete auf jede monumentale Allüre, etwa durch die Anlehnung an Schlosstypologien oder die Planung von prächtigen Freitreppen, Kuppeln u. Ä. Es ging nicht darum, eine Dynastie und ihre Sammlungen zu würdigen. Vielmehr konzipierte der Architekt eine langgestreckte, durchgehend zweigeschossige Baugruppe, aus der drei jeweils unterschiedlich gestaltete Baukörper nach vorne, d. h. auf die Längsseite einer längsovalen Erweiterung der Prinzregentenstraße, vorspringen (□ 86, 87). Obwohl der mittlere Flügel den Eingangstrakt enthält, gibt es keinerlei Symmetrie, denn alle Teile zeigen unterschiedliche Stilformen und Baumotive: Ecktürmchen, Arkaden, Risalite, Apsiden in Formen des Mittelalters, der Renaissance und des Barock. An der Rückseite des Gebäudes fallen eine gotische Apsis sowie eine ovale Dorfkirche des Rokoko ins Auge. Historische Gärten füllen die Rücksprünge der Baugruppe, die sich insgesamt wie eine über viele Jahrhunderte gewachsene Anlage zeigt, dabei aber ihrerseits gleichsam museal vom Stadtraum entrückt ist: denn eine Mauer umgibt das Gesamtareal, auf dem zahlreiche Baumgruppen, Ausnischungen und
Das Bayerische Nationalmuseum in München
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178 □ 86 München, Bayerisches
Nationalmuseum, Gabriel von Seidl, 1893 – 1900, Grundriss
Brunnenanlagen unterschiedlichste Stimmungen hervorrufen. Das Ganze war vor allem deswegen ungewöhnlich, weil selbst der Eingangstrakt in einem nur eingeschossigen Vorbau äußerst bescheiden geplant war. Durchaus repräsentativ war dafür aber die städtebauliche Einbindung, denn unmittelbar östlich des Museumskomplexes plante von Seidl für die Prinzregentenstraße zwei torartig sich ergänzende Zwillingspavillons. Gegenüber dem Museum war eine arkadenumstandene Gruppe von Wohnhäusern vorgesehen, die zwischen sich die quer auf den Platz und axial auf den Eingangspavillon zulaufende Alexandrastraße hätte passieren lassen. Von Seidl entwarf sein Museum ganz offensichtlich von innen nach außen, denn die Unregelmäßigkeit der Anlage entsteht aus der Abfolge von Räumen von unterschiedlichen Zuschnitten, Proportionen und Deckenhöhen. Aufgrund massiver Kritik an der mangelnden Monumentalität sah sich von Seidl genötigt, den Eingangsbereich aufzustocken und mit einem Turm zu akzentuieren. Im selben Zuge ergänzte er weitere Gebäude, etwa einen Studiensaal im Westen. Im Ergebnis wurde also eine äußerst lebhafte, malerische Baugruppe errichtet, die aus mehreren, vor- und zurückspringenden Fassaden und Hausgruppen komponiert scheint. Dies ist nun aber nicht dem Bestreben geschuldet, beliebige pittoreske
III. Schlüsselwerke
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Effekte zu schaffen, sondern folgt einem durchdachten museologischen Konzept. So enthält der Westtrakt mit schlossähnlicher Fassade die Objekte des Herrscherhauses der Wittelsbacher, der blockhafte Mittelteil spielt mit zwei seitlichen Stutzkuppeln auf das Augsburger Rathaus an. Aufgrund dieser bürgerlich-kommunalen Konnotation enthält er den Eingang und die Verwaltung. Sämtliche Innenräume sind stilistisch und atmosphärisch den Sammlungsgruppen angepasst, die sie zeigen. Es soll also eine untrennbare Einheit der Künste vorgeführt werden, die vom kleinsten kunsthandwerklichen Objekt über die Innenraumgestaltung bis hin zur Außenfassade reicht. Hier schimmert ein zeitgenössisches Ideal durch: den ‚Stil‘ für die Gegenwart zu finden, der alle (künstlerischen) Äußerungen umfasst, so wie dies auch in der Vergangenheit der Fall gewesen sei. Dabei achtete von Seidl darauf, dass seine subtil anverwandelten Vorbilder aus Bayern stammten: Es ging ja darum, die lang gewachsene Mannigfaltigkeit und zugleich die Einheit der bayerischen Nationalkunst vorzuführen und erlebbar zu machen. Vorbilder solcher Inszenierungen waren unter anderem das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg, im ehemaligen Kartäuserkloster eingerichtet, oder das Musée de Cluny in Paris, das die mittelalterliche Residenz der Äbte von Cluny ein-
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nimmt. Beide Institutionen sind als nationale Kunstgewerbemuseen, also ‚passend‘ in alten historischen Baulichkeiten eingerichtet. Bezeichnenderweise war von Seidl darauf bedacht, die Architekturmotive nicht prägnant und kontrastierend voneinander abzusetzen, denn es ging ja nicht darum, konkurrierende Mächte herauszustellen – etwa die Wittelsbacher oder die Kirche –, sondern darum, eine bruchlose Kontinuität zu evozieren (Schickel, in: Bauer 2000, S. 56 – 57). Dabei fungiert der Stil der deutschen Renaissance, auf den von Seidl an vielen Bauteilen – insbesondere am Mitteltrakt – zurückgriff, gleichsam als mittlere Ebene, von der aus in die Vergangenheit, das Mittelalter, wie auch in darauf folgende Epochen wie den Barock Übergänge möglich waren. Die deutsche Renaissance war aber vor allem für das sich emanzipierende Bürgertum der deutschen Städte insofern von Bedeutung, als sich dieser Stil historisch so markant und eigenwillig von der ‚klassischen‘ Renaissance Italiens absetzte und angeblich in einer Zeit entstanden war, als Bürger, Handwerker und
Kaufleute die politische Vorherrschaft übernommen hatten. Überdies galt die Renaissance als Hochzeit eines bodenständigen und gleichwohl verfeinerten regionalen Kunstgewerbes. Um 1850 entstanden, ist diese malerische Auffassung der deutschen Renaissance ein Akt der bürgerlichen Opposition gegen monarchischen Dirigismus bzw. einen monumentalen Schematismus, der zwar prächtig, aber ohne innere Notwendigkeit erschien. Das Nationalmuseum führt in seinem museologischen Konzept eben diese Vorbildfunktion des historischen Kunstgewerbes vor und ist in seiner Architektur selbst Ausdruck dieser Auffassung. Seine stimmungsvolle, ‚malerische‘ Auffassung bleibt nicht nur Attitüde, sondern verdankt sich dem Wunsch nach einer Einheit von Seele, Handwerk und Architektur: Das Innere wirkt auf das Äußere und dies ist individuell im Einzelnen und einheitlich im Ganzen. In Absetzung von prachtvollen Außenfassaden wird das Interieur □ 87 München, Bayerisches Nationalmuseum, Gabriel von Seidl, 1893 – 1900
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zu einem neuen Leitbild der Architektur: Auf der Jubiläumsausstellung des Bayerischen Kunstgewerbevereins 1876 wurden zum ersten Mal vollständige historische und vor allem neu gestaltete Raumensembles in ‚künstlerischer Totalwirkung‘ präsentiert. Dies entspricht einerseits der Bedeutung, die differenzierte Raumfunktionen im Zuge der Arts-and-Craftsund der Landhausbewegung |▶ 11| gewannen. Andererseits ist hier die programmatische museologische Konzeption des Nationalmuseums vorgezeichnet. Das bürgerliche Interieur wird noch nach 1900 den Hauptgegenstand der Reformbestrebungen abgeben und solchermaßen im internationalen Rahmen als für die deutsche Kunst repräsentativ und beunruhigend innovativ wahrgenommen. 1900 errichtete von Seidl das preisgekrönte Haus der deutschen Sektion auf der Pariser Weltausstellung. An der Gründung der Münchener Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk im Jahr 1898 waren namhafte moderne Künstler wie Richard Riemerschmid, Bernhard Pankok und Peter Beh-
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rens beteiligt. Von hier aus wurde intensiv die Gründung des Werkbundes betrieben, ( Themenblock · Interessensverbände, S. 220 f.,|▶ 22|) und 1910 sollte die Vereinigung auf dem Pariser Herbstsalon präsent sein und mit ihren schlichten und qualitätvollen Raumensembles einen schockartigen Skandal in der französischen Kunstgewerbebewegung auslösen. Im selben Jahr präsentierten sich auf der Brüsseler Weltausstellung deutsche Raumausstatter des jungen Werkbundes mit einer ähnlichen Strategie – mit der architektonischen Inszenierung war dabei der Bruder Gabriel von Seidls, Emanuel, betraut. Die Konzeption des auf deutscher Renaissance und bürgerlicher Innerlichkeit beruhenden Bayerischen Nationalmuseums wurde gleichwohl schon nach einigen Jahren – und auch durch den Architekten selbst – auf die Pflege von vorwiegend ländlicher Volkskunst und Heimat uminterpretiert. Damit war das einst in die Zukunft weisende Museum zur antimodernen Institution geworden.
Maison Horta in Brüssel Dekoration des Lebens im Art nouveau
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n den Jahren 1893 – 95 entstand in ganz Europa und den USA recht unvermittelt eine neue Gestaltungsweise in Architektur und Kunsthandwerk, die mit einem Mal erhoffen ließ, nun sei der ersehnte Stil der Moderne gefunden: der Art nouveau bzw. Jugendstil. Damit schien eine Krise überwunden, die man darin diagnostiziert hatte, dass im Historismus scheinbar beliebig verschiedenste Stil abgerufen werden konnten, ohne dass hier eine künstlerische Einheitlichkeit erkennbar war. Man glaubte weithin, dass die vergangenen
III. Schlüsselwerke
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‚Stile‘ wie die Gotik oder der Barock als klar identifizierbarer Ausdruck einer Epoche gleichsam notwendig in Zeiten entstanden waren, in denen der Einzelne und die Gesellschaft, Herrscher und Gott eine unverrückbare Einheit bildeten. Wenn nunmehr, am Ende des 19. Jh.s, eine derartige stilistische Vielfalt zu konstatieren war, so konnte das im Rückschluss nur anzeigen, dass diese alte vertraute Einheit zutiefst gestört war. Mit dem Art nouveau schien das nun überwunden, denn in seiner floralen Beschwingtheit und der bruchlosen Harmonie
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zwischen Architektur und Innenausstattung schien der Historismus, ja überhaupt die Orientierung an Historischem überwunden. Da sich der Jugendstil auch als internationales Phänomen rasch durchsetzte, stellte sich der kurzfristige Eindruck ein, hier handele es sich in der Tat um den neuen Epochenstil des 20. Jh.s. Das böse Erwachen kam schon ca. zehn Jahre später, denn nunmehr hatte sich diese dekorative Ästhetik als ungeeignet für Massenfertigung erwiesen und überdies galt die Betonung des Dekorativen als geschmacklos, beliebig, individuell, weiblich – als ‚Schienbein-‘ oder ‚Nudelstil‘. Diese negative Einschätzung erfuhr er bis in die 70er Jahre des 20. Jh.s. Dabei kann man aber – zumindest was die frühen, in Belgien realisierten Jugendstilbauten betrifft – kaum übersehen, dass es sich keineswegs um eine Architektur handelt, die lediglich mit Jugendstilornamenten verkleidet ist. Es geht um intelligente Raumerschließungen, großzügige Helligkeit und variantenreiche Lichteffekte sowie um den technisch innovativen Einsatz neuer Baumaterialien, insbesondere des Eisens. Vor allem aber spielt nunmehr ein sensuell zu erfahrendes Innenraumambiente von psychologischer Wirkung eine entscheidende Rolle. In dieser Hinsicht zeigt sich der belgische Architekt Victor Horta als einer der Initiatoren der Jugendstilarchitektur, die man nicht zu Unrecht schlagartig mit dessen Haus Tassel von 1893 – 95 einsetzen lässt. Umgehend folgten weitere Meisterwerke Hortas, das Hôtel Solvay (1894 – 98), das Hôtel van Eetvelde (1895 – 99 – mit zahlreichen Materialien aus der belgischen Kolonie Kongo), das Hôtel Aubecq (1899 – 1903), allesamt in Brüssel. Mit seinem eigenen Atelierhaus, 1898 – 1901 im Brüsseler Viertel Saint-Gilles errichtet, realisierte Horta ein programmatisches Gebäude und damit den Typus des Künstlerhauses. Dieser sollte vor allem in der klassischen Moderne wichtig werden: Bruno Taut, Erich Mendelsohn, Walter Gropius, Le Corbusier, Philip Johnson
□ 88 Brüssel, Atelierhaus Victor Horta, Victor Horta, 1898 – 1901, Straßenfassade
und viele andere bauten damit nicht nur eine Art idealer Summe ihrer Architekturauffassungen, sondern stilisierten sich – den Künstler – zum idealen Bewohner und moralischen Vorbild der Gesellschaft. Hortas Haus erhebt sich über zwei schmalen, sich relativ lang nach hinten erstreckenden Grundstücken, wie sie typisch für die Brüsseler Stadthäuser sind. Die architektonische Herausforderung liegt darin, innerhalb dieser schmalen, nur von der Straße bzw. von der Gartenrückseite belichteten Par-
Maison Horta in Brüssel
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zellen eine kluge Innenaufteilung und Licht zu schaffen. Hortas Haus zeigt zwei klar unterschiedliche, eigenständige Fassaden (□ 88): Rechts befinden sich über drei Etagen, durch große Fenster belichtet, die Modellierwerkstatt und Hortas Atelier. Originell ist vor allem die eigentliche Wohnhausfassade links davon. Dreiachsig erhebt sie sich recht steil über vier Geschosse. Im dritten tritt ein zweiachsiger Erker weit aus der Flucht hervor, seine Bedachung ist als Austritt mit einem Metallgitter in Libellenflügelform gestaltet. Von den steinernen Konsolen des Erkers, an deren Unterseiten sich eiserne Ausleger anschmiegen, scheinen eiserne lianenähnliche Gebilde nach unten herabzuhängen und einen Balkon vor dem ersten Obergeschoss zu tragen. Das Innere ist klar aufgebaut und doch eine theatralische Inszenierung: Man betritt das Haus durch die rechte Achse, trifft nach einigen Stufen auf das Podest des Treppenhauses, das sich in quadratischer Führung vom Souterrain nach oben windet (□ 89). Fast jeder Treppenlauf führt auf einen spektakulären point-de-vue: ein Blumenarrangement, eine Tür mit farbigen Gläsern usw. Gartenseitig sind die großen Räume angeordnet, vor allem der Speisesaal mit Salon im ersten Geschoss, die weiteren Wohnräume darüber. Diese originelle Komposition aus Räumen, Farben und Licht ist nur möglich durch den großzügigen Einsatz des Eisens, das für Stützen, Aussteifungen und Geländer verwendet wird. Die grazilen Profile verschlanken nicht nur die tragende Substanz des Hauses und tragen dadurch wesentlich zu seiner Lichtfülle bei. Sie sind zudem als Naturformen begriffen: Als Äste, Stengel und Stiele vermitteln sie eine elastisch sich krümmende Spannkraft, die als Linien wirksam wird. Als solche können sie auch übergehen in mosaizierte Bodenauszierungen oder die Wandmusterung. Horta zeigt sich hier von Viollet-le-Ducs rationalistischen Grundsätzen (vgl. S. 58) beeinflusst, nach denen die grazile Eisenkonstruktion auch ostentativ
III. Schlüsselwerke
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im Gebäude zum Einsatz kommen kann. Doch die schwingenden Konturen der Linien verstehen sich auch als psychologisch wirksame Elemente, die auf das Gemüt des Bewohners wirken sollen. Henry van de Velde wird das später als „Gemütslinie“ bezeichnen, die aus dem gestischen Schwung des Künstlers entsteht und von der darstellenden Linie zu unterscheiden sei, welche Konturen von Naturformen nachzieht. Derartige physiologische und psychologische Momente der Architektur werden auch direkt in den Brüsseler Avantgardezirkeln der Zeit wirksam: Die Gruppe Les Vingts mit ihrem Organ „L’Art moderne“ rezipiert insbesondere die neoimpressionistische Malerei eines Georges Seurat, der in seinen pointillistischen Bildern die physiologische Wirkung der reinen Farbe als gleichsam naturwissenschaftlichen Zusammenhang begriff. Dies ist zum einen auf die vielfältige Farbigkeit der Horta’schen Innenräume zu beziehen, aber teilweise auch auf ihre Ausstattung. Ein Hauptwerk der Brüsseler neoimpressionistischen Malerei, Théo van Rysselberghes „Lektüre im Garten“ hängt prominent auf dem Treppenabsatz des Hôtel Solvay, 1894 – 98 von Horta erbaut. Die Farbigkeit des Bildes wird gleichsam von seinem Mahagonirahmen und der weiteren Innenausstattung aufgenommen. Malerei, Raum und Ausstattung bilden ein Gesamtkunstwerk. Die Entstehung und Blüte des Art nouveau in Belgien verdankt sich einer besonderen historischen Konstellation. Seit den 80er Jahren des 19. Jh.s profitierte das Land von Kolonien in Afrika, die luxuriöse Bodenschätze zur Verfügung stellten. Zugleich entwickelte sich das Land rasch zu einer vor allem Stahl verarbeitenden Industrienation. Aus derartigen Faktoren entstand zum einen ein liberales, der Kunst aufgeschlossenes Bürgertum, zum anderen eine starke sozialistische Bewegung mit bedeutenden volkserzieherischen Momenten. Beides traf auf eine, unter anderem in den großen Warenhäusern ausgestellte und propagierte Konsumkul-
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tur, deren Protagonisten daran interessiert waren, neue Käuferschichten zu erschließen, die sich vergnüglich auf den neuen Luxus einstellen. Man kann diese Konstellation allein in den Bauaufgaben ablesen, die Horta erhielt: Neben zahlreichen Stadthäusern für Intellektuelle und Unternehmer errichtete er die eindeutig sozialistisch inspirierte Maison du Peuple in Brüssel (eröffnet 1899, abgerissen 1965) sowie zahlreiche Kaufhäuser – À L’innovation hieß sehr bezeichnend eines dieser großen Brüsseler Warenhäuser (errichtet 1901 – 03, abgebrannt 1967). Das neu und zukunftsweisend, gesund und schön sowie individuell gestaltete Ambiente für den Arbeiter wie für den Großbürger hat in all diesen Zusammenhängen Konjunktur. Die zur schön klingenden Linie stilisierten Eisenprofile und die Wertschätzung vielfältigster Materialien verbinden sich in all diesen Bauten mit sehr eigenwilligen Raumerfindungen und einer ingeniösen Transparenz, Helligkeit und Leichtheit der Innenräume. Zukunftsweisend konnte das allerdings kaum sein. Denn Hortas geniale Raumkompositionen und Ausstattungen mussten aufwendig konzipiert und eingerichtet werden, sie waren das Gegenteil von Standardisierung und Typisierung, denen bald die Gunst der Stunde gelten sollte. Der Art nouveau bzw. Jugendstil kannte verschiedene Zentren: Neben Brüssel sind Städte wie Glasgow, Riga, Nancy, Wien und vor allem Barcelona zu nennen. Allerdings herrschten dort jeweils unterschiedliche Vorzeichen. Das macht exemplarisch das Werk von Antoni Gaudí deutlich. Seine bekannten Wohnhäuser Casa Battló und Casa Mila in Barcelona wirken wie vollständig irrational aus weichen Materialien geformte Skulpturen. Die Casa Battló entstand 1904 – 06 aus dem Umbau eines Mehretagenwohnhauses an der Flaniermeile Passeig de Gràcia. In traditioneller Weise umschließt die Hausgruppe einen engen Innenhof, der sich nach unten weitet, weil hier die Innentreppe von der Hoffassade anläuft. Die farbintensive
□ 89 Brüssel, Atelierhaus Victor Horta, Victor Horta, 1898 – 1901, Innenansicht
Kachelung des Innenhofs erzeugt nicht nur eine heitere Atmosphäre, sie verändert sich auch von blau im oberen Bereich nach weiß im unteren. Das dient einer besseren Belichtung in diesen Etagen, deren Fenster auch aus demselben Grund größer sind als oben. Die Straßenfassade selbst besteht aus ondulierend plastischen Rahmen, die insbesondere die erste Etage als vornehmsten Bereich auszeichnen. Knochenartige Stützen sind zwischen die Fenster eingestellt, die Balkonbrüstungen erinnern ebenfalls an tierische Skelettformen. Die Dachtraufen mit ihren Schornsteinausgängen sind als künstliche Landschaft mit Figurinen geformt. Alle Maueroberflächen überzieht ein Mosaik aus bunten Keramikscherben (trencadís), die Blumen und andere vegetative Ornamentik ausbilden. Das ganze Haus ist also
Maison Horta in Brüssel
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funktional durchdacht und schmückt überdies den Außenraum, es wird seinen repräsentativen Zwecken gerecht und trägt der Förderung des Kunsthandwerks Rechnung. Und zugleich versteht es sich als ein belebtes, ja nachgerade lebendes Gesamtkunstwerk. Gaudís Hintergrund war zum einen eine tiefe katholische Religiosität, die ihn von der durch Gott geschaffenen Natur lernen ließ: von Bäumen, Felsen, Schalen, Schnecken, Knochen. Auch hier handelte es sich in der konsequenten Anwendung logischer Konstruktionen um eine Fortführung der Lehren von Viollet-le-Duc. So wandte Gaudí parabelförmige Bögen als statisch ideal belastbare Überbrückungen an, die er aus nach unten hängenden Ketten gewonnen hatte. Daran eingehängte Gewichte als Zugbelastung entsprechen den sich als Druck äußernden statischen Kräften, sobald die Parabelform
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umgedreht wird. Zugleich ist der nationalistische Hintergrund der katalanischen Autonomiebewegung Renaixensa zu beachten, die die katalanische Gotik zu einer innovativen eigenständigen Architektur in der Moderne führen wollte, wie nicht zuletzt Gaudís Hauptwerk, die monumentale Kirche der Sagrada Familia in Barcelona erweist, deren Bau der Architekt 1883 über den Grundmauern eines kurz zuvor begonnenen neugotischen Projektes übernommen hatte. Das noch immer im Bau befindliche Riesenprojekt versteht sich als eine mithilfe der Betontechnik und den geschilderten Optimierungsberechnungen modernisierte Version einer Kathedrale. Im Inneren tragen sich verzweigende, grazile, an Bäume erinnernde Stützen das Gewölbe, das so effektiv konstruiert ist, dass es perforiert werden kann, um die Belichtung zu verbessern.
Das Postsparkassenamt in Wien Ästhetik des Bekleidens
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ie baut man, wenn sich klassisches Vokabular und klassische Grammatik der Architektur – Säulen, Pilaster, Gebälke, Giebel – nicht mehr problemlos anwenden lassen, weil sie sich nicht mehr mit der Inneneinteilung eines Gebäudes vereinbaren lassen? Weil sie modernen, effizienten Baumaterialien und Installationen (Heizung, Belüftung) widersprechen, weil sie für öffentliche oder auch private Aufträge zu teuer geworden sind, weil sie der komplexen Vielzahl von Bauaufgaben nicht angemessen gerecht werden oder weil sie als reine Fassadenarchitektur den eigentlichen Gebäudekern nur umhüllen, ja ihn in unmoralischer Weise verleugnen? Derartige Fragen bewegten die Architektur allenthalben in der Zeit
III. Schlüsselwerke
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um 1900, und dies wurde durchgehend als ein tiefgreifendes, weit über eine Fachdebatte hinausreichendes Krisenphänomen wahrgenommen. Eine Reihe von Antworten darauf gab der Wiener Architekt Otto Wagner (1841 – 1918), denn er war einer der ersten Architekten, der sein umfangreiches Werk in städtebaulichen Kriterien konzipieren musste und deswegen mit einer Vielzahl moderner Anforderungen konfrontiert wurde: Der Ausbau der Wiener Stadtbahn, der er ihre architektonische Gestalt gab, ging einher mit dem ökonomischen Einsatz von Eisen und Glas sowie mit verkehrslogistischen Herausforderungen. In der ‚kakanischen‘ Metropole waren eine Vielzahl unterschiedlichster Baugattungen zu bewälti-
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gen: Villen, Geschäftshäuser, Mietshäuser, Verwaltungsbauten, Regierungsgebäude, Museen, Bahnhöfe, Brücken. Wagner entwarf zahlreiche Lösungen, um den Anspruch auf eine repräsentative Architektur mit moderner Technologie zu verbinden und außerdem das Auseinanderklaffen von Gebäudekern und -hülle zu bewältigen. Da er an der Wiener Akademie lehrte und seine Prinzipien zudem in einer programmatischen Schrift „Moderne Architektur“ (1896, mehrere Folgeauflagen) niederlegte, beeinflusste er ganz wesentlich die Diskursfelder der Moderne nach der Jahrhundertwende. Nicht umsonst gehörten manche seiner Schüler zu deren wesentlichen Protagonisten, etwa Joseph Maria Olbrich als Jugendstilarchitekt, Josef Hoffmann mit einer kubisch abstrahierten Formensprache und Adolf Loos als radikaler Verweigerer von Ornament und Fassade ( Themenblock · Bauschmuck, S. 188 f.). Das Postsparkassenamt in Wien, im Ostteil der Inneren Stadt, in der Nähe des Stubenrings als chronologisch letzter Teil der Ringstraße
|▶ 13| gelegen, wurde in der Rekordzeit von 16 Monaten in den Jahren 1904 – 06 und in einer zweiten Baustufe von 1910 – 12 auf dem Terrain einer ehemaligen Kaserne errichtet. Die prestigiöse, auf ein innovatives Image bedachte k.- u.- k. Postsparkasse hatte eine große trapezförmige, allseits von Straßen umgebene Parzelle angekauft, deren Längsseite mittig über eine kurze Straße (heute Georg-Coch-Platz) mit dem Ring kommuniziert. Wagner nutzte dieses Terrain voll aus: Vier sechsgeschossige Flügel umschließen das Trapez, dessen langer Ostflügel mit einem sachten Knick nach vorne, zur hier abführenden Verbindungsstraße zur Ringstraße tritt (□ vgl. 90). Ein mächtiger, siebenachsiger Risalit tritt hier als Akzentuierung des Haupteingangs leicht nach vorne. Von dort führt eine Symmetrieachse in die Tiefe, bestehend aus dem Vestibül mit einer breiten, sacht ansteigenden Treppe, dem großen, durch ein Glasdach belichteten großen Schaltersaal und dem Kassenraum für Effektenverkehr. Zwischen den einzelnen Trakten sorgen vier Bin-
□ 90 Wien, Postsparkasse, Otto Wagner, 1904 – 12, Hauptfassade
Das Postsparkassenamt in Wien
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nenhöfe für eine allseitig gute Belichtung, die auch dadurch verbessert wird, dass die Wände zum Hof mit hygienischen weißen, gut Licht reflektierenden Kacheln verblendet sind. Charakteristisch am Äußeren ist das insgesamt sehr flache Mauerrelief, das auf Motive der Säulengrammatik verzichtet, aber gleichwohl eine Reihe klassischer Gliederungsmotive aufweist: So sind Tief- und Hochparterre durch flache Granitplatten hervorgehoben, die die Erinnerung an einen rustizierten Sockels hervorrufen. Auch wird der Mittelrisalit durch die leicht hervortretenden äußeren Achsen gerahmt und von einer Attikazone bekrönt, auf der in Lettern aus Aluminium der Institutionenname prangt: „Postsparkassenamt“. An den Attikaecken erhebt sich als Akroter je eine große, Kränze in die Höhe haltende Genienfigur aus Aluminium, geschaffen von Othmar Schimkowitz. Der Mittelrisalit entspricht in seinen Dimensionen dem Querschnitt der davor abgehenden Straße, bildet also gleichsam deren Abschluss und zugleich den point-de-vue von der Ringstraße aus. Die Fläche über dem Sockelgeschoss wird durch weiße Marmorplatten verkleidet, die in völlig unkonventioneller Weise durch dunkle nietenartige Knöpfe belebt sind. Die Dichte ihrer Verteilung variiert, im Mittelteil des Risalits sind es pro Platte drei um einen zentralen kleineren angeordnete Knöpfe. Diese dichte Rasterstruktur der wiederum mit Aluminium verkleideten eisernen Scheinnieten evoziert also die Befestigung der Marmorplatten, allerdings auf bildhaft übertriebene Weise, denn die Nietköpfe sind viel größer als dies bei gewöhnlichen Befestigungssystemen der Fall wäre. Damit ist aber die Verkleidung des Gebäudeäußeren durch Platten offensichtlich gemacht und zudem ästhetisch und sinnbildlich umgedeutet: Die Marmorplatten sind ersichtlich Umhüllung und täuschen nicht massives Mauerwerk vor – in Wirklichkeit besteht das Gebäude aus einer ziegelausgefachten Eisenbetonkonstruktion. Zudem erlaubt die Raster-
III. Schlüsselwerke
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struktur der Knöpfe eine plastische Belebung der Fassade und deren Strukturierung durch wechselnde Rasterdichten. Und außerdem sollte hier ‚Goldregen‘ als Symbol des Wohlstandes bzw. der Bank sinnbildlich vermittelt werden. Im Inneren zeigt vor allem die große Schalterhalle, wie moderne Technologie zu einem Gesamtensemble höchster Effektivität und Eleganz transformiert ist (□ 91). Es handelt sich um eine dreischiffige basilikale Skelettstruktur aus vernieteten Stahlprofilen. Diese an Werkhallen erinnernde Struktur ist so weit als möglich lichtdurchlässig: Verglaste Sattel- bzw. Pultdächer schützen vor Regen, lassen aber das Tageslicht einfallen. Dieses wird durch die wiederum vorständig verglasten, in der Konstruktion abgehängten Decken diffus gefiltert. Im Mittelschiff ist diese Decke in Art eines Tonnengewölbes mit korbbogenförmigem Querschnitt geführt, über den Seitenschiffen sind es leicht geneigte Flachdecken. Aber auch der Fußboden ist gläsern, nämlich aus Glasbausteinen zusammengesetzt, die in Rechtecken aus 8 × 10 dieser Elemente in das stählerne Bodengitter des Hauptsaals eingelassen sind und somit auch den Saferäumen im Untergeschoss Tageslicht spenden. Das Rechteckraster der Stahlträger ist konsequent als Gesamtgliederung des Raumes umgesetzt, denn es ist nicht etwa unkenntlich gemacht, sondern durch schwarz-weiße Bänder im Boden hervorgehoben. Somit entsteht insgesamt eine Gitterstruktur von 6 × 7 Einheiten, je zwei Bahnen für die Seitenschiffe, drei für das Mittelschiff. Entsprechend diesen Bahnen sind auch die drei Eingänge in den Saal positioniert, und auch die bemerkenswerten Hutzen für die Warmluftheizung folgen dieser Gliederung. Sie sind als markant aus dem Boden herauswachsende Aluminiumröhren jeweils an die wandseitigen Enden der Fußbodenträger gestellt. Ihre Austrittsöffnungen bilden mehrere ringförmige Lamellen am oberen Abschluss der Röhren, ein Motiv, das entfernt an die Gliederung von
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klassischen Säulen erinnert. Diese ostentative Präsentation der Heizsysteme ist zwar nicht ganz neu, es gibt sie z.B. auch in manchen Bauten von Victor Horta |▶ 19|, doch bei Wagner umstehen und gliedern sie ähnlich einer regelmäßigen Säulenstellung die Innenwand. Ihre Pendants bilden die Stahlstützen, die sich logischerweise jeweils auf Kreuzungspunkten des Bodenrasters erheben. Sie sind in ihrem unteren Teil mit Aluminiumblech umhüllt. Auch hier wird ähnlich wie an der Fassade das Verkleiden als solches zum eigentlichen ästhetischen Motiv: Denn technisch unnötige Nietenreihen bieten eine Ornamentierung, die den Gegensatz von Kern und Hülle, von Stahlstütze und ihrer Verkleidung unmittelbar deutlich macht. Zudem sind die Aluminiumverkleidungen leicht ‚zu groß‘, sie scheinen wie Stiefelstulpen stählerne Unterschenkel zu schützen. Nicht nur in der Schalterhalle merkt man dem Bau seine Modernität an; auch ansonsten sind langlebige, gut zu reinigende Materialien, z. B. Linoleum, und modernste Installationen, etwa für die Saferäume, verwendet. Wagners Strategie besteht also darin, der Dialektik zwischen Kern und Hülle nicht wie bislang in der architektonischen Konzeption aus dem Weg zu gehen, indem ein ‚schmutziger‘ oder banaler konstruktiver Kern schamhaft kaschiert wurde, sondern diese Dialektik zum ästhetisch wirksamen Teil der Architektur aufzuwerten. Er verkleidet nicht, sondern bekleidet, wobei nunmehr der Kern als lebendiger Körper gedacht wird, der aber – ganz gemäß der damaligen Mode – nicht etwa exhibitionistisch zu zeigen, sondern geschmackvoll einzukleiden ist. Dieses ‚Kleid‘ ist im Falle der Postsparkasse ein durchaus edles und modisches. Die weißen Marmorplatten der Fassade zeugen ebenso davon wie die kostbaren Holzvertäfelungen in den Nutzräumen im Inneren. Die schimmernde Oberfläche des Marmors lässt in Kombination mit den aluminiumfarbigen Nietenköpfen gar an einen paillettenbesetzten Seidenstoff den-
□ 91 Wien, Postsparkasse, Otto Wagner, 1904 – 12, Schalterhalle
ken. Das an vielen Stellen eingesetzte Aluminium – auch etwa die Stützen des Vordachs, die Balkonbrüstungen usw. bestehen daraus – hat nicht nur in seiner schimmernden Oberfläche die Qualitäten eines, allerdings modernen, Edelmetalls, sondern war tatsächlich ein damals nur in geringen Mengen produziertes Material. Diese Ästhetik des Bekleidens hat Wagner auch variiert, denn die Fassade des sog. Majolikahauses in Wien (1898 – 99) besteht aus einer völlig glatten, mit Terracotta verkleideten Fassade, in die die Fensteröffnungen rahmenlos eingeschnitten sind. Als Muster bildet sich auf der Keramikoberfläche ein sich über die gesamte Hausbreite ausspannendes üppiges Blumengehänge. Da aber unter der Traufe stilisierte Aufhängevorrichtungen abgebildet sind, die Keramikfassade zudem einen unteren Ornamentsaum aufweist, kann man sie auch wie ein riesiges Tuch, eine elegante textile Drapierung begreifen, die zum Schmuck des Außenbereichs der Straße vor die eigentliche Architektur gehängt ist. Auch bei den Wag-
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nerschülern Loos und Hoffmann wird diese Ästhetik des Bekleidens weiterwirken: In dem großbürgerlichen Palais Stoclet in Brüssel von Hoffmann besteht die Fassade aus Platten, die durch plastische Ornamentrahmen zu großen Fassadenpanneaux zusammengefasst sind, also keine Assoziation auf geschichtete Steinlagen zulassen. Adolf Loos hingegen begreift in seinen polemischen Essays (vgl. S. 88; Themenblock Bauschmuck, S. 188 f.) die Fassade eines Hauses als einen modernen Herrenanzug: gut geschneidert, aber in seinen Ausdrucksqualitäten neutral und nüchtern. In Kontrast dazu stünde eine Applikation von Ornamenten – eine primitive Praxis, die mit dem Tätowieren des ‚Kaffern‘ gleichzusetzen sei. Man kann diese gezielt polemischen Äußerungen durchaus auch mit berühmten Werken von Loos verbinden, insbesondere mit dem seinerzeit äußerst umstrittenen Haus am Michaelerplatz, das er 1909 – 10 genau gegenüber der Hofburg errichtete (□ vgl. 20). Das äußerst noble Geschäfts- und Wohnhaus beherbergte in den beiden Sockelgeschossen das gediegene Herrenbekleidungsgeschäft Goldman & Salatsch. Gleichwohl versagte sich Loos jede plastische oder figürliche Ornamentierung. Die Wände
bleiben völlig glatt, Fensteröffnungen erhalten keine plastischen Rahmungen. Immerhin aber besteht die Verkleidung des Sockelgeschosses aus sehr edlem, dunkelgrünen Cipollino-Marmor und in den konkav nach innen schwingenden Eingangsbereich sind zwei dorische Säulen aus demselben Material eingestellt. Die hier vermittelte Eleganz beruht also nicht auf dekorativen Formen – die auch leicht aus der Mode kommen können –, sondern auf edlen Oberflächen und Texturen. Es erscheint für einen Herrenausstatter, dessen Grundmaterial vor allem gute Textilien sind, durchaus angemessen, eher auf langlebigere Außenwirkung als auf Ornamente zu setzen. Über dem Sockelgeschoss erhebt sich die Hausmauer als völlig glatte weiße Fläche, in der Fenster wie als Rechtecklöcher eingeschnitten und zudem repetitiv, ohne kompositorische Akzente, angeordnet sind. Die weiße Oberfläche ist gleichsam eine Unfarbe, auch Materialität oder Oberflächenstruktur sind nicht prägnant zum Ausdruck gebracht. Hier wird dezidiert – und radikaler, als dies Loos in seiner Metapher des neutralen Herrenanzugs fordert – nicht mehr architektonisch kommuniziert, selbst die Wagner’sche Dialektik von Kern und Hülle scheint aufgehoben.
„Ornament und Verbrechen“ Zur Frage des Bauschmucks in der Moderne
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s ist umstritten, was Ornament in der Architektur des 19. und 20. Jh.s bedeutet. Eigentlich leitet sich der Begriff von der antiken Rhetorik ab, in der ornatus die jeweils angemessen zu verwendende Ausdrucksverstärkung eines Gedankens meint. Bei dem antiken Architekturtheoretiker Vitruv bedeutet ornamentum diejenige Bauzier der Säulen, die ihnen ihre Sprachfähigkeit verleiht: Die zierenden Voluten der ionischen Ordnung etwa beziehen sich auf starke weibliche Götter. Im Laufe der Neu-
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zeit unterschied man konzeptuell häufig zwischen dem Ornamentträger und der Ornamentform: Diese wird insofern zur sekundär aufgelegten Zierde, ohne notwendige Verbindung mit dem ‚Kern‘ des Bauwerks. Mustersammlungen von ornamentalen Vorbildern (Owen Jones: „Grammar of Ornament“, London 1856) verstärkten solche Vorstellungen. Trotzdem bestand weiterhin der Anspruch, das Ornament müsse eng auf den Gebäudekern zu beziehen sein, etwa als naturähnliche Veranschauli-
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chung von konstruktiven Kräften. Zum ästhetischen Problem wurde die Frage des Ornaments in dem Moment, in dem Zierformen maschinell vorfabriziert wurden und in der Tat beliebig appliziert werden konnten: eine falsche, weil oberflächliche Pracht, deren Anwendung umso problematischer erschien, als eben die Ornamente den jeweils gewählten historischen Stil vorführten, gleichzeitig aber zahlreiche neue Baugattungen entstanden. Was hatten ägyptische, gotische oder barocke Zierformen mit einem Etagenmietshaus oder einer Fabrik zu tun? Und welche Verbindung bestand zwischen rational gefertigten neuen, rechteckigen Architekturen und vegetabilen, phantasievollen Zierformen? Vor allem aber wurde problematisch, dass das maschinell produzierte historische Ornament seine handwerkliche Entstehung einfach nur vortäuschte, aus der ursprünglichen exklusiven Kunst nunmehr einen Massenartikel machte. Nun hätte man es zwar durchaus begrüßen können, dass auf diese Weise auch niedrigen Gesellschaftsschichten der Zugang zu Kunstwerken zu ermöglichen ist. Doch da bei der industriellen Fertigung zudem auf eine wirtschaftliche Herstellung geachtet werden musste, verschlechterte sich die Formenqualität und konterkarierte insofern auch das volkspädagogische Ziel, guten Geschmack vermitteln zu wollen. Einer der Lösungsversuche der Krise des Ornaments sollte es ab den 1880er Jahren sein, Bau und Zierde zu einer künstlerischen Einheit zu verbinden. Das Ornament war nun nicht länger nur mehr ein historisches, sondern unterlag einem eigenständigen künstlerischen Entwurf – etwa in Form abstrahierter Naturformen –, der gestalterisch aus dem zu schmückenden Objekt/Bauwerk hervorgehen sollte. Hieraus gewann das Ornament auch die Fähigkeit, emotional zu wirken, zu animieren, zu beleben, zu dynamisieren. Im Jugendstil schließlich war es in hohem Maße das lineare schwingende Ornament, das die als Gesamtkunstwerk gestalteten Innenräume bestimmt |▶ 19|. Das Ornament symbolisiert und betont nicht nur essentielle Struk-
turen eines Hauses, etwa Stützen oder Öffnungen, sondern vermittelt Dynamik und Atmosphäre. Um 1910 setzte hier ein Paradigmenwechsel ein, der die Moderne bis nach dem Zweiten Weltkrieg begleiten sollte: Denn in der neuen, sozial und ethisch untermauerten Forderung, Kunsthandwerk und Architektur müssten sich aus dem Gebrauchszweck ableiten und diesen als eine tiefere Wahrheit ausdrücken, ergab sich eine Entflechtung der Gattungen: Die Architektur als komplexeste Funktionseinheit, in der Tektonik und Gebrauch logisch und konsequent zu verbinden sind, wurde die Leitgattung der Künste. Das drückte sich in einem neuen vereinfachten Klassizismus in klaren großen Formen aus, der vielfach als ‚männlich‘ charakterisiert wurde und dem nunmehr das schwingende Linienornament des Jugendstils ebenso wie die historistischen Zierformen als feminine Verkleidungen kritisch entgegengesetzt wurden. Konstruktion und Sachlichkeit standen gegen Dekoration und Emotionalität. Ebenso würde der Anspruch nach überindividueller klarer, tektonischer Struktur der modernen Architektur durch das phantasievolle Linienornament beeinträchtigt werden. Und auch die neue Zielsetzung des Bauens, gesellschaftliche und moralische Ordnung zu stiften, war in dieser Sichtweise mit dem ungezügelten Ornament nicht zu leisten. Nicht einmal um die Stilisierung von vegetabilen Formen – etwa um Naturgesetze abstrahierend aufzuzeigen – konnte es mehr gehen, denn die geometrische Ordnung der Architektur stellte ein übergeordnetes Prinzip dar, das sich in aller Wahrheit und Vollkommenheit vermitteln sollte. Bauskulptur und Dekoration durften insofern nur an untergeordneter und klar durch die architektonische Ordnung definierter Stelle auftauchen. Wenn Architektur zunehmend als logisches Ergebnis von Technik und Industrie begrüßt wurde, so sollte sie eine unerbittliche und klare physikalische Gesetzmäßigkeit der Welt vorführen, in der keine ‚unnütze‘ Dekoration zugelassen war. Architektur
„Ornament und Verbrechen“
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sollte so sein, wie man damals den griechischen Tempel dachte: eine rein aus der Notwendigkeit geborene Form, deren Schönheit sich gleichsam von selbst einstellt, vergleichbar einer Maschine, die keinen Zierrat kennt. Diese Verdammung des Ornaments hat in äußerst polemischer Weise Eingang in den Architekturdiskurs der klassischen Moderne genommen, etwa in der Gegenüberstellung von griechischem Tempel und Automobil in Le Corbusiers „Vers une architecture“ von 1923: Die Architektur als „Wohnmaschine“ müsse einem rein technischen Fortschrittsgedanken folgen (S. 89). Noch radikaler ging der Wiener Architekt Adolf Loos vor, der bereits 1908 in seinem berühmt gewordenen Vortrag „Ornament und Verbrechen“ (zuerst auf Französisch veröffentlicht 1913 in den „Cahiers d’aujourd’hui“, vgl. S. 88), das Ornament mit Tätowierungen verglichen hatte: Es gehört der Sphäre primitiver Kulturen, der Kriminalität und auch des Weiblichen an. Im Gegensatz dazu ist ornamentlose Architektur männ-
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lich, zivilisiert, erhaben. Solche Denkfiguren bestimmten auch lange, bis nach dem Zweiten Weltkrieg, die Geschichtsschreibung der Moderne, wo etwa bei Sigfried Giedion das Neue Bauen als eine heroische ‚Befreiung‘ vom Ornament dargestellt wird (Ocón 2004). Zwar gab es etwa im Art déco seit den zwanziger Jahren eine Gegenbewegung, die entschieden auf – allerdings sparsam und maßvoll eingesetzten – Zierelementen als Belebung bestand. Doch wirkte die Verachtung des Zierrats etwa in Deutschland so nachhaltig, dass seit den zwanziger Jahren, und insbesondere in den fünfziger Jahren, an Tausenden historistischer Fassaden der dekorative Stuck als überflüssiges, geschmackloses Ornament abgeschlagen wurde. Erst mit der Infragestellung der Doktrinen der Internationen Moderne bahnte sich seit den sechziger Jahren ein Ende der Entstuckung an. Seither sind auch die weltanschaulichen Debatten um die Rolle des Ornaments als Gegenpol zum ‚Gebäudekern‘ verstummt.
Die Garnisonkirche in Ulm Liturgiereform und sakrales Bauen
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as moderne Bauen wurde von vielen seiner Wortführer als demokratische und emanzipatorische, ja durch und durch sozial oder gar sozialistisch geprägte Bewegung verstanden und propagiert, zumal nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Internationale Stil nachgerade als Symbol der Überwindung des totalitären, nationalsozialistischen Regimes galt. Dabei wird vielfach übersehen, dass entscheidende Beiträge für das Bestreben nach einer der Zeit und Geschichte enthobenen Architektur von den religiösen Erneuerungsbewegungen seit der Zeit um 1900 kamen. Es war auch der Kirchenbau, der
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einerseits konsequent funktional zu sein hatte, allerdings in einem übergeordneten liturgischen Sinn, um Gemeinde und Kult eng aufeinander zu beziehen. Andererseits kam gerade im Sakralbau die heilsstiftende Bedeutung und Wirkung der architektonischen Form eine entscheidende Rolle zu. Und schließlich galten gerade auch für Kirchenbauten ökonomische Zwänge, die es angeraten erscheinen ließen, neue Baumaterialien und -techniken anzuwenden. Ein derartiges, frühes Beispiel ist auch die evangelische Garnisonkirche (heute Pauluskirche) in Ulm von Theodor Fischer, 1905 bis 1910
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als Ergänzung bzw. in Konkurrenz zu einer kurz zuvor in neugotischem Stil errichteten katholischen Garnisonkirche erbaut (□ 92). Beide Kirchen dienten der gottesdienstlichen Versorgung einer großen Anzahl von Militärangehörigen, deswegen bestand eine der Hauptanforderungen darin, reichlich Platz zu schaffen. Vorgesehen waren 2000 Sitzplätze, von denen als Grundanforderungen an den protestantischen Gottesdienst gewährleistet sein musste, gute Sichtbedingungen auf den Altar und vor allem eine perfekte Vernehmbarkeit der Predigt zu bieten. Fischer löste die Aufgabe, indem er einen verhältnismäßig kurzen Longitudinalbau von beträchtlicher Breite, nämlich 22,5 m, konzipierte. Keine seitlichen Emporen oder innere Stützen beeinträchtigen diesen immensen, zudem durch große Fenster unter der Deckenkante gut belichteten Innenraum (□ 93). Erschlossen wird die Kirche durch eine halbrund nach außen vortretende Vorhalle, die sich turmartig nach oben bis über die Firstkante des Langhausdaches fortsetzt und von einem Zeltdach abgeschlossen wird. Dieser Aufbau birgt im Inneren die Orgel auf einer weit in das Langhausinnere ragenden Empore. Der Altar ist in einer seichten Rechtecknische in der ansonsten flach schließenden Ostwand untergebracht. Außen vorgelagert ist ein hohes, riegelartiges Massiv, das das Langhaus weit überragt und aus dem zwei runde Türme mit konischen Helmen abgehen. Nach Osten durchstreicht eine monumentale Rundbogennische beinahe die volle Höhe des Ostmassivs. Der Bau, insbesondere des Langhauses, konnte nur mithilfe des konsequenten Einsatzes des Stahlbetons realisiert werden. Der weite Innenraum wird konstruktiv durch vier, in weitem Abstand voneinander stehende Betonbinder getragen. Diese, in sich Meisterleistungen der damaligen Ingenieurskunst, sind nun nicht verkleidet, sondern mit dem Stockhammer aufgeraut. Außerdem kann man den Binderpfosten an der Außenwand des Langhauses in Form steil abfal-
□ 92 Ulm, ehem. Garnisonkirche, Theodor Fischer, 1905 – 10
lender Strebepfeiler nachvollziehen, welche im unteren Bereich Trennwände einer niedrigen Kapellenreihe ausbilden. Im Inneren treten die Balkenträger der Betonbinder als sog. Fischerbögen – stark gedrückte Kleeblattbögen – deutlich sichtbar zutage. Fischers Leistung bestand also darin, funktional-liturgische, konstruktiv-technische und ästhetisch-städtebauliche Aspekte zu verbinden. Gemäß schon älteren Forderungen an den evangelischen Kirchenbau (Eisenacher Regulativ 1861) sollte sich die Aufmerksamkeit der Gemeinde auf die sog. Prinzipalstücke von Altar, Kanzel und Taufstein richten, die aber getrennt voneinander aufzustellen waren. Das löste Fischer sehr einfach dadurch, dass er vor die flache Ostwand zu Seiten der Altarnische mit überkrönendem Kruzifix die Kanzel und die Taufe anordnete. Das Gegen-
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□ 93 Ulm, ehem. Garnisonkirche, Theodor Fischer, 1905 – 10, Inneres zum Altar
stück dazu, die Orgel im Westen, erhielt durch die monumentale Überkuppelung einen wirksamen Klangraum. Die Konstruktion ist unaufdringlich und doch wirkungsvoll präsent, etwa in den weiten schwingenden Kurven, in denen die Bogenbinder das Langhaus durchmessen und sich seitlich auf halber Höhe mit der Wand verschneiden. Die Deckenkonstruktion ist in Plattenbalken mit längsgeführten Unterzügen in Beton ausgeführt. Das Ganze erinnert an eine sich leicht nach oben wölbende Balkendecke, nur dass der Querbalken als Betonbinder formuliert ist. Aber Fischer nutzte die monumentale Architektur auch, um die Garnisonkirche historisch und städtebaulich zu situieren. Die beeindruckende Ostanlage mit ihrer Doppelturmfront antwortet klar auf die markante Ulmer Stadtsilhouette mit dem überhohen Münsterturm und dem diesen paraphrasierenden Turm der katholischen Garnisonkirche. Fischers Bau zeigt hier eine selbstbewusste Eigenständigkeit, die sich auch im Eindruck
III. Schlüsselwerke
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einer mittelalterlichen Wehrkirche äußert. Das passt zu der militärisch ausgerichteten Gemeinde wie auch zum ehemals prominent über dem Altar prangenden Luther-Sinnspruch der Kirche „Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen“. Für den Westteil der Kirche hingegen denkt man eher an barocke oder klassizistische Vorbilder, aber das ist bewusst im Vagen gelassen. Die Biberschwanzziegeldeckung der bewegten Dachlandschaft entspricht einer lokalen Dachwerktradition. Trotz ihrer kühnen Betonkonstruktion fügt sich die Kirche also vielfältig in eine historische Motivik ein, ohne diese zu kopieren – im Gegenteil wird hier manches geradezu verdreht: Die Doppelturmgruppe erwartet man eher im Westen, den turmartigen Aufbau eher im Osten, etwa als Vierungsturm. Vor allem konstruktiv bildet die Ulmer Garnisonkirche einen außerordentlich innovativen Markstein innerhalb des Sakralbaus des 20. Jh.s, der einige radikale Lösungen aufweist.
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Die Ende des 19. Jh.s schnell wachsenden Großstädte beförderten zahlreiche Kirchenneubauten (z. B. 75 allein in Berlin zwischen 1890 und 1914) und intensivierten die theoretische Debatte. Als entscheidend für die Entwicklung des modernen Kirchenbaus beider Konfessionen wirkten die liturgischen Reformbestrebungen, deren generelle Zielsetzung, die gesamte Gemeinde aktiv mitgestaltend in den Gottesdienst einzubinden, allmählich die bildenden Künste als gewichtigen Teil der Liturgie begreifen ließ. Was den evangelischen Kirchenbau angeht, so sollte er, entgegen älterer Richtlinien (Eisenacher Programm) eine funktionale Baugruppe als Zentrum der Gemeinde abgeben (Wiesbadener Programm von 1891). Hauptelement sollte ein ungeteilter, auf Kanzel und Altar gerichteter Raum sein. Katholischerseits formiert sich die Liturgiereform seit dem letzten Drittel des 19. Jh.s u. a. in den Klöstern Beuron, Maria Laach, Mont César bei Löwen und Solesmes, stellte zunächst aber die liturgische Handlung und die bildliche Ausstattung, nur ausnahmsweise die Kirchenarchitektur zur Diskussion. Die würdige Ausgestaltung des Kirchenbaus implizierte tendenziell auch die Abkehr von historistischer Stildekoration zugunsten der Aufnahme eines modernen, dem fortschrittlichen bürgerlichen Geschmack angemessenen Kunstgewerbes. Die kurz nach 1900 realisierten Kirchen folgen mit ihren straffen, großflächigen Formen, die über meist kompakten Grundrissen errichtet sind, ebenfalls klar den zeitgenössischen Architekturtendenzen, blieben aber in der liturgischen Einteilung meist traditionell. Das herausragende Beispiel hierfür ist die Ulmer Kirche. Auch nach dem Ersten Weltkrieg sind in der jüngeren liturgischen Reform prinzipielle Übereinstimmungen zwischen beiden großen Konfessionen auszumachen. Die evangelisch-ökumenische „Hochkirchliche Bewegung“ (seit 1918) wie auch die evangelische „Berneucher Konferenz“ forderten eine betonte kollektiv-emotional wirkende
Sakralisierung der Gemeinde und der von ihr mitvollzogenen Liturgie, in der die künstlerische Form des Kirchenbaus und insbesondere des Altarbereichs Bestandteil des Kultus wird. Insbesondere Otto Bartning („Vom Neuen Kirchenbau“, 1919) stellte heraus, dass die Kirche weder funktionalistischer Rahmen noch historistische Scheinarchitektur sein dürfe, sondern eine monumentale, einheitliche und erhaben wirkende Form annehmen müsse, um in „Wohlgestalt“ oder „Willensgebärde“ gemeinschaftsstiftende „Erscheinungsform der Religion“ zu sein. Im katholischen Bereich hob vor allem Romano Guardini („Vom Geist der Liturgie“, 1918) die kultisch-erlebnishafte Symbolkraft aller Einzelheiten der liturgischen Handlung hervor, in die auch die Ausstattung und die Gestalt des Kirchengebäudes als Teil eines künstlerischen Gesamtzusammenhangs einzubeziehen seien. Grundthema der ausgeführten modernen Kirchenbauten der Zwischenkriegszeit ist, einerseits funktional und visuell der Einheit der feiernden Gemeinde und andererseits der Orientierung auf das kultische Zentrum gerecht zu werden. Die Vorschläge bzw. Lösungen reichen von Zentralbauten mit mittiger Altaranordnung und segmentweiser Nutzung des Gemeinderaumes (Bartnings expressionistisches Sternkirchenprojekt, 1922; mehrfach gestaffelte Zentralanlage der Auferstehungskirche in Essen, 1929) zu ovalen Kirchenräumen mit exzentrischer Altarplatzierung (Messopferkirchenentwurf „Circumstantes“ von Dominikus Böhm und Martin Weber, 1922). Die Gebote von Materialtreue, Wirtschaftlichkeit und Zeitgemäßheit ließen moderne Baumaterialien zum Ausgangspunkt der architektonischen Gestaltung werden, wobei der Eisenbeton aufgrund seiner schlanken Stützen Farbverglasung, Helligkeit und gute Sichtbedingungen ermöglicht. Das epochemachende Beispiel dafür ist die Kirche in Le Raincy von Auguste Perret (1922, |▶ 25|) bald variiert von Karl Mosers weiträumiger Antoniuskirche in Basel (1925 – 27).
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Von ebenfalls weiträumiger Wirkung war Bartnings evangelische Kirche für die Kölner Pressa-Ausstellung 1928. Hier schließt an einen blockhaften, kupferverkleideten Westriegel der Kirchenraum als vollständig farbig verglaste Stahlskelettkonstruktion auf parabelförmigem Grundriss an, in dessen Rundung sich der Altar erhebt. Am konsequentesten entmaterialisiert bietet sich St. Fronleichnam in Aachen von Rudolf Schwarz (1928) dar, wo der kubische, durch einen niedrigen, seitenschiffartigen Raum erweiterte Hauptsaal Wandöffnungen vor allem im Chorbereich enthält, die erlauben, das Licht als das eigentliche Gestaltungselement einzusetzen. Die Kirchen von Dominikus Böhm (Dettingen, St. Peter und Paul, 1922; Mainz-Bischofsheim, Christkönigskirche, 1926) zeichnen sich durch eine expressionistisch-skulpturale Durchbildung des Inneren, häufig in parabelförmigen Querschnitten, aus, wobei Elemente des mittelalterlichen Bauens abstrahierend vergrößert werden (Spitzbogen und -tonne, Zellengewölbe).
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Ein Meisterbeispiel des expressionistischen Kirchenbaus findet sich in der Grundtvigs-Kirke in Kopenhagen (1921 – 40, Peder Vilhelm Jensen-Klingt), die das Thema des Westriegels zu einer überdimensionalen, nach oben zugespitzten Turmwand steigert. Die katalanische Autonomiebestrebung der zweiten Hälfte des 19. Jh.s war die Grundlage für eine entschieden antiklassische, sich regionalistisch definierende Form des Jugendstils. Antonio Gaudí verwirklichte seit 1883 mit der gigantischen, noch immer unvollendeten Kirche Sagrada Família in Barcelona eine programmatische Synthese, die im Rückgriff auf das Konzept der hochgotischen Kathedrale und unter Verzicht auf Ingenieursberechnung neue Entwurfsmethoden und Betontechnik, Dekoration und Bauskulptur verbindet. Auch die Kapelle der Kolonie Güell (1898 – 1915) mit ihren rohen und schrägen Stützen versteht sich als grottenhaft-organische Architekturmetapher in der Synthese von Natur und Menschenwerk.
Gartenstadt Hellerau bei Dresden Die Gartenstadt als Reformbewegung
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ie Zeit um 1900 wird im Deutschen zumeist als Jugendstil bezeichnet und damit auf eine Kunstproduktion bezogen, die sich einer emphatischen Ästhetisierung des ganzen Lebens verschrieben hatte (| ▶ 19|, vgl. S. 43 – 47) Ebenso kann man diese Zeit auch als Epoche der Lebensreformbewegung kennzeichnen. Das Reformkleid und die Reformkost, die Freikörperkultur, die Reformpädagogik, die Wandervogelbewegung und vieles mehr, was auch heute noch als ökologisches Bewusstsein zu verorten ist, entstanden im späten Wilhelminismus in Deutschland. Es ist eine Zeit, die von
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vielen Zeitgenossen als höchst dekadent und krisenhaft empfunden wurde, da traditionale Werteordnungen in rasanter Geschwindigkeit außer Kraft gesetzt wurden. Die Krise gebar Reformbestrebungen, die in allen Lebensbereichen zu vernehmen waren, um die Versöhnung des Menschen mit einer natürlichen Umwelt wiederherzustellen. In diesen Kontext gehört auch die Entstehung der Gartenstadt (S. 38 f.), dessen frühestes deutsches Beispiel in Hellerau bei Dresden errichtet wurde. Sehr bezeichnend ist Hellerau aber auch deswegen, weil es im engsten Zusammenhang mit der
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deutschen Kunstgewerbereform, speziell dem Deutschen Werkbund |▶ 23|, sowie der Tanzund Theaterreformbewegung steht. Die Gartenstadt Hellerau entstand als Mustersiedlung der vom Möbelfabrikanten Karl Schmidt geleiteten Deutschen Werkstätten. Vorangegangen war ein Jahr zuvor die Aufsehen erregende 3. Deutsche Kunstgewerbeausstellung, die 1906 in Dresden als die Summe der gesamtdeutschen Reformbewegungen gezeigt worden war. Hierbei wurden insbesondere die Weichen für eine industrielle Großserienproduktion eines guten, aber schlichten Kunstgewerbes gestellt. In diesem Umfeld gelang es Schmidt, die von ihm initiierten Dresdener Werkstätten mit den Münchener Werkstätten für Wohnungseinrichtung zu den Deutschen Werkstätten zu fusionieren und parallel dazu an der Gründung des Deutschen Werkbunds als nationaler Interessenvertretung des Kunsthandwerks mitzuwirken ( Themenblock · Interessensverbände, S. 220 f., |▶ 23|). Erster Sekretär wurde Schmidts Mitarbeiter Wolf Dohrn,
und auch die Geschäftsstelle befand sich in der Verwaltung der Deutschen Werkstätten. Parallel dazu hatte Schmidt ganz im Sinne der Reformbewegung seit 1904 für die Dresdener Werkstätten einen gesunden Standort – inklusive von Werkswohnungen – außerhalb der Stadt gesucht und bald, 1906, bei dem Dorf Klotsche nördlich von Dresden gefunden. Der Münchener Architekt und Mitbegründer der Münchener Werkstätten Richard Riemerschmid erarbeitete die Bebauungspläne, und 1908 wurde die gemeinnützige Gartenstadtgesellschaft zur Errichtung der Mustersiedlung Hellerau gegründet; ihr Leiter wurde Wolf Dohrn. Diese juristische Konstruktion erlaubte durchaus auch externen Bewohnern eine Heimstätte, die Siedlung war also weder eine paternalistische Firmensiedlung noch eine privatwirtschaftliche Investition. Programmatisch sollte sie „eine einheitliche Anlage [werden], wie sie in Deutschland zur Zeit noch nicht besteht, wie sie aber als Vorbild notwendig ist, wenn die im Kunstgewerbe herrschende Anarchie überwun-
□ 94 Hellerau, Gartenstadt, Straße Am Grünen Zipfel, Richard Riemerschmid, 1908
Gartenstadt Hellerau bei Dresden
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□ 95 Hellerau, Gartenstadt, Straße Am Schänkenberg, Heinrich Tessenow, 1910
den und an ihre Stelle ein geordnetes Gesamtbild unseres Lebens und unseres Schaffens treten soll“ (Schmidt, nach Lindner/Lühr 2008, S. 29). Hellerau zeigte also umfassend zahlreiche Aspekte der Lebensreform: Ein nach modernsten Erfordernissen geplanter Kunsthandwerksbetrieb versorgte seine Mitarbeiter mit idealen, gesunden und angenehmen Wohnungen. Das innovative Finanzierungsmodell erlaubte den Aufbau einer gemeinnützigen, kapitalkräftigen Gesellschaft, die die Grundstücke der Bodenspekulation entzog. Geplant waren auch eine antiautoritäre Reformschule, Sport- und Badeplätze, ein Gesellschaftshaus zum ‚geistigen und künstlerischen Genuß‘. Die Interieurs der Häuser waren durch die Deutschen Werkstätten angefertigt und führten die praktischen und zugleich geschmackvollen Typenmöbel in ihrer tagtäglichen Benutzung vor. Das war nicht uneigennützig gedacht, denn beispielsweise für den sozialliberalen Politiker Friedrich Naumann, bald einer der wesentlichen Promotoren des Werkbunds, sollten die Dresdener Werkstätten Typenmöbel produzieren, die ei-
III. Schlüsselwerke
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nen für alle vorbildlichen ‚deutschen Volksstil‘ generieren könnten, welcher Deutschland die internationale Führung im Kunsthandwerk sichern solle. Bis in den Zweiten Weltkrieg bzw. bis zu ihrer Verstaatlichung 1946 produzierten die Deutschen Werkstätten und experimentierten mit seriellen Fertigungsmethoden, auch im Bereich des Wohnhausbaues. 1953 begann erneut die Produktion von Typenmobiliar unter veränderten politischen Bedingungen. Die architekturgeschichtliche Bedeutung Helleraus liegt darin, dass hier das junge Konzept der Gartenstadt in ein Großexperiment umgesetzt wurde, in dem namhafte deutsche Architekten Musterlösungen für schlichte und zugleich praktikable Typenhäuser entwickelten, und dies überdies zu einem äußerst pittoresk-vielfältigem Gesamtstadtbild zusammengefasst wurde. Der Bebauungsplan wurde von Richard Riemerschmid entworfen, der als einer der neben Henry van de Velde und Peter Behrens |▶ 23| bekanntesten Universalkünstler bereits seit 1902 für Schmidt tätig (und zudem sein Schwager) war und sehr erfolgreich vor allem maschinell gefertigte Typenmöbel konzipierte. Der Plan sah ein Viertel für Kleinwohnungen der Arbeiter, ein Quartier für Landhäuser der Gartenstadtfreunde, sodann den Bereich der Werkstätten sowie einen zentralen Ort für die Tätigkeiten der Allgemeinheit, schließlich ein Ersatzgelände vor. Verschiedenste Bauaufgaben waren hier also zu erproben – und zu präsentieren: Von der Kleinstwohnung über die Reformvilla bis zum Festspielhaus, ja sogar ein Reformgasthaus war vorgesehen. Die Verkehrsverbindungen übernahmen sanft gekrümmte Straßen, die natürlich den Höhenlinien des recht bewegten Terrains folgen, vielfältige Tor- und Raumsituationen schaffen und zwanglos auf einen sog. Marktplatz münden. Insgesamt sollte der Gesamtcharakter derjenige eines großen Dorfs sein, und entsprechend plante Riemerschmid den Fabrikbau gemäß einem großen Gutshof.
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Die malerischen Prinzipien des Hellerauer Städtebaus sind im allgemeinen Sinne auf das vielgelesene Buch von Camillo Sitte „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ (1889) zurückzuführen, konkret aber vor allem der städtebaulichen Praxis Theodor Fischers |▶ 21| zu verdanken. Für die Wohnhäuser wurden mithilfe einer Fragebogenaktion unter den Arbeitern Mindeststandards entwickelt und in unterschiedliche Reihenhauskonzepte umgesetzt, bei denen die einzelnen Elemente wie Türen und Fenster standardisiert gefertigt wurden. Namhafte deutsche Architekten wurden hier tätig; neben Riemerschmid und Theodor Fischer sind vor allem der Spezialist für die Landhausbewegung Hermann Muthesius |▶ 11| sowie Heinrich Tessenow zu nennen. Riemerschmids Lösung der ökonomischen Frage bestand insbesondere darin, Dorfhaustypen nach rationalistischen und ökonomischen Prinzipien neu zu konzipieren. Für die Zeile Am grünen Zipfel etwa entwarf er eingeschossige Häuser mit nach oben mittels einer eingeschobenen Wandzone erweitertem Dach (□ 94). Das sparte Baumaterial und erleichterte die Konstruktion. Insgesamt ducken sich die Häuser gleichsam in die umgebenden Gärten. Derartiges Bauen in den Traditionen des sog. Heimatstils ließ allerdings schon damals Kritik an allzu biedermeierlichen Allüren entstehen. Einen anderen Weg verfolgte Hermann Muthesius, der im Kleinhausbereich und im Villenviertel mehrere Häuser bzw. Hausgruppen errichtete. Auch ihm ging es um differenzierte und praktische Hauseinteilungen und die Entwicklung typisierter und kombinierbarer Bauelemente, doch erhielten seine Bauten durchaus ein nobilitierendes Äußeres, etwa dadurch, dass sie auf Bruchsteinsockel gesetzt sind und durch markante Giebel jede Hauseinheit zur Straße hin anzeigen. In der Straße Am Gräbchen entsteht aus der dortigen Reihenhausgruppe ein Stakkato spitz aufragender Giebel, deren strikte Wiederholung nur durch
rhythmisch dazwischengesetzte Traufstücke unterbrochen wird. Hier und an anderer Stelle zeigt sich, dass Muthesius bestens mit der englischen Gartenstadtbewegung vertraut war, denn gerade das prägnante, aber schlichte Ausbilden von Fassaden vermittels großer Giebel findet sich hier wieder |▶ 11|. Kontrovers innerhalb der Hellerauer Protagonisten aufgenommen wurden die Vorschläge von Heinrich Tessenow, der 1909 nach Hellerau gekommen war und gerade eine subtil argumentierende Schrift „Der Wohnhausbau“ veröffentlicht hatte. Zahlreiche architektonische Kriterien wie Raumbedarf, thermische Isolation, Lichtzufuhr, Hygiene, Materialverhalten, Reinigung und Instandhaltung waren hier zu einem ‚Ur-Ausdruck‘ des Hauses zusammengeführt, das äußerlich schlicht und völlig ornamentlos, ja ärmlich erschien, gleichwohl aber äußerst vielschichtig konzipiert war. Entlang der Straße Am Schänkenberg wurden nun eine Reihe derartiger Häuser realisiert (□ 95): Frei stehend, auf quadratischem Grundriss, von einem in 45°-Winkel geneigten Satteldach gedeckt und mit scharfen, klaren Giebelprofilen stellen sie das Äußerste an Vereinfachung des Typus Einzelhaus dar, sind gleichsam reine stereometrische Form. Dieser Typ kann, ebenfalls Am Schänkenberg zu sehen, auch in einer Häuserreihe vervielfältigt werden, deren glatte Fassade als Gliederung einzig gleichförmig wiederholte Rechteckformen von Türen und Fenstern sowie skandierende Regenfallrohre aufweist. Zum Hellerauer Reformprogramm gehörte von Anfang an auch eine paternalistische Fürsorge für musikalische Erziehung und ein dafür notwendiges Veranstaltungshaus. 1909 gelang es Dohrn und Schmidt, den Genfer Erfinder der rhythmischen Tanzgymnastik, Émile Jaques-Dalcroze, nach Hellerau zu holen. Sein Programm war, eine ganzheitliche Harmonie durch ein eurythmisches, über Musik und Tanz erzeugtes Körperbewusstsein herzustel-
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len. Dohrn erkannte hier die Möglichkeit, in Hellerau den ‚Zukunftsmenschen‘ kreieren zu können, der – fernab von großstädtischer Zivilisation, inmitten der Natur und ‚natürlichen‘ Häusern – einer vitalen, rhythmisch pulsierenden Daseinserfahrung teilhaftig werden könne. Jaques-Dalcroze sowie der Bühnenbildreformer Adolphe Appia wurden nach Hellerau verpflichtet und 1911 durch Tessenow ein großes Festspielhaus am nördlichen Rand der Gartenstadt errichtet. Der Bau ist von einer revolutionären Schlichtheit und zugleich Monumentalität (□ 96): Ein in die Tiefe sich orientierender Hauptbau mit Giebelfassaden und je einem Portikus aus rechteckigen Stützen wird seitlich begleitet von niedrigeren Flügelbauten, die jeweils einen Hof umschließen. Alle Baueinheiten bestehen aus klar definierten Baukörpern: Kuben, Rechtecken, Dreiecken in wohl abgewogenen Proportionen. Dieser Bau bildet die Mitte der Breitseite eines großen querrechteckigen Vorhofs, der von niedrigen schlichten Bauten umgrenzt wird. Im Inneren enthält der Hauptbau einen würfelförmigen Saal, ohne vorgegebene Einteilung in Bühne und Zuschauerraum. Appia installierte hier große Freitreppen, in denen die rhythmischen Tanzaufführungen stattfanden. Aber nicht nur auf einen Bühnenrahmen war verzichtet worden, der Innenraum war eine riesige Lichtinstallation, denn Wände und Decke waren mit zwei Schichten weißen Wachstuchs bespannt, innerhalb derer Tausende von Glühbirnen lichtorgelartige Effekte produzieren konnten. Tessenows abstrakter Tempel umschließt gleichsam einen white cube, in dem das eurythmische Totaltheater – Musik, Tanz, Gesang zusammenführend – sakrale Weihen erhielt. Der junge Charles-Édouard Jeanneret, alias Le Corbusier |▶ 27, 37|, dessen Bruder Albert Mitarbeiter von Jaques-Dalcroze war und der 1910/11 mehrmals von Berlin nach Hellerau gekommen war, erkannte das innovative Potential des Hauses umgehend. Am Festspielhaus in Hellerau zeigten sich aber
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auch tief greifende und vielfältige Konflikte um die grundsätzliche Konzeption der Reformbewegung. Das Bestreben, durch eine ‚gesunde‘, typisierte Schlichtheit zu einer sentimentalen Behaglichkeit zu finden, wie das Riemerschmid vertreten hatte, wurde nunmehr durch radikale abstrakte Konzepte ersetzt, die auf das Essentielle des Lebens in der geometrischen Form der Architektur, der reinen Farbe des Lichts und der klaren rhythmisch-harmonischen Bewegung lebender Konturlinien im Tanz abhoben. Hellerau ist insgesamt nicht ohne die englische Gartenstadtbewegung zu verstehen, umso mehr, als sie über Hermann Muthesius, der sie intensiv und in offiziellem Auftrag studiert hatte, die Planungen direkt beeinflusste. Der Rückzug auf das Land, von der Arts-andCrafts-Bewegung vorexerziert |▶ 11| und von William Morris auch in seinem utopischen Roman „News from Nowhere“ 1890 beschworen (dt. „Kunde von Nirgendwo“), sollte die sozialen und hygienischen Probleme der Großstadt im Sinne eines utopischen Sozialismus heilen. 1898 veröffentlichte der Parlamentsschreiber Ebenezer Howard eine urbanistische Studie, die zur Gründungsschrift der Gartenstadtbewegung werden sollte: „Tomorrow. A Peaceful Path to Real Reform“ (seit 1902 unter dem Titel: „Garden-Cities of Tomorrow“), in der er die Vergesellschaftung des Bodens als Voraussetzung eines kontrollierten Städtebaus forderte. Er entwickelte ein System von Satellitenstädten, die, in sich autark, im Grünen angelegt werden und untereinander durch schnelle Verkehrswege verbunden sein sollten. Die Größe jeder Stadt ist begrenzt; wächst der Wohnungsbedarf über 32 000 Einwohner, ist eine neue Stadt im Grünen zu gründen. Die Vorteile des Landlebens seien demgemäß mit den Vorzügen der Stadt harmonisch zu verbinden. In Deutschland entstanden parallel dazu genossenschaftlich organisierte, sozialistische Kolonien auf Selbstversorgerbasis (z. B. „Eden“ bei Berlin, 1893). Seit 1900 institutionalisierte sich die Gartenstadtbe-
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wegung allenthalben, vor allem in England und Deutschland entstanden mächtige Interessenvertretungen. Die neu gegründeten englischen Gartenstädte Letchworth und Welwyn erhielten Modellcharakter, auch wenn keine dieser Anlagen im Sinne Howards autark waren. Doch der pittoreske Städtebau mit seiner subtilen Abstimmung von Landschaft und Häusern in Verbindung mit den funktionalen Prinzipien der Arts-and-Crafts-Bewegung wirkte nachhaltig. Dies gilt umso mehr, als einige der großen Siedlungsbauer der Weimarer Republik |▶ 30| direkten Kontakt nach England hielten. Ernst May etwa hatte 1908 bei dem Architekten von Letchworth, Raymond Unwin, gearbeitet. Insofern ist allein das städtebauliche Konzept der Gartenstadt, das man in Hellerau aufgriff, Ausdruck des unbedingten Reformwillens der Beteiligten. Allerdings überhöhte man diesen Impetus zu einem alle Lebensbereiche durchdringenden Prinzip einer neuen Humanität; deswegen kam auch den konkurrierenden architektonischen Prinzipien grundsätzliche Bedeutung zu. Als zukunftweisend stellte sich,
□ 96 Hellerau, Gartenstadt, Festspielhaus, Heinrich Tessenow, 1911
das erkannte in aller Schärfe nicht nur CharlesEdouard Jeanneret, eine standardisierte, geometrisch-klare und konsequent unhistorische Architektur dar, wie sie Heinrich Tessenow im scharfen Widerspruch zu Riemerschmids Heimatstil vorschlug. Der Grundstein für die Moderne der Weimarer Republik war gelegt.
Die Turbinenhalle der AEG in Berlin Der Werkbund und die Industrie
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ie kann eine Elektrolampe schön sein? Wie soll dazu passend ein Plakat gestaltet sein? Wie überhaupt muss eine Werkhalle aussehen, damit sie sich als zeitgemäß, funktional und monumental zugleich ausnimmt? Das waren drängende Fragen, die um 1900 an eine Warenproduktion gestellt wurden, die seit einiger Zeit in Großserie herstellte und zugleich auf die erzieherischen Werte ‚guter Formen‘ achten wollte. Diese Bestrebungen mündeten vor allem im Deutschen Reich in einen innova-
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tiven Zusammenschluss von Industrie, Design, Kunstpädagogik und nationaler Imagebildung, deren wichtigste Interessenvereinigung der „Deutsche Werkbund“ wurde ( Themenblock · Interessenverbände, S. 220 f.,|▶ 22|). Einer der weltweit agierenden deutschen Industriebetriebe, die früh die Bedeutsamkeit eines koordinierten corporate designs erkannten, war die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft mit ihrem Hauptsitz in Berlin. 1907 hatte sie den Direktor der Düsseldorfer Kunstgewerbeschule,
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□ 97 Berlin, AEG-Turbinenfabrik, Peter Behrens, 1908 – 09
Peter Behrens, als künstlerischen Beirat berufen, und bereits 1908 – 09 konzipierte dieser eine gestalterisch epochale Werkhalle mit zwei großen Laufkränen mit je 50 t Tragekraft zur Montage von Turbinen der AEG. Der Baukörper ist einfach zu erfassen, besteht neben der ca. 25 m hohen Haupthalle von 123 m, später auf 207 m vergrößerten Länge aus einer seitlich begleitenden, architektonisch schlichten Nebenhalle (□ 97). Die große Halle wird gemäß einer vom Betriebsdirektor Oskar Lasche und dem Ingenieur Karl Bernhard entwickelten Konzeption von einer Abfolge aus Dreigelenkbögen aus vernieteten Doppel-T-Profilen getragen. Dazwischen öffnen sich fast in voller Breite Fenster, auch von oben erhält das Innere durch ein sattelförmiges Oberlicht Beleuchtung. An der Stirnseite zur Huttenstraße tragen zwei mächtige, seitliche Mauerblöcke einen Giebel, der dem Querschnitt des Hallendaches folgt. Darunter, zwischen den Eckmassiven, ist wiederum ein großes Fenster eingelassen. All das erscheint ganz ungewöhnlich und
III. Schlüsselwerke
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vertraut zugleich, insbesondere die Konstruktion einer Werkhalle aus Dreigelenkbindern. Diese Konstruktion besteht aus zwei Bogenschenkeln, die am Erdboden und in ihrem Scheitel mit Gelenken verbunden sind, damit sie thermische Ausdehnungen ohne Brüche gestatten können. Entscheidend ist aber, wie Behrens diese Gegebenheiten gestalterisch umgesetzt hat: So bestehen die einzelnen Binderschenkel aus einer senkrechten Seitenstütze, die in einen mehrfach geknickten Dachträger überführt. Aus statischen und ökonomischen Gründen sind die Binderschenkel an der Knickstelle am stärksten, während sie zu den Gelenken zusammenlaufen, also schmäler werden können. Während demnach die Außenkante jeder Stütze senkrecht nach oben läuft, neigt sich die Innenkante leicht, aber klar sichtbar nach innen. Hier, in der Innenflucht der Stützen, sind die Fenster eingesetzt, die mithin nach oben leicht in das Innere zu kippen scheinen. Umgekehrt zeigt sich dadurch die gesamte Eisenkonstruktion am Äußeren, und zwar dergestalt, dass der
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obere Teil stärker ist als der untere hervortritt. Dieser allerdings ist jeweils aufgelagert in dem großen Rollengelenk, das seinerseits in hohe Betonsockel einfundamentiert ist (□ 98). In der monotonen Abfolge dieser markant nach außen gesetzten Stützen evoziert Behrens klar eine klassische Kolonnade, verdreht aber die Prinzipien der Tektonik. War in der klassisch-vitruvianischen Syntax die Säule unten stärker, um sich nach oben zu verjüngen und dort mithilfe eines gestalterisch herausgestellten Kapitells die Auflage für einen Architrav zu bilden, so ist es an der Turbinenhalle genau umgekehrt: Das Bindergelenk als Auflastpunkt erscheint nun unten, die Stütze wird nach oben stärker. Gleichwohl ist alles konstruktiv logisch und in dieser Konsequenz – ganz analog zu den klassischen Prinzipien des Tempels – auch gestalterisch freigelegt. An der Schmalseite bestätigen sich diese Prinzipien. Der seitlich abgestützte Giebel erinnert unweigerlich an eine Tempelfront, zumal es ein dekoriertes Tympanon gibt: Statt allegorischer Figuren prangt hier nunmehr aber das Firmenlogo, drei gestaffelte Waben von kristalliner Prägnanz mit den Firmeninitialen. Und dennoch resultieren alle Einzelheiten aus der Stahlkonstruktion. Die seitlichen Mauern neigen sich an den Außenkanten oben nach innen, folgen also der Flucht der Seitenfenster; dasselbe gilt für die polygonal gebrochene Oberkante des Giebels, die den Querschnitt der Dachkonstruktion getreu abbildet. Die Festigkeit der Seitenmauern betont Behrens noch dadurch, dass sie ganz gemäß klassischer Architektur kräftig genutet sind. In diesem Aussehen – genutet und sich oben leicht verjüngend – könnten sie auch Brückenpfeiler sein. Wie an der Seitenfassade sind hier nunmehr aber Paradoxa eingebaut: Insbesondere macht das große Stirnfenster die Neigung der Seitenpylone nicht mit, fluchtet dafür aber mit dem Giebel. Die massiven Seitenteile, die nach der klassischen Architekturästhetik eigentlich fest erscheinen sollten, treten etwas
zurück, während der gläserne, ‚leichte‘ Mittelteil plastisch etwas nach vorne steht, als ob er trage oder aber von der Giebelunterkante abhängen würde. In der Tat ist die Konstruktion des Giebels wie des Fensters Teil der Stahlkonstruktion. Diese wird also auch ästhetisch zum Prinzip der Gestaltung, folgt einer tektonischen Logik, die traditionsgemäß insbesondere dem griechischen Tempel attestiert wurde – und erreicht damit eine Form, die eben an einen Tempel mit seiner Stützenabfolge und Giebelfront erinnert und dessen monumentale Wirkung kaum geringer sein könnte. Dabei handelte es sich weniger um eine städtebauliche Geste, sondern um eine Nobilitierung der AEG, die sich hier geschmackssicher eine branded architecture errichten ließ: Technische Innovation und Zuverlässigkeit paaren sich mit absoluter Modernität und traditionsbewusster Monumentalität.
□ 98 Berlin, AEG-Turbinenfabrik, Peter Behrens, 1908 – 09, Auflager eines Bogenbinders
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Die so erstaunliche Architektur der AEG-Turbinenhalle muss vor dem Hintergrund einer Bewegung gesehen werden, die in der Gründung des Werkbundes ihren bezeichnenden Ausdruck fand. Die Diskussion um ein zeitgemäßes Kunstgewerbe hatte ja spätestens mit der Arts-and-Crafts-Bewegung | ▶ 11| eine erneuerte Geschmackskultur als Pendant zur Erschließung neuer Konsumgüterbereiche gefordert. Unentschieden war allerdings, welche Bedeutung der genuin künstlerische Entwurf und das traditionelle Handwerk dabei haben sollten. Mit dem Zusammenschluss von 12 Künstlern (u. a. Peter Behrens, Richard Riemerschmid |▶ 22|, Theodor Fischer |▶ 21|, Josef Hoffmann |▶ 20|) und 12 Firmen zum Deutschen Werkbund entstand im Oktober 1907 auf nationaler Ebene eine Interessensvereinigung, die resolut die industrielle Konsumgüterproduktion in Verbindung mit einem aktuellen, gegenwartsbezogenen Design in allen Lebensbereichen vertrat. Ziel war die „Veredelung der gewerblichen Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk, durch Erziehung, Propaganda und geschlossene Stellungnahme zu allen einschlägigen Fragen“ (Satzung des WB 1907); Grundlage dieser Produktion sollte der ‚gute Gebrauchswert‘ sein, aus dem sich Schönheit automatisch ergebe; als Vorbild diente die Kunstpolitik der AEG und ihres Leiters Peter Behrens. Dank der Unterstützung von Großfirmen wie AEG und Bahlsen, aber auch den Deutschen Werkstätten in Dresden |▶ 22| stieg der Werkbund bis zum Ersten Weltkrieg rasch zum Aushängeschild der deutschen Kunstgewerbereform auf, bald gefolgt von ähnlichen Organisationen in Österreich 1912 und der Schweiz 1913. Maßgeblich für den Erfolg verantwortlich war eine kluge Medienpolitik des Werkbundes, die schon im kurzen und prägnanten Namen (im Kontrast zu den meist umständlich betitelten anderen Kunstgewerbevereinigungen) zum Ausdruck kam. Vor allem große Ausstellungen, insbesondere
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die Werkbundausstellung in Köln 1914 und ein aufwändig gestaltetes Jahrbuch machten das Wirken des Werkbundes öffentlich sichtbar. Programmatisch wurden bis hin zur Architektur ‚Typen‘ präsentiert: Die Mustersiedlung Hellerau |▶ 22| verstand sich als Modellausstellung des Wohnungsbaus, und in Köln waren etwa ein Glaspavillon für die Glasindustrie (Bruno Taut), ein gläsernes Fabrik- und Verwaltungsgebäude (Walter Gropius) oder ein Theater für neue Aufführungspraktiken (Henry van de Velde) zu sehen. Die durch führende Politiker, etwa Friedrich Naumann, entschieden unterstützten Aktivitäten des Werkbundes hatten auch das Ziel, mit der Kreation eines neuen und modernen Image den Konsum deutscher Produkte im In- und Ausland zu beleben. Auf der einen Seite breitete sich das großstädtische Bürgertum als dominierende Konsumentenschicht mit neuen Lebensstilen aus, auf der anderen Seite herrschte angesichts der rapiden Verstädterung, eines unerbittlichen Kapitalismus und einer zunehmenden nationalen Konkurrenz um 1900 allgemein das Gefühl von sozialer Verunsicherung und abhandengekommener mentaler Verwurzelung. Der Soziologe Ferdinand Tönnies hat das schon 1887 in seiner Unterscheidung zwischen ‚kalter‘, funktionierender ‚Gesellschaft‘ und ‚warmer‘, erlebter ‚Gemeinschaft‘ beschrieben. Allgemein wurde daraus bald ein grundsätzlicher Unterschied zwischen ‚Zivilisation‘ und ‚Kultur‘. Die vielfach beklagte Disharmonie, dass der moderne Großstadtmensch nur noch ‚Moden‘ folge anstatt wie früher sich in einer von einheitlichem ‚Stil‘ geprägten ‚Kultur‘ zu bewegen, trat nun allenthalben zu Tage: Eine pseudoaristokratische und unpraktische Damenbekleidung war ebenso nur modische Verkleidung wie eine Villa zum Barockschloss zu stilisieren, beides Ausdruck schlechten Geschmacks. Die Politik des Werkbundes setzte zur Beseitigung dieser Disharmonie nun aber nicht ‚unten‘ an, indem man versucht hätte, ‚Stil‘ als ganzheitliche
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Summe von ‚Kultur‘ sich ausprägen zu lassen. Vielmehr ging es darum, die Konsumobjekte so attraktiv, neu und passend zu gestalten und zu verbreiten, dass sie ihrerseits einen ‚guten Geschmack‘ stifteten. Über die massenweise Produktion guter Waren könne, so die Vorstellung, auch ‚Kultur‘ und nationale Einheit wieder hergestellt werden. Um verfügbar zu sein, dürfen diese Produkte keine Einzelstücke sein, sondern müssen massenweise erstellt und verbreitet werden, die Entwicklung von Typen guter Gestaltung wurde als das Mittel angesehen, die eitle, individuelle ‚Mode‘ einzudämmen. Der Erziehung zum neuen Menschen kam daher eine zentrale Funktion zu, und sie wurde in allen Medien (Ausstellungen, Publikationen, Ausbildungscurricula) betrieben (Schwartz, in: Nerdinger 2007). Diese Politik des Werkbundes war selbst intern nicht unumstritten, und aus diesen Gründen entlud sich 1914 ein heftiger Streit, in dem eine Fraktion unter Führung von van de Velde sich für die Dominanz des künstlerischen Entwurfs und eine sich daraus entwickelnde Genese eines neuen Stils einsetzte. Generell entsprach aber das Insistieren auf Typen und Volksbildung einer Auffassung, die noch in den 20er Jahren vielfach vertreten wurde und darin zum Ausdruck kam, einen Idealtyp des rational-sachlich denkenden und fühlenden ‚Neuen Menschen‘ zu fordern. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, welche Bedeutung zentrale Begriffe wie ‚gute Form‘, ‚Einfachheit‘ und ‚Funktionalität‘ kurz nach 1900 haben sollten: Sie versprachen die Rückkehr zu einer harmonischen Kultur unter der Führung der mit dem Werkbund assoziierten Firmen und Künstler. Daran hatte auch die Turbinenhalle der AEG in Berlin ihren Anteil, selbst wenn in ihr keine Konsumgüter produziert wurden. Das tat die Firma aber in Hunderten, jeweils wiederum vielfach in zukunftweisender funktionaler Form von Behrens gestalteten Haushaltsgegenständen, von der elektrischen Bogenlampe bis zum Wasserkocher.
Die nachgerade programmatische Verbindung zur Industrie äußerte sich wenig später in einer weiteren Inkunabel der frühen Moderne: den von Adolf Meyer und Walter Gropius 1911/12 errichteten Fagus-Werken in Alfeld an der Leine. Der Verwaltungstrakt bildet einen fast vollständig verglasten Kubus, bei dem eine gläserne Vorhangfassade ostentativ vor die Stockwerkeinteilung gesetzt ist. Ein ähnlich homogener Glaskubus um eine Stahlskelettkonstruktion war schon 1903 für die Fa. Steiff in Giengen an der Brenz errichtet worden, doch ist die Alfelder Lösung weit subtiler: Die schwarzen Bänder, die die Fassade horizontal durchziehen, geben keine Stockwerkseinteilung wieder, sondern dienen der Versteifung des Fensterrahmenrasters. Die mit gelbem Klinker verkleideten Stahlstützen bilden das konstruktive Skelett des Baues, das in seiner regelhaften Abfolge schlanker Stützen und der darüber geführten Gebälkzone analog zu der AEG-Turbinenhalle Assoziationen zum klassischen Tempel aufkommen lässt, der gleichsam in eine zeitgemäße Form überführt worden zu sein scheint und in seiner noblen Konnotation dem Firmenimage dient. Analog zu Behrens greifen aber auch Meyer und Gropius in die tektonische Funktionslogik ein. Hier nun aber sind es die Backsteinpfeiler, die sich – ganz gemäß der Verjüngung der klassischen Säule, aber im Widerspruch zu einer Stahlkonstruktion – leicht nach innen neigen. Paradoxerweise treten dazwischen die gläsernen Wandflächen leicht nach vorne, wie an der Stirnseite der Turbinenhalle fluchten sie mit dem Gebälk, scheinen vorhangähnlich von dem Gebälksturz herunterzuhängen: Das Gebäude hat in seiner gläsernen kompakten Form Ähnlichkeiten mit einem Kristall, doch ist es zudem eigenartig gewichtslos |▶ 9|. Kunst und Industrie, das war die Botschaft der Fagus-Werke, brachten gemeinsam ‚gute‘, geläuterte Form hervor, und von diesem Image konnten die in dem Betrieb massenhaft hergestellten Schuhleisten nur profitieren.
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Robie House in Chicago Die Suche nach einem Stil der USA
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m Jahre 1908 durchlebte ein schon nicht mehr ganz junger nordamerikanischer Architekt eine Sinn- und Lebenskrise: Trotz zahlreicher erfolgreicher Realisierungen bricht Frank Lloyd Wright, zusammen mit der Frau eines seiner Klienten, von Chicago nach Europa auf, um hier in Fiesole in ein viele Monate dauerndes Exil zu gehen. Nach seiner Rückkehr in die USA wird er nie mehr in sein altes Atelier im Chicagoer Vorort Hyde Park zurückkehren, sondern sich noch weiter in das Landesinnere nach Taliesin zurückziehen, weiterhin sehr erfolgreich als Architekt wirken und sich überdies bis ins hohe Alter zum Doyen der US-amerikanischen Moderne und – in seinem eigenen Selbstverständnis – größten Baumeister aller Zeiten stilisieren. Der Aufenthalt in Europa diente aber nicht nur der Meditation, sondern der Vorbereitung einer großformatigen, deutschsprachigen Publikation seiner bisherigen Werke „Ausgeführte Bauten und Entwürfe“, 1910/11 im Wasmuth-Verlag erschienen. Diese Publikation sollte das Bauen in Europa in entscheidendem Maße verändern. Die Publikation enthielt vor allem Abbildungen von äußerst ungewöhnlich konzipierten großbürgerlichen Villenbauten. Damit wirkte Wright auf eine der zentralen Bauaufgaben der Zeit: Der großbürgerliche Wohnbau, in dem der Anspruch verfolgt werden konnte, über innovative und aufgeschlossene Bauherren auf die Geschmackskultur zu wirken, hatte bislang mit Emphase und in allen Ländern auf Modelle des englischen Landhauses |▶ 11|, aber auch den Heimatstil oder klassizistische Vorbilder zurückgegriffen. Die prairie houses (Präriehäuser) von Wright folgten völlig anderen Grundsätzen, und diese sollten entscheidend auf die Entwicklung des
Villenbaus in der ganzen Welt wirken. Das bekannteste Beispiel hierfür stellt das Robie House dar, 1907 – 08 entworfen und 1909 – 11 in Oak Park für Frederick C. Robie, den Sohn eines reichen Unternehmers, in bewusster Nähe zur Chicagoer Universität errichtet. Auf einem relativ schmalen, längs der Straße sich erstreckenden Terrain entstand ein extrem lang gestrecktes Gebäude innerhalb eines ummauerten Areals. Das Haus besteht aus zwei langen, zweigeschossigen Flügeln, die aneinander angrenzend parallel, allerdings stark versetzt verlaufen (□ 99). Den rückwärtigen Flügel mit den Privaträumen, Dienstbotenwohnung sowie einer Garage für drei (!) Autos umgibt ein von einer Mauer umgrenzter Hof. Der spektakuläre Hauptflügel besteht aus einem einzigen, immensen, lang gestreckten Raum für Wohn- und Speisezimmer, der an den Schmalseiten leicht eingezogen wird und hier bugartig in Form eines Rechteckwinkels auslädt. Der Innenraum setzt sich an der Westseite in einer großen Terrasse in der Breite des Wohnzimmers fort. Terrasse, Wohnraum und ein Teil des Hofes überstreicht ein extrem flaches, weit ausladendes Walmdach (□ 100). An keiner Stelle wird die scharf geschnittene Dachkante dieser lang gestreckten Fläche beeinträchtigt. Die markante Horizontalität gilt aber auch für alle anderen Teile des Hauses: Die Südfenster sind als eine gleichsam endlose Reihe monoton nebeneinander gesetzt; die Gartenmauer besteht ebenfalls aus einem ununterbrochenen steinernen Sockel- und Brüstungsband, das sich deutlich von dem dunklen Backstein absetzt, der das sonstige Baumaterial abgibt. Der Backsteinverband ist subtil derart gestaltet, dass die vertikalen Stoßfugen durch dunkle Tönung unkenntlich
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205 □ 99 Chicago, Robie House, Frank Lloyd Wright, 1909 – 11, Grundriss des Hauptgeschosses
gemacht werden, während die horizontalen Lagerfugen hell hervorgehoben sind. Höchst eigenartig ist auch die Erschließung des Hauses: Denn auf der Straßenseite gibt es kein – vertikale Akzente setzendes – Portal, im Gegenteil läuft vor der Seitenfassade des Hauses mit ihrer überlangen Fensterreihe eine an den Ecken mit Postamenten akzentuierte Mauer durch. Zum Haus gelangt man durch einen niedrigen, fast versteckt gelegenen Eingang auf der Rückseite des Hauses. Auf dieser Ebene liegen ein großes Billard- und ein Spielzimmer. Von dort, aus dem Dämmrigen, geht in der Mitte des Wohnflügels eine mehrfach gewendete Treppe nach oben und führt in die Helle des lang gestreckten Wohnraums auf dem Hauptgeschoss (□ 101). Hier gibt es keine Wände und keine klar definierten inneren Raumbegrenzungen. Einzig ein mächtiger Kamin neben dem Treppenaufgang erhebt sich in der Mitte des Raums, doch kann man an ihm an beiden Seiten vorbeigehen und –sehen. Der Kamin durchzieht als einziges klar vertikales Element das ganze Haus von unten bis oben: Er bildet den Kern, an dem das Haus erstiegen wird, von dem die freien Räume abgehen und vor dem die Fensterreihe vorbeizuziehen scheint. Diese ‚Feuerstelle‘ verbildlicht auch die symbolische und funktionale Mitte des Hauses; konsequent ist diese ‚private‘ Achse auch nach oben fortgesetzt, denn die Treppe führt weiter zu einem kompakten, von einem eigenen, weit auskragenden Dach gedecktes Obergeschoss mit einer Gruppe von Schlafzimmern. Auf der Hauptebene finden sich unmittelbar neben Treppe und Kamin auch der Frühstücks- bzw. Essbe-
reich. Diese bildeten jeweils intime Zonen, indem durch die exakt vertikal geführten und hoch aufragenden Stuhllehnen gleichsam eine Raumschale angedeutet wurde, die den Essbereich umgrenzte. Doch all das ereignet sich in einer inselartigen Verdichtung inmitten eines ansonsten freien Raumes. Mehrfache horizontale Strukturen erzeugen einen starken Tiefenzug zu den Stirnseiten des Raumes: insbesondere die monotone Reihung der Fenster, das Band des durchlaufenden Fenstersturzes und eine durchlaufende, soffittenartige Erhöhung des Mittelteils der Decke. Der Knickung dieser Erhöhung folgen auch farblich stark abgesetzte Querstreifen aus Naturholz: Sie erinnern an Deckenbalken, sind jedoch zu Bandstrukturen abstrahiert, die Bezug nehmen auf eine konsequente dunkelfarbige Rahmung sämtlicher Wand- und Fensterpaneele darunter. Von diesen Deckenbalken ragen jeweils kugelförmige Lampen in die Soffitte, eine schier endlose Reihung von punktartigen Lichtquellen bildend. Der Längszug des Raums setzt sich auch in den Außenbereich jenseits der Stirnseiten fort, denn deren winkelförmige Brechung zieht ihn gleichsam auf die Terrassen, wo die Decke des
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□ 100 Chicago, Robie House, Frank Lloyd Wright, 1909 – 11, Seitenansicht von der Straße
Innenraums in die Unterseite des weit vorkragenden Vordaches übergeht. Zu betreten ist die Terrasse durch vollständig verglaste Türen zwischen der Stirnseiteneinziehung und der Längswand: Die Reihe der Fenster setzt sich ins Äußere fort, die Fenstersohlbank innen wird zur Brüstung der seitlichen Terrassenmauer außen. Das Robie House folgt insgesamt einer bewusst ambivalenten Struktur: In seiner Horizontalität erstreckt es sich weit in seinen natürlichen, baumbestandenen Umraum. Gleichzeitig schottet sich der Bau mit seinen massiven Mauern davon ab. In dem Hauptmaterial Backstein übernimmt die Architektur natürliche, warmfarbige Materialien, doch zugleich kommen in den kühn und ohne Außenstützen vorkragenden Vordächern unübersehbar moderne Materialien wie Stahl zum Einsatz. Wiewohl die Villa einen einzigen immensen Innenraum umschließt, so wird dieser doch markant in verschiedene Zonen der Privatheit eingeteilt. Und diese geradezu rustikale Intimität um den Kamin kontrastiert mit der programmatischen Entwertung von Außengrenzen: Das Innere
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gleitet sanft über in das Äußere der Terrasse. Symbolisch Sprechendes vermittelt sich mit abstrakt Kompositorischem: Der Kamin und sein rustikales Ambiente machen Feuerschein sichtbar und Wohligkeit fühlbar, aber Licht und Heizung werden ansonsten künstlich erzeugt. Die ‚urtümlichen‘ Balken im Inneren werden zu abstrakten Bandstrukturen. Und nicht das kleinste Detail ist der klassischen Formensyntax verpflichtet, im Gegenteil, die horizontal geschichteten Backsteinmassive ohne eindeutige Schauseite konterkarieren vertraute Vorstellungen einer Fassade als der Hauptschauseite eines Gebäudes. In dieser Struktur repräsentiert das Robie House verschiedene nordamerikanische Mythen und Mentalitäten der Zeit: die Ehrfurcht vor der weiten Natur, der Prärie, sowie die industrielle Beherrschung moderner Stahltechnik, die Eroberung des unbegrenzten Siedlungslandes sowie eine gediegene Kultiviertheit – in Absetzung von einer Verwurzelung in der Alten Welt. Wright hat dieses Modell des weit in dem Umraum ausgreifenden prairie house über lange Jahre, seit 1893 (Winslow House, Chicago), aus kompakteren,
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zunehmend kreuzförmig nach außen ragenden Dispositionen entwickelt. Für das dezidierte Abweichen von tradierten europäischen Sprachen ist dabei auch eine intensive Rezeption des japanischen Wohnhauses in dieser Zeit verantwortlich zu machen: Das aus Balken mit leichter Ausfachung errichtete, oft von einem weit auskragenden Dach gedeckte Haus umschließt auch hier einen Einheitsraum, der sich in der Fläche, weniger in der Höhe entwickelt, und nur durch leichte Membranen unterteilt ist. Dieses Modell galt als Muster von Materialgerechtigkeit und Funktionalität und insofern auch als Vorbild einer neuen Architektur des amerikanischen Westens, um sich gegen die Traditionen des Bauens in Europa und der Ostküste zu wenden. Auch wenn der Auftraggeber Frederick C. Robie sein Haus nur einige Monate bewohnen sollte, so war er doch typisch für die generelle Klientel der prairie houses, für die es kein Pendant in Europa gab: der junge, reiche Self-made man, aufgeschlossen und liberal, unternehmenslustig, erfinderisch und künstlerisch begabt sowie in innovativen Berufszweigen tätig. Robie investierte in die Produktion von Automobilen, ein Verkehrsmittel, dessen Entwicklung sich eigenartigerweise parallel zu Wrights prairie houses vollzog. Chicago, Zentrum der Automobilindustrie, war zudem eine architektonisch junge, im (Wieder-)Aufbau befindliche Stadt: Im Zuge der großen Weltausstellung, die hier 1893 stattgefunden hatte, hatte man sich allerdings
programmatisch mit der City Beautyful-Bewegung verbunden (□ vgl. 18). Die großartigen, meist hellfarbigen Prachtbauten in neubarockem oder klassizistischen Idiom erschienen als die Mittel, um eine Stadt, die 1871 durch einen riesigen Brand dem Erdboden gleichgemacht worden war und bald darauf eine Weltausstellung ausgerichtet hatte, architektonisch und urbanistisch neu zu ordnen. Wright allerdings hatte vor der Eröffnung seines eigenen Büros bei Sullivan & Adler gearbeitet, u. a. am Entwurf des Wainwright Building. Er folgte dem dort entwickelten anti-klassizistischen Anspruch, Funktion in organische Form umzusetzen |▶ 17|, dies aber auf den Landhausbau anzuwenden und daraus eine neue Strategie zu entwickeln, in der sich Natur und Technik, Rustikales und Kultiviertes auszudrücken vermochten. Viele Besonderheiten der europäischen Avantgardemoderne der 20er Jahre sind in Bauten wie dem Robie House – die Wright ja in der genannten Veröffentlichung 1910/11 publiziert und in Vorträgen in Europa erläutert
□ 101 Chicago, Robie House, Frank Lloyd Wright, 1909 – 11, Innenansicht des Wohnraumes
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hatte – vorgebildet. Dass geometrisch abstrahierte Blockformen um einen zentralen Kern zu pivotieren scheinen, ist etwa vielen De Stijl zuzuordnenden Entwürfen eigen |▶ 28|. Der ‚fließende‘ nur durch gleichsam mobile Wände strukturierte Raum kann geradezu als ein Markenzeichen für Mies van de Rohes Hauptwerke gelten, wie der Barcelona-Pavillon (□ vgl. 121) oder die Villa Tugendhat in Brno deutlich machen |▶ 32|. Dies gilt auch für das Verschleifen von Innen- und Außenraum, das etwa vielfach bei Le Corbusier aufgenommen wurde, etwa der Villa Savoye in Poissy (□ vgl. 22), wo die Terrasse wie ein Zimmer im Freien wirkt. Auch die Umformulierung tradierter Architekturelemente konnte man bei Wright vorgeprägt finden: Wandöffnungen anstatt gerahmter Türen und Fens-
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ter, flache Platten statt voluminöser Dachaufbauten. Viel weniger als bei Wright wird in der europäischen Moderne aber auf mythische Topoi – die wilde Natur, das Lagerfeuer – verwiesen, sondern eher versucht, eine abstrakte Weltordnung über die Architektur zu vermitteln |▶ 28, 31|. Interessanterweise ist Wright selbst in seiner weiteren Karriere ganz andere Wege gegangen. Sein weltberühmtes Landhaus Falling Water, 1935 – 37 für Edgar Kaufmann |▶ 36| in Mill Run (Pennsylvania) errichtet, lässt die Wildnis Teil der Architektur werden: Nicht nur, dass sich das Haus in verschiedenen terrassenartigen Auskragungen kühn über einem Wasserfall inmitten der Natur erhebt, sondern auch im Inneren ist der Fußboden als (geglätteter) Fels zu betreten.
Das Théâtre des Champs-Elysées in Paris Klassik und Betonarchitektur
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it der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg endet der Jugendstil: Das betrifft nicht nur die Rolle des bislang als zentrales Kriterium erachteten Ornaments, sondern vor allem das bislang beschworene Überschneiden der Künste, bei denen das Kunsthandwerk das einende Element bildete. Nunmehr, in der Zeit sich verschärfender nationaler Konkurrenzen und patriotischer Appelle, sollte die Architektur zum einen zeitgemäß, zum anderen aber dauerhafter Ausdruck nationaler Charaktere sein. Und innerhalb der Differenzierung der Künste sollte sie wieder in ihre alte Rolle als deren ‚Königin‘ eintreten, der Bauskulptur und Ausstattung ‚untertan‘ sind. Im Zuge einer solchen Rehierarchisierung entstand ein neuer Klassizismus, der zeitgemäß in Bautechnik und Details ist, sich aber in der Gesamtkonzeption auf angeb-
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lich ewig gültige Modelle berief, die man einmal mehr in der griechischen Antike zu finden glaubte. Das Théâtre des Champs-Elysées in Paris steht am Anfang dieser bis heute währenden Tradition einer klassizistischen Moderne. Der Theaterbau, 1901 von dem einflussreichen Musikimpresario Gabriel Astruc initiiert, sollte Paris einen modernen Aufführungsort für zeitgenössische Musik, Oper und Ballett geben. Entsprechend übernahmen die ersten Entwürfe verschiedener, einander ablösender Architekten gezielt Vorschläge, wie sie in der Nachfolge der Reformen Richard Wagners in Deutschland realisiert und in Frankreich diskutiert wurden, insbesondere einen fächerförmigen Grundriss für den Zuschauersaal. Nach mehreren Projekten und einer Standortverlagerung an die Avenue Montaigne wurde 1910 ein Architekt zum künst-
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lerischen Leiter bestellt, der damals zu den berühmtesten modernen Baukünstlern gehörte: Henry van de Velde, Direktor der herzoglichen Kunstschule in Weimar. Das Theater sollte nun zu einem zeitgenössischen Gesamtkunstwerk werden, an dem unter anderen Maurice Denis für die malerische Ausstattung und für die Bauskulptur der Rodinschüler Antoine Bourdelle tätig werden sollten. Die neue Ausrichtung des Projekts schlug sich aber umgehend darin nieder, dass von wichtigen theaterfunktionalen Erfordernissen abgerückt wurde. Der Zuschauersaal erhielt wieder seine in Frankreich angestammte kreisrunde Grundrissform, in der das ‚Gesehen-Werden‘ ebenso wichtig wie das ‚Sehen‘ ist |▶ 12|. Der Zuschauersaal befindet sich im Projekt van de Veldes am Ende eines lang-
gestreckten Grundstückes, das von drei Seiten eingebaut ist. Es gibt also nur die Erschließung von der straßenseitigen Fassade, hinter der im oberen Bereich ein querliegender kleiner Theatersaal untergebracht ist, die „Comédie“. Darunter und dahinter erstrecken sich also die eigentlichen repräsentativen Bereiche, im Wesentlichen eine Empfangshalle, von der zwei Treppenläufe auf eine umlaufende Galerie führen. Auf ein opulentes Foyer ist verzichtet, und ansonsten ist dem Bauprojekt seine Modernität vor allem an den auf klassisches Architekturvokabular verzichtenden dynamischen Linienführungen der architektonischen Elemente anzumerken. Die mit weißem Marmor verkleidete Schaufront sollte durch wenige flache Bänder vertikale Akzente erhalten.
□ 102 Paris, Théâ- tre des ChampsElysées, Auguste Perret, 1911 – 13, Fassade
Das Théâtre des Champs-Elysées in Paris
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Inzwischen war auch der Betoningenieur und Architekt Auguste Perret mit seinem Büro tätig geworden und hatte die Statik des Baues ermittelt, dabei einige Änderungen – insbesondere im Stützensystem des Zuschauersaals – vorgegeben. Diese verteilen sich derart in vier Gruppen von je zwei Stützen um den nunmehr vollends kreisrunden Zuschauerraum, dass sie ein in den Hauptachsen des Gebäudes stehendes Quadrat umschreiben. Aber Perret war über seinen Auftrag hinaus auch noch für einen weiteren Fassadenentwurf tätig, konzipierte deshalb unter Umgehung des federführenden Architekten van de Velde eine Lösung, die den grundsätzlichen Aufbau des Saalinneren nach außen abbilden sollte. Demgemäß wurde das Theater von 1911 bis 1913 auch ausgeführt – und van de Velde dabei restlos aus dem Projekt gedrängt. Man kann Perrets Konzept vor allem an der abgeänderten Straßenfassade studieren (□ 102): Das stützende Betongitterraster (□ 103) drückt sich gleichsam an den Außenfassaden durch, bestimmt dort die hauptsächlichen Kompositionsachsen. So ergeben sich zwei seitliche kolossale Pilaster, zwischen die ein etwas kleinteiligeres Mittelfeld eingefügt ist, dessen Achseinteilung sich ebenfalls aus der inneren Struktur ableiten lässt. Trotzdem ist die Fassade aber fein reliefartig modelliert: Es gibt große Formen – die Pilaster und die Attika –, die nachgeordnete Gliederungselemente übergreifen, welche entsprechend kleiner und zurückversetzt erscheinen. Insgesamt ergibt sich aber eine flache, rechtwinklig systematisierte Fassade. Das sind durchaus klassische architektonische Kompositionsweisen, wie sie zum Grundbestand der Auffassungen der École des Beaux-Arts ( Themenblock · Architektenausbildung, S. 145 f.) gehörten. Zudem aber ist das Ganze in hellem Marmor verkleidet und die allegorischen Relieffelder von Antoine Bourdelle sind streng in die rechteckige Ordnung eingefügt. Kein Wunder also, dass der Bau umgehend an antike Bauwerke Griechen-
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lands erinnerte: Der strahlende Marmor, die in die Baustruktur eingefügten Reliefs, vor allem auch die strenge, ‚kristalline‘ und hierarchische Anordnung von vertikalen und horizontalen Architekturgliedern zeigen eine klare Referenz auf die verehrten Bauten Griechenlands, vor allem den Athener Parthenon. Entscheidend für die begeisterte Aufnahme des Theaters war aber, dass diese Bezüge auf die Geschichte nicht bloß beliebig ‚appliziert‘ sind, sondern gleichsam automatisch aus der inneren konstruktiven technischen Form entstanden zu sein schienen. Die Betontechnik, bislang nur selten offensiv bei repräsentativen Bauten eingesetzt, galt damals als überaus innovativ, aus Brandschutzgründen war sie effektiv und ökonomisch günstig. Was also für ein Kontrast zu den historistischen ‚Verkleidungen‘ und den opulent schwingenden Fassaden der Zeit, von denen sich eine überbordende Bauskulptur bisweilen so weit verselbständigte, dass sie in Form von geflügelten Figuren wortwörtlich davon zu fliegen schien |▶ 12|! Das Theater und sein ausführender Architekt wurden in Frankreich unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg zum Ausdruck nationaler Charaktereigenschaften von Einfachheit, Logik und Vernunft, in ihm erstehe der ‚griechische Geist‘, der die Nation als ewig währende Verpflichtung auf Zivilisation und Humanität präge. Solche Interpretationen verstanden sich oftmals auch als grundlegende Kritik an der herrschenden republikanisch-parlamentarischen Verfasstheit der Dritten Französischen Republik und der von ihr maßgeblich unterstützten lebensreformerischen Tendenzen des Jugendstils. In einer jahrelangen Auseinandersetzung um die Frage, ob denn van de Velde oder Perret der eigentliche Autor des Theaters gewesen sei, galt der Jugendstilkünstler van de Velde bezeichnenderweise als ‚Dekorateur‘, hingegen Perret als ‚Konstrukteur‘. Das Theater stand insofern auch für eine gefestigte Nation, die gegen den freiheitlichen Individualismus und die demokratische Egalität, wie
□ 103 Paris, Théâtre des Champs-Elysées, Auguste Perret, 1911 – 13, Vestibül/Foyer
sie die Französische Revolution als Zukunftsvision beschworen hatte, angehen konnte. Der strenge Klassizismus von Perret war eben nicht einfach ‚neu‘ – und daher schnell wieder veraltet –, sondern verstand sich als überzeitlich, war er doch logisch aus den naturgesetzlichen Prinzipien der Betonkonstruktion abzuleiten. Bei einer solchen Konzentration auf konstruktive Kriterien blieben manche Aspekte einer modernen Architektur ausgeklammert, wie sie andernorts ebenfalls die Reformdebatte prägen konnten: die Funktionalität von Raumanordnungen, die Wirkqualitäten von Innen und Außen oder auch die ökonomischen Aspekte. Perret wurde seit den 20er Jahren zu dem anerkanntesten französischen Architekten schlechthin, der mehr und mehr große Staatsaufträge ausführte (Paris, Marineministerium, 1932; Musée des Travaux publiques, 1936), vor allem aber auch für moderne katholische Zirkel tätig war. In diesem Sinne konzipierte er 1922/23 die Kirche von Le Raincy, östlich von Paris. Der schalungsraue Skelettbau versteht sich hier gleichsam als eine Erneuerung der Gotik aus dem Geist einer innovativ gehandhabten Bautechnik, mit extrem schlanken Pfeilern und mit Betonwabenfenstern, die an die Stelle von Maßwerkfenstern getreten sind. Abseits von allen politischen Debatten prägte
das Théâtre des Champs-Elysées die Definition einer nationalen Moderne in Frankreich. Die so typischen Art-déco-Architekturen der 20er bis 50er Jahre – steinsichtige, helle Architekturen in einer reduziert klassizistischen Formensprache mit pointiert gesetzten Ornamenten – sind hier genauso zu nennen wie eine harsche Kritik an der sog. Internationalen Moderne, wie sie vor allem Le Corbusier, der in Frankreich lebende Schweizer, so lautstark vortrug und gegen den eine neue ‚Klassik‘ ins Feld geführt wurde. Die Erneuerung der Architektur durch den Rückgriff auf klassizistische – von den Akteuren meist als ‚klassisch‘ verstandene – Prinzipien beschränkte sich aber nicht auf Frankreich, sondern ist ein weltweit zu beobachtendes Phänomen des 20. Jh.s, das sich vor allem innerhalb der weltweiten Krisen und ideologischen Selbstbehauptungen seit den 30er Jahren zeigte |▶ 34, 35|. Ähnliche Tendenzen lassen sich aber bereits parallel zum Pariser Theater etwa auch in Deutschland konstatieren, wo z.B. Peter Behrens 1911/12 in Berlin die Villa Wiegand als strengen schlichten Bau mit reduzierten dorischen Säulen errichtete. Zur selben Zeit erbaute er auch die Deutsche Botschaft in Sankt Petersburg mit ihrer monumentalen Portikus aus kolossalen Säulen. Besonders signifikant stellt sich auch der 1926 ausgeschriebene
Das Théâtre des Champs-Elysées in Paris
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Wettbewerb für das Verwaltungsgebäude des Völkerbunds (heute UNO) in Genf dar: Hier bot sich die Gelegenheit, eine zeitgemäße Architektursprache anzuwenden, die der gesamten Welt, und nicht nur einer Nation, angemessen Ausdruck geben sollte. Entsprechend beteiligten sich zahlreiche Architekten an dem Wettbewerb. Gerade auch die sich selbst als international verstehende Moderne schien gute Chancen zu haben, hier ein programmatisches Gebäude zu errichten. Vor allem der Entwurf von Le Corbusier und Pierre Jeanneret errang gewichtige Auszeichnungen. Zur Ausführung kam aber bis 1937 ein Gemeinschaftsprojekt des Franzosen Paul Nénot und des Schweizers Julien Flegen-
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heimer: ein monumentaler, um mehrere Höfe gruppierter schlossartiger Bau in schlichten klassizistischen Formen aus edlen Materialien. Man berief sich hier implizit auf die griechische Antike als Wiege der Zivilisation, um daraus eine ewig gültige Weltarchitektur abzuleiten. Aus ganz ähnlichen theoretischen Überlegungen sind aber auch die klassizistischen Monumentalbauten im nationalsozialistischen Deutschland und der stalinistischen Sowjetunion entstanden |▶ 35|. Auch in der Postmoderne feiert die Idee einer angeblich überzeitlichen, ewig gültigen klassizistischen Architektur eine erneute Renaissance, so zum Beispiel bei Léon Krier oder Ricardo Bofill.
Die Stadtbibliothek in Stockholm Das Potenzial der Erinnerung
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rchitektur um 1900 diente in den meisten Staaten einem ausgeprägten nationalen Bewusstsein. Dieses aber bevorzugte nicht mehr einzelne historische Epochen, sondern bezog sich auf angebliche nationale Traditionen, die lange zurückreichten und insofern aus mehreren, einander ablösenden ‚Stilen‘ bestünden. Daher sind gerade öffentliche Gebäude eklektische Zusammenstellungen verschiedenster Idiome. Das gilt auch für die skandinavischen Architekturen: Das Rathaus in Stockholm zum Beispiel, 1913 von Ragnar Östberg entworfen, ist eine monumentale Backsteinanlage um zwei Innenhöfe, von einem hohen Glockenturm dominiert. Von außen bietet sich der Bau in verfremdeten gotischen Anklängen dar, im Inneren erzeugen Arkadengänge Assoziationen an die Romanik, und die Innenausstattung bordet über im Erzählen nordischer Mythen und Historien. Dieser Heimatstil oder Regionalismus
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geriet wie in allen europäischen Ländern auch in Skandinavien nach dem Ersten Weltkrieg in die Kritik und wich einem gereinigten, gleichsam zeitenthobenen Idiom. Trotzdem blieben, im Gegensatz etwa zu der Situation in Deutschland, historische Vorbilder wichtig, wurden indessen einer radikalen Abstraktion unterworfen. Das bis heute bedeutendste Gebäude, auf das immer wieder Bezug genommen wird, ist die Stadtbibliothek in Stockholm von Gunnar Asplund. Der Architekt erhielt den Auftrag direkt über das städtische Bauamt. Das Terrain im Nordteil von Stockholm offerierte ideale städtebauliche Möglichkeiten. Es handelte sich um einen alten Park mit einem Observatorium, erhöht über der Stadt und am Kreuzungspunkt zweier wichtiger Verkehrsachsen gelegen. In einem lange währenden Entwurfsprozess entstand zwischen 1921 und 1928 der Bibliotheksbau.
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Die Disposition des Gebäudes ist klar und überschaubar (□ 104, 105): Ein vierflügeliger Block auf quadratischem Grundriss enthält in seinem Zentrum einen zylinderförmigen Raum, der nach oben deutlich die Gebäudekante überragt. An der Süd-, Ost- und Nordseite führt je ein überhohes, eindeutig ägyptisierendes Portal in der Mitte jeden Flügels in das Innere. Somit erhebt sich über Stockholm ein eigenartig regelmäßiges Gebäude als städtebauliche Dominante: ein Zentralbau, streng achssymmetrisch, in der Mitte aufgipfelnd, von allen Seiten optisch wirksam. Auch innerhalb der näheren Umgebung setzt die Bibliothek klar den Hauptakzent: Sie kontrastiert mit einem im selben Zusammenhang umgestalteten Landschaftsgarten, in dem das alte Observatorium erhalten wurde, und auf der Ostachse erstreckt sich am Fuß des Bibliothekskomplexes ein von Bäumen umstandenes Wasserbecken. Auch die Nutzung des Gebäudes ist klar strukturiert: Die zentrale Rotunde dient als Ausleihe- und Freihandbereich, während die umgebenden drei Gebäudeflügel die eigentlichen Lesesäle darstellen. Besonders intelligent und effektvoll gelöst ist die Erschließung des Gebäudes: Weil es auf abschüssigem Terrain liegt, führt eine gemächlich ansteigende Treppe zum Haupteingang. Beim Annähern scheinen das Gebäude und sein bekrönender Zylinder sich nach oben zu recken. Auch das Portal selbst erhebt sich monumental nach oben. In der sacht trapezförmig sich nach oben verjüngenden Umrissform ist hier klar auf ein klassizistisches Hauptwerk, Michael Gottlieb Bindesbølls Kopenhagener Thorvaldsen-Museum (1839 – 48) mit seinen riesigen ägyptisierenden Portalen, angespielt. Wegen der Abschüssigkeit des Terrains befindet sich die Hauptebene der Bibliothek im ersten Geschoss, und diese erreicht man, indem man den Anstieg über eine würdevolle Treppe im Inneren fortsetzt. Über mehrere Podeste führt sie gerade durch das Erdgeschoss und endet inmitten der zentralen
□ 104 Stockholm, Stadtbibliothek, Gunnar Asplund, 1921 – 28, Hauptfassade
Rotunde. Und hier befindet man sich im richtungslosen Inneren einer kreisrund geführten und steil nach oben, in der oberen Hälfte nackt putzsichtig aufsteigenden Wand. Der räumliche Überraschungseffekt wäre noch anders gewesen, wenn die ersten Projekte ausgeführt worden wären, denn dies sahen – ähnlich wie in Jeffersons Universitätsbibliothek in Charlottesville |▶ 3| – eine klar auf das römische Pantheon verweisende kassettierte und durch verglaste Öffnungen perforierte Kuppel vor. In zurückhaltender, aber unmissverständlicher Weise setzt das Gebäude klassizistische Gliederungsformen ein: So ist die untere Hälfte des Kubus rustiziert und wird mit einem doppelten dekorativen Friesband abgeschlossen, die Fläche darüber ist gänzlich glatt, gegliedert allein durch in die Wand eingeschnittene
Die Stadtbibliothek in Stockholm
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Fenster in strenger Superposition. Die großen Portalöffnungen weisen eine klassische Faszierung und Mäanderdekorationen in den Laibungen auf, und auf den Wandflächen des Vestibüls sind in feinem Flachrelief Szenen aus Homers „Ilias“ eingelassen, die sich in ihrer Zeichnung klar an griechischer Vasenmalerei orientieren. Diese Klassizismen, auch in radikal vereinfachter Form, können sich durchaus auf eine skandinavische Tradition berufen, aus □ 105 Stockholm, Stadtbibliothek, Gunnar Asplund, 1921 – 28, Treppenaufgang
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der insbesondere der dänische Architekt Christian Frederik Hansen herausragt (□ vgl. 29 f.). Asplund selbst fühlte sich auch vor dem Bau der Bibliothek einem teilweise intelligent ironisiertem Klassizismus verpflichtet; z. B. ist die Giebelseite der Karl-Johann-Schule in Göteborg (1915 – 24) durch zu große gläserne Vertikalfenster gleichsam aufgeschlitzt. Auch Asplunds Bibliothek enthält trotz aller eindeutiger Klassizismen eine Reihe verfremdender Momente: Die Außerseite erstrahlt überall in einem tiefroten Ocker, die Kranzgesimse des Gebäudes sind einfache Bänder, die Fenster
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knapp in die Mauer eingeschnittene Öffnungen ohne Rahmung, und auf dem Südflügel, wo ein Kindertheater untergebracht ist, zeigt der klassizistische Fassadenfries Kinderspielzeug. Vor allem aber ist man überrascht über die rigorose, archetypische Vereinfachung und Klarheit: Hohe glatte Wände formen einen klaren Kubus mit eingestecktem Zylinder. Das kann man zwar mit der sog. Revolutionsarchitektur eines oder Boullée oder Ledoux |▶ 2|, vor allem dessen Rotonde de la Villette in Paris von 1785, in Zusammenhang bringen, aber auch mit der hohen Wertschätzung klarer stereometrischer Formen bei avantgardistischen Vertretern jener Zeit, etwa bei Heinrich Tessenows Festspielhaus in Hellerau |▶ 22|, bei Walter Gropius’ oder Le Corbusiers Lobpreis von abstrakt-geometrischen Industriebauten wie z. B. Silos. Letzterer argumentiert gleichzeitig mit Asplund damit, dass Kugel, Zylinder und Würfel wieder zu Grundformen der Architektur werden müssten, wie das schon in der römischen Antike der Fall gewesen sei („La Leçon de Rome“, in: Le Corbusier 1923). Dahinter steckt regelmäßig die Suche nach gleichsam außerhalb der Geschichte zu fassenden Ureinheiten der Architektur, eine Argumentation, die sich implizit oder explizit auf Platon beruft, der angenommen hatte, die Welt sei aus geometrisch klar beschreibbaren Grundkörpern entstanden. In der Tat sollte Asplund unmittelbar darauf zum Inaugurator einer Internationalen Moderne in Schweden werden: Die Stockholmer Ausstellung der Schwedischen Handwerks- und Designgesellschaft im Jahr 1930 sollte in ihrem Konzept mit architektonisch programmatischen Pavillons den Produktpräsentationen des Deutschen Werkbundes (Weißenhofsiedlung 1927 in Stuttgart) folgen. Ihr Chefdesigner Gunnar Asplund gestaltete sie stark in Anlehnung an deutsche Vorbilder, insbesondere die eleganten, schwingenden Architekturen eines Erich Mendelsohn (□ vgl. 27), die im Ausstellungsrestaurant „Paradiset“ wiederzufinden sind. Und so wird
Asplund nach seinem Aufsehen erregenden Bibliotheksbau auch wesentlich dazu beitragen, eine spezifisch schwedische Moderne zu kreieren. Trotz aller Anleihen bei der Internationalen Moderne verstand sich diese aber als eine entschieden nationale Architektur, die zu einer egalitären und demokratischen Gesellschaft beitragen sollte. Mit der Unterdrückung der Internationalen Moderne in Deutschland in den Jahren nach 1933 erhielt damit das Neue Bauen in Schweden und in den anderen skandinavischen Ländern eine eigene Fortführung, die sich zumindest latent weiterhin als emanzipatorisch und demokratisch verstand. Dabei ergibt sich eine eigene Synthese zwischen dem skandinavischen Heimatstil um 1900 und dem Neuen Bauen. Lokale Materialien wie Backstein, Stein und Holz dominieren über Beton, Stahl und Glas, doch in den Formen herrscht eine puristische Strenge. Kay Fiskers Gebäude für die Universität Århus (1932) in Dänemark bestehen aus einer Komposition von klaren Kuben mit flachen Satteldächern. Die Fenster sind teilweise längsrechteckig und wandbündig. Auch die Architekturen Alvar Aaltos |▶ 41|, des berühmtesten finnischen Architekten und langjährigen Mitarbeiters Asplunds, orientieren sich an Raumfunktionen und dem landschaftlichen und urbanen Kontext (z. B. Villa Mairea in Noormarkku, 1938 – 39), interessieren sich weniger für Standardmodule und industrialisiertes Bauen, sondern für individuelle Gestaltung, schwingende Formen und natürliche Materialien (Backstein und Holz). Innerhalb dieser Neuaufnahme von Prinzipien der Zeit um 1900 spielte auch die Gestaltung des Inneren eine große Rolle. Natürliche Materialien wie heiß verformte Schichthölzer werden etwa bei Bruno Mathsson, Carl Malmsten und Aalto seit den 30er Jahren für ein Möbeldesign angewandt, das vor allem auf ergonomische Prinzipien zu achten hat. Es ist dies der Beginn eines äußerst erfolgreichen skandinavischen Möbeldesigns.
Die Stadtbibliothek in Stockholm
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Une Ville contemporaine Le Corbusier als Urbanist
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uf dem Pariser Herbstsalon des Jahres 1922 präsentierte ein gerade einmal seit fünf Jahren in Paris lebender Architekt und Kunsttheoretiker aus dem Schweizer Jura, Charles Édouard Jeanneret-Gris, alias Le Corbusier, ein utopisches Projekt eines völlig neuen Städtebaus. Das ausführlich auch in seinem Buch „Urbanisme“ von 1925 erläuterte Projekt beschreibt das Funktionieren einer „gegenwärtigen Stadt für drei Millionen Einwohner“. In seiner Radikalität und seiner – allerdings einseitigen – Detailliertheit hat dieses städtebauli-
che Modell nachhaltig auf den Urbanismus des 20. Jh.s gewirkt, insbesondere auf die Charta von Athen von 1933/43, an der Le Corbusier ebenfalls starken Anteil hatte. Aus diesem Grund muss die Ville contemporaine, auch wenn sie zu keinem Zeitpunkt auch nur im Ansatz zu verwirklichen war, in die Reihe der 50 Schlüsselbauten dieses Bandes aufgenommen werden. Le Corbusiers Projekt unterscheidet zwischen einer Kernstadt auf regelmäßigem Grundriss, eine Art Verwaltungs-City mit ihren dort lebenden Angestellten, sowie einer landschaftlich
□ 106 Le Corbusier: Entwurf einer Ville contemporaine, 1922/25, Gesamtplan
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durchgrünten Peripherie, in der die Industrie und die in Gartenstädten lebenden Arbeiter sowie ausgedehnte Sportanlagen angesiedelt sind (□ 106). Alles ist extrem konzentrisch angelegt: Die Kernstadt ist von rechtwinkeliger Kontur und unterteilt sich in ein Straßensystem im Schachbrettmuster, dessen einzelne Blöcke 400 m Seitenlänge aufweisen. Eine zentrale Zone in Form eines diagonal gesetzten Quadrats enthält hohe Etagenwohnhäuser; innerhalb dieser Zone ist wiederum ein zentraler Bereich von 4 × 6 Planquadraten ausgegrenzt, auf denen sich jeweils ein 220 m hohes Bürohochhaus (das Woolworth Building in New York als das von 1913 bis 1930 höchste Gebäude der Welt misst 241 m!) auf kreuzförmigem Grundriss erhebt. In der geometrischen Mitte liegt, wie die ‚Nabe eines Rades‘, der zentrale Verkehrskreuzungspunkt. Hier kreuzen sich die zwei lotrecht zueinander laufenden Hauptmagistralen der Stadt, darunter liegen auf mehreren Ebenen Bahnhöfe für die U-Bahn sowie den Nah- und Fernverkehr. Darüber sieht Le Corbusier eine runde Plattform als Flughafen vor. Die hier in der Staffelung der Bauhöhen und Verkehrsebenen konzipierte Vertikale ergänzt also räumlich das zweidimensionale Grundrissgitter. Die herausgehobene Bedeutung dieses Durchdringungspunktes im Zentrum ist dadurch begründet, dass der Mobilität allerhöchste Priorität zukommt. Axial und diagonal geführte gerade Straßen erschließen schnell das Umland, und im Inneren der Kernstadt sind die Straßen nach ihren Verkehrsgeschwindigkeiten hierarchisiert. Die Durchgangsstraßen haben 60 m Breite und alle 800 bzw. 1200 m Abfahrten, die Normalstraßen definieren den Stadtgrundriss und kreuzen sich deswegen alle 400 m, verkehrsberuhigte Stichstraßen führen zu den Häusern. Die hier scheinbar technokratisch regulierte Mobilität bringt eine zeitliche Dimension in das Projekt, das pulsierendes Leben ermöglichen soll; das ist nicht zuletzt auch in „Urbanisme“ präsent, wo zwei zent-
rale Kapitel nach Tageszyklen benannt sind: „Die Stunde der Arbeit“ bzw. „Die Stunde der Erholung“. Wie im Kreislauf eines Organismus, der nicht erstickt oder blockiert werden darf, pulsieren täglich die Menschenströme. Dabei ist die Gesamtanlage von höchstem modernem Komfort und bester Hygiene. Denn dank der Betonkonstruktion ist es möglich, nach oben zu bauen, und somit die natürliche Vegetation kaum zu beeinträchtigen. Die Häuser können sogar auf Stützen gestellt werden, damit sich die natürliche Parklandschaft weiter darunter erstrecken kann. Die zentrale Fläche erlaubt es, gelassen unter den Hochhäusern zu flanieren, somit Arbeits- und Erholungsbereich zu kombinieren und beides dennoch nicht in Konflikt miteinander geraten zu lassen. Zwei Grundcharakteristika von Manhattan, der Central Park und die verdichtete Hochhausstruktur, sind hier in ungewöhnlicher Weise neu verbunden: Der Park ist unmittelbar erreichbar, die Hochhäuser dafür weit auseinandergerückt, so dass sie allseitig von Licht und Luft umgeben sind. Aufgrund des kreuzförmigen Grundrisses verfügen alle Büros auch über hervorragende Ausblicke. Und das macht einen gewichtigen Faktor der Stadt aus, denn die erhabene Gefühle evozierenden Blicke nach unten sollen – wie auf dem Eiffelturm – jeden Bewohner mit Stolz ob der hier erreichten durchdringenden Ordnung erfüllen. Trotz der extrem aufgelockerten Bebauungsstruktur ist die Flächenausnutzung optimal, denn in den Verwaltungstürmen könnten aufgrund ihrer Höhe bis zu 50 000 Menschen arbeiten. Bildet das Zentrum der neuen Stadt also eine Verwaltungscity, in der auch kulturelle Einrichtungen wie Theater, Kinos, Bibliotheken und Restaurants vorgesehen sind, so ist die schmutzige und laute Industrie in Bereiche östlich der Stadt ausgelagert; durch den in Europa am häufigsten aus Westen wehenden Wind werden also Rauch und Abgase nicht über die Stadt getrieben, im Gegenteil sorgt ein immenser Park im Westen für sau-
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erstoffreiche Frischluft. Diese Zonierung nach Funktionsbereichen gilt auch für die Wohnviertel: Es sind einerseits die verstreut im Umland liegenden – gleichwohl verkehrstechnisch gut angebundenen – Gartenstädte der Arbeiter, andererseits die in der Kernstadt angeordneten Wohnungen für höhere soziale Schichten. Auch hier werden grundsätzliche Funktionen des Wohnens voneinander getrennt und zugleich optimiert. Wiederum nämlich wird das Bodenterrain dadurch freigehalten, dass in mehreren Etagen in die Höhe gebaut wird. Daraus entstehen allerdings nicht Mietshausblöcke mit eng gedrängten Wohnungen, sondern sog. ‚Villenblöcke‘ (immeuble-villas, □ 107). Hier ist jede Grundeinheit als komfortables Einfamilienhaus mit Garten konzipiert, kann aber trotzdem in die Höhe gestapelt werden. Im Prinzip ist jede Einheit als ein zweigeschossiger Würfel aufgefasst, in dem ein L-förmiger Wohntrakt integriert ist, während die Restfläche als Terrasse oder eine Art Garten freibleibt. Da dieses Grundmodul ca. 5 m hoch ist, kann die Vorderfront in voller Höhe verglast und die Terrasse gut besonnt werden. Das gleicht den Nachteil aus, dass bei der Aufstapelung und Aneinanderreihung dieser kubischen Typenhäuser nur die Vorderseite Licht erhalten kann. Auch in der Innenorganisation sind die Häuser optimiert: Die Bereiche von Küche und Hausangestellten sind weggefallen, da das Kochen und □ 107 Le Corbusier: Entwurf einer Ville contemporaine, 1922/25, Wohnblock mit Villenappartements
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die Hauspflege in den immeubles-villas von zentralen Diensten übernommen werden können. Die einzelnen Blöcke sind in rechtwinklig sich vor- und zurückstufenden Ausrichtungen angeordnet, die jeweils gegenüberstehende Baugruppe ist spiegelsymmetrisch dazu angelegt. Somit entsteht auf jeder Parzelle eine eigene große, abgeschlossene Wohneinheit, die einen großen begrünten Innenhof umschließt. Der Städtebauentwurf versteht sich als radikale Absage an die historisch gewachsene europäische Stadt, deren Infrastruktur den raschen technischen und sozialen Entwicklungen nicht in allen Fällen gewachsen war. Unkontrollierte Verdichtung führte zu hygienischen und sozialen Notständen; dem erhöhten Verkehrsaufkommen, gerade infolge des Automobilverkehrs, konnte man sich nur schrittweise anpassen. Gleichzeitig hatte infolge eines sich verstärkenden denkmalpflegerischen Bewusstseins aber auch eine Wertschätzung der historischen Bebauung eingesetzt, die radikale Sanierungsmaßnahmen wie etwa zur Mitte des 19. Jh.s in Paris |▶ 12| nicht mehr zuließen. Als Ausweg sollen nach Le Corbusier vier Prinzipien zu verwirklichen sein: Auflockerung des Stadtzentrums, partielle Verdichtung, Intensivierung der Verkehrsmittel, Vergrößerung der Grünflächen. Le Corbusier analysiert die damals bereits intensiv thematisierten Missstände, trennt sie begrifflich und versucht, jeweils
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ein positiv besetztes Gegenteil daraus abzuleiten. In einem letzten gedanklichen Schritt werden die so gewonnenen Kriterien wieder neu kombiniert und daraus die neue Stadt entworfen: Der Verdichtung der alten Stadt steht ihre maximale Auflockerung gegenüber, der unkontrollierten Verflechtung aller Lebens- und Produktionsbereiche ist die konsequente Zonierung kontrastiert. Die im Lauf der Jahrhunderte gewachsenen Verkehrswege sollen einer Hochgeschwindigkeitsmobilität weichen. Die unhygienischen Verhältnisse sollen durch ein Maximum an Grün beseitigt werden. Der historisch lange gewachsenen städtebaulichen Vielfalt wird durch absolute rasterförmige Ordnung abgeholfen. Wenn Städte damals wegen der Hausbefeuerung und der Industrie verraucht waren und man sich meistenteils auf Erdbodenniveau bewegte, so wird jetzt die Arbeit in luftigen und sauberen Höhen mit erhabenem Blick von oben geleistet. Und selbst die Wahrnehmung der Stadt soll radikal verändert werden. Statt sie kleinteilig ‚sentimental‘ im persönlichen Umfeld zwischen Familie, der Werkstatt, Freunden und der Eckkneipe zu erleben, soll sie nun in einen sich zyklisch erneuernden Stolz auf Rationalität und Regelhaftigkeit wahrgenommen werden. Dieser radikale Neubeginn des Städtebaus setzt sich selbst von den bewunderten nordamerikanischen Metropolen ab, denn die Ville contemporaine beansprucht auch, die extreme Verdichtung der New Yorker Wolkenkratzer vermeiden zu können. Viele der in der Vision einer Ville contemporaine verarbeiteten städtebaulichen Argumente sind nicht neu: Die Schachbrettanlage als Idealstadt reicht bis weit in die Antike zurück, die Idee von kreuzungsfreien Straßen war Thema zeitgenössischer Städtebaudebatten, und vor allem lässt sich die Bedeutung, die der Auflockerung der Bebauungsdichte, der schnellen Mobilität und der Stadt im Grünen zukommt, als Fundament der urbanistischen Reform durch die Gartenstadt finden |▶ 22|. Doch Le Cor-
busier steht gleichsam über solchen bisweilen notwendigerweise kleinteiligen Diskussionen der damals noch jungen Disziplin des Urbanismus. Insofern sind seine Argumente bewusst nicht aus einer intensiven und abwägenden Analyse gewonnen, sondern in apodiktischen, polemischen, pseudowissenschaftlichen und hymnischen Statements ineinandergefügt. Werbetexte eines Immobilienunternehmens, Prophetie einer neuen Gesellschaft, ScienceFiction einer technischen Zukunft, Manifest für den Architekten als neuen Schöpfer: Solche sprachlichen Assoziationen durchdringen eine collageartige bildliche Präsentation, die suggestiv genaue Entwurfspläne mit Ansichten der ‚verdorbenen‘ alten Stadt und Dioramen von der ‚gegenwärtigen‘ Stadt – die gleichsam bereits Wirklichkeit geworden ist – gegenüberstellt. Le Corbusiers Stadtvision enthält insofern zahlreiche innere Widersprüche und grundsätzliche Probleme. Die politische und logistische Verwirklichung ist völlig unklar, der visionierte neue Menschentyp nur in totalitären Systemen vorstellbar, seine Lebensfunktionen sind zudem reduktionistisch und unterkomplex, die Stadt wäre ob ihrer starken Zentriertheit nicht erweiterbar und müsste zudem gerade im Zentrum enorme Verkehrsprobleme bewältigen. Gleichwohl hat Le Corbusier eine Reihe suggestiver, vor allem aber in Zeichnungen und Modellen präsentierte Vorschläge gemacht, wie sein Entwurf umgesetzt werden könnte. 1925 publizierte er den gezielt nach einem Automobilhersteller benannten Plan Voisin. Nach diesem sollte das gesamte, auf der rechten Seineseite gelegene Stadtkern von Paris bis auf wenige markante historische Bauten abgerissen und nach dem Muster der neuen Idealstadt mit Bürowolkenkratzern neu errichtet werden. Unermüdlich, aber verständlicherweise erfolglos beteiligte sich der Architekt in der Folgezeit an Stadterweiterungswettbewerben oder legte solche ohne konkrete Anlässe vor, etwa für Rio de Janeiro,
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Algier oder Antwerpen. So erschien schon 1935 ein weiteres Buch des Architekten zum Städtebau, „La Ville radieuse“ (dt.: ‚Die strahlende Stadt‘), das die Ville contemporaine weiterentwickelte und all die Vorschläge zum Kompendium eines weltweit operierenden innovativen Städtebaus zusammenfasste. Der unflexible Zentralismus der Ville contemporaine ist nunmehr dadurch behoben, dass alle Funktionsbereiche – Schwerindustrie, Lagerstätten, Manufakturen, Wohnviertel, Hotels und Botschaften, Bahnhöfe und Flughafen, Verwaltungsstadt, Satellitenstädte – auf einer Achse angeordnet sind, die seitlich beliebig als sog. Bandstadt erweitert werden kann. Die Wohnblocks schwingen sich nunmehr in weiten Kurven durch die Landschaft und sollen, etwa im Falle Algiers, auf ihren Dächern als Autobahn zu nutzen sein. Aber bereits 1933 hatten Le Corbusiers Vorstellungen den vierten, dem Städtebau gewidmeten Congrès international d’architecture
moderne (CIAM) dominiert, aus dem dann 1943 – wiederum nach massiven Überarbeitungen durch Le Corbusier – die Charta von Athen |▶ 37| entstand. Trotz aller utopischen und dysfunktionalen Elemente, aber dank der unermüdlichen Propagierung und der beständig steigenden Autorität Le Corbusiers gaben dessen städtebaulichen Prinzipien die Grundlage zahlloser Neu- und Erweiterungsbauten ab. In Zeiten des Kalten Krieges spielte deren Bewertung als zukunftsweisende und freiheitliche Form des westlichen Städtebaus eine sehr wichtige Rolle |▶ 38|. Obwohl die Kritik daran immer präsent war und dies auch zur Auflösung des CIAM 1959 betrug, sollte es bis in die 80er Jahre dauern, bis die in der Ville contemporaine zum ersten Mal formulierten Doktrinen von Zonierung, Verkehrsgerechtigkeit und Geschichtsverdrängung allgemein einer Revision unterzogen worden waren.
Organisationen und Interessenverbände
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rchitektur und öffentliches Bauen werden seit dem 19. Jh. zunehmend gesetzlich geregelt, staatlich verwaltet und über öffentliche Hochschulen gelehrt und weitervermittelt. Bauämter und Akademien sowie Berufsvertretungen sind aber naturgemäß nicht die Institutionen, die rasch und flexibel auf neue Entwicklungen und Bedürfnisse reagieren können. Deswegen ist das Bauwesen vor allem des 20. Jh.s durch eine Reihe unterschiedlich strukturierter Interessensverbände mitgeprägt, die zum Teil einen erheblichen Anteil an entscheidenden Neuorientierungen hatten. Dazu zählen zum einen informelle Architekten- und Künstlergruppierungen wie Die gläserne Kette und der Arbeitsrat für Kunst in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, De Stijl in den Niederlanden |▶ 28| oder
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gruppo 7 in Italien |▶ 34|. Einflussreicher waren institutionell oder personell gut verankerte Organisationen: Der 1907 gegründete Deutsche Werkbund war eine Vereinigung von Künstlern, Architekten, Industriellen und Politikern, die eine Art Dachverband für die regionalen Kunstgewerbereformbestrebungen bildete. Ziel war laut Satzung die „Veredelung der gewerblichen Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk, durch Erziehung, Propaganda und geschlossene Stellungnahme zu einschlägigen Fragen“ |▶ 23|. Es ging also sehr stark auch darum, die Stellung Deutschlands in der Produktion hochwertiger Konsumgüter international zu verbessern. Bis 1933 entwickelte der Werkbund eine ausgeprägte öffentliche Wirksamkeit, vor allem dank seiner Jahrbücher, der
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Zeitschrift „Die Form“ und mehrerer breit rezipierter Ausstellungenen. Nach dem Krieg konnte er seine dominierende Stellung nicht wiedererlangen. – Das Bauhaus entstand 1919 aus einer Fusion der staatlichen Kunsthochschule Weimar und der ehemals von Henry van de Velde geleiteten Kunstgewerbeschule Weimar. 1925 musste die Schule aus politischen Gründen nach Dessau umziehen |▶ 31|. Unter dem ersten Direktor Walter Gropius setzte das Bauhaus zunächst auf eine ganzheitliche kunstgewerbliche Ausbildung, entwickelte in diesem Zusammenhang bald einen Schwerpunkt für modernes Industriedesign. Eigene Architekturklassen gab es erst unter dem zweiten Direktor Hannes Meyer, ab 1928. Von 1930 – 33 leitete Ludwig Mies van der Rohe die Institution. Nach deren Auflösung durch die Nationalsozialisten mussten viele Bauhauslehrer emigrieren; so bildeten sich während und nach dem Krieg Nachfolgeinstitutionen in den USA sowie in Ulm (Hochschule für Gestaltung). – Der Ring, von 1926 bis 1933 bestehend, war eine informelle Interessensvereinigung von wenigen herausragenden modernen deutschen Architekten um Mies van der
Rohe und Hugo Häring |▶ 30, 40|. Ihr gegenüber stand der 1928 gegründete Block, in dem sich einige prominente Vertreter eines traditionsbewussten Bauens vereint hatten (u. a. Paul Bonatz und Paul Schmitthenner). – Die Congrès internationaux d’architecture moderne (CIAM) wurden 1928 unter maßgeblicher Initiative von Le Corbusier als international agierende Denkfabrik einer streng funktionalistischen und programmatisch anti-akademischen Moderne gegründet. Die ersten Kongresse (1929, 1930, 1933) fanden zu Themen des Wohnungsbaus und rationeller Bauweisen sowie der ‚funktionellen Stadt‘ |▶ 27| statt, nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die dogmatisch-technokratischen Kriterien der CIAM von einer jüngeren Generation von Architekten zunehmend kritisiert, so dass sich die Institution 1959 selbst auflöste |▶ 39|. Maß-geblich dafür verantwortlich war das von 1953 bis 1981 bestehende Team X (oder Team 10), geprägt insbesondere von Peter und Alison Smithson, Aldo van Eyck und Jacob Bakema, die den Prinzipien der Charta von Athen neue Strukturen von Urbanität, Verdichtung und städtischer Bestandserhaltung entgegensetzten.
Haus Schröder-Schräder in Utrecht Abstrakte Komposition im Raum
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nders als in den zwischen 1914 – 18 kriegführenden Ländern England, Frankreich, Deutschland und Russland kamen in den Niederlanden die Reformbestrebungen der Architektur während des Ersten Weltkriegs nicht weitgehend zum Erliegen. Insbesondere der soziale Wohnungsbau mit standardisierten Hausreihen um große Innenhöfe erlebte in der expressionistisch inspirierten Amsterdamer Schule um Michel de Klerk seit etwa 1914 sowie
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im Werk von Michiel Brinkman und Jacobus Johannes Pieter Oud in Rotterdam ab ca. 1917 eine erste Konjunktur mit zahlreichen Innovationen. Langgestreckte Gebäuderiegel wie etwa in den Siedlungen Spangen (ab 1918) und Tusschendijken (ab 1920) in Rotterdam enthalten standardisierte, aber hygienische Wohneinheiten und umschließen Wohnhöfe zum gemeinschaftlichen Leben. Klare Bauformen verzichten auf jedes Ornament. Daneben wurde unter
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□ 108 Utrecht, Schröder-Schräder-Haus, Gerrit Rietveld, 1924
der maßgeblichen Initiative des ebenso umtriebigen wie fanatischen Malers und Kunsttheoretikers Theo van Doesburg eine neue Synthese aller Kunstgattungen – Malerei, Skulptur und Architektur – theoretisch formuliert. Diese Konzeptionen wurden – teilweise gegen den Willen der Protagonisten – unter dem Titel der von van Doesburg herausgegebenen Zeitschrift „De Stijl“ gefasst und beruhen, trotz aller interner Konflikte und Meinungsverschiedenheiten, darauf, die künstlerische Repräsentation auf elementare Kompositionen aus reinen Farben und Flächen zu reduzieren. De Stijl, von van Doesburg entgegen der Realität zur breiten Phalanx der Moderne stilisiert, hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf das moderne Werk von Mies van der Rohe, Le Corbusier und Gropius sowie das Bauhaus generell. Die architektonische Realisierung dieser Auffassung schlechthin ist aber Gerrit Rietvelds 1924 in Utrecht errichtetes Schröder-Schräder-Haus. Dem Haus in der Prins Hendriklaan am damaligen Utrechter Stadtrand lag ein einfaches Bauprogramm zugrunde: Die resolute und eigenwillige Auftraggeberin Truus Schröder-Schräder suchte nach dem Tod ihres
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Mannes ein komfortables, aber schlichtes und funktionales Wohnhaus für sich und ihre drei Kinder, inklusive Garage und Dienstbotenwohnung. Ihr damaliger Lebensgefährte Gerrit Thomas Rietveld, von der Ausbildung her Möbeltischler, entwarf ein zweistöckiges kompaktes Gebäude auf rechteckigem Grundriss, das als Endstück einer bereits bestehenden Häuserreihe errichtet wurde. Dabei ging er zunächst von der Nutzung und Einrichtung von Räumen mit Möbeln aus; die Anordnung der Tür- und Fensteröffnungen und der Treppe folgte also der inneren Disposition, nicht formalen Vorgaben durch Fassadenkonzepte oder Grundrisstypen. Somit entstand ein Gebäude, in dessen Erdgeschoss sich Garage (bald als Atelier benutzt), Wohnküche und Dienstbotenstudio befinden. Über eine zentral angeordnete, winklig geführte Treppe gelangt man zum Obergeschoss mit den Schlaf- und Kinderzimmern (□ 109). Ein flaches Dach schließt den Baukörper nach oben ab. Dieses an sich schlichte Bauprogramm ist nun zum einen höchst flexibel gestaltet, zum anderen gestalterisch in extrem ungewöhnlicher Weise formuliert. So spendet im Obergeschoss ein radikal um die Ecke geführtes Band-
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fenster generös Licht im Inneren. Insbesondere aber kann diese Etage vermittels Schiebewänden, die jeweils als Scherwände von den Außenwänden ins Innere bewegt werden können, als Gesamtraum geöffnet werden oder aber in bis zu vier Räume unterteilt werden. Eine paraventartige Klappwand erlaubt auch verschiedene Einhausungen des Badezimmers. Dabei sind sämtliche Wände nicht aus kontinuierlichen Mauerstücken mit gerahmten Öffnungen für die Fenster und Türen formuliert, sondern als Komposition von Rechteckflächen gestaltet, die – sich jeweils gegeneinander kulissenartig überschneidend – verschiedenste Formate annehmen können. Diese folgen scheinbar keinen statischen Gesetzen, indem sie etwa ersichtlich auf Unterbauten aufsetzen bzw. ihrerseits eine klar zu sehende tragende Funktion haben würden (□ 108). Markant ist das etwa an dem Balkon auf der Breitseite des Gebäudes nach-
zuvollziehen. Seine Brüstung wird aus einer einfachen Rechteckfläche gebildet, die aber unter die Austrittsfläche nach unten reicht, also gleichsam dem Balkon bzw. der Fassade ohne statische Notwendigkeit vorgelegt erscheint. In Wirklichkeit verbirgt sich hinter dem Teil unter dem Balkon ein intelligent ersonnener, vom Inneren des Erdgeschosses zugänglicher Stauraum. An allen Seiten erscheinen zudem schlanke vertikale Elemente, die Stützen sein könnten, aber vor die auskragenden Böden angeflanscht sind und nach oben weiterlaufen, also nichts sichtbar ‚stützen‘. In ihrer Form handelt es sich um schlichte Streben von rechteckigem Querschnitt, also abstrakte plastische Elemente, stereometrisch einfach zu beschreiben, keinesfalls kommen Erinnerungen an Säulen oder Pilaster auf. Analoges gilt für die Öffnungen: Sie entstehen gleichsam sekundär als Freiflächen oder Leerstellen zwischen den
□ 109 Utrecht, Schröder- Schräder-Haus, Gerrit Rietveld, 1924, Inneres des Obergeschosses
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Rechteckfeldern bzw. sind in rahmende Streifen eingelassen oder von diesen unterteilt. Auch die horizontalen Flächen folgen ganz offenbar nicht einer tektonischen Logik, denn ihre L-förmigen Vorsprünge (für einen Dachüberstand oder den Balkon) treten scheinbar unmotiviert neben den vertikalen Rechteckflächen nach vorne. Das Ganze wirkt wie aus verschiedenen Platten zusammenmontiert bzw. wie eine dreidimensionale Komposition aus rechteckigen Flächen und geraden Linien. Die Farbigkeit tut ein Übriges, denn sie ist für die Flächen in verschiedenen Grautönen und Weiß gehalten, während die schmalen Bandelemente in reinem Gelb, Rot oder Schwarz erscheinen. Diese Aspekte setzen sich im Inneren fort (□ vgl. 109): Die Wände, Schiebewände, Treppenwangen, Fensterbretter und Brüstungen, ja selbst die Linoleumfußböden sind zu Rechteck- und Bandstrukturen in jeweils einheitlicher Kolorierung in Primärfarben reduziert. Jede Andeutung auf eine ‚natürliche‘ Materialität ist mithin vermieden. Das Schröder-Schräder-Haus erscheint damit wie eine ins Dreidimensionale erweiterte Komposition des Malers Piet Mondrian. In der Tat sieht das Haus auch nicht vor, hier fremde ‚Kunstgegenstände‘, etwa in Form von Bildern oder Kleinskulpturen, einzubringen. Das Haus selbst wird zum betretbaren dreidimensionalen, totalen Kunstwerk. Was die Möblierung betrifft, hatte Rietveld hier Möbel in Art seines 1919 entworfenen Rot-Blau-Sessels vorgesehen. Dieser besteht aus intelligent, aber völlig unergonomisch zusammengefügten Holzplatten und –leisten, die ähnlich wie die Architektur in Primärfarben gestrichen sind. Die Leisten laufen konsequent aneinander vorbei und erscheinen an ihren Endungen willkürlich abgesägt. Das ist das Gegenteil einer konventionellen Fertigungsmethode, bei der der Stuhlrahmen durch Verzapfungen erstellt ist, die nachträglich abgerundet und zu einem Ganzen geschliffen werden. Die Sitzfläche, oft aus anderen Materialien als der (hölzerne) Rahmen bestehend,
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ist sekundär in diesen Rahmen eingesetzt. Der Rot-Blau-Sessel hingegen besteht einheitlich aus gemäß einem ästhetischen Konzept komponierten Flächen und Linien, und nicht im statischen Sinne aus einem Ganzen aus miteinander verbundenen Funktionselementen. Derartiges lässt sich auch auf die Architektur des Schröder-Schräder-Hauses übertragen. Diese kennt kein statisch begründbares Unten bzw. Oben, keinen Sockel und kein abschließendes Kranzgesims. Virtuell kann diese Komposition gleich einer Riesenskulptur von allen Seiten, auch von oben oder in Untersicht betrachtet werden, ohne ihre künstlerische Qualität zu verlieren. Dem entsprach eine neue zeichnerische Planungspraxis, die sich über De Stijl vielfach in der Moderne etablierte, auch bei Le Corbusier oder Gropius festzustellen ist. In der sog. Axonometrie erscheinen dreidimensionale Gebilde von einem Eckpunkt gesehen, ohne dass dabei die Tiefenlinien verkürzt werden. Breiten-, Höhen- und Tiefenlinien sind in gleichmäßiger maßstäblicher Verkürzung wiedergegeben und kreuzen sich in der zeichnerischen Projektion in 60°-Winkeln. Das Architekturbild wird somit zu einer Komposition aus rhombenförmigen Vierecken, bei der wie bei einer guten Skulptur alle Seiten gleichwertig sind. Diese völlig neuartige, radikale Konzeption von Architektur als ein abstraktes Gesamtkunstwerk wurde Ende 1923 in einer kleinen, aber epochemachenden Ausstellung vorgeführt. In der Pariser Galerie Pierre Rosenberg stellten Cornelis van Eesteren, Gerrit Rietfeld, Theo van Doesburg und andere Architekturmodelle derartiger Häuser aus. Bezeichnend für die dabei vorgeführte Überlagerung oder besser: Aufhebung der Kunstgattungsgrenzen war schon allein die Präsentationsweise: Denn die Modelle waren wie Plastiken aus Gips gefertigt und auf drehbaren Modelliertischen ausgestellt, also von oben oder auch in Untersicht zu betrachten. Die Ausstellung zog zahlreiche moderne Architekten an, Le Corbusier zeig-
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te sich schon bei der Eröffnung, Mies van der Rohe war mit seinen Entwürfen für Glashochhäuser auf der Ausstellung selbst präsent. Für Mies bedeutete die Präsentation den Beginn von radikal innovativen Projekten (Landhaus in Beton), die sich aber erst einige Jahre später im Appartementhaus der Stuttgarter Weißenhofausstellung (1927), dem Deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona 1929 (|▶ 32|, □ vgl. 121) und der Villa Tugendhat in Brno 1930 gegenüber seinen bis dahin üblichen klassizistischen Werken durchsetzen werden. Auch für Le Corbusier bedeutete die De StijlAusstellung, sich neu auszurichten: Denn erst mit seinen seit dieser Zeit entstandenen frühen Villen in Paris und im Pariser Umland (Paris, Villa LaRoche, 1923; Vaucresson, Villa Stein-de Monzie, 1926) beginnt sein sehr einflussreiches ‚modernes‘ Werk. Wenn viele dieser Bauten, von schmalen Stützen gestützt, über dem Boden zu schweben scheinen, dabei gleichsam um ein inneres Zentrum gedreht werden können und an den Außenfassaden der Außenraum mit dem Innenraum oszilliert (□ vgl. 49 f.), so scheint das in hohem Maße von den De Stijl-Modellen inspiriert. Aber auch für das Bauhaus hatte De Stijl vermittels seines hauptsächlichen Promotors van Doesburg eine radikale Neuorientierung zur Folge. Zwischen 1921 und 1923 drängte sich van Doesburg in den Lehrbetrieb der Kunstschule und trug in seinem polemischen und unerbittlichen Fanatismus erheblich dazu bei, dass die bislang dominierende esoterische und spätexpressionistische Ausrichtung zugunsten einer rationalistischen und auf den Bezug zur Industrie zielenden Programmatik umgestellt wurde. Theo van Doesburg hat das seit 1918 mehrmals grundsätzlich theoretisch formuliert. In radikaler Ablehnung aller vorgeprägter Typen- und Motivschätze der traditionellen Architektur forderte er ein aus dem Inneren konzipiertes Gestalten in elementaren Kriterien von Funktion, Masse, Fläche, Zeit, Raum, Licht und
Farbe. Bauen wird konsequent von allen individuellen Merkmalen wie einer persönlichen Architektenhandschrift oder regionalen Vorlieben befreit und stattdessen als ein Formgebilde aus universellen Grundelementen verstanden. Alle bisher bestehenden Grundeinheiten wie Wand und Öffnungen sind zugunsten von aktiven Flächen entwertet, die die Raumtrennung von Innen und Außen aufheben. Stattdessen lässt die Architektur ein angeblich vierdimensionales „Koordinatensystem entstehen, dessen verschiedene Punkte mit einer gleichen Anzahl von Punkten im universellen, offenen Raum korrespondieren“ (nach Ciré/Ochs 1991, S. 80). Von grundsätzlicher Bedeutung ist hierbei, dass De Stijl trotz aller theoretischen Inkonsistenzen und großsprecherischer Worthülsen sowie zahllosen persönlichen Differenzen zwischen den Akteuren eine konsequent künstlerische, von allen kleinteilig-alltäglichen technischen und sozialen Aspekten des Bauens absehende Architekturauffassung entwarf. Alle Künste schienen sich im totalen Umfeld der Architektur aufzuheben, diese wurde zur Schnittstelle zwischen irdischer Welt und Metaphysik, Wohnen eine gleichsam spirituell aufgeladene Aktivität, maßgeblich einem visionären Architekturgestalter zu verdanken. Im Gegensatz dazu wirkt das gleichzeitig erscheinende (1923), ebenfalls bahnbrechende und weit verbreitete Buch „Vers une architecture“ von Le Corbusier geradezu bodenständig-lehrbuchhaft. Das Schröder-Schräder-Haus selbst blieb nichtsdestoweniger nicht nur ein Manifest, sondern ebenso ein vielfältig praktisch nutzbares Haus, dessen Flexibilität der Innenaufteilung es der lange dort lebenden Hausherrin erlaubte, immer wieder Anpassungen an veränderte Familienkonstellationen vorzunehmen, ohne dabei radikal in die Substanz eingreifen zu müssen. Nach ihrem Tod wurde das Haus sehr bald zu einem gut gepflegten Museum für eine der wesentlichen Landmarken der modernen Architekturgeschichte.
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Zweites Goetheanum in Dornach Anthroposophie und Expressionismus
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as sog. Neue Bauen der 20er Jahre des 20. Jh.s war zumeist aufgefordert, vernunftgemäße Ordnung als regulierendes Prinzip der Welt aufzuzeigen und derart auf den Benutzer einzuwirken. Doch daneben gibt es geradezu konträre Auffassungen, nach denen das Gebaute psychische Energien bewusst macht, kanalisiert und freisetzt. Gerade verschiedenste emphatische Erneuerungsbewegungen seit 1900 haben sich derartigen Wirkqualitäten verschrieben und tempelartige Gebilde ersonnen, deren fantastischer Charakter das Irdische mit dem Überirdischen verbinden und dieses in jenem präsent und erfühlbar machen sollte. Die nur gemalten Architekturvisionen eines Paul Scheerbart gehören ebenso dazu wie die Entwürfe von strahlenden Kristalldomen, die deutsche Architekten gegen Ende des Ersten Weltkrieges als farbstrahlende Aquarelle realisiert haben (Bruno Taut (vgl. S. 90 f.), Hans Scharoun |▶ 32|, Brüder Luckhardt). Realisiert werden konnten solch kühne Baulichkeiten nur in ei□ 110 Dornach, Erstes Goetheanum, 1913 – 20, historische Ansicht
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ner innovativen Bautechnik, dem armierten Beton (vgl. S. 16 f.), und auch dann waren die Bemühungen nicht immer von Erfolg gekrönt. Die kühnste, in mehrerer Hinsicht einzigartige Verwirklichung solcher Ansprüche geschah in den Jahren 1924 – 28, als Rudolf Steiner, der ebenso charismatische wie umtriebige Begründer der Anthroposophie, das zweite sog. Goetheanum in Dornach bei Basel errichtete. Der gewaltige, einem Felsengebirge vergleichbare Bau war nicht der erste an dieser landschaftlich markanten Stelle, die, von weither sichtbar, erhabene Ausblicke in die Juralandschaft erlaubt. Denn nach mehreren erfolglosen Anläufen, einen Versammlungssaal der anthroposophischen Bewegung u. a. in München zu errichten, war dank eines im Basler Jura-Umland zur Verfügung gestellten Grundstückes 1913 – 20 ein erstes Goetheanum entstanden (□ 110). Das auffälligste Merkmal dieser theaterähnlichen Architektur bestand darin, dass sich zwei runde, aus Holz auf ei-
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nem immensen Betonfundament errichtete zylinderförmige Säle von leicht unterschiedlichen Dimensionen verschnitten. Jeder Saal war von einer schindelgedeckten Kuppel bekrönt, so dass eine ungewöhnliche Außenansicht zweier sich teilweise durchdringender Kugeln leicht unterschiedlicher Dimension entstand. Der größere, von zwei Reihen von je sieben Säulen umstandene Saal diente als Zuschauerraum, der kleinere, ebenfalls von Säulen umzogene als Bühne. Aus der Sekante der Überschneidungen beider Räume ergab sich die Vorbühne oder wahlweise der Ort des Vortragspults. An dieser Stelle befand sich auch der Ausgangspunkt der Grundkonzeption. Diese beruhte auf einer konzentrischen, mehrfachen Fünfeckkonstruktion, aus der sich die Dimensionen des Hauptbaues ergaben, aber durch die auch die Standorte von Satellitenbauten festgelegt wurden, die das Goetheanum im Sinne eines Bilds des Kosmos umgaben bzw. umgeben sollten. Dem entsprach auch der Querschnitt des Baues, dessen Kuppelräume jeweils einer Kugelform einbeschrieben sind. Die im Westen vorgelagerte Doppeltreppe sowie vor allem die Sockel, Kapitelle und Gebälke der Säulen im Zuschauerraum und auch die Fensterfüllungen waren von eigenartig ‚knorpelhafter‘ und vielfach variierter Gestalt. Die Kanten der Vordächer über den Portalen wölbten sich lippenähnlich nach oben. In diesen architektonischen Elementen sollte sich die Metamorphose einer Urform ereignen und entsprechend nachgefühlt werden: Steiner beanspruchte damit, Goethes Lehre von der Metamorphose der Pflanze als Prinzip allen Lebens in und durch die Architektur zur Nachfühlung zu bringen – daher auch der Name des Gebäudes. Dies galt nicht nur für die Bauform selbst, sondern auch ihren Zweck: Denn der Bau sollte eine Synthese von Theater, Hörsaal, Raum für Mysterienspiel und Eurythmie sein, um die ganzheitliche, mit Verstand und Gefühl zu vernehmende Welt- und Lebensanschauung der Anthroposophie zu vermitteln.
Wissenschaft, Kunst und Religion sollen sich gemeinsam zum Ausdruck bringen. Wie die Nuss die sie umhüllende Schale hervorbringt, sollen sich die – kosmologische Bezüge aufweisenden – Aufführungen im Inneren in der Architektur ausdrücken. Weitere Gebäude in der unmittelbaren Umgebung des tempelartigen Baus entstanden noch während dessen Bauzeit, unter anderem das Kraftwerk, ein von zwei Kuppeln gedecktes Gebäude, dessen Schornstein sich als unregelmäßige, dramatisch sich verjüngende Felsnadel nach oben reckt. 1922 brannte das erste Goetheanum ab und wurde umgehend durch einen vollständig aus Beton bestehenden Bau ersetzt. Anhand eines Plastilinmodells entwarf Steiner nunmehr ein eigenartiges Gebilde, das zwar die grundsätzliche Raumabfolge des ersten Baues tlw. maßgleich beibehielt, diese aber in der Ausdehnung und Höhe beträchtlich erweiterte. Der Sockel erstreckt sich breit als ein Plateau, gleichsam eine erhobene Erdoberfläche (□ 111). Darüber türmt sich der nunmehr im Grundriss trapezförmige Zuschauersaal, ihm an der schmalen Seite des Trapezes vorgelagert ist ein Treppenhaus mit einer schräg geführten, über mehrere Podeste ansteigenden Doppeltreppe. Im Gegensatz zu anderen Theaterbauten weitet sich das Trapez des Zuschauersaals nach Osten in Richtung Bühne. Am Äußeren lädt auf dieser Ebene ein Querriegel aus, in dem seitliche Treppenhäuser und Nutzräume untergebracht sind, das Bühnenhaus erstreckt sich als monumentaler Block dahinter. Die riesige Baumasse wirkt wie ein regelhaft – denn es gibt durchaus eine längs geführte Symmetrieachse – gesplitterter Felsblock, der die Kontur eines Hauses mit sehr flach geneigtem, aber vorkragendem Dach angenommen hat. Die Betonwände krümmen sich also an vielen Stellen im oberen Bereich nach außen, um dort mit scharfem Knick in die Oberseite des Blocks überzugehen. Diese ähnelt dem Ausschnitt eines unregelmäßigen
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Polyeders, der kappenartig das Gebäude zu schützen scheint. Das Grundmotiv – gleichsam die ‚Urform‘ – bildet dabei eine zweifach leicht geknickte Splitterfläche. Seitlich des Zuschauerbereichs ragt diese ‚Kappe‘ weit über, spannt sich nach Osten zu den Stirnseiten des Querriegels und vereinigt sich im Westen mit zwei prominent zu Seiten des Zuschauersaals gesetzten Betonpfeilern. Diese sind statisch vollständig unnötig, haben in ihrer Präsenz aber eine unübersehbare symbolische Funktion, indem sie etwa bewusst vage gehaltene Assoziationen an die beiden Säulen Jachin und Boas wecken, die der alttestamentarische König Salomo zuseiten seines Jerusalemer Tempels errichtet haben soll. Trotz aller scheinbaren Unregelmäßigkeit ist das Gebäude keineswegs willkürlich entworfen, im Gegenteil erinnert die Längssymmetrieachse an ein Lebewesen, und die Grundriss- und Querschnittskonturen lassen sich in regelhafte Kreisfiguren einschreiben. Das Innere entspricht in dieser Hinsicht dem Äußeren: Die Hauptsäle und Treppenhäuser erscheinen als von großen Splitterflächen umgebene höhlenartige Räume. Eine derartige Anwendung der Betontechnik für solch eine Riesenskulptur war damals – und ist bis heute – ein einzigartiges Unternehmen. Die Schalungen der unregelmäßig gekrümmten Oberflächen wurden mithilfe von vorab in Wasser eingeweichten, biegsamen Brettern ausgeführt, die Bewehrungen aufwendig darauf abgestimmt. Derartiges unterschied sich radikal von den üblichen, hauptsächlich rechtwinklig konstruierten Betonskelettkonstruktionen. Zu der in Dornach angewandten Technik war nur ein leistungsfähiges Unternehmen fähig, das Steiner in der Basler Baugesellschaft fand. Es ging tatsächlich auch darum, die Konstruktionstechnik sichtbar zu belassen, denn die zahlreichen Rauigkeiten der Oberfläche schaffen eine äußerst lebendige, sehr sensibel auf verschiedenste Schattenwirkungen und Lichtfarben reagierende Oberfläche. Außerdem
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konnte man (neben der Feuersicherheit) im anthroposophischen Sinn darauf verweisen, dass zur Herstellung des Betons zwei Urelemente nötig waren: Feuer (zur Zementgewinnung) und Wasser zur Hydratisierung der Zementmasse (vgl. S. 16). Vor allem aber ging es wohl darum, das neue Material als durch und durch plastisch modellierbares, nur von wenigen technischen Faktoren eingeschränktes Material auszunutzen. Bezeichnenderweise war es beim zweiten Goetheanum der Meister selbst, der anhand des plastisch formbaren Plastilinmodells seine Vorstellungen von Urformen entwickeln konnte, während in den vorangegangenen Etappen zur Realisierung eines Versammlungssaals der direkte Anteil professioneller entwerfender Architekten viel größer gewesen war. Obwohl das Goetheanum zu seiner Realisierung eine Vielzahl hochqualifizierter Fachkräfte benötigte (Ernst Aisenpreis, Hermann Ranzenberger, Hermann Moser, Albert von Baravalle), arbeiteten diese, dem Meister verpflichtet, praktisch anonym und in aller Hingabe an einem Gemeinschaftsbau, ähnlich wie es zur selben Zeit das Bauhaus forderte. Umso deutlicher konnte umgekehrt in diesem Tempel der Anthroposophie der Gedanke Steiners in aller Deutlichkeit und Monumentalität hervortreten und sich jene auf Körper, Intellekt und Geist wirkende Qualität entwickeln, die der neuen ‚Geisteswissenschaft‘ so wichtig war. Enthielt der erste Bau, trotz Steiners Reserviertheit gegenüber rein begrifflich verweisenden und nicht ganzheitlich zu erkennenden Symbolen, eine Reihe von Bildmetaphern (etwa der Formenmetamorphose der Säulendetails), so ist das Goetheanum aus Beton ein reiner psychischer Erlebnisraum. Hierin hat der Bau trotz seiner genialen Einzigartigkeit wichtige Vorläufer und Parallelen: Denn schon der Jugendstilarchitektur etwa eines Victor Horta |▶ 19|, Henry van de Velde, Hector Guimard, Joseph Maria Olbrich oder August Endell war daran gelegen, Bauten und
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□ 111 Dornach, Zweites Goetheanum, Rudolph Steiner, 1924 – 28
Räume zu schaffen, die über räumliche Dynamiken und Stimmungswerte direkt auf die Psyche wirken, also nicht aufgrund von historischen Stilen ‚verstanden‘ wurden. Ähnliches gilt auch für verschiedene zeitgleiche Ansätze zur Reform von Bühne und Regie im Theater |▶ 25|: Ein neuer psychologischer Impuls sollte von Gestik und Mimik des Schauspielers ausgehen, eine neue, sich dem Zuschauer zuwendende Choreographie konnte übergeführt werden in den rhythmischen Tanz. Das hatte auch Konsequenzen für einige Reformtheater – und in diese Gattung ist ja auch das Goetheanum prinzipiell einzuordnen –, die die Einstimmung des Gemüts des Zuschauers befördern, nicht sein kulturelles Wissen (zu Bühnengattungen, Komponisten u. Ä.) über figürlichen Schmuck bestätigen sollten. Ein besonders markantes und Aufsehen erregendes Gebäude in dieser Hinsicht hatte Henry van de Velde 1914 für das Theater auf der Ausstellung des Deutschen Werkbundes in Köln errichtet. Sanft schwingende Formen leiteten hier den
Zuschauer in gleichsam fröhlicher Besinnlichkeit zu einer modernen, weil in drei Abschnitte unterteilten Bühne. Was die skulpturale Auffassung des Bauens ausmacht, hatte kurz vor dem Goetheanum noch eine andere Architektur Aufsehen erregt: In den Jahren 1919 – 22 hatte Erich Mendelsohn in Potsdam ein Observatorium errichtet, mithilfe dessen die Relativitätstheorie Albert Einsteins mit astronomischen Experimenten bestätigt werden sollte (□ vgl. 26). Mendelsohn schuf hier sein erstes Werk, in dem programmatisch eine neue ‚Ausdrucksarchitektur‘, befreit von den Bedingtheiten von Technik und Physik, entstehen sollte. Diese spannungsreiche und dynamische Architektur sollte über eine energisch plastisch geformte Architektur geschehen, die starke Linien in der Binnenund Außenkonturierung gleichsam als Spuren von genialen Eingebungen des Künstlers betonte – ganz ähnlich wie bei Steiners Dornacher Bau. Bei Mendelsohn sind das schnell hingetuschte ‚Gesichte‘, kleine, teilweise farbig
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akzentuierte Skizzen, deren Grundcharaktere sich auch im Einsteinturm wiederfinden: Über einem flachen, auf einem künstlichen Erdsockel sich erstreckenden Flügel erhebt sich der Turm des Observatoriums. Das Gebäude besitzt allenthalben abgerundete Kanten, der Grundriss des Turms ähnelt einem Ei; Fenster und Türen sind in schattende Wandöffnungen eingelassen, deren Konturen gleichsam dynamisch schwingen, sich etwa um den Turmschaft herumschmiegen. Für Mendelsohn war der neue Eisenbeton prinzipiell das ideale Material zur Realisierung dieser Bauidee; doch im Gegensatz zum Goetheanum ließen sich hier die komplizierten Schalungen nicht verwirklichen und so musste das berühmte Gebäude in seinen oberen Teilen konventionell, aber aufwendig aus Ziegel gemauert und anschließend dick verputzt werden, um die gewünschte skulpturale Oberfläche zu erlangen. Bei der Kirche Ste-Bernadette-du-Banlay bei Nevers in Frankreich war das anders. Die Archi-
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tekten Claude Parent und Paul Virilio errichteten 1963 dieses Sakralgebäude wie einen Bunker, also als einen fast fensterlosen Block aus undurchdringlichem, rau belassenem Stahlbeton. Der eigentliche Kirchenraum mit stark geneigter Unterseite scheint wie ein unterspülter Bunker des Atlantikwalls schief auf den Gemeinde- und Verwaltungsgebäuden zu lasten. Im Inneren sitzen die Gläubigen auf stark sich neigenden Fußböden, um irritierende Körperwahrnehmung und damit neue Formen der Kommunikation zu erzeugen, so die von den Architekten als architecture principe vertretene Auffassung. Das wird gesteigert durch die Inszenierung des Betonmassivs, die bestimmte Momente des Goetheanums – wohl gezielt – verschiebt. Die Bunkerkirche wächst nicht wie dieses, einem Gebirge gleich aus einem Sockelplateau, sondern erscheint als gestrandeter Fremdkörper inmitten einer banalen Wohnbebauung, und aus dem bergenden Schutz ist eine wehrhafte Einschließung geworden.
Berliner Wohnsiedlungen Wohnungen für den ‚neuen Menschen‘
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ie deutsche Architektur der Weimarer Republik zeichnet sich durch eine Baugattung aus, die innerhalb der klassischen Moderne in anderen Ländern viel weniger verfolgt wurde: die Wohnsiedlung, kurz Siedlung, ein Begriff, der sich schwer in andere Sprachen übersetzen lässt. Gemeint ist damit ein Massenwohnbau, der durch die Anwendung rationalisierter Planungs- und Fertigungsmethoden einerseits kostengünstig ist, andererseits essentielle Lebens- und Wohnqualitäten zur Verfügung stellt. Die schlagwortartige Grundforderung des modernen Bauens, „Licht, Luft,
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Sonne“ anstelle unhygienischer Bedingungen zu gewährleisten, bezieht sich also maßgeblich auf den Siedlungsbau. Fast jede deutsche Stadt hat sich in der Weimarer Republik diese Politik zu eigen gemacht, und deswegen gibt es fast überall jene reihenhausartigen Anlagen, in ihren klaren kubischen Formen erkennbar ‚modern‘ und zumeist eingebettet in zugehörige Gartenanlagen, Grünflächen oder auch die natürliche Landschaft. Die Ursachen für diese Wohnungsbaupolitik liegen in einer massiven Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg, verursacht durch einen Boom an Familienneugrün-
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dungen, die Flüchtlingsbewegungen, die Verzögerung der Bauaktivität in der Kriegszeit sowie die unhygienische, nur rudimentär ausgestatte Altbausubstanz im Bereich des Massenwohnungsbaus |▶ 16|. Vielerorts übernahmen gewerkschaftliche Organisationen die Initiative, um über genossenschaftliche Baubetriebe den Wohnungsbau nicht dem freien Markt zu überlassen. Schließlich bildete die 1924 beschlossene sog. Hauszinssteuer – eine auf Altbauten erhobene zweckgebundene Ertragssteuer – in Verbindung mit der Gründung der Wohnungsfürsorgegesellschaft zu deren Umverteilung an die Wohnungsbaugesellschaften die nationalen Rahmenrichtlinien für den Aufschwung im Wohnungsbau der Weimarer Republik. Bekannt, ja geradezu Teil von städtischen oder auch parteipolitischen Images geworden, sind die Siedlungen in Celle, Köln oder Magdeburg, vor allem aber in Frankfurt und in Berlin. In der ehemaligen Reichsstadt am Main begann die Stadt unter dem Bürgermeister Ludwig Landmann und dem allmächtigen Stadtbaurat Ernst May 1925 eine umfangrei-
che Investition in den Massenwohnungsbau, der in Form von – allerdings verkehrstechnisch gut angebundenen – Satellitenstädten im grünen Umland der Stadt geplant wurde. Die bekannteste davon ist die Römerstadt, in deren zum Teil den Höhenlinien folgenden Straßen weiterhin Konzepte der um 1900 entstehenden, pittoresken Gartenstädte in England und Deutschland wirksam sind |▶ 11|. Auch räumliche Binnenstrukturen in Form von torartigen Durchlässen, Platzerweiterungen, Sichtachsen usw. zeugen davon. Gegen Ende der Tätigkeit Mays in Frankfurt im Jahr 1930 wird sich im Zuge der Weltwirtschaftskrise eine konsequente technokratische Rationalisierung und Egalisierung in der Konzeption durchsetzen. Die Siedlung Westhausen etwa besteht aus rasterartig gleichförmig angeordneten Hausreihen in Nord-Süd-Ausrichtung mit jeweils identischer Erschließung der winzigen Wohnungen: Vorgarten, Eingang im Osten, Wohnzimmer nach Westen, davor ein kleiner Garten. Noch bekannter sind die Siedlungen in Berlin, insbesondere die Hufeisensiedlung, die
□ 112 Berlin-Britz, Hufeisensiedlung, Bruno Taut und Martin Wagner, 1924 – 32
Berliner Wohnsiedlungen
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□ 113 Berlin-Britz, Hufeisensiedlung, Bruno Taut und Martin Wagner, 1924 – 32, Eingang zum „Hufeisen“
Waldsiedlung Zehlendorf, die Siemensstadt oder die Weiße Stadt. Diese vier Ensembles fungierten schon auf der Internationalen Bauausstellung 1931 als die Modellprojekte des deutschen Massenwohnungsbaus. Doch darf man nicht vergessen, dass gerade in Berlin im Siedlungsbau unterschiedliche Bauträgerschaften tätig waren, die weltanschaulich, betriebswirtschaftlich und nicht zuletzt auch in den grundsätzlichen architektonischen Auffassungen miteinander konkurrierten. Gleichsam zum allgekannten Wahrzeichen des sozialen Wohnungsbaus geworden ist die sog. Hufeisensiedlung in Berlin-Britz, damals noch im grünen Umland von Berlin gelegen. Erbaut ab 1924 im Auftrag der gewerkschaftseigenen Gemeinnützigen Heimstätten Sparund Bau-AG (GEHAG) durch den Architekten Bruno Taut unter der Ägide des GEHAG-Leiters Martin Wagner, steht die Siedlung am Anfang des Massenwohnungsbaus der Weimarer Republik bzw. Berlins und lässt zugleich noch utopisch-sozialistische Visionen Tauts von um 1919 nachklingen (vgl. S. 90). Die Siedlung bildet überdies aufgrund ihrer zentralen, von einer hufeisenförmig geführten Häuserreihe um-
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laufenen Grünfläche eine einprägsame Mitte, die sich mit der offenen Seite des Hufeisens mit großer Geste einladend gegen die vierspurige Fritz-Reuter-Allee auftut (□ 112, 113). Dieses unverkennbare Zentrum der Siedlung, eine einfache, sich zu einem kleinen Weiher absenkende Grünfläche, bildet aber keinen städtischen Platz im Sinne eines öffentlichen Forums, sondern einen allen Bewohnern der umgrenzenden dreistöckigen Hausreihe gleichermaßen sich darbietenden Park. Alle Balkone und Wohnzimmer gehen auf diese Grünfläche, so dass wie in einem Theater von jeder ‚Balkonloge‘ das gesamte Rund überblickt werden kann. Das sollte ein intensives Gemeinschaftsgefühl stiften, wie sich dies auch anderen architektonischen Maßnahmen entnehmen lässt. Das leicht längsrechteckige Areal der ersten Bauphase, in dem das Hufeisen die Mitte bildet, wird nämlich nach Osten, zur Fritz-Reuter-Allee durch einen langgestreckten dreistöckigen Block begrenzt, dessen Treppenhäuser regelmäßig als rechteckige Vorsprünge hervortreten. Da zudem dieser Block einheitlich bordeauxrot gestrichen war, hieß er im Volksmund umgehend „Rote Front“ (□ 114). Damit wurde
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auf die Vereinnahmung der Siedlung durch linksgerichtete Parteien, z. B. die SPD, angespielt, aber auch darauf, dass sich diese Hausreihe als klare architektonische Abgrenzung zum ‚Außen‘ der städtischen Allee verstand. Dieser Abgrenzung entgegengesetzt ist das Hufeisen, das sich umso einladender in ein ‚Inneres‘ öffnet. Die hufeisenförmige Anlage wird auch deshalb als zentraler Bereich wahrgenommen, weil von der sie umlaufenden Straße unregelmäßig Stichstraßen abgehen; es entsteht dadurch eine Art Sternform. In der Längsachse des Hufeisens weitet sich diese Straße zu einem rhombenförmigem kleinen Platz, dem Hüsung – eine typische Form des märkischen Angerdorfs, ohne dass in der Hufeisensiedlung in der Mitte dieses Plätzchens nun öffentliche Bauten, etwa eine Kirche, stehen würden. Im nordwestlichen Teil der Siedlung war sogar ein ‚Dorfweiher‘ geplant. Insgesamt entsteht mit solchen architektonischen Anspielungen ein gezielt ‚heimeliger‘, dorfartiger Charakter. Dieser wird dadurch verstärkt, dass die Hauszeilen hier, außerhalb des Hufeisens und hinter der „Roten Front“ mit ihren dreigeschossigen Etagenwohnungen und einem abschließenden Flachdach, nun satteldachgedeckte Einfamilienreihenhäuser sind. Urbane Ambientes mit Korridorstraßen („Rote Front“/Fritz-Reuter-Allee) beschützen gleichsam einen Innenraum, der pittoresk gegliedert ist: Die Hausreihen sind relativ kurz, in ihnen springen einzelne Häuser ein wenig vor oder zurück, erzeugen Weitungen und Engungen, schaffen damit Andeutungen von Vorplätzen und Torsituationen. Es entstehen also komplizierte, aber subtil eingesetzte Raumbezüge: Auf der urbanen Allee herrscht schnellerer Durchgangsverkehr, auf den man von den Wohnungen aus höchstens passiv blickt, im Inneren der Siedlung verlang-
samt sich die Geschwindigkeit; der Außenraum unmittelbar vor dem Hauseingang in Form eines Vorgartens, des Austritts usw. kann sogar als Erweiterung des Innenraums gelesen werden. All das wird durch markante Farbigkeit unterstützt, denn die Hauswände sind jeweils dunkelrot, blau und ockergelb verputzt. Auch die Außenseite der Hufeisenzeile zeigt eine solche farbliche Komposition aus einer strahlend weißen Fassadenfarbe, in der die Treppenhäuser als intensiv blaue vertikale Streifen abgesetzt sind. Diese bilden gleichsam Landmarken für die auf das Hufeisen zulaufenden Straßen. Die Farbigkeit der Architektur korrespondiert mit der gärtnerischen Ausgestaltung der Siedlung durch Leberecht Migge – der auch einen Großteil der Frankfurter Siedlungen gartenarchitektonisch plante. In gesuchter Abwechs-
□ 114 Berlin-Britz, Hufeisensiedlung, Bruno Taut und Martin Wagner, 1924 – 32, Wohnblock „Rote Front“ zur Fritz-Reuter-Allee
Berliner Wohnsiedlungen
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lung zwischen regelmäßiger und unregelmäßiger Bepflanzung wurden vor allem Obstbäume gesetzt, die Häuser und Straßen nicht überwachsen, dafür aber zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich farbig blühen und somit koloristische Akzente setzen. Trotz aller feinfühliger Variationen hinsichtlich verschiedener Ambientes, Farben und Räume war die Hufeisensiedlung auch ein Experiment bautechnischer Rationalisierung, im Prinzip ganz gemäß den vor allem von Henry Ford und Frederick Winslow Taylor propagierten und damals allenthalben verfolgten Optimierungsprinzipien in der industriellen Produktion. Standardisierte Einzelteile sollten nach einem in kleinste Einheiten zerleg- und berechenbaren Produktions- und Montageplan gefertigt und zusammengesetzt werden. Dies war auch der – allerdings nur in Ansätzen geglückte – Anspruch der Siedlung: Von einem genau vorgegebenen Arbeitsdiagramm bis hin zu einem Schaufelradbagger reichten die Maßnahmen, um die Effizienz auf der Baustelle zu verbessern. Für die architektonische Form noch bedeutsamer war aber die massenweise Vorfertigung von wenigen Grundtypen an Fenstern, Türen, Balkonen, Dachstuhlbalken usw. Diese setzte auch eine Normierung der Grundrisse voraus: Im ersten Bauabschnitt der Britzer Siedlung kamen vier Wohnungstypen zur Anwendung, die zwischen 49 m² und 100 m² variierten. Jeder Einheit war gemeinsam, dass sie über einen eigenen Garten bzw. – für die Etagenwohnungen – einen Balkon verfügte und quergelüftet werden konnte, d. h. nach zwei gegenüberliegenden Himmelsrichtungen Aussicht hat. Die Grundrisse halten überdies die Verkehrsfläche (Korridore und Treppeneinbauten) so gering wie möglich. Die emphatische Betonung des Gemeinschaftssinnes, wie sie in Britz I zum Ausdruck kommt, ging in hohem Maße auf utopische Projekte zurück, die Taut als anarchistische Vision friedlicher Gemeinwesen entworfen hatte. Vor
III. Schlüsselwerke
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allem in der ‚Stadtkrone‘ wird ein utopischer Plan einer friedliebenden Großstadt entworfen, deren Bewohner einmal im Leben im zentralen Kristalldom der Harmonie des Universums gewahr werden (vgl. S. 90). Die von Taut entworfene Idealstadt entspricht im Wesentlichen den Idealen der Gartenstadt |▶ 22|, denen Taut auch in seinen gebauten Projekten vor dem Ersten Weltkrieg (z. B. in der Gartenstadt Falkenberg) gefolgt war. Deren pittoreske Grundauffassung wird allerdings im Laufe des weiteren Ausbaus der Britzer Siedlung zugunsten stark rationalisierter Aspekte aufgegeben. Der letzte Bauabschnitt, 1932 errichtet, besteht aus parallel in strenger Zeilenordnung gesetzten, dreigeschossigen Wohnblöcken mit Kleinstwohnungen. Auch Terrainerschließung und Kanalisation folgten mithin einer standardisierenden Normierung. Viele der modernen Siedlungen waren Ausdruck einer sozialistischen bzw. gewerkschaftlichen Politik oder Gesinnung – selbst wenn in den meisten Fällen die Mieten nicht so abgesenkt werden konnten, dass hier Arbeiter, sondern insbesondere Beamte und Angestellte einzogen. So waren die Siedlungen und ihr modernes Lebensgefühl, das sie vermittelten, seit den späten 20er Jahren Ziel heftiger, vielfach nationalistischer Attacken, die sich etwa an der Frage des Flachdachs entzündeten. In mehreren Fällen entstanden Gegenmodelle des Wohnens. So wurde am Südrand der Waldsiedlung Zehlendorf „Onkel-Toms-Hütte“, von Taut, Hugo Häring und Otto Rudolf Salvisberg errichtet, die sog. Fischtalgrundsiedlung konzipiert. Sie stellt eine Musterschau der sog. konservativen Moderne (Heinrich Tessenow, Paul Schmitthenner u. a.) dar, die zwar den Baukörper weitgehend ohne zierendes Ornament einsetzt, ihn in wohl abgewogenen Proportionen gliedert, aber keinesfalls auf ein prominentes, gleichsam optisch schützendes Steildach verzichtet. Derartige Modelle des sozialen Wohnungsbaus wurden unter dem Nationalsozialismus weiter
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verfolgt, zum Teil auch als Reihenhäuser mit hohem Satteldach. Daraus gingen nach dem Zweiten Weltkrieg die massenweise verbreiteten Reihenhausviertel der Bundesrepublik hervor. Aber auch der ebenfalls im Zusammenhang des Siedlungsbau der Weimarer Republik entwickelte Typus des rationell errichteten Mehretagenmietshauses verbreitete sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg massenweise, als renditeträchtige Investition in
Großwohnviertel im Westen oder als planwirtschaftlich zu konzipierende Großwohneinheiten im Osten. Die damit nicht ganz zu Unrecht assoziierte Technik des Plattenbaus – also der Vorfertigung von Wand- und Fassadenteilen – geht ebenfalls auf Versuche in der Weimarer Republik (Dessau-Törten unter Gropius; Frankfurt/M. unter Ernst May) zurück, über rationelle Baufertigung die Wirtschaftlichkeit des Bauens zu erhöhen.
Bauausstellungen Architektur als Exponat
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eit dem späten 19. Jh. wird Architektur zunehmend als ein Produkt begriffen, dessen Leistungsfähigkeit öffentlich präsentiert werden soll, auch um damit den Fortschritt von bestimmten Institutionen, Städten, Regionen oder Staaten vorzuführen und konkret erlebbar zu machen. Dabei geht es anders als bei den Präsentationen von Prachtentwürfen in Kunstausstellungen (etwa den Pariser Salons) nicht um die ästhetische Qualität von Fassaden, sondern um die Demonstration von Gesamtensembles, deren gestalterische Kohärenz und bewohnerfreundliche Funktionalität oder der Einsatz neuer Technologien und Produktionsweisen nachvollziehbar gemacht werden sollen. Verschiedene Strategien können hierfür gewählt werden: von der Vorführung von Innenräumen, etwa im Rahmen von Welt- und Kunstgewerbeausstellungen, über die zeitweise Errichtung von Mustersiedlungen innerhalb einer großen Messe bis hin zur dauerhaften Erbauung eines ganzen Stadtviertels, das zunächst sich selbst innerhalb einer landschaftlichen oder urbanen Umgebung ausstellt, danach aber dauerhaft bewohnt wird. Gerade diese Mustersiedlungen riefen und rufen ein besonderes Publikums- und Presseinteresse hervor und sind in vielen Fällen Marksteine der Moderne geworden. Manchmal sind die Grenzen zwischen publikumswirksamer Präsentation
und alltäglicher Nutzung fließend: Den Meisterhäusern in Dessau |▶ 31| oder vielen der Wohnsiedlungen der Weimarer Republik eignet eine derartige fruchtbare Ambivalenz. In dieser Art der Bauausstellung bleibt die programmatische Investition in die Zukunft nicht nur ein Versprechen, sondern ist gebaute Realität geworden, die teilweise gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt wurde. Folgende Bauausstellungen, auf denen nicht nur Modelle und Innenräume, sondern ganze Architekturensembles präsentiert wurden, haben eine besondere historische Bedeutung erhalten: Die Mathildenhöhe in Darmstadt, 1901 eröffnet, bildete eine Künstlerkolonie, in der Künstler und teilweise auch Fabrikanten eigene programmatische Bauten erhielten. Die größtenteils von Joseph Maria Olbrich entworfenen, sehr individuellen Jugendstil-Häuser waren auf das ideelle Zentrum der parkähnlichen Anlage, das Ateliergebäude, ausgerichtet (□ vgl. 19). Der Deutsche Werkbund feierte 1914 sein siebenjähriges Bestehen mit der Werkbundausstellung in Köln |▶ 23|. Auf dieser Leistungsschau wurden ideale Bautypen vorgeführt, etwa ein Theater (Henry van de Velde) oder eine Fabrik (Walter Gropius). – 1925 wurden auf der Exposition des arts décoratifs in Paris nicht nur neue Dörfer als Mustersied-
Bauausstellungen
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□ 115 Stuttgart-Weißenhof, Werkbundsiedlung 1927 (hist. Aufnahme) lungen gezeigt, sondern einige Länder- und Institutionenpavillons in programmatischen Architekturen untergebracht: Die Sowjetunion präsentierte sich in einem konstruktivistischen Pavillon von Konstantin Melnikov, und Le Corbusiers Stand für seine Zeitschrift „Esprit nouveau“ war ein naturgroßes Modell einer multiplizierbaren Villa |▶ 27|. 1927 und 1929 zeigte sich der Deutsche Werkbund erneut in Form von großen Bauausstellungen in Stuttgart-Weißenhof („Die Wohnung“) (□ 115) bzw. in Breslau („Wohnung und Werkraum“). Vor allem die Stuttgarter Exposition zeigte spektakuläre und sehr umstrittene Haustypen namhafter Architekten aus Deutschland, den Niederlanden und Frankreich, so ein Einfamilienhaus und ein aufgestelztes Doppelhaus von Le Corbusier sowie einen Wohnblock von Mies van der Rohe. – In KarlsruheDammerstock wurde 1929 die Siedlung „Die Gebrauchswohnung“ errichtet. Hier wurde von verschiedenen Architekten, u. a. Walter Gropius und Otto Haesler, mit Wohnriegeln experimentiert, die nach dem Prinzip der Zeilenbauweise, also jeweils nach den gleichen Himmelrichtungen ausgerichte-
III. Schlüsselwerke
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ten, parallel geführten Wohnbauten, angeordnet waren. – Der Schweizerische Werkbund organisierte 1930 in Basel und 1931 in Zürich eine Wohnbauausstellung, 1932 folgte eine ähnliche Schau des Österreichischen Werkbundes in Wien. – Die politisch-programmatischen Dimensionen der Bauausstellungen zeigten sich 1928 in der Fischtalgrundsiedlung in Berlin und 1933 in der Kochenhofsiedlung in Stuttgart, 1934 in München-Ramersdorf sowie 1937 in Düsseldorf („Schaffendes Volk“), wo insbesondere schlichte, satteldachgedeckte Wohnhäuser aus lokalen Materialen verwirklicht wurden. Das waren antimoderne Manifeste, die aber noch lange nach dem Krieg für die typischen Reihenhaussiedlungen weiterwirkten. – 1951 wurde im Rahmen der 2. Darmstädter Gespräche die Ausstellung „Mensch und Raum“ auf der Mathildenhöhe gezeigt, bei der vor allem Reformschulbauten von Max Taut und Hans Schwippert als „Darmstädter Meisterbauten“ realisiert wurden. Im selben Jahr zeigte die Stadt Hannover gleichzeitig zur ersten Bundesgartenschau die „Constructa“, auf der vor allem Musterlösungen für einen neuen Städtebau
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nach dem Zweiten Weltkrieg präsentiert wurden. – Die „Interbau“ in West-Berlin 1957 war die Antwort auf den Bau der Stalinallee |▶ 38|. Eine aufgelockerte Hochhausstadtlandschaft in einer Parkumgebung inmitten der Stadt sollte „Weite, Natürlichkeit, Zwanglosigkeit“ der Internationalen Moderne zeigen. – 1982 wurde als Ergänzung der Documenta 7 in Kassel die Bauausstellung „documenta urbana – sichtbarmachen“ gezeigt, bei der verschiedene Architekten Interventionsmöglichkeiten an städtebaulichen Problemstellen der Stadt vorführten. – Einen noch wichtigeren Markstein zur Wiedergewinnung urbaner Strukturen setzte schließlich
die „Internationale Bauausstellung“ (IBA) in Berlin 1984 – 87. In dezidierter Abwendung von den überlebten Grundsätzen der Internationalen Moderne wurden hier stadtbaupolitische Grundsätze verfolgt, die gewachsene urbane Strukturen aktualisierten, dabei neue soziale, funktionale und künstlerische Grundsätze wirksam werden ließen („Kritische Rekonstruktion“). Die Postmoderne fand hier eine Spielwiese. Zum ersten Mal wurden hier aber nicht nur Neubauten errichtet, sondern auch ein kreativer, zudem durch die Partizipation der Bewohner geprägter Umgang mit rehabilitierter Altbausubstanz vorgeführt.
Bauhausarchitektur in Dessau Synthese des Neuen Bauens
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aum ein anderes Gebäude ist mehr zum Inbegriff des Neuen Bauens bzw. der Internationalen Moderne geworden als das Schulgebäude des Staatlichen Bauhauses Dessau. Das liegt daran, dass das Bauwerk eben die Institution beherbergte, die sich zum Ziel genommen hatte, eine radikal veränderte Kunst- und Architekturauffassung in staatlich anerkannter Form zu lehren und damit auch zu verbreiten ( Themenblock · Interessenverbände, S. 220 f.). Dazu kam, dass die Bauhauspädagogik umfassend war, also alle Gattungen vom Kunsthandwerk bis zur Architektur umgriff, und zudem eine neue Wahrnehmung der Welt einforderte. Da dies auch publizistisch sehr vernehmlich – im gewissen Gegensatz zu der insgesamt nicht immer erfolgreichen Produktivität des Bauhauses – verbreitet wurde, zudem die ‚Bauhäusler‘ einen sehr eigenständigen Korpsgeist ausprägten, konnte es geschehen, dass das
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Bauhaus und zumal sein Dessauer Schulgebäude schon in den 20er Jahren allenthalben zum Inbegriff des Neuen Bauens wurden. Das hatte auch negative Konsequenzen: Der vernichtenden Kritik durch den Nationalsozialismus war das Bauhaus, nicht zuletzt wegen des Schulgebäudes, im Übermaße ausgesetzt; doch trug dies wiederum dazu bei, dass das ‚Bauhaus‘ als Image einer ‚sachlichen Moderne‘ bis heute allgemein präsent ist. Zahllos sind Wendungen wie ‚Bauhaus-Stil‘ u. Ä., gerade auch für jedwede ornamentlose, geometrisch klare Architekturen, auch wenn sie nichts mit dem Bauhaus zu tun haben. Auch begann eine eigenständige Architekturlehre am Bauhaus erst 1928 – und musste schon 1933 eingestellt werden: Sie konnte also kaum dazu beitragen, einen ‚Bauhaus-Stil‘ zu initiieren. Der Bau war allerdings immerhin vom damaligen Direktor des Bauhauses, dem Archi-
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tekten Walter Gropius, entworfen worden, der damit – ganz gemäß der innovativen Bauhauspädagogik – einen durch und durch programmatischen Bau schuf. Die Aufgaben, die an das Gebäude gestellt wurden, waren vielfältig. Nach der Kündigung der Zusammenarbeit mit der Stadt Weimar 1924 musste ein neues Domizil in der sozialdemokratisch regierten Stadt Dessau errichtet werden; dies gelang in den Jahren 1925 – 26. Dabei waren die Technische Lehranstalt der Anhaltinischen Berufsschule, die Ateliers der verschiedenen Fachausrichtungen des Bauhauses, Verwaltungs- und Direktionsräume, Wohnungen für die Studierenden des Bauhauses und überdies eine Kantine sowie eine Studiobühne zu integrieren. Dafür schuf Gropius zusammen mit den Architekten Ernst Neufert und Carl Fieger eine ebenso ungewöhnliche wie klare Massenverteilung (□ 116). Zwei je längsrechteckige, viergeschossige Gebäudetrakte stehen sich an der Straße Leopolddank (heute Bauhausstraße) versetzt gegenüber: im Norden die Fachschule, im Süden die Gemeinschaftsbauten des Bauhauses. Verbunden sind beide durch eine rechtwinklig dazu auf Höhe der Oststirn □ 116 Dessau, Bauhausgebäude, Walter Gropius, 1925 – 26, Grundriss
III. Schlüsselwerke
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der Fachschule über die Straße geführte sog. Brücke. Hier sind in zwei Etagen Verwaltung und die Direktion untergebracht: diese genau in der Mitte der Brücke bzw. der Straße darunter. Parallel zur Brücke sind die beiden jeweils identischen Eingänge angelegt, die sich mithin genau gegenüberliegen. Der Bauhaustrakt schwenkt westlich des Eingangsbereichs mit dem Treppenhaus in den berühmten langen, voll verglasten Ateliertrakt um (□ 117). Östlich des Treppenhauses geht es über den niedrigeren Bereich von Aula, Bühne und Kantine zu dem abschließenden Trakt des Studentenwohnheims, der in seiner aufragenden, sechs Geschosse umfassenden und zur Straße vorspringenden Struktur pavillonartigen Charakter hat. So entsteht insgesamt eine optisch und funktional mathematisch präzise Komposition aus drei miteinander verbundenen Rechteckwinkeln. Ihre Verbindungsstelle ist tatsächlich das kommunikative Zentrum des Ensembles, denn hier liegt der Eingang des Bauhauses, von hier steigt die – von Oskar Schlemmer mehrfach als programmatisches Bildthema behandelte – Treppe durch das Gebäude, und von hier aus erreicht man jeweils direkt Werkstätten-, Verwaltungs-, Gemeinschafts- und Ateliertrakt. Die Anordnung von weißen und grauen Wandflächen, belichtenden Öffnungen und verglasten Einheiten schafft eine selbstgenügsame Komposition, ästhetisiert auswahlweise aber einige wesentliche Funktionen des Gebäudes: So vermitteln die vielen weit vortretenden Balkone des Ateliertraktes gerade in ihrer Rasterstruktur den dort herrschenden Wohnkomfort, und über den Portalen erhebt sich jeweils eine hohe gläserne Rechteckfläche zur Belichtung der Treppenhäuser. Vor allem aber der Werkstatttrakt erscheint in voller Verglasung, denn er erfordert auch die beste Belichtung. Die Subtilität der Lösung liegt darin, dass diese wirklich als einheitlicher und großer Glasblock erscheint, denn die in ein Stahlraster eingelassene Glashaut umhüllt als curtain wall alle drei Etagen
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□ 117 Dessau, Bauhausgebäude, Walter Gropius, 1925 – 26, Werkstatttrakt
des als Stahlbetonskelett errichteten Gebäudes (□ vgl. 117): Dessen Stockwerkböden werden durch nach innen gesetzte Pfeiler getragen und reichten ursprünglich nicht bis zur Fensterebene vor. Zudem kragt der Kubus der Werkstätten über einem niedrigen Kellergeschoss aus, er schwebt gleichsam über der Erde. Es geht also nicht nur darum, ähnlich wie im Fabrikbau große Öffnungen in Skelettstrukturen einzusetzen, um eine gute Belichtung zu garantieren, sondern darum, Transparenz zwischen Innen und Außen regelrecht zu demonstrieren: Die Bauhausschüler waren nicht in schmutzigen Ateliers eingeengt, sondern profitierten von vielfältigen Blicken nach außen – und genauso waren sie von dort wahrzunehmen: Die Glaswand präsentierte also visuell – ohne Logos und Allegorien –, was das Bauhaus trieb. Und überdies wirkt der wundersame Glaskubus auch nach außen: Da Glasflächen Licht oftmals eher reflektieren als es einzulassen, erscheint der Trakt aus bestimmten Blickpunkten mal als dunkler Kubus – was durch die dunklen
Rahmengitter unterstützt wird –, mal in voller Transparenz. Dieses geheimnisvolle Changieren kann man mit einem Kristall vergleichen, also einem Gegenstand von perfekter, absolut naturgesetzlicher Gestalt, aber irisierenden, gleichsam unwirklichen Lichtwirkungen. In solchen Auffassungen war der Kristall eines der wichtigsten Ideale der deutschen Architektur seit ca. 1900 geworden. Auch aus solchen Vorprägungen ist zu verstehen, warum Gropius und sein damaliger Atelierkollege Adolf Meyer für die Fabrikbauten der Faguswerke in Alfeld/Leine 1911 |▶ 23| und die Kölner Werkbundausstellung 1914 große gläserne curtain-wall-Fassaden entworfen hatten. Noch in der Titelvignette des Bauhausmanifestes von 1919, einem von Lyonel Feininger geschaffenen Holzschnitt, erschien das Kristalline in Form einer sich in kubistische Splitterflächen auflösenden Kirchenansicht. Am Werkstatttrakt des Bauhauses gewann die Kristallanalogie eine komplexe Aussagekraft, denn es war ja eben das Programm der Schule, industrielle
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Fertigungsweisen in künstlerische Gestaltung zu überführen: Die Stahl-Glas-Technik ist die Voraussetzung dafür, nicht nur eine moderne Fabrik- oder Werkhalle zu realisieren, sondern sie als monumentalen Kristall von absoluter Regelmäßigkeit und perfekter Proportion zu präsentieren. Das Bauhausgebäude ist also weit mehr als eine rein ‚funktionalistische‘ Architektur, obwohl allenthalben technische Innovationen zur Anwendung kamen: von den massengefertigten Stahlrohrmöbeln von Marcel Breuer bis zu den Lüftungsmechanismen in den Glasfassaden des Werkstatttraktes. Ein von Hinnerk Scheper entworfener Farbplan differenzierte einzelne Funktionsbereiche durch verschiedene, harmonisch abgestimmte Farbfassungen von Treppenwangen, Fußböden, Türblättern usw. Die künstliche Beleuchtung erfolgte über dünne, kaum als objekthafte Lampen wahrzunehmende Leuchtstoffröhren, die gleichsam Lichtbahnen unter die Decke zeichneten. So nahm man Inneres wie Äußeres des Bauhausgebäudes als Resultat einer neuen visuellen Kultur wahr, die von den Lehrern und teilweise den Schülern selbst gestaltet wurde. Sich im Bauhaus zu bewegen, etwa die große Treppe zu besteigen, setzte in den Drehungen des Körpers und des Auges wechselnde Farbkompositionen und Ausblicke nach außen frei. Von den Balkonen und der Dachterrasse des Wohntraktes gewannen die am Bauhaus Studierenden ungewöhnliche Perspektiven auf das Schulgebäude, aber auch auf sich selbst als Teil dieser neuartigen Schule des Sehens. Lucia Moholy-Nagy hat diese neuartige visuelle Kultur des Bauhauses auch in ungewöhnlich komponierte Fotografien umgesetzt. Mit dieser kinetischen Erfassung hat es auch zu tun, dass das Bauhaus keine Hauptfassade hat. Die verschiedenen Ansichtsseiten entwickeln sich im Herumgehen, und erst der Blick aus der Luft macht die Baumassenkomposition aus drei Winkeln richtig sinnfällig. Allerdings prangt auf der
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linken Ecke der südlichen Stirnseite des Werkstättentraktes – diese sah man ursprünglich als Erstes bei der üblichen Annäherung an das Gebäude – vertikal und in großen Lettern ausgeführt der Name der Institution (□ vgl. 117). In Verbindung mit der Fensterabfolge rechts davon, vier übereinandergestapelte Querrechtecke, hat diese Stirnseite den Charakter einer typographischen Komposition. Das Schulgebäude des Bauhauses war in Dessau nicht die einzige Architektur, die direkt oder indirekt mit der neuen Lehranstalt zusammenhing. Gropius’ Büro vermochte dank guter Beziehung zur Lokalpolitik weitere wichtige Ensembles zu errichten, nämlich eine ausgedehnte Arbeiterversuchssiedlung im Stadtteil Törten (1926 – 28), das Gebäude des Konsumvereins (1928) und das Arbeitsamt (1927 – 29). Aber im engsten Zusammenhang mit dem Schulgebäude entstanden 1925 – 26 vor allem auch sieben Wohnungen für den Bauhausdirektor und sechs Professoren (□ 118). Es handelt sich um bürgerlich-mittelständische Wohnhäuser, von denen das Direktorenhaus als Einzelwohnhaus (zerstört, seit 2012 rekonstruiert), die übrigen als Doppelvillen konzipiert waren. Als Baumaterial kamen industriell vorgefertigte Produkte zur Anwendung, vor allem sog. Jurkoplatten, also Betonplatten aus Schlacke, Sand und Zement, die gerade noch mit der Hand versetzt werden konnten. Die drei zweigeschossigen Doppelwohnhäuser wurden jeweils so konzipiert, dass jede Haushälfte aus zwei ineinanderdringende, zueinander versetzte Kuben besteht. Der eine, zweigeschossig horizontal organisiert, enthielt den Wohnraum im Erdgeschoss, darüber ein Atelier mit großzügiger Nordbelichtung. Der andere Kubus von drei Etagen beherbergte die Treppe und weitere kleinere Wohnräume. Die beiden Hälften waren aber nicht etwa symmetrisch oder in Reihe zusammengestellt, sondern derart, dass die Treppentrakte einmal im rechten Winkel, einmal in Längsrichtung angefügt sind, zudem
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auf der einen Seite nach vorne, auf der anderen nach hinten verspringen. In den dadurch entstehenden Winkeln sind Terrassen angelegt, und auch die Obergeschosse sind durch Balkone begleitet. Insgesamt entsteht dadurch eine sehr vielfältige Komposition aus doppelwinkelig angeordneten Kuben, der man nicht ansieht, dass sie aus exakt identischen Grundeinheiten bestehen. Diese Standardisierung gilt auch für die Grundstückseinteilung, die aus gleich breiten und jeweils identisch eingeteilten Parzellen besteht. Es handelt sich also um den Versuch einer gestalterisch-technischen Standardisierung und Optimierung, die mit wenigen Grundeinheiten verschiedene Kombinationsmöglichkeiten zulässt. Natürlich müssen dabei die Grundmodule und ihre Binnengrundrisse so konzipiert sein, dass etwa Fenster, Durchgänge und Treppen in verschiedenen Zusammenstellungen sinnvoll passen. Gropius hatte derartige Prinzipien schon 1923 theoretisch in seinem „Baukasten im Großen“ entwickelt; nunmehr
ging es darum nachzuweisen, dass eine derartige Standardisierung bei gleichzeitiger Kombinationsfähigkeit auch praktisch möglich war und sich nicht nur für den Siedlungsbau, sondern für komplexere Einzelhaustypen einsetzen ließ. Der experimentelle Charakter bezog sich auch auf die Innenausstattungen und die farbige Behandlung der Wände. Gropius und Moholy-Nagy entwarfen eine große Variationsbreite an Wandschränken, Tischen sowie Sitzund Liegemöbeln, die später im Bauhausgebäude verwendet bzw. in Serie produziert wurden. Die technische Ausstattung der Küchen setzte innovative Standards, die wenig später auch die sog. Frankfurter Küche beeinflussten |▶ 30|. Die farbige Fassung sollte hingegen die individuelle Ausgestaltungsmöglichkeit der Typenhäuser aufzeigen. Insbesondere das Haus Kandinsky wies eine überraschende Farbigkeit mit einer goldgefassten Nische im rosafarbigen Wohnraum und einem schwarz gestrichenen Esszimmer auf.
□ 118 Dessau, Meisterhäuser des Bauhauses, Walter Gropius, 1925 – 26
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Das Verwaltungsgebäude der IG Farben in Frankfurt Repräsentatives Bauen für die Industrie
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ine der Hauptforderungen der Internationalen Moderne, das Bauen auf industrielle Fertigungsmethoden einzustellen, beruhte auf der moralisch, ökonomisch und politisch untermauerten Notwendigkeit, die architektonische Produktion durch Effizienzsteigerung anzukurbeln und zu verbessern. Das vertrug sich allerdings nicht ohne weiteres mit repräsentativen Bauaufgaben für die Industrie bzw. für staatliche und öffentliche Institutionen. Zwar führte der Anspruch der Moderne, nationale Bezugsrahmen zu überwinden, dazu, sich gerade bei übernationalen Bauaufgaben als besonders kompetent für solch neue Aufgaben zu verstehen. Das bezeugen eine Reihe höchstrangiger Wettbewerbe, so etwa für den Völkerbundpalast in Genf 1927 und den Palast der Sowjets in Moskau 1930 – 34. Hier beteiligte sich die gesamte Architekturavantgarde und errang auch Erfolg versprechende Platzierungen. Letztendlich fehlte diesen Projekten in den Augen der Auslober aber eine repräsentative Monumentalität, und so ging der Zuschlag in diesen Fällen an klassizistische Entwürfe, im Fall des Sowjetpalastes gar an ein hypertroph gesteigertes, 415 m hohes Projekt von Boris Iofan, das von einer 75 m messenden Lenin-Statue bekrönt werden sollte (vgl. S. 54, □ 25). Le Corbusier initiierte nach seinem Scheitern im Wettbewerb für den Völkerbundpalast eine Medienkampagne, deren Ergebnis u. a. die Gründung der Congrès internationaux d’architecture moderne im Jahre 1928 war. Auch im Fall des repräsentativen Bauens für die Verwaltungsbauten der Industrie waren die Kriterien unklar, nach denen der Anspruch auf eine würdige repräsentative
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Außendarstellung mit dem Image von Modernität zu verbinden war. Konsequent moderne Lösungen blieben die Ausnahme, ein Beispiel bietet die Van-Nelle-Tabakfabrik in Rotterdam (1927 – 32, Johannes Brinkman und Leendert van der Vlugt). Eine vielfach beachtete Lösung der Aufgabe stellt das Verwaltungsgebäude der IG Farben in Frankfurt am Main von Hans Poelzig dar. Der Bau sollte die Konzernleitung eines Großunternehmens inklusive Versuchslabore unterbringen. Dieser Zusammenschluss der größten Chemieunternehmen des Deutschen Reichs ging bis auf die Zeit des Ersten Weltkriegs zurück, setzte sich in den 20er Jahren fort und mündete in die Gründung der IG Farben 1925. Damit entstand das europaweit größte Industrieunternehmen seiner Zeit (dessen Potenz in fataler Weise auch von den Nationalsozialisten unter anderem zur Produktion von Zyklon B vereinnahmt werden sollte und das deswegen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgelöst wurde). Aus diesem Grund war ein repräsentatives Verwaltungsgebäude zu errichten, das zugleich den Verwaltungsabläufen optimal genügen musste sowie Modernität und Innovationsgeist als Signum des Trusts anzeigen konnte. Auf den Standort Frankfurt am Main einigte man sich rasch, weil man damit an zentraler Stelle im Reich, aber gleichzeitig nicht an einem der angestammten Standorte der chemischen Industriebetriebe war, sondern gleichsam neutrales Terrain in Anspruch nahm. Außerdem entsprach dies der investitionsorientierten, expansiven städtischen Politik der Stadt Frankfurt, wo sich ein ausgedehntes Grundstück im
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□ 119 Frankfurt a. M., ehem. Verwaltungsgebäude der IG Farben (heute Universität Frankfurt), Hans Poelzig, 1928 – 31, rückwärtige Ansicht
Norden der Stadt anbot, in dem der Bürokomplex eine städtebauliche Dominante setzen konnte. Eine Delegation des Firmentrusts hatte vorab eine Studienreise in die USA unternommen, um sich mit neuesten betriebswirtschaftlichen, administrativen und architektonischen Entwicklungen vertraut zu machen. Dennoch blieb die Konzipierung eine Herausforderung, denn für den Bautypus ‚Verwaltungsgebäude‘ gab es in Deutschland bis auf vielfältige expressionistische Einzelfälle (z. B. das WilhelmMarx-Haus in Düsseldorf, 1922 – 24 von Wilhelm Kreis, das Hansahochhaus in Köln, 1925 von Jacob Koerfer) keine aktuellen Standardlösungen. Diese hatte es durchaus noch vor dem Ersten Weltkrieg gegeben, als häufig die historische Disposition des klassizistischen Palastes den neuen Funktionen angepasst worden war; das gilt auch für die großen Verwaltungsbauten, die etwa Peter Behrens für Mannesmann in Düsseldorf (1911 – 12) und Continental in Hannover (1912 – 14) verwirklicht hatte. Zu-
nächst beauftragte die IG Farben die konzerneigene Bauabteilung mit einem Projekt, das sich aber, als es bereits fundamentiert war, als ungeeignet erwies. Der daraufhin ausgelobte Wettbewerb unter namhaften Architekten erbrachte vielfältige Lösungen. Darunter befand sich auch ein resolut moderner Entwurf der Frankfurter Architekten Martin Elsaesser und Ernst May, der, in Stahl und Glas ausgeführt, ein enthierarchisiertes und asymmetrisches Gebäude präsentierte. Als Gewinner ging allerdings Hans Poelzig hervor, dessen breitschultriger, konvex zurückschwingender Riegel mit sechs kammartig unterteilenden Querbauten eine perfekte Verbindung von belebter Monumentalität, zeitgemäßer Formabstraktion sowie moderner Gebäudetechnik und Erschließung garantierte. Die 1928 – 31 realisierte Gesamtanlage umschließt ein Gelände in Form eines Bogendreiecks, dessen Südseite von dem Hauptgebäude eingenommen wird, während sich nach Norden ein Park anschließt, der
Das Verwaltungsgebäude der IG Farben in Frankfurt
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über Geländestufen in dem sog. Casino, dem eleganten Restaurant des Unternehmens, an der nördlichen Spitze des Dreiecks kulminiert. Eine klar wahrzunehmende Achse führt vom zentralen, portikusbewehrten Eingangsbereich des Hauptgebäudes über eine vollständig verglaste, weit vorspringende Rotunde in dessen rückwärtigem Bereich und ein rechteckiges Bassin in der Mittelachse des Parks zu dem Casino (□ 119). Konstruktiv ist der Bau eine innovative, aufwändige Stahlkonstruktion, die mithilfe modernster Logistik montiert wurde. Dieses Metallskelett ist allerdings mit Platten aus Cannstätter Travertin verkleidet, die dem Äußeren des Gebäudes eine variationsreiche Farbigkeit von gelbgrau zu ockergelb verleihen. Diese Warmtonigkeit verändert sich je nach Sonneneinstrahlung, die zudem auf der bogenförmig sich nach vorne biegenden Hauptfassade unterschiedlichste Schattenbildungen bewirkt. Poelzig hat die steinerne Verkleidung so komponiert, dass gleichermaßen Referenzen auf die Tradition wie auf moderne Gestaltungsprinzipien deutlich werden: Die Fensterreihen sind an den Querriegeln zwar etagenweise zu horizontalen Bändern zusammengefasst, doch alle Reihen sind von wuchtigen, leicht hervortretenden Lisenen an den Kanten bzw. einer Art Attikazone umfahren, so dass insgesamt eine monumentale Rahmung entsteht. Im unteren Teil sind die Wände wie bei einem traditionellen Gebäudesockel leicht geböscht, also geneigt. Das vermittelt dem Gebäude eine solide Standfestigkeit, und die Travertinverkleidung erinnert an das Hauptmaterial der römischen Barockarchitektur. Nach oben hingegen schließt das Gebäude mit einem Flachdach ab, eindeutiges Signum einer modernen, kubisch-abstrakt sich darbietenden Architektur. Auch im Inneren gibt es zahlreiche derartige Ambivalenzen: Der Hauptflügel wird in voller Länge (250 m!) pro Etage von einem durchgehenden, nordseitig belichteten Korridor er-
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schlossen (sog. einbündiges System); doch wegen der Kurvierung der Traktes entschwinden die Korridorenden aus dem Blick. Im zentralen Eingangsbereich, einem weit ausladenden Oval, das das gesamte Gebäude durchdringt, führen seitlich, sanft sich in die Innenwand einschmiegend, breite Treppenläufe auf das Niveau der Ersten Etage, die hier in einer Art Brücke quert (□ 120). Von hier ging es ehemals in die Vorstandsbüros und den Sitzungssaal des Aufsichtsrates, ohne dass diese Räume deswegen als Erben fürstlicher Festsäle in der Beletage wahrzunehmen sind. Eleganz und Innovation teilen sich unmittelbar in den Materialien des Eingangsbereiches mit: Den Ockergrundton übernehmen nunmehr aber verschieden modulierte, aufwendig polierte Marmorsorten, die aber ergänzt werden durch eine Decke mit Aluminiumauftrag. Dieser strahlt nicht nur diffuse Helligkeit ins Innere ab, sondern teilt sich auch als durchaus edles Produkt moderner chemischer Industrie mit. Überall kamen die Produkte der IG Farben zum Einsatz: Türen und Wände waren mit neuartigen Nitrolacken bzw. Caparol-Farben gestrichen, wobei der Farbton in jedem Geschoss wechselte. Aus der Firmenproduktion entstammten auch das Linoleum und die Gardinen. Diese Produktpräsentation war auch Aufgabe der großen Glasrotunde im rückwärtigen Teil, die als Fortsetzung der halbovalen Eingangshalle deren Grundriss zum Garten spiegelt (□ vgl. 119): Durch technisch aufwendig produziertes großflächiges und entsprechend der Rundung leicht gekrümmtes Glas strömt das Tageslicht in eine Präsentation von wichtigen Produkten der IG Farben. Im rückwärtigen Teil des Gebäudes verläuft die Achse des Eingangsbereichs weiter, führt über das große längsrechteckige Wasserbassin zu einer Geländekante, von der aus ein Wasserfall das Becken speist. Darüber ist die Bronzeskulptur eines sitzenden Frauenaktes von Fritz Klimsch aufgestellt, die gelassen sinnend über das Gelände zu blicken scheint. Diese Skulptur
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bildet die einzige Bauplastik in dem Gebäudekomplex, doch entgegen den Praktiken der Zeit um 1900 hat sie keine den Bau dekorativ auszeichnende oder die Firma allegorisch bezeichnende Funktion, sondern steht in Frankfurt gleichsam museal isoliert – sie ist Ausdruck dafür, dass hier die Wertschätzung für Gegenwartskunst herrschte. Wenn die Skulptur von Klimsch indes trotz aller abstrahierender Vereinfachungen auf eine belebte, ja sinnliche Natürlichkeit nicht verzichtet, so entspricht das durchaus auch der Architekturauffassung Poelzigs: Denn obwohl hier moderne Technik vielfältig eingesetzt, auch auf überbordenden Prunk verzichtet worden und stattdessen eine großformatige Abstraktion der Baumassen verwirklicht ist, so geht es doch in der Kurvierung des Gebäudes, seiner warmtonigen, sinnlich rauen Verkleidung oder seinen Bezügen zum barocken Garten darum, Tradition und synästhetisches Erleben der Architektur miteinander zu verbinden. Poelzig, damals Präsident des Bundes Deutscher Architekten, hat eine derartige Synthese damals auch programmatisch als
Ausweg aus den Extrempositionen der Moderne benannt und gefordert, eine neue Symbolik im ‚Raumorchester‘ der Architektur zu kreieren. Der für die Erbauung Hauptverantwortliche innerhalb der IG Farben war der Aufsichtsratsvorsitzende Georg von Schnitzler, der zusammen mit seiner Frau Lilly als kunstsinniger Promotor und Förderer der Moderne auftrat. In diesem Zusammenhang ist der Frankfurter Bau auch mit einer Ikone des Neuen Bauens in Deutschland zu verbinden: dem deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona von 1929 (□ 121). Es ist maßgeblich der Initiative und finanziellen Förderung von Schnitzlers zu verdanken, dass der Auftrag dafür an den stellvertretenden Werkbundvorsitzenden Mies van der Rohe erging und verwirklicht werden konnte. Nach der Abtragung des Pavillons am Ende der Ausstellung wurde er 1984 – 86 an der gleichen Stelle rekonstruiert. Er bildet □ 120 Frankfurt a. M., ehem. Verwaltungsgebäude der IG Farben (heute Universität Frankfurt), Hans Poelzig, 1928 – 31, Eingangshalle
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□ 121 Barcelona, Pavillon des Deutschen Reichs, Ludwig Mies van der Rohe, 1929 (hist. Aufnahme)
eine längsrechteckige flache Architektur, die, auf einem langgestreckten Sockel sich erhebend, am ehesten einem Bungalow gleicht, in Wirklichkeit aber eine reine Ausstellungsarchitektur darstellt. Zwei Reihen von extrem grazilen, verchromten Stützen auf kreuzförmigem Grundriss scheinen eine weit auskragende längsrechteckige Dachplatte zu tragen. Darin eingestellt sind eine – ebenfalls tragende – Wand aus gelblich-goldfarbenem Onyx sowie Wände aus Glaspaneelen in verchromten Edelstahlrahmen. Allerdings erscheinen diese Wände nur abschnittweise, so dass kein Raum umschlossen wird, sich dieser vielmehr vielfältig öffnet. Auf der einen Schmalseite mündet
III. Schlüsselwerke
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der Pavillon in ein vollständig von einer Mauer umfasstes Bassin, in dessen einer Ecke sich die Skulptur „Morgen“ von Georg Kolbe erhebt. Der anderen Schmalseite vorgelagert ist ein langes Wasserbassin, hinter dem sich eine Mauer in Höhe des Pavillons erstreckt und in dessen hintere Flucht übergeht. Die langgestreckten Wände aus Stein und Glas bilden fluchtende Perspektiven, überraschende Durchsichten, Spiegelungen und Reflektionen. Die Ausstattung war auf ein Minimum beschränkt: Sessel, Hocker, Tisch, alles vor der Onyx-Wand platziert. Zu erleben ist diese vollständige Auflösung der Grenze von Innen und Außen zugunsten eines ‚fließenden Raums‘ durch ein kurvenreiches Durchschreiten oder Gleiten. Essentielle Funktionen der Architektur scheinen hier außer Kraft gesetzt, etwa ihr schützendes Umhüllen, ihre Definition von Räumen, ihre Veranschaulichung von Tragen und Lasten. Trotz dieser Radikalität gibt es wichtige Bezüge zum IG-Farben-Gebäude in Frankfurt, die nicht nur in Georg von Schnitzler als dem gemeinsamen spiritus rector zu fassen sind. Denn auch der Barcelona-Pavillon führt in der Verchromungstechnik und dem Stützenaufbau sowie den großflächigen Glaspaneelen modernste industrielle Fertigungen vor. Auch erinnert er in seiner insgesamt regelhaften Anordnung von Stützen auf einem Sockel an Prinzipien des griechischen Tempels und legt dabei wie das Frankfurter Gebäude sehr großen Wert auf Material- und Oberflächeneffekte. Schließlich ist auch die gleichsam museale Inszenierung klassizistischer weiblicher Aktskulpturen innerhalb eines vielfältig instrumentierten ‚Raumorchesters‘ vergleichbar. Mies van der Rohe schuf hier ebenso wie Hans Poelzig nicht nur industrielles Bauen, sondern die repräsentative Architektur einer modernen Industrie. Wirksam wurde das vor allem nach dem Krieg, wie nicht zuletzt die eleganten Hochhausverwaltungsbauten, gerade auch im Spätwerk von Mies van der Rohe, deutlich machen |▶ 40|.
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Haus Schminke in Löbau Organische Moderne
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ie ‚Internationale Moderne‘ wurde bereits 1932 als ein neuer ‚Stil‘ präsentiert: Auf einer spektakulären Ausstellung im Museum of Modern Art präsentierten der Architekturhistoriker Henry-Russell Hitchcock jr. und der Architekt Philip Johnson die neue europäische Architektur (vgl. S. 92). Ihre Protagonisten wie Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe oder Le Corbusier waren somit – in einigen Fällen binnen weniger Jahre – zu Stararchitekten aufgestiegen. Ebenso hatte umgehend die Historisierung der jungen Bewegung eingesetzt: Denn die beiden Kuratoren vertraten nicht die Auffassung, die neue Architektur sei ein Produkt aus Gebrauchsfunktionen, Technologien und Ökonomie, sondern präsentierten sie als einen neuen, eben den internationalen ‚Stil‘. Konsequenterweise wurde in dem Katalog der Versuch unternommen, dessen formale Kriterien zu definieren. Dazu gehörten vor allem geometrisch klare, wie schwebend erscheinende Volumina, horizontale Fensterbänder und frei fließende Grundrisse. Diese formalistische, bis heute populäre Auffassungen bestimmende Definition der Moderne unterdrückte aber, dass es auch ein sog. organisches Bauen gab, das die Architektur nicht über ästhetisch-formale Grundprinzipien definierte, sondern aus einer jeweils individuellen und komplexen Funktionserfüllung. Die Ergebnisse dieser architektonischen Konzeption konnten selbstverständlich keine geometrisch regelmäßigen Formen sein, sondern vielfältig strukturierte Gebilde. Eine der schönsten Lösungen dieser ‚organischen Architektur‘ stellt die Villa dar, die Hans Scharoun 1930 – 33 für die Familie des Nudelfabrikanten Fritz Schminke in Löbau in Sachsen erbaute. Der Auftrag lautete auf eine
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eher bescheidene Villa, da – durchaus modern – die Ehefrau Charlotte Schminke sich um die Kindererziehung und Gartenpflege kümmern wollte und somit nur mit einer Hausangestellten als Mitbewohnerin zu rechnen war. Die Aufmerksamkeit Scharouns galt insbesondere der guten Ausrichtung aller Räume, der Einbettung in den recht großen Garten und die Innengestaltung des als ausgefachte Eisenskelettkonstruktion erbauten Wohnhauses. Es bildet einen verhältnismäßig langgestreckten, zweigeschossigen Flügel in Ost-West-Ausrichtung, der an den Enden in jeweils gegenläufiger Richtung in einem flachen Winkel von 26° abgeknickt ist (□ 122). Im Westteil durchdringt ein blockartiger Körper das Haus, füllt somit hier den Grundrisswinkel auf und tritt im Norden wie ein Erker nach außen. Auf der dadurch entstehenden weiten Grundrissfläche sind Eingang, Mädchenzimmer, Küche sowie eine über beide Geschosse gehende Halle angelegt, in der sich ein Kinderbereich und die Essdiele (im Erker) sowie die Treppe zum Obergeschoss befinden. Diese verläuft entlang der abknickenden Achse, schneidet deswegen schräg in die Wohnhalle und führt in einer Empore über die Essdiele hinweg zu einer Gästewohnung und den verhältnismäßig kleinen Schlafzimmern. Im Erdgeschoss schließt nach Osten vermittels einer Schiebetür der große, fast vollständig verglaste Wohnbereich an die Halle an (□ 123). Sie besteht aus einem Wohn- und Musikzimmer im Hauptflügel sowie aus einem durch gläserne Schiebetüren abgeteilten Speisezimmer, das in dem verschwenkten Nordschenkel eingerichtet ist. Vollständig verglast, erinnert dieser Raum an einen Wintergarten. Im Süden endet er in einem großen, bepflanzten Blumenfenster
Haus Schminke in Löbau
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□ 122 Löbau in Sachsen, Haus Schminke, Hans Scharoun, 1930 – 33, Ansicht von Norden
mit schräger Außenverglasung, ein veritables kleines Gewächshaus. Da das Haus auf einer Geländekante errichtet ist, ragt es mit seinem Ende auf der Nordostseite wie schwebend in den Gartenbereich hinein, dessen Zentrum einstmals ein Teich bildete (□ vgl. 122). Dieses Vorkragen wirkt vor allem deswegen spektakulär, weil an dieser Seite alle Etagen als Terrassen enden und auch das flache Dach darüber hinweggezogen ist. Somit entstehen drei flache Tragböden, die jeweils unterschiedlich abgeschrägt sind: Das Dach etwa endet in einem abgerundeten 26°-Winkel. Gerade in der Untersicht scheint sich dieser spitze Keil bugartig in den Himmel zu bohren. Eine in der Flucht der Grundrissknickung, also parallel zum Aufgang der Wohnhalle angebrachte Außentreppe verbindet die beiden Etagen und führt nach unten weiter in den Garten. Das Haus Schminke ist ein Musterbeispiel für die oft, etwa von Le Corbusier, beschworene Analogie moderner Bauten mit Schiffen. Diese Metapher bezieht sich auf den Anspruch, eine autonome, technisch effiziente Funktionsein-
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heit zu bilden, assoziiert aber auch die internationale Mobilität ihrer Benutzer sowie den Glamour der Ozeandampfer. Am Haus Schminke wirken die Terrassen wie Schiffsdecks, zumal das Außengeländer aus Stahl mit einer Metallgitterfüllung besteht. Die seitlich angebrachte Außentreppe macht das Haus gleichsam zu einem Schiffsrumpf, der von einer Hafenmole betreten werden kann. In der Tat hat Scharoun die Villa als „Lebensschiff“ der Familie Schminke bezeichnet. Die eigentliche Qualität liegt aber nicht in solchen Assoziationen, sondern in der subtil und komplex auf verschiedene Wohnqualitäten bezogenen inneren Organisation des Hauses. Es verfügt über alle für eine derartige Bauaufgabe üblichen Räume: Halle, Esszimmer, Musikzimmer, Salon, Domestiken- und Gästewohnung, Schlafzimmer. Doch sind diese neu ausgestaltet und flexibel kombiniert. Die Halle etwa vereint den Esserker, den Kinderbereich und den Treppenaufgang in einem großen Raumkontinuum, bildet den Kreuzungspunkt des alltäglichen Familienlebens – der Handlauf der recht flach geführten Treppe war auch als
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Rutsche für die Kinder gedacht! Die Essdiele erhält Intimität und Bezug zum Außen, indem sie sich unter die Empore und in den nach außen ausladenden Erker duckt. Von diesem Bereich klar abgetrennt, aber weit gegeneinander zu öffnen, erscheinen die sehr großen Räume von Wohnzimmer und Wintergarten. Sie sind von allen Seiten durch Licht erfüllt, bieten aber eine Reihe interner Raumeinteilungen und Bezugnahmen zur umgebenden Natur. Ein offener Kamin akzentuiert die Mitte der Nordseite des Wohnzimmers, eine L-förmige Sofasitzgruppe antwortet gegenüber darauf. Östlich abgesetzt davon steht der Flügel. Beide Räume können durch Glasschiebetüren voneinander abgegrenzt werden, der dunkelblaue Veloursboden im Musiksalon differiert mit dem dunklen Marmorfußboden im Wintergarten. Von hier geht es auf die Außenterrassen und zum Garten, der in Form des großen Blumenfensters bereits schon innerhalb des Hauses beginnt (□ vgl. 123). Die beiden Räume enthalten mit ihrer geknickten Achse verschiedene Blickrichtungen und Ausblicke. Sie konnten aber auch vollständig durch Vorhänge geschlossen werden, dann übernahm eine ausgeklügelte Licht-
regie die Raumunterteilung. Im Musiksalon schufen Deckenfluter Lichtinseln, im Wintergarten ist an der Decke ein origineller Beleuchtungskörper in Form eines großen Rasters rot hinterlegter Rundöffnungen angebracht, in die in einem bestimmten Rhythmus Kugelleuchten eingelassen sind. Eine durchdachte Farbigkeit unterstützte diese Schaffung unterschiedlichster Ambientes. Die Eingangshalle war in verschiedenen Weißabtönungen gehalten, damit kontrastierte der dunkle Parkettfußboden und die Treppen mit blauen und schwarzen Stufen und dem in Weiß und Rot gestrichenen Geländer. Darüber erstreckte sich eine orangefarbene Decke. Im Musikzimmer dominierte der dunkle Teppich, im Wintergarten die Naturfarbigkeit des Außenbereichs. Zahlreiche Lichteffekte ließen das Innere des Hauses funkeln, verstärkt durch verschiedene eingravierte Musterungen der Glasscheiben, zum Beispiel zwischen Wintergarten und Musiksalon, sowie die Schattenstreifen der Gestänge von Außentreppe und Geländer. All das kann gegeneinander vielfältig □ 123 Löbau in Sachsen, Haus Schminke, Hans Scharoun, 1930 – 33, Blick aus dem Musiksalon in das Esszimmer
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geöffnet und geschlossen werden, von den Terrassen gibt es verschiedenartige Blickpunkte und auch das Besteigen der Treppen außen und innen hat eine eigene Erlebnisqualität. Im Eingangsbereich überrascht ein kleiner Okulus, der einen eigenartigen runden Ausschnitt des Äußeren nach innen einlässt. So wird das traditionelle Raumprogramm einer Villa neu zusammengefügt. Einerseits sind Wohn-, Schlaf- und Wirtschaftsbereich klar voneinander geschieden und die Raumgrößen stark unterschiedlich, andererseits werden bestimmte Wohnfunktionen flexibel in einer Raumeinheit aufeinander bezogen. Dadurch entsteht der Eindruck von Weite, der dadurch verstärkt wird, dass sich das Haus an allen möglichen Stellen zu Licht und Landschaft öffnet. Insofern bildet das Haus einen vielfältig wandelbaren Erlebniskörper, in dem subtil verschiedenste Funktionen des Wohnens miteinander verbunden sind. Man kann es als einen Organismus begreifen, in dem verschiedene funktionelle Einheiten eng aufeinander bezogen sind und insgesamt eine lebendige Einheit bilden. Lebendig ist sie insofern, als die Architektur mit den Bewohnern interagieren kann, intensiv mit dem natürlichen Außenraum verschränkt ist, der im Fall des Blumenfensters wortwörtlich in das Innere gerückt wurde. Vor allem aber äußert es sich darin, dass das natürliche Licht, das Wetter sowie die Tages- und Jahreszeiten intensiv erlebt werden können. In solchen Kriterien unterscheidet sich Scharouns Architektur durchaus von Auffassungen, die geometrische Grundprinzipien zum konzeptuellen Ausgangspunkt des Bauens machen |▶ 27, 28, 31|. Ähnliche Kriterien wie bei Scharoun werden auch gleichzeitig im Werk von Hugo Häring wirksam, der in seinem Mustergut Garkau bei Klingberg (1922 – 28) ein Hauptbeispiel des „organischen Bauens“ realisiert hatte. Eine präzise Analyse der Funktionsabläufe bei der Großtierhaltung lässt etwa einen im Grundriss trop-
III. Schlüsselwerke
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fenförmigen Kuhstall entstehen, der von dynamisch außen vorstoßenden Anbauten umgeben ist. Ähnlich wie bei Scharouns Entwürfen für öffentliche Bauten geht es darum, die Bewegung von Lebewesen in Baulichkeiten zu fassen. Wenn sich solches in der Architektur in bewegten, plastisch-dynamischen Formen äußert, ergeben sich auch formale Analogien zu belebten Naturformen. Insofern hat man hier von „organischer Architektur“ gesprochen und ordnet ihr gemeinhin das Werk von Henry van de Velde, Hans Poelzig |▶ 32|, Erich Mendelsohn, Hugo Häring, Adolf Rading, Hans Scharoun und Alvar Aalto |▶ 41| zu (Brinitzer 2006). All diese Architekten arbeiten meist mit je nach Bau individuell und komplex funktional verstandenen Kriterien, was sich in plastisch modellierenden, häufig schwingend dynamischen Formen niederschlägt, die erkennbar nicht Orthogonalität und Raster als universell einsetzbare Grundmuster des Bauens zugrunde legen. Allerdings ist der Begriff der „organischen Architektur“ insofern problematisch, als er vom Wortführer des organischen Bauens in den 20er Jahren, Hugo Häring, als Gegenbegriff zu den „geometrischen Kulturen“ verwendet wurde, die er vor allem mit den Rasterstadtplänen Le Corbusiers verband (|▶ 37|, Schirren 2001). Wenn Häring fordert, „organhaftes“ Bauen jeweils individuell gemäß dem Leben der komplex gestaltenden Natur zu konzipieren, wendet er sich dezidiert gegen ein Neues Bauen, das glaubt, in abstrahierend reinen geometrischen Gestaltprinzipien allgemein gültige Architekturprinzipien formuliert zu haben. Bei Häring schwingen hierbei allerdings kulturelle Stereotype mit, die eine angeblich französisch-lateinische Klassik und Rationalität gegen ein angeblich deutsches, romantisches Naturbewusstsein setzen. Die Wirklichkeit ist komplexer, denn Scharouns und Härings dynamisierte Innenräume mit ihren vielfältigen Perspektiven und Farbeffekten führen zum einen Ansprüche weiter, die etwa im Jugendstil bereits formuliert waren, wie etwa
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die Häuser von Victor Horta zeigen |▶ 19|. Zum anderen hatten auch die Arts-and-Crafts- und die englische Landhausbewegung darauf insistiert, die funktionalen Untereinheiten eines Hauses, insbesondere die richtige Raumanordnung, -größe und –orientierung zur Grundlage des Entwurfs zu machen. Dies hatte sich schon um 1900 etwa bei Fritz Schumacher explizit in der Grundforderung eines „architektonischen Organismus“ niedergeschlagen (Schirren 2001, S. 19) und war implizit auch in der Lehre von Theodor Fischer |▶ 22| präsent. Beide Figuren sollten für Häring prägend werden und dieser
wiederum Scharoun beeinflussen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der Begriff der „organischen Architektur“ wieder Hochkonjunktur, verband sich insbesondere etwa bei dem Architekten und Städteplaner Hans Bernhard Reichow mit dem Konzept der Stadtlandschaft („Organische Stadtbaukunst“, 1948). Dies war die Grundlage, auf der Scharoun seinen berühmten Kollektivplan für Berlin 1946 entwarf: eine durchgrünte Landschaft entlang der Spree, in der die Architekturen und Wohnsiedlungen wie Elemente einer schönen Landschaft zusammenwirken sollten |▶ 38|.
Casa del Fascio in Como Modernes Bauen im faschistischen Italien
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as Bauen in den totalitären Diktaturen des 20. Jh.s ist keineswegs automatisch qualitätslos, lügnerisch oder rückwärtsgewandt (vgl. S. 60 – 64). In der Sowjetunion herrschte bis 1933/34 eine konstruktivistische Spielart des Internationalen Bauens, die das revolutionäre, auf die ganze Welt gerichtete Potential des Kommunismus in gebaute Umwelt umsetzen sollte. Aber auch im italienischen Faschismus entwickelt der sog. razionalismo Strategien, faschistische Massenmobilisierung, technische Innovation und staatliche Neuordnung in intelligente architektonische Ausformungen umzusetzen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass sich das historistische Bauen in Italien fast unangefochten bis in die Zwischenkriegszeit erstreckte. Als Adalberto Libera, Giuseppe Terragni und andere junge Architekten 1926 mit der avantgardistischen gruppo 7 den razionalismo initiierten, war Mussolini bereits vier Jahre lang an der Macht. Es ging nunmehr darum, innerhalb der Aufbruchsstimmung
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des italienischen Faschismus mit den anderen nationalen Avantgardebewegungen gleichzuziehen, um das italienische Innovationspotential herauszustellen. Dabei zielte man darauf, eine geringe Zahl von Bautypen zu generieren, die sich aus der römischen Antike ableiteten und in der Gegenwart eine neue ;Klassik‘ als Gegenentwurf zum italienischen Art déco (novecento) bzw. dem Jugendstil (stile Liberty), vor allem aber gegenüber dem monumentalen puristischen Klassizismus eines Marcello Piacentini (Anlage der Via dei Fori imperiali 1932, Planung der Città universitaria 1932 – 35 und der Esposizione universale di Roma, 1936 – 43, alles in Rom, □ vgl. 29) zu formulieren. Dabei muss betont werden, dass etwa Terragni seine Architektur keineswegs als opportunistisch-unpolitisch bzw. als reines Formexperiment oder gar als latent kritisch verstand; im Gegenteil trat er 1928 in die faschistische Bewegung ein. Das zeigt sich in seinem Hauptwerk schon in der Bauaufgabe selbst: Die Casa del Fascio in
Casa del Fascio in Como
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Como wurde 1932 – 36 im Auftrag der faschistischen Partei Mussolinis, der Stadt Como und der neuen Freizeitorganisation Dopolavoro aus Anlass der Zehnjahresfeier der Machtübernahme des Duce errichtet. Sie diente zugleich als lokale Parteizentrale, Versammlungsstätte und Gefallenendenkmal sowie als Verwaltungsort einer Reihe faschistischer Organisationen. Die politische Bedeutsamkeit kommt allein dadurch zum Ausdruck, dass der Bau in Sichtweite des Domes liegt und damit mit der Erbauung ein neuer urbanistischer Akzent entstand. Die
□ 124 Como, ehem. Casa del Fascio, Giuseppe Terragni, 1932 – 36, Grundriss des Erdgeschosses
mit hellem Marmor verkleidete Eisenbetonkonstruktion erhebt sich auf einem exakt quadratischen Grundriss von 33 m Seitenlänge und erreicht in der Höhe die Hälfe einer Seite, bildet also einen halbierten Würfel bzw. jede Fassade zwei Quadrate (□ 124). Diese kubische Grundform ist konzeptuell als ein dreidimensionales Raster von 8 × 8 × 5 Gitterebenen (bzw. 7 × 7 × 4 Joche) gedacht. Allerdings ist das nicht streng regelmäßig gelöst, weil im Fassadenjoch die Stützreihe gegen den geometrischen Rhythmus nach hinten und im rechten Joch die erste
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Stützenreihe nach außen versetzt sind. In diese Gitterstruktur sind nach einem ausgeklügelten System Trennmauern, Fassadenwände und Öffnungen eingefügt, so dass eine abstrakte räumliche Struktur entsteht, die aber gleichwohl eine Reihe von historischen Referenzen andeutet. In sehr allgemeinem Sinne wird die blockhafte Gliederstruktur des griechischen Tempels aufgenommen oder aber auch eines venezianischen Palastes mit seiner durch ein Vestibül geöffneten blockhaften Gesamtdisposition. Denn im Prinzip stellt sich auch die Casa del Fascio als ein von vier Fassaden umgebener Block dar, der sich im Erdgeschoss vermittels einer zentralen Glasfront in eine tiefe, die ganze Gebäudetiefe durchmessende Halle öffnet (□ 125). Im ersten Geschoss umläuft eine Innengalerie die auf halber Gebäudehöhe durch ein Glasdach gedeckte Halle, fassadenseitig und rückwärtig werden die Seitentrakte durch Flügel mit Büros geschlossen. In den beiden Geschossen darüber setzt sich diese Vierflügeldisposition mit einem innen liegenden Lichthof fort. Dieser ist in seinem quadratischen Grundriss der Außenkontur vergleichbar, bildet in dem vom ihm umschlossenen Raumvolumen also einen (allerdings vom Glasdach auf halber Höhe durchschnittenen) Würfel. Das Betongerüstgitter ist an einigen Stellen ostentativ freigelegt, vor allem an der Rückfassade sowie an der Vorderfront. Hier nämlich tritt, um eine loggienähnliche Raumschicht zu ermöglichen, die Wandbegrenzung etwas hinter das die Fassade in voller Höhe durchlaufende Gitter zurück. Im oberen Teil öffnet sich sogar eine Dachterrasse, doch auch über dieser setzen sich die Balken der Oberseite des Würfelgitters fort. Allerdings ist an dieser Hauptfassade die Gitterstruktur nur über fünf Jocheinheiten freigelegt, der rechte Teil ist als hochrechteckige Marmorfläche davorgelegt. Derartige Prinzipien gelten auch für die anderen Schauseiten. Hier sind in verschiedenen Variationen die Rasterfelder nur partiell geschlossen, dafür aber etwa eine
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horizontale Rechtecköffnung L-förmig mit einer quadratischen Öffnung kombiniert. Dieses Muster wird nicht über die gesamte Fassade wiederholt, sondern folgt den Funktionen der dahinter liegenden Räume, die sich aber meist über mehrere Etagen gleichen. Somit entstehen auf jeder Schauseite vertikale Einheiten jeweils identischer Ausfachungen und Öffnungsmuster. Diese lassen sich optisch zu größeren kompositorischen Mustern zusammenfassen, etwa zu einem zentralen Feld von 3 × 5 Fächern, das an der Rückfassade entsteht und somit den Querschnitt der inneren Halle nach außen andeutet. Das Thema der Transparenz, das durch die vielfältige Freilegung der Gitterfächer entsteht, ist auch im Inneren präsent, wo zahlreiche Räume nicht durch feste Mauern, sondern vermittels Glasbausteinen voneinander abgegrenzt sind. Vor allem der Eingangsbereich überrascht in dieser Hinsicht. Seine etwas zurückgesetzte, also verschattete, aber verglaste Vorderfront öffnet sich nämlich in 16 in Batterie gesetzten Glastüren. Diese Lösung dient nicht nur einer opulenten Belichtung und
Sicht nach außen – auf den Dom! –, sondern erlaubt ein gleichzeitiges Betreten bzw. Verlassen des Gebäudes. Hier setzt Terragni programmatisch die faschistische Massenmobilisierung in Architektur um: Die Casa del Fascio ist kein Verwaltungsgebäude, sondern ein Ort, an dem das kollektive Erstürmen der Parteizentrale bzw. der Stadt inszeniert werden sollte. Das betrifft auch die weitere Erschließung des Gebäudes, denn nach Betreten der Halle wurde man über eine seitlich gelegene große Treppe zum Versammlungssaal der Parteiführung auf dem ersten Stockwerk – dem klassischen piano nobile – geleitet, wo ein futuristisches Wandgemälde von Mario Radice ein abstraktes Standportrait des Duce zeigte, der bei jeder Versammlung wortwörtlich hinter den Versammelten stand. Auch die Loggien auf der Hauptfassade dienten als Tribünen für Massenveranstaltungen, und die große Marmorfläche auf der rechten Fassadenseite sollte mit riesigen Propagandafotos der faschistischen Bewegung versehen werden. Deren Motto prangte auf einer großen futuristischen Collage im Inneren:
□ 125 Como, ehem. Casa del Fascio, Giuseppe Terragni, 1932 – 36, Hauptfassade
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ordine – autorità – giustizia. Das musste auch omnipräsent sein und erforderte insofern die weitgehende Transparenz bzw. Öffnung des Gebäudes – in der Tat hatte Mussolini den italienischen Faschismus mit einem ‚Haus aus Glas‘ verglichen, um die allgegenwärtige Präsenz der Massenmobilisierung auszudrücken. Will man Terragnis Architektur historisch einordnen, so sind sicherlich vor allem die Pariser Vorortvillen der 20er Jahre von Le Corbusier (Villa Stein-de Monzie, Villa Savoye, vgl. □ 22 und S. 50) ein sehr wichtiger Bezugspunkt. Auch sie gehen von würfelförmigen Grunddispositionen aus, die ausgehöhlt und unterschnitten werden. Allerdings basieren sie konzeptuell auf nach innen gesetzten Stützen, die eine Tragwerkdecke tragen. Terragni ist hier radikaler, denn seine Bauten nehmen ein Rastergitter zum Ausgangspunkt der Konzeption. Auch dieses kann man etwa bis auf Jean Louis Nicolas Durand um 1800 zurückführen, der eine modulare Rasternormierung entwickelt hatte, um darin jedweden Architekturtypus unbelastet von historischen Gewohnheiten einfügen zu können (vgl. S. 80). Bei Terragni ist dieser Entwurfsraster aber auch als konkrete, monolithische und in sich stabile Betongitterkonstruktion präsent. Diese ist nicht mehr auf den Ausgleich von Tragen und Lasten angewiesen, wie das für die aufeinandergeschichtete Steinarchitektur der Fall ist. Das homogene Betonskelett ist davon unabhängig, könnte gleichsam auch umgedreht werden, ohne an Festigkeit zu verlieren. In dieser Eigenschaft wurde und wird der Stahlbeton für zahllose Nutzbauten angewandt. Terragni legt aber die aus dem Rastergitter abgeleiteten Gestaltungsprozesse gleichsam frei: Es liegt offen zutage, kann aber auch verhüllt werden. Mauern und Jochachsen können in Bezug auf das Raster versetzt und verändert werden, Stützen weggenommen und zugefügt werden. Aus solchen Operationen ergeben sich Fassadenkompositionen und Raumeinteilungen, Proportionierung
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und stadträumliche Wirkung, und ebenfalls andeutungsweise Bezüge auf historische Architekturen wie den Renaissancepalazzo. Die konzeptuelle Stringenz und Intelligenz hat dazu geführt, dass der razionalismo nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus fortlebte. Aldo Rossis Anspruch, Haustypologien historisch zurückzuverfolgen und in stereometrischen Gebilden zu synthetisieren (vgl. S. 93), zählt hier ebenso dazu wie die Wiederaufnahme des Rastergitters als konzeptueller Grundlage bei stark theoretisch ausgerichteten Architekten wie Oswald Matthias Ungers und Peter Eisenman |▶ 49|. Umso drängender stellt sich die Frage, wie der Anspruch des razionalismo, eine spezifisch faschistische Architektur zu entwickeln, moralisch zu beurteilen ist. Die Formen und Gestaltkonzepte leisten eine solche Programmatik für sich sicherlich nicht, genauso wie ein monumentaler Klassizismus eines Albert Speer oder Marcello Piacentini zunächst einmal ‚unschuldig‘ ist. Doch zur Geschichte der Architektur gehört auch die Frage, von wem, wie und warum die architektonischen Gegebenheiten mit Bedeutung aufgeladen werden und wie sich diese Konnotationen wiederum dauerhaft mit Formen verbinden. Und hier erweist sich die radikale Innovation des razionalismo als weitaus weniger vorbelastet als der monumentale Klassizismus, den fast alle totalitären Systeme Europas zum Staatsstil erhoben. Dahinter steckte eine Auffassung von ‚Klassik‘ als einer vollendeten formalen Repräsentationsleistung, einer perfekten Harmonie von Form und Inhalt. Diese Qualitäten sind meist Teil einer ganzheitlichen Weltauffassung, in der Kunst und Architektur als ideale Repräsentation aller Lebensbereiche (Körper, Moral, Religion, Staat) gedacht wird. In fast allen Klassikauffassungen fungiert die Kultur der Antike, v. a. die griechische Kultur des 5./4. Jh.s v. Chr. bzw. in Italien die römische Kaiserzeit, als unumstößliches Ideal. Da Klassik insoweit auf der Grundlage eines historischen Bewusstseins definiert wird,
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erscheint sie als ein überzeitliche Gültigkeit beanspruchender Gegenentwurf einer als dekadent kritisierten Gegenwart. Angesichts ihres ganzheitlichen Anspruchs unterscheidet sich Klassik in diesem Sinne von einer rein oberflächlichen Nachahmung antiker Vorbilder. Wenn also die neoklassizistische Moderne in den Diktaturen zum Staatsstil erhoben wurde, so liegt das daran, dass solchermaßen eine über alle historischen Epochen und bis weit in die Zukunft reichende Kontinuität ganzheitlicher Harmonie postuliert werden konnte. Der
Neoklassizismus erscheint wie die Wiederherstellung dieser totalitär erreichten angeblichen Perfektion, die Monumentalität suggeriert die Unzerstörbarkeit und die ewige Dauer dieser Systeme. Hiervon unterscheidet sich der italienische razionalimo allerdings durchaus. Trotz aller emphatischen Bekenntnisse von Terragni zu Mussolini und zu einer neuen ‚Klassik‘ und trotz aller Hinweise auf historische Architektur kann man die Casa del Fascio doch nicht einfach als ewig gültige Wiedergeburt antiker Idealität verstehen.
Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg Staatsarchitektur im Nationalsozialismus
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olitik und Architektur gehören eng zusammen, denn beide gestalten und ordnen Gesellschaften. Das schlägt sich in einer Reihe von Denkfiguren und Topoi nieder: Metaphorisch wird der Staat vielfach auch als Gebäude bezeichnet; der alttestamentarische König Salomon wurde sowohl für seine Gerechtigkeit als auch als Errichter des Jerusalemer Tempels als sapiens architectus (weiser Baumeister) verehrt; und einer der Ehrentitel des Papstes lautet Pontifex maximus, also oberster Brückenbauer. Umgekehrt kann Architektur entscheidend in soziale Systeme eingreifen: So ist etwa der Massenwohnungsbau der Weimarer Republik Teil einer umfassenden Sozialpolitik |▶ 30|. Besondere Schärfe erreicht dieser Zusammenhang in den auf charismatische Führerfiguren orientierten Diktaturen des 20. Jh.s, in denen sich der grundsätzliche und umfassende gesellschaftliche Wandel gerade auch in monumentalen Bauprojekten äußern sollte. Das gilt für die Baupolitik unter Stalin in der Sowjetunion genauso wie unter Nicolae Ceaus˛escu in
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Rumänien (Präsidentenpalast in Bukarest). Im faschistischen Italien und insbesondere im nationalsozialistischen Deutschland verschmilzt dabei die Figur des Diktators mit derjenigen eines genialen Baumeisters, der Gesellschaft und Raum im wortwörtlichen Sinne umgestaltet. Das betraf in Deutschland zuallererst die Hauptstadt Berlin sowie die Gauhauptstädte, die dauerhafte und gigantische Bühnen erhielten bzw. erhalten sollten, auf denen die nationalsozialistische Massenmobilisierung in ritualisierter Form immer und immer wieder aufgeführt werden konnte. Seit 1938 wurde unter Albert Speer die massive Umgestaltung Berlins zu Germania begonnen, die insbesondere den Bau einer monumentalen Nord-Süd-Achse als Pracht- und Aufmarschstraße vorsah. In den Gauhauptstätten mussten für vergleichbare Massenkundgebungen sog. Gauforen errichtet werden, von denen insbesondere dasjenige in Weimar fast vollendet wurde. Daneben gab es kaum eine Bauaufgabe, die nicht der Massenmobilisierung und Herrschaftsinszenierung
Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg
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unterlegen wäre, von Turnhallen, Sportstadien und Jugendherbergen über Autobahnen und Bahnhofsprojekte (München) bis hin zu Regierungsbauten wie der Neuen Reichskanzlei in Berlin. Dabei ist es wichtig zu unterstreichen, dass es keinen nationalsozialistischen ‚Baustil‘ gegeben hat, wie man das häufig den neoklassizistischen Großprojekten entnehmen zu können glaubt. Vielmehr behauptete die rassistische Ideologie des Nationalsozialismus einen Determinismus, der, unbehindert durch ‚fremde Einflüsse‘, notwendigerweise zu einer ‚deutschen Baukunst‘ führen müsse. Das konnte, etwa für eine Jugendherberge, durchaus auch die Beachtung (angeblicher) regionaler Traditionen beinhalten. Für öffentliche Großprojekte kam allerdings fast ausschließlich ein vereinfachter Klassizismus als Gestaltungsidiom zur Anwendung, weil insbesondere Hitler selbst hier eine Fortführung und Steigerung des Bauens im antiken römischen Weltreich sah. Allen Großprojekten dieser Art ist eine gezielte gigantische Übersteigerung der Dimensionen gemeinsam: ‚Größe‘ wird hier wortwörtlich als Übertrumpfen verstanden, durch das oftmals historisch gewachsene Ensembles überbaut oder optisch unwirksam gemacht wurden. Die große Kuppelhalle am nördlichen Ende der Berliner Nord-Süd-Achse, provozierend neben das Reichstagsgebäude gesetzt, sollte 320 m Höhe erreichen! Vor allem diente die Gigantomachie dazu, über die damit notwendig verbundene hypertrophe Logistik und Ressourcenverschwendung die Illusion einer permanenten, ekstatisch erlebten Neugestaltung aufrechtzuerhalten. Daran war gleichsam das ganze Volk beteiligt, das damit zumindest in einigen Fällen, wie dem Triumphbogen an der Nord-Süd-Achse, Architekturskizzen Hitlers selbst umsetzte. Diese Inszenierung einer permanenten gigantischen Schöpfung durch ein angeblich zur Weltherrschaft berufenes Volk rechtfertigte alles: von der Übertretung institutioneller Zuständigkeiten über die mas-
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senweisen Enteignungen bis zum mörderischen Einsatz von Arbeitssklaven. Die Logistik von Völkermord und Krieg und die Logistik des Bauens gehen insofern ineinander über: denn die symbolische und militärische Besitzergreifung und Zerstörung auf der einen Seite sind nicht ohne die architektonische Umgestaltung auf der anderen Seite zu denken. Die vielfältigen damit verbundenen Aspekte lassen sich anhand des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg veranschaulichen. In der alten Reichsstadt, lange Zeit Aufbewahrungsort der kaiserlichen Reichsinsignien, hatte die NSDAP schon in den 20er Jahren trotz der demokratischen, ‚roten‘ Stadtregierung mehrere Parteitage als monströse, die gesamte Innenstadt dominierende Massenveranstaltungen organisiert. Dabei ging es keineswegs um Zusammenkünfte zur Entscheidungsfindung, sondern um die teilweise sakral konnotierte Inszenierung von massenhafter Kollektivität und von bestimmten Rollen Hitlers als oberstem Herrscher, Denker und Feldherrn. Zünftiges Lagerleben verband sich mit andächtig zu erlebenden Fahnenweihen und Gefallenengedenken sowie Ekstase auslösenden Reden, insbesondere Hitlers. Schon im Juli 1933 befahl Hitler, die hier entstandenen politischen Rituale architektonisch zu rahmen und zu monumentalisieren. Ein eigener Zweckverband sollte sich um die umfangreiche Organisation kümmern, die Finanzierung erfolgte durch die Stadt Nürnberg, die Deutsche Arbeitsfront, das Kriegsministerium und das Finanzministerium, das letztlich als Unterabteilung der Wehrmacht agierte. 1934 trat Albert Speer in die Funktion als oberster Architekt der Anlage ein, alsbald begannen die Bauarbeiten, 1937 wurde das Modell der Planung auf der Pariser Weltausstellung gezeigt und mit einem Grand Prix ausgezeichnet. Verschiedene Parteitage fanden auf dem nie vollendeten Gelände statt, allerdings nur bis 1939. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs brach die Tradition der Parteitage ab, gleichwohl gin-
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gen die Bauarbeiten trotz massiver logistischer Probleme und zahlreicher Unterbrechungen weiter. Nach dem Krieg blieb das Gelände sich überlassen und verfiel rasch, mittlerweile wird es denkmalpflegerisch kontrolliert. Mit der Wahl des Luitpoldhains im Süden von Nürnberg als Standort des Geländes wurde eine bestehende Tradition umfunktioniert, denn aus einem Naherholungs- und Ausstellungsgelände mit Sportanlagen und Schwimmbad wurde nun ein Ort der Aufmärsche, Appelle und öffentlicher Wehrübungen. Die Dimensionen sind gewaltig, weder im Ganzen überschaubar noch in kurzer Zeit begehbar: Das 7,5 × 5 km messende Terrain durchzieht eine große Aufmarschachse, die bezeichnenderweise auf die Nürnberger Burg und somit assoziativ auf die kaiserliche Vergangenheit der Stadt ausgerichtet ist. Den nördlichen Ausgangspunkt bildet die rechteckige Luitpoldarena, die als Appellplatz von SA und SS sowie anderen nationalsozialistischen Organisationen diente (□ 126). In unmittelbarer Nachbarschaft stand die Luitpoldhalle von 1906, die für die Parteiversammlungen der NSDAP genutzt wurde. Nach Süden folgte ein riesiges Plateau, auf dem sich eine sog. Kongresshalle (unvollendet) und ein ‚Kulturbau‘ (geplant) gegenüberstehen sollten. Von dort aus begann die zwei Kilometer lange zentrale Achse, die in das sog. Märzfeld mündete, ein von Wehrtürmen und Tribünen umstandenes ca. 1 km breites Rechteckterrain, in dem Gefechtsübungen der Wehrmacht vorgeführt wurden. Auf halber Höhe der Großen Straße ging es zum Zeppelinfeld im Osten sowie zum Neuen Stadion nach Westen ab. Das Zeppelinfeld okkupierte die alte Luftschifflandewiese und diente als Aufmarschort von Reichsarbeitsdienst und Wehrmacht (□ 127). Südlich des Märzfeldes schlossen sich auf einem wiederum immensen Areal Lagerbaracken für mehr als 500 000 SA-Angehörige an. Das zu Fuß kaum zu durchmessende Gelände wurde von zwei Bahnhöfen erschlossen. Ange-
sichts des gigantischen Bauvolumens war die Bauplanung keineswegs einheitlich, sondern durch zahlreiche Abänderungen, Kompromisse und Interventionen Hitlers geprägt. Weitgehend ausgeführt wurden die Große Straße, die Luitpoldarena, das Zeppelinfeld und das Märzfeld, während Kongresshalle und Stadion als Bauruinen liegen blieben. Einsetzbar waren also die Aufmarschareale, die im Wesentlichen aus Freiflächen mit rahmenden Zuschauer- und einer Rednertribüne bestanden. Kongresshalle und Stadion hingegen, u-förmige Riesenauditorien, sollten gigantische Höhen erreichen: 60 m im Fall der Kongresshalle und über 80 m für das Stadion. Das stellte, trotz eines absurden Ressourceneinsatzes, ein nicht zu bewältigendes Bauvolumen dar. An beiden Bauten standen der unvorstellbare Bauaufwand im
□ 126 Modell des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg, 1937 (hist. Aufnahme)
Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg
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eklatanten Missverhältnis zur intendierten Funktion: Bei der Kongresshalle umschließen weit aufsteigende Tribünen allein ein erhöhtes zentrales Rednerpult, das Stadion hätte sich mit seinen Ausmaßen für sämtliche Sportarten als disproportioniert erwiesen: Die Kampfbahn sollte 380 m messen, und die über 400 000 Besucher hätten die Wettkämpfe aufgrund der Sichtentfernungen kaum verfolgen können. Doch darum ging es auch nicht, sondern um die sich zyklisch wiederholende Inszenierung von exaltierten Menschenmassen, die auf einen Fokus, den ‚Führer‘, ausgerichtet waren. In diesem Zusammenhang erhielten die riesigen Dimensionen durchaus ihren Sinn, wie das Beispiel des Zeppelinfeldes verständlich machen kann: Das 289 × 312 m messende Aufmarschfeld besitzt auf einer Seite eine steinerne Tribüne, die seitlich durch große Wangen eingefasst ist und oben von einer doppelreihigen Kolonnade bekrönt war (1967 gesprengt). Im Mittelteil waren die Interkolumnien geschlossen und mit einem riesigen Hakenkreuz in der zentralen Achse gekrönt, darunter staffeln sich Podien, auf denen sich ein Block als Rednerkanzel erhebt. Da die menschliche Figur des Redners angesichts der gigantischen Dimensionen untergehen würde, muss sie über mehrfache konzentrische Rahmungen und Heraushebungen fokussiert werden. Dadurch erscheint der Redner zugleich weit über die Menschenmassen auf den Zuschauerrängen und der Arena herausgehoben. Dazu im scharfen Kontrast steht die Inszenierung der militärischen Verbände aus bis zu 250 000 Mann im Inneren des Feldes. In schier unendlicher Zeit zogen sie für die Appelle ein, bis sie in Formationen komponiert eine gleichsam kompakte lebende Blockarchitektur ergaben. Die strenge Rechteckform der Tribüne und die Kolonnadenwand bildeten also die Rahmen eines riesenhaften, gleichsam architektonischen Tableaus, das zyklisch wiederholt auf Kommando entstand und ein einheitliches Volk darstellen sollte. Die räumliche
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Exklusivität dieser Gemeinschaft wurde dann bei nächtlichen Zeremonien noch dadurch gesteigert, dass vom Rand der Tribüne 150 Flakscheinwerfer ihr Licht senkrecht bis zu 5 km nach oben strahlten und dadurch einen ‚Lichtdom‘, also eine virtuelle Säulenwand aus Lichtbündeln, entstehen ließen. Zudem aber waren Referenzen auf christliche Bautypen wirksam: Die Luitpoldarena, ein rechteckiges Feld für 150 000 Akteure, weitete sich auf der Breitseite in eine riesige Rundung, in deren Scheitel die Rednertribüne stand (□ vgl. 126). Das sind klare Referenzen auf frühchristliche Apsiden mit dem zentralen Bischofsthron. Axial gegenüberliegend erhob sich das 1928 errichtete Gefallenendenkmal der Stadt Nürnberg, das nunmehr für den Totenkult der Nationalsozialisten vereinnahmt wurde. Auch hierfür formten die militärischen Menschenmassen eine gleichsam lebende klassizistische Architektur: Denn wenn Hitler und einige Begleiter die Arena von der Rednertribüne zum Gefallenendenkmal durchschritten, um dort die Totenehrung vorzunehmen, bildeten die militärischen Verbände einen breiten, einer Prachtstraße ähnlichen Durchlass. Die dabei gemessenen Schrittes zu bewältigende Entfernung von 240 m stand in Relation zur Dauer der Zeremonie. Diese entwickelte ob ihrer Stille und Dauer eine schier unerträgliche Spannung, die erst durch die folgenden Akte aufgelöst wurde. Generell folgten die über mehrere Tage abgehaltenen Parteitage einer präzisen Regie, in der die messianische Ankunft Hitlers, das Bad in der Nürnberger Menschenmenge, Reden, Volksfest, zeremonielle militärische Aufmärsche, Sportwettkämpfe, rituelle Opfergänge, Weihe von Militärverbänden, Paraden und ein abschließender Fackelzug nach Nürnberg in eine durchdachte zeitliche Ordnung gefügt waren. Spannung, Neugier, Erschaudern, Erheiterung, Hingabe vermittelten Kollektivbewusstsein in verschiedenen Strategien. Wenn man sich dabei von der historischen Stadt Nürnberg
□ 127 Nürnberg, ehem. Reichsparteitagsgelände, Haupttribüne des Zeppelinfelds, 1937 (zeitgenössische Aufnahme)
zu einem außerhalb der Stadt liegenden Areal bewegte, so nahm dieses den Charakter eines Tempelbezirks oder geheiligten Hains an, um so viel mehr, als die Beteiligten hier anders als in der Stadt einem strengen Ritual unterlagen. Dies erklärt auch das klassizistische Erscheinungsbild der Architekturen: Mit ihren breiten Treppen der Tribünen, den Kolonnaden am Zeppelinfeld und den Rundbogenarkaden am Äußeren von Stadion und Kongresshalle sollen sie an antike Tempelstätten, Altäre (Pergamonaltar) und Amphitheater erinnern. Die Riesenbauten stehen, ohne einer allzu rigiden Ordnung zu folgen, inmitten einer scheinbar unberührten Landschaft, gleichsam in einem heiligen Hain. Doch diese Kultstätten waren nicht als archäologische, ‚tote‘ historische Überreste wahrzunehmen, sondern verstanden sich als für die Ewigkeit gebaut und in wortwörtlichem Sinne mit Leben ausgefüllt. Dies vermittelten nicht zuletzt die fotografischen und filmischen Bilder, die die Parteitage begleiteten und für die die Bauwerke des Reichsparteitagsgeländes als wirkungsvolle Kulissen ebenfalls konzipiert waren. Signalhaftes Rot der zahllosen Hakenkreuzfahnenbahnen belebte wirkungs-
voll das antikische Weiß der Bauten. Und in Leni Riefenstahls Parteitagsfilm „Triumph des Willens“ von 1935, einer nachgestellten Scheindokumentation der Veranstaltung von 1934, erinnern die schweißglänzenden Athletenkörper nicht von ungefähr an antike Sportveranstaltungen und verbinden dies mit den obstinaten, nicht enden wollenden Marschgeräuschen der militärischen Formationen, die in den Baulichkeiten zu lebender Architektur erstarren. Im Reichsparteitagsgelände entstand somit aus einer eminent politischen Botschaft – völkische Einheit und Führerprinzip einzuhämmern – ein pervertiertes erhabenes Gesamtkunstwerk, bei dem Architektur, Theater, Sport und Tanz untrennbar zusammenwirkten und dabei eine objektive und ‚schöne‘ Komponiertheit anzunehmen schienen. Hehre Kunst und gesteigertes Leben hatten in der terroristischen Inszenierung wieder zusammengefunden, die seit dem Ende des 19. Jh.s so beklagte Entfremdung des Menschen wurde als überwunden ausgewiesen, allerdings um den kalkulierten Preis der tödlichen Ausgrenzungen von Millionen Menschen, die der Nationalsozialismus zum Feind erklärt hatte.
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Kaufmann Desert House in Palm Springs Life style in der Nachkriegsmoderne
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rchitektur besteht nicht nur aus der Realisierung von Techniken und Funktionen oder aus der Materialisierung architekturästhetischer Ideale. In hohem Maße kreiert und rahmt das Bauen Mentalitäten und Lebensstile. So basierte die ‚Behaglichkeit‘ und ‚Gemütlichkeit‘ des ‚Heims‘, die man um 1900 suchte |▶ 11, 22|, auf einer bestimmten großbürgerlichen Lebensauffassung zwischen Saturiertheit und familiärer Intimität. Heute kennen wir bestimmte elegante und luxuriöse Wohn- und Empfangsambiente, in denen sich die Stimmung eines geschmackssicheren und weltoffenen jet set verdichtet: lichtdurchflutete, großzügige Räume, die vor allem fühlen lassen, welche stilsichere Freizeitkultur hier gepflegt bzw. konsumiert wird oder werden soll. Designermöbel, Swimming-Pool, Bar inmitten eines unbeschwerten Ambientes zeigen unvermittelt eine Freizeitkultur an, die auf die Wohlhabenheit und gesellschaftliche Bedeutung des Besitzers schließen lässt. Die Grundelemente einer derartigen architektonischen Inszenierung von life style haben nun aber ihrerseits eine Tradition, die in hohem Maße von der US-amerikanischen Kultur der Nachkriegszeit geprägt ist. Insbesondere um Los Angeles in Südkalifornien, von der Sonne und wild-erhabenen Landschaften verwöhnt und aufgrund des Filmzentrums Hollywood zumindest teilweise von einer mondänen und reichen Klientel bewohnt, entsteht mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine ganz bestimmte luxuriöse Villenkultur, die eng mit dem Namen des aus Wien stammenden, seit 1923 in den USA lebenden Architekten Richard Neutra in Verbindung zu bringen ist. Seine zahlreichen, teilweise dramatisch aus den Abhängen um
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Los Angeles über die Tiefe auskragenden gläsernen Villenbauten zählen noch heute zum Inbegriff einer exquisiten und distinguierten modernen Wohnkultur. Besonders signifikant ist dies an einer der Inkunabeln in dieser Hinsicht zu veranschaulichen, dem 1946 – 47 errichteten Desert House für den Kaufhausbetreiber Edgar J. Kaufmann. Der Bauplatz war wild und erhaben: ein trockenes, heißes, im Licht flirrendes Wüstengebirge, in dem Sturmböen Sand aufwirbeln. Es war eine Herausforderung, hier zu bauen; aber diesen Dialog mit der Natur aufzunehmen, hat vor allem in Nordamerika eine sehr präsente Tradition, die sich etwa auf die prairie houses von Frank Lloyd Wright um 1900 beziehen lässt |▶ 24|. Von deren Konzeption als horizontal organisierte, breit hingelagerte Bauten geht auch Neutra aus. Wie die Flügel einer Windmühle erstrecken sie die Arme der eingeschossigen, über 375 m² messenden Villa in die Himmelsrichtungen der gleißenden Landschaft (□ 128). In der Ost-West-Achse sind Kinderzimmer und Elterschlafzimmer untergebracht, dazwischen weitet sich der zentral gelegene großzügige Wohnbereich. Vor diesem erstreckt sich längs der Elternschlafzimmer ein Swimmingpool. In den beiden anderen Flügeln sind südlich der gedeckte, nach einer Seite offene Zugang zum Eingang sowie die Garage bzw. im Norden der Gästetrakt untergebracht. Auf der Dachterrasse erhebt sich, angelehnt an den das Haus zentral durchlaufenden Kamin, ein gläserner Aufbau, die sog. gloriette. Intelligent hat Neutra darauf geachtet, das Innere einerseits schützend gegen die Sandstürme abzuschotten und andererseits weit zum Pool und einen gepflegten Garten zu öffnen, ja, hier jede Raumgrenze
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□ 128 Palm Springs, Kaufmann Desert House, Richard Neutra, 1946 – 47
verschwinden zu lassen. So sind die West- und Nordmauern aus dicken Natursteinmauern errichtet, während die nach Süden und Osten gehenden Seiten entweder ganz offen oder vollständig aus verschiebbaren Glaswänden bestehen. Der rechteckige Pool im Winkel zwischen Wohn- und Schlafbereich wirkt wie ein Zimmer ohne räumliche Umgrenzung, das aber eingelassen ist in den hellen umfassenden Stein. An der direkt auf den Pool führenden Südwestecke des Wohnbereichs lassen sich die Schiebetüren auf beiden Seiten öffnen, die Ecke verschwindet, der Innenraum läuft unterbrechungslos nach außen. Ermöglicht wird dieser wirkungsvolle Effekt dadurch, dass das Dach, in das die Schiebefenster eingehängt sind, nach außen vor dem Schlafbereich weiterläuft und sein Träger dort durch einen schmalen Rundstab gestützt wird. In anderen Häusern legt Neutra diese Auslegerkonstruktion aus Träger und Stütze ganz frei (sog. spider leg). Das Innere des Hauses dominieren matte und glänzende Grauund Silbertöne, die übereingehen mit den metallenen Rahmen der raumhohen Glasfenster.
Dieses kontrastiert an einigen Stellen mit den holzverkleideten Decken sowie den hölzernen Einbaumöbeln. Besonders wirkungsvoll ist der Kontrast zwischen der präzisen und kühlen Metall/Glas-Optik und dem rohen Mauerwerk der dicken Wände und vor allem des Kamins, der – auch hierin ähnlich wie in den prairie houses von Wright – das Zentrum des Hauses in vertikaler Richtung durchzieht und damit einen markanten Kontrapunkt zu der ansonsten herrschenden raumverschwendenden Horizontalität setzt (□ 129). Noch eindrücklicher aber ist die Einbettung des Hauses in die wilde Natur der Umgebung: Karstige Gebirgsketten, grobe Findlinge und Kakteen bieten sich dem weit öffnenden Blick aus dem Haus. Fast wirkt das Haus wie eine Raumstation auf einem fremden Planeten, dessen unwirtliche Bedingungen in aller technischer Perfektion und ästhetischer Eleganz überwunden und zum Ort luxuriösen Wohlbehagens umgewandelt zu sein scheinen. Darauf spielt auch der von Neutra programmatisch gegebene Name des Hauses an: Das ‚Wüstenhaus‘ suggeriert, hier würde
Kaufmann Desert House in Palm Springs
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262 □ 129 Palm Springs, Kaufmann Desert House, Richard Neutra, 1946 – 47, Inneres mit Speisebereich
ein spezifischer Bautypus konzipiert worden sein. Eher ist von einem Image zu sprechen: Das Ziel ist, die Natur so zu domestizieren, dass ihre Wirkungen gefiltert und sublimiert werden können: Sonne und Wärme inmitten einer erhabenen Umgebung. In der Tat verfolgt Neutra mit seinen Landvillen Konzepte weiter, die zuvor im Bereich des hygienebewussten Sanatorien- und Reformschulbaus mit Freilichtklassenräumen erprobt worden waren (z. B. die Freiluftschule in Amsterdam, 1926, das Sanatorium Sonnenstrahl in Hilversum, 1926, beides von Johannes Duiker; École de plein air in Suresnes, 1932 – 35, Eugène Beaudouin, Marcel Lods, Jean Prouvé). Neutra selbst legitimierte seine Architektur damit, dass sie Gesundheit und Wohlbefinden fördere und berief sich hierbei auf die Erkenntnisse von Gestalt- und Einfühlungspsychologie. Eine seiner ersten großzügigen Realisationen, das weitläufige Haus Lovell in Los Angeles (1927 – 29), trug den programmatischen Namen Health House. Diese Architektur war Neutras Gesellenstück als High-Society-Architekt. Im Fall des Kaufmann Desert House kann man aber auch gut verdeutlichen, in welch intensiver und gezielter Weise die Architektur als Rahmen einer gezielten promotion-Politik eines bestimmten US-amerikanischen life style funktioniert. Die Auftraggeber, Edgar J. und Liliane
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Kaufmann, waren äußerst wohlhabende Warenhausbesitzer und engagierten sich intensiv in der Förderung moderner Kunst und Architektur. Mit Frank Lloyd Wright verband sie eine tiefe Freundschaft, und dieser errichtete für die Familie eines seiner späten Hauptwerke, die berühmte, über einem Wasserfall angelegte Villa Falling Water in Mill Run (Pennsylvania) von 1937. Gleichsam missionarisch verfolgten die Kaufmanns das Ziel, über modernes Design – gerade auch der von ihnen vertriebenen Waren – den Geschmack der Bevölkerung zu verbessern. Insofern setzte man sich aber programmatisch von der europäischen Moderne ab. Sei diese aus sozialen und politischen Gründen entstanden, so vertrete sie in den Vereinigten Staaten die Summe aller mit Lust und Wohlbefinden zu erfahrenden und im positiven Sinn auf Körper und Seele einwirkenden technischen Möglichkeiten, ganz vergleichbar dem Automobil. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs boten sich neue Chancen, solche Konzepte auch auf die rasch bedeutender werdenden Konsumenten aus der middle-class anzuwenden. Insofern ist das Kaufmann House auch der Rahmen, eine neue Variante des life style vorzustellen, um geschmacksbildend für eine neue Konsumentenschicht zu wirken. In Neutras Häusern, und insbesondere in ihren zu Ikonen gewordenen fotografischen Abbil-
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dungen durch Julius Shulman, wird modernes Design zu einem Ambiente von gelassener und gebildeter Entspannung. Das bildet einen Gegensatz zu Häusern und Ausstattungsensembles von Frank Lloyd Wright, denen häufig ein schier unerreichbarer Luxus und eine aristokratische Salonkultur eignet. Wie die Zeitschriften
das Leben der Hollywood-Stars als glamorous verklärten, so wurden auch Neutras Villen inklusive ihres mondänen Einrichtungsstils und ihrer eleganten Ausstattung vielfach fotografisch und museal präsentiert und glamourized – was bis heute nachwirkt (Friedman 2010, S. 75 – 107).
Die Unité d’habitation in Marseille Umsetzung der Charta von Athen
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er vierte der Internationalen Kongresse moderner Architektur (CIAM, Themenblock · Interessenverbände, S. 220 f.) sollte sich als Kulminationspunkt einer entschieden modernen, anti-historistischen Architektur dem modernen Städtebau widmen. Eigentlich sollte die Versammlung 1933 in Moskau stattfinden, doch weil sich die sowjetische Kunstpolitik in dieser Zeit nachdrücklich von modernen Positionen zugunsten eines monumentalen ‚sozialistischen Realismus‘ verabschiedete und nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten auch ein Ausweichort in Deutschland ausfiel, wurde der Kongress auf einer Schiffsreise mit der Patris II von Marseille nach Athen abgehalten. Die zahlreich anwesenden modernen Architekten und Städtebauspezialisten einigten sich nach vielen Kontroversen schließlich auf eine lange Resolution, die als Charta von Athen weltweite Berühmtheit und Bedeutsamkeit erlangen sollte. Veröffentlicht wurde sie erst zehn Jahre später durch Le Corbusier, allerdings nicht ohne eigenmächtig entscheidende Veränderungen in vielen Punkten vorgenommen zu haben. Grundsätzlich fordert die Charta eine nach bestimmten Regeln und Kontrollmechanismen voranschreitende Stadtentwicklung, um die Stadt als Lebensumfeld
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einer egalitären Gemeinschaft planbar machen zu können. Gegen den Wildwuchs konkurrierender Privatinteressen setzt man darauf, vier Schlüsselfunktionen bestmöglich zu erfüllen, die nach den Tätigkeiten eines Tageszyklus bestimmt werden: Wohnen, Arbeiten, Erholen, Fortbewegen. Architektur und Städtebau müssen das Zusammenspiel all dieser Funktionen beachten. Deswegen ist ein schnelles Verkehrssystem mit hoher Mobilität ebenso wichtig wie eine ‚hygienische‘ Entmischung der Wohn- und Arbeitsbereiche (Zonierung). Bauen in die Höhe erlaubt, gesunde Grünfläche am Boden und gute Luft in der Höhe zu schaffen. Die Stadt ist eine funktionelle Einheit wie ein durchdachtes Unternehmen, sie braucht Gesetze und Vorplanung, um einem utilitaristischen Gesamtziel folgen zu können. Die Erhaltung historisch wichtiger Substanz ist für besonders typische Bauten erlaubt, generell aber dem Wohlergehen der Bewohner unterzuordnen; heruntergekommene Stadtviertel müssen abgerissen werden, die Anwendung historischer Stilformen für Neubauten ist untersagt. Diese Grundsätze sollten den Stadtbau über mehrere Jahrzehnte bestimmen: Die Veränderungen vieler alter Stadtzentren zu ‚Cities‘ mit Verwaltungs- und Konsumbauten ließen als
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Pendant dazu Vorortsiedlungen entstehen, bei denen hohe Wohnblöcke in aufgelockerter Bebauung im Grünen stehen, zu erreichen durch hierarchisch gestaffelte, voneinander getrennte Verkehrssysteme (Umgehungsstraßen, Durchgangsstraßen, Erschließungsstraßen, Stichstraßen, Fußwege). All das hat eine längere Vorgeschichte, in der Le Corbusiers Buch „Urbanisme“ von 1925 eine einflussreiche Etappe darstellt |▶ 27|. Insoweit ist die Charta, insbesondere in ihrer Umarbeitung durch denselben Autor, als dessen konsequente Weiterentwicklung zu verstehen. Eine erste und umfassende Umsetzung der neuen Städtebauideen schien sich für Le Corbusier im Zuge der Neubautätigkeiten während und nach dem Zweiten Weltkrieg zu bieten. Nachdem er sich vergeblich darum bemüht hatte, innerhalb des Vichy-Regimes städtebaulich tätig zu werden, konzipierte er um 1944 Projekte von sich linear entwickelnden, konsequent zonierten Bandstädten als Anwendungen der Charta von Athen in einem europäischen Maßstab. Über das Engagement des französischen Wiederaufbauministers Raoul Dautry erhielt Le Corbusier 1945 den Auftrag, ein ganzes Stadtviertel in Marseille neu zu planen (mit dem politisch gewollten Nebeneffekt, dass der
umstrittene, aber unumgehbare Architekt in der widerständigen Stadt Marseille am Rande Frankreichs aus anderen Wiederaufbauprojekten herausgehalten werden konnte). Gegen unzählige Widrigkeiten und Anfeindungen konzipierte und realisierte Le Corbusier zusammen mit dem Ingenieur Vladimir Bodiansky bis 1952 hier eine prinzipiell universell einsetzbare Wohneinheit, die die Vorteile von Gartenstadt und Großstadt miteinander verbindet. Dies geschieht dadurch, dass viele Wohnungen in ein Scheibenhochhaus eingefügt werden, das zudem über eine perfekte Infrastruktur verfügt. Die Hochhausstruktur erlaubt eine ausgedehnte Freifläche im Umfeld sowie beste Sicht nach außen. Dieses eigentlich prima vista kaum innovative Prinzip ist in Marseille – und später mit Einschränkungen auch in Nantes Rezé, Berlin, Briey-en-Forêt und Firmigny-Vert – aber in einer konzeptuellen Dichte in allen Details umgesetzt: Individuelles Wohnen in der Natur wird engstens mit der verdichteten Struktur urbaner Räume verbunden. So handelt es sich bei dem Baukörper um ein 165 m langes und 56 m hohes Betonskelettraster von 19 Geschossen, in das – wie bei einem Flaschenregal – die einzelnen Wohnungen als jeweils selbständige Einheiten wie eingeschoben sind (□ 130, 131).
□ 130 Marseille, Unité d’Habitation, Le Corbusier, 1945 – 52, Dachgrundriss und Querschnitt über drei Etagen mit Innenstraße
III. Schlüsselwerke
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□ 131 Marseille, Unité d’Habitation, Le Corbusier, 1945 – 52
Erschlossen werden sie von im Inneren des Gebäudes angelegten Korridoren, den sog. Innenstraßen. Die 336 Wohnungen existieren in 23 Grundtypen, vom eingeschossigen, die Hälfte der Gebäudetiefe durchmessenden Studio bis zu großzügigen, zweigeschossigen Appartements, in denen über eine Treppe ein weiterer Wohnflügel erreicht wird, der dann die gesamte Gebäudetiefe durchläuft (□ vgl. 130 unten). Insofern sind auch die Innenstraßen nur in jedem dritten Geschoss notwendig, weil man von ihnen jeweils noch eine Wohnebene erreicht, die unter bzw. über der Innenstraße verläuft. Alle Appartements sind insofern nur an den Stirnseiten belichtet, nach innen nimmt die natürliche Belichtung deutlich ab. Trotz der einseitigen Belichtung herrscht opulente Lichtfülle, denn in den zahlenmäßig vorherrschenden doppelgeschossigen Duplex-Appartements ist die obere Ebene als Empore gestaltet, stößt also nicht an die Fensterebene des Gebäudes, sondern lässt hier eine über zwei Geschosse reichende, von einer fast 5 m hohen Stirnseite belichtete Wohnhalle entstehen. Alle Appartements enden außen in einer Loggia, deren Zugangstür sich in voller Breite der Wohnung öffnen lässt. Hier also ist der Bereich des gut belichteten ‚Salons‘, in dem Innenraum und Außenraum gleichsam ineinander übergehen. Den anderen Pol bildet die im rückwärtigen Teil der Appartements
angeordnete offene Einbauküche. Über eine Durchreiche zur Innenstraße sollte hier Essen u. a. angeliefert werden können. In der kleinsten Wohneinheit folgt nach der Küche dann in Richtung Fenster der Schlaf- und Essbereich, der ohne weitere Raumtrennung in den Wohnbereich übergeht. In den großen Appartements trennen längs eingebrachte, verschiebbare Wände zwei nebeneinanderliegende, extrem schmale Kinderzimmer voneinander. Die Standardisierung erlaubt also eine große, allerdings typisierte Vielfalt individuellen Lebens, für Singles bis zur kinderreichen Familie. Von außen beschatten die Loggienunterseiten, vor allem aber auch vor die Duplexfenster eingehängte waagerechte Paneele, die sog. brise-soleils, die Wohnungen (□ vgl. 131). Dadurch entsteht eine tief schattende, unregelmäßige Rasterschicht, die wie eine Schutzzone vor den Wohnungen wirkt, ein Erscheinungsbild, das deutlich von den glatten Kuben mit ihren in der Mauerflucht sitzenden Fenstern der Zwischenkriegsmoderne abweicht. Alle Maße in der Unité leiten sich angeblich von Grundmaßen des menschlichen Körpers ab, wie sie Le Corbusier gemäß seinem ‚Modulor‘ entwickelt hatte. Die sukzessive Unterteilung der Maße eines Menschen mit nach oben gereckten Armen (= 2,26 m, entsprechend einem Mann von 1,83 m Körpergröße) nach den Prinzipien des Goldenen Schnitts ergibt eine
Die Unité d’habitation in Marseille
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Reihe von kombinierbaren Längenmaßen. Diese liegen vor allem der Proportionierung der Wohnungsquerschnitte zugrunde: Die lichte Geschosshöhe beträgt 2,26 m, die Breite jeder Einheit 2 × 1,83 m. Die Dimensionierung und Proportionierung der neuen Wohneinheit folgt also nicht ‚kalten‘ technischen, sondern – der Absicht nach – ‚lebensvollen‘ menschlichen Maßen. Solch eine natürliche Ursprünglichkeit soll auch die allenthalten schalungsrau gelassene Oberfläche des Betons hervorrufen. Lebhafte Lichteffekte entstehen auf den unregelmäßigen Oberflächen, die Assoziationen zu den karstigen Gebirgen in Sichtweite der Unité sind durchaus gewollt. An Mediterran-Griechisches lässt auch die Proportionsfigur des Modulors denken, die im Sockel des Hauses reliefhaft im Beton erscheint: Er erinnert an griechisch-antike Athletenstatuen, sog. Kouroi. Die Optimierung und Reduktion im Bereich der individuellen Ausstattung der Appartements wird kompensiert durch kollektive Services. Die in der Unité wohnende Gemeinschaft von 1500 bis 1700 Personen, eine Art größeres Dorf in der Vertikalen, verfügt über eine gut organisierte Infrastruktur: Im Erdgeschoss und in halber Höhe des Gebäudes verlaufen Ebenen, in denen sich eine Wäscherei, Geschäfte, ein Restaurant, ein Postamt sowie ein Hotel befinden bzw. befanden. Gästezimmer und große Küchen sind insofern unnötig. Auf dem Dach des Gebäudes umrundet eine 300-m-Laufbahn weitere Gemeinschaftseinrichtungen, etwa einen Kindergarten oder einen Fitnessraum (□ vgl. 130 oben). Die Dachterrasse bildet zugleich eine Art Museum, denn die hier austretenden Schornsteine sind als ondulierende Skulpturen geformt und der – auf Stelzen stehende! – Kindergarten ahmt in verkleinertem Maßstab ein Hauptwerk des Architekten, die Villa Savoye von 1930, nach (vgl. S. 50). Diese Terrasse hat ein ganz besonderes Ambiente, denn weil sie von hohen, direkte Blicke nach unten nicht ermöglichenden Brüstungen umge-
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ben ist, ist man hier direkt unter dem provenzalischen Himmel, wie auf einem Dampfer nur Wind und Sonne ausgesetzt, fernab von der unruhigen Stadt Marseille. Insgesamt zeigt sich die Autonomie dieser Architektur bzw. dieser Lebensgemeinschaft durchgängig: in der Selbstgenügsamkeit der Infrastruktur wie in der kompakten, in sich zentrierten Blockstruktur, die jeden Bewohner opulent mit Licht und Luft sowie einer majestätischen Aussicht versorgt. Der Hausblock ist über wiederum ondulierend plastisch geformte Stützen vom Erdboden abgesetzt, er scheint gleichsam zu schweben. Der Vergleich mit einem Ozeandampfer als einer perfekt für sich funktionierenden Maschine, die luxuriöses Leben von vielen Passagieren ermöglicht, ist zu Recht immer wieder gezogen worden, ebenso wie die Verbindung zu einer Klosteranlage als effizient strukturierter, selbstversorgender Lebensgemeinschaft eines Kollektivs. Tatsächlich hat Le Corbusier 1956 – 60 die Prinzipien seiner Unité auch für den Neubau des Klosters Ste-Marie de La Tourette bei Lyon angewandt, in dem der Aufbau der Mönchszellen und ihre Proportionierung nach dem Modulor ganz dem Marseilleser Bau entspricht, allerdings in der schlichtesten und kleinstmöglichen Variante. Diese Klosterzellen sind gleichsam das nicht weiter reduzierbare Urmodell elementaren Wohnens. Die Unité ist die Summe der Wohn- und Stadtprojekte des Architekten Le Corbusier, deren wichtigste Stationen die Stadtutopien der Ville contemporaine von 1922/25 |▶ 27| und der Ville radieuse (1930) bzw. das Schweizer Studentenwohnheim auf der Cité internationale universitaire de Paris (1930 – 32) und das Immeuble Clarté (1931 – 32) in Genf als Vorformen der Unité bilden. Eigentlich war geplant, es in Marseille nicht bei einer Unité zu belassen, sondern noch weitere zu errichten, doch dazu kam es nicht. Ein Grund dafür war, dass Le Corbusiers extreme Lösung des Massenwohnbaus nur funktioniert, wenn sich die integrierte Infrastruktur
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auch selbst trägt. Das ist aber die Achillesferse des Gesamtkonzepts: Hotel, Restaurant und Supermarkt müssen in ihren Angeboten und Möglichkeiten den Bedürfnissen der Bewohner entsprechen, doch das war häufig nicht der Fall. Nur in Marseille ist die eingeschränkt erhaltene Infrastruktur mittlerweile eine mit dem Namen des Architekten verbundene Attraktion. Prinzipiell andere und praktikablere Lösungen fand man etwa in den 50er Jahren in Rotterdam, wo der Architekt Jacob Bakema an der Lijnbaan die erste Fußgängerzone Europas entwickelte. Die Straße wird gesäumt von längsgerichteten niedrigen Geschäftshäusern,
die rückwärtig durch eine Zubringerstraße beliefert werden. Dahinter, also vom Geschäftstreiben abgerückt und doch in unmittelbarer Nähe dazu, erheben sich kammartig recht große Wohnhochhausscheiben, zwischen denen Freiraum für Kinderspielplätze u. Ä. zur Verfügung steht. Die Wohn- und Geschäftsbereiche sind entflochten und bleiben, anders als in den Unités, in sich flexibel. Diese Integration von Massenwohnbau und urbaner Infrastruktur ist in der Folge in Ost und West immer wieder angewandt worden, etwa in der Berliner Straße in Frankfurt am Main oder an der Straße der Nationen in Chemnitz.
Stalinallee und Hansa-Viertel in Berlin Wiederaufbau im Wettbewerb der Systeme
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ie bereits seit Ende der 20er Jahre in Europa zu vernehmende Politisierung der Architektur und ihrer Diskurse lag wesentlich daran, dass viele der ästhetischen, gesellschaftlichen und politischen Theorien und Ideologien Anspruch darauf erhoben, alle Lebensbereiche zu durchdringen. Das galt zumal für die Diktaturen in Nazideutschland und in der Sowjetunion. Architektur war niemals ‚unschuldig‘, und jede Ideologie gab vor, eine bestimmte bauliche Umgebung als die einzige ideale propagieren zu müssen. Dieser Zusammenhang setzte sich im Kalten Krieg fort, ja die expliziten und impliziten Konfrontationen im Bereich von Architektur und Städtebau waren ein nicht unbedeutender Teil dieses Kalten Krieges. In der geteilten Stadt Berlin war das an einem einzigen Ort simultan zu verfolgen, in dem bis 1961 auch noch ein Pendeln zwischen dem Ostund dem Westteil möglich war. Der Wettbewerb entzündete sich insbesondere im Bereich ver-
gleichbarer Bauaufgaben, unter denen dem Wohnungsbau eine herausragende, politisch von höchster Stelle betriebene Rolle zukam. Die Auseinandersetzungen begannen schon unmittelbar nach Kriegsende. 1945 wurde Hans Scharoun |▶ 33| als Stadtbaurat eingesetzt, und bald wurde in diesem Umkreis der sog. Kollektivplan vorgelegt, nach dem Berlin in eine begrünte Stadtlandschaft als ‚lebendiger Ordnung‘ verwandelt worden wäre. Zonierte Wohn- und Arbeitsbänder sollten den natürlichen Begebenheiten folgen und sich dabei in Ost-West-Richtung entlang dem Urstromtal der Spree erstrecken. Vorbild hierfür waren die Charta von Athen |▶ 37| und auch sowjetische Bandstädte. Demgegenüber forderte der sog. Zehlendorfer Plan, vertreten von Walter Moest und Karl Bonatz, eine Rekonstruktion der alten Stadt, bei der allerdings die Verkehrsinfrastruktur neu geordnet werden sollte. Schon 1946 wurden die Stadtbauämter nach
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der West- und der Ostzone getrennt. Im Westen fand offiziell ein gemäßigter Wiederaufbau statt. Im Osten hingegen betrieb man den ‚Kollektivplan‘ pragmatisch weiter: Provisorische Wiederherstellungen sollten mit Neubauten übereingehen, die eine Auflockerung der Stadt aus hygienischen und sozialen Gründen vorsahen. Verwalten und Regieren sollte im Zentrum stattfinden, Wohnen in äußeren Bezirken, die Industrie sei an der Peripherie anzusiedeln. Zu dieser Zeit rechneten alle Planer noch mit einer raschen Wiedervereinigung, insofern ging es bei allen Plänen um den zukünftigen kulturellen und politischen Führungsanspruch für Gesamtdeutschland. In diesem Zusammenhang waren 1949 an der Südseite des Ostbereichs der Frankfurter Allee, wenig später Stalinallee (heute Karl-Marx-Allee), zwei moderne Laubenganghäuser und schräg dazu geordnete Riegel errichtet worden. Hier wirkte noch Scharouns ‚Kollektivplan‘ als Visitenkarten eines neuen Deutschlands. Mit der Gründung beider deutscher Staaten gerieten diese direkt oder indirekt in den Einfluss der Machtsphären der USA bzw. der Sowjetunion. In der BRD funktionierte die Vor□ 132 Berlin, Karl-Marx-Allee (ehem. Stalinallee), 1951 – 53, Baublock F am Frankfurter Tor
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bildwirkung der USA eher indirekt und über längere Perioden und wurde zudem durch eine nachhaltige Rehabilitierung der Internationalen Moderne überlagert. Programmatisch forderte etwa der SPD-Politiker Adolf Arndt 1949 für das Bauen in der westlichen Demokratie, es müsse leicht und transparent – also modern im Sinne der Vorkriegsarchitektur – sein. Daneben gab es aber auch eine Fortsetzung klassizistischer oder regionalistischer Positionen aus der Hitlerzeit. Die Stalinisierung der SED bedeutete hingegen, dass in der DDR verpflichtend auch die entsprechenden künstlerischen, architektonischen und urbanistischen Doktrinen anzuwenden waren. Auch die rasche administrative Einbindung des Bauwesens in den Wirtschaftssektor band das weitere Planen eng an die Parteipolitik. Eine hochrangige Architektendelegation wurde 1950 nach Moskau geschickt, um das Bauen unter Stalin zu studieren. Im Ergebnis formulierten die Baufachleute im Einklang mit der politischen Führung die „Sechzehn Grundsätze des Städtebaus“, die einer als westlich und imperialistisch definierten Internationalen Moderne eine Abart des sozialistischen Realismus gegenüberstellen. Die „Grundsätze“ sind ein Plädoyer für die Gewachsenheit der Städte und regionale Bauformen, für städtische Räume, die als Ensembles angelegt sind. Dabei
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sollte eine traditionell gedachte Architektur entstehen, die „sozialistisch im Inhalt, national in der Form“ sei, insofern auch von allen verstanden werde. Zur Stalinisierung der DDR gehörte städtebaulich aber auch, prächtige Magistralen für politische Massenkundgebungen und Aufmärsche in allen größeren Städten zu planen. In Berlin wurde hierfür auf Anordnung Walter Ulbrichts eine völlig neue Trasse im Bereich der Frankfurter Allee zwischen dem Frankfurter Tor und dem Strausberger Platz sowie weiter über den Alexanderplatz bis hin zum Brandenburger Tor konzipiert. Der Kulminationspunkt sollte der zentrale Kundgebungsplatz im historischen Zentrum Berlins sein, am Ort der alten Hohenzollernresidenz. Aus diesem Grund wurde das Berliner Schloss 1950 gesprengt: Man zeigte symbolisch den Sieg des Sozialismus über Adelsherrschaft und Kapitalismus und schuf zugleich an dieser Stelle Platz für Tribünen sowie ein „zentrales Gebäude“ und ein Denkmal zu Ehren von Marx und Engels. Daraus entstanden über zahlreiche Planungsstufen der Palast der Republik (1973 – 76, Heinz Graffunder), das bescheidene Marx-Engels-Denkmal und der Berliner Fernsehturm. Mit dem Bau der Stalinallee verbanden sich symbolische und städtebauliche Aspekte. Sie war offiziell ein Geschenk der DDR an Stalin, bildete außerdem die Einfallsstraße von Osten, wo der ‚Große Bruder‘ residierte, doch sie lag auch in einem Viertel, das zu den schlechtesten und rückständigsten ganz Berlins gehörte. Hier war eine Sanierung im Sinne von Neubauplanung nicht nur dringend vonnöten, sondern sie konnte der dortigen – vor allem im kleinen Textilgewerbe tätigen – Bevölkerung aus insgesamt niedrigen sozialen Schichten sinnfällig als Sieg der Arbeiterklasse vermittelt werden. Nach den Grundsätzen einer klassizistischen und repräsentativen Architektur wurde die monumentale Achse der Stalinallee seit 1951 geplant. Der Übergang von den Prinzipien einer ‚modernen‘ Architektur, wie sie noch
mit den erwähnten Laubenganghäusern von 1949 zum Ausdruck gekommen waren, zu dem stalinistischen Klassizismus ging also bei den beteiligten Architekten innerhalb von wenigen Monaten vonstatten. Vom Februar 1952 bis zum 21. Dezember 1953, dem Geburtstag Stalins, wurde die Allee weitgehend ausgeführt, allerdings unter betriebswirtschaftlich extremen Bedingungen. Der Aufstand des 17. Juni 1953 entzündete sich denn auch an unsinnigen Erhöhungen der Arbeitsnormen. Verschiedene Bürokollektive unter den führenden Architekten Richard Paulick als Leiter und Hermann Henselmann entwarfen abschnittweise angeordnete, hohe Wohnblocks, die nach klassischen Prinzipien komponiert sind: deutlich markierte Sockel und Eckrisalite, teilweise Mittenbetonung, kräftig modellierte Säulen, Pilaster und Gebälke (□ 132). Gegenüberstehende Blöcke beziehen sich in Risalitbildung und Achsentsprechungen aufeinander. Jeder Abschnitt wird dadurch zu einer klar erkennbaren eigenen Baugruppe, ohne gegen die einheitliche Gesamtwirkung zu verstoßen. Zwischen die immer mit einer Lücke voneinander abgesetzten Bauten sind Gemeinschaftsbauten gesetzt, wie etwa eine Sporthalle. Generös ist mit dem Platz umgegangen, denn neben der sechsspurigen Fahrtrasse mit Mittelstreifen erstrecken sich sehr breite Gehwege. Subtil ist dabei die Fahrtrasse nicht mittig, sondern nach Süden versetzt geführt: Das macht den nördlichen Fußweg zu einer sehr breiten und besonnten Fußgängerzone, die teilweise mit Baumreihen von der Fahrspur abgesetzt ist. Am Strausberger Platz umschließt eine Grundrissführung in Form eines sehr großen Ovals mit gekappten Spitzen einen nur leicht ovalen Kreisverkehr von kleinerem Radius, so dass auch hier sich die Gehwege vor den Hausblocks zu begrünten Vorplätzen ausweiten können. An einigen Stellen sind Zitate auf berühmte Berliner Bauten zu erkennen: So werden die Kopfbauten der Allee im Osten, am Frankfurter Tor, durch
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hohe Tambourkuppeln nach dem Modell des Deutschen und des Französischen Domes auf dem Gendarmenmarkt geziert (□ vgl. 132). In gewisser Weise bleiben die pompösen Bauten dennoch gleichsam bewohnte Fassade, denn an keiner Stelle entwickeln sich die Baugruppen nach hinten, im Gegenteil bleiben die Blöcke auffallend flach (ca. 12 m), können somit auch keine allzu großen Wohnungen enthalten. Im Durchschnitt messen die ca. 5000 Wohnungen 60 qm. Allerdings wurde am Komfort vor allem in der Ausstattung der Küchen und Bäder oder dem Einbau von Müllschluckern und Fahrstühlen nicht gespart. Auch Telefonanschluss, Warmwasser und Fernheizung waren vorgesehen. Für viele, die hier einzogen, war das in der Tat ein Wunderwerk des Sozialismus. Insgesamt erwies sich der Bau der Allee als viel zu teuer. Mit dem Tod Stalins 1953 und der umgehend eingeleiteten Entstalinisierung wurden der Pomp dieser Architekturen als volkswirtschaftlicher Schaden erkannt und stattdessen schon 1954 auf der Moskauer Baukonferenz die Standardisierung und die Industrialisierung des Bauens eingeleitet. Es war der Beginn der Großplattenbauweise. Als Antwort auf den 1955 in Bonn ausgeschriebenen provozierenden Wettbewerb „Hauptstadt Berlin“ wurden nunmehr ‚sozialistische Wohnkomplexe‘ entworfen, die den Sieg des Sozialismus auch international sichtbar machen sollten. Der zweite große Bauabschnitt der Stalinallee zwischen Strausberger Platz und Alexanderplatz fügt sich deswegen in eine weltweit zu beobachtende rationalisierte Nachkriegsmoderne im Bereich des Massenwohnbaus. Der grundlegende, von 1960 – 65 realisierte Bebauungsplan von Edmund Collein und Werner Dutschke sieht kubische Scheibenhochhäuser in Plattenbauweise vor, die auf Bauornamentik und kompositorische Gliederungen verzichten (□ 133). Die Breite der Allee wurde auf 120 m vergrößert, und die einzelnen Bauten stehen zudem weit abgerückt von der Straße. Dadurch
III. Schlüsselwerke
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wurde der Alexanderplatz als sich aus einer Straße heraus öffnender Raum entwertet. Die Wohnkomplexe stehen in recht weiten Abständen in rechtem Winkel zueinander. Es handelte sich also durchaus um eine aufgelockerte Bebauung in parkähnlicher Umgebung, doch folgt die Positionierung einer strengen Komposition. Neben ihrer lotrechten Anordnung zueinander stehen die der Stalinallee nächstgelegenen Wohnkomplexe in Längsausrichtung, erinnern also an das Prinzip der Blockrandbebauung. Außerdem stehen sich jeweils gleiche Bauten entlang der Allee gegenüber bzw. sind in der Westhälfte der Straße auf Lücke gesetzt. Markante öffentliche Gebäude (zwei Kinos, Restaurant, Hotel, Kongresshalle, Haus des Lehrers) rhythmisieren die Abfolge oder dienen als points-de-vue. Die städtebaulichen Anordnungsprinzipien folgen also in vielen Aspekten denjenigen des ersten Großabschnitts, weswegen der zweite Teil der Straße eher als deren radikal vereinfachte Variante und weniger als programmatische Aufnahme internationaler Tendenzen erscheint. Technologische Fragen rationeller Fertigung mit dem Ziel, der Bevölkerung Wohnraum zu verschaffen, dominierten dementsprechend nunmehr die Politik und die Debatten. Die Antwort des Westens auf die Stalinallee ließ nicht lange auf sich warten: 1953 lobte der Westberliner Senat einen Wettbewerb zur Bebauung des Berliner Hansaviertels und die Ausstellung „Interbau“ für das Jahr 1957 aus. Das einstmals vornehme Viertel nördlich und südlich der Altonaer Straße war durch den Krieg stark beschädigt worden und erforderte zahlreiche Neubauten. Zudem lag es nah am alten Zentrum und auf der Haupt-Ost-West-Achse der Stadt, konnte insofern als ein reich bestücktes ‚Schaufenster zur Freiheit‘ fungieren. Das siegreiche Bebauungsprojekt von Willy Kreuer und Gerhard Jobst sah eine aufgelockerte Hochhauslandschaft vor, in der ‚Weite, Natürlichkeit, Zwanglosigkeit‘ programmatisch gegen ‚dikta-
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torisches Bauen‘ verwirklicht werden sollten. Nachdem das Terrain vollständig enteignet, freigeräumt und reprivatisiert worden war, wurde die Bebauung in einer Art Galashow von Stararchitekten aus der westlichen Welt realisiert, um solchermaßen Offenheit und Fortschrittsbewusstsein des Westens zu demonstrieren. Somit wurde das Hansaviertel zu einer Musterschau der internationalen Nachkriegsmoderne: In einer natürlichen Parklandschaft erheben sich scheinbar zwanglos hauptsächlich Wohnhochhäuser sowie eine vielfältige Infrastruktur wie Läden, eine evangelische und eine katholische Kirche, eine Stadtbücherei, das Gebäude der Berliner Akademie der Künste usw. (□ 134). Das Viertel ist hervorragend über breite Straßen sowie eine neue U-Bahn-Station angebunden, im Inneren herrscht hingegen Verkehrsberuhigung, weil es nur untergeordnete Durchgangs- und Stichstraßen sowie davon unabhängige Gehwege gibt. Das Verhältnis der Summe der Geschossflächen zur verfügbaren Grundfläche konnte von vormals 2,2 auf 0,9 abgesenkt werden. Die konsequent aufgelockerte
Bebauung im Grünen führt zu einer von natürlicher Vegetation geprägten und ‚hygienischen‘ Umgebung. Diese Verschwendung von Grundstücksfläche wurde dadurch kompensiert, dass die Hochhäuser teilweise auf 17 Geschosse ansteigen. Für die Planung war eine Reihe von Fachkräften aus allen Gebieten des modernen Lebens tätig: Ärzte, Volkswirte, Soziologen, Politiker, Landwirte, Pädagogen, Landschaftsgestalter und Architekten. Letztere waren vor allem prominent, selbst wenn sie nicht in allen Fällen auf den Etagenwohnbau spezialisiert waren. Zu der Riege aus 53 Architekten, davon 19 aus dem Ausland und 16 aus Westberlin, zählten etwa Alvar Aalto |▶ 41|, Walter Gropius, Wassili Luckhardt, Oscar Niemeyer |▶ 42|, Hans Scharoun, Max Taut und Pierre Vago. Le Corbusier vermied es, als einer von vielen präsent zu sein, sondern errichtete im Rahmen der Interbau eine Unité d’habitation |▶ 37) nahe dem weit entfernt gelegenen Olympiastadion. Als weiteres Werk außerhalb des Hansaviertels erbaute der us-amerikanische Architekt Hugh Stubbins die Kongresshalle im Tiergarten als
□ 133 Berlin, Karl-Marx- Allee (ehem. Stalin- allee), Grundriss des 2. Bauabschnitts zwischen Strausberger Platz und Alexanderplatz, 1959
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□ 134 Berlin, Hansaviertel, mit Wohnhäusern von López/ Beaudouin (links) und Schwippert (1957)
eine programmatisch-technisch kühne Betonarchitektur. Das Hansaviertel stellt nicht nur architektonisch-städtebaulich, sondern auch politisch und soziologisch eine Gegenposition zur Stalinallee dar. Im Wesentlichen wurden hier die schon im Kollektivplan Scharouns zugrunde liegenden Prinzipien der Charta von Athen |▶ 37|, der aufgelockerten Stadtlandschaft, aufgegriffen und damit ein dezidiertes Bekenntnis zur Gegenwart mit Fortschrittsglauben verbunden. Wenn auch im Einzelnen parallele Bauvorhaben etwa in England konstatiert werden können, knüpfte man in Berlin zudem – und bisweilen in personam (Gropius, Luckhardt) – an die gerade in Berlin reiche und positiv besetzte Architekturavantgarde der Weimarer Republik an. Hierdurch wollte man dazu beitragen, die nationalsozialistische Vergangenheit zu bewältigen. Dies bedeutete auch, Planungskriterien dieser Moderne zu übernehmen. In erster Linie waren das Themenbereiche von Gesundheit, Hygiene, Verkehr und Lebenskomfort, gar nicht aber von Geschichte und Tradition – was ja unter problematischen Vorzeichen für die Stalinallee durch-
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aus bedeutungsvoll war. In beiden Fällen ging es darum, in der Fortsetzung der Moderne einen ‚neuen Menschen‘ mithilfe der Architektur zu kreieren. War dies im Fall der Stalinallee der sozialistische Arbeiter, so rechnete man im Hansaviertel mit Bewohnern, die westlichen Komfort, also das bequeme und gesunde Wohnen sowie das eigene Auto, in eine neue Konsumkultur umzusetzen wussten. Auch diese unterschiedlich erhofften Siege der jeweiligen Systeme waren Teil des Kalten Krieges – und daran hatte die Architektur unmittelbar Anteil. Das Hansaviertel war nicht das einzige derartige Neubauviertel: Die Neue Vahr in Bremen (1956 – 62, Ernst May, Hans Bernhard Reichow u. a.) oder die Nordweststadt in Frankfurt am Main (seit 1959, Walter Schwagenscheidt u. Tassilo Sittmann) sind weitere, umfangreiche und durchaus gelungene Realisierungen der Vorgaben der Charta von Athen. Dass das Zusammenwirken der Faktoren aber prekär sein kann, zeigt vielfach der großflächige Siedlungsbau der 60er Jahre: Im Märkischen Viertel in Berlin etwa bebaute man zwischen 1963 und 1974 380 Hektar für ca. 38 000 Einwohner, v. a. durch die Architekten Hans C. Müller, Georg Heinrichs und Werner Düttmann. Das Projekt war innovativ, denn nunmehr sollten zusammenhängende, geschwungene Wohneinheiten in einen Dialog mit dem Außenraum treten. Urbanität sollte durch erhöhte Dichte sowie durch große Einkaufs- und Kommunikationszentren sowie Nahversorgungseinrichtungen erreicht werden. Aber die Überdimensionalität in Verbindung mit Planungsfehlern in der Verkehrsinfrastruktur, die negativen Effekte durch Massierung und Anonymität sowie Finanzierungsprobleme führten schon in der Endphase des Ausbaus zu massiven Protesten, die auch zur Neubewertung der alten Innenstädte bzw. in alternative Modelle der Wohnbauplanung führten, die etwa im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) in Berlin 1977 – 87 ihren Niederschlag fanden.
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|39| Torre Velasca in Mailand Die Wiederentdeckung der historischen Stadt
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beritalien, und speziell Mailand, spielt in der modernen Architektur eine besondere Rolle. Das liegt zum einen an der höchst erfolgreichen Industrialisierung der Region seit der zweiten Hälfte des 19. Jh.s, die sich früh in einer Architektur niederschlug, die der corporate identity der Unternehmen Ausdruck verlieh: Für das neue Werkgebäude von FIAT in Lingotto bei Turin (1914 – 23) verwirklichte der Architekt Giacomo Mattè-Trucco die futuristische Idee, den hohen, langgestreckten Bau mit einer Versuchsrennstrecke mit Steilkurven einzudecken. In Mailand ließ die Firma Pirelli 1956 – 58 durch Pier Luigi Nervi und Gio Ponti einen 127 m hohen Wolkenkratzer errichten, der das Thema des Scheibenhochhauses gleichsam wie ein Design-Produkt auffasst: Ein im Grundriss linsenförmiges Gebäude mit glatter curtain-wall-Fassade ist an den Kanten bugartig von gedoppelten Pylonen eingefasst und verschlankt sich unmerklich nach oben. Diese ebenso elegante wie optisch eindrückliche Lösung einer branded architecture, die wie eine Landmarke das Weichbild Mailands beherrscht, wurde umgehend berühmt und in der ganzen Welt nachgeahmt. Zum anderen aber ist für die architekturgeschichtliche Position Mailands bzw. Oberitaliens hervorzuheben, dass sich hier früh Gegenpositionen zu einer einseitig auf primäre funktionale Bedürfnisse abhebenden Moderne formierten, die wesentliche Grundlagen für deren Infragestellung schufen. Eines der Hauptwerke in dieser Hinsicht steht ebenfalls in Mailand und wurde zur gleichen Zeit wie das Pirelli-Gebäude und ebenfalls als Hochhaus errichtet: Die Torre Velasca wurde durch das Architekturbüro BBPR (Gian Luigi Banfi, Ludovico Barbiano di Belgiojoso, Enrico
Peressutti und Ernesto Nathan Rogers) in den Jahren 1952 – 58 als Stadtentwicklungsprojekt für ein kriegszerstörtes Viertel, kaum einen halben Kilometer vom Dom entfernt, erbaut. Die 106 m hohe, 29 Geschosse enthaltende Stahlbetonskelettstruktur bietet eine gezielt konzipierte Mischung von Geschäften in den unteren beiden Etagen, Büros im Mittelteil des Gebäudeschaftes und Wohnungen in dem oberen, die letzten sechs Etagen umfassenden Teil (□ 135). Dieser bricht mit jeder gewohnten Hochhaustradition, denn er springt, von schrägen Betonstreben konsolartig unterstützt, um mehrere Meter nach vorne. Somit erinnert das im Grundriss rechtwinklige Gebäude mit seinem vorkragenden Abschluss unmittelbar an mittelalterliche Wehrtürme, so wie in Mailand etwa am Castello Sforzesco zu sehen – dessen Ausstellungsräume übrigens von BBPR kurz zuvor neu konzipiert worden waren. Solche Bezüge zur lokalen Architekturgeschichte sind auch in weiteren Eigentümlichkeiten zu erkennen, die als provokative Umdeutung moderner Strukturkonventionen zu verstehen sind. So wird das Gebäude durch einen Mansarddach-ähnlichen Aufbau abgeschlossen, vor allem aber ist das Betonskelett durch rötlichen Veroneser Pressstein ausgefacht, der in scheinbar unsystematischer, in Wirklichkeit von der Raumeinteilung diktierter Weise Fensteröffnungen freigibt. Die raue, steinfarbige, fast schmutzige Oberfläche steht im scharfen Gegensatz zur glatten eleganten Haut des Pirelli-Hauses und evoziert hingegen eher mittelalterliche Hausfassaden. Vor allem aber widersteht die Torre Velasca auch der zeitgenössischen Verkleidungsästhetik im Sinne der nahtlosen curtain-wall-Fassade: Das Betonskelett ist sichtbar und klar tragend, auch
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wenn es von einem Betonkern im Inneren in dieser Funktion unterstützt wird. Das wird vor allem an den konsolartigen Aufstrebungen des oberen Teils überdeutlich. Gotischen Strebepfeilern prinzipiell nicht unähnlich liegt ein besonderes Augenmerk auch auf den meist T- oder kreuzförmigen Profilierungen dieses Betonfachwerks und seiner Streben. Auch verjüngen sich etwa die Pfosten in eleganter Weise nach oben, neigen sich zur Wand und werden kurz unter der Traufkante von einer Art Kaffgesims, einem kleinen Dach, abgeschlossen. Im Gegensatz zu der akzentlosen Blockhaftigkeit so mancher Hochhäuser legt die Torre Velasca Wert auf zahlreiche gut erfassbare Untergliederungen. Der obere Teil setzt sich etwa dadurch optisch deutlich vom Schaft ab, dass dessen letzte Etage schattend zurückspringt, die Anzahl der Stützen ist sofort gut erfassbar: sechs auf den Lang-, vier auf den Schmalseiten. Zwischen ihnen sind jeweils vier Achsen für Öffnungen oder Wandeinheiten eingelassen.
□ 135 Mailand, Torre Velasca, BBPR, 1952 – 58
III. Schlüsselwerke
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Insgesamt lassen sich an dem Bauwerk zahlreiche harmonische Proportionsverhältnisse finden, deren markantestes wohl der Gesamtaufbau in Art einer Säule mit – allerdings wie im Mailänder Dom sehr hochgestrecktem – Kapitell bildet. Diese vielfältigen Referenzen auf die historische Baukultur des regionalen Umfeldes sind allerdings weder oberflächlich noch dominant: Denn zunächst steht das Hochhaus inmitten eines relativ eng umbauten Umfeldes, dessen gemischte Nutzung es selbst aufnimmt; und bei allen historischen Referenzen ist es eine moderne, technisch kühne Konstruktion. Der vorgelagerte Eingangspavillon empfängt den Besucher mit einer grazilen Konstruktion aus Glas in Stahlrahmen. Entscheidend scheint, dass hier programmatisch das beginnt, was die Moderne gerade in der Aufbruchsemphase der Nachkriegszeit immer wieder vergessen hatte: den städtebaulichen und historischen Kontext kreativ aufzunehmen und weiterzuentwickeln, ohne oberflächlich historistisch zu bauen. Die
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Torre Velasca kann dies besonders anschaulich vermitteln: Denn auch wenn sie sich unmissverständlich als ‚moderner‘ Typus des Hochhauses als zeitgenössisch zu erkennen gibt, so nimmt sie dabei doch ebenso viel ältere Konstellationen auf: Die Typologie der miteinander konkurrierenden mittelalterlichen Geschlechtertürme der italienischen Stadtkommunen mündet hier in den Wettbewerb zwischen Pirelli und Velasca. Dieses Thema hat zudem eine jüngere oberitalienische Tradition, denn noch 1863 – 88 hatte man in der Konkurrentin Turin die höchste jemals in traditioneller Stein-Ziegel-Bautechnik projektierte Turmkonstruktion von 167 m Höhe errichtet, die Mole Antonelliana (Architekt Alessandro Antonelli). Die Wiederentdeckung der historischen Stadt ist als eine fundamentale Neuorientierung der architektonischen Grundsätze zu verstehen, und sie ist von dem exponiertesten Mitarbeiter von RRBP, Ernesto Nathan Rogers, auch theoretisch in vielen Beiträgen untermauert worden. Von 1953 – 64 leitete er die wichtige Architekturzeitschrift „Casabella“ und setzte programmatisch den Begriff continuità als Zusatz in den Titel. Damit trug er einer Protestbewegung innerhalb der Moderne Rechnung, die sich zum Beispiel anhand der Congrès internationaux d’architecture moderne (CIAM) der Nachkriegszeit verfolgen lässt. Gegründet 1928 als informelle Interessengemeinschaft der internationalen Moderne, wurde hier die berühmte Charta von Athen 1933 verabschiedet und 1943 von Le Corbusier in veränderter Form herausgegeben |▶ 37|. Hier war die Doktrin eines radikal funktionalen Städtebaus formuliert, der den durch die historische Substanz gegebenen Faktoren eine eindeutig negative Rolle zuwies. 1947 nahm Rogers die Stelle des Generalsekretärs des CIAM ein und trat seither parallel mit anderen Vertretern einer jüngeren Generation – etwa Aldo van Eyck, Georges Candilis, Peter und Alison Smithson usw. – für die Rolle von Geschichte und urbanistischer Kon-
textualisierung im Stadtbau ein, protestierte also gegen den Kanon des CIAM. Dabei ging es prinzipiell darum, Architektur und Städtebau nicht nach geschichtslos-schematischen, voneinander isolierten Funktionsmodellen, etwa von Wohnen, Arbeiten, Erholung, aufzufassen und sie auch nicht auf eine Frage nach zeitgemäßer Form bzw. Stil zu reduzieren. An diesem Protest gegen eine mittlerweile etablierte Moderne als Weltsprache, formuliert von in die Jahre gekommenen Vorreitern wie Gropius, Mies und Le Corbusier, sollte der CIAM schließlich auch zerbrechen. Nach dem vom Team X, einer Untergruppe aus jüngeren Architekten, organisierten 11. Treffen in Otterlo löste sich der CIAM als internationales Sprachrohr der Moderne auf. Für Rogers und seine Partner war die neue Berufung auf historische Kontexte durchaus zwiespältig. Denn RRBP hatten als junge Architektengruppe den italienischen Faschismus zunächst gutgeheißen und etwa an dem Wettbewerb für Mussolinis Palazzo del Littorio auf dem Forum Romanum in Rom 1934 teilgenommen. Wenn auch dieses Engagement in Tod (Banfi in Mauthausen) und Exil (Rogers) umschlagen sollte, so war doch hier die Grundlage gegeben, sich mit der faschistischen Rückbeziehung auf die angeblich heroische Vergangenheit Italiens in der Antike architektonisch zu beschäftigen. Die Torre Velasca in Mailand, der international präsente Rogers und die berühmte Zeitschrift „Casabella“ bildeten die Schaltzentralen für verschiedene, bis heute wirksame Entwicklungen. Gae Aulenti, Vittorio Gregotti und Ezio Bonfanti als wichtige Vertreter der sogenannten Postmoderne gingen hieraus hervor. Vor allem aber ist Aldo Rossi (1931 – 97) zu nennen, der 1955 als Redakteur bei „Casabella-continuità“ eintrat und 1966 ein entscheidendes Buch zur Neubewertung der historischen Stadt verfasste: „L’Architettura della Città“ (dt.: „Die Architektur der Stadt. Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen“, 1973, vgl. S. 93).
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Seagram Building in New York Wolkenkratzer und corporate identity
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eder Wolkenkratzer stellt ein Investitionsprojekt von gigantischen Ausmaßen dar, bei dem eine Reihe von komplizierten Faktoren ineinandergreifen: juristische, technische, betriebswirtschaftliche, logistische. Hochhäuser dienen insofern nur in seltenen Fällen staatlichen bzw. öffentlichen Zwecken, sondern in der Regel Gewinn erwirtschaftenden Institutionen wie Banken, Versicherungen, Unternehmen, aber auch der Gastronomie und dem Konsum. Das ökonomische Ziel beim Hochhausbau ist also in erster Linie, Rendite aus der Vermietung einer großen Zahl an Geschossflächen zu erwirtschaften. Dies allerdings stellt nicht nur eine Frage der durch einen Hochhausbau zur Verfügung gestellten Fläche dar, sondern ist gekoppelt an eine Reihe von Faktoren, etwa die innerstädtische Lage, Bauvorschriften, die Verkehrsanbindung, die technische Ausstattung, den Komfort sowie die ästhetischen und architektonischen Qualitäten des Gebäudes und auch das von ihm vermittelte Image. Dabei sind die meisten Wolkenkratzer für eine Mischnutzung konzipiert und können somit architektonisch nicht für den Erbauer oder einen einzigen Nutzer sprechen. Sie müssen stattdessen Neutralität wahren, gleichzeitig aber von sich aus ein eigenes Image und Prestige schaffen, die ihrerseits Teil der Investitionsstrategie sind. Das wiederum verbindet sich mit der Erwägung, über Luxus und Raffinement die Attraktivität des Objektes von vorneherein so hoch zu veranschlagen, dass einträgliche Mieten erwartet werden können. Das stellt große Erwartungen an die Architekten und Ingenieure, die in Nutzung und Ausstattung auf Modernität, Langlebigkeit und weite Akzeptanz zu achten haben. Eine solche Universalität einer höchst
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anspruchsvollen Architektur, die sich gerade nicht aus einem Fächer je individueller und wandelbarer Nutzfunktionen ableitet, hat kaum ein anderer so deutlich vertreten wie Ludwig Mies van der Rohe. Das zeigt sich bereits etwa am Barcelona-Pavillon der Weltausstellung in Barcelona 1929 |▶ 32|, aber auch an der Neuen Nationalgalerie in Berlin (1962 – 68), einem erhabenen Tempel aus Stahl und Glas, der 1957 in fast gleicher Form auch für den Neubau der Bacardi-Fabrik in Santiago de Cuba vorgesehen worden war. Analoges hat Mies auch für den Wolkenkratzerbau realisiert. Das begann schon 1922 mit spektakulären Projekten für vollständig verglaste Hochhäuser mit einem Minimum an Stützen und führte mit den Lake-Shore-DriveApartment-Häusern in Chicago (1948 – 51) in erste Realisierungen. Schulbildend wurde aber das von 1954 – 58 errichtete Seagram Building in New York. Der Auftrag für ein neues Verwaltungsgebäude für den Spirituosenhersteller Joseph E. Seagram and Sons ging 1954 von dessen Präsident Samuel Bronfman aus, der der Idee anhing, staatsbürgerliche Verantwortung müsse der Gesellschaft als nachahmenswert vorgeführt werden. Neben den unternehmerischen Faktoren waren deswegen bei solch einem öffentlich wahrnehmbaren Großprojekt auch hohe ästhetische Ansprüche zu erfüllen. Es sollte einen guten Einfluss auf die Umgebung und das Nutzungsklima ausüben, und insofern spielte die Wahl eines guten Architekten eine wesentliche Rolle. Als Standort war ein Block in East Side Manhattan angekauft worden, in der Park Avenue zwischen der 52. und 53. Straße. Es war die Zeit, als sich diese Gegend von einem eleganten Wohnviertel zu einem exquisiten Geschäfts-
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viertel wandelte. Gegenüber befindet sich das Gebäude des vornehmen Racquet and Tennis Club, 1918 vom Architekturbüro McKim, Mead & White als anspruchsvoller Neorenaissancepalast errichtet. Direkt schräg gegenüber war eben, von 1951 – 52, das Lever House von SOM (Gordon Bunshaft im Büro Skidmore, Owings & Merrill) erstellt worden. Das über einem weit vorkragenden Flachbau mit Lobby aufragende, lotrecht zur Straße gesetzte Scheibenhochhaus setzte Maßstäbe. Es ist ein völlig regelmäßiger Block, dessen Hülle zum ersten Mal als vollständige curtain-wall-Glasfassade ausgeführt ist. Die blaugrünlich getönten Scheiben sind in ein völlig gleichmäßig gerastertes Gitter aus äußerst feinen Aluminiumprofilen eingefügt. Angesichts dieser auf höchste architektonische Standards verpflichtenden Umgebung ging der Auftrag an das durchaus renommierte Büro William Peirera & Charles Luckman. Allerdings konnte die Tochter Bronfmans, Phyllis Lambert, als umtriebige Kunstinteressierte ihren Vater davon überzeugen, ein kühnes Glashochhaus in modernsten Formen zu errichten. Sie machte sich an eine intensive Suche nach einem geeigneten Architekten – auch über Le Corbusier und Frank Lloyd Wright wurde nachgedacht – und veranlasste schließlich, Mies van der Rohe zu beauftragen. Der 39 Stockwerke bzw. 157 m hohe Bau gilt als technische und gestalterische Meisterleistung einer auf einem absolut regelhaften Raster konzipierten Architektur. Die durchgehend durchgehaltene Grundeinheit misst 1,41 m, die tragenden Stützen erheben sich auf einem quadratischen Raster von 8,46 m Seitenlänge, also 6 × 1,41 m (□ 136). Völlig neu war, dass Mies seine Hochhausscheibe auf dem 91,5 × 61 m messenden Grundstückblock um 30,5 m zurücksetzte. Das war bisher in New York noch nie geschehen, denn wegen der geforderten dichten Ausnutzung des Terrains nahmen die Wolkenkratzer die gesamte Parzelle ein, mussten aber gemäß der New Yorker Bauordnung von 1916 ab dem 12. Geschoss die Etagen zu-
rückspringen lassen, damit zumindest eine gewisse natürliche Belichtung der gegenüber liegenden Häuser bzw. der Straßen gewährleistet war. Aus diesem Grund entstanden die typischen zikkuratförmigen oberen Abschlüsse (genannt ‚Hochzeitstorten‘) vieler Wolkenkratzer in Manhattan. Mit Mies’ Lösung wurde ein
□ 136 New York, Seagram Building, Ludwig Mies van der Rohe, 1954 – 58, Grundriss
Vorplatz, eine Plaza, möglich, die die Vorderfront des Hochhauses wirklich als Fassade erlebbar machte. Dem entspricht, dass der Bau auf einem die ganze Parzelle einnehmenden Sockel steht, auf dem auch die Plaza als Teil des Gesamtkonzeptes erscheint: Die Granitplattierung folgt in ihren Ausmaßen dem Grundraster, läuft insofern bruchlos in das offene Erdgeschoss durch. Die in die Tiefe führenden Seitenwände des Plateaus sind mit Streifen aus grünem Marmor bedeckt und an der Park Avenue sind in die Ecken des Plateaus symmetrisch Wasserbassins eingelassen. Dazwischen entsteht eine eindeutig symmetrisch angelegte Hauptachse zur Fassadenfront und dem Haupteingang. In der Halle setzt sich diese fast zeremonielle Achse bis in den Restaurantbereich
Seagram Building in New York
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□ 137 New York, Seagram Building, Ludwig Mies van der Rohe, 1954 – 58
im rückwärtigen Teil fort. Derartige Achsenbetonungen erinnern an Prinzipien der École des Beaux-Arts, und in der Tat muss man auch den eigentlichen Hochhausturm als eine, auf diese Achse Bezug nehmende Fassade bezeichnen. Er steht nämlich vor Rückgebäuden, die den durch die Rückversetzung entstehenden Verlust an Geschossfläche ausgleichen sollen. Das ist ein essentielles Kriterien beim Wolkenkratzerbau: Die immensen Investitionskosten müssen so auf das Baukonzept bezogen sein, dass es Rendite abwirft. Das war gerade beim Seagram Building ein entscheidender Faktor, denn seine Baukosten erreichten den damaligen Spitzenwert von 36 Mio. Dollar, wozu noch 5 Mio. Dollar für das Grundstück hinzuzurech-
III. Schlüsselwerke
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nen sind. Wenn die Rendite nicht durch die konsequente Ausnutzung der nach der New Yorker Bauordnung möglichen Geschossfläche erfolgte, so musste das durch Qualität und Luxus des Gebäudes ausgeglichen werden: Auch das wurde mit dem Gebäude verfolgt, und zwar nicht nur über ausschließlich architektonische Elemente, sondern etwa auch mit der Einrichtung des Luxusrestaurants Four Seasons in den unteren Geschossen des rückwärtigen Traktes. Der rückwärtige Teil dient also der Vermehrung der Geschossfläche und wurde als ein relativ niedriger quergelegter viergeschossiger Riegel über die gesamte Grundstücksbreite ausgebildet; hinter dem ‚Vordergebäude‘ steigt darüber noch ein weiterer fünfgeschossiger Block auf. Das Hochhaus kommuniziert über ein nach hinten heraustretendes, nur drei Jocheinheiten breites und ein Joch tiefes ‚Rückgrat‘ in voller Höhe mit den Rückgebäuden. Die dadurch bewirkte Einschnürung zwischen beiden Bauteilen führt dazu, dass das Hauptgebäude als eigenständiger, in sich perfekter Block wahrgenommen werden kann: In den Einschnürungen schneiden seitliche Treppen quer in das Plateau ein, außerdem verdecken seitlich des Hochhauses gepflanzte Bäume den Blick auf den hinteren Querriegel. Das eigentliche Hochhaus kann also kompromisslos seine perfekte geometrische Regelhaftigkeit vorführen: Es erhebt sich über 3 × 5 Einheiten des Grundstützenrasters, lässt damit Proportionen nahe dem Goldenen Schnitt anklingen. Die unteren beiden Geschosse sind als völlig freie Halle gestaltet. Hier erscheinen nur die Stützen und vier gleichartige Rechteckblöcke, die die Aufzugschächte enthalten. Eingefasst ist die Halle durch eine, gegenüber dem Oberteil des Gebäudes zurücktretende Glasfläche, in der die Eingänge eingelassen sind. Der hohe Schaft des Büroteils darüber scheint insofern zu schweben, gerade auch, wenn künstliches Licht die Halle erleuchtet. Er ist als völlig regelmäßiger, vollständig ver-
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glaster Kubus gestaltet (□ 137). Jedes Joch ist in sechs Fensterbahnen eingeteilt, die vertikal als strikte, unterbrechungslose Abfolge von Brüstungsplatte und hochrechteckiger Fensterfläche organisiert sind. Diese Fensterfläche ist dem konstruktiven Kern als anschaulicher Vorhang vorgelegt: Die eigentlichen Stützen bestehen aus Doppel-T-Stahlprofilen, die aus Feuerschutzgründen in einen quadratischen Betonpfeiler eingegossen sind. Dieser Betonkern ist wiederum mit Stahl ummantelt und hält an Auslegern den Glasvorhang. Dessen Zwischenstreben sind sog. mullions in Form von kleineren Doppel-T-Profilen vorgelegt: Über die gesamte Gebäudehöhe ziehen sich diese scharfen graphischen Bahnen von unerbittlicher exakter Vertikalität. Sie bilden ein scharfkantiges Relief, das Schatten wirft und jeder Gebäudeseite verschiedene Reflexionswirkungen zuteil werden lässt, je nachdem, ob man auf eine belichtete oder schattende Seite blickt. Dass die mullions allein ästhetische Funktion haben, zeigt sich auch daran, dass sie an der Unterkante des Gebäudes einfach abbrechen, und in ihren Doppel-T-Profilen präsentieren sie gleichsam wie eine ornamentale Form das konstruktive Grundelement des Bauwerks, den ebenso geformten Stahlträger. Die vorgehängte Wand erhält dadurch eine sprechende Funktion, die sich wortwörtlich loslöst vom tragenden Gerüst. Das erinnert eher an die Unterscheidung von tragendem Kern und verkleidender Hülle, wie sie der Architekturästhetik des späten 19. Jh.s vertraut war, kaum mehr aber Forderungen der Moderne, Fassade und Konstruktion müssten in eins fallen. Wie konsequent das Konzept der curtain wall weitergedacht wurde, zeigt sich auch an den berühmten Ecklösungen des Mies’schen Gebäudes: Hier steht eigentlich ein Vierkantstiel, dessen freiliegende Ecke aber so verkleidet ist, dass zwischen den über Eck stehenden mullions und der Gebäudekante eine gut proportionierte und klar akzentuierte Eckbegrenzung des Blocks ent-
steht. Vor allem aber sind die mullions ebenso wie die Fensterrahmen aufwendig aus Bronze hergestellt, auch die stählerne Verkleidung der Stützen umgibt ein Bronzemantel. Zusammen mir der topasgrauen Tönung des Fensterglases wirkt das ganze Gebäude wie ein kostbarer, riesenhafter Metallgegenstand, der auch tatsächlich aufwendiger Pflege bedarf. Denn damit das Haus keinen Grünspan ansetzt, muss es regelmäßig mit einer speziellen Lösung gereinigt werden. Man hat diese dunkle Tönung ironisch auf eines der Hauptprodukte von Seagram, nämlich Whiskey, bezogen. Das ist in der Tat ein vielschichtiges Bonmot, denn mit Bronze wie mit Whiskey werden ja auch Gediegenheit und Handwerklichkeit assoziiert; und ebenso wie Whiskey altern soll, ist auch das Seagram Building darauf angelegt, dass man ihm wie einem herkömmlichen Steinbau eine würdevolle Langlebigkeit ansehen soll. Auch die von Philip Johnson entworfene Inneneinrichtung, insbesondere auch des Four Seasons, war eine puristische, in exquisiten Materialien ausgeführte Raumkomposition, die bezeichnenderweise auch als Ausstellungsräume genutzt wurde. Hinzu trat aber der Aspekt, dass der perfekt mathematisch zu erfassende, formenstrenge und technisch kühne – vollklimatisierte! – Glaskubus ein Höchstmaß an Rationalität und Technikvertrauen mitteilte. In all diesen Faktoren lassen sich Bestandteile einer corporate identity festmachen, die aber weniger auf Seagram zu beziehen sind, sondern sich der Riesenarchitektur als gleichsam eigenständigem Unternehmen einschreiben. Derartige Strategien lassen sich im Werk von Mies schon in der Vorkriegszeit erkennen |▶ 32|. Mies’ Wolkenkratzer hatte weitreichende Konsequenzen: Die Schaffung der Plaza lud dazu ein, sie als temporären Ausstellungsort für moderne Skulptur zu nutzen, wie dies bis heute der Fall ist. Damit formierte sich aber vor allem im bisher eng bebauten Manhattan ein neuer Begriff von Öffentlichkeit und Zivilengage-
Seagram Building in New York
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ment. Denn Mies’ Plaza-Idee ging unmittelbar in eine neue Bauordnung ein, die seit 1961 ein ungehindertes Höhenwachstum der Wolkenkratzer zulässt, solange im Erdgeschoss ausreichend öffentliche Zonen ausgewiesen sind. Die erhaben puristische und hochgelobte Großform des Seagram Building stellte aber auch einen gewissen Endpunkt der Entwicklung dar, denn sie war kaum noch subtiler zu formulieren. Und so gab es in der Nachfolge zahllose banale Büroglaskisten, die nicht wenig zum bisweilen schlechten Ruf der Moderne der Nachkriegszeit beitrugen. Die Lösung war, den Wolkenkratzern wieder markante Zeichenhaftigkeit zu verleihen. Schon die Verdoppelung von zwei an sich banalen Türmen, wie sie Minoru Yamasaki
am World Trade Center von 1973 – 74 vornahm, hatte ja eine ausgesprochen stadtbildprägende Aussage, die die Türme fatalerweise zum Ziel des Terroranschlags vom 11. September 2001 werden ließ. Subtil spektakulär sind die Wolkenkratzerlösungen von Mies’ ehemaligem Mitarbeiter Philip Johnson. Das AT & T Building (1984) mit seinem von einer Rundöffnung durchbrochenen Giebelabschluss erinnert an ein Möbelstück, das PPG Corporate Headquarter in Pittsburgh steigt als hoher, von neugotischen Fialen bestandener Glasgiebel auf, eine mehrfach gebrochene Anspielung auf das Mittelalter, die englische Neugotik |▶ 11| und die neugotischen Universitätsbauten von Pittsburgh selbst.
Architektenrollen Künstler, Techniker, Baubeamte und Medienstars
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rchitektur hat einen intensiven Bezug zum Menschen als Individuum und Kollektivwesen: Sie strukturiert den Raum und setzt komplexe Zeichen, sie kostet meist viel Geld, und ihre Erhaltung geschieht keineswegs automatisch, sondern erfordert teilweise komplizierte Aushandlungen. Architektur hat insofern mit Technik, Gesellschaft, Politik, Biologie, Moral, Religion, Philosophie und Kunst zu tun. Dies wurde insbesondere in dem Moment deutlich, als seit dem 19. Jh. derartige Bereiche des Lebens sich als wissenschaftliche Disziplinen bzw. als staatliche Verwaltungseinheiten in all ihrer Komplexität etabliert hatten. Entsprechend vielfältig und farbig wurde das Konzert der Architekturdiskurse, in denen beständig ein Kampf der Deutungshoheit tobt: Architektur als Verschönerung des öffentlichen Raums, als weltanschauliche Sinnstiftung, als perfekte Anwendung innovativer Technik, als ökonomische Verbesserung von Lebensbedingungen, als Ausweis von gutem Geschmack, als Signum von Unternehmenskulturen, als Vermittlung
III. Schlüsselwerke
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zu Gott: Das sind nur einige derartige Aspekte der Debatten und Diskurse. Und diese werden überdies in verschiedensten Medien verhandelt wie Fachzeitschriften, Büchern, Werbefilmen usw. ( Themenblock · Medien, S. 77 f.). Angesichts dieser konkurrierenden Vielfalt kann es kaum verwundern, dass auch die Architekten selbst verschiedene Rollen einnehmen, um Kompetenz und Autorität für die intendierte Auffassung von Architektur zu erheischen. Dabei spielen Bildmedien, insbesondere auch die Fotografie, eine wichtige Rolle, denn sie zeigen die Architekten in scheinbar typischen und authentischen Aktionen, Outfits und Ambientes. Vor allem aber überschneiden sich dabei in gezielter Weise verschiedene Kompetenzbereiche: Technik und Philosophie, Konstruktion und Malerei, Städtebau und Soziologie, Bauen und Literatur, Architektur und Archäologie. Als romantisches Universalgenie, malend, schreibend und bauend, erscheint etwa Karl Friedrich Schinkel, der aber zugleich auch Teil der neuen
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preußischen Bauverwaltung ist. Sein Münchener Kollege Leo van Klenze wurde als verdienstvoller, umfassend archäologisch gebildeter Gelehrter inszeniert. In solchen Traditionen des Universalgenies stehen auch viele Jugendstilarchitekten, etwa Henry van de Velde. Als kühl und sachlich rechnende Ingenieure traten etwa die Brückenbauer Robert Maillart oder Fritz Leonhardt auf. Gerade in der ersten Hälfte des 20. Jh.s verstanden sich viele Architekten als politische Akteure: Hannes Meyers lebenslanges sozialistisches Engagement kontrastiert dabei mit der rechtsextremistischen Parteinahme eines Paul Schultze-Naumburg oder eines Paul Schmitthenner. Als betont sachlich und ökonomisch konzipierende Sozialingenieure wollten sich Otto Haesler oder Ernst May sehen. Nachhaltig als Architekturtheoretiker wirkten viele Architekten, etwa Gottfried Semper, Le Corbusier, Fritz Schu-
macher, Theo van Doesburg, Rudolf Schwarz, Aldo Rossi, Oswald Matthias Ungers oder Robert Venturi. In die Rolle des emphatischen, nietzscheanischen Propheten schlüpfte dabei insbesondere Bruno Taut um 1920; als theologisch inspirierter Grübler erscheint hingegen Rudolf Schwarz. Früh erkannte Le Corbusier die Chancen, die eine vielfältige Medienpräsenz bietet: Als Herausgeber von Zeitschriften und vielen Büchern, gefragter Vortragsredner und Interviewpartner gehörte er seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu den Medienstars, über die in der populären Presse intensiv berichtet wurde. Auch Ludwig Mies van der Rohe und Ernst May schafften es auf die Titelblätter des Magazins „Life“ bzw. des „Spiegel“. Auch heute sind Namen wie Frank O. Gehry, Zaha Hadid und Daniel Libeskind als Personen des öffentlichen Lebens fast jedermann vertraut.
Technische Universität Otaniemi/Espoo Landschaft und moderne Architektur
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er Zweite Weltkrieg hatte für Finnland einschneidende Konsequenzen – der finnisch-sowjetische Krieg mit dem Einmarsch der Sowjets 1941, der Beitritt des Landes an die Seite Hitlerdeutschlands, Ressourcenknappheit sowie Gebietsabtretungen und hohe Reparationszahlungen an die UdSSR hatten katastrophale Folgen und machten mit Kriegsende ein umfassendes Wiederaufbauprogramm notwendig. Ziel war, aus dem Land einen Wohlfahrtsstaat zu machen. Das betraf in hohem Maße auch die Architektur: Wohnungsbauprogramme und der energische Ausbau der Bildungseinrichtungen sowie eine Neuorientierung des Kirchenbaus hinsichtlich liturgischer und sozialer Aspek-
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te setzten in umfassender Weise bereits Ende der 40er Jahre ein, selbst wenn sich die Vollendung der Ensembles in vielen Fällen um viele Jahre verzögerte. Wie Deutschland kannte auch Finnland ein bereits in den frühen 50er Jahren einsetzendes Wirtschaftswunder, das sich etwa in der Abhaltung der Olympischen Spiele in Helsinki 1952 und der Abzahlung der Reparationsforderungen im selben Jahr niederschlug. Ein vornehmlich agrarisch bestimmtes Land wurde energisch urbanisiert, handwerkliche Traditionen durch industrielle Fertigung ersetzt. Das Land bot insofern ein vielfältiges Experimentierfeld, um neue Planungs-, Konstruktions- und Einrichtungskonzepte auf ho-
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□ 138 Technische Universität Otaniemi/Espoo, Alvar Aalto, 1960 – 66, Grundriss der Kernbauten
hem Niveau zu erproben. In diesem Kontext wird der bereits vor dem Krieg tätige Architekt Alvar Aalto (Sanatorium in Paimio, voll. 1932) zu der führenden Autorität, neben anderen wichtigen Figuren wie z. B. Aarne Adrian Ervi oder Keijo Petäjä. Der Neubau des Komplexes war nötig geworden, da die alte Universität im Stadtzentrum von Helsinki während des Zweiten Weltkrieges durch die Sowjets schwer beschädigt und überdies räumlich ungenügend geworden war. So wählte man als Bauplatz 1949 den Stadtteil Otaniemi in Espoo, westlich der Hauptstadt, der halbinselartig in eine Ostseebucht ragt und damals ein bewegtes, schütter bewaldetes Terrain darstellte. Die Neugründung der Universität war der entscheidende Markstein für den umfassenden Ausbau des finnischen Hochschulsystems, aber auch für die Neuorientierung der finnischen Architektur. Denn die Einpflanzung des Universitätscampus in eine landschaftlich angenehme Umgebung war von Anbeginn programmatisch: Die Studierenden sollten beim Genießen der Natur lernen. Dies entsprach zum einen den Modellen der angloamerikani-
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schen Universitätscampi, vor allem aber auch den finnischen Stadterweiterungsmodellen der Nachkriegszeit; ein Beispiel hierfür ist die unweit der Universität gelegene große Gartenvorstadt Tapiola in Espoo (ab 1954 nach Plänen von Otto-I. Meurman, Aarne Adrian Ervi u. a.). Hier wurden nach dem Vorbild schwedischer Nachbarschaftsmodelle Wohnsiedlungen im Grünen, in variantenreicher Bebauung und mit guter Infrastruktur geplant und damit Alternativen zu übermäßig technisch rationalisierten Siedlungsmodellen |▶ 30, 37| wie etwa der Zeilenbauweise entwickelt. 1949 legten Aino und Alvar Aalto erste Entwürfe für den Campus vor und wurden ohne offene Wettbewerbsausschreibung als Architekten verpflichtet; die eigentliche Entwurfsarbeit dauerte von 1953 bis 1955. Aber erst ab 1960 konnte man an die Errichtung der 1966 eröffneten Hauptbauten des weitläufigen Campus gehen, der auch Studentenwohnheime und Sportanlagen enthält und dessen Gesamtausbau sich bis Mitte der 70er Jahre erstreckte. Das Grundprinzip war, die natürlichen Gegebenheiten des Terrains beizubehalten bzw. intelligent auszunutzen. So bildet der Hauptflügel der Anlage eine winkelförmige Grundrissform, deren Schenkel sich in die Landschaft erstrecken (□ 138). An der höchsten Stelle, über die freigebliebenen Wiesen und Felder gut sichtbar, erhebt sich in der Mitte des Winkels der zentrale Komplex – der ‚Festplatz‘ mit dem Auditorium maximum, einem nach Osten gerichteten Foyer mit einem weiteren Hörsaal sowie der Hauptverwaltung im Südflügel. Leicht schräg davor versetzt entstand in den 60er Jahren die Universitätsbibliothek. Die restlichen Seminargebäude sind im Norden in einer doppelten Kammstruktur angeordnet, die zahlreiche Höfe ausbildet, sich aber teilweise und ganz im Gegenteil zu dem zentralen Bereich in den bestehenden Baumbestand duckt. Autozufahrten waren nur von wenigen Seiten möglich, insbesondere über eine westlich passierende Tangente, ansonsten sollten Fußgän-
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□ 139 Technische Universität Otaniemi/Espoo, Alvar Aalto, 1960 – 66, Auditoriengebäude und Annexbauten
gerwege den gesamten Bereich durchziehen. Dieser Grundplan, in dem der Kern der Universität in etwa die Mitte der Halbinsel einnahm, war von vornherein auf Expansion angelegt, die schon in den 60er Jahren nötig wurde, so dass heute fast das gesamte Terrain mit Universitätsbauten bedeckt ist und die Landschaft als essentielle Komponente der Architektur nunmehr insbesondere im zentralen Bereich nachzuvollziehen ist. Seit 2010 ist die Technische Universität administrativ in der Aalto-Universität Helsinki aufgegangen. Insgesamt also scheint die Architektur gleichsam aus der Natur hervorzuwachsen und auf dem höchsten Punkt in dem Auditoriengebäude zu kulminieren (□ 139): Von relativ schlichter kubischer Architektur mit Backsteinfassaden, in den äußeren Bereichen und teilweise hinter Bäumen versteckt, steigert sich das Ensemble in der eigenartigen Baulichkeit des geschwungenen zentralen Hörsaals. Das entspricht auch der funktionalen Einteilung, denn hier treffen der Haupteingang und der repräsentative Bereich zusammen, um den herum sich radial die Funktionsbereiche der einzelnen Lehreinrichtungen sowie Wohnungsbauten anordnen. Zur Mitte hin steigert sich aber auch die symbolische Aussagekraft der Architektur, denn das Auditorium hat im Grundriss die Form eines Viertelkreises, in dem die Sitzreihen konzentrisch ansteigen – eine klare Erinnerung an griechische Theater der Antike.
Diese Struktur wird auch aufgenommen in der Decke, die in vier rund geführten Stufen nach außen ansteigt. Damit wird auf ingeniöse Weise auch nach außen, monumental über dem Haupteingang aufsteigend, die antike Theaterform durch weitere Bedeutungsdimensionen ergänzt. Die Stufen bilden dynamisch gerundete Konturen und erinnern insofern auch an geschwungene Klippen einer natürlichen Landschaft. Darüber erstreckt sich als Abschluss nach oben ein steiles, der kurvigen Struktur folgendes Pultdach mit Zinkabdeckung. Das Ganze wirkt, als habe man aus einem römischen Amphitheater – das als Bautyp ja häufig in bestehende Hügelformationen eingearbeitet ist – ein Viertel herausgeschnitten; entsprechend treten die Schnittflächen markant als steil nach oben weisende Dreiecksflächen aus dunkelrotem Backstein zu Tage. Die gestaffelte Struktur hat aber auch subtil erdachte Funktionen: denn die Stirnseiten der Abstufungen sind – im wirksamen Gegensatz zu den Backsteinmauern der Seiten – voll verglaste, nach außen glänzende Fensterbänder. Durch sie tritt Licht – in Finnland häufig ein stark seitlich einfallendes Licht einer niedrig stehenden Sonne – in das Innere, wird aber sogleich gebrochen und indirekt diffus nach unten abgestrahlt. Die Fensterstürze sind nämlich riesige, kurvig geführte Betonwinkelprofile. Die Winkelöffnung geht nach vorne und unten, so dass aufgrund der stufigen Abfolge der Träger weite Schlitze in diesen
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□ 140 Technische Universität Otaniemi/Espoo, Alvar Aalto, 1960 – 66, Inneres des Auditoriengebäudes
Richtungen entstehen, durch die das Licht eintreten kann und umgelenkt wird. Diese kurvig geführten Träger werden durch vier große, radial angeordnete Betonbinder gestützt, die, dem Längsschnittprofil des Auditoriums folgend, auf seiner Rückwand hoch ansteigen und nach vorne umknickend zur Bühne steil herab zusammenlaufen (□ 140). Im Inneren macht dies den Eindruck, als bestehe die Architektur nicht aus tragenden Wänden und abschließender Decke, sondern aus kulissenartigen Segeln oder Paneelen, die im Oberteil aufgespannt sind, dort die Fenster verdecken, aber reichlich diffuses Licht spenden. Auch die Rückwand des Saals sowie die Podiumswand bestehen aus solchen sich sphärisch biegenden Paneelen. Ähnliche Konzeptionen wie bei dem Universitätscampus in Otaniemi werden auch im neuen finnischen Schulbau wirksam, der vor allem Pavillonschulen im Grünen realisiert. Aber auch der Kirchenbau zählte zu den florierenden Baugattungen, die als Teil der neuen Stadterweiterungen im Grünen errichtet wurden und dabei liturgische wie auch soziale Zentren abgeben sollten. Das gilt etwa für ein weiteres Hauptwerk Aaltos, der evangelischen Pfarrkirche in Vuoksenniska/Imatra (1955 – 58). Unübersehbar weist der schlanke, energisch sich emporreckende Kirchenturm auf die in einem grünen Tannenwald liegende Kirche hin. Der
III. Schlüsselwerke
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stark organische Sakralbau besteht aus drei sich rhythmisch dehnenden und gleichsam fächerförmig ausweitenden Raumblasen. Das dient zunächst der akustischen Verbesserung, schafft aber ähnlich wie in einem barocken Gebäude auch unterschiedliche Lichtakzente. So ist der Altarbereich hell erleuchtet. Insgesamt geben 103 verschiedene Öffnungen Licht, absichtsvoll wechselnd über den ganzen Tag. Der ondulierende Innenraum ist aber auch wandelbar, um etwa einen Gemeindesaal abzutrennen oder gar die Nutzung als Turnhalle zu ermöglichen. Alltagsleben soll sich, wie auch in vielen öffentlichen Bauten des neuen Finnlands, mit den Hauptfunktionen des jeweiligen Bauwerks verbinden. Ein weiterer vom Raumerlebnis überwältigender Kirchenbau ist die Kirche von Kaleva in Tampere, 1959 – 66 von Raili und Reima Pietilä errichtet. Der Ausschreibungsvorgabe folgend, handelt es sich um eine monumentale Anlage: Konvex und konkav sich krümmende, hoch aufsteigende Pfeilermassive umstehen den unregelmäßig geformten Innenraum und lassen zwischen sich hohe Lichtschlitze frei. Auch hier sind die Landschaftsbezüge wichtig, denn obwohl die Kirche innerhalb einer städtischen Umgebung steht, evoziert das Innere das Erlebnis einer Gebirgsschlucht. Derartige Themen werden wiederum aufgenommen in der Johanneskirche von Männistö in Kuopio (1986 – 92, Juha Leiviskä und Pekka Kivisalo), allerdings sind die Wandbegrenzungen in diesem Fall aufrecht stehende, gegeneinander leicht verschobene und in der Höhe dramatisch ansteigende Paneele aus Beton- und Backsteinflächen. Die verglasten Zwischenräume lassen Licht ins Innere strömen. Auch in diesem späten Beispiel bleibt über das Material des Backsteins, aber vor allem durch die scheinbar unregelmäßig bis zum Glockenturm sich staffelnden Paneele – gleichsam die Schichtungen eines Felsblocks – die landschaftliche Bezugnahme ein zentrales Moment.
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Brasília, Stadtanlage und Parlamentsbau Eine Hauptstadt als Staatssymbol
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ann die Stadtanlage einer Hauptstadt das Zusammenwirken der Staatsorgane so bildwirksam umsetzen, dass daraus ikonenhafte Zeichen entstehen, die sogar als Logos einsetzbar sind? Kann man daraus auch grundsätzliche politische Zielsetzungen ablesen? Kann solch eine sinnbildhafte Stadtanlage auch ihren praktischen und repräsentativen Zwecken nachkommen? Diese Fragen stellen sich insofern, als die meisten der im 20. Jh. neu angelegten Hauptstädte zwar darauf achteten, die wesentlichen Institutionen würdig herauszustellen und miteinander städtebaulich in Bezug zu setzen sowie eine repräsentative Ordnung vorzuführen oder auch Geschichte und Natur des Landes wahrnehmbar zu machen |▶ 5, 6, 13, 14, 44|. Doch nur die brasilianische Hauptstadt Brasília ist zu einer regelrechten Marke und einem Imageträger geworden, auch und vor allem aufgrund ihrer eigentümlichen Gesamtanlage und architektonischen Ausgestaltung. Brasília ist eine verspätete Gründung, obgleich der Plan für eine neue Hauptstadt bis auf die Unabhängigkeit des Landes 1822 zurückgeht und seine Verwirklichung sogar in der Verfassung verankert worden war. Die alten Hauptstädte der riesigen portugiesischen Kolonie, Salvador de Bahia und ab 1763 Rio de Janeiro, lagen an der Küste, nicht zuletzt, um eine gute Anbindung über See an das Mutterland zu gewährleisten. Die schon vor der Gründung des Staates bestehenden Pläne, eine zentral im Inneren des Landes gelegene Hauptstadt zu errichten, verstärkten sich nach der Umwandlung des Staates in eine föderale Republik im Jahre 1889. Fünf Jahre später wurde ein zentral gelegenes, klimatisch begünstigtes Terrain im wenig besiedelten Bundesstaat Go-
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ias ausfindig gemacht, das letztendlich trotz anderer Vorschläge das Terrain für die neue Hauptstadt abgeben sollte. Die Verwirklichung dauerte indessen noch über ein halbes Jahrhundert und verdankte sich einer besonderen politischen Konstellation: Von 1930 – 45 führte der diktatorisch regierende Getúlio Vargas das Land, indem er sich die Unterstützung niedriger Schichten (sog. Populismus) sicherte und gleichzeitig dem Land eine anti-amerikanisch grundierte industrielle Modernisierung verschrieb. Da sich Vargas trotz des verfassungsmäßigen Auftrages nicht um die Hauptstadtplanung kümmerte, übernahm dies mit dem Ende seiner Präsidentschaft umso entschiedener eine eigene Kommission, die 1955 schließlich den 1894 vorgeschlagenen Standort beschloss. Die Entscheidung fiel vor allem aufgrund seiner zentralen Lage, seiner von allen Großstädten des Landes ähnlichen Entfernung, des ausgeglichenen Klimas und der guten landwirtschaftlichen Bedingungen. Als Vargas nach seiner zweiten Amtszeit 1954 spektakulär durch Selbstmord aus dem Leben schied, wirkte sein politisches Programm weiter und musste mit der nunmehr in Gang gekommenen Hauptstadtplanung verbunden werden. Dies wurde die Aufgabe des wenig später folgenden Präsidenten Juscelino Kubitschek de Oliveira, der seither redundant, aber nicht ganz zu Recht, als der Gründer von Brasília verehrt wird. Ihm blieb zur Verwirklichung allerdings nur die reguläre Amtszeit von fünf Jahren, da nicht zu erwarten war, dass sein Nachfolger die 1956 begonnene und bereits 1960 offiziell eröffnete neue Stadt weiterführen würde. Die Zeitnot erklärt, dass der Realisierungsprozess in hohem Maße durch einen pragmatisch zu rechtfertigenden Nepo-
Brasília, Stadtanlage und Parlamentsbau
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tismus geprägt war: Kubitschek wandte sich an Oscar Niemeyer, der zusammen mit Lúcio Costa und Le Corbusier 1935 das Erziehungsministerium in Rio de Janeiro und seit 1940 in seinem Auftrag bereits die umfangreiche Modellsiedlung Pampulha errichtet hatte. Da Niemeyer es ablehnte, den städtebaulichen Entwurf vorzunehmen, wurde ein innerbrasilianischer Wettbewerb ausgelobt, der, auch dank Niemeyer als Jurymitglied, von Lúcio Costa gewonnen wurde. Der maßgebliche Architekt der einzelnen Bauten blieb dank dieses Nepotismus allerdings Niemeyer, auch der Hauptbauunternehmer der neuen Stadt, Israel Pereira, wurde über dieses Klientelsystem gewonnen. Diese personellen Verbindungen sind deswegen wichtig, weil die Stadtplanung Costas auf Kubitscheks intendierte industrielle und soziale Erneuerung des Landes Rücksicht zu nehmen hatte und sich zugleich die organisch-sinnlich schwingenden und zugleich großzügigen Formen Niemeyers nunmehr mit einem programmatisch nationalen Modernismus verbanden. In Costas Stadtplan überkreuzen sich zwei große Achsen: Eine Nord-Süd-Achse in Form eines Bumerangs folgt der Ausrichtung eines sichelförmigen künstlichen Sees, des Lago do Paranoá (□ 141). An den Hauptarterien sind
Wohngebiete samt Infrastruktur angegliedert. Gemäß dem Konzept der Bandstadt |▶ 13, 27| kann diese Struktur entlang der Achse auch erweitert werden. Als Wohnbebauung entwarf Costa in Erweiterung von Vorschlägen im Sinne der Charta von Athen |▶ 37| das Konzept der Superquadras: Quadratische Parzellen bilden eine individuell mit Bauten zu füllende, durchgrünte und verkehrsberuhigte Großwohneinheit, die durch Baumreihen von Straße und Nachbarbebauung abgegrenzt wird. Mittig wird diese Hauptachse von einer zweiten, schnurgeraden Achse überschnitten, deren kürzeres Ostende in eine Halbinsel des Sees reicht. Entlang der Achse stehen die Regierungsbauten, auf der Halbinsel selbst erhebt sich am Seeufer der Präsidentenpalast inmitten eines Parks. Entlang der anderen, längeren Hälfte der Achse reihen sich Sportstätten, Kongresszentrum, Fernsehturm usw. bis zum abschließenden Bahnhof. Costas sog. plano piloto hat eine äußerst hohe Symbolkraft: In der Überkreuzung zweier großer Achsen kommt ein monumentales Markieren, ein nachdrückliches ‚Ankreuzen‘ des neuen Hauptstadtortes zum Ausdruck; in der grundsätzlich unterschiedlichen Nutzung der Hauptachsen sind die Aspekte von modernem Wohnen und staatlicher Repräsentation nach dem Prinzip des Zonings prägnant getrennt und zugleich aufeinander bezogen. Im Grundriss erinnert die Figur an einen Vogel- oder Menschenkörper, an dem sich Kopf, Rumpf und Extremitäten bzw. Denken und Handeln unterscheiden lassen. Auch der oftmals gezogene Vergleich mit einem Flugzeug, das von einem verantwortungsvollen Piloten gesteuert wird, ist – selbst wenn er durch ein verballhornendes Verständnis von plano piloto entstanden ist – sicher nicht von der Hand zu weisen, denn Costa selbst bezeichnete die Wohnachsen als Flugzeugflügel. □ 141 Brasília, Entwurf für den Bebauungsplan, Lúcio Costa, 1955
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□ 142 Brasília, Nationalkongress, Oscar Niemeyer, 1956 – 60
Die auf 500 000 Bewohner angelegte Gesamtanlage ist von riesigen Dimensionen, die eine sehr aufgelockerte Bebauung erlauben. Vor allem auf der sich über zehn Kilometer erstreckenden monumentalen Achse, zumal in ihrem Westteil, stehen die Gebäude bisweilen mehrere hundert Meter entfernt voneinander. Hier war eine Alternative zu den dicht bebauten US-amerikanischen Metropolen angestrebt. Zur Überbrückung der riesigen Entfernungen benötigt man allerdings ein Auto, und die Bedeutsamkeit dieses Verkehrsmittels wird in mehrerer Hinsicht vorgeführt. Die Monumentalachse wird eingefasst durch im Abstand von ca. 100 m parallel geführte sechsspurige Autobahnen im Einbahnverkehr. Die Kreuzung der Hauptachsen ist als große Kleeblattkreuzung auf mehreren Ebenen gebildet: Hier liegt konsequenteweise ein Busbahnhof. Dieses Straßennetz war zumindest zur Erbauungszeit völlig überdimensioniert und erlaubte allen Autobesitzern ein genüssliches Gleiten von einem Ort zum anderen. Für die vielen anderen, lange Zeit nicht motorisierten Bewohner wurde Fortbewegung zu einem Hindernislauf auf Trampelpfaden und wilden Straßenquerungen. Doch entsprach diese extreme Ausbildung einer autogerechten Stadt durchaus den politischen Zielen, deren eines der massive Ausbau einer landeseigenen Automobilindustrie war. Nicht
ohne Grund taufte man eines der von Volkswagen-Brasilien produzierten Kleinwagenmodelle denn auch „Brasília“. Die monumentalen Straßenzüge gliedern aber markant die Gesamtanlage, wie dies insbesondere in dem repräsentativen Ostteil der Monumentalachse deutlich wird: Die Achse bleibt zwischen den Straßenzügen eine weite Freifläche ohne jede Bebauung. Das erinnert an die Washingtoner Mall |▶ 3|, auch in dem Sinne, dass es am Ostende höchst bedeutungsvolle architektonische Zielpunkte gibt, die zwischen die Straßenachsen eingefügt sind, nämlich das Parlamentsgebäude als Querriegel (□ 142), gefolgt von einem etwas aus der Symmetrieachse nach Norden verschobenen Doppelhochhaus für Abgeordnetenbüros und dem quergerichteten Platz der Drei Gewalten (Praça dos tres Poderes) dahinter. Hier stehen sich der Oberste Gerichtshof und der Amtssitz des Präsidenten (Palácio do Planalto) gegenüber. Ansonsten aber sind die öffentlichen Gebäude außerhalb des monumentalen Grünstreifens angeordnet. Im Umfeld der Hauptkreuzung, die das funktionale Zentrum der Stadt mit Geschäften und Restaurants abgibt, gilt dies für das Theatergebäude auf der Nordseite der Achse sowie, weiter in Richtung auf das Regierungszentrum gerückt, für die Kathedrale auf der Südseite. Dann folgen auf beiden Seiten insgesamt elf
Brasília, Stadtanlage und Parlamentsbau
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□ 143 Brasília, Palácio do Itamaraty (Außenministerium), Oscar Niemeyer, 1956 – 60
Ministerienbauten als quergestellte Hochhausriegel. Der immense, von der Autobahn umfahrene Freiraum zwischen den Gebäudereihen und die große Entfernung zu den abschließenden Hauptbauten ermöglicht weite unbehinderte Blicke, vorzugsweise aus dem Auto. Das Ganze erinnert damit an ein überdimensioniertes Museum, entlang dessen ‚Wänden‘ Kunstwerke aufgestellt sind. Dieser Eindruck wird vor allem dadurch verstärkt, dass sämtliche von Niemeyer hier entworfenen Bauten einen unverkennbar skulpturalen Charakter haben: Das Theater- und Operngebäude, zum Teil unterirdisch angelegt, erscheint als ungewöhnlicher Pyramidenstumpf auf trapezförmiger Grundfläche. Darunter verbergen sich die gegeneinander auf ein gemeinsames Bühnenhaus ausgerichteten Zuschauersäle von Oper und Theater. Auch die Kathedrale ragt nur mit ihrer originellen Kuppel aus dem Erdbodenniveau hinaus: Es handelt sich um eine Art runder Rippenkonstruktion, bei der die einzelnen Rippen wie Bumerangs geformt sind und sich oben nach außen biegen. Somit entsteht eine Art Strahlenkrone. Im Ostbereich des Regierungsviertels, also dort, wo die wichtigsten Bauten stehen, verstärkt sich die Originalität der architektonischen Form noch weiter. Das Außenministerium als östlichster Bau der südlichen Ministerienreihe erhebt sich inmitten eines Wasserbassins, in dem sich die Außenseite des Gebäudes spiegelt (□ 143). Sie besteht aus einer hohen Arkade auf abge-
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fassten Pfeilern. Aus dem wiederum halb in den Erdboden versenkten Parlamentsgebäude in Form eines Querriegels stößt eine Flachkuppel hervor, daneben erhebt sich ein schüsselartiges Gebilde; beides bezeichnet die beiden Parlamentssäle darunter (□ vgl. 142). Eine markante Rampe führt auf das Dach, hier gibt es Gelegenheit zum Spaziergang über den Redesälen. Der Platz der Drei Gewalten als bandartige Querfläche ist mittig über ein Bassin mit dem Parlamentsgebäude und das Abgeordnetenhaus verbunden, so dass sich eine T-Form ergibt, deren Endpunkte die drei Hauptgewalten versinnbildlichen: die Legislative im Parlamentsriegel, die Exekutive im Präsidentensitz und die Judikative im Obersten Gerichtshof. Diese beiden Gebäude sind jeweils durch eine Art Säulenstellung eingefasst, die das Dach der rechteckigen Bauten trägt. Allerdings schwingt im unteren Bereich der rückwärtige Teil der Stützen in einer Art Ausleger nach hinten, um dort den etwas erhöhten Boden des Erdgeschosses zu tragen. Diese Formen erinnern an geblähte Segel, und Niemeyer hat sie auch, zu drachenähnlichen Vierecken mit einschwingenden Seiten verdoppelt, als Umhüllung des Palácio da Alvorada am Seeufer angewandt. Am Justizministerium auf der Nordreihe stoßen zwischen den Außenarkaden breite, flache Rinnen hervor, von denen sich Wasserkaskaden in das umgebende Bassin ergießen – eine klare Evokation einer wilden Dschungellandschaft.
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Dieses Museum aus abstrakten Bauskulpturen wird ergänzt durch weitere Gebilde, die zwischen Großplastik und Architektur oszillieren. Auf dem Platz der Drei Gewalten erheben sich in der Mitte nämlich u. a. ein Museum der Geschichte Brasiliens, faktisch in Inschriften gemeißelte Aussprüche von Kubitschek präsentierend, als ein exzentrisch aufgesockelter waagrechter Betonriegel sowie ein Taubenschlag, dessen Form an eine riesige Wäscheklammer erinnert. Daneben gibt es einige großformatige öffentliche Großskulpturen wie etwa Bruno Giorgis „Krieger“ auf dem Platz der Drei Gewalten oder eine Bronzeskulptur „Badende“ von Alfredo Ceschiatti vor dem Alvorada-Palast. Allerdings sind diesen skulpturalen Bauten kaum klare politische Inhalte zu entnehmen, ganz davon abgesehen, dass auch die Anordnung der Gebäude auf dem Platz der Drei Gewalten insofern unrichtig ist, als für den Präsidenten eine seiner tatsächlichen Macht nicht entsprechende Unterordnung suggeriert wird.
Es geht insgesamt nicht darum, eine belehrende Staatsarchitektur zu errichten, sondern ein beeindruckendes museales Arrangement zu schaffen, in dem die politischen Instanzen als Kunstwerke aufgewertet sind. Innerhalb dieses freigeräumten Areals kommt den Architekturen Niemeyers die Aufgabe zu, ihre sinnlichen skulpturalen Reize als sublime Evokationen Brasiliens – oder vielleicht von Brasilienklischees – zu vermitteln – etwa die Fruchtbarkeit des Urwalds in den Wasserkaskaden des Justizministeriums oder der gewächshausartigen Struktur des Opernhauses. Die sinnlich-bildliche Wirksamkeit der musealen Hauptstadt wurde tatsächlich zum Image einer eigenständigen Moderne, aus der sogar logoähnliche Bilder abgeleitet werden konnten. Das gilt sowohl für den Gesamtplan, der etwa auf Münzen und Banknoten erschien, als auch für Niemeyers segelartige Stützen, die selbst als Formen für Krawatten und Bikinioberteile Verwendung fanden.
Rundfunk- und Pressezentrum in Kofu Prozesshafte Großform
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eit dem Zweiten Weltkrieg wuchsen die Städte in Asien – zunächst in Japan, bald in Hongkong, Singapur, Shanghai usw. – sowie in Lateinamerika explosionsartig; mittlerweile ist die Anzahl der Städte mit mehreren Millionen Einwohnern, der Mega-Cities, unübersehbar geworden. Spätestens seit dieser Zeit konnte sich die Aufgabe der Architektur nicht mehr darauf beschränken, Einzelwerke oder Bauensembles zu planen. Vielmehr war mit drängenden städtebaulichen Faktoren zu rechnen: Neben das rasante Bevölkerungswachstum in den Städten trat eine zunehmende individuelle Mobilität – also der Automobil- und Schie-
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nenverkehr: Straßensysteme und Parkmöglichkeiten, Schienen und Bahnhöfe müssen funktionell mit den immobilen Einheiten der Stadt verknüpft werden, allein deswegen, weil eine sehr große Zahl von Pendlern zu bewältigen ist. Eine immense Infrastruktur muss zur Ver- und Entsorgung der Riesenagglomerationen ineinandergreifen, und diese trifft in den Mega-Cities zumeist auf chaotisch organisierte oder schwache Verwaltungen. Außerdem gibt es eingreifende ökonomische Faktoren: Da der Baugrund rar ist, schnellen die Preise in astronomische Höhen; Bauen muss also hochverdichtet erfolgen und Rendite abwerfen: Hoch-
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hausstrukturen mit zeitgemäßer Infrastruktur sollen darauf antworten. Zudem verändern sich all diese Faktoren in einer kaum zu kontrollierenden Geschwindigkeit: Wohnviertel werden zu Geschäftsvierteln, in Brachen entstehen und verschwinden Slums, kulturelle Zentren verschieben sich. Das jahrtausendealte Konzept der europäischen Stadt ist solchen Veränderungen nicht mehr gewachsen: Ein radial organisiertes Gemeinwesen mit einem historisch allmählich gewachsenen Zentrum, sukzessiven Erweiterungen und verkehrstechnischen Verbesserungen kollabiert angesichts solcher Probleme – auch deshalb, weil die europäische Stadt immer ein Ort der Erinnerung mit einer über lange Zeiträume entstandenen, tendenziell erhaltenswerten Bausubstanz ist. All das erweist sich als viel zu wenig flexibel, als dass es den neuen, drängenden Bedürfnissen gerecht werden könnte. Es waren insofern vor allem japanische Architekten, die diese städtebaulichen und architektonischen Herausforderungen seit den 1950er Jahren angingen. Kenzo Tange ist einer der prominentesten von ihnen, auch weil er bis ins hohe Alter weltweit, insbesondere allerdings in Japan (Tokio: City Hall, Olympiastadion, Kathedrale), Singapur, den arabischen Län-
dern sowie in Europa (Bologna, Neapel, Paris, Skopje) Riesenkomplexe entworfen bzw. realisiert hat. Außerdem war Tange seit den 1950er Jahren mit der europäischen Debatte im Rahmen der späten CIAM-Treffen verbunden, auf denen sich die Internationale Moderne selbst hinterfragte, und wirkte als entscheidender Mentor der sog. Metabolisten. 1961 erhielt Tange den Auftrag, für die relativ kleine Stadt Kofu das Yamanashi-Presseund Rundfunkzentrum zu errichten. Drei Medienunternehmen waren hier unterzubringen: die Lokalzeitung Yamanashi News, der örtliche Radiosender und eine Druckerei. Tange organisierte zunächst die funktionalen Grundbestandteile der Einheiten und stapelte sie sodann auf Flächen übereinander: die Druckerei mit ihrem Lieferverkehr im Erdgeschoss, die Radiostudios in abgeschlossenen Boxen in den oberen Ebenen, die Büros aller drei Firmen in einer mittleren Ebene, die durch Fenster und Balkone geöffnet ist. In einem zweiten Schritt wurden alle Versorgungsbereiche wie Fahrstühle, Treppen, Toiletten, Stauräume usw. zusammengefasst, auf 16 je 5 m im Durchmesser aufweisende Betonröhren verteilt und diese auf ein 4 × 4-Raster angeordnet (□ 144). Hierin sind die in sich frei disponiblen Funktionseinheiten auf insgesamt
□ 144 Kofu, Yamanashi-Presse- und Rundfunkzentrum, Kenzo Tange, 1961
III. Schlüsselwerke
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□ 145 Kofu, Yamanashi-Presse- und Rundfunkzentrum, Kenzo Tange, 1961
zehn Etagen eingehängt – es handelt sich also um unabhängige Container, die in ein festes Versorgungs- und Kommunikationsraster eingefügt sind, ein sog. core-and-bridge-System (□ 145). Die Flexibilität sieht man dem Gebäude an: In einigen Ebenen ‚fehlt‘ ein Container, hier ergibt sich eine Art Fußgängerzone; und nach oben kann man die 16 auf unterschiedlichen Ebenen endenden Schäfte gleichsam weiter fortsetzen. Auch die Wände sind aus Großblöcken in Beton erstellt, die modular und flexibel ineinandergesteckt wurden. Mobilität und Kommunikation, Flexibilität und Erweiterbarkeit des Pressezentrums sind in Tanges Auffassung modellhaft für das Übereingehen von Urbanismus und Einzelarchitektur. Die Vertikalen sind permanente Strukturen, die wie nach oben führenden Straßen Zutritt zu variabel veränderbaren Funktionseinheiten – darunter auch Fußgängerzonen und Plätze – erlauben. Für Tange sollte dieses core-and-bridge-System zum Keim einer umfassenden analogen Erneuerung der Stadt Kofu werden – was allerdings, trotz einiger Umbauten in dem Gebäude selbst, nie umgesetzt wurde. Wesentlich ist die Unterscheidung von dauerhaft konzipierten Mega-Strukturen einerseits und flexibel verfügba-
ren, modular kombinierbaren Untereinheiten andererseits, welche verändert, weggenommen oder erweitert werden können, um somit den rasch sich verändernden Bedingungen einer Riesenagglomeration gerecht werden zu können. Die Megastruktur schafft somit ein ‚dreidimensionales Raum-Netzwerk‘ (Tange), in dem sich Städtebau und Architektur vereinen. Tange geht also weiter als der von ihm bewunderte Le Corbusier, dessen Unité d’habitation |▶ 37| in ihrem Rasterprinzip einen wichtigeN Vorläufer der Mega-Struktur bildet, aber sich entschieden als eine autonome und nicht erweiterbare Einheit versteht. Derartige Megastrukturen waren bereits in dem berühmten Tokyo Bay Plan konzipiert worden, den Tange in Zusammenarbeit u. a. mit Arata Isozaki und Kisho Kurokawa von 1958 bis 1961 als radikale Erweiterungsvision der japanischen Hauptstadt entwickelt hatte (□ 146). Es handelt sich um eine Bandstadt, die sich allerdings nicht über der weithin überbauten, städtebaulich chaotischen und eigentumsrechtlich komplizierten Landmasse Tokios erstrecken, sondern über 30 km die vorgelagerte Meeresbucht bis zur gegenüberliegenden Stadt Chiba überbrücken sollte. Dieser Plan einer
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□ 146 Kenzo Tange u. a., Modell der Überbauung der Bucht von Tokio, 1958 – 61, Grundriss und Schnitt
civic axe basiert wesentlich auf Aspekten des Verkehrs und der Kommunikation, denn er besteht aus einer elaborierten Autobahnstruktur, 40 m über der Stadt und 50 m über dem Wasser, getragen von einer Abfolge riesiger Brückenpfeiler in jeweils einem Kilometer Entfernung voneinander. Wie zwei ineinandergedrehte Girlanden bilden diese Autobahnen acht sog. Distrikte von ca. 3 × 3 km aus, die verschiedenen Funktionen – Verwaltung, Kommerz, Erholung – gewidmet sind. Unter- und oberhalb dieser Verkehrsebene ist jeder Distrikt durch drei kleinere Schnellbahnschleifen von je 1 km Seitenlänge untergliedert bzw. sind je drei Distrikte durch eine Umgehungsautobahn zusammengefasst. In den Querbahnen zwischen den Distrikten – da, wo sich die Girlandenbänder überschneiden –, können die Fahrbahnen über Rampen von einer Ebene zu anderen bis zur untersten Zone der Parkplätze problemlos gewechselt werden. Von hier aus gehen auch fischgrätenartig Stichstraßen zu den Wohngebieten ab, die ihrerseits als zeltförmige Megablöcke auf Plattformen über dem Wasser flexi-
III. Schlüsselwerke
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bel an die Stichbahnen angedockt bzw. auch entfernt werden können. Verschiedenste, wie in einem Holzbaukasten übereinandergelegte Riegel füllen als Megastrukturen je nach Bedarf die Distrikte aus, können in kühner Weise auch die Autobahnen überbauen. Erschlossen werden die Blöcke – ähnlich wie beim Yamanashi-Center – durch hohle, flexibel nutzbare Riesenröhren. Entscheidend ist also eine höchst effektive Mobilität zwischen den einzelnen Stadtteilen, deren Funktionen – im Unterschied zu älteren Stadtbaukonzepten – variabel und flexibel veränderbar sind. Der futuristische Plan muss vor dem Hintergrund intensiver Planungstätigkeiten für den Umbau der japanischen Metropole gesehen werden: Inmitten eines beispiellosen wirtschaftlichen Aufstiegs bereitete man sich seit 1958 auf die Olympischen Spiele im Jahre 1964 vor. Das bedeutete, vor allem den chaotischen, kleinteiligen Wildwuchs der Stadt beherrschbar zu machen. Tanges Idee, die Bucht zu überbauen, war in diesem Kontext nicht ganz neu, hatte aber vor allem den Effekt, neuen Baugrund zu schaffen und ihn öffentlich in Megastrukturen zu gliedern und insofern einen Rahmen zu schaffen, in dem sich die Bedürfnisse einer egalitären und demokratischen Gesellschaft verwirklichen sollten. Auch hier gibt es wichtige Vorbilder im Werk von Le Corbusier: Dieser hatte in seiner Ville radieuse das schon ältere Konzept der Bandstadt mit einer zonierten Stadtanlage verbunden |▶ 27, 37|. In seinem Plan Obus hatte Le Corbusier eine Stadterweiterung für Algier vorgestellt, bei der Riesenwohnblöcke aus flexibel eingefügten Einheiten mit einer darüber angelegten Autobahn verbunden werden sollten. Bei Tange allerdings dominiert nun der Aspekt von Verkehr und Kommunikation derart konsequent, dass er die permanente Megastruktur einer ansonsten variablen und veränderbaren neuen Stadt abgeben soll. Die Assoziationen zur Wirbelsäule eines Nervensystems sind durchaus gewollt; und die beständige Er-
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neuerbarkeit berief sich durchaus auch auf die japanische Naturreligion. Denn Tanges Auffassung der ‚Stadt als Prozess‘ versteht sich als Fortführung religiöser Prinzipien des Shintoismus: Wie sich die Natur beständig erneuert, so werden auch die Kultbauten der Schreine – Tange selbst hat sich dem Ise-Schrein intensiv gewidmet – alle 20 Jahre neu errichtet, und zwar mit hölzernen, modularen Bauelementen. Die historische Bedeutsamkeit des Tokyo Bay Plan liegt vor allem darin, dass Tange ihn 1959 auf dem letzten Treffen des CIAM als Alternative zu der damals massiv in Frage gestellten Charta von Athen bzw. den Fehlentwicklungen eines primär technokratischen Funktionalismus präsentierte. In bezeichnender Weise trat Tange dabei in Opposition zu Ernesto N. Rogers Vision einer regionalistischen, wieder auf die Geschichte abhebenden Reform des modernen Städtebaus |▶ 39|. Vor allem aber fungierte Tange als Mentor für die sich ebenfalls 1960 mit ihrem Manifest „Metabolism 1960 – A Proposal for a New Urbanism“ in die Öffentlichkeit tretende Metabolistengruppe (vgl. S. 93). Kiyonori Kikutake präsentierte riesige Turmhäuser (Marine City und Tower Shape City), Kisho Kurokawa sah eine Stadt in Form einer riesigen, beständig weiter wachsenden Stadt-Mauer
vor, Arata Isozaki träumte von baumartigen Riesenstrukturen, an deren Ästen die Funktionseinheiten der Stadt angehängt und entfernt werden sollten. Obwohl bis auf Kurokawas Nakagin Capsule Tower in Tokio mit zahlreichen Kapselappartements um einen zentralen Mast kaum eine der metabolistischen Ideen umgesetzt werden konnte, hatte die Bewegung großen Einfluss auf eine flexibel modulare und erneuerbare Architektur, wie sie weltweit zum Beispiel von Yona Friedman oder Moshe Safdie vertreten wurde (vgl. S. 71). Auch das Pariser Centre Georges Pompidou |▶ 47) ist ohne die Metabolisten bzw. Kenzo Tange nicht denkbar. Der größte öffentliche Erfolg der Metabolisten war die Weltausstellung in Osaka 1970. Tange entwarf für die Hauptfreifläche ein riesiges Dach aus stählernen Dreieckselementen, Kisho Kurokawa und Kiyonori Kikutake kühne Stahlgerüste, in die variabel Kapseln als Ausstellungspavillons eingehängt waren. Allerdings war die Ausstellung auch eine Art Schwanengesang der metabolistischen Bewegung, denn was als emanzipatorisches Projekt einer Architektur als sozialer Reform begonnen hatte, war nunmehr zu einer gigantischen Maschine zur Konsumgüterproduktion und –präsentation geworden.
Haus der Nationalversammlung in Dhaka Monumentalität und Moderne
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u den ambitiösesten architektonischen Unternehmungen des 19. und 20. Jh.s gehörte es, in jungen Staaten bzw. neuen Hauptstädten große Regierungszentren zu entwerfen und zu gestalten. Das gilt zumal für eine Reihe neuer Staaten, die seit dem späten 18. Jh. im Zuge der Dekolonialisierung entstanden. Damit war
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aber ein grundsätzliches Problem aufgeworfen, denn da, wo es keine fortführbaren eigenen oder nur fremde Traditionen – etwa der ehemaligen Kolonialherren – gab, stellte sich die Frage nach den Konnotationen der jeweils angewandten Lösungen, die notwendigerweise zunächst ‚anders‘, dem ‚Eigenen‘ nicht entspre-
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□ 147 Dhaka, Parlamentsgebäude, Louis I. Kahn, 1964 – 83, Grundriss
chend waren. Dabei musste die bauliche Form ja eine eindringliche Symbolik aufweisen, sie hatte nicht etwa ‚neutral‘ zu bleiben. Und gleichzeitig bestand der Anspruch, alle neuen Erkenntnisse in puncto Infrastruktur und technischen Errungenschaften anzuwenden. Deswegen gehörten bereits die neu entworfenen Regierungssitze des 19. und frühen 20. Jh.s zu manifestartigen Architekturen. Das gilt z.B. für Washington |▶ 3|, Buenos Aires, Neu-Delhi oder Canberra. Doch gab es für diese Fälle die vitruvianische Syntax der klassischen Architektur, die insbesondere über die international vorbildhafte Pariser École des Beaux-Arts als universal akzeptiert wurde und vielfältig kombinierbar war. Diffiziler wurde die Situation, nachdem die Gültigkeit des vitruvianischen Vokabulars durch die Moderne grundsätzlich in Frage gestellt worden war und diese selbst im Zuge der großen Konflikte des 20. Jh.s in vielfältiger Weise politisch belastet erschien. Diese
III. Schlüsselwerke
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Problematik betraf vor allem die Herausbildung von eigenständigen Staaten auf dem indischen Subkontinent. Hier gibt es mehrere anspruchsvolle Projekte für moderne Regierungszentren, die allesamt intendieren, einer angeblich stagnierenden Gesellschaft nach westlichen Mustern Kapitalen angedeihen zu lassen, in denen Modernisierung und Zukunftserwartung architektonisch zum Ausdruck kommen: Das bekannteste ist Chandigarh, nach der Abspaltung Pakistans von Indien als neue Provinzhauptstadt des Punjab seit 1951 von Le Corbusier und Pierre Jeanneret geplant und realisiert. Weniger bekannt ist das 1965 entworfene, nicht verwirklichte Projekt von Louis I. Kahn für die damals west-, seit 1971 gesamtpakistanische Hauptstadt Islamabad. Als Pendant dazu plante und verwirklichte derselbe Architekt in Ostpakistan ebenfalls ein monumentales Regierungszentrum, für die Hauptstadt Dhaka. Mit der Eigenständigkeit von Bangladesch 1971 wurde diese zur Kapitale. Kahns Parlamentsgebäude Jatiya Sangsad Bhaban gehört in seiner komplex geordneten Monumentalität zu den beeindruckendsten Architekturen der Nachkriegsmoderne. Der Auftrag ging 1962 an Kahn, nachdem die zunächst angefragten Architekten Alvar Aalto und Le Corbusier dem Projekt eine Absage erteilt hatten. 1964 begannen die Bauarbeiten, die – verzögert durch Bürgerkrieg und Hungersnot – erst 1983 abgeschlossen werden konnten, lange nach dem Tod des Architekten im Jahr 1974. In einem sichelförmigen künstlichen See entstand ein monumentales Ensemble (□ 147). Zwei symmetrische Flügel mit diagonal verketteten Gruppen von Baublöcken enthalten Wohnungen für Angestellte und Minister sowie Dienstleistungseinrichtungen. An zentraler Stelle dazwischen erhebt sich das einer Zitadelle ähnliche Parlamentsgebäude, umgeben von vier Blöcken für Sekretariate und Ministerienbüros sowie vier großzügige Gebäude für Restaurants und Erholung sowie
□ 148 Dhaka, Parlamentsgebäude, Louis I. Kahn, 1964 – 83, Haupteingang
einer nach Süden abgehenden Moschee inklusive eines vorgelagerten Raums für religiöse Waschungen. Nördlich davon erstreckt sich ein Plateau als monumentaler Vorplatz, über den man den nördlichen Haupteingang erreicht. Charakteristisch ist Kahns Komponieren in klaren geometrischen Formen – vor allem Kubus und Zylinder –, die jeweils eine Gebäudeeinheit bestimmen und über strenge Achsen miteinander verbunden bzw. aufeinander bezogen sind. So steht das Parlamentsgebäude auf einem polygonalen, fast rund erscheinenden Grundriss. In der Nord-Süd-Achse erhebt sich als Würfel der Eingangstrakt bzw. die Moschee, deren Plan ebenfalls ein Würfel ist, dessen Ecken allerdings durch monumentale Zylinder umgriffen sind. Die Annexgebäude in Ost-West-Richtung setzten sich aus gegenständigen bzw. paarweise nebeneinandergestellten Halbzylindern zusammen. Die jeweils gleichartigen Gebäude in den Diagonalachsen sind rechteckig gelagerte Kuben. Alles ist aus Sichtbeton gegossen, der allerdings regelmäßig durch horizontale schmale Marmorstreifen wie gebändert erscheint. Was hier mit Wucht inmitten des künstlichen Sees gesetzt ist, er-
weist sich als eine Komposition aus verschiedenartigsten, sich geordnet überschneidenden Räumen und Tiefenschichten (□ 148). Riesenhafte runde und dreieckige Öffnungen geben Einblicke in das Innere, lassen hier theatralisch Treppenläufe oder Innenhöfe erscheinen. Daraus entstehen genau kalkulierte Lichtregulierungen und Abschattungen. Vor allem in den Umgangszonen um den Hauptsaal werden daraus eine Fülle von Durchblicken, Lichtstreifen, Repoussoir-Effekten usw. bewirkt, die an die berühmten Gefängnis-Radierungen von Piranesi denken lassen (□ 149). Alle konstruktiven Großformen sind also als Raumgebilde erkenn- und erfahrbar. Das wird etwa an den Eckzylindern der Moschee deutlich, die nicht feste, kompakte Einheiten sind, sondern hohl belassen wurden und von den sich hier einschneidenden, aus Glas gebildeten Mauern des Grundquadrats unterteilt werden. Das stützende runde Eckmassiv ist also nicht eine feste bzw. räumlich passive technische Konstruktion, sondern ein aktives, vier Mal wiederholtes und auf den Zentralraum der Moschee bezogenes Raumkompartiment, ein, in den Worten Kahns, „dienender Raum“, der auf den
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„bedienten Raum“ zugeordnet ist. Auch am Eingangsbereich wird das deutlich, denn hier durchzieht ein breiter, gerade geführter Spalt die Mauer von unten nach oben und vermittelt somit Außen- und Innenraum. – Die seitlichen Annexbauten, jeweils aus gleichförmigen Kuben gestaltet, variieren diese Prinzipien, unterscheiden sich aber insofern von dem zentralen wuchtigen Kastell aus Sichtbeton, als sie mit Backstein verkleidet sind. All das setzt einen klaren Kontrapunkt in der Geschichte der sich aus der Architekturavantgarde der 20er Jahre ableitenden Nachkriegsmoderne. Kahn versteht Raum nicht als ‚fließenden‘, zwischen Innen und Außen oszillierenden Raum |▶ 24, 28, 36|, sondern als aktives Mittel der architektonischen Komposition, die entschieden hierarchisiert und geordnet erscheint. Die geradezu klischeehaft propagierte Leichtigkeit und Transparenz der Moderne wird ersetzt durch Monumentalität und Präsenz. Ordnung, ein Zentralbegriff Kahns, teilt sich in der strengen Axialität und Symmetrie mit, die im Großen und im Kleinen herrschen. Hier geht es nicht um eine pittoreske Baugruppe, denn alle Annexbauten erreichen dieselbe Traufhöhe, über die nur die Mauern des Parlamentssaals mit einem □ 149 Dhaka, Parlamentsgebäude, Louis I. Kahn, 1964 – 83, Innenansicht
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schirmähnlichen Gewölbe im Inneren hinausragen. Dieses rigorose Schaffen von Ordnung muss sich vereinen mit den Aspekten von technischer Konstruktion und der Performanz der Architektur – das ist die eigentliche, schwierige Arbeit des Architekten (Leslie 2005, 243 – 263). Kahns monumentale Gebäude erfordern einen erheblichen konstruktiven Aufwand, und sie wollen in höchstem Maße expressiv und emotional wirken – ohne aber den Aspekt der ‚Ordnung‘ zu beeinträchtigen. Insofern wird hier mehrfach die Tradition des monumentalen Bauens wirksam, allerdings in radikal abstrahierter Form. Axialität und Symmetrie sind die Grundprinzipien der bis in das 20. Jh. dominierenden École des Beaux-Arts. Bei einem ihrer Vertreter, Paul Philippe Cret, hatte Kahn auch an der University of Pennsylvania, Philadelphia, studiert, und somit wird auch verständlich, dass sich Kahn der großen Tradition der Weltarchitektur nicht verweigerte, sondern sie im Gegenteil intensiv durch Reisen und Skizzen studierte. Auch ein zweites der akademischen Grundprinzipen, nämlich das Verständnis der Architektur als einer Komposition des pleins et des vides, also von (hervortretenden) Mauern und (zurückspringenden) Öffnungen kann man als Grundlage von Kahns Umgehen mit Konstruktion und Raum verstehen. Insofern stellen sich zahlreiche Erinnerungen an die große Weltarchitektur ein: Wenn der Innenraum des Parlamentssaals einer Kugel ähnelt, so kann man das mit dem römischen Pantheon vergleichen. Die zentrale Anlage mit acht Annexräumen, die axial in zwei rotierenden Kreuzen angeordnet sind, hat ihre Vorläufer im Idealentwurf Leonardos für eine Kirche oder auch im Grundriss des Petersdoms (vgl. von Engelberg 2013, S. 184 –190). Die Verweise auf ein mittelalterliches Kastell sind ebenfalls überdeutlich, und die kubischen Grundformen und die Backsteinverkleidung gibt es auch bei dem damals in den USA wie eine Vaterfigur verehrten Frank L. Wright
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□ 150 Chandigarh, Parlamentsgebäude, Le Corbusier, 1952 – 62
|▶ 24|. Für Kahn selbst waren es Parallelen mit römischen Thermenanlagen, und in der Tat erinnern die in den Ziegelmauern erscheinenden Backsteinbögen klar an römisches Mauerwerk. Man könnte diese Liste lange fortsetzen, vor allem auch das Taj Mahal im indischen Agra (17. Jh.) oder das Humayun-Mausoleum in Delhi (Mitte 16. Jh.s) sind mit Kahns Monumentalbau in Verbindung zu bringen. Doch solche Vergleiche sind nicht als historistische Rückgriffe im Sinne gelehrter ‚Zitate‘ zu verstehen, sondern als sich gleichsam automatisch einstellende Verbindungen einer Architektur, die Ordnung und Monumentalität in eine performative und gleichsam überzeitliche und vor allem überregionale Qualität umsetzt. Die wuchtige und feste, offensichtlich an ihren Ort gebundene Architektur des Parlamentszentrums von Dhaka war insofern als bedeutungsvolles und Identifikation stiftendes Zentrum des Staates Bangladesch zu verstehen. Hier summiert sich tausendjährige Tradition des Bauens, nicht spezifisch der USA oder etwa gar Europas. In der Zielstellung ähnlich wurde die neue Hauptstadt des Punjab, Chandigarh, vom indischen Staatschef Jawaharlal Nehru als Teil eines programmatischen Umbaus des Landes nach westlichen Mustern von Demokratie und Fortschritt in Auftrag gegeben. Ein erster Plan für die neue Stadt an der Stelle mehrerer kleiner Dörfer wurde 1950 von den US-ame-
rikanischen Architekten Albert Mayer und Matthew Nowicki im Sinne einer Gartenstadt erarbeitet. Nach dem Tod von Nowicki ging der Auftrag 1951 an Le Corbusier, der zusammen mit seinem Cousin Pierre Jeanneret, Maxwell Fry, Jane Drew sowie einer Equipe von neun indischen Architekten dem Gesamtplan die Form eines regelmäßigen, sehr großmaschigen Rechteckgitters verlieh. Damit nahm der Architekt sowohl Bezug auf seine eigenen Stadtplanungen |▶ 27| als auch auf das regelmäßige, von einer zentralen Achse durchzogene Straßensystem der neuen indischen Hauptstadt Neu-Delhi, das bis 1931 von Edwin Lutyens und Herbert Baker im Sinne der City Beautiful-Bewegung verwirklicht worden war. Statt der eigentlich von Le Corbusier vorgesehenen Wohnhochhäuser |▶ 37| wurde eine niedrige Wohnbebauung verwirklicht. Das eigentliche Eingreifen des Stararchitekten konzentrierte sich auf das Regierungszentrum, insbesondere den Obersten Gerichtshof, das Parlamentsgebäude und das Sekretariat. Der Gerichtshof erscheint als ein riesiger tiefer Rahmen, in den eine von Säulen skandierte hohe Öffnung und die Gerichtssäle gleichsam eingeschoben sind. Letztere öffnen sich durch ein unregelmäßiges Raster von rechteckigen Öffnungen, die von tief schattenden Sonnenbrechern eingerahmt sind. Das Parlamentsgebäude, ein horizontal organisierter Bau auf quadratischem Grund-
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riss, erhält eine markante, die gesamte Front durchlaufende Vorhalle, deren riesiges Flugdach sich – einer monumentalen Rinne ähnlich – markant konkav nach oben biegt (□ 150). Der eigentliche Parlamentssaal gewinnt sein Licht über einen weit nach oben vorstoßenden Konus, der nach dem Vorbild eines Kühlturms gestaltet ist: Über seine schräg eingeschnittene Öffnung strömt das Licht in den sich nach unten öffnenden Trichter. Die beiden Bauten stehen weit von der eigentlichen Stadt abgesetzt und führen einen Dialog mit den sich dahinter abzeichnenden Bergketten des Himalayas. Hier geht es darum, diese Region zu markieren; und das hat Le Corbusier auch dadurch verstärkt, dass die architektonischen Hauptthemen sich nicht etwa auf die politischen Funktionen der Gebäude, sondern auf das extreme Klima beziehen. Der Gerichtshof ist ein monumentaler
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Sonnenschutz, das Parlamentsgebäude sammelt Regenwasser und Licht. Das Ensemble wird bereichert durch eine Reihe von in die Betonflächen des Bauwerks eingelassenen hieroglyphenartigen Tiefreliefs, die sich auf allgemeine Themen wie den Kosmos, den Menschen, die menschliche Schöpfung, Pflanzen und die Schrift beziehen, insgesamt aber eher esoterisch bleiben. Dies gipfelt in der monumentalen Skulptur einer sich nach oben öffnenden Hand, die für den Architekten symbolisch die Reichtümer der Schöpfung aufnimmt und eine zweite Ära des Maschinenzeitalters, diejenige der Harmonie, ankündigen solle. Das wirkt emphatisch unverbindlich, machte den Architekten aber zu einem philosophierenden Künstler mit starker Autorität. Und dies entsprach wohl durchaus auch der generellen Zielsetzung Nehrus.
Die Wallfahrtskirche in Neviges Formsuche im Sakralbau
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er Kirchenbau zählte in der Nachkriegszeit zu den Gattungen, in denen eine erstaunliche Vielfalt von Formmöglichkeiten erprobt und durchexerziert wurde. Das lag daran, dass die Frage nach der ‚Sakralität‘ der Gestalt der Kirche zum einen nicht mehr an die Frömmigkeit und insofern die göttliche Inspiration des entwerfenden Architekten gebunden war. Vielmehr waren die essentiell künstlerischen Fähigkeiten ausschlaggebend für die Wahl des Architekten. Zum anderen verlor sich endgültig die Verpflichtung auf historische Stile und bestimmte liturgische Topographien, wie das vor dem Zweiten Weltkrieg teilweise administrativ verordnet worden war. Somit hatten die Architekten und Ausstattungskünstler viele
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Freiheiten, eine archetypische Symbolik, mit der das Haus Gottes auf Erden aufgeladen werden kann – etwa als Zelt, Weg oder Burg –, mit beeindruckenden Raumschöpfungen zu kombinieren. Exemplarisch dafür kann die Wallfahrtskirche in Neviges stehen, Hauptwerk des Architekten Gottfried Böhm, Sohn des berühmten Kirchenbaumeisters Dominikus Böhm |▶ 21| und Vater des ebenfalls vor allem als Sakralbauarchitekt bekannten Paul Böhm. Der zwischen Wuppertal und Essen im Bergischen Land gelegene Ort Neviges war schon seit dem späten 17. Jh. eine gegenreformatorisch inspirierte franziskanische Wallfahrtsstätte zu Ehren der Unbefleckten Maria. Inmitten einer hauptsäch-
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lich protestantischen Bevölkerung sollte hier seit 1959 nach dem Willen des Kölner Erzbischofs Josef Kardinal Frings eine riesige Kirche, die zweitgrößte nach dem Dom, errichtet werden. Ein 1962 ausgelobter Wettbewerb forderte eine Kirche mit 900 Sitz- und 2- bis 3000 Stehplätzen. Auf Intervention des Erzbischofs, der in einer guten Architektur die Schöpferkraft Gottes verwirklicht sah, fiel die Entscheidung gegen den im Wettbewerb erstplatzierten Entwurf von Kurt Faber zugunsten eines Projektes von Gottfried Böhm aus. 1964 erhielt dieser den Auftrag und setzte ihn bis 1968 um. Die Gesamtanlage besteht aus einem unweit des Bahnhofs beginnenden, nach oben führenden Pilgerweg, der in das hoch aufragende, gebirgsartige Kirchengebäude mündet. Die leicht unregelmäßig sich krümmende Via sacra wird gesäumt von einer Baumreihe sowie niedrigen zweigeschossigen Schwesternwohnheimen mit erkerartigen Ausbuchtungen. Kurvig geführte Treppenstufen unterteilen den Weg: Fünfmal wiederholt sich eine Gruppe von drei Stufen. In Anlehnung an ältere zeichenhafte Aufladung von Pilgerwegen kann man hier Zahlensymboliken annehmen, die auf die drei christlichen Tugenden und das Alter Mariens von 15 Jahren bei der Verkündigung Bezug nehmen (Kiem, in: Voigt 2006, S. 74). Der Kirchenbau selbst türmt sich als künstliches Gebirgsmassiv auf, gebildet aus drei sich aufstaffelnden, spitz zulaufenden Polyedern aus Stahlbeton (□ 151). Man tritt unter einem weit vorkragenden Block in die Kirche ein, ein dunkler Übergangsraum, nach dem man sich in einem eigenartigen, wie verzauberten Innenraum befindet. Der Grundriss wird durch ein unregelmäßiges Polygon gebildet, das einen Zentralraum mit Längstendenz bildet. Hohe Wandpfeiler schießen seitlich auf. Dahinter sind Kapellen verborgen, wiederum auf unregelmäßigem Polygongrundriss; darüber staffeln sich mehrere Emporen (□ 152). Im Osten falten sich in analoger Weise hohe Nischen auf, davor steht der Altar. Die hoch
□ 151 Neviges, Wallfahrtskirche, Gottfried Böhm, 1964 – 68, Außenansicht mit Pilgerweg
nach oben strebende Decke besteht aus in sich gefügten Flächen eines unregelmäßigen Polyeders, in den man von innen hineinblickt. Auf der Nordseite vermittelt ein Betonpfeiler zwischen Fußboden und Decke, aus ihm scheint die Kanzel aus Splitterflächen herauszuwachsen. Das Ganze wirkt wie eine Felsenhöhle mit einem Stalagmiten an der Seite. Damit kontrastiert indessen die eigenartig verfremdende Innenausstattung: denn der Fußboden ist mit kleinen Pflastersteinen in Art einer Fußgängerzone belegt, und mitten im Kirchenraum stehen Straßenlaternen zur Beleuchtung des Innenraums. Ansonsten gibt es in den Außenschalen des Gebäudes Glasfenster mit farbigen Scheiben, die vor allem indirektes rotes Licht in das Innere treten lassen. Scheinbar zufällig stehen schlichte Klappstühle auf den Altar ausgerichtet, auch das könnte die Bestuhlung eines kleinen öffentlichen Platzes sein. Im Kircheninneren kann der Besucher und Pilger mithin zirkulieren, auf die Emporen und zum Gnadenbild in einer der Anbauten treten, ohne den Gottesdienst zu behindern. Verschiedene
Die Wallfahrtskirche in Neviges
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□ 152 Neviges, Wallfahrtskirche, Gottfried Böhm, 1964 – 68
Assoziationsebenen verschneiden sich also in der Kirche: Der Marktplatz als öffentlicher Versammlungsraum, für jedermann zugänglich, formuliert eine ungezwungene Willkommensgeste und die Aufforderung, eine Gemeinschaft zu bilden. Die übereinandergestaffelten Emporen werden in dieser Lesart zu Balkonen von Häusern am Rand dieses Platzes. Paradoxerweise ist diese Assoziation eines Platzes aber eingehaust in ein künstliches Gebirge, das eine Schutz bietende Höhle aufzuweisen scheint. Diese wirkt in ihrer Mächtigkeit und Rohheit erhaben und beeindruckend: ein Naturwerk, das die göttliche Schöpfung der Erde andeutet und gleichzeitig auch die irdische Verhaftung des Menschen materialisiert. Die theatralisch
III. Schlüsselwerke
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vermittelte Erdgebundenheit kontrastiert mit der hier verkündeten Heilsbotschaft, die jene überwinden soll. Der Charakter des sich auftürmenden Felsmassivs, den die Kirche von außen vermittelt, ist ebenfalls nicht ohne Bedeutung. Denn zum einen wird hier innerhalb der bewegten Landschaft des Bergischen Landes ein markanter, aber gleichsam natürlicher Akzent gesetzt; und zum anderen kann man das Betonmassiv auf Petrus, das Felsfundament der katholischen Kirche, beziehen. Gottfried Böhms Kirche ist in der Verbindung von symbolischen Bezügen und intensiver Wirkästhetik nur ein Beispiel für die vielgestaltigen Möglichkeiten im Sakralbau der zweiten Hälfte des 20. Jh.s. Die massiven Kriegszerstörungen sowie demographische und konfessionelle Verschiebungen, insbesondere auf Grund der Ansiedelung von 12 Mio. Flüchtlingen sowie des einsetzenden industriellen Aufschwungs, machten in der Bundesrepublik Deutschland den Bau von ca. 8000 neu- bzw. wieder zu errichtenden Kirchen notwendig. In der evangelischen Debatte wurde vor allem das Altarsakrament als das Zentrum der Kirchenbauten herausgestellt; architektonisch bevorzugte man zunächst aber den Längsbau. Die transzendente Qualität von Bauform und -material ließ nicht-natürliche Baumaterialien für die Prinzipalstücke als unangemessen erscheinen. Im katholischen Bereich wurde die Debatte durch die 2. Aufl. von Rudolf Schwarz’ „Vom Bau der Kirche“ (1938, ²1947) beeinflusst, wo archetypische Raumanlagen („Heiliger Aufbruch – der offene Ring“, „Heiliger Wurf – der dunkle Kelch“ usw.) als anthropologische oder kosmologische Ursymbole des Kirchenbaus präsentiert werden (vgl. S. 91). Positionen der liturgischen Reform und Toleranz gegenüber zeitgenössischer Kunst fanden zunehmend Eingang in die amtskirchliche Politik, v. a. unter Pius XII. (Enzyklika „Mediator Dei“, 1947). Die von der Fuldaer Bischofskonferenz 1949 einberufene Liturgische Kommission definierte
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den Kirchenbau aus den Erfordernissen der gemeinschaftlichen Messfeier und der Sehnsucht nach Stille und Frieden heraus, legte sich aber nicht auf formale Bestimmungen fest. Generell sind die Einstellungen zum modernen katholischen Kirchenbau nach Diözesen zu unterscheiden; innovativ wirkten u. a. Köln, Würzburg und München. Das Zweite Vatikanische Konzil erklärte schließlich 1963 Grundpositionen der liturgischen Bewegung zur verbindlichen Konstitution, namentlich den Grundsatz der Mittätigkeit der Gläubigen bei der Liturgie. Verbindliche formale Gestaltungsvorschriften für den Sakralbau wurden auch hier abgelehnt. Die konkrete Neubautätigkeit unter evangelischer und katholischer Trägerschaft setzte mit einfach zu errichtenden Notkirchen ein, doch gab es bald anspruchsvolle Kirchenbauten von bedeutender Konzeptionsvielfalt. Generelles Ziel dieser Bauten ist es, mithilfe elementarer architektonischer Gestaltungsmittel den Kirchen eine in Ernsthaftigkeit, Würde und ‚Monumentalität‘ zu erfahrene ‚Sakralität‘ zu verleihen, die sich dezidiert vom ‚Profanen‘ absetzt. Allgemein kennzeichnend war der Einsatz unverkleideter Materialien wie Bruchstein, Ziegel, Beton, die, häufig großflächig präsentiert, mit schlanken Stützelementen bzw. unfesten Materialien kontrastiert sind und dadurch einerseits in ihrer Körperlichkeit präsent, andererseits ihrer Schwere entkleidet scheinen. Der Altarraum ist zumeist klar in den Gemeinderaum integriert. Es mehren sich auch zentralisierende Grundrisse als Alternative zu der longitudinal aufgebauten ‚Wegkirche‘. Motivisch spielt die Metapher des Zeltes als Hinweis auf die Auffassung des Lebens als Wanderschaft und als einer auf den zentralen Altar umhüllend bezogenen Bauform eine besondere Rolle. Die Gliederung des Inneren in Raumzonen geschieht durch Lichtführung, Grundriss- und Fußbodenanordnung, seit den 1960er Jahren häufig auch durch dynamische Seiten- und Dachgestaltungen, diagonal aus-
gerichtete liturgische Achsen, spezielle Lichtführungen, wechselnde Fußbodenbeläge u. Ä. Richard Jörg erbaute 1951 ff. in Mainz-Zahlbach die Hl.-Kreuz-Kirche als reinen, in ein trapezförmiges Atrium integrierten, zur Mitte markant stufenförmig aufsteigenden Zentralbau, in dem der Altar durch vier Stützen in der Mitte hervorgehoben wird. In der bugartig konzipierten Kirche St. Wendel in Frankfurt/M. (Johannes Krahn, 1956) werden die schweren Bruchsteinmauern durch Glasbänder von Boden und Dach getrennt. Nach ähnlichen Prinzipien arbeitet der Würzburger Dombaumeister Hans Schädel. Die von ihm entworfene Gedenkkirche St. Maria Martyrum in Berlin-Plötzensee ist ein aus rechteckigen Betonscheiben zusammengesetzter, scheinbar labil aufgesockelter Quader, in dem die lichthinterfangene Altarwand zugleich ein abstraktes Wandgemälde von Georg Meistermann trägt. Rudolf Schwarz konzipierte über häufig längsrechteckigen, gerade oder rund schließenden, manchmal kreuzförmig oder oval geschwungenen Grundrissen. Markant ist die Kastenform von St. Anna in Düren (1956), die einen hohen, L-förmig geknickten Saal mit Betondecke umschließt, der auf der einen Seite durch eine durchgehende Lichtzone erhellt wird, auf den übrigen aber von den kompakten Bruchsteinwänden des Vorgängerbaues ummantelt wird. Eine vollständige Aufhebung der Mauerhaftigkeit erreichte Egon Eiermann durch die Verwendung farbig verglaster Betonrastersteine, die ein irisierendes Inneres erzeugen und nachts die Kirche durch farbige Lichtwirkungen städtebaulich hervorheben (Pforzheim, ev. Kirche, 1954). Dasselbe Prinzip wandte er bei der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche (1961) an, deren achteckiger Grundriss sich bewusst auf alte protestantische Kirchenbautraditionen bezieht und somit zusammen mit dem hohen sechseckigen Glockenturm Kontinuität und Kontrast zur in den Baukomplex einbezogenen Ruine des Altbaus deutlich macht. Zu den Meisterstücken der mo-
Die Wallfahrtskirche in Neviges
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dernen Architektur zählt St. Johann von Capistran, von Sep Ruf 1960 in München errichtet. Umgrenzt von als Solitären gebildeten Gemeindebauten erhebt sich die Kirche als perfekter Backstein-Zylinder mit weit auskragendem Flachdach, das von feinsten Stahlrundstäben gestützt wird. Belichtet wird diese Neuinterpretation des römischen Pantheons durch eine mittige, runde Deckenöffnung. Gottfried Böhms Kirchen sind generell durch phantasievolle Betonformen gekennzeichnet, die sich auch zu abstrakten geometrischen Kompositionen (Kassel-Wilhelmshöhe, Marienkirche, 1978) formen können. Die bewusste Isolierung von Formelementen der klassischen Moderne führt teilweise zu Lösungen, die die Postmoderne vorwegnehmen. Dies gilt etwa für St. Nikolaus in München-Hasenbergl (Hansjakob Lill, 1962) mit einem überspitzen Campanile in Form eines Betonkegels; eine Parabolkuppel und zwei markante, spitz aufragende Betonskeletttürme kombinierte Thomas Wechs 1960 in der Don-Bosco-Kirche in Augsburg. – Die Auffassung, die künstlerische Form insbesondere des Kirchenbaus solle zur Sakralisierung beitragen, wurde seit den 60er Jahren in Frage gestellt, im Gegenteil müsse die sakramentale Kulthandlung selbst hervortreten. Im Zusammenhang mit dieser Diskussion entwickelte sich sowohl im katholischen wie v. a. im evangelischen Bereich die Tendenz, in den Alltagsbereich integrierte, auf Veränderbarkeit angelegte Mehrzweckbauten zu bevorzugen, die bisweilen nur vorübergehend zum Gottesdienst kirchlich-liturgisch genutzt wurden. Dieser Position wurde bereits seit den 1970er und vermehrt den 80er Jahren energisch widersprochen, so dass seither vielfach eine ‚Neue Monumentalität‘ mit postmodernen Einflüssen die Diskussion bestimmt. – Wichtige Impulse erhielt der moderne Kirchenbau aus Frankreich. Hier traten insbesondere Père Pie Regamey („L’art sacré du XXe siècle“, 1953, dt. „Kirche und Kunst im XX. Jahrhundert“, 1954) und Père Marie-Alain
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Couturier für die transzendente Funktion moderner Kunst ein, ohne dass die entwerfenden Künstler selbst gläubig sein müssten. Dies wirkte sich insbesondere auf betont zeitgemäße Ausstattungsprogramme aus, die Fernand Léger mit Jean Lurçat, Georges Rouault u. a. in Assy bei Chamonix (ab 1938, Maurice Novarina) übertragen wurden. Einen weithin architektonisch einflussreichen, aber kirchlicherseits auf Grund der Betonung einer höchst eigenwilligen formalen Durchgestaltung umstrittenen Bau errichtete Le Corbusier mit der Wallfahrtskapelle von Ronchamp (1951 – 55, □ vgl. 32). Die baulich irrationale, ähnlich einer abstrakten Skulptur in schwellenden, sich biegenden und neigenden Wänden und aus einem sich gestisch nach oben wölbenden Doppelschalendach konzipierte Kirche inszeniert im dezidiert asymmetrisch angelegten Inneren zahlreiche raffinierte Lichteffekte. Die Kirche des vom selben Architekten entworfenen Klosters La Tourette (1952 – 58) hingegen ist als schlichter kastenförmiger Innenraum konzipiert, der durch die Wirkung von gebündeltem farbigem Licht auf der rauen Betonoberfläche strukturiert wird. Als Vergleich zu Neviges ist vor allem Ste-Bernadette in Nevers von 1963 zu nennen, wo die Architekten Paul Virilio und Claude Parent versuchten, in einer bunkerartigen Struktur atavistische Erlebnisse (Zuflucht) als Gegenmodelle zu einer rein funktionalistischen Wohnarchitektur zu entwerfen |▶ 29|. In eine ähnlich brutalistische Tendenz ist auch Walter Förderer mit seinen landschaftsformationsartigen Betonarchitekturen einzuordnen, in denen die Kirchen pathosgeladene, stark reliefierte ‚begehbare Großplastiken‘ darstellen (Hérémance, St-Nicolas; Lichtensteig, St. Gallus, 1968), eine Tendenz, die weithin den Schweizer Kirchenbau der 1970er Jahre bestimmt. Das österreichische Pendant dazu bildet die Kirche in Wien-Mauer von Fritz Wotruba (1974), scheinbar urtümlich aus riesenhaften Betonblöcken gefügt.
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Das Olympiazentrum in München Ökologie und sanftes Bauen
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936 hatten die Olympischen Spiele in Berlin und Garmisch-Partenkirchen stattgefunden. Diese Austragungsorte waren zwar bereits vor dem Machtantritt Hitlers festgelegt worden, doch dieser machte aus ihnen eine Inszenierung des nationalsozialistischen Deutschlands vor internationalem Publikum. Architektonisch äußerte sich das in einem monumentalen Klassizismus, den insbesondere das Berliner ‚Reichssportfeld‘, nach längerer Vorplanung 1934 – 36 durch Werner March als erstes nationalsozialistisches ‚Gesamtkunstwerk‘ erbaut, prägte. Als 1966 die Bewerbung Münchens für die XX. Olympischen Sommerspiele 1972 erfolgreich war, war dies Ausdruck für eine völlig neue, programmatische Präsentation der bayerischen Landeshauptstadt und der Bundesrepublik. Entgegen den Vorstellungen des IOC, das es auf eine repräsentative Inszenierung der Spiele abgesehen hatte, wurden nunmehr die ‚Olympiade im Grünen – der kurzen Wege – der Musen und des Sports‘ bzw. die ‚heiteren Spiele‘ ausgerufen, und dies schlug sich in zahlreichen Aspekten nieder: Für die Bundesrepublik ging es darum, Gastfreundschaft und gelassene Herzlichkeit zu präsentieren, für München darum, den Makel als nationalsozialistische ‚Hauptstadt der Bewegung‘ abzuwaschen und auch sein Image von einer konservativ-behäbigen Landeshauptstadt zugunsten einer innovativen, infrastrukturell funktionierenden Großstadt zu verändern. Dies geschah auf allen Ebenen: Der Designer Otl Aicher verschaffte den Spielen über ein umfassendes Graphikdesign ein innovatives visuelles Erscheinungsbild (eigene, an Regenbogenfarben orientierte Farbwerte, Solarisierungseffekte, Groteskschriften), bei dem vor allem zum ersten Mal Pikto-
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gramme aus jeweils gleichen Grundelementen entwickelt wurden. In allen Logistikbereichen kamen zum ersten Mal Computer in großem Maßstab zum Einsatz. Und schließlich setzte man bemerkenswert früh das Lebensgefühl und Naturbewusstsein einer sich erst formierenden ökologischen Bewegung um. Eine neue Bewertung des Spiels als Lebensprinzip schlug sich darin nieder, verschiedenste Nutzerschichten bei der Planung mit zu bedenken, diese nicht allein auf Sportbegeisterte zu reduzieren. Vor allem aber entstand architektonisch ein Gesamtensemble, das nur aus einem schwingenden Dach zu bestehen schien, damit erkennbar ‚leicht‘, transparent und naturverbunden war. Als Terrain stand ein weitgehend freies, von einem Schuttberg und dem gerade errichteten Fernmeldehochturm (1965 – 68, Sebastian Rosenthal) dominiertes Schotterfeld im Norden der Stadt zur Verfügung. Aus dem Wettbewerb 1967 ging das Stuttgarter Büro von Günter Behnisch & Partner mit einem Aufsehen erregenden Entwurf für ein zeltähnliches Dach als wesentlichem Merkmal der Gestaltung hervor; die Parkgestaltung wurde von Günther Grzimek und Günter Behnisch übernommen (□ 153). Da an der technischen Realisierbarkeit Zweifel herrschten, wurde unter Hinzuziehung des Architekten Frei Otto und des Betonschalenspezialisten Heinz Isler durch die Ingenieure Fritz Leonhardt und Wolfhart Andrä (LAP) sowie Egon Schlaich die technische Realisierung als punktgestütztes Hängedach mit sattelförmigen Seilnetzen erprobt und das Gesamtgelände schließlich unter hohem Zeitdruck fristgerecht bis 1972 ausgeführt. Mit der Konzeption des Olympiazentrums wurde zugleich seine Nachnutzung als Hochschulsportzentrum und
Das Olympiazentrum in München
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modernes Wohnviertel geplant und mit einer neuen U-Bahn-Strecke an das Stadtzentrum angebunden. Bemerkenswerterweise kann man sich über die eigentliche Architektur nicht äußern, ohne die landschaftliche Umgestaltung des Geländes mitzudenken: Beides geht unlösbar ineinander über bzw. ergänzt sich gegenseitig. Zwar durchschneidet ein Autobahnring das Gelände mittig und ermöglicht somit eine schnelle Erreichbarkeit des ausgedehnten Terrains, ansonsten reduzieren sich die Autoverkehrssysteme auch im nördlich gelegenen Wohnviertel auf Zubringerstraßen. Vollständig als durchgrünter Park ist das Gelände der Hauptsportstätten mit ihren Unterzentren von Leichtathletikstadion, Sport- und Schwimmhalle südlich des Autorings gestaltet. Mit den modernsten Tiefbaumethoden wurde aus der Schotterebene ein bewegtes Landschaftsrelief aus Mulden und Hügeln modelliert. In seinen Höhenunterschieden von 60 m nimmt es Bezug
□ 153 Günter Behnisch, Skizze der Gesamtanlage des Olympiaparks in München 1967
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zu dem Schuttberg aus der Nachkriegszeit. Unterhalb seiner nördlichen Abhänge wurde aus dem hier passierenden Nymphenburger Kanal ein künstlicher See von etwa einem Kilometer Länge mit bewegter Uferkante aufgestaut. Das andere Ufer des Sees steigt wiederum als unregelmäßige Hügellandschaft auf. In dieses Relief sind nun die Hauptsportstätten integriert, und zwar in einer halbkreisförmigen, einer Bucht des Sees folgenden Anordnung, die ein Plateau für ein Freiluftfoyer (Theatron) auf dem Courbertinplatz umschließt. In Anlehnung an griechische Theater der Antike sind die drei Hauptsportstätten teils in das Erdbodenrelief eingelassen, teils schmiegen sich die Tribünen in die künstlichen Hügelabfolgen ein. Somit werden die Stadien Teil des Landschaftsreliefs, sind aus bestimmten Blickwinkeln kaum als massive Architekturen wahrzunehmen. Zum See und zum Theatron öffnen sich die Sporthallen in großen, auf gekrümmtem bzw. ondulierend geführtem Grundriss stehenden Flächen aus Pressglas, die bis auf 28 m Höhe aufsteigen. Somit gibt es keinerlei feste Mauern, man meint hingegen, in die Sportstätten zu gleiten, kann aus der Nähe und der Ferne in sie hineinsehen. Darüber wächst das berühmte, von mächtigen Pylonen getragene Zeltdach in bewegter Kontur auf, in der sich die Silhouette der bewegten Landschaft fortsetzt und variiert (□ 154). Allerdings ist im Fall des großen Leichtathletikstadions nur die Westseite des ovalen Grundrisses von dem Dach überdeckt, die andere liegt unter freiem Himmel, bildet gleichsam eine Geländekante. Außerhalb des Zeltdachs gehen von mächtigen Fundamenten die Zugseile aus, mit denen seine Säume gespannt werden. Die solchermaßen erzeugten Wahrnehmungseffekte sind höchst unerwartet: Die Ausmuldungen und künstlichen Hügel schaffen mit all den flach oder steil abfallenden Hängen und den durch sie gebildeten Lichtund Schatteneffekten sowie der vielfältigen Silhouette eine gleichsam voralpine Landschaft
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□ 154 München, Olympiastadion, Günter Behnisch, Frei Otto u. a., voll. 1972
mit „Reliefenergie“ (Grzimek). Diese natürlich wirkende Landschaft durchdringt und überschneidet sich mit zahlreichen Flächen und Linien, die durch die Seile, Pylone und Häute der Dachkonstruktion entstehen, dabei das Sonnenlicht in ungewohnter Weise reflektieren oder bei Dunkelheit von innen leuchten. Mit ihren weit vor den Bauten im Boden verankerten Seilen und den transparenten Öffnungen verschneiden sich Architektur und Landschaft zu einer unauflösbaren Einheit. Und diese kann durchaus Elementargewalten zum Erklingen bringen, etwa wenn sich Regenwasser in dichten Kaskaden vom Dach auf den Erdboden ergießt (Erben, in: Hennecke 2012). Das Gesamtensemble ist also nicht auf eine Heraushebung von massiven Sportstätten konzipiert, sondern soll vielfältig sich äußernde Muße, Freizeitgestaltung und Erholung ermöglichen. Das Wegesystem mäandriert vielfältig, aber durchaus nicht planlos durch den Park, schafft zahlreiche Nischen und Aussichtspunkte, eine Reihe von Spiel- und Erholungsmöglichkeiten werden bis heute beständig genussvoll erprobt, vom Rodeln über Lagerfeuer bis hin zum Theaterspielen. Trampelpfade waren vorgesehen, sollten aber durch die tägliche Benutzung erst ausgetreten werden. Hier finden sich frühe Formen einer Partizipation der Benutzer an öffentlichen Bauprojekten, die von Behnisch und Grzimek dezidiert als eine Demokratisierung
verstanden wurden, selbst wenn die Bürger nicht konkret im Vorfeld der Planungen beteiligt waren. Der Park und seine Bauten bilden für den Benutzer nicht ein ehrfurchtsvoll erlebtes Gegenüber, sondern einen robusten Gebrauchsgegenstand. Er schafft ein selbstgenügsames Biotop, das zumindest theoretisch keines größeren pflegerischen Aufwandes bedarf. Auch die Konzeptfindung war ungewöhnlich, denn hierfür kamen nicht die üblichen festen Baumodelle aus Klötzchen, Pappflächen u. Ä. zum Einsatz, sondern ein vielfältig variables und provisorisches Sandmodell. Allerdings entstand dadurch kein Zufallsprodukt, sondern eine landschaftsgärtnerisch feinsinnig konzipierte Gesamtanlage; so folgen die Baumpflanzungen etwa einem Generalkonzept, das sie botanisch einbindet: Die Leitbäume am See sind Silberweiden, an den Hängen ist Bergkiefer gepflanzt, an den Parkeingängen bilden Linden Höhenakzente. Der Bau des Olympiageländes war aber auch ein technisch zukunftweisendes Projekt. Das betraf zum einen die technische Infrastruktur der computergesteuerten Anzeigetafeln oder der Rasenheizung. Zum anderen bezieht sich diese Innovation auf die Dachkonstruktion als eine vorgespannte Seilnetzkonstruktion: Ein fest im Erdboden verankertes flexibles Netz aus Stahlseilen wird nach oben gezogen. Die hier wirkenden immensen Zugkräfte gleichen
Das Olympiazentrum in München
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□ 155 München, Olympiazentrum, Günter Behnisch, Frei Otto u. a., voll. 1972, Detail der Hängedachkonstruktion
sich gegenseitig so aus, dass eine in sich stabile Haut entsteht, die sich nicht bei äußerer Belastung verformt, wie das etwa bei einer reinen, nicht vorgespannten Hängekonstruktion unter Schneelast der Fall wäre. Je nach Netzform und Anordnung der Haltepunkte kann eine variable Dachhaut erzeugt werden, die das Charakteristikum der Münchener Zeltlandschaft ausmacht. Entsprechend der bewegt fließenden Reliefierung des Parks schwingt sich auch das Dach ohne Unterbrechung über alle drei Sportstätten. Technisch besteht das 74 500 m² große Netz aus 75 × 75 cm großen Maschen, die durch massive Randseile an den Säumen eingefasst werden (□ 155). Die Stränge des Netzes werden aus parallelen Stahlseilen gebildet, die an den Überkreuzungspunkten durch Schraubklemmen verbunden sind. Diese wurden erst bei Aufrichtung des Netzes festgezogen. Vorab – und mit Hilfe der hier in diesem Ausmaß zum ersten Mal eingesetzten Computer – zu berechnen waren aber die Längen der Doppelseile. Verspannt ist dieses Seilnetz durch dicke Litzen, die es über bis zu 80 m hohe und 3,5 m dicke Pylone als Umlenker nach oben ziehen. Die Randseile, die einen entsprechenden Gegenzug ausüben müssen, sind in teilweise riesige Fundamentblöcke (bis zu 13 × 12 × 30 m, also den Dimensionen eines Bürohauses entsprechend) eingelassen, die innerhalb des
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Landschaftsparks wie Felsklötze wirken. Gemäß einer ausgeklügelten Technik wurde das Seilnetz dadurch aufgerichtet und gespannt, dass die beweglich gelagerten Pylone in ihre richtige Position geschwenkt wurden. Ein wesentliches Kriterium für die Dachkonstruktion war, zu starke Kontraste zwischen Sonnenlicht und Schlagschatten zu vermeiden, zum einen wegen der Sichtbedingungen von Sportlern und Zuschauern, zum anderen, weil ansonsten die neue Technik des Farbfernsehens eine stark schwankende Bildqualität geliefert hätte. Somit war die Seilnetzkonstruktion mit einer transparenten Haut zu versehen. Diese besteht aus 3 × 3 m großen Plexiglasplatten, die mit Abstandshaltern auf die Kreuzungspunkte des Netzes aufgeflanscht wurden und mit einer Rahmenkonstruktion aus Aluminium und Kunststoff untereinander verbunden sind. Die leichte Netzdachkonstruktion vermeidet konsequent Druckkräfte, wie sie bei jedem Massivbau, aber auch bei Skelettbauten im Zusammenspiel von Gewicht und Gravitation ausgenutzt werden. Das äußert sich geradezu archetypisch in Großbauten wie etwa Amphitheatern, wo die Ableitung der Druckkräfte über eine Reihe massiver Arkaden funktioniert. Darauf rekurrierten auch etwa die Berliner Stadionbauten von 1936. Das Olympiadach von 1972 muss also technisch als eine komplette Umkehrung dieser konstruktiven Auffassung gelesen werden und erreicht damit und im Zusammenwirken mit dem Olympiapark eine geradezu programmatische Leichtigkeit und Transparenz. Derartiges war im Übrigen zur Zeit der technischen Realisierung als offizieller Beitrag der Bundesrepublik für die Weltausstellung in Montreal 1967 entwickelt worden. Frei Otto und Rolf Gutbrod realisierten eine grazile Innenarchitektur, die von einem zeltartigen Seilnetzdach überfangen wurde. Über Frei Otto ist das Münchener Olympiagelände auch in einem weiteren Sinne eingebunden in die Erforschung von Naturkreisläufen
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und ökologischen Prozessen und ihre Anwendung auf die Architektur. In dezidierter Abwendung der massiven, Ressourcen verschwendenden Architektur des Nationalsozialismus bilden bei Frei Otto natürliche und leichte Konstruktionen den Ausgangspunkt einer über lange Studien ermittelten ökologischen Architektur. Dabei geht es um mehr, als nur konstruktive Analogien zwischen der vegetabilen Natur und der Architektur zu bilden. Denn beispielsweise Muschelschalen, Spinnennetze oder Seifenblasen folgen prozessualen Vorgängen des Wachsens, Spinnens oder Aufblasens. Dabei kommen minimierende Faktoren hinsichtlich von Masse, Energie und Material zum Tragen, was – umgesetzt auf das menschliche Bauen – nicht nur ökonomische, sondern auch ethische Komponenten beinhaltet. Frei Ottos Entwicklung von leichten Tragewerken in Form von Zelten, pneumatischen Blasen oder aber Seilnetzen orientiert sich dabei programmatisch an natürlichen
Versuchsanordnungen, also nicht an statischen Berechnungen. Die Konzeption des Münchener und Montrealer Dachs oder auch der Mannheimer Multihalle (1970 – 75), einer aus einfachsten, in sich statisch kaum belastbaren Holzlatten gefertigten Großveranstaltungshalle in Form unregelmäßiger Blasen, erfolgte mithilfe eines Hängemodells in Form eines beweglichen Metallgitters, bei dem sich aufgrund der Schwerkraft die statisch richtige Krümmung der Gitterlinien als Parabolkurven ergibt. Dieses Modell wurde aufwendig fotografiert und daraus die wesentlichen Ansatzstellen und Winkelausrichtungen des Gitternetzes auf die konkrete Konstruktion übertragen. Bei der Errichtung des dreidimensionalen Gitters ergaben sich von selbst, also ohne Einzelberechnungen, alle sekundären Verbindungen und Überkreuzungen, die lediglich fixiert werden mussten, um der riesigen Halle ihre perfekte Stabilität zu verleihen.
Centre Beaubourg in Paris Pop und High Tech
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ie Pariser Stadtbaugeschichte ist gekennzeichnet durch lange Perioden allmählichen Wachstums, das dann punktuell und radikal durch weitgehende Eingriffe in neue Bahnen gelenkt wird. Das galt für die Anlage neuer breiter Boulevards, die auf Veranlassung des Präfekten Haussmann in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s in das alte Stadtgewebe geschnitten wurden |▶ 12|, und das gilt heute für die Einrichtung eines vollständig neuen Stadtviertels im Osten der Stadt, dessen monumentales Zentrum der Neubau der Bibliothèque nationale de France (Dominique Perrault, 1990 – 96) bildet. Städtebaulich und architektonisch epochal war
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aber insbesondere die Erbauung des Centre Georges Pompidou inmitten des Herzens der Kapitale: eine überdimensionierte blockhafte Maschine, deren kulturelle Einrichtungen einen haut-lieu des Massentourismus ausmachen und weit in die Entwicklung des städtebaulichen Umfelds ausstrahlen. Das nach dem alten Stadtviertel auch Centre Beaubourg genannte Gebäude ist deswegen von überragender historischer Bedeutung, weil sich in ihm soziale, politische, städtebauliche und architektonisch-konzeptuelle Umwälzungen spiegeln. Allein die Entstehungsgeschichte ist höchst signifikant. Der Bauplatz am West-
Centre Beaubourg in Paris
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□ 156 Paris, Centre Georges Pompidou, Renzo Piano und Richard Rogers, 1970 – 72, Seitenansicht
rand des alten Maraisviertels geriet in den Studentenunruhen von 1968 in den Fokus, weil sich in dem heruntergekommenen Viertel eine Subkultur etabliert hatte, die in einer Mischung aus Antiamerikanismus, Antikapitalismus und Hippie-Lebensgefühl gegen die moderne Umgestaltung der Stadt opponierte. Darauf reagierte indessen nicht die Stadt Paris, sondern der Staat in der Figur des Präsidenten Georges Pompidou höchstpersönlich, der verfügte, hier ein Kulturzentrum in neuen Dimensionen und für ungewöhnliche kulturelle Erfahrungen zu errichten: Zusammenführung von Produzieren und Ausstellen von Kunst, gegenseitiges Öffnen der Künste und kulturelle Volksbildung bildeten die wesentlichen Ausgangskonzepte. Das bedeutete eine soziale Domestizierung der Subkultur ebenso wie ein Bekenntnis zu Pop-Phänomenen und eine städtebauliche Sanierung zugleich. Entsprechend ungewöhnlich las sich das konkrete Programm des 1970 ausgelobten Wettbewerbs, denn die Entwürfe sollten eine – bislang in Frankreich unbekannte – öffentliche wissenschaftliche Bibliothek, mehrere Kinos und Restaurants mit einer großen Ausstellungshalle, dem nationalen Museum für Moderne Kunst, dem Zentrum
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für Industriedesign und einer Forschungs- und Dokumentationsstätte für Akustik und Musik (IRCAM) miteinander verbinden. Statt also jeder dieser Institutionen mit jeweils gänzlich unterschiedlichen Publikumsspektren – Studenten, Bewohner, Touristen, Kunstliebhaber, Musiker, Forscher – eigene und je nach deren Bedürfnissen individuell und angemessen ausgestattete Bauten zu geben, wurde nunmehr alles miteinander verbunden. Damit wich das Bauprogramm radikal von einem gerade in Frankreich geschätzten Elitismus ab, der Kultur als Angelegenheit einer gebildeten Schicht erachtete. Dieses upside-down-Prinzip galt nun auch für den Entwurf von Renzo Piano und Richard Rogers, dem eine hochrangig besetzten Jury unter anderen mit Jean Prouvé, Philip Johnson und Oscar Niemeyer |▶ 42|, 1971 den ersten Preis verlieh. Das umfangreiche neu zu bebauende Rechteckterrain, für das Hunderte alter Häuser enteignet und abgerissen werden mussten, wurde nur zur Hälfte vom Kulturzentrum (ohne IRCAM) eingenommen, der Rest verblieb als ein öffentlicher Vorplatz. Er bildet eine einfache Freifläche, von den Randbebauungen der alten Straßenzüge eingefasst und sich merklich nach Osten zu dem Gebäudeblock absenkend. Trotz der Anklänge an den berühmten, nach unten zum Rathaus abfallenden Campo in Siena handelt es sich nicht um einen komponierten Platz oder einen Ehrenhof, denn das Gebäude hat kein architektonisches Portal als Fokus. Im Gegenteil war ursprünglich geplant, diese öffentliche, zum Flanieren einladende Freifläche unter dem Gebäude weiterzuführen; dieses sollte sich darüber auf Stelzen bis auf eine Gesamthöhe von 60 m erheben. Auch im verwirklichten Zustand mit auf 42 m heruntergesetzter Gesamthöhe setzt sich die Ebene des Vorplatzes bruchlos im Erdgeschoss des Gebäudes fort. Dieses, 1977 vollendet, verwirklicht in radikaler Weise die Anforderung an eine multiple Flexibilität: Völlig frei erstrecken sich fünf Tragflächen im Abstand von 7 m
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übereinander über eine Tiefe von 48 m, an den Breitseiten getragen von 14 Stützenpaaren im Abstand von 12,9 m (□ 156). Für derartig hohe statische Belastungen wären traditionellerweise schräggestellte bzw. massive Pylone als Aufhängung notwendig gewesen. Das Ingenieursbüro Ove Arup & Partner wandte stattdessen die Technik der vor allem beim Brückenbau verwendeten sog. Gerber-Träger oder gerberettes an: Zwei in sich stabile Kragträger (die bei einer Brücke etwa von der Uferfundamentierung und einem Pylon gestützt werden) halten zwischen sich einen Einhängeträger ohne eigenes Auflager. Im Fall des Centre Beaubourg sind an einem vergleichsweise schlanken Mast massive zweiarmige Hebel mit ungleicher Schenkellänge eingehängt: Die an der Außenseite des Gebäudes abgehenden langen Hebelarme werden durch Stahlstangen nach unten gezogen, so dass auf der Gegenseite die Fachwerkträgern eingehängt werden können. Auf diesen ruhen die durchgehenden Tragböden. An der Außenseite sind die Gerberträgerenden in horizontaler, vertikaler und diagonaler Rich□ 157 Paris, Centre Georges Pompidou, Renzo Piano und Richard Rogers, 1970 – 72
tung durch Stahlstangen verspannt. Mit dieser Technik wurden flexibel bespielbare weite Flächen ohne einen innen liegenden tragenden Kern geschaffen. Ursprünglich sollten die Tragflächen auch in der Höhe verstellbar sein, im ausgeführten Bau lässt der Geschossabstand von 7 m immerhin Zwischeneinteilungen von je 3,5 m zu. Vor allem aber hat das System der an der Außenseite verspannten Gerberträger den Effekt, dass um das völlig leere Innere der Konstruktion herum eine raumhaltige Hülle entsteht, die für verschiedenste, sich verändernde Zwecke genutzt wird. Die Gerberträgerarme wirken als Ausleger, in die die Treppen, Fahrstühle und Versorgungseinrichtungen (Klimatisation, Wasser, Elektrizität) eingefügt sind. Was normalerweise im Inneren eines Gebäudes angelegt ist, wird hier nach außen gekehrt – also dorthin, wo traditionellerweise eine Fassade eine kommunikative Schnittstelle zwischen Innen und Außen bildet. Am Centre Beaubourg besteht diese ‚Fassade‘ an der Gebäuderückseite aus riesigen Rohren und Abzugshutzen, auf der zum Vorplatz zugewandten Seite aber insbesondere aus einer diagonal über die gesamte Breite, von links unten bis rechts oben verlaufenden, in einer gläsernen
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Röhre eingehausten Rolltreppe. Da auf jeder Ebene Absätze notwendig sind, bildet sie einen markanten Zickzackverlauf. Trotz der dominanten High-Tech-Struktur gibt es also durchaus stark bildlich wirkende kompositorische Elemente von fassadenhafter Wirkung (□ 157): Die diagonal vor einer Rasterstruktur verlaufende Zickzacklinie dient dementsprechend auch als Logo des Centre Georges Pompidou. Die Rolltreppe als Hauptmotiv der Platzseite ist aber nicht bloß ein formales Motiv, sondern Mittel einer spektakulären Erschließung des Gebäudes: Von Absatz zu Absatz führt die Rolltreppe den Besucher höher und höher, bis weit über die Dächer von Paris hinaus. Das entertainment auf dem Vorplatz mit den Kleinkünstlern und Touristenmassen, wie dies der Besucher gerade erlebt hat, verwandelt sich zur munteren und heiteren Bühne, die im Blick von oben mit dem Panorama von Paris verschmilzt. Insofern antwortet die demokratische Freifläche auf die Westfront des Gebäudes, beides ist nicht unabhängig voneinander. Es gibt also durchaus fassadenhafte Wirkungen, und zwar umso mehr, als auch den anderen Seiten jeweils bestimmte Charaktere eigen sind: Die Seiten-‚Fassaden‘ zeigen konsequenterweise den konstruktiven Querschnitt des Gebäudes, sind gleichsam Brandmauern (□ vgl. 156). Die Ostfront hingegen wirkt klar als Rückfront, aus der Rohre herausragen. Hier ist der Maschinencharakter des Gebäudes provozierend deutlich, denn die in Primärfarben gestrichenen Röhren erinnern an ein technisches Demonstrationsobjekt, das in überragender Höhe ohne Vermittlung der Altbebauung des Marais gegenübergestellt ist. Der kulturelle Supermarkt, der gemäß Rogers wie ein Erstaunen machendes außerterrestrisches Raumschiff wirken sollte, verstand sich als transparent, frei und flexibel. Das genießerische Erleben von Popkultur auf dem Vorplatz sollte sich im Prinzip auch in den oberen Etagen, mit einem volkserzieherischen Impetus durchsetzt, fortführen, ohne dass Hemmschwel-
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len oder Barrieren Zugänge zu Sammlungen und Bibliothek erschwert hätten. In dieser Radikalität konnte das Konzept nie durchgesetzt werden, denn zum einen schließen sich die Ausstellungssäle in feste Wände ein, bilden insofern klassische Museumsräume, zum anderen erschweren Sicherheitskontrollen an den Eingängen ein ungehindertes Hineinströmen der Besucher. Und schließlich hat umgehend eine derartige touristische Vermarktung des Centre Beaubourg eingesetzt, so dass die hehren Ideale einer Synthese von künstlerischer Kreation und Rezeption und eines egalitären volkserzieherischen Auftrags höchstens in der großen öffentlichen Bibliothek weiter spürbar sind. Pianos und Rogers’ bis heute stark umstrittene Kulturmaschine hat durchaus Vorläufer, etwa in den sich sozialistisch verstehenden Volkshäusern (maison du peuple) des frankophonen Raumes seit ca. 1900. Einige davon waren programmatisch in einer innovativen Metallarchitektur ausgeführt, so etwa die Brüsseler Maison du peuple von Victor Horta |▶ 19| oder das vielfältig als Markthalle, Theater und Versammlungsstätte nutzbare Volkshaus in Clichy von Marcel Lods, Eugène Beaudouin und Jean Prouvé (1935 – 38), mit einer auffaltbaren Zwischendecke. Doch das Centre Beaubourg zeugt gerade auch von den internationalen Kulturdiskursen der Zeit. Denn in dem so ostentativ vorgeführten Aspekt von High Tech wird ein Vertrauen in industriell beherrschte Großtechnik wirksam, die das Mittel darstellt, um soziale und politische Ideale von Partizipation, Transparenz und Effizienz zu verwirklichen. Ähnlich hatte dies auch die metabolistische Bewegung gesehen |▶ 43|. Konkreter noch sind die Bezüge zu der englischen Gruppe Archigram (vgl. S. 94), die in den 60er Jahren teilweise im Medium des Comic eine lustvolle und ironisch gebrochene Bejahung von ScienceFiction und moderner Werbung betrieben hatte. Die Walking Cities eines Ron Herron, auf Stelzen sich bewegende Städte, deren Aussehen
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sowohl an Rieseninsekten als auch an futuristische Raumschiffe denken lässt (□ vgl. 41), haben in der fremdartigen Kulturmaschine mitten in Paris durchaus eine Realisierung erfahren. Das geht bis hin zu den Kommunikationssystemen – denn bei Archigram sollte die Mobilität durch Röhrensysteme verbessert werden, was in der großen Westtreppe des Centre Beaubourg aufgenommen wird. Und die von Archigram enthusiastisch begrüßte entertainment culture wird ebenfalls von dem Pariser Konzept einer kulturellen Erlebnislandschaft übernommen. Mit derartigen Anspielung wird aber auch deutlich, dass die Kulturmaschine nicht nur eine unschuldige Huldigung an die Möglichkeiten der Technik darstellt, sondern sich wie Archigram einer Pop-Ästhetik von Science-fiction, Comic und Unterhaltungsindustrie verschreibt, die – in grotesker Überzeichnung des Gesamtprogramms des Gebäudes – gegen elitäre Auffassungen von ‚Hochkunst‘ opponiert. Die Qualität des Centre Beaubourg liegt also in der durchaus ironischen Note, mit der die
technische Konstruktion verfremdet wird. Sie mutiert zum Raumschiff, erinnert an eine Art Lebewesen mit Knochen (gerberettes) und Eingeweiden (Röhren) und lässt dabei traditionelle ästhetische Kriterien (Fassaden, Beziehung zum Vorplatz) gleichsam durch die Hintertür wieder Eingang finden. Damit unterscheidet sich das Centre Beaubourg von der gleichzeitig entstehenden sog. High-Tech-Architektur, die die kühne technische Konstruktion ostentativ zur Grundlage des architektonischen Entwurfs macht (vgl. S. 71 f.). Diesem Weg folgte weitgehend Richard Rogers mit Aufsehen erregenden Großbauten. Renzo Piano experimentierte nach der Erbauung des Centre Georges Pompidou mit ungewöhnlichen Materialien. Dazu zählt auch das 1991 – 98 errichtete Kulturzentrum Jean-Marie Tjibaou in Nouméa (Neukaledonien). In Anlehnung an indigene Hausbautechniken schuf das Architekturbüro aus durch Flechtwerk verbundenen Holzleisten hohe Segelformen, die von korbartigen Grundrissen aufsteigen.
Die Neue Staatsgalerie in Stuttgart Strategien der Postmoderne
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ls Postmoderne bezeichnet man im allgemeinen Sinn eine in den 1960er Jahren einsetzende kulturgeschichtliche Epoche bzw. philosophische und ästhetische Strömungen, die durch die dezidierte Pluralität von Wertvorstellungen, Handlungsmustern und Verfahrensweisen gekennzeichnet sind. Diese Anerkennung und Wertschätzung von kreativer Vielfalt bezieht sich einerseits auf die damals beginnende Auflösung bzw. Vermischung von Lebensmustern, künstlerischen Genres und Ausdrucksmodi, v. a. auf die Aufhebung der
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Grenzen zwischen Hochkunst und Populärkultur (z.B. in der Pop-Art), oder in der Literatur auf die Enthierarchisierung des Verhältnisses von Autor und Leser (z. B. in Umberto Ecos „Der Name der Rose“). Andererseits betrifft diese Pluralität die Analysemethoden und die zugrunde liegenden Wissenssysteme in Philosophie und Soziologie. Dabei spielt die implizite oder programmatische Abgrenzung von Wissens- und Analysemodellen der Moderne eine gewichtige, allerdings unterschiedlich bewertete Rolle.
Die Neue Staatsgalerie in Stuttgart
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Der bald inflationär verwendete und deswegen umstrittene Begriff ‚Postmoderne‘ existierte vereinzelt bereits im Avantgardekontext des späten 19. Jh.s. In der Philosophie maßgeblich rezipiert und ausformuliert wurde die Postmoderne durch Jean-François Lyotard („La condition postmoderne“, 1979, dt. 1982), der die Krise und Aporie vorgeblich sinnstiftender ‚Großer Erzählungen‘ der Moderne (Fortschrittsoptimismus, Marxismus) konstatierte und dagegen fragmentarische und pluralistische Wissensmodelle stellte. Was die Künste betrifft, so hat sich der Begriff vor allem für die Architektur zu einem wahren Epochenbegriff verfestigt, vor allem seit Charles Jencks („The Language of Postmodern Architecture“, 1977, dt. 1978) ihn als einen neuen Stil interpretiert hatte, der präzise zu definierende Charakteristika, insbesondere eine neue kommunikative Vielfalt aufweise und der eine zu technokratische und geschichtsvergessene Moderne ablöse. Dass dies die Sachlage etwas vereinfacht, zeigt die Neue Staatsgalerie in Stuttgart, 1977 – 84 von James Stirling und Michael Wilford als Museum für die Kunst der Moderne und der Gegenwart errichtet. Das Haus beherbergt zudem auch noch das Stuttgarter Kammertheater. Der Standort des Museums war delikat: Entlang der Oberen Neckarstraße, die östlich hinter den Repräsentationsbauten von Neuem Schloss und Theater im Oberen Schlossgarten vorbeiführte, waren im 19. Jh. eine Reihe wichtiger Kulturbauten entstanden, darunter auch das Museum der Bildenden Künste (Gottlob Georg Barth, 1838 – 43). Das im Krieg stark zerstörte Areal war danach durch die starke Verbreiterung der Straße (seither Konrad-Adenauer-Straße) von der Altstadt abgetrennt worden. Stirlings und Wilfords Projekt nahm nun, im Gegensatz zu anderen Vorschlägen des Architekturwettbewerbs für die Neue Staatsgalerie, diese Gegebenheiten intelligent auf: Sein sich entsprechend dem seitlich der Straße ansteigenden Terrain in mehreren Terrassen
III. Schlüsselwerke
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staffelndes Gebäude steht direkt neben dem alten Kunstmuseum und variiert in seiner grundsätzlichen Anlage als Dreiflügelbau mit einer zentralen Rotunde den H-förmigen Grundriss mit Mittensymmetrie des Altbaus. Mehr noch: Der Fußgängerweg, der dessen Eckpavillons in Durchgängen passiert, setzt sich vor der Neuen Staatsgalerie in einer Allee fort, die diese gleichzeitig von der Durchgangsstraße absetzt. Rechts bzw. südlich der Dreiflügelanlage ragt der Riegel für das Kammertheater vor, der auf die Seitenflügel der Alten Staatsgalerie antwortet. Dieses Motiv von in sich zentrierten Ehrenhöfen wird sodann nochmals nach Süden wiederholt, denn der Kammertheaterflügel ist entlang der hier abgehenden Eugenstraße im Haus der Geschichte von Wilford und Manuel Schupp gespiegelt. Die Erschließung des Gebäudes folgt einer ausgeklügelten Dramaturgie: Der Museumseingang liegt auf einer erhöhten Terrasse über einer senkrechten Sockelmauer (□ 158). Diese überwindet man von der Straße durch mittig abgehende, von einem stählernen Baldachin markierte Zugänge in Form einer Treppe rechts oder einer Rampe links. Auf dem weiten Terrassenplateau angekommen, gibt es linkerhand einen Komplex mit S-förmig geschwungener und sich leicht neigender Glasfront, hinter der sich der Eingangsbereich befindet. Zur Rechten geht eine weitere Rampe nach oben und führt in der Tiefe in eine Rotunde als dem zentralen Motiv des Museumsbaus (□ 159): eine zylinderförmig geführte, oben bepflanzte Mauer, die einen Innenhof definiert bzw. in den Restflächen zu den Gebäudeflügeln Skulpturenterrassen begrenzt. An der Innenseite des Zylinders führt der Rampenweg weiter, um anschließend den rückwärtigen Teil des Gebäudes zu durchdringen. Mit seinen gestaffelten Terrassen, abknickenden Rampen und intimen Höfen bildet des Museum eine Art „postmoderne Architekturlandschaft“ (Klotz, nach Krämer 1998), in der verschiedenste historische Baumotive eingearbeitet sind: Das Mu-
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seum stellt sich gleichsam selbst aus. So ist das Gebäude größtenteils mit ockerfarbenen Natursteinplatten in farblich leicht unterschiedlicher Bänderung verkleidet, die etwa an mittelalterliche Bauten Italiens erinnern; die Dreiflügelanlage entspricht klassischen Schlossanlagen, und vor allem die zentral gesetzte Rotunde stellt eine klare Anspielung auf Schinkels Altes Museum |▶ 4| dar. Eine der rot lackierten Drehtüren im Inneren der Rotunde ist von einer wuchtigen klassizistischen Ädikula mit dorischen Säulen gerahmt (□ vgl. 159). Diese unmittelbar als historische Zitate erkennbaren Motive verquicken sich indes mit Anleihen aus der modernen Architektur: Wenn im Inneren sich eine Rampe in Gegenrichtung wendet, so nimmt das ein Hauptmotiv aus Le Corbusiers Villa Savoye in Poissy von 1928 – 31 (□ vgl. 22) auf; das Verwaltungsgebäude auf der Rückseite des Komplexes verweist in seiner Aufstelzung im Sockelbereich und den langen Fensterbändern ebenfalls klar auf Le Corbusier, insbesondere dessen Zweifamilienhaus, das 1927 auf der Weißenhofausstellung in Stuttgart (□ vgl. 115) errichtet wurde; knallbunte Luftansaughutzen auf der Hinterseite erinnern an das Centre
Beaubourg in Paris |▶ 47|. Insbesondere die schwingende und sich neigende Glasfront am Eingang kann als augenzwinkernd wörtlich genommene Variation eines der Grundmotive der Moderne verstanden werden: der curtain wall, also eine der eigentlichen Konstruktion vorgehängte (Glas-)Fassade. Hier scheint der ‚Vorhang‘ gar durch einen Luftzug gebläht zu sein! Durchgängig sind die einzelnen Motive so miteinander kombiniert, dass sie sich scheinbar ironisch kommentieren: Die stählerne knallbunte Portalfüllung des erwähnten Doricamotivs kontrastiert mit der noblen steinernen Umrahmung. Im Gebäudesockel gibt es Entlüftungsöffnungen, die als herausgebrochene Steine gestaltet sind: Diese liegen konsequenterweise auch unter der ‚Schadensstelle‘. Allerdings sind die Spuren dieses scheinbar ziellosen Alterungsprozesses symmetrisch geordnet, in der rechten wie der linken Hälfte der Sockelwand platziert. Im Inneren laufen weit ausladende Pilzstützen kurioserweise an Gebälke, und am Eingang des Kammerthea□ 158 Stuttgart, Neue Staatsgalerie, James Stirling und Michael Wilford, 1977 – 84, Eingangsbereich mit Rampen
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□ 159 Stuttgart, Neue Staatsgalerie, James Stirling und Michael Wilford, 1977 – 84, Innenrotunde
ters erhält ein um das Eck geführtes Bandfenster – ebenfalls ein Grundmotiv der klassischen Moderne – an eben jener Ecke eine dicke gelbe Stütze, der allerdings die Verglasung in einer konkaven Rundung ausweichen muss. Weiterhin ist auffällig, dass Stirling auch die Referenzen auf eine dem Anspruch nach künstlerisch gestaltete historische Architektur mit rein technisch-konstruktiven Elementen kontrastiert: So stützen sich die vorkragenden Vordächer am Eingang auf einen banalen I-Träger, der wie ein Provisorium erscheint: Auf der einen Seite ist er auf einer Konsole abgekragt, das andere, freie Ende hängt an einem stählernen Ausleger. Der Eingangsbaldachin auf Straßenniveau (vgl. □ 158) steht sehr würdig und hochaufragend in der Mittelachse des Gebäudes, doch handelt es sich technisch um eine aus einfachen Stahlprofilen zusammengesetzte ‚Notkonstruktion‘. Dieses gilt auch für das Innere, wo ein Fahrstuhlschacht als stählerne Rahmenkonstruktion in den Raum geklemmt zu sein scheint. Die Kontrastwirkung dieser Effekte wird vor allem farblich verstärkt, denn diese technischen Teile sind in starken Primärfarben gestrichen: Knallrot und eisblau sind die Stahlträger sowie die zu dicken Röhren aufgeblähten Handläufe der
III. Schlüsselwerke
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Rampen, giftgrün dagegen die Fensterstäbe der Glaswand, rot die Drehtüren. Hier ist man an ähnliche Effekte in der De Stijl-Architektur |▶ 28| und wiederum an das Centre Beaubourg | ▶ 47| oder aber an Nutzarchitekturen wie U-Bahnhöfe u. Ä. erinnert. Die giftgrüne Farbe hat auch der Kunststoffnoppenboden des Eingangsbereichs, ein eigenartiger Verstoß gegen übliche noble Museumsambientes. Dieses unendlich vielfältige Kontrastieren enthält insofern zahlreiche Ironien, führt aber nicht zu karikierenden Effekten. Vielmehr erscheint Stirlings Konzept wie die vielfältige Anreicherung eines Gesamtkomplexes, der seinen Ausgangspunkt in der Alten Staatsgalerie hat. Und so handelt es sich auch nicht um wahllose Übernahmen und beliebige Überraschungseffekte, sondern um architektonische Reflexionen: Das rote Stahltor markiert die Schwelle des Bezirks in einer extrem lakonischen, eben nicht dekorativen Form; die rote Stahldrehtür in der dorischen Ädikula macht Durchgangsfunktionen bewusst: Schutz, Rahmung, Raumveränderung, Einstimmung. Die Integration der Rotunde stellt im Hinweis auf Schinkels Museum die Staatsgalerie nachdrücklich in eine typologische Tradition und weicht zugleich aus ihr aus: Denn die Stuttgarter Rotunde ist zu einem Hof der Entspannung geworden, stellt nicht mehr den Kulminationspunkt der Kunstverehrung dar. Es geht Stirling also um eine kreative und umdeutende Verbindung von historischen und modernen Gestaltungselementen der Architektur, und nicht etwa darum, historische Referenzen schon allein deswegen einzusetzen, weil sie irgendwie sprechen – das könnte auch respektloses Plappern bedeuten. Obwohl die Staatsgalerie durchsetzt mit Pop-Elementen ist, nimmt sie doch die Textur der klassizistischen Vorkriegsbebauung wieder auf und öffnet sich gegenüber der Stadt. Dabei ist vor allem der Einfluss des englischen Architekten und Theoretikers Colin Rowe zu bedenken, der seit den
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frühen 1960er Jahren den sog. Kontextualismus als eine neue Form der Stadtplanung entwickelte hatte, bei der historische Gegebenheiten mit modernen Konzepten in einen komplizierten kreativen Dialog, die Collage City, treten sollten. Damit wurde eine grundsätzliche Kritik an einer Moderne geübt, die primär anthropologisch argumentiert und die Bedeutsamkeit historisch gewachsener Strukturen vernachlässigt hatte. Dies zeigte sich zuvor schon in der Entwicklung der Congrès internationaux d’architecture moderne, innerhalb derer bis zu ihrer Auflösung 1959 die technokratische Ausrichtung des modernen Städtebaus mehr und mehr kritisch hinterfragt wurde. Dagegen stand, etwa bei dem Team X (vgl. S. 221) die Forderung, innerhalb der gewachsenen und sich erneuernden Stadt miteinander verbundene, gruppierende Untereinheiten zu bilden, um identifikatorische Elemente in den modernen Städtebau zu integrieren (Krämer 1998). Wenn sich die Architektur Stirlings als kreative historische Collage darbietet, so stellt dies also nicht einfach eine Besonderheit einer ‚Postmoderne‘ genannten Epoche dar. Vielmehr kann man weiterhin auf eine lange Tradition verweisen, bei der auch immer wieder Museumsbauten eine besondere Rolle spielen.
Der englische Architekt John Soane etwa schuf 1792 in seinem Londoner Haus eine multiple Integration verschiedenster Architekturmotive, die auch als Rahmen einer höchst vielfältigen Kunstsammlung dienen (vgl. S. 31, □ 12). Aber auch Museumsgebäude wie das Bayerische Nationalmuseum | ▶ 18| sind von solchen Prinzipien der Collage geprägt, die auch in die Moderne weiterreichen. Asplunds Stockholmer Bibliothek |▶ 26| ist solch ein Beispiel: In der Kombination von Rechteckkörper und zentraler Rotunde bildet sie neben dem Berliner Alten Museum einen zweiten wichtigen Referenzbau zu Stirlings Stuttgarter Bau, aber sie kombiniert ja ihrerseits historische Vorgaben weiter: das römische Pantheon oder altägyptische, griechische und klassizistische Baumotive. Die Vielfalt postmoderner Strategien wird deutlich, wenn man sich andere Realisierungen vor Augen hält. Die Piazza d’Italia in New Orleans von Charles Moore (1977 – 79) transformiert Italienklischees, v. a. der Architektur des Barock, im Sinn einer Leuchtreklame zu einer fragmentierten Platzkulisse. Leon Krier und Ricardo Bofill kehren mit ihren klaren Rückbezügen auf Antike und Klassizismus zu einer Epoche zurück, der sie universelle ästhetische Gültigkeit zuschreiben.
Jüdisches Museum in Berlin Dekonstruktion und Fragmentation
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ine uralte, bis auf den antiken Theoretiker Vitruv zurückgehende Forderung an die Architektur lautet, dass sie sprechen, also mit den Menschen, die mit ihr in Kontakt kommen, kommunizieren solle: über ihre Funktion, ihre Auftraggeber, ihre Nutzer oder auch über sich selbst. Ein historistisches Gerichtsgebäude
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etwa |▶ 14| soll über sein Äußeres erkennbar machen, dass dort im Auftrag einer staatlichen Gemeinschaft von Richtern über Angeklagte Recht gesprochen wird – und dass es zudem ein wohlgestaltetes Gebäude ist. Dieses Sprechen oder Kommunizieren geschieht über Zeichen, die auf ein Bezeichnetes rekurrieren:
Jüdisches Museum in Berlin
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Bei Vitruv war dies zum Beispiel der dorische Tempel, der über die feste, männliche Säulenordnung der Dorica auf Jupiter als den mächtigsten der Götter verweisen sollte. Später, im 19. Jh., war es das Vokabular der Stile, mit dem verschiedene Inhalte vermittelt werden sollten: zahlreiche Bauaufgaben, nationale oder regionale Identitäten, Geschmack, urbanistisches Zusammenstimmen usw. Und auch die so radikal referenzlose Moderne, die eigentlich nicht Zeichen für etwas anderes sein, sondern unmittelbar soziale Ordnung stiften wollte, wurde in sich umgehend ein Symbol: für Demokratie, Modernität, Innovation oder auch politische Systeme |▶ 38|. Die Postmoderne wiederum bemühte sich, die Vielfalt von Zeichen und Referenzsystemen zu erweitern, auch populäre und verfremdete Jargons zuzulassen |▶ 48|. Was aber, wenn jedes Zeichen je nach kommunikativer Situation im Akt des Sprechens, Schreibens, Hörens und Lesens nicht etwa einen klaren ‚Begriff‘ vermittelt, sondern unendlich viele Nuancen des Bezeichneten andeutet, umkreist, insinuiert? Wie kann unter solchen Vorbedingungen Architektur noch sprechen oder zeichenhaft kommunizieren? Jedenfalls sind derartige grundsätzliche linguistische Ausrichtungen auch in der Architektur der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts sehr eindrücklich umgesetzt worden, indem sie versuchen, das Angedeutete, Fragmentarische, Assoziative zu bewusst heterogenen Bezugspunkten architektonischer Bedeutungsstiftung zu machen, die notwendig vielfältig, inkohärent und subjektiv sind. Das bekannteste Beispiel dafür ist das Jüdische Museum in Berlin des Architekten Daniel Libeskind. Der Bau hat eine komplizierte Planungsgeschichte: 1989 gewann der Architekt einen Wettbewerb für einen Erweiterungsbau des Westberliner Stadtmuseums (Berlin Museum), in dem vor allem, aber nicht ausschließlich die Jüdische Abteilung untergebracht werden sollte. Programmatisch war vorgese-
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hen, die Interdependenzen, Verschränkungen und Fehlstellen von Berliner und jüdischer Geschichte auch architektonisch und museologisch wirksam werden zu lassen. Darauf antwortete Libeskind mit einem Entwurf vielfältig sich überschneidender Räume in unvermittelten Orientierungswechseln. Als der Bau 1993 begonnen wurde, hatten sich allerdings die Rahmenbedingungen vor allem in Folge der Fusion der beiden Stadtmuseen und der Planungen von hauptstädtischen Gedenkstätten des nationalsozialistischen Völkermordes radikal verändert. Aus dem Erweiterungsbau eines Stadtmuseums wurde das eigenständige Jüdische Museum. Die ursprüngliche Zielsetzung sieht man dem Bau auch heute noch an, denn sein bandartiger, mehrfach gezackter, einem Blitz ähnlicher Grundriss (□ 160) schließt, allerdings mit einigem Abstand, an den Hauptflügel des ehem. Collegienhauses von 1734 – 35 an, in dem das Berlin Museum untergebracht war. Doch solches ‚Bauen im Kontext‘ wird ansonsten vollständig konterkariert. In der mit Aluminium verkleideten Hülle schneiden sich scheinbar wahllos schräg und sich überkreuzend Schlitze als Fenster ein (□ 161), südlich des gezackten Hauptflügels erhebt sich markant ein hoher Betonturm auf unregelmäßig gezacktem Grundriss, daneben steht auf einem gekippten Plateau ein Raster von schräg nach oben strebenden Betonstelen, die eine Art Labyrinth zwischen sich ausbilden. Der Grundriss des Hauptgebäudes entsteht prinzipiell dadurch, dass zwei im Abstand von einigen Metern parallel geführte, exakt gerade Achsen überlagert werden von der zackigen Struktur des Hauptflügels. Dessen Fluchten entstehen gemäß den Angaben Libeskinds dadurch, dass sich hier zahlreiche bedeutungsvolle Achsen überschneiden, die sich aber nur als fragmentierte Abschnitte konkretisieren. Verlängert man die Achsen, so sollen sie zu den Wohnstätten bedeutender jüdischer Intellektueller führen oder können auch einen stark gestreckten
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Davidstern ergeben. Das ist bewusst assoziativ, als eine von unendlich vielen Sinnstiftungen und Verweisen des Baues zu verstehen. Wo sich das Zackengebilde mit der geraden Achse überschneidet, sind Schächte wie aus der Baumasse herausgetrennt; der seitlich stehende Turm ist wie die positive Substanz eines solchen Schachts als architektonische Matrize. Libeskind will diese Schächte als Leerstellen (voids) verstanden wissen (□ 162); in der Tat bilden sie keine nutzbaren Höfe, sondern sind nicht zu betreten und vom Inneren des Gebäudes nur unvollständig durch Schlitze zu sehen. Spektakulär ist die Erschließung des Gebäudes, das keinen sichtbaren Eingang aufweist. Man betritt es unterirdisch über den barocken Bau, wird in dunklen, sich überkreuzenden Korridoren weitergeleitet. Ein Arm führt zu dem genannten Turm mit der Bezeichnung Holocaust-Turm, in dessen nackten Betonwänden der Blick nach oben geleitet wird, ohne ein Ziel zu finden. Der Hauptkorridor verwandelt sich in eine lange, nach oben aufsteigende Treppe mit mehreren Zwischenpodesten; eigenartige Balkenstrukturen durchdringen den Oberteil dieses Treppenhauses, aber es wird zunehmend heller, bis die Treppe unvermittelt an eine Wand stößt. Einige Stufen zuvor geht es aber seitlich ab in die Sammlungsräume. Auch diese irritieren (wenn dies nicht durch die opulenten Inneneinbauten gemildert wäre)
aufgrund ihrer brüsken Richtungsänderungen, der spitzwinkeligen Ecken und der die Fußbodenebenen übergreifenden schrägen Schlitzungen der Außenwand. Es handelt sich also um eine Architektur, die psychisch irritieren, ja verstören soll, um zum Fragen und Reflektieren anzuregen. Doch versichernde ‚Antworten‘ oder ‚Erklärungen‘ gibt es nicht, denn in seiner Gesamtkomposition, seinem Bautypus oder der Raumanordnung entzieht sich der Bau jeder (offensichtlichen) Bezugnahme, ja, die Absenz von verweisenden Zeichen ist ja gerade in den voids präsent. Sicherlich könnte man den Bau formal auf konstruktivistische Architekturexperimente oder Gropius’ Weimarer Märzgefallenendenkmal in Form einer Splitterfigur (von 1922) oder auch originelle Grundrissentwürfe für Fortifikationen, etwa von Michelangelo, beziehen. Aber vielmehr könnte sich ein sinnstiftender Inhalt nur in subjektiv-individuellen Wissensfragmenten, Assoziationen, Erlebnissen immer wieder neu konstruieren, keinesfalls aber als begrifflicher Kern einer architektonischen Aussage freigelegt werden. Das Gebäude unterminiert den Gedanken, es könne einen begrifflich zu fassenden inhaltlichen Sinn geben, der über eine bauliche Gegebenheit eindeutig zu ver□ 160 Berlin, Jüdisches Museum, Daniel Libeskind, 1993 – 99, Grundriss
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□ 161 Berlin, Jüdisches Museum, Daniel Libeskind, 1993 – 99, Detail
mitteln wäre. Libeskind leistet dem Vorschub, indem er suggeriert, dem Entwurf hätten heterogene, stark assoziative Gedankenfragmente, Assoziationen und Aperçus zugrunde gelegen. Außer den genannten Verbindungsachsen benennt er Schönbergs in Berlin entstandene, aber unvollendete Oper „Moses und Aaron“: Der jüdisch-alttestamentarische Stoff endet an der Stelle, an der Moses wie Schönberg den Namen Gottes aussprechen wollen, ihn also in sprachliche bzw. musikalische Zeichen umsetzen sollen. Zudem assoziiert Libeskind sein Entwurfskonzept mit der unendlichen Anzahl jüdischer Schicksale in Berlin und Walter Benjamins Collage „Einbahnstraße“. Die ‚Leere‘ des Gebäudes reagiere auf den Mangel an materiellen Überresten jüdischer Kultur nach dem Holocaust, solle aber eine hoffnungsvolle Matrix des Gedenkens ausbilden. Eine etwas andere Lesart dieses ersten realisierten Werks von Libeskind könnte es als das Resultat eines Entwurfsprozesses darstellen, der im Akt des Zeichnens beständig neu ansetzt, korrigiert, revidiert, verwirft – in der beständigen Erkenntnis, dass niemals eine ad-
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äquate Relation zwischen Inhalt und Form erzielt werden kann. Libeskind hat dies in seinen Frühwerken etwa anhand der „Micromegas“ vorgeführt, collageartiger, verdichteter Architekturzeichnungen, die aus assoziierenden Entwurfsprozessen zu stammen scheinen und zu vexierbildhaft uneindeutigen over-all-Strukturen geraten. Damit übersetzt der Architekt linguistische Reflexionen Jacques Derridas zu den Relationen von Zeichen und Bezeichnetem, die im Akt des Sprechens, Schreibens – bzw. bei Libeskind: im Akt des zeichnenden Architekturentwerfens – sich unaufhörlich neu konstituieren und letztlich keinen begrifflich scharf umrissenen Logos freilegen. Dieses fragile und tastende Räsonieren über Architektur bricht sich allerdings an den Bedürfnissen einer massentouristischen Vermittlung und der politischen Indienstnahme – zumal eines Museums der jüdischen Kultur in Berlin. Denn hier geraten die Aperçus Libeskinds zu scheinbar eindeutigen Metaphern und Symbolen. Der Holocaust-Turm etwa wird zum Symbol für den Völkermord an den Juden, die voids repräsentieren die untergegangene jüdische Geschichte in Berlin. Damit aber wird die Architektur zu banalen Merkzeichen für unendlich komplexe Sachverhalte. Die grundsätzliche Hinterfragung der Sprachmöglichkeit von Architektur bzw. ihrer auf Realität verweisenden metaphorischen Eigenschaften wird auch von anderen Architekten veranschaulicht: Peter Eisenman, ebenso Architekt wie Philosoph, nimmt in Teilen seines Werks bewusst inkonsistente Denkmodelle der modernen Soziologie und Sprachwissenschaft sowie des postmodernen Romans auf, um die grundsätzliche Fiktionalität der Architektur gegen ihren vergeblichen Anspruch zu richten, Welt zu repräsentieren. Auch der Anspruch der Moderne, rein funktional zu sein, und damit einer rationalen Weltordnung zu gehorchen, erweise sich als bloße Simulation. Aufgabe der Architektur sei es, sie als Fiktion wahrnehmbar zu machen.
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In seinem teilrealisierten Wohnhausprojekt für die IBA in Berlin (Kochstraße/Friedrichstraße) wird ein dreidimensional organisiertes Rechteckraster innerhalb des Wohnblocks deutlich, das auch im Hinterhof gleichsam archäologisch ausgegraben erscheint. Doch der vorsätzlich verbindliche Ordnungsanspruch dieses Gitters wird nicht nur dadurch konterkariert, dass die Freilegung erkenntlich künstlich ist. Auch ist der Baublock ein wenig gegenüber den Rasterachsen verdreht, nimmt nicht auf sie Bezug und erscheint insofern als eine rein auf sich bezogene kubische Architektur. Auch der Begriff der Dekonstruktion, von dem sich dieser Dekonstruktivismus ableitet, geht auf die Philosophie Jacques Derridas zurück, der damit nicht ‚Zerstörung‘, sondern den ‚Ab-Bau‘ von immer wieder tradierten und transformierten philosophischen Theoremen meint. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass Begründungszusammenhänge, auf denen Wissen und Erkenntnis beruhen, nicht von vornherein vorhanden und insofern adäquat in Begriffe zu fassen, sondern vielmehr ‚konstruiert‘ sind. Die Faszination, die derartige Hinterfragungen auf eine Reihe von Architekten seit der Mitte der 80er Jahre ausübte (Bernhard Tschumi, Zaha Hadid, Frank O. Gehry, Coop Himmelb(l)au, Daniel Libeskind, Peter Eisenman), liegt zum einen darin begründet, dass Wissenstheoreme häufig über architektonische Metaphern vermittelt werden: Das ‚Fundament‘, die ‚Struktur‘ oder die ‚Stabilität‘ einer logischen ‚Konstruktion‘ sind Beispiele dafür. Architektonische Relationen dienen insofern der Begriffs- und Wissensbildung (Wigley 1994). Sobald an der Gültigkeit solcher Zusammenhänge Zweifel aufkommen, kann die Architektur insofern darauf reagieren, indem sie etwa derartige Begriffe als keineswegs von vornherein gegeben ausweist. Deswegen ähneln die Bauten des ar-
chitektonischen Dekonstruktivismus häufig instabilen, collageartigen Gebilden. Sie machen deutlich, dass Logik und Gesetzlichkeit nicht a priori gegeben sind. Zum anderen misstrauen die Architekten wie die Philosophen dem Repräsentationscharakter von baulichen Dispositionen bzw. Begriffen. Sie sollen stellvertretend für ein Anderes, Eigentliches stehen, ohne dass klar wäre, wie dies ohne die Zuhilfenahme von Zeichen, die dieses übersetzen, auszudrücken wäre. Im Bereich der neuzeitlich-vitruvianischen Architektur war es lange die Tektonik, die die Wirksamkeit von Naturgesetzlichkeit vermitteln sollte. Im anschaulich gemachten Prinzip von Tragen und Lasten repräsentiert sich demnach die Welt in Logik, Kausalität und Rationalität, also Kriterien, denen auch jeder Benutzer teilhaftig ist. Doch wenn diese repräsentationale Funktion der Architektur – also ihr Anspruch, einen übergeordneten Inhalt zu vermitteln – in Frage zu ziehen ist, so besteht das Paradox, auf architektonischem Wege hinter diese Funktion zu gelangen. Das kann aber nur dadurch geleistet werden, dass diese Infragestellung der Tektonik baulich aufgezeigt wird.
□ 162 Berlin, Jüdisches Museum, Daniel Libeskind, 1993 – 99, Blick in eines der voids
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Freilich birgt das inhärente Probleme, denn die auf den ersten Blick instabilen Gebilde des Dekonstruktivismus wollen in ihren Materialoppositionen, Raumdurchdringungen und Überraschungsmomenten ja nicht ihrerseits als ein kohärentes und komplexes Zeichensystem dechiffriert werden. Somit erliegen die dekonstruktivistischen Architekturen latent einer Ästhetik der Transzendenz, also der Bewunde-
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rung, dass trotz scheinbarer Regellosigkeit Stabilität und Funktionalität gewährleistet sind. Dies wiederum ist in vielen Fällen zu spektakulären und bisweilen monumentalen Eventarchitekturen umgedeutet, die ihrerseits Teil eines corporate design und insofern in hohem Maße repräsentational sein können. Das populärste Beispiel dafür ist das Guggenheim-Museum in Bilbao (□ vgl. 35).
Das 21. Jahrhundert Positionen der Gegenwart
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auen und Architektur hatten immer einen sozialen Auftrag |▶ 2, 16, 22, 30|, gerade in der Moderne, in der ökonomische Effizienz und soziale Hygiene zu Grundforderungen einer ‚guten‘ Architektur wurden. Das Scheitern vieler Großsiedlungen zeigt aber, dass das großmaßstäblich-industrielle Bauen nicht immer ein Garant für sozialen Fortschritt und die erhoffte Wohlfahrt darstellt. Auch kann, und das ist alltägliche Praxis insbesondere in den expandierenden Megacities Asiens und Lateinamerikas, die ökonomische Rationalisierung von einem ethischen Grundsatz zu einem Mittel der Renditevergrößerung umschlagen. Soziale Eingriffe sind hier nicht mehr über Archi□ 163 Gando (Burkina Faso), Grundschule, Diébédo Francis Kéré, 1999
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tektur, sondern höchstens über politische und wirtschaftliche Maßnahmen möglich. Vor allem implizieren derartige Modelle der effizienten Rationalisierung, dass es eine hochentwickelte Infrastruktur gibt, die Teil des alltäglichen Lebens ist – individuelle Mobilität, Ausstattungskomfort, Versorgung mit Energie und Nahrung. Und sie rechnen zudem mit bestimmten westlichen Lebensmodellen, was etwa die Funktion von Familie, die Bedeutung von Bildung oder das Konsumverhalten betrifft. Angesichts der Globalisierung der Welt stellt sich zunehmend die Erkenntnis ein, dass derartige Kriterien nicht auf Gesellschaften übertragbar sind, die nicht über solche Infrastrukturen verfügen.
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Das gilt in hohem Maße für die ländlichen, extrem armen Regionen Afrikas. Ökonomische Effizienz heißt in diesem Zusammenhang, lokale Materialien, traditionelle Techniken und Partizipation der Bewohner mit innovativem Knowhow zu verbinden, um daraus Architekturen entstehen zu lassen, die effektiv und in ihrer ästhetischen Form identitätsstiftend sind. Vor allem dem Lehmbau kommt hier eine wesentliche Rolle zu. Exemplarisch kann dies anhand der 1999 begonnenen Grundschule mit Bibliothek und Frauenhaus in Gando in Burkina Faso aufgezeigt werden. Die preisgekrönten Bauten wurden von dem aus dem Land stammenden, in Deutschland ausgebildeten Architekten Diébédo Francis Kéré und den Bewohnern des Dorfes errichtet (□ 163). Der Schulbau besteht aus einer Abfolge von rechteckigen Pavillons für die Klassenräume und einer über ovalem Grundriss errichteten Bibliothek. Konstruktiv kam ein einfaches Eisenbetonskelett zur Anwendung, dessen Ausfachung aus Lehm von den Dorfbewohnern selbst gestampft und eingebracht wurde. In die Ausfachung wurden auch Tonbehälter als Getreidespeicher eingemauert. Auch für die Decke der Bibliothek wurden derartige Tongefäße ohne Boden verwendet, so dass durch viele runde Öffnungen Tageslicht in den Innenraum rieseln kann. Die überdachte Veranda wurde aus einem Gitter von Eukalyptusbäumen erstellt, die Dächer bestehen aus einem aufgestelzten und weit vorkragenden leicht konvex gekrümmten Wellblech. Aus der pragmatischen Verbindung von preiswerten lokalen Baustoffen und gemeinschaftlicher Partizipation entsteht eine für die lokale Bildung sehr wichtige Schulinstitution, die in ihrer insgesamt schlichten, aber sehr klar gegliederten Architektur mit den eleganten horizontalen Flugdächern eine identitätsstiftende Wirkung hat. Der Synagogenbau erlebt in der letzten Zeit einen bemerkenswerten Aufschwung, zumal in Deutschland, wo sich seit dem Holocaust
□ 164 Mainz, Neue Synagoge, Manuel Herz, 2008 – 10
wieder jüdische Gemeinden als Teil des öffentlichen Lebens gebildet haben. Daraus ergeben sich zwei Leitfragen grundsätzlicher Natur, nämlich nach dem Repräsentationspotential der Synagogenarchitektur in Bezug auf ein gegenwärtiges Selbstverständnis des Judentums in Deutschland zum einen und zum anderen nach der architektonischen und urbanistischen Spezifik des Synagogenbaus im wiedervereinten Deutschland. Beide Fragen orientieren sich vor allem an grundsätzlichen Problemstellungen der Baugattung im 19. Jh. Diese waren getragen von einem weitgehend durch Assimilation geprägten Judentum und einer ausgeprägten Übernahme historistisch-stilistischer Architekturidiome, die auf romanische, orientalische bzw. christlich-sakrale Vokabulare Bezug nehmen. Die besondere Relevanz der Fragestellung ergibt sich aus dem epochalen Bruch, den die Shoah im Hinblick auf die Tradition des Synagogenbaus in Deutschland verursacht hat. So steht der aktuelle Synagogenbau vor dem Anspruch, sich als ein besonderer Bautypus auszuweisen, sich gleichzeitig städtebaulich zu integrieren und dabei ein innovatives Potential zu verwirklichen. In mehreren Fällen wird das dadurch deutlich gemacht, dass am Baukörper in abstrahierender Weise der Davidstern variiert wird, z. B. am Jüdischen Zentrum in München (Wandel, Hoefer & Lorch, 2003 – 06). Etwas andere Wege ging der Architekt Manuel Herz bei der Neuen Synagoge in der Mainzer
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□ 165 München, BMW Welt, Coop Himmelb(l)au, 2001 – 07
Neustadt, die von 2008 – 10 an der Stelle des 1938 zerstörten Gebetshauses errichtet wurde. Der Grundriss ist einfach, denn er besteht aus einem mehrfach abknickenden Riegel, in dessen östlichem Ende der eigentliche Synagogenraum mit dem Thoraschrein eingerichtet ist. Seine dunkle Möblierung kontrastiert mit den goldgefassten Innenwänden, von denen die Ostwand als reliefierte Textur aus ineinanderverschränkten hebräischen Schriftzeichen gestaltet ist. Großzügig belichtet wird der Saal durch einen steilen Lichttrichter. Im anderen Gebäudeteil befinden sich mehrere Veranstaltungssäle. Diese Raumabfolge ist nun in eine äußerst bewegte Außenfassade eingefasst, die in ihren Konturen den hebräischen Lettern des Segensspruchs „Keduschah“ (Heiligung, Erhöhung) folgen. Das gezackte Auf und Ab ist aber durchaus städtebaulich eingefügt, denn es nimmt zunächst die Traufhöhe der umgebenden Gründerzeitbebauung auf, um markant in der Umhüllung des Lichttrichters zu kulminieren. Entlang der Konturen sind parallele Scharen von Riefelungen in moosgrüner Keramik geführt, die gemäß den Konturknickungen Felder von unregelmäßigen Vielecken, meist Rhomben, Trapeze und Parallelogramme, ausbilden (□ 164). Je nach Lichteinfall schimmern diese Felder unterschiedlich, reflektieren mal das Licht, mal dominiert die Färbung des keramischen Materials. Die Architektur scheint
III. Schlüsselwerke
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somit im flirrenden Grün der umgebenden Bepflanzung aufzugehen, umschließt sogar einen Garten im rückwärtigen Bereich. Somit steht die Synagoge inmitten eines innerstädtischen Platzes, der teilweise als grüne Piazza gestaltet ist und zum Verweilen und Feiern einlädt. Während also die Synagogen in Dresden (Wandel, Hoefer & Lorch, 1997 – 2001) und München in ihrer hieratischen Aufsockelung gleichsam auch Denkmals- und Mahnmalcharakter haben, verzichtet das Mainzer Gebäude auf solche negativen Bezugnahmen, sondern vermittelt eine optimistische Verankerung im städtischen Umfeld, ohne dabei aber auf die große Aufgipfelung über dem Synagogenraum zu verzichten. Die Symbolik kann dem Bau nicht durch konventionelle Zeichen entnommen werden, sondern ist ihm wortwörtlich eingeschrieben, denn seine äußere Form folgt dem Segensspruch, stellt ein gebaute Form gewordenes Motto für die Synagoge wie auch das unmittelbare Umfeld dar. Die spektakulären, formal auffälligen Großprojekte folgen häufig dem Konzept einer branded architecture, also einer Markenbildung, die Teil der corporate identity des Bauherrn darstellt. Auch die verschiedenen Erlebnisparks von Automobilherstellern gehören in diesen Zusammenhang. Im Fall von BMW kann auch ansatzweise die dahin führende Entwicklung innerhalb eines Areals nachverfolgt werden: In unmittelbarer Nachbarschaft des Münche-
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ner Olympiageländes |▶ 46| und dessen Aufwertung des Stadtviertels folgend errichtete Karl Schwanzer 1972 die Hauptverwaltung und ein Automobilmuseum des Unternehmens. Das Verwaltungshochhaus erhielt die an einen Hochleistungsmotor erinnernde Form von zweimal vier kompakt zusammengefassten Zylindern. Das Museum wurde als riesige Schüssel gestaltet und umgehend als Weißwurstkessel bezeichnet und insofern als ‚bayerisch‘ konnotiert. Die BMW Welt, 2001 – 07 zwischen Olympiagelände und der BMW-Zentrale von dem Wiener Architekturbüro Coop Himmelb(l)au errichtet, bezieht sich aber nicht mehr mit solchen Bildverweisen auf das Unternehmen, sondern auf die Schaffung einer totalen Entertainment-Architektur: Das im Grundriss in etwa dreieckige Gebäude enthält eine Premiereplattform, auf der in einem ausgeklügelten Zeremoniell Neuwagen in Empfang genommen werden und dann über eine spektakulär im Inneren hängende Rampe ausfahren können. Sodann vereint die Architektur ein Kundenzentrum, Ausstellungs- und Veranstaltungsräume, eine Flanierzone, Präsentations- und Simulationsflächen, einen Forschungsbereich, mehrere gastronomische Einrichtungen usw. All das ist Tag und Nacht geöffnet, von einer geradezu provozierenden Öffentlichkeit: ein um das Auto herum arrangiertes Kulturzentrum. Die drei Stockwerke in die Erde und drei in die Höhe reichende Konstruktion enthält in paradoxer Weise eine Art gebauter Wolke (□ 165). Aus zwei übereinanderstehenden gläsernen, mit den spitzen Seiten sich berührenden Kegeln – einer Hurrikanwolke nicht unähnlich – zieht sich entlang der Decke ein auf- und abschwellender Wolkenstreifen als Dach über das Gebäude. Daran vorbei führt von außen nach innen eine geschwungene Passerelle, sich im Inneren zu einem eigenen überhängenden Geschoss ausweitend. Die wolkenartigen Formationen scheinen sich im Inneren dynamisch in ein großes Oval einzudrehen; dort findet der Empfang der
Neuwagen statt. Zwischen Hallenboden und Wolkendach verbleibt ein weiter Freiraum, der nirgendwo die immer spektakulären, berauschenden Blicke auf die hier statthabenden Events behindert. Technisch ist die Konstruktion eine Meisterleistung der Tragwerksplaner Klaus Bollinger und Manfred Grohmann, die die schwingenden Formen und die dazu nötige komplizierte, vom Dach abgehängte Fachwerkkonstruktion der Wolke mit Hilfe von aufwendigen computergesteuerten Entwurfs- und Roboterprogrammen verwirklichten. Die Nutzbereiche im Inneren sind mit organisch-schwellenden Blechen verkleidet, aerodynamisch wie leistungsstarke Automobile geformt und in ihrer mattiert grauen Lackierung auch vergleichbare Oberflächenreize aufweisend. Dazu kontrastiert die ‚Wirbelsturm‘-Decke, aus der bisweilen rötliches Licht durchzuschimmern scheint. Wolf Prix, der Leiter des Architekturbüros, hatte schon in den 60er Jahren mit fliegenden Architekturen experimentiert, also einem eigentlich unlösbaren Paradox – schwere Bauten sich in die Luft heben zu lassen. Mit Hilfe massiver Technik scheint in der BMW Welt dieses eigentlich Unmögliche Wirklichkeit geworden zu sein, nämlich das Fliegen, Schweben und Wirbeln zu bauen. Ging es früher darum, mit der Erfahrung des Schwebens starke beunruhigende, euphorische Emotionen zu wecken und insofern der Architektur neue Erlebnisqualitäten zu verleihen, so verbinden sich diese in der BMW Welt mit einer ästhetisch aufgeladenen Sinnlichkeit des Konsums von perfekt beherrschten Wunderdingen. Ungebundene Fortbewegung inmitten der rauschenden und berauschenden, aber gleichwohl beherrschten Naturkräfte: Solche Erlebnisqualitäten eignen der Architektur wie dem Image der Automarke. Wenn man das mit der Grundschule in Gando in Zusammenhang bringt, eröffnet sich eine geradezu irritierend große Bandbreite dessen, was gegenwärtige Positionen der Architektur sein können.
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IV. Anhang Zeittafel 1747 Gründung der École des ponts et chaussées in Paris 1748 Beginn der Ausgrabungen in Pompeji 1756 Marc-Antoine Laugier: „Essai sur l’architecture“ 1757 Paris, Ste-Geneviève (Panthéon, Germain Soufflot) 1758 David Le Roy „Ruines des plus beaux monuments de la Grèce“ 1762 – 1816 Nicholas Revett und James Stuart: „Antiquities of Athens“ 1764 Johann Joachim Winckelmann: „Geschichte der Kunst des Altertums“ 1765 Marie-Joseph Peyre: „Œuvres d’architecture“ 1768 – 1813 Wörlitzer Gartenreich (Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff) 1773 – 1789 Großes Theater in Bordeaux (Victor Louis) 1775 – 1778 Saline von Arc-et-Senans (Claude-Nicolas Ledoux) 1775 – 1785 Christian Cay Lorenz Hirschfeld: „Theorie der Gartenkunst“ 1778 – 1784 Theater in Besançon (Claude-Nicolas Ledoux) 1779 – 1782 Comédie française (Théâtre de l’Odéon) in Paris (Marie-Joseph Peyre und Charles de Wailly) 1780 Nicolas Le Camus de Mézières: „Le genie de l’architecture ou l’analogie de cet art avec nos sensations“ 1781 Sumerset House in London (William Chambers) 1785 – 1789 Zollhäuser in Paris (Claude-Nicolas Ledoux) 1788 Brandenburger Tor in Berlin (Carl Gotthard Langhans) 1789 Englischer Garten in München (Benjamin Thompson und Ludwig von Sckell) 1792 Bebauungsplan für Washington (Pierre-Charles L’Enfant) 1794 Gründung der École polytechnique in Paris 1794 – 1810 Ausbau der Bank of England in London (John Soane) 1796 – 1809 Zweites Landhaus Jefferson in Monticello 1799 – 1801 Jean-Nicolas-Louis Durand: „Recueil et pa- rallèle des édifices de tout genre anciens et modernes“ 1800 Rathaus von Kopenhagen (Christian Frederik Hansen) 1802 – 1805 Jean-Nicolas-Louis Durand: „Précis des leçons d’architectures données à l’école polytechnique“ 1804 Claude-Nicolas Ledoux: „L’architecture considérée sous le rapport de l’art, des mœurs et de la législation“ 1810 – 1829 Frauenkirche in Kopenhagen (Christian Frederik Hansen)
1816 Gründung der École des Beaux-Arts in Paris Neue Wache in Berlin (Karl Friedrich Schinkel) 1817 Propyläen in München (Leo von Klenze) 1817 – 1826 Academical Village in Charlottesvilles (Thomas Jefferson, William Thornton u. Benjamin Latrobe) 1818 – 1821 Schauspielhaus in Berlin (Karl Friedrich Schinkel) 1822 – 1830 Altes Museum in Berlin ( Karl Friedrich Schinkel) 1825 – 1842 Umbau der Residenz in München (Leo von Klenze) 1828 Heinrich Hübsch: „In welchem Style sollen wir bauen?“ 1830 – 1842 Walhalla bei Donaustauf (Leo von Klenze) 1832 Bauakademie in Berlin (Karl Friedrich Schinkel) 1832 – 1843 Staatsbibliothek in München (Friedrich von Gärtner) 1833 Jules Michelet: „Histoire de la France“ 1834 Gottfried Semper: „Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architektur“ 1839 Leopold von Ranke „Deutsche Geschichte im Zeit- alter der Reformation“ 1839 – 1841 Erstes Hoftheater in Dresden (Gottfried Semper) 1840 – 1852 Houses of Parliament in London (Charles Barry, Augustus Welby Northmore Pugin) 1842 – 1850 Bibliothèque Ste-Geneviève in Paris (Henri Labrouste) 1842 – 1880 Vollendung des Kölner Doms (Friedrich Zwirner) 1849 John Ruskin: „The Seven Lamps of Architecture“ 1850 – 1863 Anlage von Saltaire bei Bradford 1851 Crystal Palace in London (Joseph Paxton und Charles Fox) Gottfried Semper: „Vier Elemente der Baukunst“ Markthallen in Paris (Victor Baltard) Weltausstellung in London 1851 – 1853 John Ruskin: „Stones of Venice“ 1852 Kathedrale von Marseille (Léon Vaudoyer) 1853 Mechanischer Personenaufzug (Elisha Graves Otis) 1853 – Anf. 20. Jh. städtebauliche Neuordnung von Paris (Georges-Eugène Haussmann) 1854 – 1875 Lesesaal der Bibliothèque nationale in Paris (Henri Labrouste) 1856 Owen Jones: „Grammar of Ornament“ 1854 – 1868 Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc:
325 „Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècle“ 1859 Ensanche (‚Erweiterungs‘)-Plan für Barcelona (Ildefons Cerdà) Red House in Bexleyheath (Philip Webb) 1859 – 1862 Central Park in New York (Frederick Law Olmstedt) 1859 – 1910 Ringstraße in Wien 1860 Umgestaltung des Parc Montceau in Paris (Jean-Charles-Adolphe Alphand) 1860 – 1863 Gottfried Semper: „Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten“ 1861 Gare du Nord in Paris (Jacques Ignace Hittorff) 1862 Bebauungsplan für Berlin (James Hobrecht) 1862 – 1869 Palais Longchamps in Marseille (Henri Espérandieu) 1862 – 1870 Parc des Buttes Chaumont in Paris (Jean-Charles-Adolphe Alphand) 1862 – 187 Opéra in Paris (Charles Garnier) 1863 Untergrundbahn in London 1863 – 1872 Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc: „Entre- tiens“ 1866 – 1877 Galleria Vittorio Emanuele II in Mailand (Giuseppe Mengoni) 1866 – 1883 Justizpalast in Brüssel (Joseph Poelaert) 1871 – 1878 Zweites Hoftheater in Dresden (Gottfried Semper) 1872 Ausbau des Kaufhauses Au Bon Marché in Paris (Louis-Charles Boileau) 1882 Bandstadtentwurf von Arturo Soria y Mata 1883 Sagrada Familia in Barcelona (Antonio Gaudí u. a.), noch nicht voll. 1883 – 1886 Home Insurance Building in Chicago (William Le Baron Jenney) 1883 – 1902 Parlamentspalast in Budapest (Imre Steindl) 1885 – 1887 Marschall Field’s Wholesale Store (Henry Hobson Richardson) 1889 Camillo Sitte: „Der Städtbau nach seinen künstle- rischen Grundsätzen“ Eiffelturm in Paris (Maurice Koechlin u. Gustave Eiffel) Port Sunlight bei Warrington (William Owen) 1889 – 1891 Second Leiter Building in Chicago (William Le Baron Jenney) 1890 Hermann Joseph Stübben: „Handbuch des Städtebaus“ Wainwright Building in St. Louis (Dankmar Adler & Louis Sullivan) 1891 Wiesbadener Programm für den ev. Kirchenbau 1893 Weltausstellung in Chicago 1893 – 1900 Bayerisches Nationalmuseum (Gabriel von Seidl) 1894 Julien Guadet: „Éléments et théorie d’Architecture“ 1894 – 1996 Guaranty Building in Buffalo (Dankmar Adler & Louis Sullivan)
1895 Castel Béranger in Paris (Hector Guimard) Bournville (Alexander Harvey) 1896 Otto Wagner: „Moderne Architektur“ 1898 Ebenezer Howard: „Tomorrow. A Peaceful Path to Real Reform“ 1898 – 1899 Majolikahaus in Wien (Otto Wagner) 1898 – 1901 Maison Horta in Brüssel (Victor Horta) 1899 Gründung der Garden Cities Association Künstlerkolonie Mathildenhöhe in Darmstadt (Joseph Maria Olbrich u. a.) 1900 Weltausstellung in Paris 1902 Flatiron Building in New York (Daniel Hudson Burnham) Gründung der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft McMillan-Plan für die Mall in Washington 1903 – 1913 Grand Central Terminal in New York (William J. Wilgus u. Withney Warren & Charles D. Wetmore) 1903 – 1914 Preußische Staatsbibliothek in Berlin (Ernst von Ihne) 1904 – 1906 Casa Battló in Barcelona (Antonio Gaudí) 1904 – 1912 Postsparkassenamt in Wien (Otto Wagner) 1905 Sanatorium Purkersdorf bei Wien (Josef Hoffmann) 1905 – 1910 Garnisonkirche (heute Pauluskirche) in Ulm (Theodor Fischer) 1906 3. Deutsche Kunstgewerbeausstellung in Dresden Haus Hohenhof in Hagen (Henry van de Velde) 1907 Gründung des Deutschen Werkbundes 1907 – 1908 Wohnanlage Fritschweg in Berlin (Paul Mebes) 1908 Adolf Loos: „Ornament und Verbrechen“ 1908 – 1909 AEG-Turbinenhalle in Berlin (Peter Behrens) 1908 – 1913 Gartenstadt Hellerau 1909 Raymond Unwin: „Town Planning in Practice“ 1909 – 1910 Michaelerhaus in Wien (Adolf Loos) 1909 – 1911 Robie House in Chicago (Frank Lloyd Wright) 1910 – 1911 Fagus-Werke in Alfeld a. d. Leine (Adolf Meyer und Walter Gropius) Frank Lloyd Wright: „Ausgeführte Bauten und Entwürfe“ 1910 – 1913 Théâtre des Champs-Elysées in Paris (Henry van de Velde u. Auguste Perret) 1911 Kaufhaus Junkernstraße in Breslau (Hans Poelzig) 1912 – 1928 Hauptbahnhof in Stuttgart (Paul Bonatz u. Friedrich Eugen Scholer) 1913 Jahrhunderthalle in Breslau (Max Berg) 1913 – 1920 Erstes Goetheanum in Dornach bei Basel 1914 Entwurf des Dom-Ino-Hauses (Charles-Edouard Jeanneret = Le Corbusier) Werkbund-Ausstellung in Köln 1915 Villa Henny in Huis ter Heide (Robert van ’t Hoff) 1916 Zoning Resolution für New York 1917 Gründung von De Stijl 1918 Gründung des Arbeitsrats für Kunst Romano Guardini: „Vom Geist der Liturgie“
Zeittafel
326 1919 Bruno Taut: „Stadtkrone“ Großes Schauspielhaus in Berlin (Hans Poelzig) Gründung der Gläsernen Kette Gründung des Bauhauses in Weimar Otto Bartning: „Vom Neuen Kirchenbau“ 1920 Bruno Taut: „Alpine Architektur“ 1920 – 1921 Entwürfe für Glashochhäuser (Ludwig Mies van der Rohe) Einsteinturm in Potsdam (Erich Mendelsohn) 1920/1921 Haus Sommerfeld in Berlin (Walter Gropius) 1921 Paul Valéry: „Eupalinos ou l’architecte“ Turmentwurf für die III. Internationale (Vladimir Tatlin) 1921 – 1928 Stadtbibliothek in Stockholm (Gunnar Asplund) 1922 Notre-Dame de la Consolation in Le Raincy (Auguste Perret) Projekt einer Ville contemporaine für 3 Mio. Einwohner (Le Corbusier) Wettbewerb für einen Wolkenkratzer der „Chicago Tribune“ 1922 – 1928 Mustergut Garkau (Hugo Häring) 1923 De Stijl-Ausstellung in Paris Entwurf für einen Arbeitspalast (Brüder Vesnin) Le Corbusier: „Vers une architecture“ Siedlung Oud Mathenesse in Rotterdam (Jacobus Johannes Pieter Oud) 1924 Moisey Ginzburg: „Stil i epokha“ Schröder-Schräder-Haus in Utrecht (Gerrit Rietveld) 1924 – 1928 Zweites Goetheanum in Dornach bei Basel (Rudolf Steiner u. a.) 1924 – 1932 Hufeisensiedlung in Berlin (Bruno Taut und Martin Wagner) 1925 Le Corbusier: „Urbanisme“ Umzug des Bauhauses nach Dessau 1925 – 1926 Bauhausgebäude und Meisterhäuser in Dessau (Walter Gropius) 1925 – 1930 Ernst May Stadtbaurat in Frankfurt a. M. 1926 – 1937 Verwaltungsgebäude des Völkerbunds (UNO) in Genf (Paul Nénot und Julien Flegenheimer) 1927 Weißenhofsiedlung in Stuttgart 1927 – 1930 Narkofimgebäude in Moskau (Moisey Ginzburg) Zuev-Klub der Kommunalarbeiter in Moskau (Ilja A. Golosov u. Konstantin Melnikov) 1927 – 1935 Bibliothek in Viipuri (Alvar Aalto) 1928 Gründung der Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) Kaufhaus Schocken in Chemnitz (Erich Mendelsohn) St. Fronleichnam in Aachen (Rudolf Schwarz) 1928 – 1929 Reichsversuchssiedlung Haselhorst in Berlin Siedlung Karlsruhe-Dammerstock (Walter Gropius u. a.) 1928 – 1930 Chrysler Building in New York (William van Alen)
Anhang
1928 – 1931 Villa Savoye in Poissy (Le Corbusier) IG-Farben-Verwaltungsgebäude in Frankfurt a. M. (Hans Poelzig) 1929 Deutscher Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona (Ludwig Mies van der Rohe) II. CIAM-Kongress (Die Wohnung für das Existenzminimum) Karl-Marx-Hof in Wien (Karl Ehn) Gasprom-Baukomplex in Charkiv (Samuil Krawetz, Mark Felger und Sergey Serafimov) 1929 – 1930 Daily News Building in New York (Raymond Hood) 1929 – 1932 Tuberkulose-Sanatorium in Paimio (Alvar Aalto) 1930 Ausstellungsrestaurant „Paradiset“ in Stockholm (Gunnar Asplund) Empire State Building in New York (Richard H. Shreve, William Lab u. Arthur Loomis Harmon) 1930 – 1933 Haus Schminke in Löbau (Hans Scharoun) 1932 Ausstellung „Modern Architecture: International Exhibition” im New Yorker Museum of Modern Art, Katalog: „The International Style: Architecture Since 1922“ Paul Schmitthenner: „Das deutsche Wohnhaus“ Schweizer Studentenwohnhaus in der Pariser Cité internationale universitaire (Le Corbusier) Wettbewerb für den Sowjetpalast in Moskau 1932 – 1935 Città Universitaria in Rom 1932 – 1936 Casa del Fascio in Como (Giuseppe Terragni) 1933 4. CIAM-Kongress, Charta von Athen 1933 – 1937 Haus der Kunst in München (Paul Ludwig Troost) 1933 – 1940 Rockefeller Center in New York (Raymond Hood) 1934 – 1944 Reichsparteitagsgelände in Nürnberg (Albert Speer) 1935 Erziehungsministerium in Rio de Janeiro (Le Corbusier von Lucio Costa) Landhaus Falling Water in Mill Run (Pennsylvania, Frank Lloyd Wright) Le Corbusier: „La Ville radieuse“ 1936 Nikolaus Pevsner: „Pioneers of the Modern Movement from William Morris to Walter Gropius” 1936 – 1943 Esposizione universale di Roma (EUR, Marcello Piacentini u. a.) 1937 Villa Mairea in Noormarkku (Alvar Aalto) 1938 Rudolf Schwarz: „Vom Bau der Kirche“ 1938 – 1943 Neue Reichskanzlei in Berlin (Albert Speer) 1939 Villa Tugendhat in Brno 1930 (Ludwig Mies van der Rohe) 1940 Modellstadt Pampulha (Oskar Niemeyer) 1941 Sigfried Giedion: „Space, Time and Architecture“ 1943 Publikation der Charta von Athen 1945 – 1951 Farnworth House in Plano (Ill.; Ludwig Mies van der Rohe)
327 1945 – 1952 Unité d’habitation in Marseille (Le Corbusier und Vladimir Bodiansky) 1946 sog. Kollektivplan für Berlin (Hans Scharoun) 1946 – 1947 Desert House in Palm Springs (Richard Neutra) 1948 – 1951 Wohnhochhäuser am Lake Shore Drive in Chicago (Ludwig Mies van der Rohe) 1949 Rudolf Schwarz: „Von der Bebauung der Erde“ 1949 – 1953 Lomonosov-Universität in Moskau (Lev Rudnew u. a.) 1950 „Sechzehn Grundsätze des Städtebaus“ in der DDR 1950 – 1955 Kapelle von Ronchamp (Le Corbusier) 1951 Planungsbeginn für Chandigarh (Le Corbusier und Pierre Jeanneret) 1951 – 1965 Stalinallee (Karl-Marx-Allee) in Berlin 1952 – 1958 Kloster La Tourette (Le Corbusier) Torre Velasca in Mailand (BBPR) 1954 – 1958 Seagram Building in New York (Ludwig Mies van der Rohe) 1955 – 1958 Pfarrkirche in Vuoksenniska/Imatra (Alvar Aalto) 1956 – 1958 Pirelli-Turm in Mailand (Pier Luigi Nervi und Gio Ponti) 1956 – 1959 Guggenheim-Museum in New York (Frank Lloyd Wright) 1956 – 1960 Stadtanlage von Brasília (Lucio Costa und Oscar Niemeyer) 1957 „Interbau“ in Berlin-West, Bebauung des Hansa-Viertels 1957 – 1961 Richards Laboratories in Philadelphia (Louis Kahn) 1957 – 1962 TWA-Flughafenterminal in New York (Eero Saarinen) 1957 – 1973 Opernhaus in Sydney (Jørn Utzon u. Ove Arup) 1958 – 1961 Tokyo Bay Plan (Kenzo Tange u. a.) 1959 Auflösung des CIAM 1959 – 1964 Economist Building in London (Peter und Alison Smithson) 1959 – 1966 Kirche von Kaleva in Tampere (Raili und Reima Pietilä) 1960 „Metabolism 1960 – A Proposal for a New Urbanism“ 1960 – 1966 Technische Universität in Espoo (Alvar und Aino Aalto) 1961 Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche (Egon Eiermann) Yamanashi-Presse- und Rundfunkzentrum in Kofu (Kenzo Tange) 1961 – 1973 Archigram 1962 – 1968 Neue Nationalgalerie in Berlin (Ludwig Mies van der Rohe)
1963 Ste-Bernadette-du-Banlay bei Nevers (Claude Parent und Paul Virilio) 1964 – 1968 Wallfahrtskirche in Neviges (Gottfried Böhm) 1964 – 1983 Regierungszentrum in Dhaka (Louis Kahn) 1966 Aldo Rossi: „L’Architettura della Città“ Robert Venturi: „Complexity and Contradiction in Architecture“ 1966 – 1969 Architekturfakultät in São Paulo (João Batista Vilanova Artigas) 1967 Amerikanischer Pavillon auf der Weltausstellung in Montreal (Richard Buckminster Fuller) Habitat 67 in Montreal (Moshe Safdie) 1967 – 1972 Olympiazentrum in München (Günter Behnisch, Günther Grzimek, Frei Otto u. a.) 1970 Weltausstellung in Osaka 1971 – 1977 Centre Georges Pompidou in Paris (Renzo Piano u. Richard Rogers) 1971 – 1979 Internationales Congress Centrum in Berlin (Ralf und Ursulina Schüler-Witte) 1972 Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenvour: „Learning from Las Vegas“ 1977 Charles Jencks: „The Language of Post-modern Architecture“ Rem Koolhaas: „Delirious New York“ 1977 – 1984 Neue Staatsgalerie in Stuttgart (James Stirling und Michael Wilford) 1978 – 1986 Lloyd’s-Bankgebäude in London (Richard Rogers) 1983 – 1985 HSBC-Hauptgebäude in Hongkonk (Norman Foster) 1984 – 1987 Internationale Bauausstellung in Berlin (IBA) 1991 – 1998 Kulturzentrum Jean-Marie Tjibaou in Nouméa (Renzo Piano) 1993 – 1997 Guggenheim-Museum in Bilbao (Frank O. Gehry) 1993 – 1999 Jüdisches Museum in Berlin (Daniel Libeskind) 1994 Fondation Cartier in Paris (Jean Nouvel) 1995 Rem Koolhaas u. Bruce Mau: „S, M, L, XL“ 1999 Grundschule in Gando (Burkina Faso; Diébédo Francis Kéré) 1999 – 2005 Casa da Música in Porto (Rem Koolhaas) 2001 – 2007 BMW Welt in München (Coop Himmelb(l)au) 2002 – 2005 Denkmal für die ermordeten Juden in Europa in Berlin (Peter Eisenman) 2004 Universitätsbibliothek Cottbus (Herzog & De Meuron) 2008 – 2010 Neue Synagoge in Mainz (Manuel Herz)
Zeittafel
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Glossar Ädikula Wörtlich: Kleines Haus. Umrahmung einer Öffnung durch eine → Sohlbank, seitliche Stützglieder (Säulen oder Pfeiler) und ein Giebelfrontispiz (meist segmentbogen- oder dreiecksförmig). Aha Auch: Ha-Ha. An der Innenseite erhöhter Trockengraben zur unsichtbaren Begrenzung von Parkanlagen, bevorzugt im → Englischen Garten des 18. Jh.s, benannt nach dem Ausruf der Überraschung beim Entdecken dieses Kunstgriffs. Akroter Figürlicher oder ornamentaler Aufsatz an Spitze und Ecke eines Giebels. Altar Opferstein oder -tisch, in christlichen Kirchen zentraler Ort der Abendmahlsfeier, oft verwechselt mit dem dahinter befindlichen Aufbau. Ante Seitliche Zungenmauern bei Säulenportiken. Apsis, Apsiden Chorabschluss, meist auf halbkreisförmigem oder polygonalem Grundriss und überwölbt. Architecture parlante Begriff der (franz.) Architekturtheorie seit ca. 1770: ‚Sprechende‘ Wirkung der architektonischen Gestaltung zur unmittelbaren emotionalen Vermittlung von Funktion und Bedeutung des Gebäudes an die ‚Seele‘ des Betrachters (vgl. → caractère). Arkade Lat. arcus = Bogen, Bogenstellung, meist Abfolge mehrerer Bögen auf Säulen oder Pfeilern. Atlant Männliche Trägerfigur (vgl. → Karyatide). Attika (Halb-)Geschoss oder Aufbau oberhalb des Kranzgesimses eines Gebäudes. Aufriss Lat. (nach Vitruv) orthographia: Zeichnerische maßhaltige Darstellungsform der unverkürzten (Außen-) Ansicht eines Gebäudes in Orthogonalprojektion.
Baluster Kleines Stützelement, oft als Teil einer Brüstung,
wegen seiner gebauchten Form an einen Granatapfel (griech. balaustion) erinnernd. Mit seitlich rahmenden → Postamenten, einer → Sohlbank und Sockel als sog. Balustrade oft zum oberen Abschluss eines Gebäudes verwendet. Basilika Bautypus eines mehrschiffigen → Longitudinal- baus (in der Antike profan, danach meist als Sakralbau), bei dem das Mittelschiff höher ist als die Seitenschiffe und durch eigene Fenster (→ Obergaden) belichtet wird. Basis Fußteil eines vertikalen Stützglieds, in der frühen Neuzeit (im Unterschied zur Antike) bei allen → Ordnungen üblich. Binder In sich stabile Konstruktion zur Überdeckung großer Spannweiten, z. B. Dreigelenkbogenbinder (mit drei Gelenken aufgelagerte bzw. verbundene → Träger, etwa aus Stahl). Blendgliederung, -bögen, -arkaden, -felder etc. Architektonische Gliederung, die einer geschlossenen Wand dekorativ vorgelegt ist und häufig Strukturen eines Gliederbaus abbildet.
Caractère Begriff der (franz.) Architekturtheorie seit ca. 1750: Ausstrahlung eines Gebäudes, das Rang, Eigenart, Funktion und Bedeutung ‚aktiv‘ und unmittelbar
Anhang
durch seine Gestaltung dem Betrachter vermittelt (vgl. → architecture parlante). Corinthia, korinthische Ordnung Reichste der → Säulenordnungen, gekennzeichnet durch zwei Blattkränze und Voluten darüber.
Dorica, dorische Ordnung Schlichteste der → Säulen-
ordnungen, ausgezeichnet durch ein kissenförmiges Kapitel.
Eklektizismus, eklektisch Von eklektos (griech.), ausge-
wählt: künstlerisches Verfahren, durch Auswahl und neue Zusammenstellung verschiedener Vorbilder ein neues Werk zu generieren, das die unterschiedlichen Qualitäten der Vorbilder möglichst verbinden und dadurch steigern soll. Enfilade Franz. für Auffädelung, Anordnung der Türen einer Folge aneinanderstoßender Räume in einer optischen Achse. Englischer Garten Auch: Landschaftsgarten, meist malerisch-asymmetrisch und scheinbar natürlich gestaltet. Erhabenheit Franz. sublimité: ästhetische Kategorie des 18. Jh.s, die die Wirkung eines überwältigend großen, aus der Natur abgeleiteten Seheindrucks auf die Architektur übertragen will. Exedra Meist halbkreisförmige, nischenartige Erweiterung eines Gebäudes oder Begrenzung eines Freiraums. Im Grundriss oft mit einer Apsis zu verwechseln, aber im Unterschied zu dieser nicht überwölbt.
Fassade Von ital. faccia = Gesicht: Außenansicht eines
Gebäudes. Der Begriff Innenfassade wird nur für die Innenseite einer Schaufront verwendet, z. B. für die sog. Rückfassade eines Kirchenraums. Französischer Garten Auch: Formaler Garten, einem erkennbar künstlichen, geometrisch-regelmäßigen Grundplan folgend. Frontispiz Giebelmotiv, oft als Fassadenschmuck und Reduktionsform einer Tempelfassade.
Galerie Langgestreckter Repräsentationsraum, vor al-
lem im französischen Schlossbau. Durch die Dekoration mit Gemälden überträgt sich der Begriff später auf Bildersammlungen. Gebälk Horizontales, in der klassischen (Säulen-)Ordnungsarchitektur meist dreigeteiltes Bauglied, bestehend aus (von unten nach oben) Architrav, Fries und → Gesims (Geison). Gekuppelt Zwei gleiche Bauteile (z. B. Säulen, Fenster) werden nebeneinandergesetzt und zu einer Zweiergruppe verbunden. Gesims Horizontales, lineares Bauelement, oberster Teil des → Gebälks oder auch isoliertes Element, oft zur Stockwerksgliederung. Als oberer Abschluss eines Gebäudes häufig besonders hervorgehoben als sog. Kranzgesims.
329 Gewände Seitliche Begrenzungen einer Öffnung (Fenster oder Tür). Griechisches Kreuz Kreuz mit gleich langen Armen. Grotte Element der Gartengestaltung, künstlich geschaffene, meist reich und unkonventionell dekorierte Höhle. Grundriss Lat. (nach Vitruv) ichnographia: Zeichnerische Darstellungsform eines horizontalen Schnitts durch ein Gebäude, die alle Wandstärken und Flächenmaße exakt wiedergibt. Oft durch die Einzeichnung der darüber befindlichen Gewölbeformen als Projektionen ergänzt.
Halle Raum aus mehreren gewölbten, gleich hohen →
Jochen. Hôtel Wörtlich Herberge, franz. Pendant zu → Palazzo, d. h. innerstädtisches (Privat-)Haus für Adelige oder Institutionen (z. B. Klöster), deren Hauptwohnsitz auf dem Land liegt. In deutschen Städten oft ‚Hof‘ genannt. Hôtel particulier Franz. für ein anspruchsvolles, hof- artiges Privatwohnhaus in der Stadt.
Interkolumnium Freier (lichter) Zwischenraum zwischen
zwei Säulenschäften. Das Maß unterscheidet sich vom Achsabstand (dem Abstand zweier Säulenmitten) um eine Säulenbreite und gilt seit Vitruv als zentrale Grund- einheit der Gebäudeproportionierung.
Joch Gewölbeeinheit eines Bauwerks (mit den zugehörigen Stützgliedern). Jonica, jonische Ordnung → Säulenordnung mit Voluten im Kapitell.
Kaffgesims Auch: Wasserschlag. Pultdachähnlich abge-
schrägtes Gesims an der Außenseite von mittelalterlichen Gebäuden zum Schutz gegen Regenwasser. Kalotte Gewölbter Teil einer → Kuppel, Kuppelschale. Kannelur, kanneliert Gestaltung eines Stützenschaftes durch vertikale eingetiefte Rillen. Kapelle Kleiner Sakralraum, entweder selbständig oder in ein anderes Gebäude inkorporiert bzw. als Annex angeschlossen. Kapitell Verziertes Kopfteil eines vertikalen Stützglieds, prägendes Element zur unterschiedlichen Gestaltung der verschiedenen → Ordnungen. Karyatide Weibliche Trägerfigur (Herme, vgl. → Atlant). Kassettierung Gestaltung einer Fläche durch ein regelmäßiges Gittermuster mit eingetieften Flächen. Kathedrale Von lat. cathedra = Thron (eines Bischofs), Rangbezeichnung einer Bischofskirche, Synonym im Deutschen: Dom. Kenotaph Schau- oder Leergrabgebäude als Denkmal eines Verstorbenen. Kolonnade Von ital. colonna = → Säule, Säulenfolge, meist mit geradem Gebälk.
Kolossalordnung Auch: Große Ordnung. Säulen- oder Pilastergliederung, die mehrere Geschosse eines Bauwerks zusammenfasst. Konsole An einer Wand angebrachtes vorkragendes Tragelement, oft in Form einer → Volute. Kuppel Gewölbte, oft turmartig erhöhte Überdeckung eines → Joches in runder oder polygonaler Form.
Laterne Aufsatz auf dem Scheitel einer → Kuppel, meist
durchfenstert zur Belichtung des Kuppelinneren durch ein → Opaion. Loggia Überwölbte Halle, an mindestens einer Seite zum Freiraum geöffnet. Longitudinalbau Bauform mit klar ausgeprägter Hauptachse, z. B. längsgerichtete → Basiliken über Lateinischem Kreuz. Lukarne Dachfenster oder kleiner Zwerchgiebel, dessen Firstrichtung quer (= zwerch) zum Hauptfirst steht.
Mansarddach/Mansart-Dach Geknicktes Walm- oder
Satteldach mit unten steiler, oben flacherer Neigung (auch: Mansarde), gebräuchlich vor allem im französisch beeinflussten Spätbarock, benannt nach dem Architekten François Mansart. Mezzanin Ital. für Zwischengeschoss, meist mit reduzierter Höhe gegenüber den Hauptgeschossen. Modul Maß, Grundeinheit zur Berechnung von Gebäude- proportionen, z. B. die Breite eines Gewölbejochs, nach Vitruv meist der untere Durchmesser eines Säulenschaftes. Mullion Engl. für Fensterpfosten, aber auch vor die Fassade gelegte vertikale Stahlprofile. Mythologie Überlieferung der griechisch-römischen Götter- welt als symbolisch-assoziative Bedeutungsträger, z. B. die Identifikation des Herrschers mit dem Sonnengott Apoll.
Obelisk Ital. guglia, nach oben spitz zulaufender frei
stehender Pfeiler, ursprünglich aus Ägypten stammend, im Rom der Frühen Neuzeit als Denkmal und → pointde-vue im Städtebau neu eingesetzt. Obergaden Auch: Lichtgaden. Von Fenstern durchbrochene obere Wandzone des Mittelschiffs einer → Basilika. Okulus Kreisrunde Fensteröffnung. Opaion Griech. für Auge, kreisrunde Lichtöffnung eines Kuppelscheitels. Ordnung, Säulenordnung Architektonische Gliederung aus vertikalen ( → Säulen, → Pfeiler, → Pilaster) und horizontalen Elementen ( → Gebälk), die festgelegten Gesetzmäßigkeiten folgt und neben der konstruktiven und dekorativen vor allem semantische (zeichenhafte) Funktionen erfüllt; zentraler Gegenstand der → vitruvianischen Architekturtheorie.
Palazzo Ital. für Palast, größeres innerstädtisches, öffent- liches oder privates Wohn- oder Verwaltungsgebäude.
Glossar
330 Pavillon Turmartig überhöhter Bauteil der (vor allem) franz. Profanarchitektur, im Unterschied zum → Risalit durch ein eigenes Dach hervorgehoben. Pendentifkuppel Hängekuppel, meist in Kugelsegmentform. Zur Überleitung auf einen meist quadratischen Raum dienen vier dreieckige, sphärische Zwickel in den Raumecken, die sog. Pendentifs. Peristyl Griech. für einen rundum von Säulen umstandenen Hof. Pfeiler Rechteckiges oder polygonales Stützglied, meist in Anlehnung an den Aufbau einer → Säule gestaltet. Piano nobile Ital. für das ‚vornehme‘ oder Hauptgeschoss eines Palasts, meist im 1. Obergeschoss, oft durch größere Raumhöhe hervorgehoben (auch: Beletage). Pilaster → Blendgliederung in der Art eines → Pfeilers, einer Wand vorgesetzt. Point-de-vue Franz. für Sichtpunkt, optisches Ziel einer Achse in Gärten oder Städten. Portikus, der oder die Vorhalle, meist → Kolonnade mit Giebel, ggf. auch → Arkade oder → Frontispiz. Postament Auch: Piedestal. Meist quaderförmiger, sockelartiger Unterbau einer Stütze oder Statue. Proportion Verhältnismäßigkeit der Bauteile an einem Gebäude, bei Vitruv auch als → Symmetrie bezeichnet. Pylon Griech. für Torbau, die Toröffnung in der Mitte meist ; massive Stützen einer Brücke.
Relief Plastisches Bild, man unterscheidet je nach Tiefe
der Figuren auf dem Bildgrund Flach- von Hochrelief. Risalit / Rücklage Vorspringender Teil einer Fassade, oft zur Betonung der Ecke oder Mitte und zur Rahmung der (meist weniger reich dekorierten) sog. Rücklagen. Rustika, Rustizierung Raue, d. h. scheinbar unbearbeitete oder wenig bearbeitete Gestaltung einer Oberfläche, meist an untergeordneten Zonen, z. B. dem Sockel, oder als ‚Verstärkung‘ an Gebäudeecken, Stein oder Putz.
Säule Rundes Stützglied mit → Kapitell und → Basis,
deren Schaft meist leicht gebaucht ist (sog. Entasis), evtl. auch als Wandvorlage (Halb- bzw. Dreiviertelsäule). Die Proportionen der einzelnen Teile folgen bestimmten → Proportionsregeln. Säulenordnung Vgl. → Ordnung Schaft Mittelstück eines vertikalen Stützgliedes, seine Höhe steht im → Vitruvianismus je nach → Ordnung in einem festen Verhältnis zum unteren Durchmesser. Scheitrechter Bogen Ein (scheinbarer) Balken, der konstruktiv einem Bogen gleicht, indem er aus radial aneinandergestützten Keilsteinen besteht. Segmentbogen / -giebel Bogen in Form eines Kreisausschnitts.
Anhang
Sohlbank Auch: Fensterbank. Unterer Abschluss einer Öffnung. Strebepfeiler Stützkonstruktion einer Wand zur Ableitung von seitlich einwirkenden Kräften (z. B. Gewölbeschub), bevorzugt in der mittelalterlichen Architektur: Mauerstück, das meist im 90°-Winkel an eine Wand gestellt ist, um diese zu verstärken, oft auch zur Trennung von dazwischen angegliederten Räumen (→ Kapellen) genutzt. Sturz Oberer Abschluss einer Öffnung (Fenster oder Tür). Superposition Die axiale Anordnung mehrerer, meist unterschiedlicher Säulen- oder Pfeilerordnungen an einer Fassade in der Vertikalen. Als kanonisch gilt die Abfolge dorisch, ionisch, korinthisch (oder komposit).
Tambour Franz. für Trommel, gerade Mauerzone unter
einer → Kuppelschale, meist durchfenstert. Theater- oder Tabulariumsmotiv Wandgliederung nach römischem Vorbild: Kombination aus → Pfeilerarkade und → Kolonnade, wobei (Halb-)Säulen und → Gebälk die Bogenstellung einfassen. Thermenfenster Halbrund oder segmentbogenförmig be- grenztes Fenster, meist vertikal dreigeteilt, benannt nach seiner häufigen Verwendung in spätantiken Großbauten. Träger Waagrechter Tragebalken, auf zwei oder mehr Auflagern. Travée Element der Wandgliederung aus zwei flankieren- den Stützen und einem dazwischenliegenden Wandfeld oder einer Öffnung unter einem Gebälk oder Bogen. Triumphbogen Frei stehender, monumentaler Ehrenbogen nach antiken Vorbild, auch: (östliche) Schildwand eines Kirchenraums zwischen Querhaus und eingezogenem (in Höhe und Breite gegenüber dem Langhaus reduzierten) Chor.
Villa Lat. für Landhaus, meist repräsentativ gestaltetes
Gutshaus mit angeschlossenem landwirtschaftlichen Betrieb. Villa suburbana Landhaus in unmittelbarer Stadtnähe für temporären Aufenthalt, meist ohne wirtschaftliche, aber mit repräsentativer Bedeutung. Vitruvianismus Vorherrschendes architekturtheoretisches Denkmodell der Frühen Neuzeit, benannt nach dem römischen Schriftsteller Vitruvius, das die regelgerechte, ‚richtige‘ Anwendung antiker Formen als Norm für gute Architektur voraussetzt. Volute Schneckenförmig gedrehtes, dekoratives Element, z. B. als Eckvolute des korinthischen → Kapitells oder an → Konsolen.
Zentralbau Bauform mit völlig oder annähernd gleicher
Längen- und Breitenausrichtung, die auf eine Mitte hin orientiert ist, oft über einfachen geometrischen Grundformen.
331
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Register der Bauten und Stadtanlagen Aachen
– St. Fronleichnam 194 – Universitätsklinikum 71 Agra, Taj Mahal 297 Alfeld a. d. Leine, Fagus-Werke 47, 203, 239 Amsterdam, Freiluftschule 262 Antwerpen, Theater 128 Apeldoorn, Verwaltungsgebäude Centraal Beheer 71 Arc-et-Senans, Saline von Chaux |2| 28, 105 Århus, Universitätsgebäude 215 Arras, Kathedrale 28 Assy bei Chamonix, Kirche 302 Athen 25, 111 – Akropolis 99 – Parthenon 27, 210 – Propyläen 26, 29 Augsburg, Don-Bosco-Kirche 302
Barcelona
– Casa Battló 183 – Casa Mila 183 – Deutscher Pavillon (Weltausstellung 1929) 51, 68, 208, 225, 244, 245, 246, 246, 276 – Kapelle der Kolonie Güell 194 – Kathedrale 124 – Sagrada Familia 184, 194 – Stadtanlage 38, 40, 156, 157, 157 Basel, Antoniuskirche 193 Berlin 118 – AEG-Turbinenhalle |23| 47, 200, 201 – Amts- und Landgericht Tiergarten 164 – Alexanderplatz 65, 269, 270 – Alte Nationalgalerie 117, 118 – Altes Museum |4| 62, 115 – 117, 313, 314 – Bauakademie 27, 27 – Borsig-Turm 173 – Brandenburger Tor 26, 26, 269 – Collegienhaus (Altbau Jüdisches Museum) 316 – Columbushaus 57 – Denkmal für die ermordeten Juden in Europa 19, 77, 77 – Deutscher und Französischer Dom 270 – Dom 115, 116 – Galeries Lafayette 76 – Großes Schauspielhaus 56 – Hansaviertel |38| 267, 270 – 272, 272 – Haus Freudenberg 150 – Haus Sommerfeld 51 – Hufeisensiedlung |30| 231 – 233
– Internationale Bauausstellung (IBA) 74, 237, 272 – Internationales Congress Centrum 71 – Interbau 237, 270 – Jüdisches Museum |49|19, 77, 317 – 319 – Kaiser-Friedrich-Museum (Bode- Museum) 17 – Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche 301 – Kaisergalerie 165 – Kongresshalle 271 – Kuppelhalle (Nord-Süd-Achse) 176, 256 – Lustgarten 114 – 116 – Märkisches Viertel 272 – Mossehaus 57 – Neue Nationalgalerie 69, 276 – Neue Reichskanzlei 62, 256 – Neue Wache 26, 114 – Neues Museum 117, 118 – Nord-Süd-Achse 62, 176, 255, 256 – Palast der Republik 269 – Pergamonmuseum 118 – Philharmonie 57, 73 – Reichsbankgebäude 61 – Reichssportfeld (Olympiastadion) 303, 306 – Reichsversuchssiedlung Haselhorst 51 – Rundfunkgebäude 56 – Schauspielhaus 26, 26 – Schloss 114, 116, 269 – Schlossbrücke 115 – Siedlung Fischtalgrund 234, 236 – Siedlung Siemensstadt 232 – Siedlung Weiße Stadt 232 – St. Maria Martyrum 301 – Stadtanlage 64, 169 – 171 – Staatsbibliothek (Potsdamer Straße) 57 – Staatsbibliothek (Unter den Linden) 135 – Stalinallee (Karl-Marx-Allee) |38| 65, 237, 269, 271 – Strandbad Müggelsee 118 – Strandbad Wannsee 118 – Villa Wiegand (Deut. Arch. Inst.) 211 – Volkspark Jungfernheide 104 – Wohnhaus Kochstraße/Friedrich- straße 319 – Unité d’habitation (Le Corbusier- Haus) 264, 271 – Waldsiedlung Zehlendorf (Onkel- Toms-Hütte) 232, 234 – Wohnanlage des Beamten- Wohnungsvereins (Steglitz) 171, 172 – Zeughaus 115, 116
Besançon, Theater 27 Bexleyheath, Red House |11| 147, 148 Bilbao, Guggenheim Museum 73, 73, 320 Bordeaux, Theater 27, 28, 153 Bournville 39 Brasília – Außenministerium (Palácio do Itamaraty) 288, 288 – Justizministerium 289 – Kathedrale 287 – 289 – Oberster Gerichtshof 288 – Parlamentsgebäude 287, 287, 288 – Platz der Drei Gewalten (Praça dos tres Poderes) 287 – 289 – Präsidentenpalast (Palácio da Alvorada) 288, 289 – Präsidentensitz (Palácio do Planalto) 287 – Stadtanlage |42|67, 286 – Theater- und Operngebäude 288 Braunschweig, Stiftskirche 62 Bremen, Neue Vahr 272 Breslau 118 – Jahrhunderthalle 47 – Kaufhaus Junkernstraße 47 – Kaufhaus Petersdorf 57 Briey-en-Forêt, Unité d’habitation 264 Brno (Brünn), Villa Tugendhat 51, 208, 225 Brüssel – Galeries St-Hubert 165 – Hôtel Aubecq 181 – Hôtel Solvay 181, 182 – Hôtel van Eetvelde 181 – Justizpalast |14| 162, 163 – Kaufhaus À L’innovation 183 – Maison du Peuple 183, 310 – Maison Horta |19| 45, 181, 183 – Maison Tassel 181 – Palais Stoclet 188 Budapest, Parlamentsgebäude 127 Buenos Aires 127 – Teatro Colón 154 Buffalo – Guaranty Building |17| 42, 175 Bukarest, Präsidentenpalast 176
Canberra, Stadtanlage 43 Capri 103 Carcassonne, Stadtanlage 68 Chandigarh, – Oberster Gerichtshof 297, 298 – Parlamentsgebäude 297, 297, 298 – Sekretariat 297 – Stadtanlage 294, 297
Register der Bauten und Stadtanlagen
342 Charkiv, Gasprom-Baukomplex 53 Charlottesville, University of Virginia |3| 109, 110, 213 Chartres, Kathedrale 95 Chatsworth, Great Stove 139 Chemnitz – Kaufhaus Schocken 57, 57 – Straße der Nationen, Bebauung 267 Chicago – Appartmenthäuser am Lake Shore Drive 69, 276 – Chicago Tribune Tower 58, 59, 173 – Home Insurance Building 42, 173 – Illinois Institute of Technology, Campusbauten 68 – 69 – John-Hancock-Center 72 – Marshall Field’s Wholesale Store 42, 175 – Robie House |24| 205 – 206 – Second Leiter Building 42 – Tacoma Building 175 – Weltausstellung 1893 42, 43 – Winslow House (River Forest) 206 Chiswick (London) 22 Clermont-Ferrand, Kathedrale 124 Clichy, Maison du peuple 310 Como, Casa del Fascio |34| 60, 252, 253 Cottbus, Universitätsbibliothek 76, 76
Darmstadt
– Mathildenhöhe 45, 45, 235 – Reformschulbauten 236 Delhi, Humayun-Mausoleum 297 Dessau – Arbeitsamt 240 – Bauhaus-Meisterhäuser |31| 235, 240, 241, 241 – Bauhaus-Schulgebäude |31| 238, 239 – Konsumverein 240 – Siedlung Törten 235, 240 Dettingen, St. Peter und Paul 194 Dhaka, Parlamentsgebäude Jatiya Sangsad Bhaban |44| 294 – 296 Donaustauf, Walhalla 27, 27 Dornach, erstes und zweites Goetheanum |29| 226, 229 Dresden – Gemäldegalerie 128 – Hoftheater (‚Semperoper‘) |7| 129 – 131 – Hygienemuseum 58 – Neue Synagoge 322 – Schloss 127 – Stadtanlage 65 – Zwinger 128 Düren, St. Anna 301
Anhang
Düsseldorf – Mannesmann-Verwaltungs- gebäude 243 – Stummhaus 58 – Tonhalle 57 – Wilhelm-Marx-Haus 243
Eberswalde, Hochschulbibliothek 76 Edinburgh, Stadtanlage 29, 29 Ermenonville, Landschaftsgarten 24 Espoo – Gartenstadt Tapiola 282 – Universitätsgebäude in Otaniemi |41| 282 – 284 Essen, Gartenstadt Margarethenhöhe 39 Éveux, Ste-Marie de La Tourette 266, 302 Exmouth, The Barn 150 Firmigny-Vert, Unité d’habitation 264 Florenz – Dom 124 – Hauptbahnhof 60 – Loggia dei Lanzi 122 – Palazzo Pitti 120 – Palazzo Strozzi 175 Frankfurt a. M. 118 – Bahnhof 143 – Berliner Straße, Bebauung 267 – Commerzbankhochhaus 72 – IG-Farben-Gebäude (Universität) |32| 56, 243, 245 – Nordweststadt 64, 272 – Siedlung Römerstadt |30| 64, 231 – Siedlung Westhausen 231 – Stadtanlage 64 – St. Wendel 301 Franzensburg, Landschaftsgarten 24
Gando (Burkina Faso), Schulkomplex
mit Frauenhaus |50| 320, 321 Genf – Immeuble Clarté 266 – Völkerbundpalast (UNO-Gebäude) 212, 242 Giengen an der Brenz, Werkhalle 203 Göteborg, Karl-Johann-Schule 214 Guise, Familistère 108
Hamburg, Chilehaus 56 Hampstead 39 Hannover – Continental-Verwaltungsgebäude 243 – Rathaus 40 Hellerau bei Dresden 39 – Festspielhaus |22| 198, 199, 215 – Gartenstadt |22| 195, 196, 202
Herculaneum 25 Hérémance, St-Nicolas 302 Hilversum, Sanatorium Sonnenstrahl 262 Hongkong, HSBC-Hauptgebäude, 72, 72 Huis ter Heide, Villa Henny 48, 49 Hunstanton, Schule 66
Kaleva/Tampere, ev. Pfarrkirche 284 Kalkutta, Regierungspalast 30 Karlsruhe, Siedlung Dammerstock 51, 236 Kassel – Löwenburg 102 – Museum Fridericianum 114, 154 – Wilhelmshöhe, Landschafts- garten 23 – Wilhelmshöhe, Marienkirche 302 Kedleston Hall 29 Kiew, Rat des Zentralkomitees 63 Klingberg, Mustergut Garkau 250 Kofu, Yamanashi Rundfunk– und Pressezentrum |43| 290, 291 Köln – Dom 123, 155, 299 – Fabrikgebäude (Werkbund- ausstellung) 202, 235, 239 – Hochhaus am Hansaring 173, 243 – Pavillon der Glasindustrie (Werk- bundausstellung) 202 – Pressa-Kirche 194 – Werkbundtheater 202, 229, 235 Kopenhagen – Frauenkirche 30 – Grundtvigs-Kirke 194 – Stadt- und Gerichtshaus 29, 30 – Thorvaldsen-Museum 213 Kyoto, Katsura-Villa 94 La-Chaux-de-Fonds 49 Las Vegas, Cesar’s Palace 95 Le Havre, Stadtanlage 64 Le Pradet, Villa de Mandrot 67 Le Raincy, Pfarrkirche Notre-Dame de la Consolation 193, 211 Leipzig, Bahnhof 143 Letchworth, Gartenstadt 199 Lichtensteig, St. Gallus 302 Lille, Euralille, Grand Palais 76 Lingotto, FIAT-Werksgelände 273 Lissabon, Gare do Oriente 72 Löbau, Villa Schminke |33| 248, 249 London – Bank of England 31, 31 – British Library 135 – British Museum 32 – Crystal Palace |9| 35, 37, 136 – 137, 146
343 – Economist Building 66 – Houses of Parliament |6| 125, 126 – Hyde Park 136, 137 – Law Courts 164 – Lloyd’s-Bankgebäude 72 – Marble Arch 168 – Royal Opera Arcade 165 – Soane-House (Soane-Museum) 315 – South-Kensington-(Victoria & Albert-)Museum 36, 37 – Sumerset House 29 – Westminster Abbey 124 Los Angeles, Haus Lovell (Health House) 262
Magdeburg 118
– Stadtanlage 65 Magnitogorsk 55 Mailand – Castello Sforzesco 273 – Dom 124 – Galleria Vittorio Emanuele II |13| 166 – 168 – Piazza del Duomo 166 – Piazza della Scala 166, 168 – Pirelli-Hochhaus 273 – Torre Velasca |39| 66, 274 Mainz – Christkönigskirche (Bischofsheim) 194 – Hl.-Kreuz-Kirche (Zahlbach) 301 – Neue Synagoge |50| 321, 321, 322 – Stadtanlage 64 – Theater 128 Mannheim, Multihalle 307 Männistö/Kuopio, Johanneskirche 284 Marly, Schloss 111 Marseille – Kathedrale 32, 33 – Palais Longchamp 33, 34 – Unité d’habitation |37| 67, 264, 265 Menangle, Camden Park House 30 Mexico City – Kirche de la Virgen Milagrosa 67 – Restaurant Los Manantiales 67 Mill Run, Haus Falling Water 58, 208, 262 Montevideo 127 Monticello, Villa Jefferson |3| 109, 111, 112, 112 Montreal – amerikanischer Pavillon der Weltausstellung 71 – deutscher Pavillon der Welt- ausstellung 306, 307 – Habitat 67 71
Moskau – Centrosoyuz-Palast 54 – Hotel Moskva 63 – Komsomolskaya 63 – Lenin-Bibliothek 62 – Lomonosov-Universität 65, 65 – Narkofim-Gebäude 54, 54 – Rusakov-Klub 54 – Shabolovka- Radioturm 53 – ‚Sieben Schwestern‘ 64 – Sowjetpalast 54, 55, 63, 176, 242 – Stadtanlage 63, 64 – STO-Gebäude für den Arbeiter- und Verteidigungsrat 63 – Theater der Sowjetarmee 63 – Torgowy Dom Glawny Uniwer- salny Magasin (GUM) 165 – Volkskommissariat für Schwerindustrie 63 – Zuev-Klub 54 München 32 – Allianz Arena 76 – Alte Pinakothek 123 – BMW-Hauptverwaltung und Museum 322 – BMW Welt |50| 321, 322, 322 – Englischer Garten 23, 23 – Feldherrenhalle |5| 122 – Fernmeldehochturm 303 – Frauenkirche 119 – Glyptothek 117, 119, 123 – Haus der Kunst 62, 140 – Jüdisches Zentrum 321, 322 – Justizpalast 164 – Königsplatz 62, 119 – Kristallpalast 140 – Leuchtenbergpalais 121 – Ludwigskirche |5| 121 122 – Ludwigstraße |5| 119 – 123, 122 – Nationalmuseum |18| 178, 179, 315 – Nationaltheater 120 – Neue Pinakothek 117, 123 – Odeonsplatz 120, 121 – Olympiazentrum |46| 304 – 306 – Propyläen 27, 119 – Rathaus 40 – Residenz |5| 120, 140 – Siegestor |5| 119, 122, 168 – St. Johann von Capistran 302 – St. Nikolaus 302 – Staatsbibliothek |5| 35, 121, 121, 122 – Universitätsgebäude 121 – Theatinerkirche |5| 120 Münster, Stadtanlage 64 Muskau, Landschaftsgarten 24
Nantes Rezé, Unité d’habitation 264 Neapel, Villa Hamilton 103 Neu-Delhi, Stadtanlage 43, 297
Nevers, Ste-Bernadette-du-Banlay 230, 302 Neviges, Wallfahrtskirche |45| 299, 300 New Orleans, Piazza d’Italia 315 New York, – AT & T Building 280 – Central Park 23, 41, 41, 217 – Chrysler Building 59, 144 – Daily News Building 59 – Empire State Building 59, 59, 176 – Flatiron Building 42 – Freiheitsstatue 35 – Grand Central Terminal 143 – 144 – Guggenheim-Museum 70, 73 – Lever House 277 – Manhattan 97 – MetLife Building (PanAm Building) 144 – Pennsylvania Station 144 – Racquet and Tennis Club 277 – Radiator Building 58, 59 – Rockefeller Center 59 – Seagram Building |40| 69, 277, 278 – TWA-Terminal (JFK-Flughafen) 69, 69, 96, 108 – Woolworth Building 176, 216 – World Trade Center 280 Noormarkku, Villa Mairea 58, 215 Norwich, Sainsbury Center for the Visual Arts 72 Nouméa (Neukaledonien), Kulturzentrum Jean-Marie Tjibaou 311 Novosibirsk 55 Nürnberg – Germanisches Nationalmuseum 178 – Reichsparteitagsgelände |35| 257, 259
Osaka, Weltausstellungsgelände 293 Ottawa, Parlamentsgebäude 127 Oxford, Museum 35
Paestum 30 Paimio, Tuberkulose-Sanatorium 58, 282 Palm Springs, Kaufmann Desert House |36|261, 262 Pampulha 286 – Kirche und Casino 66 Paris – Arc de Triomphe 168 – Arc du Carrousel 122, 168 – Au Bon Marché 35 – Bibliothèque nationale (rue Richelieu) |8| 135 – Bibliothèque nationale de France (Tolbiac) 307
Register der Bauten und Stadtanlagen
344 – Bibliothèque Ste-Geneviève |8| 33, 133 – 134 – Castel Béranger 45 – Centre Georges Pompidou |47| 71, 293, 308, 309, 313, 314 – Eiffelturm 15, 35, 36, 36, 53, 146, 217 – Etagenwohnhaus Rue Raynouard 58 – Fondation Cartier 75, 75 – Galeries Lafayette 151 – Galeries Colbert und Vivienne 165 – Gare du Nord |10| 141 – 142, 151 – Gare St-Lazare 151 – Grand Palais 140 – Justizpalast 151 – Louvre 153 – Marineministerium 211 – Markthallen 35 – Mobilier national 58 – Musée de Cluny 178 – Musée des Travaux publiques (Cons. écon. et soc.) 58, 211 – Opéra (Opernhaus) |12| 18, 32, 131, 152, 153, 164 – Panthéon s. Ste-Geneviève – Parc des Buttes-Chaumont 24, 24 – Parc Monceau 24, 104 – Pavillon de L’Esprit nouveau (Exp. arts décoratifs) 236 – Place de l’Étoile 121 – Place de la Concorde 113 – Rathaus 40 – Schweizer Studentenwohnheim 67, 266 – Sowjetischer Pavillon (Exp. arts décoratifs) 236 – Stadtanlage 37, 63, 150 – 151, 156, 170, 171, 218, 307 – St-Eugène-Ste-Cécile 35 – Ste-Geneviève 25, 132 – St-Martin-des-Champs 33, 135 – St-Philippe-du-Roule 28 – Théâtre de l’Odéon 27 – Théâtre des Champs-Elysées |25| 47, 209, 211 – Villa La Roche 225 – Zentralverwaltung der Kommunis- tischen Partei 67 – Zollhäuser (Rotonde de la Villette) 28, 215 Pavlovsk, Landschaftsgarten 24 Peking, Olympiastadion 76 Pforzheim, ev. Kirche 301 Philadelphia – City Hall 176 – Richards Laboratories 68 Pierrefonds, Schloss 124 Pittsburgh, PPG Corporate Head- quarter 280 Plano, Farnworth House 69
Anhang
Poissy, Villa Savoye 49, 50, 50, 208, 266, 313 Pompeji 25, 111 Port Sunlight bei Warrington 38, 39 Porto – Casa da Música 76 – Dourobrücken 36 Potsdam – Einsteinturm 57, 57, 229, 230 – Gartenreich 23 Pullman Town 41
Quedlinburg, Stiftskirche 62 Richmond, Capitol 30, 109 Rio de Janeiro – Erziehungsministerium 66, 66 – Theater 154 Rom – Città Universitaria 60, 251 – Colosseum 61, 129 – Engelsburg 60 – Esposizione universale di Roma (EUR) 251 – Konstantinsbogen 122 – Museo Pio Clementino 114 – Palazzo del Littorio 60 – Palazzo della Civiltà Italiana 61, 61 – Palazzo della Giustizia 164 – Palazzo Farnese 95 – Pantheon 31, 103, 109, 116, 176, 213, 302 – Petersdom 60, 79, 167, 296, 296 – Teatro al Corso 128 Ronchamp, Notre-Dame-du-Haut 67, 67, 73, 96, 302 Rostock, Stadtanlage 65 Rotterdam – Lijnbaan-Bebauung 267 – Siedlung Oud Mathenesse 48 – Siedlung Spangen 221 – Siedlung Tusschendijken 221 – Van-Nelle-Tabakfabrik 242 Saarbrücken, Stadtanlage 64 Salins 104 Saltaire bei Bradford 38 Sankt Petersburg – Admiralität 29 – Börse 29 – Deutsche Botschaft 211 – Kasaner Kathedrale 29 Santa Monica, Haus Gehry 72 São Paulo – Architekturfakultät 67 – Copan-Gebäude 67 – Ibirapuera-Park 67 Schenectady, Union College 112 Schwetzingen, Schlossgarten 23
Seifersdorfer Tal, Garten 23 Shrewsbury, Coalbrookdale Brigde 103 Siena, Campo 308 St. Louis – Pruitt-Igoe Housings 96 – Wainwright Building |13| 42, 173, 174, 207 Stalingrad (Wolgograd) 55 Stockholm, – Ausstellungsrestaurant „Paradiset“ 215 – Rathaus 212 – Stadtbibliothek |26| 58, 213, 214, 315 Stourhead (Stourton) 22 Stowe 22 Stuttgart – Alte Staatsgalerie (Museum der Bildenden Künste) 312, 314 – Appartementhaus (Weißenhof- ausstellung) 225, 236 – Hauptbahnhof 57, 143 – Kochenhofsiedlung 236 – Neue Staatsgalerie |48| 313, 314 – Schloss 312 – Tagblatt-Turm 173 – Theater 312 – Weißenhofsiedlung 51, 236, 236, 313 – Wilhelma 104 Sydney, Opernhaus 70
Tacoma 41 Tiefurt, Landschaftsgarten 23 Tokio – City Hall 290 – Kathedrale 290 – Nakagin Capsule Tower 293 – Olympiastadion 290 – Tokyo Bay Plan 291 – 293, 292 Tsarskoye Selo, Landschaftsgarten 24, 29 Turin, Mole Antonelliana 274 Twickenham, Strawberry Hill 102 Ulm
– Garnisonkirche, ev. (Pauluskirche) |21| 191, 192 – Garnisonkirche, kath. 191, 192 Utrecht, Haus Schröder-Schräder |28| 48, 222, 223
Valencia, Kunst- und Wissenschafts-
zentrum 72 Vaucresson, Villa Stein-de Monzie 225 Venedig 85 – S. Maria dell’Orto 101 Venice/Cal., Chiat / Day-Gebäude 72 Versailles, Schloss 153
345 Vicenza, sog. Basilica 153 Viipuri, Bibliothek 58 Voorburg, Villa De Arendshoeve 48 Vuoksenniska/Imatra, ev. Pfarrkirche 284
Warschau, Innenstadt 64 Washington – Stadtanlage 30, 112 – Kapitol 112, 176 – Library of Congress 135 – Weißes Haus 30, 112 Weimar – Gauforum 62, 255
– Ilmpark 23 – Märzgefallenendenkmal 317 Welwyn, Gartenstadt 199 Wien – Michaelerhaus 45, 46, 46, 158 – 160, 188 – Hofburg 46, 188 – Karl-Marx-Hof 52, 53 – Kunsthistorisches Museum |13| 159, 160 – Majolikahaus 187 – Naturhistorisches Museum |13| 159, 160 – Opernhaus 131
- Parlamentsgebäude |13| 127, 160, 160 – Postsparkassenamt |20| 185, 187 – Rathaus 160 – Ringstraße |13| 158 – Sanatorium Purkersdorf 45 – Universitätsgebäude 160 – Votivkirche |13| 159 Wörlitz – Gotisches Haus 101, 102 – Landschaftsgarten |1| 22, 100 – Pantheon 101 – 103, 102 – Schloss 101 – Villa Stein 103, 103
Ashbee, Charles Robert, Architekt (1863 – 1942) 149 Ashley-Cooper, Anthony, 3. Earl of Shaftesbury (1671 – 1713) 21 Asplund, Gunnar, Architekt (1885 – 1940) 58, 212 – 215, 315 Astruc, Gabriel, Musikimpresario (1864 – 1938) 208 Aulenti, Gae, Architektin (1927 – 2012) 275
Beenken, Hermann, Kunsthistoriker (1896 – 1952) 11 Behnisch, Günter, Architekt (1922 – 2010) 303 – 306 Behrens, Peter, Architekt (1868 – 1940) 46, 47, 180, 196, 199 – 203, 211, 243 Belluschi, Pietro, Architekt (1899 – 1994) 144 Benevolo, Leonardo, Architekturhistoriker (geb. 1923) 12 Benjamin, Walter, Philosoph (1892 – 1940) 318 Berg, Max, Architekt (1870 – 1947) 46, 47 Berlage, Hendrik Petrus, Architekt (1856 – 1934) 87, 88 Bernhard, Karl, Ingenieur (1859 – 1937) 200 Bierstadt, Alfred, Maler (1830 – 1902) 41 Bindesbøll, Michael Gottlieb, Architekt (1800 – 1856) 213 Blanc, Charles, Kunsttheoretiker (1813 – 1882) 18 Blondel, Jacques François, Architekt (1705 – 1774) 17, 104 Bodiansky, Vladimir, Ingenieur (1894 – 1966) 264 Boffrand, Germain, Architekt (1667 – 1754) 17 Bofill, Ricardo, Architekt (geb. 1939) 212, 315 Böhm, Dominikus, Architekt (1880 – 1954) 193, 194, 298 Böhm, Gottfried, Architekt (geb. 1920) 298 – 300, 302 Böhm, Paul, Architekt (geb. 1959) 298 Böhme, Gernot, Philosoph (geb. 1937) 19 Boileau, Louis-Auguste, Architekt (1812 – 1896) 35
Personenregister Nichtadlige Personen werden mit wenigen Ausnahmen unter ihren Nachnamen aufgeführt, Adlige und kirchliche Würdenträger unter ihren Vornamen.
Aalto, Aino, Architektin und Designerin
(1894 – 1949) 282 Aalto, Alvar, Architekt (1898 – 1976) 12, 58, 93, 215, 250, 271, 282 – 284, 294 Adam, Robert, Architekt (1728 – 1792) 29, 30 Addison, Joseph, Philosoph (1672 – 1719) 21, 22 Adler, Dankmar & Louis Sullivan, Baubüro > Sullivan, Louis Aicher, Otl, Designer (1922 – 1991) 303 Aisenpreis, Ernst, Architekt (1884 – 1949) 228 Alabyan, Karo, Architekt (1897 – 1959) 63 Albers, Josef, Maler (1888 – 1976) 51 Albert, brit. Prinzgemahl (1819 – 1861) 139 Alen, William van, Architekt (1882 – 1954) 59, 144 Alphand, Jean-Charles-Adolphe, Gartenarchitekt (1817 – 1891) 24 Andrä, Wolfhart, Ingenieur (1914 – 1996) 303 Anna Amalia, Herzogin von SachsenWeimar-Eisenach (1739 – 1807) 23 Antonelli, Alessandro, Architekt (1798 – 1888) 274 Appia, Adolphe, Bühnenbildner (1862 – 1928) 198 Arndt, Adolf, Politiker (1904 – 1974) 268 Arup, Ove, Ingenieur (1895 – 1988) 70, 309
Bakema, Jacob, Architekt (1914 – 1981)
66, 221, 267 Baker, Herbert, Architekt (1862 – 1946) 297 Ballu, Théodore, Architekt (1817 – 1885) 40 Baltard, Victor, Architekt (1805 – 1874) 35 Banham, Reyner, Architekturkritiker (1922 – 1988) 12 Baravalle, Albert von, Architekt (1902 – 1983) 228 Barry, Charles, Architekt (1795 – 1860) 124 – 126 Barth, Gottlob Georg, Architekt (1777 – 1848) 312 Bartholdi, Frédéric Auguste, Bildhauer (1832 – 1904) 35 Bartning, Otto, Architekt (1883 – 1959) 50, 193 Baudot, Anatole de, Architekt (1834 – 1915) 86 Baudrillard, Jean, Philosoph (1929 – 2007) 74 BBPR (Gian Luigi Banfi, Ludovico Barbiano di Belgiojoso, Enrico Peressutti, Ernesto Nathan Rogers) 66, 273 Beaudouin, Eugène, Architekt (1898 – 1983) 262, 310
Personenregister
346 Boileau, Louis-Charles, Architekt (1837 – 1914) 35 Bollinger, Klaus und Manfred Grohmann, Ingenieursbüro 323 Bonatz, Karl, Architekt (1882 – 1951) 267 Bonatz, Paul, Architekt (1877 – 1956) 57, 58, 143, 221, 267 Bötticher, Karl, Architekturtheoretiker (1806 – 1889) 81 Boullée, Étienne-Louis, Architekt (1728 – 1799) 17, 28, 79, 114, 215 Bourdelle, Antoine, Bildhauer (1861 – 1929) 209, 210 Boyle, Richard, 3. Lord of Burlington und Architekt (1694 – 1753) 22, 25 Breuer, Marcel, Designer und Architekt (1902 – 1981) 51, 240 Brinkman, Johannes, Architekt (1902 – 1949) 242 Bronfman, Samuel, Unternehmer (1891 – 1971) 276 Brown, Denise Scott, Architektin (geb. 1931) 95 Brown, Lancelot, Gartenarchitekt (1716 – 1783) 22 Buls, Charles, Politiker (1837 – 1914) 40 Bunshaft, Gordon, Architekt (1909 – 1990) 277 Burden, Jane, Modell (1839 – 1914) 147 Burke, Edmond, Philosoph (1729 – 1797) 137 Burne-Jones, Edward, Maler (1833 – 1898) 147 Burnham, Daniel Hudson, Architekt (1846 – 1912) 42, 43
Cadbury, George, Unternehmer
(1839 – 1922) 38, 39 Calatrava, Santiago, Architekt (geb. 1951) 72 Calderini, Guglielmo, Architekt (1837 – 1916) 164 Cameron, Charles, Gartenarchitekt (1843 – 1912) 24, 29 Candela, Felix, Architekt (1919 – 1997) 67 Candilis, Georges, Architekt (1913 – 1995) 275 Carl August, Großherzog von SachsenWeimar-Eisenach (1757 – 1828) 23 Carlyle, Thomas, Dichter (1795 – 1881) 126 Carpeaux, Jean-Baptiste, Bildhauer (1827 – 1875) 154 Ceauçescu, Nicolae, rumän. Diktator (1918 – 1989) 255 Cerdà, Ildefons, Architekt (1815 – 1876) 40, 157 Ceschiatti, Alfredo, Bildhauer (geb. 1918) 289 Chalgrin, Jean-François-Thérèse, Architekt (1739 – 1811) 28, 168
Anhang
Chambers, William, Architekt (1723 – 1796) 29 Charles, Jencks, Architekturtheoretiker (geb. 1939) 96, 312 Chaucer, Geoffrey, Dichter (ca. 1334 – 1400) 147 Chenal, Pierre, Filmemacher (1904 – 1990) 78 Coignet, François, Ingenieur (1814 – 1888) 16 Cole, Henry, Staatsbeamter (1808 – 1882) 139 Collein, Edmund, Architekt (1906 – 1992) 270 Contant d’Ivry, Pierre, Architekt (1698 – 1777) 28 Cook, Peter, Architekt (geb. 1936) 94 Coop Himmelb(l)au, Architekturbüro 319, 322, 323 Costa, Lúcio, Architekt (1902 – 1998) 66, 286 Couturier, Père Marie-Alain, Theologe (1897 – 1954) 302 Craig, James, Architekt (1739 – 1795) 29 Crane, Walter, Maler (1845 – 1915) 149 Cret, Paul Philippe, Architekt (1876 – 1945) 294 Crompton, Dennis, Architekt (geb. 1935) 94
Dal Co, Francesco, Architekturhistoriker
(geb. 1945) 12 Dehio, Georg, Kunsthistoriker (1850 – 1932) 155 Deperthes, Pierre, Architekt (1833 – 1898) 40 Derrida, Jacques, Philosoph (1930 – 2004) 75, 318, 319 Dessauer, Friedrich, Chemiker und Philosoph (1881 – 1963) 78 Devrient, Eduard, Schauspieler (1801 – 1877) 128 Döblin, Alfred, Schriftsteller (1878 – 1957) 169 Doesburg, Theo van, Architekt (1883 – 1931) 48, 49, 222, 224, 225, 281 Dohme, Robert, Kunsthistoriker (1845 – 1893) 150 Dohrn, Wolf, Kulturfunktionär (1878 – 1914) 195, 197, 198 Dormal, Julio, Architekt (1846 – 1924) 154 Dostoyevski, Fyodor, Schriftsteller (1821 – 1881) 138 Drew, Jane, Architektin (1911 – 1996) 297 Dudok, Willem Marinus, Architekt (1884 – 1974) 48 Duiker, Johannes, Architekt (1890 – 1935) 262
Durand, Jean-Nicolas-Louis, Architekt (1760 – 1834) 80, 81, 83, 114, 128 Dutschke, Werner, Architekt (geb. 1919) 270 Düttmann, Werner, Architekt (1921 – 1883) 272
Eco, Umberto, Schriftsteller (geb. 1932)
311 Eesteren, Cornelis van, Architekt (1897 – 1988) 224 Eggert, Hermann, Architekt (1844 – 1920) 40, 143 Ehn, Karl, Architekt (1884 – 1959) 52 Eiermann, Egon, Architekt (1904 – 1970) 301 Eiffel, Gustave, Ingenieur (1832 – 1923) 35, 36 Einstein, Albert, Physiker (1879 – 1955) 229 Eisenman, Peter, Architekt (geb. 1932) 19, 77, 97, 318, 319 Elsaesser, Martin, Architekt (1884 – 1956) 243 Emerson, Ralph Waldo, Schriftsteller (1803 – 1882) 87, 175 Endell, August, Architekt (1871 – 1925) 45, 228 Engel, Carl Ludwig, Architekt (1778 – 1840) 58 Erdmannsdorff, Friedrich Wilhelm von, Architekt (1736 – 1800) 23, 100 – 103 Ernst Ludwig, Großherzog von HessenDarmstadt (1868 – 1937) 45 Ervi, Aarne Adrian, Architekt (1910 – 1977) 282 Espérandieu, Henri-Jacques, Architekt (1829 – 1874) 33 Eyck, Aldo van, Architekt (1918 – 1999) 66, 221, 275
Feininger, Lyonel, Maler (1871 – 1956)
90, 239 Ferstel, Heinrich von, Architekt (1828 – 1883) 160 Fieger, Carl, Architekt (1893 – 1960) 238 Fischer, Carl von, Architekt (1782 – 1820) 119 Fischer, Theodor, Architekt (1862 – 1938) 190 – 192, 197, 202, 251 Fisker, Kay, Architekt (1893 – 1965) 215 Flegenheimer, Julien, Architekt (1880 – 1938) 212 Fontaine, Pierre-François-Léonard, Architekt (1762 – 1853) 168 Ford, Henry, Industrieller (1863 – 1947) 234 Förderer, Walter, Architekt (1928 – 2006) 302 Förster, Ludwig, Architekt (1797 – 1863) 159
347 Foster, Sir Norman, Architekt (geb. 1935) 72 Foucault, Michel, Philosoph (1926 – 1984) 75 Fourier, Charles, Sozialreformer (1772 – 1837) 38, 109 Fox, Charles, Ingenieur (1810 – 1874) 136, 139 Franz Joseph I., österr. Kaiser (1830 – 1916) 158, 159 Friedman, Yona, Architekt (geb. 1923) 71, 293 Friedrich Wilhelm III., preuß. König (1770 – 1840) 114 Frings, Josef Kardinal, Kölner Erzbischof (1887 – 1978) 299 Fry, Maxwell, Architekt (1899 – 1987) 297 Fuller, Richard Buckminster, Architekt (1895 – 1983) 68, 71 Fuller, Thomas, Architekt (1823 – 1898) 127 Fustel de Coulanges, Numa Denis, Historiker (1830 – 1889) 93
Garnier, Charles, Architekt (1825 – 1898)
35, 151 – 54 Gärtner, Friedrich von, Architekt (1791 – 1847) 121 – 123, 168 Gaudí, Antonio, Architekt (1852 – 1926) 67, 183, 184, 194 Gautier, Théophile, Dichter (1811 – 1872) 154 Gehry, Frank O., Architekt (geb. 1929) 72 – 73, 281, 319 Gelfreich, Vladimir, Architekt (1885 – 1967) 62 Gessner, Albert, Architekt (1868 – 1953) 172 Giedion, Sigfried, Architekturhistoriker (1888 – 1968) 12, 78, 92, 93 Gilbert, Cass, Architekt (1859 – 1934) 176 Gilly, Friedrich, Architekt (1772 – 1800) 26 Ginzburg, Moisey, Architekt (1892 – 1946) 53, 54, 89 Giorgis, Bruno, Bildhauer (1905 – 1993) 289 Godin, Jean-Baptiste André, Fabrikant (1817 – 1888) 108 Goethe, Johann Wolfgang, Dichter (1749 – 1832) 23, 81, 91, 128, 227 Golosov, Ilya A., Architekt (1883 – 1945) 54 Graffunder, Heinz, Architekt (1926 – 1994) 269 Grasset, Eugène, Produktgestalter (1845 – 1917) 37 Greenough, Horatio, Bildhauer (1805 – 1852) 87
Gregotti, Vittorio, Architekt (geb. 1927) 275 Griffin, Walter Burley, Architekt (1876 – 1937) 43 Gropius, Walter, Architekt (1883 – 1969) 46, 47, 50, 51, 53, 56, 61, 86, 88, 89, 92, 93, 144, 181, 202, 203, 215, 221, 222, 224, 235, 236 – 241, 247, 271, 272, 275, 317 Grzimek, Günther, Gartenarchitekt (1915 – 1996) 303, 305 Guadet, Julien, Architekt (1834 – 1908) 78, 86, 87 Guardini, Romano, Theologe (1885 – 1968) 193 Guimard, Hector, Architekt (1867 – 1942) 45 Gutbrod, Rolf, Architekt (1910 – 1999) 306
Hadid, Zaha, Architektin (geb. 1950)
281, 319 Haesler, Otto, Architekt (1880 – 1962) 61, 236, 281 Halbwachs, Maurice, Historiker (1877 – 1945) 93 Hamilton, Richard, Maler (1922 – 2011) 95 Hamilton, William, Diplomat (1730 – 1803) 103 Hankar, Paul, Architekt (1859 – 1901) 164 Hansen, Christian Frederik, Architekt (1756 – 1845) 29, 30, 58, 214 Hansen, Theophil von, Architekt (1813 – 1891) 160 Häring, Hugo, Architekt (1882 – 1958) 56, 221, 234, 250, 251 Harmon, Arthur Loomis, Architekt (1878 – 1958) 59 Hasenauer, Carl von, Architekt (1833 – 1894) 160 Hauberrisser, Georg von, Architekt (1841 – 1922) 40 Haussmann, Georges-Eugène, Politiker (1809 – 1891) 18, 37, 62, 63, 150, 170, 171, 307 Hegemann, Werner, Architekturkritiker (1881 – 1936) 169 Heinrichs, Georg, Architekt (geb. 1926) 272 Hennebique, François, Bauingenieur (1842 – 1921) 16 Henselmann, Hermann, Architekt (1905 – 1995) 269 Herron, Ron, Architekt (1930 – 1994) 94, 310 Hertlein, Hans, Architekt (1881 – 1963) 78 Hertzberger, Herman, Architekt (geb. 1932) 71
Herz, Manuel, Architekt (geb. 1969) 321, 322 Herzog, Jacques (geb. 1950) & Pierre de Meuron (geb. 1950), Architekturbüro 76 Hirschfeld, Christian Cay Lorenz, Gartenarchitekt (1742 – 1792) 22 Hirt, Aloys, Architekt (1759 – 1837) 81, 103, 114 Hitchcock, Henry-Russell, Kunsthistoriker (1903 – 1987) 12, 78, 92, 247 Hitler, Adolf, dt. Diktator (1889 – 1945) 61, 255 – 259 Hittorff, Jacques-Ignace, Architekt (1792 – 1867) 82, 142 Hoare, Henry d. J., Bankier (1705 – 1785) 22 Hoban, James, Architekt (1762 – 1831) 30 Hobrecht, James, Stadtplaner (1825 – 1902) 170 Hoeber, Fritz, Kunsthistoriker (1885 – 1921) 78 Hoffmann, Josef, Architekt (1870 – 1956) 45, 185, 188, 202 Höger, Fritz, Architekt (1877 – 1949) 56 Holabird, William (1854 – 1923) & Martin Roche (1853 – 1927), Baubüro 175 Home, Henry, Lord Kames Philosoph (1696 – 1782) 21 Hood, Raymond, Architekt (1881 – 1934) 58, 59, 173 Horta, Victor, Architekt (1861 – 1947) 45, 181 – 183, 187, 228, 251, 310 Howard, Ebenezer, Stadtplaner (1850 – 1928) 39, 198, 199 Howells, John Mead, Architekt (1868 – 1959) 58, 173 Hübsch, Heinrich, Architekt (1795 – 1863) 27, 33, 81 – 82 Humboldt, Wilhelm von, Gelehrter (1767 – 1835) 117 Huszár, Vilmos, Architekt (1884 – 1960) 48
Ihne, Ernst von, Architekt (1848 – 1917)
117, 135 Iofan, Boris, Architekt (1891 – 1976) 63, 176, 242 Isler, Heinz, Ingenieur (1926 – 2009) 303 Itten, Johannes, Maler (1888 – 1967) 51 Izenour, Steven, Architekt (1940 – 2001) 95
Jaques-Dalcroze, Émile, Musikpäda-
goge (1865 – 1950) 197, 198 Jeanneret, Albert, Musiker (1886 – 1973) 198 Jeanneret, Pierre, Architekt (1896 – 1967) 212, 294, 297
Personenregister
348 Jeanneret-Gris, Charles-Édouard > Le Corbusier Jefferson, Thomas, US-amerik. Präsident (1743 – 1826) 30, 109 – 113, 213 Jensen-Klingt, Peder Vilhelm, Architekt (1853 – 1930) 194 Jobst, Gerhard, Architekt (1888 – 1963) 270 Johnson, Philip, Architekt (1906 – 2005) 92, 181, 246, 280, 308 Jones, Owen, Architekt (1809 – 1874) 37, 188 Joret, Henri, Ingenieur (1825 – 1883) 166 Jörg, Richard, Architekt (1908 – 1992) 300
Kahn, Louis I., Architekt (1901 – 1974)
68, 294 – 297 Kandinsky, Vasili, Maler (1866 – 1944) 241 Kant, Immanuel, Philosoph (1724 – 1804) 113, 137 Karl-Theodor, Kurfürst von der Pfalz und Bayern (1724 – 1799) 23 Katharina II., russ. Zarin (1729 – 1769) 29 Kaufmann, Edgar J., Unternehmer (1885 – 1955) 208, 260 – 264 Kent, William, Architekt (1685 – 1748) 22, 25 Kéré, Diébédo Francis, Architekt (geb. 1965) 321 Kikutake, Kiyonori, Architekt (1928 – 2011) 293 Klenze, Leo von, Architekt (1784 – 1864) 27, 32, 83, 119 – 122, 281, 281 Klerk, Michel de, Architekt (1884 – 1923) 221 Klimsch, Fritz, Bildhauer (1870 – 1960) 244, 245 Koch, Alexander, Verleger (1860 – 1939) 150 Koechlin, Maurice, Ingenieur (1856 – 1946) 36 Koerfer, Jacob, Architekt (1875 – 1930) 173, 243 Kolbe, Georg, Bildhauer (1877 – 1947) 246 Koolhaas, Rem, Architekt (geb. 1944) 76, 97, 98 Korin, Pavel, Architekt (1892 – 1967) 63 Kostof, Spiro, Architekturhistoriker (1936 – 1991) 12 Krahn, Johannes, Architekt (1908 – 1974) 301 Kreis, Wilhelm, Architekt (1873 – 1955) 57, 58, 243 Kreuer, Willy, Architekt (1910 – 1984) 270 Krier, Leon, Architekt (geb. 1946) 75, 212, 315
Anhang
Krier, Rob, Architekt (geb. 1938) 75 Kubitschek de Oliveira, Juscelino, bras. Staatspräsident (1902 – 1976) 285, 286 Kugler, Franz, Architekturhistoriker (1808 – 1858) 82 Kühne, Max Hans, Architekt (1874 – 1942) 143 Kurokawa, Kisho Noriaki, Architekt (1934 – 2007) 93, 293
L’Enfant, Pierre-Charles, Architekt
(1754 – 1825) 112 La Padula, Ernesto Bruno, Architekt (1902 – 1968) 60 Labrouste, Henri, Architekt (1801 – 1875) 132, 135 Lamb, William F., Architekt (1883 – 1952) 59, 176 Lambert, Phyllis, Architektin (geb. 1927) 277 Lambot, Joseph, Ingenieur (1814 – 1887) 16 Landmann, Ludwig, Politiker (1868 – 1945) 231 Langhans, Carl Gotthard, Architekt (1732 – 1808) 26 Langman, Arkadi, Architekt (1886 – 1968) 63 Lasche, Oskar, Ingenieur (1868 – 1923) 200 Latrobe, Benjamin Henry, Architekt (1764 – 1820) 30, 109, 176 Laugier, Marc-Antoine, Architekturtheoretiker (1713 – 1769) 25 Le Baron Jenney, William, Architekt (1832 – 1907) 42, 173 Le Camus de Mézières, Nicolas, Architekt (1721 – 1789) 17, 79 Le Corbusier, Architekt (1887 – 1965) 12, 18, 40, 47, 49, 53, 54, 60, 66 – 68, 72, 78, 88, 89, 92, 93, 96, 97, 108, 181, 190, 198, 199, 208, 211, 212, 215, 216 – 222, 225, 236, 242, 247, 248, 250, 263 – 267, 271, 275, 277, 281, 286, 292, 294, 297 – 298, 302, 313 Ledoux, Claude Nicolas, Architekt (1736 – 1806) 28, 79, 104 – 108, 215 Léger, Fernand, Maler (1881 – 1955) 302 Leiviskä, Juha, Architekt (geb. 1936) 284 Lenbach, Franz von, Maler (1836 – 1904) 177 Lenné, Peter Joseph, Gartenarchitekt (1789 – 1866) 23 Leonhardt, Fritz, Ingenieur (1909 – 1999) 281, 303 Leopold III. Friedrich Franz, Fürst von Anhalt-Dessau (1740 – 1817) 22, 100, 101
Le Roy, Julien-David, Architekt (1724 – 1803) 25 Leverhulme, William Hesketh, Unternehmer (1851 – 1925)] 39 Libera, Adalberto, Architekt (1903 – 1963) 251 Libeskind, Daniel, Architekt (geb. 1946) 19, 77, 281, 316 – 320 Lill, Hansjakob, Architekt (1913 – 1967) 302 Lipps, Theodor, Psychologe (1851 – 1914) 45 Lods, Marcel, Architekt (1891 – 1978) 64, 262, 310 Löhr, Moritz, Architekt (1810 – 1874) 159 Loos, Adolf, Architekt (1870 – 1933) 45, 78, 88, 185, 188, 190 Lorrain, Claude, Maler (1600 – 1682) 22 Lossow, William, Architekt (1852 – 1914) 143 Louis, Victor, Architekt (1731 – 1800) 27, 153 Luckhardt, Hans (1890 – 1954) und Wassili (1889 – 1972), Architekten 61, 226, 271, 272 Ludwig I., bayr. König (1786 – 1868) 32, 119, 123 Ludwig II., bayr. König (1845 – 1886) 140, 177 Lurçat, Jean, Maler (1892 – 1966) 302 Lutyens, Edwin, Architekt (1869 – 1944) 43, 297 Lyotard, Jean-François, Philosoph (1924 – 1998) 312
Mackmurdo, Arthur Heygate, Architekt
(1852 – 1941) 149 Maillart, Robert, Ingenieur (1872 – 1940) 281 Malmsten, Carl, Möbeldesigner (1888 – 1972) 215 March, Werner, Architekt (1894 – 1976) 303 Mathsson, Bruno, Möbeldesigner (1907 – 88) 215 Mattè-Trucco, Giacomo, Architekt (1869 – 1934) 273 Maximilian I., bayr. König (1756 – 1825) 119 May, Ernst, Architekt (1886 – 1970) 39, 52, 55, 56, 61, 78, 118, 199, 231, 235, 243, 272, 281 Mayer, Albert, Architekt (1897 – 1981) 297 McKim, Charles Follen, William Rutherford Mead & Stanford White, Architekturbüro 144, 277 Meano, Victor, Architekt (1860 – 1904) 154 Mebes, Paul, Architekt (1872 – 1938) 172 Meistermann, Georg, Maler (1911 – 1990) 301
349 Melnikov, Konstantin, Architekt (1890 – 1974) 54 Mendelsohn, Erich, Architekt (1887 – 1953) 12, 47, 54, 57, 61, 78, 181, 215, 229, 230, 250 Mengoni, Giuseppe, Architekt (1829 – 1877) 166 – 169 Messel, Alfred, Architekt (1853 – 1909) 118, 172 Metzendorf, Georg, Architekt (1874 – 1934) 39 Meurman, Otto-Iivari, Architekt (1890 – 1994) 282 Meyer, Adolf, Architekt (1881 – 1929) 47, 54, 203, 239 Meyer, Hannes, Architekt (1889 – 1954) 51, 221, 281 Michelet, Jules, Historiker (1798 – 1874) 31 Michelucci, Giovanni, Architekt (1891 – 1990) 60 Mies van der Rohe, Ludwig, Architekt (1886 – 1969) 51, 61, 68 – 69, 92, 93, 95, 208, 221, 222, 225, 236, 245, 246, 247, 275 – 281 Migge, Leberecht, Gartenarchitekt (1881 – 1935) 233 Mitscherlich, Alexander, Psychoanalytiker (1908 – 1982) 93 Moholy-Nagy, László, Maler (1895 – 1946) 241 Moholy-Nagy, Lucia, Fotografin (1894 – 1989) 240 Mondrian, Piet, Maler (1872 – 1944) 48, 224 Monier, Joseph, Ingenieur (1823 – 1906) 16 Mönnich, Rudolf, Architekt (geb. 1922) 164 Moore, Charles, Architekt (1925 – 1993) 315 Morris, William, Maler und Architekt (1834 – 1896) 37, 147, 155, 198 Moser, Hermann, Architekt (1890 – 1945) 228 Moser, Karl, Architekt (1860 – 1936) 193 Muche, Georg, Grafiker (1895 – 1987) 51 Müller, Hans Christian, Architekt (1921 – 2010) 272 Müller, Karl Otfried, Archäologe (1797 – 1840) 82 Müller-Wulckow, Walter, Kunsthistoriker (1886 – 1964) 78 Mussolini, Benito, ital. Diktator (1883 – 1945) 60, 62, 252 Muthesius, Hermann, Architekt (1861 – 1927) 46, 150, 197, 198
Napoleon Bonaparte, franz. Kaiser (1769 – 1821) 32, 114
Napoléon III., franz. Kaiser (1808 – 1873) 37, 150 Nash, John, Architekt (1752 – 1835) 168 Naumann, Friedrich, Politiker (1860 – 1919) 196, 202 Nehru, Jawaharlal, ind. Präsident (1889 – 1964) 297, 298 Nénot, Henri-Paul, Architekt (1853 – 1934) 212 Nervi, Pier Luigi, Architekt (1891 – 1979) 273 Neufert, Ernst, Architekt (1900 – 1986) 78, 238 Neutra, Richard, Architekt (1892 – 1970) 260 Niemeyer, Oscar, Architekt (1907 – 2012) 66, 67, 271, 286 – 289, 308 Nouvel, Jean, Architekt (geb. 1945) 75, 76 Novarina, Maurice, Architekt (1907 – 2002) 302 Nowicki, Matthew, Architekt (1910 – 1950) 297 Nüll, Eduard van der, Architekt (1812 – 1868) 131
Obrist, Hermann, Bildhauer
(1862 – 1927) 45, 57 Olbrich, Joseph Maria, Architekt (1867 – 1908) 45, 185, 228, 235 Oliveira Passos, Francisco de, Architekt (1836 – 1913) 154 Olmstedt, Frederick Law jr., Architekt (1870 – 1957) 43 Olmstedt, Frederick Law, Stadtplaner (1822 – 1903) 41 Oßwald, Ernst Otto, Architekt (1880 – 1960) 173 Östberg, Ragnar, Architekt (1866 – 1945) 212 Otis, Elisha Graves, Ingenieur (1811 – 1861) 173 Otto, Frei, Architekt (geb. 1925) 71, 303, 306, 307 Oud, Jacobus Johannes Pieter, Architekt (1890 – 1963) 48
Palladio, Andrea, Architekt
(1508 – 1580) 25, 101, 111, 153 Pankok, Bernhard, Maler (1872 – 1943) 180 Parent, Claude, Architekt (geb. 1923) 230, 302 Parker, Richard Barry, Architekt (1867 – 1947) 39 Paulick, Richard, Architekt (1903 – 1979) 269 Paxton, Sir John, Ingenieur (1803 – 1865) 136 – 140 Pereira, William & Charles Luckman, Architekturbüro 277
Percier, Charles, Architekt (1764 – 1838) 168 Pereira, Israel, Bauunternehmer 286 Perrault, Dominique, Architekt (geb. 1953) 307 Perret, Auguste, Architekt (1874 – 1954) 46, 47, 58, 64, 193, 210, 211 Persius, Ludwig, Architekt (1803 – 1845) 24 Petäjä, Keijo, Architekt (1919 – 1988) 282 Petrescu, Anca, Architektin (1949 – 2013) 176 Pevsner, Nikolaus, Kunsthistoriker (1902 – 1983) 11 Peyre, Marie-Joseph, Architekt (1730 – 1785) 27, 28, 80 Piacentini, Marcello, Architekt (1881 – 1960) 60, 251 Piano, Renzo, Architekt (geb. 1937) 307 – 311 Pietilä, Raili (geb. 1926) und Reima (1923 – 93), Architekten 284 Pius XII., Papst (1876 – 1958) 300 Platz, Gustav Adolf, Kunsthistoriker und Architekt (1881 – 1947] 11, 78 Playfair, William, Architekt (1759 – 1823) 29 Poelaert, Joseph, Architekt (1817 – 1879) 161, 163, 164 Poelzig, Hans, Architekt (1869 – 1936) 46, 47, 56, 242 – 246, 250 Pompidou, Georges, franz. Staatspräsident (1911 – 1974) 308 Ponti, Gio, Architekt (1891 – 1979) 273 Poussin, Nicolas, Maler (1594 – 1665) 22 Prior, Edward Schroeder, Architekt (1857 – 1932) 150 Prix, Wolf D., Architekt (geb. 1942) 323 Prouvé, Jean, Architekt (1901 – 1984) 262, 308, 310 Pugin, Augustus Welby Northmore, Architekt (1812 – 1852)] 38, 84, 125, 126
Quatremère de Quincy, Antoine
Chrysostôme, Architekturtheoretiker (1755 – 1849) 81, 82, 84
Rading, Adolf, Architekt (1888 – 1957)
61, 250 Raffael, Maler (1483 – 1520) 135 Ramée, Joseph-Jacques, Architekt (1764 – 1842) 112 Ranke, Leopold von, Historiker (1795 – 1886) 31 Ranzenberger, Hermann, Architekt (1891 – 1967) 228 Raoul-Rochette, Désiré, Altertumswissenschaftler (1789 – 1854) 82
Personenregister
350 Regamey, Père Pie, Theologe (1900 – 1996) 302 Reichow, Hans Bernhard, Architekt (1899 – 1974) 251, 272 Reid, Robert, Architekt (1774 – 1856) 29 Revett, Nicholas, Architekt (1720 – 1804) 25, 99 Reynaud, Léonce, Architekt (1803 – 1880) 141 Richardson, Henry Hobson, Architekt (1838 – 1886) 42, 175 Richter, Hans, Maler und Filmemacher (1888 – 1976) 78 Riefenstahl, Leni, Filmemacherin (1902 – 2003) 259 Riegl, Alois, Kunsthistoriker (1858 – 1905) 155 Riemerschmid, Richard, Architekt (1868 – 1957) 46, 180, 195, 196, 198, 199, 202 Rietveld, Gerrit Thomas, Möbeltischler und Architekt (1888 – 1964) 48, 222 – 224 Robie, Frederick C., Unternehmer (1879 – ?) 204, 207 Rogers, Ernesto Nathan, Architekt (1909 – 1969) 274, 275, 293 Rogers, Richard, Architekt (geb. 1933) 72, 307 – 311 Rossi, Aldo, Architekt (1931 – 1997) 93, 275, 281 Roth, Emery (1871 – 1948) & Sons, Architekturbüro 144 Rouault, Georges, Maler (1871 – 1958) 302 Rousseau, Jean-Jacques, Philosoph (1712 – 1778) 22, 24, 104, 106 Rovira i Trias, Antonio, Architekt (1816 – 1889) 157 Rowe, Colin, Architekturtheoretiker (1920 – 1999) 314 Rudnev, Lev, Architekt (1885 – 1956) 65 Ruf, Sep, Architekt (1908 – 1982) 302 Ruskin, John, Schriftsteller (1819 – 1900) 84, 127, 149, 155, 175 Rysselberghe, Théo van, Maler (1862 – 1926) 182
Saarinen, Eero, Architekt (1910 – 1961)
69, 96 Safdie, Moshe, Architekt (geb. 1938) 71, 293 Salt, Titus, Unternehmer (1803 – 1876) 38 Salvisberg, Otto Rudolf, Architekt (1882 – 1940) 234 Schädel, Hans, Architekt (1910 – 1996) 301 Scharoun, Hans, Architekt (1893 – 1972) 56, 57, 61, 64, 226, 247 – 250, 267, 268, 271, 272
Anhang
Scheper, Hinnerk, Designer und Denkmalpfleger (1897 – 1957) 240 Schilling, Johannes, Bildhauer (1828 – 1910) 130 Schimkowitz, Othmar, Bildhauer (1864 – 1947) 186 Schinkel, Karl Friedrich, Architekt (1781 – 1841) 24, 26, 27, 32, 62, 81, 113 – 119, 124, 128, 280 Schlegel, Friedrich, Dichter (1772 – 1829) 81 Schlemmer, Oskar, Maler (1888 – 1943) 238 Schmarsow, August, Kunsthistoriker (1853 – 1936) 44 Schmidt, Friedrich von, Architekt (1825 – 1891) 160 Schmidt, Karl, Unternehmer (1873 – 1948) 195, 196 Schminke, Fritz (1897 – 1971) und Charlotte (? – 1976), Fabrikantenehepaar 247, 248 Schmitthenner, Paul, Architekt (1884 – 1972) 61, 91, 234, 281 Schmohl, Eugen, Architekt (1880 – 1926) 173 Schnitzler, Georg von, Industrieller (1884 – 1962) 245, 246 Schoch, Johann Leopold d. Ä., Gärtner (1728 – 1793) 100 Scholer, Friedrich Eugen, Architekt (1874 – 1949) 57, 143 Schönberg, Arnold, Komponist (1874 – 1951) 318 Schopenhauer, Arthur, Philosoph (1788 – 1860) 81 Schröder-Schräder, Truus, Auftraggeberin (1889 – 1985) 222 Schüler-Witte, Ralf (1930 – 2011) und Ursulina (geb. 1933), Architekten 71 Schultze-Naumburg, Paul, Architekt (1869 – 1949) 61, 281 Schumacher, Fritz, Architekt (1869 – 1947) 78, 251, 281 Schupp, Manuel, Architekt (geb. 1959) 312 Schwagenscheidt, Walter, Architekt (1886 – 1968) 64, 272 Schwanzer, Karl, Architekt (1918 – 1975) 322 Schwarz, Rudolf, Architekt (1897 – 1961) 91, 194, 281, 300, 301 Schwippert, Hans, Architekt (1899 – 1973) 236 Sckell, Ludwig von, Gartenarchitekt (1750 – 1823) 23 Scott, George Gilbert, Architekt (1811 – 1878) 155 Seagram, Joseph E. (1841 – 1919) and Sons, Spirituosenhersteller 276, 279
Sedlmayr, Hans, Kunsthistoriker (1896 – 1984) 11 Seidl, Emanuel von, Architekt (1856 – 1919) 180 Seidl, Gabriel von, Architekt (1848 – 1913) 177 – 180 Semper, Gottfried, Architekt (1803 – 1879) 80, 82 – 84, 87, 127 – 131, 138, 159, 281 Senger, Alexander von, Architekt (1880 – 1968) 78 Shakespeare, William, Dichter (1564 – 1616) 129 Shchusev, Alexey, Architekt (1873 – 1949) 63 Shuchov, Vladimir, Bauingenieur (1853 – 1939) 53 Sicard von Sicardsburg, August, Architekt (1813 – 1868) 131 Sitte, Camillo, Architekt (1843 – 1903) 40, 197 Sittmann, Tassilo, Architekt (geb. 1928) 64, 272 Sive, André, Architekt (1899 – 1958) 64 Smirke, Robert, Architekt (1780 – 1867) 32 Smithson, Peter (1923 – 2003) und Alison (1928 – 1993), Architekten 66, 221, 275 Soane, John, Architekt (1753 – 1837) 31, 315 SOM (Louis Skidmore, Nathaniel Owings und John O. Merrill), Architekturfirma 68, 70, 72, 277 Sommerfeld, Adolf, Bauunternehmer (1886 – 1964) 51 Sörgel, Herman, Architekt (1885 – 1952) 78 Soria y Mata, Arturo, Stadtplaner (1844 – 1920) 40 Soufflot, Germain, Architekt (1713 – 1780) 25 Speer, Albert, Architekt (1905 – 1981) 62, 176, 255 – 259 Stalin, Josef, sowj. Diktator (1878 – 1953) 63, 255, 268 – 270 Steindl, Imre, Architekt (1839 – 1902) 127 Steiner, Rudolf, Philosoph (1861 – 1925) 226 – 229 Stevenson, Robert, Ingenieur (1772 – 1850) 139 Stirling, James, Architekt (1926 – 1992) 312 – 315 Straub, Karl Willy, Schriftsteller (1880 – 1971) 61 Street, George Edmund, Architekt (1824 – 1881) 147, 164 Stuart, James (1713 – 1788), Archäologe 25, 99
351 Stübben, Hermann Joseph, Stadtplaner (1845 – 1936) 40, 159 Stubbins, Hugh, Architekt (1912 – 2006) 271 Stüler, Friedrich August, Architekt (1800 – 1865) 117 Sullivan, Louis, Architekt (1856 – 1924) 42, 87, 109, 147, 173 – 176, 207
Tafuri, Manfredo, Architekturhistoriker
(1935 – 1994) 12 Tamburini, Francesco, Architekt (1846 – 1891) 154 Tange, Kenzo, Architekt (1913 – 2005) 93, 290 – 293 Tatlin, Vladimir, Künstler (1885 – 1953) 53 Taut, Bruno, Architekt (1880 – 1838) 50, 61, 90, 118, 172, 181, 202, 226, 232 – 234 Taut, Max, Architekt (1884 – 1967) 50, 236, 271 Taylor, Frederick Winslow, Ingenieur (1856 – 1915) 234 Temple, Sir Richard, Viscount Cobham (1675 – 1749) 22 Terragni, Giuseppe, Architekt (1904 – 1943) 60, 251 – 253 Tessenow, Heinrich, Architekt (1876 – 1950) 46, 92, 197 – 199, 215, 234 Thiersch, Friedrich von, Architekt (1852 – 1921) 164 Thomon, J. Thomas de, Architekt (1760 – 1813) 29 Thompson, Benjamin, Offizier (1753 – 1814) 23 Thornton, William, Architekt (1759 – 1828) 109, 176 Tieck, Ludwig, Dichter (1773 – 1853) 128 Tönnies, Ferdinand, Soziologe (1855 – 1936) 202 Troost, Paul Ludwig, Architekt (1878 – 1934) 62 Tschumi, Bernhard, Architekt (geb. 1944) 319 Tshuko, Vladimir, Architekt (1878 – 1939) 62
Ulbricht, Walter, Politiker (1893 – 1973)
269 Unwin, Raymond, Architekt (1863 – 1940) 39, 199 Utzon, Jørn, Architekt (1918 – 2008) 70, 93
Vago, Pierre, Architekt (1910 – 2002) 271 Valéry, Paul, Schriftsteller (1871 – 1945) 78, 90, 91
van ‘t Hoff, Robert, Architekt (1887 – 1979) 48 van der Vlugt, Leendert, Architekt (1894 – 1936) 242 Vanderbilt, Commodore Cornelius, Unternehmer (1794 – 1877) 143 Vargas, Getúlio, bras. Staatspräsident (1882 – 1954) 285 Vaudoyer, Antoine-Laurent-Thomas, Architekt (1756 – 1846) 32 Vaudoyer, Léon, Architekt (1803 – 1872) 32, 135 Velde, Henry van de, Architekt (1863 – 1957) 45, 46, 164, 182, 196, 202, 203, 209, 210, 221, 228, 229, 250, 281 Venturi, Robert, Architekt (geb. 1925) 95 Verge, John, Architekt (1782 – 1861) 30 Vesnin, Brüder Alexander (1883 – 1959), Leonid (1880 – 1933) und Viktor (1882 – 1950), Architekten 53 Victoria, engl. Königin (1819 – 1901) 126, 138 Vilanova Artigas, João Batista, Architekt (1915 – 1985) 67 Viollet-le-Duc, Eugène Emmanuel, Architekt (1814 – 1879) 35, 81, 84 – 87, 155, 182, 185 Virilio, Paul, Philosoph (geb. 1932) 230, 302 Vischer, Friedrich Theodor, Philosoph (1807 – 1887) 44 Vischer, Robert, Philosoph (1847 – 1933) 44 Vitruv, Architekturtheoretiker (ca. 75 – ca. 15 v. Chr.) 79, 99, 188, 315, 316 Vittorio Emanuele II., ital. König (1820 – 1878) 166 Vohl, Carl, Architekt (1853 – 1932) 164 Voit, August von, Architekt (1801 – 1870) 140 Voronichin, Andrey, Architekt (1759 – 1814) 29 Voysey, Charles, Architekt (1857 – 1941) 149
Waagen, Gustav Friedrich, Kunsthis-
toriker (1794 – 1868) 117 Wachsmann, Konrad, Architekt (1901 – 1980) 71 Wagner, Martin, Architekt (1885 – 1957) 118, 232 Wagner, Otto, Architekt (1841 – 1918) 85 – 88, 184 Wagner, Richard, Komponist (1813 – 1883) 127, 129, 208 Wailly, Charles de, Architekt (1730 – 1798) 27 Walpole, Horace, 4. Earl of Oxford, Schriftsteller (1717 – 1797) 102
Wandel, Andrea, Andreas Hoefer & Wolfgang Lorch, Architekturbüro 321, 322 Warren, Whitney & Charles D. Wetmore, Architekturbüro 144 Webb, Mike, Architekt (geb. 1937) 94 Webb, Philip, Architekt (1831 – 1915) 147 Weber, Martin, Architekt (1890 – 1941) 193 Wechs, Thomas, Architekt (1893 – 1970) 302 Wellens, François, Ingenieur (1812 – 1897) 162 Wetmore, Charles D., Architekt (1866 – 1941) 144 Whitman, Walt, Dichter (1819 – 1892) 175 Wilford, Micheal, Architekt (geb. 1938) 312 Wilgus, William J., Ingenieur (1865 – 1949) 144 Wilhelm IX., Landgraf von HessenKassel (1743 – 1821) 23, 102 Winckelmann, Johann Joachim, Kunsttheoretiker (1717 – 1768) 25 Wölfflin, Heinrich, Kunsthistoriker (1864 – 1945) 44 Woodward, Benjamin, Architekt (1816 – 1861) 35 Worth, Charles Frederick, Textilunternehmer (1826 – 1895) 44 Wotruba, Fritz, Bildhauer (1907 – 1975) 302 Wright, Frank Lloyd, Architekt (1867 – 1959) 48, 51, 58, 70, 73, 109, 147, 204 – 208, 260 – 263, 277, 296 Wundt, Wilhelm, Psychologe (1832 – 1920) 45 Wurmb, Julius von, Architekt (1804 – 1875) 159
Yamasaki, Minoru, Architekt (1912 – 1986) 96, 280
Zacharov, Andreyan, Architekt
(1761 – 1811) 29 Zettl, Ludwig, Architekt (1821 – 1891) 159 Zevi, Bruno, Architekturhistoriker (1918 – 2000) 12 Zucker, Paul, Kunstkritiker (1888 – 1971) 68 Zumthor, Peter, Architekt (geb. 1943) 19 Zuse, Konrad, Bauingenieur (1910 – 1995) 73
Personenregister
352
Abbildungsnachweis Alvar Aalto, Architect: University of Technology, Otaniemi 1949 – 74. Helsinki 2008: Abb. 139, 140 Andreoli, Elisabetta / Forty, Adrian: Brazil’s Modern Architecture. New York 2004: Abb. 141 Archiv Christian Freigang: Abb. 116 Bandmann, Günther: Die Galleria Vittorio Emanuele II. zu Mailand, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 29 / 1966, S. 81 – 110: Abb. 79 Bauer, Ingolf (Hrsg.): Das Bayerische Nationalmuseum. Der Neubau an der Prinzregentenstraße 1892 – 1900. München 2000: Abb. 86 Beaver, Patrick: The Crystal Palace, 1851 – 1936. A Portrait of Victorian Enterprise. London 1970: Abb. 66 Bednorz, Achim: Abb. 8, 13, 14, 22, 26, 32, 70, 71, 78, 89, 93, 97, 131, 152, 157, 158 Besset, Maurice: Le Corbusier. Genf 1976: Abb. 130 Bettinotti, Massimo (Hrsg.): Kanzo Tange 1946 – 1996. Architecture and Urban Design. Architettura e disegno urbano. Mailand 1996: Abb. 145 Bildarchiv Foto Marburg / Gert von Bassewitz: Abb. 125 Bildarchiv Foto Marburg / Norbert Latocha: Abb. 19 Blundell Jones, Peter: Asplund. London u. New York 2006: Abb. 104, 105 Blundell Jones, Peter: Hans Scharoun. London 1995: Abb. 123 Brawne, Michael: University of Virginia. The Lawn. London 1994: Abb. 49, 50 Burkhardt, Berthold (Hrsg.): Scharoun. Haus Schminke. Die Geschichte einer Instandsetzung. Stuttgart 2002: Abb. 122 Centre National d’Art et de Culture Georges Pompidou (Hg.): De Stijl. Ausstellungskatalog. Paris 2010: Abb. 109 Centrum Industriekultur Nürnberg (Hrsg.): Kulissen der Gewalt. Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. München 1992: Abb. 127 Christophe, Paul: Le béton armé et ses applications. Paris 1902: Abb. 2 Davey, Peter: Arts-and-Crafts-Architektur. Stuttgart 1996: Abb. 99 De Magistris, Alessandro: URSS anni ’30 e ’50. Paesaggi dell’utopia staliniana. Turin 1997: Abb. 25 Deutsche Architektur 10 / 1959: Abb. 133 Die Form, Heft 16 / 1929: Abb. 121 Dierkens-Aubry, Françoise: Musée Horta (Bruxelles Saint-Gilles). Brüssel 1990: Abb. 88 Drexler, Arthur: Ludwig Mies van der Rohe, New York 1960: Abb. 136 Fleig, Karl: Alvar Aalto, Bd. II 1963 – 1970. Zürich 1971: Abb. 138 Freigang, Christian: Abb. 29, 44, 45, 54 – 57, 68, 69, 72, 83, 94, 95, 98, 102, 111, 113, 114, 117 – 120, 132, 134, 154-156, 159, 161, 162 Freigang, Christian: Auguste Perret, die Architekturdebatte und die „Konservative Revolution“ in Frankreich 1900 – 1930. Berlin u. München 2003: Abb. 103 Freyberg, Pankraz von: 200 Jahre Englischer Garten München 1789 – 1989. Offizielle Festschrift. München 1989: Abb. 3 FU Berlin, KHI, Diathek: Abb. 77 Giurgola, Romaldo / Mehta, Jaimini: Louis I. Kahn. Zürich 1975: Abb. 147 Gössel, Peter / Leuthäuser, Gabriele: Architektur des 20. Jahrhunderts. Köln 1990: Abb. 124 Graml, Hubert: Abb. 53 Hänsch, Wolfgang: Die Semperoper. Geschichte und Wiederaufbau der Dresdner Staatsoper. Stuttgart 1986: Abb. 61
Anhang
Hess, Alan: Frank Lloyd Wright – Prairie Houses. Mailand u. New York 2006: Abb. 101 Huse, Norbert (Hrsg.): Vier Berliner Siedlungen der Weimarer Republik. Britz, Onkel Toms Hütte, Siemensstadt, Weiße Stadt, Ausst.-Kat. Berlin 1984 – 85. Berlin 1984: Abb. 112 Kürvers, Klaus / Geist, Johann Friedrich: Das Berliner Mietshaus 1862 – 1945. München 1984: Abb. 82 Kultermann, Udo: Kenzo Tange. 1946 – 1969. Architecture and Urban Design. Zürich 1970: Abb. 146 Le Corbusier, Urbanisme. Paris 1925: Abb. 106 Le Corbusier / Willy Boesiger: Œuvre Complète. Le Corbusier et Pierre Jeanneret. Zürich 1937, Bd. I: Abb. 107 Ledoux, Claude-Nicolas: L’architecture considérée sous le rapport de l’art des mœurs et de la législation, Paris 1804: Abb. 48 Lupfer, Gilbert / Sigel, Paul: Walter Gropius. 1883 – 1969. Propagandist der neuen Form. Taschen 2004: Abb. 116 Magnago Lampugnani, Vittorio / Schneider, Romana: Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Expressionismus und Neue Sachlichkeit. Stuttgart 1994: Abb. 115 MacLamprecht, Barbara: Richard Neutra (Complete Works). Köln und London 2000: Abb. 128, 129 McKean, John: Crystal Palace. Joseph Paxton and Charles Fox. London 1994: Abb. 65 McQuaid, Matilda: Visionen und Utopien. Architekturzeichnungen aus dem Museum of Modern Art [Katalog zur Ausstellung: Frankfurt a. M., Schirn Kunsthalle, 29.04. – 03.08.2003], New York / London: Abb. 41 Moatti, Jacques, Beauvert, Thierry, Kahane, Martine, Die Pariser Oper. Das „Palais Garnier“. Ein Gesamtkunstwerk. Tübingen 1988: Abb. 73 Nerdinger, Winfried / Oechslin, Werner: Gottfried Semper 1803 – 1879. Architektur und Wissenschaft. Ausst. Kat. München u. Zürich 2003. München, Berlin, London, New York u. Zürich 2003: Abb. 60 Nerdinger, Winfried (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit Eisen, Markus und Strobl, Hilde: L’Architecture Engagée. Manifeste zur Veränderung der Gesellschaft. Publikation zur Ausstellung des Architekturmuseums der Technischen Universität München in der Pinakothek der Moderne 14. Juni bis 02. September 2012. München 2012: Abb. 16 Paul, Christophe: Le béton armé et ses appli- cations. Paris 1902 Peyre, Marie-Joseph: Œuvres d’architecture de Marie-Joseph Peyre. Paris 1765: Abb. 39 Port, Michael Harry: The Houses of Parliament, New Haven 1976: Abb. 59 Rykwert, Joseph: Louis Kahn. New York 2001: Abb. 148, 149 Scheider, Bernhard: Daniel Libeskind. Jüdisches Museum Berlin. München 1999: Abb. 160 Schmidt, Johann-Karl / Zeller, Ursula: Behnisch & Partner. Bauten 1952 – 1992. Stuttgart 1992: Abb. 153 Schneider, Richard (Hrsg): Berlin um 1900. Berlin 2004: Abb. 7 Schumann-Bacia, Eva: Die Bank von England. Und ihr Architekt John Soane. München / Zürich 1989: Abb. 12 Stichweh, Dirk / Machirus, Jörg: New York Skyscrapers. München u. a. 2009: Abb. 28 Taut, Bruno: Die Stadtkrone. Jena 1919: Abb. 40
Toman, Rolf (Hrsg.): Wien. Kunst und Architektur. Königswinter 1999: Abb. 75, 76 Toman, Rolf (Hrsg.): Wien. Kunst und Architektur. Potsdam 2010: Abb. 91 Troost, Gerdy: Das Bauen im neuen Reich. Bayreuth 1938: Abb. 126 TU Berlin, Architekturmuseum: Abb. 1 Underwood, David: Oscar Niemeyer and the architecture of Brazil. New York 1994: Abb. 31 Universität Freiburg, Diathek: Abb. 47 Venturi, Robert / Scott Brown, Denise: Learning from Las Vegas. Cambridge / London 1972: Abb. 42 Voigt, Wolfgang (Hrsg.): Gottfried Böhm. Ausst.-Kat. Frankfurt / M. 2006. Berlin 2006: Abb. 151 Warncke, Carsten-Peter: Das Ideal als Kunst. De Stijl 1917 – 1931. Köln 1990: Abb. 21 Weiss, Thomas / Quilitzsch, Uwe (Hrsg.): Den Freunden der Natur und Kunst. Das Gartenreich des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau im Zeitalter der Aufklärung. Ostfildern-Ruit 1997: Abb. 43 Weston, Richard: Alvar Aalto. London 1995: Abb. 138 Wilson, Richard Guy (Hrsg.): Thomas Jefferson’s Academical Village. The Creation of an Architectural Masterpiece. Charlottesville und London 2009: Abb. 51 Zadow, Mario: Karl Friedrich Schinkel. Berlin 1980: Abb. 52 Zanten, David van: Sullivan’s City. The Meaning of Ornament for Louis Sullivan. New York 2000: Abb. 84, 85
Internetquellen http://m.cdn.blog: Abb. 135 www.goetheanum.org: Abb. 110 www.sachsen-erkunden.de: Abb. 96 Wiki Commons: Abb. 4 (Traktorminze), Abb. 5 (Berthold Werner), Abb. 6 (Beek100), Abb. 9 (Marc Ryckaert), Abb. 10 (BotMultichillT), Abb. 11 (Tomasz Sienicki), Abb. 15 (Benh Lieu Song), Abb. 17 (UpstateNYer), Abb. 18 (RillkeBot), Abb. 20 (Gryffindor), Abb. 23 (Dreizung), Abb. 24 (NVO), Abb. 27 (Shaqspeare), Abb. 30 (Steven Pavlov), Abb. 33 (Dmitry Avdeev), Abb. 34 (WiNG), Abb. 35 (Phillip Maiwald), Abb. 36 (Jean-Louis Zimmermann), Abb. 37 (Alexandru.giurca), Abb. 38 (K. Weisser), Abb. 46 (Masei1202), Abb. 51 (YF12s), Abb. 58 (David Hunt), Abb. 62 (Ingersoll), Abb. 63 (Mbzt), Abb. 64 (Marie-Lan Nguyen), Abb. 65 (Hohum), Abb. 67 (Tldtld), Abb. 74 (Amadalvarez), Abb. 80 (Jean-Christophe Benoist), Abb. 81 (Stefan Bauer), Abb. 87 (Oliver Raupach), Abb. 90 (Bwag), Abb. 92 (G8w), Abb. 100 (lykantrop), Abb. 108 (Andreas 2309), Abb. 137 (Noroton), Abb. 142 (Mario Roberto Duran Ortiz), Abb. 143 (A C Moraes), Abb. 150 (duncid - KIF_4646_Pano), Abb. 163 (Helge Fahrnberger), Abb. 164 (Manuel Herz Architects), Abb. 165 (Diego Delso)
Trotz sorgfältiger Recherche ist es nicht immer möglich, die Inhaber von Urheberrechten zu er- mitteln. Berechtigte Ansprüche werden selbstver- ständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgeglichen.
Christian Freigang ist Professor für Kunst- und Architektur geschichte an der Freien Universität Berlin. Forschungs schwerpunkte sind die Architekturgeschichte des Mittelalters und des 19. bis 20. Jahrhunderts, Architekturtheorie und -wahrnehmung sowie die Geschichte der Kunstgeschichte.
Christian Freigang
Von der Französischen Revolution bis heute, vom Klassizis mus bis zur Postmoderne spannt sich der Bogen dieser Architekturgeschichte. Sie verbindet die Vorstellung promi nenter Schlüsselwerke mit einer allgemeinen Charakte ristik der historischen und baukünstlerischen Entwicklung. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Europa, doch kommen auch Beispiele von anderen Kontinenten zur Sprache. Die Einbettung der Bauten in den kulturgeschichtlichen, theo retischen und politischen Kontext ist integraler Bestandteil der Architekturbeschreibung. Materialien, Organisationen, Bauausstellungen, Denkmalpflege und Stararchitekten werden kompetent diskutiert.
Die Moderne
Die Vielfalt der Stile
Die Moderne
wbg Architekturgeschichte
Christian Freigang
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27023-1
9 783534 270231 WBG Architekturgeschichte_Moderne_RZ4.indd 1
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