Das Magische des Films: Ein Beitrag zur Frage der Wirksamkeit magischer Einflüsse in der Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung des Films [1. Aufl.] 9783839430033

Hans Arnold's 1949 study »the magic of film« is a central document from the early history of German film and media

170 94 2MB

German Pages 294 [292] Year 2015

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
Heiko Christians: Filmwissenschaft und Volkskunde? Eine Verortung
DAS MAGISCHE DES FILMS
Einleitung
I. Teil: Das magische Welterleben
Zur Phänomenologie des magischen Welterlebens
Magische Praktiken als Erscheinungsformen magischen Welterlebens
Die primitiven Seelenvorstellungen als Erscheinungsformen magischen Welterlebens
Die primitiven Kräftevorstellungen als Erscheinungsformen magischen Welterlebens
Totemismus, Tabuismus und Fetischismus als Erscheinungsformen magischen Welterlebens
Charakteristische Wesensmerkmale phänomenal magischen Welterlebens
Sage und Märchen als Gestaltungsformen magischen Welterleben
Das magische Welterleben als Wesensbegriff
Erscheinungsformen offensichtlich magischen Welterlebens in der Gegenwart
Erscheinungsformen verdeckt magischen Welterlebens in der Gegenwart
Zur individuellen Psychologie des magischen Welterlebens
Horizontale Sicht: Die Beziehungen zwischen dem ICH und der Umwelt und ihre genetische Akzentuierung
Vertikale Sicht: Die Beziehungen zwischen dem ICH und den innerseelischen Wirksamkeiten
Der tiefenpsychologische Gesichtspunkt
Persönlichkeitstypen
Die Wirksamkeit des Magischen Welterlebens
II. Teil: Das Magische des Films
Die Ursprünge des Films
Die Mittel des Film
Die elementaren Mittel
Die Einstellung
Schnitt und Montage
Der Trick
Die Welt des Films
Die Welt des Films als Märchenwelt
Die magische Struktur der filmischen Welt
Die Welt des Films als typische Welt
Die Realität des Irrealen
Die Wirkung des Films
Der Film als Kunst
Die Wirklichkeit einer Scheinwelt
Film, Volk und Masse
Zusammenfassung und Schluss
Anhang
Die in der Arbeit behandelten Filme
Literaturnachweis
Lebenslauf
Hans Arnold: Nachwort
Recommend Papers

Das Magische des Films: Ein Beitrag zur Frage der Wirksamkeit magischer Einflüsse in der Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung des Films [1. Aufl.]
 9783839430033

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Hans Arnold Das Magische des Films

Band 17

2015-01-14 09-22-55 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01a8387627272920|(S.

1-

4) TIT3003.p 387627272928

Editorial Medien entfachen kulturelle Dynamiken; sie verändern die Künste ebenso wie diskursive Formationen und kommunikative Prozesse als Grundlagen des Sozialen oder Verfahren der Aufzeichnung als Praktiken kultureller Archive und Gedächtnisse. Die Reihe Metabasis (griech. Veränderung, Übergang) am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam will die medialen, künstlerischen und gesellschaftlichen Umbrüche mit Bezug auf unterschiedliche kulturelle Räume und Epochen untersuchen sowie die Veränderungen in Narration und Fiktionalisierung und deren Rückschlag auf Prozesse der Imagination nachzeichnen. Darüber hinaus werden Übergänge zwischen den Medien und ihren Performanzen thematisiert, seien es Text-Bild-Interferenzen, literarische Figurationen und ihre Auswirkungen auf andere Künste oder auch Übersetzungen zwischen verschiedenen Genres und ihren Darstellungsweisen. Die Reihe widmet sich dem »Inter-Medialen«, den Hybridformen und Grenzverläufen, die die traditionellen Beschreibungsformen außer Kraft setzen und neue Begriffe erfordern. Sie geht zudem auf jene schwer auslotbare Zwischenräumlichkeit ein, worin überlieferte Formen instabil und neue Gestalten produktiv werden können. Mindestens einmal pro Jahr wird die Reihe durch einen weiteren Band ergänzt werden. Das Themenspektrum umfasst Neue Medien, Literatur, Film, Kunst und Bildtheorie und wird auf diese Weise regelmäßig in laufende Debatten der Kultur- und Medienwissenschaften intervenieren. Die Reihe wird herausgegeben von Heiko Christians, Andreas Köstler, Gertrud Lehnert und Dieter Mersch.

Hans Arnold (Dr. phil.), geb. 1923, ist deutscher Diplomat und Publizist. Er war u.a. Botschafter in Den Haag und Rom, Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen in Genf und 1966-68 Büroleiter von Willy Brandt. Seit 1987 ist er im Ruhestand. Er hat einen Lehrauftrag an der Hochschule für Politik München.

2015-01-14 09-22-55 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01a8387627272920|(S.

1-

4) TIT3003.p 387627272928

Hans Arnold

Das Magische des Films Ein Beitrag zur Frage der Wirksamkeit magischer Einflüsse in der Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung des Films (neu herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Heiko Christians und mit einem aktuellen Nachwort des Verfassers)

2015-01-14 09-22-55 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01a8387627272920|(S.

1-

4) TIT3003.p 387627272928

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2015 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Justin Hanney Satz: Hans Kannewitz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3003-9 PDF-ISBN 978-3-8394-3003-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2015-01-14 09-22-55 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01a8387627272920|(S.

1-

4) TIT3003.p 387627272928

Inhalt Vorbemerkung Heiko Christians:  Filmwissenschaft und Volkskunde? Eine Verortung

7

9

DAS MAGISCHE DES FILMS Einleitung

41

I. Teil:  Das magische Welt­er­leben Zur Phänomenologie des magischen Welt­er­lebens

53

Magische Praktiken als Erscheinungsformen magischen Welt­er­lebens ( 53 ) Die primitiven Seelenvorstellungen als Erscheinungsformen magischen Welt­er­lebens ( 55 ) Die primitiven Kräftevorstellungen als Erscheinungsformen magischen Welt­er­lebens ( 61 ) Totemismus, Tabuismus und Fetischismus als Erscheinungsformen magischen Welt­er­lebens ( 64 ) Charakteristische Wesensmerkmale phänomenal magischen Welt­er­lebens ( 67 ) Sage und Märchen als Gestaltungsformen magischen Welt­er­lebens ( 76 ) Das magische Welt­er­leben als Wesensbegriff ( 79 ) Erscheinungsformen offensichtlich magischen Welt­er­lebens in der Gegenwart ( 84 ) Erscheinungsformen verdeckt magischen Welt­er­lebens in der Gegenwart ( 101 )

Zur individuellen Psychologie des magischen Welt­er­lebens Horizontale Sicht: Die Beziehungen zwischen dem ICH und der Umwelt und ihre genetische Akzentuierung ( 106 ) Vertikale Sicht: Die Beziehungen zwischen dem ICH und den innerseelischen Wirksamkeiten ( 131 ) Der tiefenpsychologische Gesichtspunkt ( 136 )

105

Persönlichkeitstypen ( 147 ) Die Wirksamkeit des Magischen Welt­er­lebens ( 155 )

II. Teil:  Das Magische des Films Die Ursprünge des Films

163

Die Mittel des Films

173

Die elementaren Mittel ( 173 ) Die Einstellung ( 185 ) Schnitt und Montage ( 193 ) Der Trick ( 199 )

Die Welt des Films

203

Die Welt des Films als Märchenwelt ( 203 ) Die magische Struktur der filmischen Welt ( 212 ) Die Welt des Films als typische Welt ( 222 ) Die Realität des Irrealen ( 229 )

Die Wirkung des Films

233

Der Film als Kunst ( 233 ) Die Wirklichkeit einer Scheinwelt ( 241 ) Film, Volk und Masse ( 249)

Zusammenfassung und Schluss

259

Anhang

263

Die in der Arbeit behandelten Filme ( 263 ) Literaturnachweis ( 268 ) Lebenslauf ( 273 )

Hans Arnold:  Nachwort

275

Vorbemerkung Diese Neuedition ist ein Gemeinschaftswerk von Heiko Christians, Kai Philip Giersberg, Philippa Halder, Justin Hanney, Lisa Janowitz, Tanja Lemke, Gregor Murek und Julia Ostrowski. Ein persönliches Wort sei uns hier erlaubt: Ohne die Mithilfe von Hans Arnold wäre diese Neuedition seiner Münchner Dissertationsschrift von 1949 nicht möglich gewesen. Als wir ihn das erste Mal Anfang 2013 kontaktierten, reagierte er so bescheiden wie humorvoll auf diese Ausgrabung. Dann aber war er äußerst hilfsbereit, stellte uns sein eigenes, in Leinen gebundenes Exemplar der Doktorarbeit zur Verfügung, las schließlich den von uns neu eingerichteten Text sorgfältig Korrektur. Wir durften wunderbare Gespräche in Potsdam und in Riedering mit ihm führen und er gab bereitwillig Auskunft über Details der Entstehung der jetzt hier wieder vorgelegten Schrift. Hans Arnold hat uns beeindruckt – mit einer großen Begeisterungsfähigkeit für unser Projekt, das doch so sehr an seinen Fragestellungen hing. Bei ihm möchten wir uns bedanken.

Heiko Christians

Filmwissenschaft und Volkskunde ? Eine Verortung Die Frage, die man dem Film stellen muss, lautet, warum der Abend im Indischen Salon des ›Grand Café‹ in die Geschichte eingeht und wie der Film zur Volkskunst des 20. Jahrhunderts avancieren kann. Béla Balázs

Disziplin und Doktorvater Hans Arnolds Dissertationsschrift Das Magische des Films. Ein Beitrag zur Frage der Wirksamkeit magischer Einflüsse in der Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung des Films von 1949 lag bisher nur als Typoskript und in wenigen Exemplaren vor. Sie wird hier erstmals einer breiten Öffentlichkeit als vom Autor durchgesehene Buchpublikation zugänglich gemacht. Damit soll ein verschollenes Kapitel aus der Geschichte der deutschsprachigen Filmund Medienwissenschaft wieder aufgeschlagen werden. Der Kriegsteilnehmer Hans Arnold reichte seine Dissertation Ende der 1940 er Jahre an der Philosophischen Fakultät der Universität München ein. Erster Betreuer dieser Arbeit war der Volkskundler Prof. Dr. Rudolf Kriss aus Berchtesgaden. Kriss war ab 1933 Leiter der volkskundlichen Sammlung der Universität Wien. 1935 erhielt er die Professur für Volkskunde. 1938 – mit dem sogenannten ›Anschluss‹ Österreichs an das Deutsche Reich – erging ein sofortiges Lehrverbot durch die Nationalsozialisten und die Professur fiel einem Parteimitglied der NSDAP zu.1 Am 25.  9.  1944 1 Vgl. Olaf Bockhorn (2010), »›Die Angelegenheit Dr. Wolfram, Wien‹ – Zur Besetzung der Professur für germanisch-deutsche Volkskunde an der Universität Wien«, in: Mitchell G. Ash / Wolfram Nieß  / Ramon Pils (Hg.), Geisteswissen-

9

HEIKO CHRISTIANS

wurde Rudolf Kriss wegen regimekritischer Äußerungen zum Tode verurteilt und anschließend zu lebenslanger Haft begnadigt. Hans Arnolds Doktorvater widmete sich mit seiner Arbeit vor allem den speziellen Bewegungs-, Bild- und Skulpturprogrammen des christlichen Laienvolks – u. a. den Votivgaben 2, den Wallfahrten und der Bauernmalerei 3. Dazwischen veröffentlichte er ein Grundlagenwerk zur bayerischen Volkskunde.4 Im Laufe seines Lebens sammelte Kriss etwa 14 000 Votivgaben und -tafeln.5 Sein letztes großes Werk von 1962 beschäftigte sich – nach ausgedehnten Forschungsreisen in der Nachkriegszeit – mit den ›Amuletten, Zauberformeln und Beschwörungen‹ als Medien des Volksglaubens im Islam.6 Erst nach diesen wenigen Andeutungen zur Spezifik und Bandbreite von Kriss’ Forschungen bekommt man eine Vorstellung von der frühen deutschen Volkskunde als einem Möglichkeitsraum für eine filmwissenschaftlich ausgerichtete Doktorarbeit. Einen ersten, naheliegenden Erklärungsversuch für diese Allianz gilt es im Folgenden genauer zu entfalten und zu prüfen: Das Volkstümliche oder Populäre früher Massen- oder Unterhaltungsmedien und das vermeintlich Zauberisch-hypnotische ihrer Effekte sind vergleichbar mit den durch Formeln, Plätze und Dinge vermittelten älteren religiösen (oder magischen 7) Praktiken des ›Laienvolks‹ und weckten frühzeitig das Interesse der noch jungen Disziplin der Volkskunde an dieser technischen Entwicklung. Heute wird in der Volkskunde oder Europäischen Ethnologie ganz selbstverständlich von solchen Parallelen und Zusammenhängen ausgegangen. Die Illustrationen der Romankolportage und ihre Bildlegenden sind hierfür ein gutes Beispiel:

10

schaf‌ten im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen, 199–224. 2 Rudolf Kriss (1929), Das Gebärmuttervotiv. Ein Beitrag zur Volkskunde, nebst einer Einleitung über Arten und Bedeutung der deutschen Opfergebräuche der Gegenwart, Augsburg. 3 Rudolf Kriss / Leopold Schmidt (1936), Bauernmalerei aus drei Jahrhunderten. Ausstellung in der Neuen Galerie (Katalog), Wien. 4 Rudolf Kriss (1933), Die religiöse Volkskunde Altbayerns. – Dargestellt an den Wallfahrtsbräuchen, Baden b. Wien. 5 Vgl. den Sammlungskatalog Lenz Kriss-Rettenbeck (1963), Bilder und Zeichen religiösen Volksglaubens. Rudolf Kriss zum 60. Geburtstag, München. 6 Rudolf Kriss (1962), Volksglaube im Bereich des Islam, Bd. 2: Amulette, Zauberformeln und Beschwörungen, Wiesbaden. 7 Zum Unterschied von magischen und religiösen Praktiken und Bräuchen vgl. Robert Pfaller (2007), »Die Rationalität der Magie und die Entzauberung der Welt in der Ideologie der Gegenwart«, in: (Zs.) Kultur & Gespenster 3, 15–35.

FILMWISSENSCHAFT UND VOLKSKUNDE ? EINE VERORTUNG

Ihr naiver Gestus knüpft an die Ikonographie von ABC-Fibeln und die populäre Gebärdenrhetorik der Moritatentafeln an, die selbst wiederum in mittelalterlichen Freskenzyklen und in der Votivmalerei ihre ikonographischen Vorläufer haben, im Stummfilm ihre Nachfolger. 8 Weiten wir aber – vor der Überprüfung der Ausgangshypothese – zunächst die Perspektive etwas aus: Die filmwissenschaftlichen Publikationen von Gewicht im deutschsprachigen Raum bis 1949 sind durchaus überschaubar. Arnolds Studie bezieht die Ergebnisse dieser Arbeiten von Emilie Altenloh 9, Béla Balázs 10, Rudolf Harms 11 oder Rudolf Arnheim 12 mit ein. Daneben finden auch einige unbekanntere Dissertationen und Studien aus der Theaterwissenschaft oder anderen Fächern, die den Film zum Gegenstand haben, noch Berücksichtigung.13 Bei allen genannten Versuchen ist – ganz ähnlich wie in der Gegenwart – zu beachten, von welchem disziplinären Wissen aus die jeweilige Studie ihr konzeptuelles Gerüst für den Gegenstand Film bezieht: Hier sind philosophische Ästhetik (R. Harms), Soziologie (E. Altenloh), Psychologie (H. Münsterberg), Kunstgeschichte (R. Arnheim), Gestaltphiloso8 Andreas Graf (1995), »Literarisierung und Kolportageroman. Überlegungen zu Publikum und Kommunikationsstrategie eines Massenmediums im 19. Jahrhundert«, in: Ursula Brunhold-Bigler / Hermann Bausinger (Hg.), Hören. Sagen. Lesen. Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen Kultur. Festschrif f. Rudolf Schenda z. 65. Geb., Bern, 277–291, hier: 290. 9 Emilie Altenloh (1914): Zur Soziologie des Kino. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, Jena. 10 Béla Balázs  (1924), Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Wien. 11 Rudolf Harms (1926), Philosophie des Films. Seine ästhetischen und metaphy­ sischen Grundlagen, Leipzig. 12 Rudolf Arnheim (1932), Film als Kunst, Berlin. 13 Vgl. Gerhard Eckert (1936), Gestaltungen eines literarischen Stoffes in Tonfilm und Hörspiel, Berlin; Walter Freisburger (1936), Theater im Film: Eine Untersuchung über die Grundzüge und Wandlungen in den Beziehungen zwischen Theater und Film, Emsdetten; Gunter Groll (1937), Film, die unentdeckte Kunst. (Zugleich Dissertation unter dem Titel: »Das Gesetz des Films«), München; Reinhold Johann Holtz (1940), »Die Phänomenologie und Psychologie des Trickfilms. Analytische Untersuchungen über die phänomenologischen, psychologischen und künstlerischen Strukturen der Trickfilmgruppe«. (Dissertation Universität Hamburg); Walter Panofsky (1940), Die Geburt des Films, ein Stück Kulturgeschichte. Versuch einer zeitgeschichtlichen Darstellung des Lichtspiels in seinen Anfangsjahren. (Zugleich Dissertation unter dem Titel: Die Entstehung des Films), Würzburg; Victor Schamoni (1936), Das Lichtspiel. Möglichkeiten des absoluten Films. (Zugleich Dissertation, Universität Münster), Hamm; Bruno Rehlinger (1938), Der Begriff Filmisch, Emsdetten; Gerhard Wahnrau (1939), Spielfilm und Handlung, Rostock.

11

HEIKO CHRISTIANS

phie (B. Balázs) oder Literaturwissenschaft (R. Petsch) im Angebot. Von der frühen Volkskunde aus wurde eine solche Erkundung der disziplinären Nachbarschaft schon 1925 mit dem ersten ›Jahrbuch für historische Volkskunde‹ eröffnet, das unter dem programmatischen Titel ›Die Volkskunde und ihre Grenzgebiete‹ von Wilhelm Fraenger herausgegeben wurde.14

Geschichte der Volkskunde Bei Hans Arnolds Dissertation liegt die Sache – wie schon angedeutet – noch etwas anders, denn die titelgebende Magie war ein etablierter Gegenstand der im angelsächsischen Raum aus der Klassischen Philologie hervorgegangenen Sozialanthropologie und der in Frankreich aus der Soziologie entstandenen Religionsethnologie. In Deutschland hingegen war es vor allem jene sogenannte Volkskunde, die sich dem Magischen oder den magischen Praktiken und Texten zuwandte. Um die Zuständigkeit der Volkskunde für die magischen Praktiken, den Komplex Magie, zu verstehen, muss man allerdings die Geschichte dieser Disziplin, ihre schließliche Abtrennung von einer Völkerkunde im Deutschen Reich, erläutern, um dann ihre Affinität zur Medienthematik und speziell zum Film erörtern zu können. Die Volkskunde wurde 1782 15 oder 1787 16 erstmals so genannt und war noch der in Staatskunde und Landeskunde untergliederten Statistik zugehörig. Die sich aus diesem geographisch-nationalkundlichen Zusammenhang heraus entwickelnde Volkskunde klassifizierte später die angeblich mündlichen Überlieferungen eines zunächst mehr imaginierten als bestehenden Volkes, dessen wiederentdeckte ›Zeugnisse‹ einem zukünftigen Staatsvolk als Orientierung aus der Vergangenheit dienen sollten: 12

Vom Volkslied bis zum Volksschauspiel, vom Sprichwort bis zum Rätsel, vom Volksmärchen bis zur Volkssage, vom Necknamen bis zur Volkssprache . 17 14 Wilhelm Fraenger (Hg.) (1925), Jahrbuch für historische Volkskunde, Bd. 1, Die Volkskunde und ihre Grenzgebiete, Mit Beiträgen von J. Bolte, H. Fehr, L. Mackensen, R. Petsch, H. Naumann, W. Fraenger, A. u. M. Haberlandt u. E. Frh. v. Künßberg, Berlin. 15 Vgl. Uli Kutter (1978), »Volks-Kunde – Ein Beleg von 1782«, in: Zeitschrift für Volkskunde 74, 161–166. 16 Hermann Bausinger (1987), Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kultur­analyse (1971), Tübingen, 29.

FILMWISSENSCHAFT UND VOLKSKUNDE ? EINE VERORTUNG

»Die Volkskunde ist ihrem Begriff nach vergleichend«, vermerkte Wilhelm Heinrich Riehl 1862 ,18 der eine solche dem Begriff nach als eigenständige Wissenschaft als erster forderte. In ihrem Zentrum stand ein ›philologisch-historisches Interesse an den populären Daten der Kultur‹ (H. Bausinger) 19. Zu solcher Datensammlung hatte 1815 schon Jacob Grimm von Wien aus mit einem denkwürdigen Zirkular an »interessierte Forscher aus ganz Mittel­europa« 20 aufgerufen, das er wenige Jahre später für Westfalen wiederholte 21. Der Theologe und Philologe Karl Bernhardi hatte 1841 zur Erstellung einer umfassenden deutschen Sprachkarte gefordert, dass »die Forscher von Dorf zu Dorf, von Feldstein zu Feldstein wandern« 22. In England prägte 1846 William John Thoms den Begriff der ›Folklore‹ für die ›Volksüberlieferung‹, der sich schnell ausbreiten sollte.23 Hans-Harald Müller hat darauf hingewiesen, dass solche empiriegesättigte Märchen- und Mythenforschung der Gebrüder Grimm, der Indologie und der (englischen) Anthropologie die Kenntnis der europäischen und überseeischen Märchen im 19. Jahrhundert auf ein unüberschaubares Maß anwachsen ließen und damit neue Mittel für deren Vergleichung zu einer Voraussetzung für die weitere Forschung wurden.24 Die Lage im deutschsprachigen Raum war folgerichtig noch etwas spezieller, da hier die überseeischen Ursprungs-Ressourcen durch kontinentale pangermanisch-bäuerliche ersetzt werden mussten. Wilhelm Mannhardt initiierte 1865 eine gigantische Fragebogenaktion für seine ›Sammlung der Ackergebräuche‹, er verschickte 100 000 oder sogar 150 000 davon in »Deutschland, Österreich, Ungarn, Polen, Litauen, Skandinavien, Holland, Frankreich, der Schweiz« 25, um diese Völker zu ermuntern, nun 17 Ebd., 7. 18 Nach Gerhard Heilfurth (1974), »Volkskunde«, in: René König (Hg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 4, Komplexe Forschungsansätze (1962), 3. um­­­gearb. u. erw. Aufl., Stuttgart, 162–225, hier: 167. 19 Bausinger, Volkskunde, 1987, 41. 20 Heilfurth, Volkskunde, 1974, 173. 21 Vgl. Ingeborg Weber-Kellermann (1969), Deutsche Volkskunde zwischen Germanistik und Sozialwissenschaf‌ten, Stuttgart, 20. 22 Zit. n. Bausinger, Volkskunde, 1987, 53. 23 Vgl. Heilfurth, Volkskunde, 1974, 167. 24 Hans-Harald Müller (2010), »Formalistische und strukturalistische Theorieansätze um 1910«, in: ders./ Marcel Lepper/ Andreas Gardt (Hg.), Strukturalismus in Deutschland: 1910–1975, Göttingen, S.217–228, hier: S.218. 25 Ebd., 173 bzw. Bausinger, Volkskunde, 1987, 49.

13

HEIKO CHRISTIANS

Gau für Gau jene Dinge, welche im Leben untergehen und untergehen sollen, für den Gebrauch der Wissenschaft zu retten, da die alten Traditionen unter dem Sturmschritte der modernen Kultur in schnellwachsender Proportion verschwinden. 26 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts trennt sich in Deutschland die Volkskunde endgültig von der Völkerkunde ab. 1891 wurde die 1859 von Moritz Lazarus und Heyman Steinthal gegründete ›Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft‹ durch Karl Weinhold als ›Zeitschrift für Volkskunde‹ fortgesetzt.Weinhold hatte ein Jahr zuvor auch den Berliner (und damit ersten deutschen) ›Verein für Volkskunde‹ gegründet.27 In den ohnehin recht pauschal als germanisch-bäuerlich adressierten Staaten Finnland, Dänemark, Norwegen oder Schweden aber wurden gleichzeitig volkskundliche Forschungsansätze entwickelt, die gerade im deutschsprachigen Raum auf große Resonanz stießen. 1907 schließlich begann »die organisierte internationale Arbeit mit dem ›Folkloristischen Forscherbund‹ mit Sitz in Helsinki« 28. 1909 wurde in Heidelberg die Zeitschrift ›Wörter und Sachen‹ von dem Indogermanisten Rudolf Meringer gegründet, 1919 in Hamburg das erste Ordinariat für Altertums- und Volkskunde eingerichtet.29 Die Mittel für die ›Vergleichungen jener Dinge‹ waren im angelsächsischen, skandinavischen und im deutschen Sprachraum in der Regel zunächst philologische. Zentral waren jene motivisch-formalen Charakterisierungen der einzelnen Elemente der Genres, wie der dänische Volkskundler Axel Olrik sie 1909 – immer noch in Grimmscher Kleinschreibung – zusammenfassen konnte:

14

das gesetz des einganges und des abschlusses, die widerholung, die dreizahl, die scenische zweiheit, das gesetz des gegensatzes, das zwillingsgesetz, das achtergewicht, die einsträngigkeit, die schematisierung, die plastik, die logik der sage, die einheit der handlung (die epische und die ideale einheit), die concentration um die hauptperson (sowol die vollkommene als in gewissen fällen die formale concentration). 30

26 Wilhelm Mannhardt, Roggenwolf und Roggenhund, Danzig (1865), zit. n. Heilfurth, Volkskunde, 1974, 168. 27 Bausinger, Volkskunde, 1987, 50 u. Weber-Kellermann, Volkskunde, 1969, 46. 28 Heilfurth, Volkskunde, 1974, 170. 29 Dazu Gudrun M. König, »Europäische Ethnologie / Empirische Kulturwissen­ schaft«, in: Stefanie Samida et al. (Hg.) (2014), Handbuch Materielle Kultur. Be­ deutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart, 279–287, hier: 280  f.

FILMWISSENSCHAFT UND VOLKSKUNDE ? EINE VERORTUNG

Andererseits ist es die Zuordnung innerhalb eines neuen, immer differenzierteren Genrekanons aus Märchen, Sage, Epos usw., wie sie ihren vorläufigen Höhepunkt in der deutschsprachigen Volkskunde dann 1930 in André Jolles (fast schon wieder abschließend und enzyklopädischem) Klassiker Einfache Formen. Legende / Sage / Mythe /Rätsel /Spruch / Kasus /Memorabile /Märchen /Witz findet.

Volks- oder Alltagsnähe, Wissenschaft und Medienstandards Man kann deshalb sagen, dass die eigentliche Innovation dieser Entwicklung aus der Volkskunde darin bestand, dass die kleinen Genres in ihrer Entstehung (wieder) situativer und plastischer vorgestellt werden konnten: Witz, Anekdote, Rätsel, Spruch usw. – hier lag die Mündlichkeit als Ursprungsszenario mehr als nahe. Damit war scheinbar eine Alltags- oder Lebensnähe der Literatur und Wissenschaft zurückgewonnen, welche dem bloßen Versammeln und der Vergleichung der Belege wieder eine gewisse soziale oder kommunikative Relevanz – jenseits von (›toter‹) systematischer Begriff‌lichkeit oder vergleichender Grammatik und Etymologie – einzuhauchen versprach. Diese Revitalisierung im Zeichen von Mündlichkeit oder Situationalität rückte tatsächlich aber die Wissenschaf‌ten auch wieder an die Medienstandards des ausgehenden 19. Jahrhunderts heran. Lebendigkeit (die vividitas der Rhetoriktradition) oder Anschaulichkeit beispielsweise waren von jeher Zielwerte und Leistungsparameter medialer Apparaturen, die von den modernen Medientechniken zunehmend besser erbracht werden konnten. Der gesamte wissenschaftliche und protowissenschaftliche Magie-Diskurs, der explizit seit der Frühen Neuzeit immer wieder auch die Imaginationskraft thematisierte,‌31 bearbeitete dann auch die Komplexe Trance, Delirium, Besessenheit, Hysterie, Ekstase, Hypnose oder Traum und die performativen Sprechakte des Fluchs, des Schwurs bzw. der Beschwörung. So entstand etwa der genannte diagnostisch-syptomatische Komplex der Hysterie beinahe in Wechselwirkung mit Photographie und Kinematographie.32 Der 30 Axel Olrik (1909), Epische Gesetze der Volksdichtung, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 5, 1–12, hier: 11. Hinweis bei Müller, »Formalistische und strukturalistische Theorieansätze um 1910«, 219. 31 Vgl. Hannah Baader (2005), »Neuzeitliche Magie als Theorie der Ansteckung und die Kraft der Imagination«, in: Mirjam Schaub et al. (Hg.), Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, München, 133–151. 32 Ramón Reichert (2006), »Das Kino in der Klinik. Medientechniken des Un-

15

HEIKO CHRISTIANS

Geschichte der Austauschbeziehungen zwischen Hypnose und Hysterie 33 und der frühen Filmgeschichte werden bis heute immer neue Kapitel und Pointen hinzugefügt. Diese Diskurse waren immer auch Diskurse über die Leistungsanforderungen an technische Medien, die als technische Einrichtung zwar etwas Neues waren, die aber eben in einem überlieferten Erwartungshorizont standen.34 Man kann das deutlich an der frühesten Auseinandersetzung mit der Kinematographie in der deutschen Wissenschaftstradition erkennen: Aber mit dem raschen Wechsel des Hintergrundes erlangt der Lichtspielkünstler auch ein Bewegungstempo, das die tatsächlichen Menschen hinter sich läßt. Von hier war es nur noch ein Schritt zur Darstellung von Handlungen, die in natura überhaupt nicht ausgeführt werden könnten. […] Für die Kamera sind solche magischen Wunder nicht schwierig, aber kein Theater könnte jemals versuchen, sie zu vollbringen. 35 Gerade als ein Maßstab für Evidenz (in den Wissenschaf‌ ten) sind die Leistungen medialer Unterhaltungsumgebungen, denen bis heute immer wieder unter der Überschrift ›Verführung‹ oder ›Medienkritik‹ eine gefährliche Nähe zur Magie und Hexerei attestiert wird, nicht zu unterschätzen. Natürlich werden sie nicht explizit übernommen (das wäre ›unwissenschaftlich‹), aber sie diffundieren – schon ob ihres permanenten Erfolgs – in den Diskurs über ›erfolgreiche‹ oder ›relevante‹ Wissenschaft, der wiederum (bis heute) öffentlich geführt wird.

16

bewussten um 1900«, in: Kristina Jaspers / Wolf Unterberger (Hg.), Kino im Kopf. Psychologie und Film seit Sigmund Freud, Berlin, 23–29. 33 Vgl. Stefan Andriopoulos (2000), Besessene Körper. Hypnose, Körperschaf‌‌ten und die Erfindung des Kinos, München und Hermann Kappelhoff, »Das Privattheater der Hysterikerin und die Szene der melodramatischen Heroine. Zur ›psychischen Infektion‹ des weinenden Publikums«, in: Schaub, Ansteckung, 2005, 187–197. 34 Eine faszinierende Kulturgeschichte entlang dieser Symptomatik liefert (unter Berücksichtigung vieler medienhistorischer Details) immer noch Joachim Radkau (1998), Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München. 35 Hugo Münsterberg, »Warum wir ins Kino gehen« (1915), in: Dimitri Liebsch (Hg.) (2006), Philosophie des Films. Grundlagentexte, Paderborn, 27–36, hier: 31. Münsterberg, Psychologe und Mediziner aus der Leipziger Schule des ›Völkerpsychologen‹ Wundt, Professor an der Harvard University von 1897–1916, hat 1916 das Pionierwerk The Photoplay. A Psychological Study veröffentlicht, die erst 1996 ins Deutsche übersetzt wurde.

FILMWISSENSCHAFT UND VOLKSKUNDE ? EINE VERORTUNG

Diese Medienstandards hatten sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entscheidend gewandelt: Neue Medien (und neue Vertriebswege) wie die Historienmalerei, das Panorama oder die Photographie, das Volkstheater, die lithographisch illustrierten Unterhaltungsbücher (aus der Schnellpresse) oder die Kolportage-­ Romane hatten die Erwartungen an die Medien wie an die Wissenschaft umgekrempelt.36 Walter Benjamin beschrieb genau diese Entwicklung als entscheidendes Momentum der Industriegesellschaft: Popularisierung war noch vor wenigen Jahren ein bedenkliches Grenzland der Wissenschaft. Seit kurzem hat sie mit Hilfe der großen Ausstellungen, das heißt aber mit Hilfe der Industrie, sich emanzipiert. In der Tat: die außerordentlichen Verbesserungen, die in die Technik der Veranschaulichung eingeführt wurden, sind nur die Kehrseite der Reklame. 37 Ein ganz kurzer Seitenblick auf die internationale Vorgeschichte der Medienwissenschaft sei hier bei den gerade gegebenen Stichworten ›Industrie‹ und ›Reklame‹ noch gestattet: Es ist allgemein üblich, Marshall McLuhans Institutsgründung an der Universität von Toronto 1967 38 und seine beiden, diese Gründung vorbereitenden Bücher The Gutenberg Galaxis: The Making of Typographic Man (1962) und Understanding Media. The Extensions of Man (1964) als Takeoff einer selbstständigen Medienwissenschaft zu betrachten. Vieles spricht nach wie vor dafür. Doch sollte gerade bei diesen Stichwörtern auch seine Studie zur Folklore of Industrial Man von 1951 Berücksichtigung finden, deren Grundlage eine von McLuhan schon in den 1930 er Jahren angelegte Sammlung von Werbe-Anzeigen war.39 36 Vgl. Hans-Otto Hügel, »Belehrung und Unterhaltung. Die Diskussion um das populäre Sachbuch in den ›Blättern für literarische Unterhaltung‹ (1818– 1895)«, in: Michael Simon et al. (Hg.) (2009): Bilder. Bücher. Bytes. Zur Medialität des Alltags, Münster, 200–210. 37 Walter Benjamin, »Jahrmarkt des Essens. Epilog zur Berliner Ernährungsausstellung (1928)«, in: ders., Gesammelte Schrif‌ten IV. 1/2, Tillman Rexroth (Hg.), (= Werkausgabe Bd. 11), Frankfurt/M. (1980), 527–533, hier: 526. Für den Hinweis danke ich Daniela Döring. 38 Vgl. zur Programmatik des Instituts oder Centers Philip Marchand (1999), Marshall McLuhan. Biographie (1989), Stuttgart, 230  f. 39 Vgl. M. McLuhan (1996), Die mechanische Braut. Volkskultur des industriellen Menschen, Amsterdam. Zur (Vor-) Geschichte diesen Buchs vgl. Jürgen Reuß / Rainer Höltschl, »Mechanische Braut und elektronisches Schreiben. Zur Entstehung und Gestalt von Marschall McLuhans erstem Buch«, ebd., 233–247.

17

HEIKO CHRISTIANS

Medium und Magie Media diaphana – durchsichtige Stoffe wie Wasser, Luft oder Kristalle, aber auch Äther beziehungsweise alles durchdringende Kräf‌te und Fluida – galten seit der Antike als Mittel zur Wahrnehmung.40 Durch die Mechanisierung des Sehens und das Auf‌kommen von optischen Instrumenten wie Teleskopen, Brillen, Linsen und Mikroskopen um 1600 konnte bislang ›Unsichtbares‹ erforscht werden. Gleichzeitig gewannen die Camera Obscura und die Laterna Magica als Unterweisungs- und Unterhaltungsmedien, als technische Wahrnehmungsmittel an Popularität.41 Als der historische Doktor Faust – Georg von Heidelberg – in der Mitte des 16. Jahrhunderts an der Erfurter Universität Vorlesungen über Homers Ilias hielt, sagte er den verblüff‌ten Studenten zu, dass Mitten in seiner lection, nur ietzt sollten sie die alten Griechischen helden zu sehen bekommen. Flugs rief er einen nach dem andern hinein, und trat jetzt dieser, darnach ein ander, wenn jener wieder hinaus war, zu ihnen daher, sahe sie an, und schüttelte seinen kopf, wie wenn er noch vor Troja im feldt agirte. Der letzte unter allen war der Riese Polyphemus, der nur ein einig schrecklich grosz auge mitten an seiner Stirn hatte, trug sich mit einem langen fewerrohten Barte, frasz an einem Kerl, und liesz deszen schenckel zum maule herauszoten. 42

18

Moshe Idel, der diesen Fund aus Zacharias Hogels Chronik von Thüringen und der Stadt Erffurth präsentiert 43, lässt offen, welche Medientechnik genau bei diesen »ersten Lichtbildvorträgen, die an einer deutschen Universität gehalten wurden« 44, zur Anwendung kam. Die Wiederentdeckung und Weiterentwicklung der antiken Technologie der Lochkamera zur Camera Obscura und zur Laterna Magica, der sich Faust (oder Georg von Heidelberg) bedient haben dürf‌te, wird normalerweise mit der erst 100 Jahre später erfolgenden monographischen Funktionsbeschreibung durch Athanasius 40 Stefan Hoffmann (2002), Geschichte des Medienbegriffs, Hamburg, 34. 41 Ebd., 53–55. 42 Zit. n. Philip Mason Palmer / Robert Pattison More (1936), The Sources of the Faust Tradition. From Simon Magus to Lessing, New York, 108–110. 43 Hogels Chronik aus dem 17. Jahrhundert geht zurück auf die ältere Reichmann-Wambach-Chronik. (Vgl. Palmer  / More,  1936, 108). 44 Moshe Idel (2001), »Der Magus und seine Geschichte(n)«, in: Anthony Grafton  / Ders. (Hg.), Der Magus. Seine Ursprünge und seine Geschichte in verschiedenen Kulturen, Berlin, 1–26, hier: 23  f.

FILMWISSENSCHAFT UND VOLKSKUNDE ? EINE VERORTUNG

Kircher gleichgesetzt 45 – und erst Schillers Geisterseher machte sie dann endgültig berühmt.46 Allerdings gibt es schon 1420, in einer alten Handschrift, die (erste) Abbildung einer solchen Zauberlaterne, ‌ die »ein Teufelsbild auf die Wand projiziert« 47, also ›den Teufel an die Wand malte‹. Der Begriff Medium zeichnet sich durch einen doppelten Charakter aus – »nämlich einerseits etwas Materielles zu sein, anderer‌ seits aber auch eine Affinität zum Geistigen zu haben« 48. Durch die Erforschung von Phänomenen wie dem Magnetismus, der Wärme, des Lichts, der Elektrizität und der Auseinandersetzung mit dem Mesmerismus, sowie dem Mediumismus, Spiritismus und der Hypnose, ist diesem doppelten Charakter mehr Bedeutung zugekommen. Ganz abgesehen davon, dass viele magische und okkulte Praktiken – wie etwa spiritistische Seancen oder Geisterfotografien 49 – ihre Erklärung bzw. ihre Voraussetzung ausschließlich in den parallel laufenden Entwicklungsschüben wissenschaftlicher Diskurse (bzw. der Diskurse über Wissenschaftlichkeit 50) und technischer Einzelmedien (Telegraphie bzw. Photographie) finden. Ein zweiter Aspekt ist der Umstand, dass die Ausbreitung der zugehörigen Lehren – etwa des Mesmerismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts – publizistischen Kampagnen glichen und von zahllosen Neugründungen entsprechender Presseorgane oder der Produktion von einschlägigen Zirkularen begleitet wurden.51 Obwohl also der Begriff Medium auch weiterhin im Kontext von Refraktionsmedien und optischen Instrumenten verstanden wurde, gewann die spiritistische und somnambule Ausrichtung im 18. und 19. Jahrhundert an Wichtigkeit: 45 A.  Kircher (1645), Ars magna luci et umbrae in mundo, Rom. Kircher führte seinen Apparat ein Jahr später das erste Mal hohen kirchlichen Würdenträgern vor. 46 Schiller bediente sich in seinem Roman von 1788 allerdings fast wörtlich bei einer Vorlage – dem 1770 entstandenen Bericht eines Leipziger Kaffeehausbesitzers namens Schröpfer über eine von ihm mittels Zauberlaterne durchgeführte Geisterbeschwörung. Vgl. dazu F. Paul Liesegang (1918), Vom Geisterspiel zum Kino, Düsseldorf. 47 Rune Waldekrenz /  Verner Arpe (1956), Das Buch vom Film, Darmstadt / Berlin, 16. 48 Hoffmann, Geschichte, 2002, 37. 49 Vgl. jetzt Bernd Stiegler (2014), Spuren, Elfen und andere Erscheinungen. Conan Doyle und die Photographie, Frankfurt/M. 50 Vgl. Erhard Schüttpelz, »Mediumismus und moderne Medien. Die Prüfung des europäischen Medienbegriffs«, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 86. 1 (2012), 121–144. 51 Dazu Wolfgang Hagen (2001), Radio Schreber. Der ›moderne Spiritismus‹ und die Sprache der Medien, Weimar, 61–64.

19

HEIKO CHRISTIANS

Zum einen ging es um bis dahin unerkannte, um imponderabile Naturkräf‌te (oder ätherische bis fluidale Substanzen). Aber es ging auch – seit den wirkungsvollen Auf‌tritten des Magnetiseurs – um ein menschliches Vermögen des Initiators (einer Heilung, einer Beschwörung, einer somnambulen Manifestation), diese Kraft zu akkumulieren, sie auszubreiten und zu adressieren. 52 Während der etwas mehr als hundert Jahre zwischen 1784 und 1890 lief eine hitzige Debatte und langwierige Prüfung des Mediumismus, bei der es um einen Mediumismus mit fundamentalen wissenschaftlichen, religiösen und kosmologischen Ansprüchen ging – und auch um den Begriff des ›Mediums‹ selbst. 53

20

Ebenso wurde der unklare Charakter des Mediumismus, die Frage, ob er nun eigentlich »unerkannte, imponderabile Naturkräf‌te oder besondere menschliche Vermögen« 54 abrufe, thematisiert, wobei trotz der Strittigkeit die »Betonung der passiven Rezeptivität und Ichfremdheit der mediumistischen Abläufe« 55 überwog. Die Passivität des Rezipienten und ein aktives Verhalten des Mediums schien die Ausgangssituation diverser Trancezustände zu sein – allerdings eben auch im Falle moderner Mittel der Massenkommunikation.56 Dadurch erschien folgerichtig »jeder ›Hypnotismus‹ der Massenmedien im Gegenzug als etwas potenziell Archaisches«, so dass gerade die »jeweils neuen Massenmedien (Kino, Radio und sogar Fernsehen) als Figuren einer Rückkehr des Archaischen im Gewand moderner Technik und aktueller Sozialformen« 57 beschrieben werden konnten. In jüngster Zeit werden die Zusammenhänge zwischen »Geisterglaube, Unterhaltung und Showgeschäft im 19. Jahrhundert« 58 immer genauer erforscht.

52 Schüttpelz, Mediumismus, 2012, 126. Eine informative, populärwissenschaftliche Darstellung liefert immer noch Stefan Zweigs Buch Die Heilung durch den Geist. Mesmer – Mary Baker-Eddy – Freud (1931/1989), Frankfurt/M. 53 Ebd., 122. 54 Ebd., 134. 55 Ebd., 136. 56 Ebd., 142. 57 Ebd.

FILMWISSENSCHAFT UND VOLKSKUNDE ? EINE VERORTUNG

Der ›Magische Mensch‹ Diese Diagnose einer Rückkehr magisch-dämonischer Praktiken unter ›hochtechnischen Bedingungen‹ (F. Kittler) ging mit einem von dem schottischen Forscher James George Frazer erneut angestoßenen sozialanthropologischen Epochenschema des 19. Jahrhunderts glänzend überein, demzufolge in der Gegenwart der technischen Unterhaltungsmedien nur eine archaische Epoche der Menschheit – das sogenannte magische Zeitalter – wieder aufgetaucht ist. Das Schema, das noch ein religiöses und ein wissenschaftliches Zeitalter – aber keine klare Reihenfolge mehr – bereit hält, ist nicht zufällig dreigliedrig und erfüllte die Sehnsucht nach einer übersichtlichen Einteilung der Geschichte in wenige Menschheitsepochen – sicherlich eine Sehnsucht, die es gibt, seitdem es Geschichte gibt. Als Ludwig Wittgenstein die Lektüre von Frazers Hauptwerk The Golden Bough. A Study in Magic and Religion 59 abgeschlossen hatte, notierte er: So einfach es klingt: der Unterschied zwischen Magie und Wissenschaft kann dahin ausgedrückt werden, dass es in der Wissenschaft einen Fortschritt gibt, aber nicht in der Magie. Die Magie hat keine Richtung der Entwicklung, die in ihr selbst liegt. 60 Von den »außerordentlichen Verbesserungen«, von denen Walter Benjamin noch sprach, »die in die Technik der Veranschaulichung« erzielt wurden, muss nun nicht mehr vorwiegend die Rede sein. Wie die Magie lässt die technische Medialität der Unterhaltung und Reklame die Menschen scheinbar vor allem in progressionsloser Unmündigkeit verharren. Das dreigliedrige Schema, das sich die Magie als archaisches Stadium inkorporiert hatte, schloss technische Medien – jenseits der gebundenen Buchgelehrsamkeit – kurzerhand vom Bildungsprozess aus. 58 Vgl. Simone Natale (2013), »Geisterglaube, Unterhaltung und Showgeschäft im 19. Jahrhundert«, in: (Zs.) Historische Anthropologie. Kultur. Gesellschaft. Alltag, 21. 3, 324–342. Dort viele weitere Literaturangaben zum Thema. 59 Zuerst als Adonis, Attis, Osiris. Studies in the History of Oriental Religion in 2 Bde. (1890), London; spätter als The Golden Bough, 12 Bde. (1907–1912), London; Kurzfassung in 2 Bde. (1922), London. 60 Ludwig Wittgenstein, »Bemerkungen über Frazers ›The Golden Bough‹«, in: Synthese 17 (1967), 233–253, hier: 246. Zit. n. Leander Petzoldt (2011), Weltbild. Praktiken. Rituale, München, 11.

21

HEIKO CHRISTIANS

›Magisches Denken‹ gilt seit Auf‌klärungstagen als eine Schreibtischkategorie zur Definition der für ontisch gehaltenen Mentalität der frühen Menschheit sowie vergangener und ferner Völker, aber auch der Unterschichten gegenwärtiger Kulturnationen. 61 Der Diskurs über Magie geriet so spätestens in der populären Kurzfassung von The Golden Bough von 1922 auch zum (kritischen) Diskurs über moderne Medien und Unterhaltung: Man sollte im Auge behalten, daß der primitive Magier die Zauberei nur von ihrer praktischen Seite kennt; niemals geht er den geistigen Prozessen, die seine Tätigkeit bestimmen, auf den Grund, denkt nie über die abstrakten Prinzipien nach, die mit seinen Handlungen verknüpft sind. […] Er urteilt genau so, wie er Speise verdaut, in völliger Unkenntnis der geistigen und körperlichen Vorgänge, welche für eine oder andere Tätigkeit wesentlich sind. Kurz gesagt: für ihn ist die Magie immer eine Kunst, niemals eine Wissenschaft. 62

22

Während die Erforschung dieser Praktiken in Frankreich – beispielsweise mit den Arbeiten von Marcel Mauss – eine andere, differenziertere Richtung einschlug, war in Deutschland auch eine Vereinfachung der Frazerschen Perspektive sehr erfolgreich. Mauss versuchte, magische Praktiken als komplexes System von Handlungen zu beschreiben und zu begreifen.63 Anderswo wurden die bei Frazer zumindest noch breit belegten ›Epochen‹ in Rekonstruktionen von epochal verschiedenen Bewußtseinen, vulgo: Weltbildern, überführt. Traditionelle Philologie und neue Völkerpsychologie (als ›Entwicklungspsychologie‹) führten hier in der Nachfolge der von Wilhelm Dilthey geprägten Leipziger Schule Wilhelm Wundts und Felix Kruegers zur unterkomplexen Annahme eines ›primitiven Bewußtseins‹, dem man sich – anders als in den gleichnamigen Veröffentlichungen Lévy-Bruehls in Frankreich – vor allem durch ›vergleichende Einfühlung‹ näherte. 61 Wolfgang Brückner (2013), Bilddenken. Mensch und Magie oder Miss­ver­ständnisse der Moderne, Münster, 11. 62 James George Frazer (2011), Der goldene Zweig. Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker (1922), Dt. EA 1928, Reinbek/H., 16. 63 Vgl. Marcel Mauss (1978), Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie (1904), in: ders., Soziologie und Anthropologie, Bd. 1, Theorie der Magie. Soziale Morphologie. Mit einer Einleitung von Claude Lévi-Strauss, Frankfurt/M. / Berlin / Wien, 43–179, hier: 52.

FILMWISSENSCHAFT UND VOLKSKUNDE ? EINE VERORTUNG

Eine der wichtigsten Popularisierungen dieser Vorstellungen Frazers war im deutschsprachigen Raum das Buch des deutsch-jüdischen Ethnologen Theodor Wilhelm Danzel Der Magische Mensch. (Homo Divinans). Vom Wesen der primitiven Kultur. Das Buch des Mitarbeiters des Museums für Völkerkunde in Hamburg, der schon zur Schriftgeschichte, Entwicklungspsychologie und Geheimwissenschaft veröffentlicht hatte 64, erschien 1928 in der von Hans Prinzhorn herausgegebenen Reihe Das Weltbild. Bücher des lebendigen Wissens 65 gleichzeitig in der Schweiz und in Deutschland. Ausdrücklich wird das Schema nun nicht mehr mit den unendlichen Materialmengen oder Belegen Frazers gefüllt, sondern – als ein völkerpsychologisch zeitlos gültiges – auf nicht ganz 150 sparsam bedruckten Seiten global zur Anwendung gebracht. Der »Schlüssel zum Verständnisse der magisch-mythischen Erlebniswelt« ist nun ganz einfach das »Bewußtsein des Primitiven« 66 : Was heißt nun, die Primitiv-Kultur und die Akte, die Vollzüge wie etwa die magischen, die für sie wesentlich und typisch sind, ›erklären‹. Erklären heißt in diesem Zusammenhange ›vergleichen‹. Die magischen Handlungen erklären, heißt also, sie durch Vergleich mit uns zugänglichen, uns vertrauten Handlungen verstehbar machen. Durch Vergleichen stellen wir den Akt, etwa eine magische Handlung, einen Kult usw. in Parallele mit den vergleichbarsten analogen Akten unseres Lebens: etwa eine magische mit einer praktischen. In sehr vielen Fällen wird diese Forderung nur schwer und nur nach einer Reihe glücklicher Untersuchungen ausführbar sein. In immer eindringlichem, analysierendem Vergleiche passen wir die uns fremde Verhaltensform, die wir ›erklären‹ wollen, immer mehr an uns bekannte und uns geläufige Formen an. Wir versetzen uns also gleichsam in die uns fremdartigen Verhaltensformen immer mehr hinein, bis schließlich in größtmöglicher Annä-

64 Theodor-Wilhelm Danzel (1912), Die Anfänge der Schrift, Leipzig; Ders. (1921), Entwicklungspsychologie, Berlin; ders. (1924), Magie und Geheimwissenschaft in ihrer Bedeutung für Kultur und Kulturgeschichte, Stuttgart; ders. (1924), Kultur und Religion des primitiven Menschen, Stuttgart; ders. (1927), Handbuch der präkolumbischen Kulturen in Latein-Amerika, Hamburg. 65 Der erste Band dieser Reihe war Hans Fehrs Recht und Wirklichkeit. Einblick in Werden und Vergehen der Rechtsformen. Hans Fehr publizierte regelmässig in volkskundlichen Organen über die frühneuzeitliche Druckgeschichte. 66 Theodor-Wilhelm Danzel (1928), Der magische Mensch (Homo Divinans). Vom Wesen der primitiven Kultur, Potsdam / Zürich, 36.

23

HEIKO CHRISTIANS

herung der Akt verstanden, d. h. die naheliegendste Analogie aus unserer Erlebniswelt zu dem Akte der primitiven Erlebniswelt gefunden ist. 67

›Unterschicht‹ und ›Oberschicht‹

24

Ein zweiter Hemmschuh auf dem Weg zu einer volkskundlich inspirierten Medienwissenschaft ohne (allzu) große dogmatische und methodische Beschränkungen war – neben der Vorstellung vom ›magischen Menschen‹ oder vom ›magischen Zeitalter (primitiver Bewußtseine)‹ – die Vorstellung von der Unterschicht. Sie stand nach Überzeugung der frühen Volkskunde – als sozusagen natürlicher sozialer Ort des (billigen) Vergnügens – im festen Gegensatz zur Oberschicht. Die ehemals anspruchsvollen künstlerischen Betätigungen und Artefakte der Oberschicht wurden nach dieser Hypothese in der sogenannten Unterschicht verdünnt und wohlfeil ausgebreitet. Diese Unterscheidung war eine zentrale Unterscheidung der Volkskunde, die ursprünglich im Rahmen der Theorie vom ›abgesunkenen Kulturgut‹ gemacht wurde. Doch auch diese Hypothese war einmal ein Fortschritt gewesen: Die Erforschung des Volkstümlichen begann mit den früh einsetzenden Volksliedsammlungen. Hier entstand – eher als eine zukünftige Wissenschaft – so etwas wie eine akustische Idyllik, die als Arbeitshypothese einen idealen Volkston bereit hielt, den zu treffen sich Erforscher der nationalen Vergangenheiten wie Künstler der Gegenwart bemühten. Gemeint war »der Schein des Ungesuchten, des Kunstlosen, des Bekannten«, wie ein Komponist 1782 erstmals notierte,68 und das galt für die Musik, aber auch für den richtigen ‌ Predigtton 69. Volkslied und Volkston wurden zu einem idealen Ort der Verbindung von Volk und Kunst.70 Dieser tönenden Volksutopie machten – wissenschaftsgeschichtlich – erst die 67 Ebd., 38  f. 68 Johann Abraham Peter Schulz, Lieder im Volkston, bey dem Klaviere zu singen (1782). 69 Vgl. Carl Friedrich Bahrdt, Briefe über die Bibel im Volkston (1782). Beide Belege in: Reinhart Siegert (1995), »›Im Volkston‹. Zu einem Phantom in Literatur, Musik und Bildender Kunst«, in: Ursula Brunhold-Bigler / Hermann Bausinger (Hg.), Hören. Sagen. Lesen. Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen Kultur. Festschrift f. Rudolf Schenda z. 65. Geb., Bern, 679–694, hier: 680  f. 70 Dazu ausführlich Armin Schulz (2007), »Volkslied«, in: Jan-Dirk Müller (Hg.), Real­lexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 3, P–Z, Berlin / New York, 794–797.

FILMWISSENSCHAFT UND VOLKSKUNDE ? EINE VERORTUNG

vergleichenden Liedforschungen John Meiers (seit seinem Vortrag auf dem Dresdner Philologentag von 1897) den Garaus: Mit philologischer Akribie erbrachte er den Beweis seiner Theorie durch die systematische Ermittlung der Herkunft von 336 bekannten Volksliedern aus der Individualdichtung vergangener Zeiten. 71 Meiers spätere Volkslied-Sammlungen und Editonen versetzten diese Arbeitshypothese endgültig in das Reich der Legenden, da sie unmissverständlich das Kunstlied als Ursprung des Volksliedes ergaben und die polykontexturalen künstlichen Entstehungsstufen und multimedialen Überlieferungstechniken den natürlich-anonymen Herkünf‌ten des angeblichen Volksgutes vorzogen. Diese Ernüchterung wirkte nicht sofort, vor allen Dingen nicht politisch, aber sie definierte einen wissenschaftlichen Standard, hinter den man nur mit viel Mühe und Ignoranz zurückkehren konnte. Das Unterschichten-Theorem ist gewissermaßen die halbherzig gezogene Konsequenz aus diesem Fortschritt. Das Niedere oder Populäre ist nun – in einer Wendung der deutschen Volkskunde – ›gesunkenes Kulturgut‹ (H. Naumann), d. h. ›zersungenes Kunstlied‹ beispielsweise (J. Meier), das aber seinerseits ursprünglich aus einer angeblich ›primitiven Gemeinschaftskultur‹ hervorgeht. Auch hier wird also schon eine zyklische Dynamik gedacht,72 die allerdings das Aufsteigen des Gesunkenen in das Höhere, sprich: sein Inspirationspotential und seine Dynamik nach oben, noch nicht denken will.

Volkskunde und Proto-Filmwissenschaft I: Balázs Genauso wenig wie McLuhans bahnbrechende Idee einer Folklore of Industrial Man vor oder während des Krieges als Untersuchungsfeld schon größere Beachtung fand, genauso wenig wurden parallel auch die religiösen Praktiken der Laien oder die magischen Praktiken der Vergangenheit schon hinreichend differen71 Ingeborg Weber-Kellermann (1969), Deutsche Volkskunde zwischen Germanistik und Sozialwissenschaf‌ten, Stuttgart, 48  f. 72 Die Phrase (und These) ›Gesunkenes Kulturgut‹ findet man bei Hans Naumann (1922), Grundzüge der deutschen Volkskunde, Leipzig, 5. Die ganze Debatte darüber in der Volkskunde gibt resümierend wieder: Hermann Bausinger (1966), »Folklore und gesunkenes Kulturgut«, in: Deutsches Jahrbuch für Volkskunde 12, 15–25.

25

HEIKO CHRISTIANS

ziert zu den neuen medialen Praktiken ins Verhältnis gesetzt. Der Erfolg des Kinofilms in den Städten aber brachte die Vorstellungen von einer (bloß) primitiven Magie der Filme und von der Unterscheidbarkeit seines Publikums als ›Unterschicht‹ schnell an die Grenzen ihrer Praktizierbarkeit. Bis dahin aber wurden in der Volkskunde – neben Siedlungsformen und ›Ackerbräuchen‹ – vornehmlich mediale Apparaturen und Umgebungen mit dem als ›einfach‹ gedachten Volk in Verbindung gebracht, die ›Bildprogramme‹ effizient verteilten. Ein klassisches säkulares Beispiel hierfür sind Hans Naumanns Aufsatz zum Bänkelsang, Hans Fehrs Studie zur ›Massenkunst im 16. Jahrhundert‹ 73 oder Johannes Boltes Studie zu den sogenannten Punktier- und Lochbüchern 74 der magischen Literatur von Isidor bis Jörg Wickram. Selbst den »volkstümlichen Verkehrsmittel zu Lande und zu Wasser« 75 widmeten sich Spezialstudien in der Volkskunde. Die entscheidende Anregung für die deutsche Volkskunde, sich mit dem Film zu schäftigen, kam aus demjenigen Medium, das den Film von Beginn an essayistisch begleitete: das Feuilleton. Eine zentrale Figur dieser Durchdringung war der ungarisch-­ österreichisch-jüdische Feuilletonist und Buchautor Béla Balázs: Nach seinen Arbeiten über das Märchen und andere volkskundliche Themen,76 widmete sich Balázs intensiv dem Kinofilm. Béla Balázs’ essayistische Buchkomposition Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films bringt 1924 Film und Volk so zusammen, dass die Unterscheidung von Unterschicht und Oberschicht zur Analyse medialer Kontexte endgültig unbrauchbar wurde. Für das Erscheinungsjahr seines Buchs bietet der Autor zunächst Zahlen auf, die damals wie heute für Verblüffung sorgen:

26

In Wien allein spielen allabendlich fast 200, sage zweihundert Kinos mit durchschnittlich 450 Plätzen. Sie geben drei bis vier Vorstellungen pro Tag. Das macht, mit dreiviertelvollen Häusern gerechnet, täglich fast 300 000 (dreihunderttausend!) 73 Hans Fehr (1924), Massenkunst im 16. Jahrhundert. Flugblätter aus der Sammlung Wickiana, Berlin. 74 Johannes Bolte (1925), »Zur Geschichte der Los- und Punktierbücher«, in: Jahrbuch für historische Volkskunde 1, 185–214. 75 Walter Mizka (1938), »Volkstümliche Verkehrsmittel zu Wasser und zu Lande«, in: Wilhelm Peßler (Hg.), Handbuch der Deutschen Volkskunde Bd. 3, Potsdam, 1–16. 76 Vgl. dazu unbedingt Hanno Loewy (2003), Béla Balázs – Märchen, Ritual und Film, Berlin.

FILMWISSENSCHAFT UND VOLKSKUNDE ? EINE VERORTUNG

Menschen in einer nicht sehr großen Stadt. Hat je eine Kunst so eine Verbreitung gehabt? Hat überhaupt irgendeine geistige Äußerung (ausgenommen vielleicht die religiöse) je so ein Publikum gehabt? 77 Nachdem man zur Kenntnis nehmen musste, dass Balázs schon 1924 bei der Beurteilung des Unterhaltungsfilms von jeder kulturpessimistischen Perspektive abriet, obwohl er beeindruckende, manchen sogar Furcht einflößende Zahlen anführen konnte, kann man auch an die Beantwortung seiner Frage gehen: Der Film ist die Volkskunst unseres Jahrhunderts. Nicht in dem Sinn, leider, daß sie aus dem Volksgeist entsteht, sondern daß der Volksgeist aus ihr entsteht. Der Film hat in der Phantasie und im Gefühlsleben der städtischen Bevölkerung die Rolle übernommen, die früher einmal Mythen, Legenden und Volksmärchen gespielt haben. Vorderhand haben wir das als eine soziale Tatsache zu betrachten und uns zu sagen, daß geradeso, wie Volkslied und Volksmärchen Gegenstand der folkloristischen Wissenschaft und Probleme der Kulturgeschichte sind, man von nun an nie mehr eine Kulturgeschichte oder Völkerpsychologie wird schreiben dürfen, ohne ein großes Kapitel dem Film zu widmen. 78 Man kann verkürzend sagen: Hans Arnolds Dissertation reagiert verspätet, aber für die deutsche Volkskunde und Filmwissenschaft ante portas geradezu als Pionier, auf die Balazs-Formel ›Das Kino ist die wahre Volkskunst des 20. Jahrhunderts.‹ Die Filmwissenschaft ist – das können wir ohne Häme sagen – in diesem Punkt kaum viel weiter gekommen als Béla Balázs oder Hans Arnold. Ich zitiere zum Beweis aus der Einleitung der aktuellen und renommierten Oxford History of World Cinema von 1996  : Volkstümliche Kunst ist der Film nicht etwa im Sinn der verstaubten Idee, Kunst entspringe dem ›Volk‹, statt von kultivierten Eliten hervorgebracht zu werden, sondern in dem für das 20. Jahrhundert typischen Sinn einer Kunst, die durch mechanische Methoden der Massenverbreitung vermittelt wird und ihre Kraft aus der Fähigkeit bezieht, sich an die Bedürfnisse,

77 Béla Balázs (2001), Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films (1924), Frankfurt/M., 10  f. 78 Ebd., 11.

27

HEIKO CHRISTIANS

Interessen und Sehnsüchte eines großen Massenpublikums anzukoppeln. Wo und wie stellt sich die Verbindung zwischen dem Film und diesem breiten Publikum her? Befaßt man sich mit dieser Frage, muß man sich zwangsläufig wieder dem Phänomen des Films als Kunst und Industrie zuwenden. 79

Volkskunde und Proto-Filmwissenschaft II: Robert Petsch Als der Hamburger Neugermanist Robert Petsch sich 1925 mit einem programmatischen Aufsatz in der noch jungen Geschichte der Volkskunde verortete, grenzte er sich ausgerechnet von einem »volkstümelnden« 80 und einem »geographisch, sprachlich und überhaupt kulturgeschichtlich bestimmten Begriff des Einzelvolkes und vor allem des Einzelstammes« 81 ab, wie ihn August Sauer 82 und Josef Nadler 83 noch als Vorreiter einer völkisch-nationalen Literaturwissenschaft als Volkskunde kurz vorher formuliert hatten. Petsch hingegen favourisierte das Konzept des Verkehrs:

28

Nehmen wir aber alles zusammen, was Sauer gefordert und was Nadler geleistet hat, so berührt es sich doch nur streckenweise mit dem, was wir hier unter Volkskunde verstehen! Wir aber haben es hier zunächst doch mit denjenigen dichterischen Äußerungen volkstümlichen Geisteslebens zu tun, die dem gemeinen Manne auf der ganzen Welt und besonders innerhalb der Kulturvölker Europas und seiner großen Kolonialgebiete mehr oder weniger gemein sind. Der Märchen- und Volksliedforscher, der Kenner von Rätseln und Sprichwörtern weiß längst, daß er es mit internationalen Kulturgütern zu tun hat, die im Verkehr zwischen den Völkern ebenso gut ›abgeschliffen‹ werden, wie im Austausch zwischen den Angehörigen des einzelnen Volkes. 84 79 Geoffrey Nowell-Smith (1996), »Allgemeine Einführung«, in: Oxford History of World Cinema; Geschichte des Internationalen Films (1998), Stuttgart, XI. 80 Robert Petsch, »Volkskunde und Literaturwissenschaft«, in: Jahrbuch für historische Volkskunde 1 (1925), 139–184, hier: 140. 81 Petsch, Volkskunde, 1925, 146. 82 Vgl. August Sauer (1907), »Literaturgeschichte und Volkskunde«, Rektoratsrede, gehalten in der Aula der k. k. deutschen Karl-Ferdinands-Universität in Prag am 18. November 1907, Prag. Die Rede wurde im Jahr von Petschs Programm-Text ein zweites Mal aufgelegt. 83 Josef Nadler war Schüler Sauers und veröffentlichte ab 1912 eine dreibändige Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaf‌ten, die unter anderem auch von Rudolf Borchardt ausführlich rezensiert wurde.

FILMWISSENSCHAFT UND VOLKSKUNDE ? EINE VERORTUNG

Vermutlich milderten seine rein wilhelminische Sozialisation und seine Jahre als Lektor in Liverpool vor dem Ersten Weltkrieg die radikal-völkischen Tendenzen ab. Während des Ersten Weltkrieges bekleidete er eine Professur in der damaligen preußischen Provinzhauptstadt Posen. Ab 1922 hatte Petsch – bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand durch die Alliierten 1945 85 – ein Ordinariat für Neugermanistik an der neu gegründeten Universität Hamburg inne, von dem aus er auch die Volkskunde in Personalunion betrieb.86 Robert Petsch kannte sich – anders als viele seiner neugermanistischen Kollegen – mit den neuen Medien seiner Zeit aus, er kommentierte und analysierte sie ausführlich. Petsch interessierte sich für das Theater genauso wie für das Kino, für das klassische oder moderne Drama genauso wie für das Stummfilmelo‌ dram und das Hörspiel 87 oder die Funkreportage 88. Robert Petsch war – wie Carl Schmitt oder Franz Kafka – ein fleißiger Kinogänger und schrieb regelmäßig in der Rubrik ›Neues vom Film‹ im Hamburger Fremdenblatt.89 Etwa zur gleichen Zeit wie diese Feuilletons und Essays veröffentlichte Petsch aber auch einen sehr umfangreichen Aufsatz im renommierten Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts und fragte hier ganz grundsätzlich und offen nach dem Verhältnis von ›Drama und Film‹. Schnell wird deutlich, dass er das Kino nicht – wie viele Volkskundler – für den ›Untergang des Abendlandes‹, eine ›Seuche‹ 90, ›den Untergang des Dramas oder doch des dramatischen Theaters‹ hielt. Im Gegenteil: Der Film hat vielen vieles zu sagen, auch wenn manchem erst gleichsam das innere Auge für seine wahre Schönheit eröffnet 84 Petsch, Volkskunde, 1927, 146. 85 Zu Petschs eher harmloser Rolle im Nationalsozialismus s. Hans-Harald Müller, »Robert Petsch. Sein akademischer Werdegang und die Begründung der Allgemeinen Literaturwissenschaft in Hamburg«, in: Myriam Richter / ­M irko Nottscheid (Hg.) (2011), 100 Jahre Germanistik in Hamburg. Traditionen und Perspek­tiven, Berlin / Hamburg, 107–124. 86 Vgl. Klaus Weimar (1989), Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München, 437. 87 Vgl. Robert Petsch (1931), »Der Dialog im Rundfunk«, in: Rufer und Hörer. Monatshef‌te für Rundfunk und Fernsehen 1, 229–235. 88 Vgl. Ders. (1932), »Der Hörbericht«, in: Rufer und Hörer. Monatshef‌te für Rund­funk und Fernsehen 2, 346–353. 89 Ders., »Tonfilme?« in: Hamburger Fremdenblatt,  15.  9.  1928, 37 u. ders., »Der Film als Erzähler?«, in: Hamburger Fremdenblatt, 23.  11.  1928, 9. 90 Vgl. Hans Naumann (1921), »Primitive Gemeinschaftskultur«, in: ders., Primi­ tive Ge­meinschaftskultur. Beiträge zur Volkskunde und Mythologie, Jena, 3–17, hier: 15.

29

HEIKO CHRISTIANS

werden muß. Das Wunderbare aber ist, daß diese ungeheuerliche Entwicklung der Lichtspielbühne das Theater nicht verdrängt, sondern daß in den letzten Jahrzehnten eine wahre innerliche Erneuerung der Bühnenkunst im weitesten Sinne stattgefunden hat, daß die rasche Entwicklung des Films das Theater eher gefördert als geschädigt hat. 91 Petsch zeigt sich zwar beeinflusst von Hans Naumanns Thesen von den ›primitiven Gemeinschaftsformen‹, die Naumann in zwei Publikationen um 1920 entdeckt haben wollte: so ›haftet‹ für Petsch der Stummfilm noch stärker im »Mutterboden mimischer Darstellung« 92, nahe an »primitiven Übungen mimischer Art« 93. Das Theater hingegen transformiert die Körperbewegung zugunsten des Wortes häufig schon »als ›gesprochene Bühnenanweisung‹ in den Dialog mit ein« 94 und löst »die rohe Tatsächlichkeit, die substantielle Schwerfälligkeit der Dekoration, der Requisiten und des Lichtes auf« 95. Die »Erfindung der Kinematographie« 96 gibt – so argumentiert Petsch – einem modernen Hang zur primitiveren, aber globalen Gebärdensprache nach. Das ist ganz unverhohlen ein Gedanke von Balázs, den er hier noch einmal ausspricht: Denn auf der Leinwand der Kinos aller Länder entwickelt sich jetzt die erste internationale Sprache: die der Mienen und Gebärden. […] Denn das Gesetz des Filmmarktes duldete nur eine allgemeine Gebärdensprache, die von San Francisco bis Smyrna in jeder Nuance gemeinverständlich ist. […] Der Kinematograph ist eine Maschine, die, auf ihre Art, lebendigen und konkreten Internationalismus schafft: die einzige und gemeinsame Psyche des weißen Mannes. 97

30

98 erscheint dem Als ausgesprochene »Schwarz-weiß-Kunst«  Volks­­kundler Petsch die Kinematographie dem Holzschnitt und der Radierung verschwägert, als stummes Ausdrucksgeschehen erkennt er in ihr – wiederum mit Balász – eine »sinnlich erfaßbare, höchst ausgearbeitete Bewegungsphysiognomik« 99. ›Bewe-

91 92 93 94 95 96 97 98 99

Ebd., 266  f. Ebd., 269. Ebd. Ebd., 270. Ebd. Ebd., 274. Balázs, Mensch, 1924/2001, 22. Petsch, Drama, 1927, 276. Ebd.

FILMWISSENSCHAFT UND VOLKSKUNDE ? EINE VERORTUNG

gung‹ ist auch das Stichwort für eine spezifische Charakterisierung des Stumm­films: Es ist, als ob die Bewegung der Hand an der Kurbel, als ob Rhythmus und Tempo des Apparates, der ja nicht selten mit rasendem Automobiltempo an die Gegenstände herangeschleudert wird, den ganzen Vorgang beherrschten. 100 Die Zerlegbarkeit der Bewegung mittels »Zeitlupe und Zeitraffer« 101 ist für Petsch eine der zentralen Leistungen des Films. So fällt seine qualitative Abgrenzung vom Theater auch etwas mühsam aus: Die »feinsten Regungen der Seele, die letzten Entscheidungen der Persönlichkeit, die tiefsten Beweggründe des Denkens« 102 seien mit dem Film nicht darstellbar. Bemerkenswert ist nun, dass Petsch diese Argumentation im selben Aufsatz streckenweise völlig aufgibt und eine erstaunlich optimistische und unkonventionelle Einschätzung der Filmkunst liefert, die sich der technisch-apparathaf‌ten Seite der filmischen Ästhetik schon erstaunlich bewusst ist 103 : Wie die einzelnen Bilder gespenstisch vorüberhuschen, zwingen sie uns, vom einzelnen Moment abzusehen. Indem wir auf die ganze Folge hingewiesen werden, aus der heraus das Einzelne erst gleichsam erläutert, in der es aber auch zugleich innerlich gesteigert und fortwährend weiter ausgetieft wird, fühlen wir uns an Hintergründe der Erscheinungen erinnert, deren wir uns der krassen Wirklichkeit gegenüber kaum bewußt werden; die eigentümliche Wucht, ja die menschliche Bedeutsamkeit der Vorgänge, tritt hier viel klarer hervor als in der bühnenmäßig ›geschauten‹ Szene. 104 So ist man kaum mehr überrascht, wenn Petsch gegen Ende seiner Ausführungen die Möglichkeit diskutiert, dass der Film vielleicht mit der gründlichen Ausschöpfung seiner Lebensgebiete den Übergang zu einer ›höheren‹ Kunstübung besser vorbereitet als das Theater selbst.105 100 Ebd., 275. 101 Ebd., 274. 102 Ebd., 280. 103 In einer Fussnote gibt Petsch seine Orientierung dabei an Balázs’ Buch Der sichtbare Mensch von 1924 auch klar zu erkennen. (Ebd., 298). 104 Ebd., 283. 105 Ebd., 284.

31

HEIKO CHRISTIANS

In der Frage der Verfilmung (von Dramen) ist Petsch überzeugt, dass »von einer unberührten Umschmelzung keine Rede sein kann« 106. Hier kommen für ihn die Eigengesetzlichkeit der Künste und ihrer unterschiedlichen medialen Strukturen voll zum Tragen: Man denke sich die köstliche Typen-Revue der Osterspaziergangs-Szene in einer Reihe von Filmaufnahmen spazierender und schwadronierender Philister übersetzt und wir haben eine freie filmische Phantasie über ein Goethesches Thema, aber keine Faustszene mehr. 107 Robert Petsch hatte das Volksbuch vom Doktor Faust mehrfach ediert bzw. kommentiert 108 und kannte den kurz vor Erscheinen seines Aufsatzes am 14. Oktober 1926 uraufgeführten Film Friedrich Wilhelm Murnaus Faust – eine deutsche Volkssage sicherlich ganz genau. Die »knappe, vielleicht wuchtige oder im besten Sinne rätselhaf ‌te Fassung«  109 der Zwischentitel oder Tafeln im Stummfilm gefielen dem Volkskundler und Rätsel-Fachmann aus Hamburg überdies gut.

Volkskunde und Proto-Filmwissenschaft III: Hans Arnold

32

Der Volkskundler Arnold, der sich in Richtung Filmwissenschaft aufgemacht hatte, machte sich auch Gedanken darüber, was an die Stelle der alten Volksbücher treten würde, wenn es nicht mehr um die Verfilmung derjenigen traditionellen Stoffe ging, die Petsch noch benannte. Er landete bei einer Literatur, die fast schon wie eine Art Brennstoff für die Filmindustrie eingesetzt werden sollte. Seinen eigenen populären (Exempel-)Stoff lieferte ihm ausgerechnet der Volkskundler und Frühe-Neuzeit-Experte Will-Erich Peuckert mit einem Buch von 1938 110 – man sieht hier schon, wie Arnold die Volkskunde (auch) für sich zu nutzen gedachte: 106 Ebd., 289. 107 Ebd. 108 Vgl. nur Robert Petsch (Hg.) (1911), Das Volksbuch von Dr. Faust (nach der ersten Ausgabe von 1587), Halle; ders. (Hg.) (o. J.), Der Urfaust. Goethes ›Faust‹ in ursprünglicher Gestalt, Leipzig ; ders. (Hg.) (1923), Doktor Johannes Faust. Puppenspiel in 4 Aufzügen, hergestellt von K. Simrock. Nach der Ausgabe von 1872, Leipzig. Die Bibliographie von Petschs Schrif‌ten weist allein 32 Aufsätze zum Faust-Stoff nach. 109 Petsch, Drama, 1927, 290. 110 Will-Erich Peuckert (1938), Deutsches Volkstum in Märchen und Sage, Schwank und Rätsel, Berlin, 5  ff.

FILMWISSENSCHAFT UND VOLKSKUNDE ? EINE VERORTUNG

In der Literatur allerdings, also in einem Gebiet, das unserem tatsächlichen realen Lebensbereich in jedem Falle seinem Wesen nach um ein gutes Stück entrückt ist, leben mythisch-märchenhaf‌te Gestaltungen teilweise noch in ganz primitiven Formen – besonders in Reiseschilderungen, in Abenteuerromanen und damit vor allem im Bereich der sog. Schundliteratur, die in vieler Hinsicht an die Stelle der alten Volksbücher getreten ist. L. Schmid schreibt zwar, dass es in Wien noch 1940 Volksbuchdruckereien gibt, ›welche die alten Volksbücher drucken und auch einen ziemlichen Absatz haben‹. ›Aber‹, fügt er hinzu, ›meist gehören diese Dinge nur mehr den Kindern an‹. Der Anschaulichkeit halber sei hier eine charakteristische Parallele zitiert: Der Zauberer von Graz von Martin Winfried, erschien 1922 in der Romanheft-Reihe Der neue Excentric Club im Mignon-­Verlag. Die Handlung ist in Kurzem folgende: Percy Stuart, Amerikaner, jung, sehr reich, unabhängig, liebenswürdig, ein Meister aller sportlichen Künste, hat es sich in den Kopf gesetzt, Mitglied des berühmten Excentric-Clubs zu werden. In diesem Club werden nur Männer der vornehmen Gesellschaft aufgenommen, die durch tolle Streiche den Beweis geliefert haben, dass sie keine Dutzendmenschen, sondern ungewöhnliche und merkwürdige Naturen sind.111 Hans Arnolds Dissertation überführte volkskundliche konsequent in filmwissenschaftliche Forschung. Das ist schon an der aus zwei unterschiedlichen Teilen bestehenden Form der Arbeit gut zu erkennen. Die eine Zeit lang noch transportierten Konzepte der Unterschicht-Oberschicht-Differenz und des magischen Menschen werden sukzessive aufgelöst: Das unterkomplexe Modell des magisch-primitiven Bewusstseins wird im ersten Teil ersetzt durch eine differenzierte Rezeption der Freudschen und Jungschen Theorie des Unbewussten. Das Unterschichten-Modell wird ersetzt durch eine Fokussierung auf das Filmmaterial selbst. Die ausgewählten Filme werden nicht mehr pauschal als neue Filmtechnik oder als leichte Unterhaltung adressiert, sondern durch individualisierendes Nacherzählen von Szenen, Stoff und Plot der differenzierten ›(Stellen-)Vergleichung‹ zugänglich gemacht – wie sie schon Riehl gefordert hat. Hier entwickelt sich das differenzierte Besteck der Filmwissenschaft weiter: Einstellungen, Tempowechsel, rhythmische Merkmale, Bildausschnitte werden genau analysiert und beschrieben, ein Materialfundus wird gekennzeichnet, nachgewiesen und erzählend zugänglich 111 Vgl. Arnold, Das Magische, in dieser Ausgabe S. 89.

33

HEIKO CHRISTIANS

gemacht. Damit geht ein präzises technisches Wissen über die Geschichte und Arbeitsweise der Apparatur einher. Hans Arnold beschreibt 1949, wie Balázs es schon 1924 vormachte, ausführlich die Assoziation, die Identifikation und das intensive Hineinerleben als Schlüsselmomente im komplexen Umgang mit dem bewegten bildlichen Material. Auf‌f ällig bleibt aber bei beiden die Physiognomik im Zentrum der Überlegungen und Interpretationen. Auch Arnold betont

34

den stark physiognomischen Charakter des magischen Welt­ er­lebens. Den Gestaltungen der Fantasie liegen hier zweifellos assoziative Denkvorgänge zugrunde. Diese Assoziationen sind aber wohl weniger Ideenassoziationen, sondern für den magischen Menschen assoziieren sich vielmehr vor allem – bei einem Übergewicht des Gesichtssinnes über die anderen Wahrnehmungsorgane – die visuellen Eindrücke. Der fantasievollen Umbildung der Erlebnisse liegen also vor allem Bild-Assoziationen bzw. Bild-Bedeutungs-Assoziationen zugrunde. […] Die physiognomische Ähnlichkeit ist also von entscheidender Bedeutung bei der Entstehung der für ein magisches Welt­er­ leben typischen Erscheinungsformen primitiver Verhaltensweise. Auch der magische Mensch, der z. B. seinem Gegner durch einen Bosheitszauber schaden will und sich zu diesem Zwecke eine menschliche Figur – ein ›Ebenbild‹ von seinem Gegner – anfertigt, der er dann all den seinem Gegner zugedachten Schaden zufügt, geht in erster Linie von der bildhaf‌ten Analogie aus, wie aller Analogiezauber vornehmlich auf Bild­analogien bzw. auf sichtbaren analogen Vorgängen – die ja auch wiederum nichts anderes sind als viele aneinandergereihte Bildeindrücke – beruht. […] Für den im magischen Welt­er­ leben stehenden Menschen ähnelt […] das grobgeschnitzte Bild seines Gegners absolut seinem Gegner und keinem anderen, da er ja in das Bild alle seine diesem Gegner gegenüber auf‌tretenden Regungen mit ›hineinsieht‹, mit hineinerlebt. Ein anderes durchgehendes Wesensmerkmal magischen Welt­er­lebens ist also das intensive Bilderlebnis und die daraus entspringende fantasievolle Bildgestaltung, in der Bild und subjektiver Bedeutungsgehalt in eins zusammenfließen.112 Das Stichwort ist kein Zufall: In der Physiognomik laufen die technischen, disziplinären und methodischen Fäden immer noch zusammen. Bildserien können in Einzelbilder zurückübersetzt werden, 112 Ebd., 70.

FILMWISSENSCHAFT UND VOLKSKUNDE ? EINE VERORTUNG

Einzelbilder als Großaufnahmen können ausgedeutet werden, Gesichter, Landschaf‌ten, Dinge werden der hermeneutischen Einfühlung wieder zugänglich gemacht, Atmosphären werden greif‌bar. Volkskundler geben physiognomische Materialienbände heraus,113 Filmwissenschaftler scheinen Physiognomik und Filmwissenschaft kurzerhand in eins zu setzen,114 Fotobücher, die physiognomischen Galerien ‌ gleichen, boomen zwischen 1925 und 1935 115. Warum das alles? Die alte Physiognomik bietet die Möglichkeit, in die neuen technischen oder physiologischen Gegenstände alte hermeneutische Unterscheidungen einzuziehen, um sie überhaupt interpretierbar, einer Auslegung zugänglich zu machen: Kleinste Szenen werden bedeutsam dadurch, daß sie herausgehoben werden aus der Kontinuität und isoliert, unsere ganze Aufmerksamkeit anziehen. Sie werden zum Beispiel. Pars pro toto. 116 Die Psychologie hingegen kann mit ihrer Unterscheidung von Bewusstem und Unter- oder Unbewusstem in der filmischen Darbietung Vorder- und Hintergründe, Zentrum und Peripherie, Zentralobjekt und Detail festlegen und entlang dieser Festlegungen den Film komplexeren Interpretationen zugänglich machen. Auf dem Film aber, wenn sich in der Großaufnahme ein Gesicht auf die ganze Bildfläche ausbreitet, wird für Minuten das Gesicht ›das Ganze‹, in dem das Drama enthalten ist. Die Großaufnahmen sind das eigenste Gebiet des Films. […] Doch auch das größte Leben besteht aus diesem ›kleinen Leben‹ der Details und Einzelmomente […] die Lupe des Kinematographs bringt uns die einzelnen Zellen des Lebensgewebes nahe, läßt 113 Vgl. Wilhelm Fraenger (Hg.) (1922), Die Trollatischen Träume des Pantagruel. Ein Holzschnitt-Fratzenbuch mit hundertzwanzig Bildern, Zürich / Leipzig oder ders. (Hg.) (1922), Callots neueingerichtetes Zwergenkabinett. Faksimilierte Neuausgabe mit fünfzig Kupferstichen in groteskem Rahmen, ebd. oder ders. (Hg.) (1922), Die Masken von Rheims. Mit 38 Abbildungen, ebd.. 114 Vgl. Massimo Locatelli (1999), Béla Balázs. Die Physiognomik des Films, Berlin. 115 Dazu Sabine Hake (1996), »Zur Wiederkehr des Physiognomischen in der modernen Photographie«, in: Rüdiger Campe / Manfred Schneider (Hg.), Geschichten der Physiognomik. Text, Bild, Wissen, Freiburg/B., 475–513. 116 Balázs, Mensch, 1924/2001, 77. Dazu Verf. (2000), »Gesicht, Gestalt, Ornament: Überlegungen zum epistemologischen Ort der Physiognomik zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte«, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74.1, 84–110.

35

HEIKO CHRISTIANS

uns wieder Stoff und Substanz des konkreten Lebens fühlen. Sie zeigt dir, was deine Hand macht, die du gar nicht beachtest und merkst, während sie streichelt oder schlägt. Du lebst in ihr und schaust nicht hin. Sie zeigt dir das intime Gesicht all deiner lebendigen Gebärden, in denen deine Seele erscheint, und du kennst sie nicht.117 So ist es auch kein Wunder, wenn die Wissenschaft vom Film ihr Objekt in direktem Rückgriff auf die Arbeitsfelder der Psychologie konturiert – vor allem, wenn Psychologie und Filmwissenschaft in Personalunion betrieben wurden wie etwa im Falle Hugo Münster­ bergs: Das Lichtspiel ist eine Kunst, in der nicht nur die äußeren Ereignisse, sondern auch unsere eigenen inneren Handlungen zum Tragen kommen. […] Denken wir an eine andere Bewegungsform unseres Geistes, an die Tätigkeit des Gedächtnisses. Wenn wir im praktischen Leben eine Erfahrung machen, erinnern wir uns ständig an Geschehnisse der Vergangenheit. Das Lichtspiel kann die Begrenzungen der Zeit ebenso einfach überwinden wie die des Raumes. In vielen der neueren Filme wird eine ungewöhnliche Faszination hervorgerufen, indem man die Bildfolge der Gegenwartsereignisse durch schnell vorüberziehende Bilder aus früheren Szenen unterbricht. Es ist, als durchzucke eine flüchtige Erinnerung unseren Geist. 118

36

Arnold sah genau, dass all diese Elemente im Diskurs über Magie vorbereitet wurden, in der Psychologie weiterlebten und für die Filmwissenschaft weiter fruchtbar gemacht werden konnten. Der kinematographische Apparat in seinen verschiedenen Spielarten wurde beschreibbar aus dem Reservoir an Erwartungen an die magischen Potentiale der Imaginationskraft seit der Frühen Neuzeit. Gleichzeitig half der Apparat den verschiedenen Spielarten der psychologischen Gedächtnisforschung, Bilder und Paradigmen für ihre Forschungen auszubauen. Es ist ganz offensichtlich ein lang anhaltender Wissens- und Methodentransfer, der hier stattfindet: Man kann spätestens seit der Jahrhundertwende streckenweise kaum unterscheiden, ob man in einer frühen filmwissenschaftlichen, einer psychologischen oder einer ethnologischen Argumentation gelandet ist.119 Das Wissen über die Interpretier117 Balázs, Mensch,  1924/ 2001, 49. 118 Münsterberg, Kino,  1915/ 2006, 32. 119 Wie sehr auch die – vor allem realistische – Literatur des 19. Jahrhunderts

FILMWISSENSCHAFT UND VOLKSKUNDE ? EINE VERORTUNG

barkeit, Situierung, den Transport und die Präsentation oder Inszenierung von Bildern und Formeln wird hier ganz einfach geteilt. 1928 wird die Kurzfassung von Frazers Goldenem Zweig, die er 1922 in London herausgebracht hatte, auch ins Deutsche übersetzt. Sehr schnell kommt Frazer hier auf die ›Grundlagen der Magie‹ zu sprechen, die 32 Jahre nach dem ersten Erscheinen des Vorgängerwerkes Adonis, Attis, Osiris in einem gänzlich anderen Umfeld gelesen werden mussten: Wenn wir die Grundlagen der Ideen im einzelnen untersuchen, auf welchen die Magie beruht, so sehen wir, daß diese sich in zwei Teile gliedern: einmal, daß Gleiches wieder Gleiches hervorbringt, oder daß eine Wirkung ihrer Ursache gleicht; und dann, daß Dinge, die einmal in Beziehung zueinander gestanden haben, fortfahren, aus der Ferne aufeinander zu wirken, nachdem die physische Berührung aufgehoben wurde. Der erste Grundsatz kann das Gesetz der Ähnlichkeit, der zweite das der Berührung oder der direkten Übertragung genannt werden. […] Wenn meine Analyse der Logik des Magiers richtig ist, so stellen sich ihre beiden großen Prinzipien als lediglich zwei verschiedene, falsche Anwendungen der Ideenassoziation heraus. Homöopathische Magie gründet sich auf die Verbindung von untereinander ähnlichen Ideen. Übertragungsmagie dagegen auf die Verbindung von Ideen durch unmittelbare Aufeinanderfolge. 120 Es spielt am Ende keine Rolle, ob Frazer unterdessen Freud gelesen hatte, es spielt auch keine Rolle, ob die Anekdote, dass Freud schon 1909 in Amerika mit Sándor Ferenczi und Carl Gustav Jung im Kino war,‌121 sich noch bewahrheiten lässt. Viel wichtiger ist die Einsicht, dass die mit der Imaginationskraft befasste Magie-­ Forschung der Volks- und Völkerkunde (für die Psychoanalyse) eine Medienwissenschaft avant lettre war, dass aber auch die Philosophie, Volkskunde und Medienwissenschaft – wie bei Cassirers magischem Raum, Arnolds Magischem des Films oder McLuhans hier hineinspielte, zeigen Michael Neumann / Kerstin Stüssel (2011), »Einführung: ›The Ethnographer’s Magic‹. Realismus zwischen Weltverkehr und Schwellenkunde«, in: dies. (Hg.), Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälf‌te des 19. Jahrhunderts, Konstanz, 9–28. 120 Frazer, Zweig, 1922 /2011, 15 u. 17. 121 Vgl. Karl Sierek (2006), »Assoziieren, verketten, montieren. Montage als verbindendes Moment zwischen Psychoanalyse und Film«, in: Kristina Jaspers / Wolf Unterberger (Hg.), Kino im Kopf. Psychologie und Film seit Sigmund Freud, Berlin, 38–45, hier: 40.

37

HEIKO CHRISTIANS

magischen Kanälen – umgekehrt immer wieder ›magische Qualitäten‹ an ihren Untersuchungsobjekten ›entdeckte‹ 122. Verbunden waren die drei disziplinären Stränge u. a. durch die älteste Bild- bzw. Medientheorie, die wir haben: die hermeneutische Physiognomik. Das bis heute frischeste Buch, das Hans Arnold – unter den wesentlich erschwerten Bedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit – noch produktiv in seine Forschungsarbeit aufnehmen konnte, war nicht zufällig Siegfried Kracauers From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film von 1947. Seinen Stellenwert hatte Arnold sofort erkannt, denn wer hatte mehr und Gehaltvolleres zur Modernisierung der Physiognomik als Methode der Auslegung von Oberflächen beigetragen als eben dieser Autor?

38

122 Diese ›Entdeckung‹ kann eben auch – wie im Falle von McLuhans Klassiker – eine aufschlussreich abweichende Übersetzung des Original-Titels (Understanding Media) sein. Vgl. dazu auch Hartmut Winkler (2008), »Die magischen Kanäle, ihre Magie und ihr Magier. McLuhan zwischen Innis und Teilhard de Chardin«, in: Derrick de Kerckhove et al. (Hg.), McLuhan neu lesen: Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert, Bielefeld, 158–169.

DAS MAGISCHE DES FILMS Ein Beitrag zur Frage der Wirksamkeit magischer Einflüsse in der Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung des Films

Einleitung Die Wissenschaft der Volkskunde ist durch die eigentümliche Tatsache begründet, dass die europäische Kultur nicht einheitlich, sondern in sich gespalten ist. Es lassen sich in unserem Kulturkreise zwei voneinander verschiedene kulturelle Schichten unterscheiden: eine Oberschicht und eine Unterschicht, welch letztere das eigentliche Forschungsgebiet der Volkskunde darstellt. Da die beiden Schichten sich jedoch vielfach gegenseitig beeinflussen, muss die Volkskunde oftmals auch nach der Seite des Allgemein-Primitiven hin oder nach der Seite der Hochkultur hin über ihr engeres Forschungsgebiet hinausgreifen und bildet so eine Brücke zwischen zwei Wissenschaf‌ten, der Völkerkunde und der Geistes- oder Kulturgeschichte 1. Die vorliegende Arbeit stellt, als ein Beitrag zum Problem der Wirksamkeit magischer Einflüsse in der Gegenwart, einen Versuch dar, in ihrem begrenzten Bereich die Beziehungen zwischen den beiden Schichten zu erhellen. Ohne dass hier näher auf die Entwicklung der volkskundlichen Theorie eingegangen werden könnte,2 sei auf die für alles Folgende wesentliche Tatsache hingewiesen, dass die der Volkskunde zugrunde liegende theoretische Voraussetzung auch bei unterschiedlicher Auf‌fassung der Begriffe im Wesentlichen immer die gleiche geblieben ist, nämlich einmal die Erkenntnis der Spaltung in Unter- und Oberschicht und weiterhin die Erkenntnis, dass diese theoretisch abgrenzbaren Schichten nicht nur nach äußeren Gewohnheiten, nach Kleidung, Brauchtum usw., voneinander verschieden sind, sondern sich hinsichtlich ihrer Gesamtverhaltensweise, d. h. hinsichtlich ihrer Erlebnisweise, ihrer Moralauf‌fassung, ihrer Einstellung zu den Gegebenheiten des täglichen Lebens usw., grundsätzlich unterscheiden. »Unser europäischer Kulturkreis ist 1 Vgl. Naumann 1922, 1, siehe dazu auch Haberlandt in Spamer 1934, 42  ff. 2 Vgl. Naumann 1922, 1  ff., Naumann 1921, 3  ff., Reuschel 1920, 5  ff., Spamer in ders.  1934,  1  ff. und Fischer ebd.,  17  ff. sowie Weinhold 1937,  11  ff.

41

DAS MAGISCHE DES FILMS

42

also dadurch gekennzeichnet, daß in ihm zwei, soziologisch nicht klar voneinander abgehobene, geistige Schichten vorhanden sind, deren jede ein der anderen Schicht diametral entgegengesetztes Leben führt« 3. Die theoretische Abgrenzung der beiden Schichten, wie sie in dieser Weise Stavenhagen in »Kritische Gänge in die Volkstheorie« durchgeführt hat, ist also im Gegensatz zu früheren Definitionen vor allem weitgehend unabhängig von soziologischen Faktoren. Stavenhagen stellt vielmehr, in einer analytischen Betrachtung der Erscheinungsformen des kulturellen Lebens, die geistig-seelische Uneigenständigkeit der Unterschicht der geistig-seelischen Eigenständigkeit der Oberschicht gegenüber. Hiernach zeigt sich ganz allgemein die Uneigenständigkeit der Unterschicht beim Volksmenschen in der Abhängigkeit von der Tradition, beim Massenmenschen dagegen, der innerhalb des Bereiches unterschichtlichen Lebens vom Volksmenschen wohl zu unterscheiden ist, in der Abhängigkeit von der öffentlichen Meinung. »Im Falle der Masse entsteht das eigene Leben unmittelbar aufgrund des fremden Lebens, im anderen Falle mittelbar auf dem Umweg über ererbte Begriffe, Überzeugungen oder Normen. Aber in beiden Fällen ist es Uneinsichtiges, in beiden Fällen ist es Leben vom Anderen her. Daß diese Anderen bei der Masse die Zeitgenossen, beim Volk vorwiegend die Vorfahren sind, ist doch wohl nicht so wesentlich« 4. Im Gegensatz zu dieser phänomenal uneigenständigen Lebensweise der Unterschicht lebt derjenige oberschichtlich, d. h. phänomenal eigenständig, der »soweit als irgend möglich für seine Überzeugungen, Gefühle und Handlungen persönlich auf‌kommt und sich die Verantwortung dafür von niemand abnehmen läßt, der sich darum von allem, was an ihn herantritt, Rechenschaft ablegt und aufgrund dieser Prüfung allein und selbst entscheidet« 5. Kulturelle Erscheinungsformen solch phänomenal geistig-seelischer Eigenständigkeit sind die logisch-rationale Wissenschaft (ihrer Idee nach)6, das moderne Wirtschaftssystem 7 und die Kunst der Hochkultur. 3 Stavenhagen 1936, 56. 4 Ebd., 28. 5 Ebd., 24. 6 »Hier in der Wissenschaft haben wir den institutionell gewordenen Ausdruck einer grundsätzlichen Eigenständigkeit. […] Die Wissenschaft ist der Bereich, der […] dadurch charakterisiert ist, daß hier nur eine einzige ›Tradition‹ gilt, keiner Tradition zu glauben. Der wissenschaftliche Lebensbereich ist damit der Gegenpol der grundsätzlich traditionell gebundenen Lebenssphäre«

EINLEITUNG

Auf das letztgenannte Phänomen, die Kunst, soll hier etwas näher eingegangen werden, nicht nur mit Rücksicht auf den zweiten Teil dieser Arbeit, sondern besonders auch, weil an ihm, d. h. an der Unterscheidung von Volks- bzw. Massenkunst einerseits und Hochkunst andererseits, mehr noch als an anderen Erscheinungsformen der Kultur der dem vorliegenden Versuch zugrunde liegende Gesichtspunkt besonders deutlich wird. Wie unterscheiden sich nun Volkskunst und Hochkunst? Lässt sich im Bereich der Kunst überhaupt eine Scheidung treffen, welche mit dem Gegensatzpaar von Eigenständigkeit und Uneigenständigkeit übereinstimmt? Gehört es nicht vielmehr zum ureigentlichen Wesen jedes echten Kunstwerkes, den Menschen aus seiner Eigenständigkeit loszulösen und ihn auf diesem Wege zu höheren Einsichten zu führen, die ihm auf dem Wege logisch-­rationaler Erkenntnis nur mühsam erreichbar, ja vielleicht überhaupt verschlossen sind? Man betrachte zuerst unter diesem Gesichtspunkt das Kunstwerk selbst: Jedes Kunstwerk besteht in erster Linie – in den imitativen Künsten (Malerei, Plastik, Dichtung, Schauspiel) – aus ein oder mehreren Wirklichkeitsausschnitten, in jedem Falle aber – und damit auch in den nicht-imitativen Künsten (Musik, Architektur) – aus einem Stoff, aus einem Material. Es ist darüber hinaus aber immer auch eine ihrem Wesen nach individuelle Gestaltung, auch wenn diese Gestaltung durch noch so viele Individuen neugestaltet, nachgebildet, umgemodelt oder dergl. wurde, sodass das Werk in einem solchen Falle alle persönliche Charakteristik verliert und so zur »Volkskunst« (was man mit Naumann als gesunkenes Kulturgut bezeichnen mag) bzw. Massenkunst wird. Und es ist auch eine individuelle Gestaltung, wenn es schon bei seiner ersten Gestaltung eine so geringe Individualität aufweist, dass es über die anderen Werke ähnlich schwacher Individualität nicht hinausragt. Man muss also bei einer Unterscheidung von Volks- bzw. Massenkunst und Hochkunst zweierlei unterscheiden: einmal den Wirklichkeitsausschnitt bzw. den Stoff des Kunstwerkes und zum anderen die Gestaltung dieses Stoffes und damit den ihm im Kunst(ebd., 39). In besonderem Maße gilt dies für die Geschichtswissenschaft, die der Überlieferung selbst, ohne sie traditionell zu übernehmen, rational gegenübertritt. 7 »Nicht nur die maschinelle Herstellungstechnik, sondern die Buchführung, die Frage der Eignung der Arbeiter, die Arbeitsteilung, die Absatzmöglichkeiten – alles ist in steigendem Maße wissenschaftlich geprüft und geregelt worden, mit dem immanenten Ideal, daß die Zweckmäßigkeit der Apparatur vor der Ratio überhaupt standhält« (ebd., 45).

43

DAS MAGISCHE DES FILMS

44

werk, d. h. in der sein ursprüngliches Sein überhöhenden Form, immanenten Wert. Es ergibt sich hierdurch eine Stufung, die – in den imitativen Künsten – einmal von einem mehr oder weniger wirklichkeitsgetreuen, platten Abbild der Wirklichkeit 8 bis zu einer Verdichtung dieses Abbildes führt, in der die Umweltwirklichkeit zur transparenten Folie wird, durch die die geistige Welt hindurchscheint, und die andererseits von einer primitivsten, eurythmischen 9 Gestaltungsform, d. h. dem Anordnen der einzelnen Teile zu einem rhythmischen Ganzen (z. B. die Anordnung von Tierschädeln an einem Eingeborenenhaus der Südsee), bis zur persönlichsten, unwiederholbaren Gestaltung (z. B. Rodins »Bürger von Calais«) führt. Dort, wo die jeweils erstgenannten Bedingungen zusammentreffen, kann man von Volks- bzw. Massenkunst bzw. ganz allgemein von Primitivkunst, dort wo die jeweils letztgenannten Bedingungen zusammentreffen, von Hochkunst sprechen. Eine derartige Unterscheidung ist durchgehend im Sinne der oben zitierten Unterscheidung von Ober- und Unterschicht und unabhängig vom Typ des Kunstwerkes. Eine eurythmisch komponierte Erzählung, deren immanenter Wert in dem durch sie erregten Umweltinteresse begründet ist, ist also sowohl das Volksmärchen als beispielswiese auch ein Roman von Courths-Mahler oder ein Film, in welchem der Held nach in steigender Spannung abrollenden Abenteuern doch endlich die ersehnte Geliebte heiratet. Der Wert derartiger unterschichtlicher, d. h. phänomenal uneigenständiger Gestaltungen liegt in dem umweltgebundenen Miterleben begründet, das der Leser bzw. Betrachter bei solchen Geschichten oder Vorgängen vollzieht. Man kann also unterscheiden: »Die eigentliche Kunst, die Hochkunst, die aus reinem Interesse für die Art der Welt, für den ›Geist‹ der Welt, der sich in dem dargestellten Vorgang kundtut, entsteht, deren Ziel künstlerische Deutung der Welt aus den ihr immanenten Bedingungen ist und deren Kunstwerke dadurch

8 Die Wirklichkeitstreue braucht sich hierbei keinesfalls in fotograf‌isch getreuer Abbildung des Vorbildes ausdrücken. Oft genügt auch die Darstellung markanter Merkmale, um den Wirklichkeitseindruck im primitiven Betrachter hervorzurufen. Ein Bauer z. B., der auf einer Votivtafel seine Schafherde darstellen lässt, erkennt seine Herde nicht an der Ähnlichkeit der einzelnen Tiere. Er weiß aber, da er die Tiere als Schafe erkennt und die Stückzahl der Herde stimmt, dass die dargestellte Herde seine Herde ist und erkennt sie so als naturgetreu abgebildet wieder. 9 Eurythmie ist »die Grundlage für all das, was man künstlerische Form nennt«. Ihre primitivste Funktion ist die ordnende, massengestaltende (vgl. Geiger 1928, 76  ff.).

EINLEITUNG

›Stil‹ haben, daß in ihnen je ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit unter einem einheitlichen materialen Gesichtspunkt wiedergegeben wird. Und andererseits das, was man primitive Kunst nennen mag: darstellende Werke, in denen je ein durch das Umweltsinteresse bestimmter Ausschnitt aus der Wirklichkeit wiedergegeben und durch die eurythmischen Faktoren zu einer ästhetisch-formalen Einheit gestaltet wird« 10. Für die Unterscheidung von Volkskunst und Massenkunst er­ gibt sich hieraus im Zusammenhang mit dem weiter oben Gesagten: Volkskunst ist uneigenständige, künstlerische Gestaltung innerhalb der traditionsgebundenen Lebenssphäre der Unterschicht, Massenkunst dagegen ist die uneigenständige, künstlerische Gestaltung innerhalb der von der jeweiligen Situation des hic et nunc, von öffentlicher Meinung, Mode usw. abhängigen unterschichtlichen Lebenssphäre. Diese an den Schöpfungen der Menschen gewonnene Unterscheidung lässt sich unschwer auch auf die Menschen selbst übertragen. Die Oberschicht reicht dann soweit, »als Menschen an dem überindividuellen, systematisch eigenständigen und darum geschichtlichen, vom Weltinteresse angetriebenen Kulturleben Europas schaffend oder adäquat aufnehmend teilnehmen; alle volksläufig gewordenen Erzeugnisse aber, die Ausdruck von traditionalistischem, umweltlich gebundenem und in diesem Sinne primitivem Leben sind, sind der Unterschicht zuzuweisen« 11. Eine theoretische Abgrenzung von Unter- und Oberschicht, wie sie als Grundlage für jede weitere theoretische Betrachtung dienen kann, reicht für eine praktische Untersuchung an speziellen Objekten jedoch kaum aus. Die Frage, warum das eine oder andere Erzeugnis der Unterschicht zuzuweisen ist, kann befriedigend nur beantwortet werden durch eine Untersuchung, ob und inwieweit dieses Erzeugnis für seine Existenz und Wirkung uneigenständiges Leben voraussetzt bzw. durch seine Existenz uneigenständiges Leben hervorruft oder befördert. Ferner haben die volkskundlichen Theorien vorwiegend statischen Charakter. Sie zeigen, unter welchen Bedingungen man von oberschichtlichem bzw. unterschichtlichem Leben sprechen kann und geben die Möglichkeit, die Erscheinungsformen des Kulturlebens – ihrer Erscheinung nach – dem jeweiligen Lebensbereich zuzuordnen. Eine Untersuchung wie die vorliegende jedoch, die sich mit den Bewegungen innerhalb der Schichten, mit ihrem

10 Stavenhagen 1936, 83  f. 11 Ebd., 95.

45

DAS MAGISCHE DES FILMS

46

Wandel und ihren Veränderungen befasst, darf nicht allein von den Schöpfungen der jeweiligen Schichten, sondern muss vornehmlich von den diese Schichten bildenden Menschen, d. h. von den eigentlichen Trägern des den Schichten eigentümlichen geistigen Lebens, ausgehen. Die statische Theorie muss durch einen dynamischen Gesichtspunkt ergänzt werden. Die Schwierigkeiten, welche sich einer statischen Theorie bei den genannten Problemen bieten, zeigen sich bei Stavenhagen z. B. schon darin, dass er – befasst er sich ausschließlich mit den Menschen – zwischen den beiden Schichten, »als bloßen Schatten der Oberschicht«, eine Zwischenschicht annehmen muss, die dadurch charakterisiert ist, »daß sie das rationale geschichtliche Leben der Oberschicht bewußt mitlebt, aber in der uneigenständigen Haltung der Unterschicht« 12 ‌. In dieser Überschneidung zeigt sich die grundsätzliche, die statische Theorie von einem dynamischen Gesichtspunkt trennende Unterscheidung von Kulturgut und Verhaltensweise. Beide gehen von dem aus dem Zusammenwirken von Kulturgut und Verhaltensweise entstehenden kulturellen Leben aus. Richtet sich hierbei eine statische Theorie jedoch mehr an dem ruhig untersuchbaren Kulturgut aus, so wird andererseits der dynamische Gesichtspunkt an der ständig fluktuierenden, immer bewegten und immer Bewegung erzeugenden Verhaltensweise selbst gewonnen. Gründet sich die erstere mehr auf eine phänomenologische Analyse der Kulturgüter, so der letztere in mehr psychologischer Sicht auf die zur Schaffung dieser Güter führenden, auf die von ihnen ausgehenden und auf die ihnen adäquaten Wirksamkeiten. Beide treffen sich wieder in dem Begriff des Lebens, in der theoretischen Begründung der jeweiligen Lebenssphäre. In diesem Sinne definiert R. Weiß die Volkskunde auch als die »Wissenschaft vom Volksleben«, d. h. als die Wissenschaft von der unterschichtlichen Verhaltensweise in ihrem Verhältnis zum Kulturgut 13. Ebenso wie bei den Kulturgütern ist aber natürlich auch der Unterschied zwischen oberschichtlicher und unterschichtlicher Verhaltensweise immer nur ein gradueller. Die psychologische 12 Ebd., 60. 13 »Volkskunde ist die Wissenschaft vom Volksleben. Das Volksleben besteht aus den zwischen Volk und Volkskultur wirkenden Wechselbeziehungen soweit sie durch Gemeinschaft und Tradition bestimmt sind« (Weiß 1946, 11). Während das tatsächliche Volksleben, nach Weiß, sich im Sinne dieser Definition immer in Verbindung mit Volkskultur begründet, kann man in einer sinngemäßen Erweiterung des Begriffes aber auch dort von Volksleben sprechen, wo sich unterschichtlich-volksmäßige Verhaltensweise mit oberschichtlichem Kulturgut verbindet.

EINLEITUNG

Abgrenzung der Schichten geht somit durch jedes einzelne Individuum. Während nun aber die Erforschung des Allgemein-Unterschichtlichen, d. h. des Primitiven in Menschen schlechthin, Sache der Psychologie (Individual-, Sozial- und Volkspsychologie) ist, muss die eigentliche Volkskunde immer den Kontakt zwischen dieser innerseelischen Verhaltensweise und den außerseelisch gegebenen Objekten, dem Kulturgut, herstellen. Aus der Erforschung des Wechselspiels zwischen Verhaltensweise und Kulturgut wächst das Erkennen der jeweiligen Lebenssphäre. Das Leben selbst aber ist wiederum ein dynamischer Begriff. Und so lassen sich auch diese Lebenssphären praktisch nie fest voneinander abgrenzen, sondern die Grenzen befinden sich innerhalb jeder Gemeinschaft, ja innerhalb jedes Individuums im Zustande ständiger Veränderung. Das Leben selbst ist in dieser Hinsicht wissenschaftlich wohl kaum erfassbar, wohl aber – nach seinen Erscheinungsformen und als psychologische Tatsache – das ihm zugrunde liegende oder aus ihm entstehende Erleben. Leben und Erleben aber stehen – besonders auch durch die jedem Erlebnis innewohnende und auf die Lebens- und Verhaltungsweise in ganz bestimmter Form einwirkende, bildende Kraft – wiederum in so enger Wechselbeziehung, dass man für den Bereich dieser Untersuchung auch sagen kann: Unterschichtliches Leben entsteht dort, wo unterschichtlich erlebt wird. Wenn man also die Bewegungen und Einflüsse untersuchen will, welche den Menschen der Oberschicht in die Lebenssphäre der Unterschicht ziehen, welche den Menschen der Unterschicht zum Menschen der Oberschicht, den Volksmenschen oder den Menschen der Oberschicht zum Massenmenschen verändern usw., so muss man vom Erlebnisvorgang ausgehen. Dies schließt fernerhin ein, dass auch die in dieser Hinsicht zu untersuchenden Objekte (Sitten, Bräuche, Kunstwerke, einzelne Kunstgattungen usw.) unter diesem Gesichtspunkt nicht nur ihrer Erscheinungsform nach der einen oder anderen Schicht zugewiesen werden dürfen, sondern auch auf das durch die ihnen immanente Wirkungsweise hervorgerufene Erlebnis hin zu betrachten sind. M. a. W.: Die einzelnen Objekte sind volkskundlich unter dem dynamischen Gesichtspunkt darauf‌hin zu untersuchen, inwieweit das durch sie vermittelte Erlebnis unterschichtlichen Charakter hat bzw. eine unterschichtliche Erlebnisweise voraussetzt bzw. eine solche hervorruft oder befördert. Das Zustandekommen und der Charakter der auf dem Wechselspiel von Kulturgut und Verhaltensweise beruhenden eigentümlichen Lebenssphäre erhellen sich aus der Erkenntnis des durch das Zusammenwirken von Erlebnisgut und Erlebnisweise entstehenden Erlebnisses.

47

DAS MAGISCHE DES FILMS

48

Das der phänomenal oberschichtlichen Verhaltensweise entsprechende Welt­er­leben ist nun, unabhängig vom Erlebnisgut, vorzüglich an den Prinzipien der Logik und der Ratio orientiert. Logik und Ratio sind nicht nur die Grundvoraussetzungen für jede wissenschaftliche Erkenntnis im weitesten Sinne des Wortes, sondern sie bilden darüber hinaus auch die Folie, auf deren Hintergrund sich jedes phänomenal oberschichtliche Erleben vollzieht. Sie sind in jeden Erlebnisvorgang als bestimmende Faktoren miteinbezogen. Sie setzen den Menschen in die Möglichkeit, die erlebten Zusammenhänge objektiv zu erkennen, und sind die Voraussetzung für eine Erkenntnis der Welt-an-sich, welche das erstrebte Fernziel jeder echt rationalen Lebenseinstellung ist.14 Je mehr diese Art des Welt­er­lebens, welches man, unabhängig von jeder Schichteinteilung, das logisch-rationale bzw. kurz das rationale Welt­er­leben nennen kann, ausgeprägt und für die Gesamteinstellung und -verhaltensweise bestimmend ist, desto mehr konstituiert sich das, was man unter dem Begriff der rational orientierten und damit phänomenal eigenständigen Persönlichkeit zusammenzufassen gewohnt ist: der Mensch, der zu allen Dingen des täglichen Lebens ein bewusstes Verhältnis, allen Dingen und Einflüssen gegenüber einen persönlichen, vorwiegend rational fundierten, festen Standpunkt hat. Abgesehen davon, dass diese Erlebnisweise nie vollkommen rein ausgebildet ist, sieht sich nun aber auch der Mensch vorwiegend logisch-rationaler Lebenseinstellung – zumal er aus seiner gewohnten, engeren Lebenssphäre heraustritt – oft Einflüssen ausgesetzt, denen gegenüber das Persönlichkeitsbewusstsein mehr oder weniger zurückgedrängt wird und deren Wirkungen er sich nicht ohne weiteres und sofort logisch-rational erklären kann, da sie dem logisch-rationalen Empfinden zuwiderlaufen. Meistens wird man sich der Andersartigkeit dieser Einflüsse, die keineswegs immer nur dem Gebiet des Aberglaubens zuzurechnen sind, im Augenblick ihrer Wirkung gar nicht einmal bewusst.

14 Im Sinne dieser Ratio entspricht der oberschichtlichen Erlebnisweise im Bereich der Kunst sinngemäß das ästhetische Erleben, d. h. »jenes Erleben, das den Werten des Kunstwerkes oder des ästhetischen Gegenstandes seinen Ursprung verdankt« (Geiger 1928, 5). Dem ästhetischen Erleben stellt Geiger weiterhin das sog. dilettantische Erleben gegenüber: »Wir werden überall dann vom Dilettantismus künstlerischen Erlebens reden dürfen, wenn erstens Kunstwerke Erlebnisse auslösen, die nicht aus den Werten des Kunstwerkes entstammen, sondern anderen Ursprung sind – die Erlebnisse den Werten des Kunstwerkes also inadäquat sind – und wenn zweitens diese inadäquaten Erlebnisse dennoch für echte künstlerische Erlebnisse gehalten werden« (ebd., 4).

EINLEITUNG

Es mag z. B. sein, dass irgendein Redner in einem Zuhörer, auch wenn ihm dieser ganz allein (z. B. am Radio) zuhört, Vorstellungen, Gefühle, Bilder und Gedanken hervorruft, welche den Hörer von der Richtigkeit seiner Argumente restlos überzeugen. Liest derselbe Zuhörer dann aber wenig später dieselbe Rede, so ist er vielleicht ganz erstaunt, dass er solch sinnlosen und unlogischen Ausführungen überhaupt zuhören konnte. Oder ein anderes Beispiel: Ich saß mit einem kunstverständigen Bekannten, welcher mir als klarer, logischer und nüchterner Denker bekannt war, im Kino und konnte dabei beobachten, wie ihn der Film – einer der üblichen Konfektionsfilme – an einigen Stellen regelrecht zu Tränen rührte. Als ich ihn dann nach Verlassen des Kinos um seine Meinung über den Film befragte, meinte er, dass das alles ein furchtbarer Kitsch und ein kompletter Unsinn gewesen sei, welche Behauptungen er auch sofort sehr stichhaltig zu begründen wusste. Als ich ihn dann weiter wegen seiner Rührung befragte, konnte er sich an die Intensität derselben kaum mehr erinnern. Es sei aber möglich, so sagte er, dass der Film in ihm – wie ihm das bei Filmen öfter geschehe – Gedanken und Gefühle wachgerufen habe, die an sich wohl gar nichts mit dem Film zu tun gehabt hätten. Und dann habe der Film ihn vielleicht auch sehr in sein Milieu »hineingezogen« – was aber mit der Handlung und der künstlerischen Qualität des Films natürlich auch gar nichts zu tun hätte. Derartige Erlebnisse, die man gewöhnlich auch mit Begriffen wie Sentimentalität, »Suggestionskraft des Kitsches«, »Pseudo­ roman­ tik«, Rührseligkeit usw. zu charakterisieren pflegt, einfach als Suggestionsphänomene abzutun, hieße, das Problem in unsachlicher Weise zu vereinfachen. Es blieben dann auch darüber hinaus immer noch die Fragen nach den der suggestiven Wirkung zugrunde liegenden Ursachen und Kräf‌ten und nach der Art des durch sie ausgelösten Erlebnisses offen. Der Sprachgebrauch des Alltags bezeichnet derartige Einflüsse vielmehr sehr richtig oft auch als magisch, womit jedoch in einer Verwischung des Begriffes meistens durchweg alle im Moment ihrer Wirkung oder auch späterhin mehr oder weniger unerklärbaren Phänomene bezeichnet werden – angefangen bei der einfachen Taschenspielerei eines »Zauberkünstlers« oder »Hypnotiseurs« bis zur »magischen Kraft« eines Redners, Naturheilpraktikers usw. Trotzdem soll hier der so vieldeutige Ausdruck »magisch« für diese Untersuchung beibehalten werden und diese Erlebnisweise als das magisch-mystische bzw. kurz das magische Welt­er­leben bezeichnet werden; erstens, weil in einem derartigen Erlebnisvorgang eine von außen auf das bewusste Ich einwirkende (»magische«) Kraft bestimmend wirksam wird, und zweitens, weil es sich dabei um

49

DAS MAGISCHE DES FILMS

50

diejenige Erlebnisweise handelt, welche in ihrer stärksten Ausprägung der Magie und dem Mystizismus zugrunde liegt. Eine derartige Erlebnisweise jedoch einfach als unterschichtlich zu bezeichnen, erscheint als zu ungenau, da das magisch-mystische Welt­er­ leben wohl zu unterschichtlichem Erleben führen kann, nicht aber notwendigerweise mit ihm identisch ist. Das magisch-mystische Welt­er­leben ist ein von den statischen Begriffen geistiger Schichtung unabhängiger, dynamischer Begriff. Der Charakter der aus ihm resultierenden unterschichtlichen Verhaltensweise hängt von dem Charakter des mit ihm zusammentreffenden Erlebnisgutes ab. Als magischer Einfluss gilt in diesem Sinne jeder Einfluss, der das Zustandekommen magisch-mystischen Welt­er­lebens bewirkt oder befördert. Die Untersuchung nähert sich also dem Problem der Dynamik innerhalb unseres Volks- und Kulturlebens unter dem dynamischen Gesichtspunkt mit der Frage, inwieweit und auf welche Art und Weise das für unsere Kultur typische und damit auch für die Mehrzahl der in ihrem Wirkungsbereich lebenden Menschen weitgehend bestimmende logisch-rationale Welt­er­leben dahingehend beeinflusst werden kann, dass ein phänomenal magisch-mystisches Welt­er­leben wirksam wird, woran sich dann unmittelbar die Frage anschließt, welcher Art diese Wirksamkeit – hinsichtlich der oben angeführten Veränderung der Verhaltensweise – ist. Es wird also zuerst in einer prinzipiellen Untersuchung diese dem logisch-rationalen Welt­ er­ leben entgegengesetzte Erlebnisweise allgemein-theoretisch unter phänomenologischem und psychologischem Gesichtspunkt betrachtet werden, d. h. es wird untersucht werden, ob und inwieweit die der Magie und dem Mystizismus zugrunde liegende Geisteshaltung bzw. Erlebnisweise sich als eine der logisch-rationalen Erlebnisweise entgegengesetzte Einstellung darstellt, und fernerhin ob und in welcher Form diese Erlebnisweise, ohne Rücksicht auf historische Gegebenheiten und ohne Rücksicht auf für bestimmte Schichten oder Einzelpersonen gültige und bestimmende logisch-rationale Normen, wirksam werden kann. Im zweiten Teil soll dann am Beispiel des Films, also an einer in ihrer heutigen Form erst im 20. Jahrhundert entstandenen Kunstgattung, das Zustandekommen eines derartigen Welt­er­lebens und dessen Wirksamkeit untersucht werden.

I. TEIL Das Magische Welt­er­leben

Zur Phänomenologie des Magischen Welt­er­lebens Magische Praktiken als Erscheinungsformen magischen Welt­er­lebens Was ist das magische oder, genauer gesagt, das magisch-mystische Welt­er­leben? Wie ist es beschaffen, welches sind seine hervorstechenden Kennzeichen? – Es sei hier zunächst als seine sichtbarste Auswirkung die mit ihm in engstem Zusammenhang stehende magische oder Zauberhandlung betrachtet, wie sie sich auf der Welt so ziemlich überall und zu allen Zeiten findet. Nach dem Glauben der alten Ägypter z. B. hatte der Sonnengott Ra jede Nacht, wenn er zu seinem Heim im glühenden Westen herabstieg, einen bitteren Kampf gegen eine Schar von Dämonen zu bestehen, die ihn unter der Führung des Erzfeindes Apepi überfielen. Er kämpf‌te mit ihm die ganze Nacht und häufig waren die Mächte der Finsternis stark genug, noch des Tags dunkle Wolken an den blauen Himmel zu senden, die seine Kraft schwächten und sein Licht abhielten. Um dem Gotte beizustehen, wurde in einem Tempel zu Theben täglich folgende Zeremonie aufgeführt: Es wurde aus Wachs ein Bild seines Feindes Apepi gemacht, in der Gestalt eines scheußlichen Krokodils oder einer lang geringelten Schlange, und der Name des Dämons mit grüner Tinte darauf geschrieben. In ein Papyrusgehäuse gehüllt, auf dem eine ähnliche Zeichnung angebracht war, wurde dann diese Figur mit schwarzem Haar umwickelt, vom Priester angespuckt, mit einem Steinmesser bearbeitet und auf den Boden geworfen. Dann trat er mit seinem linken Fuß auf sie und endlich verbrannte er sie in einem von gewissen Pflanzen genährten Feuer. Nachdem Apepi in solcher Weise beseitigt worden war, geschah mit allen Dämonen seines Gefolges das Nämliche. Die bösen Feinde verspürten die Züchtigung, die ihren Bildern widerfahren war, als ob sie sie selbst erlitten hätten; sie flohen und der Sonnengott triumphierte

53

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

54

von Neuem.1 Dieser magischen Handlung wesensgleich ist folgender Sonnenzauber aus der Gegenwart: In Schwaben wird am Sonntag nach Fastnacht ein mächtiger Holzstoß nach Einbruch der Dunkelheit angezündet; mit seinem Schatz tanzt der Bursche um den Holzstoß und springt durch das Feuer. Gelegentlich wird dabei auch eine Strohpuppe, die »Hexe« genannt, auf eine hohe Stange gesteckt und verbrannt. Den Schluss dieser Feier bildet das Scheibenschlagen. Man steckt Holzscheiben an Stangen, zündet sie am Holzstoß an, schleudert sie durch die Luft oder lässt sie den Berg hinunterrollen. Wie die Scheiben und Sonnenräder das Land ringsum erleuchten, so soll auch jetzt am Ende des Winters, wo die Sonne völlig kraftlos geworden ist, das Himmelslicht erneut zum Scheinen im kommenden Jahr gezwungen werden. In jener Strohpuppe oder Hexe wird der Dämon des Winters verbrannt.2 In beiden Fällen, welche um Jahrtausende auseinander liegen, handelt es sich um einen auf Naturerscheinungen bezüglichen Analogiezauber, in dem durch vorwiegend nachahmende Handlungen ein Einfluss ausgeübt werden soll. Es zeigen sich hierin die beiden Hauptelemente jeder magischen Handlung: Beeinflussungsversuch und indirekter Zusammenhang von Handlung und Objekt. Magie ist somit ganz allgemein jede Handlung, die eine Beeinflussung entweder der übersinnlichen oder der sinnlichen Welt bezweckt, aber weder rein symbolische Kulthandlung noch rational-technische Operation ist. Nach logisch-rationalem Empfinden sind solche Handlungen sinnlos, nicht nur, weil die Erfahrung ihre Wirkungslosigkeit erweist,3 sondern auch, weil sie von vornherein auf einen falschen Kausalzusammenhang begründet sind. Sinnvoll können solche Praktiken also nur dann sein, wenn sie als Reaktion auf ein Erleben der sinnlichen und übersinnlichen Welt erfolgen, aus welchem magisch-mystische und mythologische Vorstellungen entstehen und das dem Erlebenden die Überzeugung von der Wirksamkeit seiner Praktiken gibt. In ausgeprägten Erscheinungsformen und damit für eine phänomenologische Betrachtung am geeignetsten findet sich diese Art des Welt­er­lebens (wie das logisch-rationale Welt­er­leben in der Gegenwart unserer Kultur) auf einer Kulturstufe, auf der Kul1 J. G. Frazer (1911), The magic art and the evolution of kings: in 2 volumes. Vol. 2, 67, zit. n. Freud 1924, 98  f. 2 Vgl. Pfister 1936, 72  f. 3 Bekanntlich hat die magische Theorie immer wieder starken Gegenzauber oder Unterlassung oder unrichtige Ausführung der Praktiken als Haupterklärungsgründe für Misserfolge.

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

tus und Technik relativ gering entwickelt sind: in der primitiven Gemeinschaftskultur. Als primitive Gemeinschaft gelten hier in diesem Sinne alle festen oder Augenblicksgemeinschaf‌ten, die sich durch eine besondere Gemeinsamkeit (Kollektivität) in Bezug auf ein phänomenal primitives Erleben auszeichnen, d. h. besonders die Naturvölker der Gegenwart und die Menschen der Frühzeit und – graduell differenziert – auch weite Personenkreise unserer heutigen Kultur.4

Die primitiven Seelenvorstellungen als Erscheinungs­formen magischen Welt­er­lebens Zu den augenfälligsten Erscheinungsformen magisch-mystischen Welt­er­lebens zählen die primitiven Seelen- und Kräftevorstellungen, wie sie sich vornehmlich aus dem existenziellen Erlebnis des Primitiven von Krankheit und Tod herleiten. Nach der Theorie des Animismus erlebt der Primitive die ganze Welt und alle ihre Objekte als beseelt. Der Tod, bei dem der Körper plötzlich regungslos wird, und der Traum, in dem man sich an ferne oder fremde Orte begeben und mit fernen Menschen oder auch Gestorbenen treffen kann und in dem ferne Menschen zu uns kommen, mögen dabei die Ausgangspunkte für die Annahme gewesen sein, dass die Seele etwas Selbstständiges sei. Die Seele wird dabei als ein unstoff‌liches, von den Bedingungen von Zeit und Raum unabhängiges Etwas vorgestellt, das den Körper verlassen kann und durch den Tod zwar von ihm getrennt wird, selbst aber weiterlebt.5 Vielerorts lassen sich derartige Vorstellungen bei Primitiven und auch im Volksglauben der Gegenwart nachweisen, so z. B. in dem weit verbreiteten Brauch das Fenster des Totenzimmers zu öffnen bzw. einen Ziegel vom Dach zu lösen, damit die Seele des

4 Schon aus dieser notwendigen Zusammenstellung ergibt sich, dass der Begriff des magischen Welt­er­lebens relativ, d. h. von Kulturstufe oder -schicht unabhängig, sein muss, ebenso wie der Begriff des Primitiven relativ ist und immer nur einen Ausschnitt aus dem Allgemein-Menschlichen darstellt. Denn wenn das primitive Weltbild in seiner stärksten Ausprägung auch am Anfang des von uns in dieser Hinsicht übersehbaren Zeitraumes steht, so stellt es in der Gesamtentwicklung der Menschheit doch auch nur eine Stufe dar. 5 »Es scheint«, sagt Tylor, der Begründer und Systematiker der animistischen Theorie, »als ob zwei Gruppen von biologischen Problemen auf denkende Menschen, selbst auf einer noch niedrigen Kulturstufe, einen tiefen Eindruck gemacht haben. Erstens: Was unterscheidet einen lebenden Körper von einem

55

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

Verstorbenen hinaus kann usw.6 Oft liegen auch dem weit über die deutschen Grenzen hinausgehenden – auch bei den Slaven, Finnen, Romanen (besonders in Frankreich), ganz allgemein im Norden, in England und Schottland, und schon bei den alten Griechen, Römern und Kelten und bei den wahrscheinlich slavischen Mythen ganz ähnlich sich vorfindenden – Glauben vom Werwolf   7 und seiner altnordischen Parallele, dem Berserker- oder Bärenhäuterglauben – welch letzterer heute noch als die Vorstellung von übernatürlicher Wildheit in abgeschwächter Form in dem Begriff des »furor teutonicus« weiterlebt – animistische Vorstellungen zugrunde.

56

toten? Was ist die Ursache von Wachen, Schlaf, Verzückung, Krankheit, Tod? Zweitens: Was sind jene menschlichen Gestalten, die uns in Träumen und Visionen erscheinen? Es war zweifellos der erste Schritt der ›wilden‹ Philosophen, die einstens diese beide Gruppen von Erscheinungen betrachteten, daraus zu schließen, daß jedermann zwei Wesen hat, die ihm zukommen, sein Leben und sein Phantom. Das eine wie das andere stehen offenbar zum Körper in einer engen Beziehung: das Leben, indem es befähigt, zu fühlen, zu denken und zu handeln, das Phantom, indem es sein Abbild oder sein zweites Ich ist; auch können sich beide von dem Körper loslösen, das Leben, indem es ihn verlassen kann, sodaß er fühllos oder tot zurückbleibt, das Phantom, indem es Leuten erscheinen kann, die von jenem Körper sehr weit entfernt sind. Der zweite Schritt […] ist der, das Leben und das Phantom einfach zu verbinden. Da alle beide zum Körper gehören, warum sollte nicht eines zum anderen gehören, warum sollten sie nicht die Manifestationen einer und derselben Seele sein? […] Dies entspricht jedenfalls dem wirklichen Begriff der persönlichen Seele und des persönlichen Geistes, der sich bei den niederen Rassen findet und vielleicht folgendermaßen definiert werden kann: er ist ein Bild ohne Dicke, ohne Körper, seiner Natur nach eine Art Dampf, Häutchen oder Schatten, die Ursache des Lebens und Denkens im Individuum, in welchem es haust; er meistert das persönliche Bewußtsein und den Willen seines körperlichen Besitzers von einst oder von jetzt; er ist fähig den Körper im Stich zu lassen und an den allerentferntesten Orten plötzlich zu erscheinen; er ist meistens unfaßbar, man kann seiner nicht habhaft werden, und doch offenbart er auch physische Kraft; besonders erscheint er den Menschen, mögen diese nun wachen oder schlafen, als ein von dem Leibe, dem er ähnlich ist, getrenntes Gespenst; er hat die Eigenschaft auch nach dem Tode dieses Leibes fortzudauern und den Menschen zu erscheinen. Endlich kann er in den Körper anderer Menschen, in Tiere und selbst in unbelebte Dinge hineinfahren, sie in Besitz nehmen und dort sein Wesen treiben. […] Es sind dies Lehren, die in wirksamster Weise dem reinen Zeugnis der menschlichen Sinne, wie eine vollkommen logische und rationale primitive Philosophie es auslegt, Genüge leisten« (E. B. Tylor [41903], Primitive culture. Researches into the development of mythology, philosophy, religion, language, art, and custom. Vol. 1, 428–249, zit. n. Lévy-Bruhl 1921, 61  f.). 6 Vgl. Sartori 1910, 127. 7 Vgl. Wuttke 1925, 276  f.

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

In der nordischen Bjarki-(Bärchen-)Sage z. B. kämpft, »solange Bjarki unbeweglich zu Hause bleibt, sein anderes Ich in Bärengestalt vor dem König her, sobald aber Bjarki, geweckt, sich zum Kampf erhebt, ist der Bär verschwunden und die Kraft des Helden vermag ihn nicht zu ersetzen« 8. Ebenso können auch die Ursachen des Alpdrückens animistisch vorgestellt werden.9 Schlaf-, Traumund Seelenvorstellungen sind hierbei eng miteinander verbunden. Dass jedoch die animistische Theorie nicht (die besonders von Tylor beanspruchte) Allgemeingültigkeit haben und auch nicht die ursprünglichste Seelenvorstellung sein kann, ergibt sich schon aus dem Umstande, dass sie einmal einen sehr bewussten und abstrakten Begriff von der Seele bzw. vom Dualismus von Leib und Seele voraussetzt und zum anderen retrospektiv der primitiven Mentalität als Hauptgrund für ihre Vorstellungsweisen das Bestreben nach logisch-kausaler Erklärung der auf sie einwirkenden Phänomene unterschiebt – ein Bestreben, das nicht nur für das magisch-mystische, sondern gerade für das ganz anders geartete logisch-rationale Verarbeiten der Welt typisch ist. M. a. W.: Die Voraussetzung für die Allgemeingültigkeit der animistischen Theorie ist das Postulat, dass der Mechanismus der menschlichen Psyche nicht nur in seinen Möglichkeiten, sondern auch in seinen Funktionen immer gleich war. Unter diesem Postulat aber würden viele Phänomene des magischen Welt­er­lebens unbegreif‌lich bleiben. Eine Reihe derartiger Phänomene – insbesondere die Vorstellung vom »lebenden Leichnam« – führte zu der Theorie des Präanimismus, der eine möglicherweise ihrem Ursprunge, zumindest aber eine ihrem Stile nach ältere Erscheinungsform des primitiven Seelenglaubens darstellt. Die präanimistische Vorstellungsweise beruht darauf, dass der Mensch nicht als eine Doppelheit von Leib und Seele aufgefasst wird, sondern dass Leib und Seele eins sind und auch nach dem Tode eins bleiben. Liegt in der animistischen Vorstellungsweise das Hauptgewicht also auf der Seele, die zwar nicht immer gesehen, deren Wirkungen aber allerseits erkannt

8 Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 1, 911. 9 »Der Vorgang des Alpdrückens wird entweder so gedacht, daß die betreffende Person sich unmittelbar in das Alptier etc. verwandelt, oder meist so, daß ihre Seele durch den Mund aus ihrem Leib herausgeht und die Plage bewirkt, währenddessen liegt der seelenlose Leib wie in tiefem Schlafe und diese Irrfahrt kommt dem Menschen beim Erwachen wie ein Traum vor; Salzburgischem Volksglauben zufolge läßt die Drude ihren Körper draußen vor dem Hause stehen, und wenn man diesen anrührt oder anredet, so fällt er zusammen und die Drudenseele in dem Hause stößt einen fürchterlichen Schrei aus« (Wuttke 1925, 275).

57

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

werden können, so liegt in der weniger differenzierten präanimistischen Vorstellungsweise das Hauptgewicht auf dem Leib und alle Vorstellungen beziehen sich so auf etwas sicht- und greif‌bares. Ritus und Charakter der Grabbeigaben erklären sich – nach Naumann, dem Hauptvertreter der präanimistischen Theorie – aus diesem Glauben. Speise und Trank, Werkzeuge, Waffen, Amulette, Schmuck und Gefäße, entzündete Feuer, damit der Tote nicht friere; Schermesser, Rasierzeug, Geld, Lieblingstiere und Lieblingsmenschen; das alles erhält nur Sinn, wenn man noch nichts weiß von einer Seele, die den Körper verlässt, um für sich fortzuleben, sondern wenn man an den lebendigen Leichnam mit materiellsten und körperlichsten Bedürfnissen glaubt, der, obzwar veränderten Zustands, sein geheimnisvolles Leben im Grabe weiterführt und möglichst ungestört daselbst weiterführen soll. Denn eben zu dem Zwecke bekommt er sein Eigentum mit, damit er nicht zum Wiedergänger wird und es sich selber holen kommt.10 Um zu verhindern, dass der Tote zum Wiedergänger wird, versucht man sich auch seiner (d. h. der Leiche) oft auf mannigfache Weise durch magische oder technische Operationen zu versichern. Bis in die jüngste Vergangenheit hat sich dieser Glaube, der oft – im Sinne des Präanimismus – in vollkommen körperlichen Handlungen zum Ausdruck kommt, teilweise in der Unterschicht noch erhalten.11 Diese undifferenzierte, präanimistische Leib-Seele-Vorstellung kann aber auch dem schon beim Animismus erwähnten Werwolfglauben zugrunde liegen. »Menschen verwandeln sich zeitweise, meist nur für einige Stunden, in Wölfe, indem sie sich einen Wolfsriemen, aus Wolfsleder oder Menschenhaut, […] um den bloßen Leib schnallen. Wenn sie wieder die menschliche Gestalt annehmen wollen, öffnen sie die Schnalle« 12. Die Verwandlung ist hier eine absolut ganzheitliche.13 Ebenso zeigte sich beim Alpdrücken, 58

10 Vgl. Naumann 1921, 6. 11 So berichtet Naumann: »In Niederzimmern mußte noch 1798 verboten werden, ›den Verstorbenen die Arme und Beine zu binden, da sie wieder lebendig werden könnten‹. – Noch 1901 ward in Lichtenhain bei Jena die Leiche eines Vagabunden, der im Dorfe gestorben und ins Spritzenhaus verbracht worden war, mit Strohseilen fest an Armen und Beinen verschnürt am Morgen aufgefunden. Die ermittelten Täter gestanden freimütig, sie hätten es getan, um ›dem Kerl das Herumstrolchen endgültig auszutreiben‹« (ebd., 58). 12 Wuttke 1925, 277. 13 Dass die Verwandlung vollkommen körperlich vorgestellt werden kann, zeigt u. a. auch die bekannte Erzählung des Nikeros in den Satiren des Petronius: »Wir [Nikeros und ein Soldat, H. A.] machten Schluß mit dem Zechen beim ersten Hahnenkrähen und zogen los. Der Mond schien taghell. Wir kamen zwi-

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

dass die betreffende Person sich auch »unmittelbar in das Alptier« verwandeln kann (vgl. S. 57, Anm. 9). Wird nun im Animismus die Seele als selbstständiges Wesen und im Präanimismus als mit dem Körper untrennbar verbunden gedacht, so stellt die dritte der drei hauptsächlichen Theorien vom primitiven Seelenglauben, der von Pfister entwickelte Orendismus, in gewissem Sinne schon einen Übergang zu den primitiven Kräftevorstellungen dar. Der Ausdruck Orenda stammt aus dem Irokesischen und ist dort ein »Begriff für die Betätigung der einem Wesen eigentümlichen Lebensfunktion«. Jedes Lebewesen und jedes Ding hat also ein ihm eigentümliches Orenda. Der Schamane ist einer, dessen Orenda fein ist. Hat jemand auf der Jagd Erfolg, so heißt es: »Er beschämt das Orenda des Wildes«, im umgekehrten Falle jedoch haben die Tiere »sein Orenda übertroffen« 14. Das Orenda steht also seinem Charakter nach zwischen der primitiven Seelenvorstellung und der Vorstellung von einer überall und in allen Dingen wirkenden Allkraft. Es ist die jedem Einzelindividuum innewohnende spezifische Kraft. Der Mensch steht mit seinem eigenen Orenda einer Vielzahl von Orenden seiner Umwelt gegenüber, die er sich – will er nicht ihnen ausgeliefert sein – durch magische Praktiken nutzbar machen muss. Auch ist das Orenda übertragbar.15 So ließen sich auch viele Fälle des Werwolfs- und Berserkerglaubens orendistisch erklären: Durch Umschnallen des schen die Grabsteine. Da setzte sich mein Mann an einen Grabstein […] Ich setzte mich hin, trällerte ein Liedchen und zählte die Grabsäulen. Wie ich mich wieder nach meinem Kameraden umschaue, hat er sich nackt ausgezogen und alle seine Kleider längs der Landstraße niedergelegt. Mir war mein Leben in die Nase gefahren und ich stand starr wie ein Töter. Er aber schiff‌te einen Kreis um seine Kleider und verwandelte sich plötzlich in einen Wolf« (Petronius, »Satiren«, 62. Abschnitt). 14 J. N. Hewitt (1902), Orenda and a suggestion towards the origin of religion, zit.  n. Beth 1927, 261  ff. 15 Als »Orendismus« bezeichnet Pfister allerdings darüber hinaus noch – als eine der »vier überhaupt möglichen Gottesvorstellungen« (neben Polytheismus = viele persönliche Götter, Pantheismus = ein unpersönlicher Gott, und Monotheismus = ein persönlicher Gott) – ganz allgemein den Glauben an viele unpersönliche Götter« (Pfister 1936, 26). Diese Erweiterung des Begriffes führt jedoch wohl leicht zu Missverständnissen, zumal ja mit dem Begriff »Gott« mehr Anbetung, Umstimmung, Geneigtmachen, Dank usw., weniger aber rein magische Praktiken verbunden sind. Selbstverständlich können aber orendistische Vorstellungen auch in den volkstümlichen Gottesglauben einf‌ließen bzw. diesen stützen. Die Bauersfrau z. B., die irgendein Bild oder einen Gegenstand besonders segenbringend oder heilkräftig machen will, indem sie ihn mit einem ihrer Vorstellung nach wunderwirkenden Muttergottesbild in Berührung bringt, ist ein beredtes Beispiel hierfür.

59

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

60

Wolfslederriemens macht sich der Mensch das (nach dem Prinzip des pars pro toto) sowohl dem Teil wie auch dem Ganzen, also auch der Haut, innewohnende Orenda des Wolfes zunutze. Und auch in der oben (siehe S. 57) zitierten Bjarki-Sage wird vor allem die Kraft des Bären hervorgehoben, die »die Kraft des Helden nicht zu ersetzen vermag«. Wie schon diese wenigen verschiedenen Aspekte ein und desselben Phänomens zeigen, ist es oft schwer, die einzelnen, aus magisch-mystischem Welt­ er­ leben resultierenden Vorstellungen eindeutig der einen oder anderen Theorie zuzurechnen. So erklärt Pfister z. B. auch die nach Naumann präanimistische Vorstellung vom »lebenden Leichnam« 16 rein orendistisch. Sie besagt danach, »daß eine Kraft, von der ein Mensch zu seinen Lebzeiten erfüllt ist, auch nach seinem Tod an seinem Leichnam haftet, sodaß also auch von diesem noch Wirkungen ausgehen können« 17. Gegen diese Theorie sprechen nun in gewissem Sinne das Pfählen von Leichen und andere aus Furcht vor ihrer Wiederkehr entstandene Bräuche, in denen absolut körperliche Vorstellungen vorherrschen (vgl. S. 58, Anm. 11). Für sie spricht andererseits das häufige hoffnungsvolle Bestreben, der Leiche ein lebensfrisches Aussehen zu geben und sich dadurch der ihr innewohnenden (Lebens-)Kraft zu versichern.18 Die vorstehende kurze Darstellung der drei Hauptformen primitiven Seelenglaubens bzw. der drei hauptsächlichen, aufgrund der mannigfaltigen Erscheinungsformen entwickelten Theorien über ihn und die angeführten Beispiele zeigten, wie sehr in den einzelnen Erscheinungsformen magisch-mystischen Welt­er­lebens die einzelnen Vorstellungsbegriffe ineinander verfließen können. Neben Erscheinungen, welche eindeutig der einen oder anderen theoretisch herausgearbeiteten Vorstellungsweise zugerechnet werden können, steht eine Unzahl anderer, die nicht ohne Weiteres in das Schema passen. Alle aber stehen sie in einem sinnvollen Verhältnis zur magischen Praktik, zur Magie, alle entstammen sie somit dem gemeinsamen magisch-mystischen Welt­ er­ leben. 16 Vgl. Naumann 1921,  18  ff. 17 Pfister 1936, 28. 18 So zeigen unzählige Gräber vom Paläolithikum an die Leichen mit Ocker, Rötel oder roter Farbe übergossen oder darauf gebettet, und man hat mit Recht die Beigabe der roten Farbe mit dem Wunsch der Hinterbliebenen zusammengebracht, den Toten lebendig rot, wie er im Leben war, zu erhalten, ihm also mit der roten Farbe Leben und Kraft mitzugeben, damit er wieder wirken könne (F. v. Duhn [1906], »Rot und Tod«, in: Archiv für Religionswissenschaft, Bd.  9,  1  ff., zit.  n. Pfister 1936,  114  f.)

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

So gilt es, um in phänomenologischer Sicht das Typische dieses Welt­er­lebens zu charakterisieren, das allen Erscheinungsformen Gemeinsame festzustellen: Der im magischen Welt­ er­ leben befangene, der magische Mensch erlebt die Seele nicht als ein Etwas, das unwiderruf‌l ich mit seinem einmaligen, individuellen Körper verbunden ist und dessen Existenz zusammen mit der Existenz dieses Körpers im Augenblick des Todes für menschliches Erfahren, d. h. innerhalb der realen menschlichen Erlebnissphäre, unwiderruf‌lich zu Ende ist. Auf primitivster Stufe glaubt der magische Mensch vielmehr an die Wiederkehr bzw. an ein Weiterleben der monistisch vorgestellten Einheit »Leib – Seele«. Von dem Augenblick an jedoch, da er sich der Andersartigkeit von Leib und Seele bewusst wird, lebt er in innigster seelischer Beziehung zur sinnlichen und übersinnlichen Welt, zu seiner belebten und unbelebten Umwelt, und zwar derart, dass Seelisches von ihm in andere belebte oder unbelebte Körper oder an andere Orte wandern kann, dass Seelenkraft aus anderen Körpern oder Lebewesen in ihn überfließen kann und umgekehrt und dergl. mehr. M. a. W.: Seine eigene Seele ist nicht auf seine individuelle Person beschränkt, sondern kann diese verlassen oder kann ein Mehr aus der Umgebung in sich aufnehmen, ein anderes Teilchen einer Seelenvielheit, die in ihrem Wesen ein Ganzes darstellt, von dem seine Seele wiederum nur ein Teilchen ist. So ist er aufgrund dieser Seelenvorstellungen innig verkettet mit allen Naturereignissen seiner sinnlichen und übersinnlichen Umwelt, die – da sie ja wiederum vorwiegend nur Äußerungen von Seelen, Geistern, Dämonen und dergl. sind – ebenso gut in ihm selbst sich ereignen und ihn so ganz in ihren Bann ziehen.

Die primitiven Kräftevorstellungen als Erscheinungsformen magischen Welt­er­lebens Noch stärker als im Seelenglauben zeigt sich die für das ma­gisch-­ mystische Welt­er­leben charakteristische intensive Verbindung des magischen Menschen mit seiner sinnlichen und übersinnlichen Umwelt im magisch-mystischen Kraftbegriff. Als charakteristische Beispiele seien hier das Mana der Melanesier und das Wakonda der nordamerikanischen Sioux angeführt. Das melanesische Mana ist eine nicht natürliche, sondern in gewissem Sinne übernatürliche Kraft oder Einwirkung; aber es zeigt sich in natürlichen Kräf‌ten und in irgendwelcher Macht oder Übermacht, die einzelne Menschen besitzen. Dieses Mana ist

61

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

62

nicht an irgendetwas gebunden und kann auch überallhin mitgeteilt werden. Geister, vom Körper getrennte Seelen, übernatürliche Wesen besitzen es und können es mitteilen. Ursprünglich geht es immer von persönlichen Wesen aus, aber es kann sich vermittels des Wassers, eines Steines oder eines Knochens äußern. Die Idee irgendeines höchsten Wesens ist nicht hiermit verbunden. Vielmehr handelt es sich um einen Glauben an die Existenz einer »übernatürlichen, zur Sphäre des Unsichtbaren gehörigen Macht«, und die um sie sich drehenden Praktiken sind »Mittel, um diese Macht zu eigenem Vorteil zu verwenden«. Hat jemand Mana bekommen, so kann er es gebrauchen und dirigieren. Der Beweis für seine Anwesenheit wird durch eine Probe festgestellt. Findet z. B. jemand zufällig einen Stein, der durch seine sonderbare Gestalt die Aufmerksamkeit erregt, so ist er überzeugt, keinen gewöhnlichen Stein vor sich zu haben, sondern einen Mana-Träger. Er schreitet zur Prüfung: Er legt ihn z. B. an den Fuß eines Baumes, mit dessen Frucht der Stein eine gewisse Ähnlichkeit besitzt, oder er vergräbt ihn im Boden, wenn er seinen Garten bepflanzt. Ein überreicher Ertrag des Gartens oder Baumes beweist alsdann, dass er recht geurteilt hatte: »Der Stein ist Mana«, denn er hat jene übernatürliche Kraft in sich. Er ist als Inhaber dieser Macht ein Vehikel, das auch anderen Steinen Mana übermitteln kann. Vermehren sich einem Menschen seine Schweine außerordentlich oder gedeiht sein Garten sehr gut, so ist nicht sein Fleiß oder seine Sorgfalt der Grund hierfür, sondern der Besitz eines besonders auf Schweine oder Yams wirkenden manaerfüllten Steines. Selbstverständlich wissen die Leute, dass Yam auf natürliche Weise wächst, wenn er gepflanzt wird; lediglich das ausgiebigere Wachstum ist die Folge des Mana.19 Das Mana ist also im Gegensatz zum Orenda, das zwar auch als unpersönliches und immaterielles Kraft- und Lebensprinzip, aber doch wesentlich spezifizierter vorgestellt wird, eine immaterielle, unpersönliche, ja umfassende Kraft, die immer und überall – in Menschen, Tieren, Pflanzen, Gegenständen, Seelen, Dämonen usw. – wirksam werden kann. Dem Mana in vieler Hinsicht ähnlich ist das Wakonda der nordamerikanischen Sioux und Dakota. Auch das Wakonda ist eine immaterielle, unpersönliche und überall wirkende Kraft. Doch unterscheidet es sich vom Mana dadurch, dass es nicht an Dämonen oder sonstwie gebunden ist, sondern dass »das Tier wie

19 Vgl. R. H. Codrington (1891), The Melanesians. Studies in their anthropology and folk-lore,  118  ff., zit.  n. Beth 1927, 212  ff.

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

der Mensch und ähnlich die Pflanze in direkte Beziehung zu diesem Wakonda treten kann, welches selbständig gedacht ist« 20. Es entfernt sich also seinem Charakter nach vom rein Magischen. Die häufig geübte Anflehung des Wakonda und das zu seiner Erreichung angewandte Gebet zeugen darüber hinaus von einem schon stark (mystisch-)religiösen Charakter.21 Es fehlt jedoch noch der konkrete Gottesbegriff. Magische Praktiken aber treten hier offensichtlich stark zurück und an ihrer Stelle kommt im Wakonda-Glauben eine »symbiotische Sympathetik mit Natur und Kosmos« 22 zum Ausdruck. Der Mensch fühlt sich mit seiner Umwelt und mehr noch mit dem ganzen Kosmos eins in einer universalen Symbiose. So stellen das melanesische Mana und das siouanische Wakonda gleichzeitig zwei Grenzbegriffe magisch-mystischer Kräftevorstellungen dar. In einem Falle ist es die überall wirksame Kraft, die sich der magische Mensch durch alle möglichen magischen Praktiken nutzbar zu machen, im anderen Falle ist es die selbstständig wirkende Allkraft, derer er sich durch Eingabe zu vergewissern sucht. Immer aber wird durch die Kraft, die sowohl in ihm selbst als auch in seiner sinnlichen und übersinnlichen Umwelt wirksam ist, eine intensive Beziehung zwischen der eigenen Person und dieser Umwelt hergestellt. In beiden Fällen also drückt sich auch in den primitiven Kraftvorstellungen – ähnlich wie in den Seelenvorstellungen – ein Welt­er­leben aus, zu dessen charakteristischen Kennzeichen eine innige Verkettung des Menschen in seine Umwelt und eine starke Beeinflussbarkeit durch deren Geschehnisse und Vorgänge gehören. 20 Ebd., 230. 21 Als Beispiel sei hier ein Brauch der Omaha (Nordamerika) angeführt: »Regelmäßig wird ein bestimmtes Gebet bei dem feierlichen Akt gesprochen, den der junge Mann bei den Omaha gern für sich allein vornimmt, wenn er, um sich selbst zu finden, seines Ichs in irgend einem höheren, gleichsam mystischen Zusammenhange gewiß zu werden, den mehrtägigen Aufenthalt in einsamer Bergeshalde wählt. Er geht hinaus in dem Bewußtsein, schwach an Wakonda zu sein, und bekennt darum, daß Wakonda, sein Wakonda, das er beweint, schwach ist. Durch dieses Schwachsein in ihm erleidet das Wakonda an sich Einbuße. Er weiß sich jedoch in seinem schwachen Wakonda mit dem Wakonda eins und erreicht durch diese Identifikation, daß das große Wakonda ihm zuströmt. […] Es ist zu bemerken, daß kein besonderer Wunsch dem Wakonda vorgetragen wird. Vielleicht hat er auch gar nicht die Absicht einen spezialisierten Wunsch erfüllt zu bekommen. Nichts anderes begehrt er, als mit dem Wakonda in Kontakt zu gelangen, seine Wakonda-Beziehung aufzufrischen« (A. C. Fletcher [1911], The Omaha Tribe, 599, zit. n. Beth 1927, 236  ff.). 22 Ebd., 244.

63

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

Totemismus, Tabuismus und Fetischismus als Erscheinungsformen magischen Welt­er­lebens Ergänzend seien hier noch die Begriffe Totem, Tabu und Fetisch angeführt. Das indianische Wort Totem enthält als wesentlichen Bestandteil »verwandtschaftliche Beziehung«, die indes nicht im Sinne von Abstammung und Blut gemeint sein muss. Die neuere Forschung fasst demgemäß den Totemismus als eine Glaubensund Lebenshaltung auf, die auf einer verwandtschaftsähnlichen, d. h. innerlichen, irgendeinen wichtig empfundenen Punkt berührenden Beziehung einer menschlichen Gruppe, des Klans oder eines Individuums zu einer bestimmten Seinsgruppe, eben dem Totem, in der tierischen, pflanzlichen, seltener leblosen Naturumgebung beruht.23 Neben dem eine größere Gemeinschaft an ein oder mehrere Totems bindenden Stammestotemismus und dem Individualtotemismus, in welchem das Totem zu einer Art alter ego des Individuums wird, unterscheidet Wundt als dritte Art den selteneren Empfängnis- und Geschlechstotemismus, der eine Art Zwischenstufe zwischen Stammes- und Individualtotemismus darstellt. Da er in besonders charakteristischer Weise gewissermaßen den Ursprung des totemistischen Verwandtschaftsverhältnisses zeigt, sei hier ein Beispiel für ihn zitiert:

64

Bei den Warramunga (Zentralaustralien) begibt sich die Frau [für die totemistische Empfängnis H. A.] an einen gewissen Platz, den Totemplatz, wo die Geister der Ahnen hausen. Entweder bei Tage, besonders bei Nacht und im Schlafe geht dann der Geist der Ahnen in sie über. Das Wort »Geist«, mit dem die englischen Autoren die Sache bezeichnen, ist hier freilich keine zutreffende Übersetzung, weil sie leicht eine falsche Vorstellung erwecken kann. Der deutsche Missionar Strehler hat darum wohl besser das Wort durch »Keim« übersetzt. Der Keim des Kindes geht in den Leib der Mutter über, unabhängig von der väterlichen Zeugung, oder diese ist nur ein begleitender, nicht wesentlicher Akt.24 Der Totemismus entstammt somit zweifelsohne der gleichen psychischen Einstellung wie die bisher aufgeführten Vorstellungen. Er unterscheidet sich seinem Stile nach von ihnen nur insofern, als er durch seine gruppenmäßige bzw. individuelle Begrenzung eine 23 Vgl. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 8, 1034. 24 Vgl. Wundt 1913,  179.

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

wesentlich spezialisiertere Form des symbiotisch-sympathetischen Lebensgefühls und Welt­er­lebens darstellt, wobei ihm als ständiges Charakteristikum die »vital-seelische Verbundenheit« eignet, »die vermittelt ist durch die gleiche, beiden Teilen eignende unsinnliche Kraft nach Art des Mana« 25. In ausgeprägten Erscheinungsformen findet sich der Totemismus in den Primitiv-Kulturen Australiens und Amerikas. Im deutschen Volksglauben finden sich u. a. Nachklänge totemistischer Anschauungen im Melusine- und Undine-Motiv. Nach tschechischem Volksglauben kann der Mensch sein Leben auch mit einem Baum teilen 26 usw. Und in ähnlicher Weise lassen sich auch noch im Heiligenkult der katholischen Kirche Heilige mit Gruppen-Beziehungen und solche mit individuellen Beziehungen unterscheiden, wobei diese Beziehungen jedoch wohl höchstens noch rudimentär totemistischen Charakter haben. Mit dem Totemismus in engem Zusammenhang steht der aus der Sprache der Maori (Polynesien) stammende Begriff des Tabu. Das Totem z. B. ist Tabu, d. h. es steht unter einem besonderen Schutz, ist etwas nach geheimer Sitte Verbotenes. Das Totemtier darf z. B. nicht gegessen, oft nicht einmal gejagt werden. Andererseits ist der Ausdruck auch für etwas Unreines in Gebrauch.27 So vereinigen sich in dem Begriff des Tabu zwei entgegengesetzte Vorstellungen: die des Heiligen, das man wegen seiner Heiligkeit, und die des Unreinen oder Abscheulichen, das man wegen seiner hässlichen oder schädlichen Eigenschaf‌ten meiden soll. Beide haben ihren Einigungspunkt im Begriff der Scheu. In der Tat gibt es ja eine Scheu, die man als Ehrfurcht, und eine andere, die man als Abscheu bezeichnet.28 Ehrfurcht und Abscheu entspringen somit in diesem Falle ein und derselben Quelle, nämlich der Scheu vor vermuteten oder durch magisch-mystisches Erleben erfahrenen Kräf‌ten und Einflüssen. 65 25 Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 8, 1034. 26 J.  Grohmann (1894), Aberglaube und Gebräuche aus Böhmen und Mähren, 87, zit. n. Wuttke 1925, 55. 27 In Die polynesischen Tabusitten (1930) von F. R. Lehmann findet sich hierfür folgendes Beispiel aus Polynesien: Ein Mann ist aus irgendeinem Grunde aus dem Dorf ausgestoßen, er ist tabuiert und niemand darf mit ihm verkehren. Wenn das Tabu wieder von ihm genommen wird, werden alle Schüsseln, die er während der Isolierzeit benutzt hat, zerbrochen und alle Kleidungsstücke, die er in dieser Zeit getragen hatte, sorgfältig weggeworfen, damit sie nicht die Pest der Befleckung unter anderen Menschen ausbreiten können (zit. n. Pfister 1936, 34). 28 Vgl. Wundt 1913,  192  f.

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

66

Damit steht das Tabu wiederum dem magisch-mystischen Kraftbegriff – besonders dem stärker dinglich bzw. personell gebundenen Mana – nahe: Zeigen sich im Mana positive Kräf‌te, die man sich nutzbar zu machen sucht, und erstrebt man im Wakonda-Glauben mystische Verbindung mit der positiv vorgestellten Kraft des Wakonda, so wird sich der magische Mensch im Tabu negativer – besonders Personen und Gegenständen innewohnender – Kräf‌te bewusst, von denen er weiß, dass er sie meiden muss. Tabuistische Vorstellungen finden sich weit verbreitet und auch im deutschen Volksglauben in Form der »Meidung«, z. B. von Wöchnerinnen, Menstruierenden, Toten usw., und vielfach auch noch in an sich vollkommen unmagisch anmutendem Brauchtum 29. Eng verwandt den magischen Seelen- und Kräftevorstellungen ist fernerhin noch der Begriff des Fetisch. Ganz allgemein kann als Fetisch alles dienen, »was, ob nun erst mit primitivem Kunsteingriff bearbeitet oder im Fundzustand belassen, vom Besitzer zum Zwecke des Glückbringens auf‌bewahrt […] wird« 30. So treffen im Fetischismus eine Reihe von magisch-mystischen Vorstellungen aufeinander. Das leblose Totem ist seinem Charakter nach ein Übergang zum Fetisch. Das an ein lebloses Objekt gebundene Orenda ist ihm nah verwandt, ebenso der Mana-geladene Gegenstand. Das Hauptmerkmal ist immer nur, dass »dem betreffenden Dinge eine Kraftäußerung zugeschrieben wird, die durch eine bloße Wunschübertragung auf es ausgelöst wird, falls sie nicht ganz spontan erfolgt, weil die ganz bestimmt gerichtete und einzige Kraftäußerung sein Wesen ausmacht« 31. Diese Kraft aber wird, ähnlich wie das Mana und das Wakonda, nur als positiv gedacht und dient dazu, den sie benutzenden Menschen vor den mannigfaltigen schädigenden Einflüssen seiner sinnlichen und übersinnlichen Umgebung zu bewahren. Eine Sonderform des Fetischs bilden so z. B. auch das Amulett und der Talisman, die eine bestimmte abwehrende bzw. fördernde und immer und für jeden, der sich ihrer bedient, wirksame Kraft in sich bergen. 29 Bei Richtfesten in der Waldshuter Gegend spricht z. B. ein lediger Zimmergeselle einen Segensspruch und trinkt ein Glas Wein. Und diesem Weintrunk muss er »dadurch eine besondere Weihe geben, daß er den halben Liter in drei Zügen trinkt, der erste Schluck gilt der Hausfrau, der zweite der Familie, der dritte den Jungfrauen der Gemeinde. Nach dem Trinken wird das Glas auf den Erdboden geworfen, damit es zerspringt. Denn ein Gegenstand, der zu einer geweihten Handlung gebraucht worden ist, soll nicht mehr im alltäglichen Leben benutzt werden« (E. Fehrle [1924], Badische Volkskunde, 127, zit. n. Pfister 1936, 34). 30 Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 2, 1368. 31 Ebd., 1370.

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

Fetischistische Vorstellungen finden sich ebenso wie Totemismus und Tabuismus fast über die ganze Welt verbreitet. Als eine »Weltanschauung, die allenthalben unerklärliche, kleine Kräf‌te am Werk weiß, zumeist üble, gegen die man sich wehren muß, und die den Menschen anspornen, die Zauberkraft des Fetisch dagegen zu setzen« 32, ist also auch der Fetischismus, wie alle anderen zitierten Erscheinungsformen, klarer Ausdruck eines Welt­er­lebens, in dem der Mensch die Welt als ein ihn bedrängendes und beeinflussendes Etwas erlebt, zu dem er sich in magisch-mystischer Beziehung und Abhängigkeit weiß.

Charakteristische Wesensmerkmale phänomenal magischen Welt­er­lebens Durch die vorstehende Darstellung des Animismus, Präanimismus und Orendismus, des Mana- und Wakonda-Glaubens, ferner des Totemismus, Tabuismus und Fetischismus und durch die zitierten Beispiele konnte der Wirkungsbereich magisch-mystischen Welt­ er­lebens kaum umrissen, sondern nur dessen Wesen an charakteristischen Erscheinungsformen aus dem Bereich seiner stärksten Verbreitung phänomenologisch aufgezeigt werden. Auch die verschiedenen Argumentationen für und wider die einzelnen Theorien und Begriffsbildungen bzw. -deutungen mussten weitgehend unberücksichtigt bleiben. Es soll nun weiterhin untersucht werden, was all diesen Vorstellungen wesenhaft gemeinsam ist bzw. welche Begriffe ihren Einigungspunkt und somit das Wesen dessen umreißen, was zu Beginn – im Gegensatz zu dem für unsere Kultur bestimmenden logisch-rationalen Welt­er­leben – als das magisch-mystische Welt­er­leben bezeichnet wurde. Die Doppelbezeichnung magisch-mystisch weist darauf hin, dass sich der Begriff aus zwei Komponenten zusammensetzt, die jedoch weniger im Erleben selbst als vielmehr in der Reaktion des Menschen auf dieses Erleben wirksam werden. Es ist dies einmal eine Reaktion, die sich unter Zuhilfenahme einer primitiven, praktischen Rationalität in einer Willenshandlung gegenüber den erlebten Einflüssen äußert, und zum anderen eine Reaktion, die durch ein Streben nach Hingabe und Vereinigung eine Angleichung an die erlebten Einflüsse usw. sucht. Das erste ist der Weg zur praktischen Magie, das zweite der Weg zur Mystik (im rein psychologischen, auf das Verhältnis Mensch-Umwelt bezüglichen Sinn), wie sich eine ähnliche Differenzierung bereits im Unter32 Beth 1927, 290  f.

67

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

schied zwischen Mana- und Wakonda-Glauben zeigte. Grundsätzlich gehen beide Reaktionen jedoch auf ein und dasselbe, »magische«, Welt­er­leben zurück. Wie die Darstellungen des vorigen Abschnittes zeigten, werden durch die primitiven Seelen-, Kraft- und sonstigen Vorstellungen vor allem mehr oder weniger innige Beziehungen zwischen dem magischen Menschen und seiner Erlebniswelt, zwischen seinem ICH und seiner sinnlichen und übersinnlichen Umwelt geschaffen. Die Frage nach der Charakteristik des magischen Welt­er­ lebens konzentriert sich damit in der Frage »Wie erlebt der magische Mensch sich selbst?« und »Wie stellen sich die Beziehungen zwischen ihm und seiner Umwelt dar?« – zwei Fragen, die eng miteinander zusammenhängen. Die Zusammensetzung jedes einzelnen Individuums aus Leib und Seele ist für uns eine unverrückbare Tatsache. Auch erleben wir zwar jeden Augenblick unzählige Einflüsse aus der Umwelt auf diesen Leib und diese Seele (bzw. mit dieser Seele), wir sind uns aber deshalb doch vollkommen über die Grenzen unseres Leibes und weitgehend auch über die unserer Seele im Klaren. Anders der Primitive, der magische Mensch. Für ihn verbindet sich mit seiner Persönlichkeit – soweit man von einer solchen in diesem Zusammenhang überhaupt sprechen kann – vielfach eine Unzahl von Dingen als fest zu ihr gehörig, die unserer Erfahrung nach mit ihr in einem ganz losen, zufälligen, auf alle Fälle aber unwesentlichen Zusammenhang stehen, wie z. B. Körperabsonderungen und -ausscheidungen, von ihm hergestellte oder benutzte Gegenstände und Kleider, Speisen, von denen er gegessen hat, Fußspuren usw.33

68

33 In einer volkstümlichen Erzählung der Eingeborenen der Insel Kiwai (Neu-­ Guinea) heißt es z. B.: »Als die Leute seines heimlichen Besuches gewahr wurden, war er schon lange außer Reichweite. Sie konnten daher nichts anderes tun, als ihre Pfeile in die von seinen Füßen hinterlassenen Fußspuren zu schießen und so zu versuchen ihn zu verwunden«. Und in einer anderen Erzählung von dort heißt es: »Eines Tages gingen die jungen Mädchen, vom Fischfang zurückkehrend, an der Behausung Daidams vorbei, wo sie die Blätter sammelten, deren er sich beim Tanze bedient hatte. Sie brachten die Blätter an der Innenseite ihrer Röckchen an und gingen nach Hause schlafen. Darauf wurden sie alle durch die Wirkung des ›Geruches‹ Daidams schwanger« (G. Landtman [1917], The Folk-tales of the Kiwai Papuans, 448 bzw. 268, zit. n. Lévy-Bruhl 1930, 110 bzw. 113). Ähnliche Anschauungen finden sich auch im volkstümlichen deutschen Begräbnisbrauch: In der Sterbestube macht man drei Häufchen Salz, kehrt sie aus und wirft das Kehricht und den Besen auf den Gottesacker oder aufs Feld, damit der Tote nicht wiederkehre. Es soll das Haus von allem gereinigt werden, was von dem Toten etwas an sich haben könnte (vgl. Wuttke 1925, 465).

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

Die Grenzen der Persönlichkeit werden im magischen Welt­er­leben also erweitert. Auch ist die Grenze zwischen dem ICH und der Umwelt bei Weitem nicht so scharf gezogen wie in der logisch-­ rational begründeten Vorstellungswelt. Lévy-Bruhl fasst in diesem Sinne das Ergebnis seiner Untersuchungen über die »Elemente und Grenzen der primitiven [bzw. in diesem Sinne auch des magisch erlebenden H. A.] Persönlichkeit« in drei Punkten zusammen: 1. Für die primitive Mentalität sind die Grenzen der Persönlichkeit veränderlich und ziemlich unbestimmt. 2. Das »Zubehör« ist eine »Erweiterung oder Ausdehnung der Persönlichkeit«. Das »Zubehör« bildet integrierende Bestandteile der Persönlichkeit, sie verschmelzen mit ihr zu einem einzigen Wesen. 3. Das »Zubehör« wird in gewissen Fällen als das »zweite Ich« oder Ebenbild des Individuums betrachtet, und dieses zweite Ich ist wiederum das Individuum selbst und kann an dessen Stelle treten.34 Diese Verwischung der Grenze zwischen ICH und Umwelt zeigt jene Indifferenz in der Auf‌fassung von Subjektivem und Objektivem, die ein durchgehendes Merkmal wesenhaft magischen Welt­ er­lebens darstellt. Der magische Mensch lebt in einem Bewusstseinszustand, in dem Subjektives und Objektives, Seelisches und Dingliches, Zuständliches und Gegenständliches, Geistiges und Materielles, ICH und Nicht-ICH, innerseelisch Erlebtes und außerseelisch Geschehendes, Wahrnehmung und Vorstellung, Ähnlichkeit und Identität usw. nicht in der uns geläufigen Differenzierung erkannt werden. Was der magische Mensch erlebt, sind vielmehr immer Kompositionen aus zwei oder mehr solchen gegeneinander verschiedenen Wesenheiten. Diese Indifferenz ist bestimmend für sein ganzes Welt­er­leben.35 Die Sinneseindrücke erfahren demnach im Erleben des magischen Menschen eine andere Deutung und Gestaltung als in unserer Vorstellungswelt 35. Sein Welt­er­leben wird nicht durch eine weit34 Vgl. Lévy-Bruhl 1930, 124. Hierher gehört u. a. auch der deutsche Volksglaube, dass, wenn ein Kleidungsstück eines Lebenden mit in den Sarg einer Leiche kommt, der, dem es angehört, allmählich hinstirbt, so wie das begrabene Kleidungsstück allmählich verfault und zerfällt (vgl. Wuttke 1925, 186). 35 So gibt es für ihn z. B. auch keine eigentlich physische Tatsache in dem Sinne, wie wir dieses Wort gebrauchen. »Das fließende Wasser, der blasende Wind, der fallende Regen, ein natürliches Phänomen welcher Art immer, ein Ton, eine Farbe, werden nie von ihm so wahrgenommen wie von uns, d. h. als mehr oder weniger zusammengesetzte Bewegungen, die in einem bestimmten Verhältnis zu anderen vorhergehenden oder nachfolgenden Bewegungssystemen stehen. Die Veränderung der Stellung der materiellen Massen wird

69

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

70

gehend unabhängige, auf den Sinn der Welt zielende Ratio, sondern durch eine starke Abhängigkeit von der Umwelt bestimmt. Er tritt den erlebten Eindrücken nicht mit einem mehr oder weniger konstanten, logisch-rational orientiertem Denkapparat gegenüber, sondern sein Denken ist vorwiegend von affektiven Regungen beeinflusst, welche aus diesen Einflüssen resultieren. Die Außenwelt, das Objekt, hat dabei immer ein gewisses Übergewicht über ihn in diesem Erleben und zusätzlich sieht und erlebt er seine eigenen Regungen in den Objekten seiner Umwelt. Und nicht nur seine affektiven, sondern auch seine lang gehegten Wunsch- und Triebregungen erlebt er dabei als tatsächliche Geschehen und Gegebenheiten seiner Umwelt. Jedes leblose Ding kann ihm so beseelt und kraftgeladen und hintergründig wirksam erscheinen und andererseits können sich Vorstellungen, Wünsche und Befürchtungen für ihn ganz greif‌bar außerseelisch materialisieren. Die Grenze zwischen dem ICH und der Umwelt wird also auch über den an sich schon erweiterten primitiven Persönlichkeitsbegriff hinaus sowohl vom ICH als auch von der Umwelt aus, d. h. sowohl von der Subjekts- als auch von der Objektsseite her, in dem von einer starken Fantasie getragenen magischen Welt­er­ leben überbrückt. Die durch die Fantasie in Geister-, Dämonen-, Seelen-, Kräf‌te- und sonstigen Vorstellungen gestaltete und dem magischen Menschen als tatsächlich erscheinende sinnliche und übersinnliche Umwelt ist das Resultat magischen Welt­er­lebens. Dem fantasievollen Erfassen der Umwelt liegen dabei vor allem assoziatives und Analogiedenken zugrunde, d. h. bei der schwachen Differenzierung von ICH und Umwelt und der Umweltobjekte untereinander ist einmal der Bereich der Analogie viel größer als beim logisch-rationalen Erfassen der Welt und zum anderen das Denken auch nicht von Logik und Ratio, sondern vor allem von den weiter oben angeführten Einflüssen bestimmt, welche alle eine Assoziation logisch zusammenhängender Elemente begünstigen. Befördert wird diese Gestaltung durch den stark physiognomischen Charakter des magischen Welt­er­lebens. Den Gestaltungen der Fantasie liegen hier zweifellos assoziative Denkvorgänge zugrunde. Diese Assoziationen sind aber wohl weniger Ideenassoziationen, sondern für den magischen Menschen assoziieren von seinen Organen ebenso erfaßt wie von unseren, die vertrauten Gegenstände werden aufgrund früherer Erfahrungen wohl erkannt, kurz der psycho-­ physiologische Prozeß der Wahrnehmung findet bei ihm ebenso statt wie bei uns. Aber das Ergebnis dieses Prozesses ist alsbald auch schon in einen verwickelten Bewußtseinszustand eingehüllt. Die Primitiven sehen zwar mit denselben Augen wie wir, doch nehmen sie nicht mit demselben Verstand wahr« (Lévy-Bruhl 1921, 29).

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

sich vielmehr vor allem – bei einem Übergewicht des Gesichtssinnes über die anderen Wahrnehmungsorgane – die visuellen Eindrücke. Der fantasievollen Umbildung der Erlebnisse liegen also vor allem Bild-Assoziationen bzw. Bild-Bedeutungs-Assoziationen zugrunde. Schon bei einem Beispiel für den Mana-Glauben (vgl. S. 61  ff.) zeigte sich, dass der Mana-haltige Stein, der zur Förderung des Wachstums an den Fuß des Baumes gelegt wurde, »mit dessen Frucht eine gewisse Ähnlichkeit« aufweisen musste. Und ähnliche Vorstellungen liegen z. B. auch den heiligen Steinen zugrunde, die man auf Neukaledonien und an verschiedenen anderen Orten für den Erfolg der Landwirtschaft als unentbehrlich ansieht.36 Die physiognomische Ähnlichkeit ist also von entscheidender Bedeutung bei der Entstehung der für ein magisches Welt­er­leben typischen Erscheinungsformen primitiver Verhaltensweise. Auch der magische Mensch, der z. B. seinem Gegner durch einen Bosheitszauber schaden will und sich zu diesem Zwecke eine menschliche Figur – ein »Ebenbild« von seinem Gegner – anfertigt, der er dann all den seinem Gegner zugedachten Schaden zufügt, geht in erster Linie von der bildhaf‌ten Analogie aus, wie aller Analogiezauber (vgl. S. 53  ff .) vornehmlich auf Bildanalogien bzw. auf sichtbaren analogen Vorgängen – die ja auch wiederum nichts anderes sind als viele aneinandergereihte Bildeindrücke – beruht. Einem Volksglauben aus Schwaben zufolge z. B., kann man einen Abwesenden schlagen, wenn man »an Karfreitag vor Sonnenaufgang unbeschrien eine Haselrute abschneidet und damit, indem man an den Menschen denkt, auf ein Kleidungsstück schlägt« 37. Es ist hierbei natürlich vollkommen gleichgültig, ob die Bilder bzw. Zaubermodelle objektivem Dafürhalten nach dem Vorbild ähneln oder nicht. Für den im magischen Welt­er­leben stehenden Menschen ähnelt aufgrund seiner eben besprochenen Erlebnisweise das grobgeschnitzte Bild seines Gegners absolut seinem Gegner und keinem anderen, da er ja in das Bild alle seine diesem Gegner gegenüber auf‌tretenden Regungen mit »hineinsieht«, mit hineinerlebt, und auch das Kleidungsstück des anderen Beispiels 36 »Ihre Form erinnert mehr oder weniger an die Wurzelknolle des Taro, der süßen Batate oder einer anderen Pflanze, von der man eine reichliche Ernte herbeiwünscht. Die Steine werden zur Zeit der Aussaat mit großer Feierlichkeit in den Boden der Felder gesenkt. Nach der Ernte werden sie wieder ausgehoben, worauf man sie bis zur Anbauzeit sorgfältig auf‌bewahrt« (Lévy-Bruhl 1930,  14  f.). 37 E. H. Meier (1852), »Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben«, 245, zit. n. Wuttke 1925, 270.

71

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

72

wird in gewissem Sinne – »indem man an den Menschen denkt« – zum »Zubehör« und damit zum Teil des zu Schlagenden.38 Ein anderes durchgehendes Wesensmerkmal magischen Welt­ er­lebens ist also das intensive Bilderlebnis und die daraus entspringende fantasievolle Bildgestaltung, in der Bild und subjektiver Bedeutungsgehalt in eins zusammenfließen, während das logisch-rationale Welt­er­leben nach Differenzierung, nach Trennung von Bild und Bedeutung und nach abstrakten Werten strebt. Diesem Wesensunterschied zwischen magisch-mystischem und logisch-rationalem Welt­ er­ leben stellt T. W. Danzel demgemäß in ähnlichem Sinne zwei menschliche Wesenstypen gleich: den »homo divinans«, den »magischen Menschen«, einerseits und den »homo faber«, den »technischen Menschen«, andererseits und fasst als die ihnen gemäßen Ausdrucksformen den Mythos bzw. die Wissenschaft auf. Die Wissenschaft ist – nach Danzel – das Gebiet spezif‌isch intellektueller Betätigung. In der Wissenschaft wird die Welt objektiv erfasst und gemäß einem begründeten Denken »erklärend« bewältigt. In diesem Sinne ist die Wissenschaft der gemäße Ausdruck des Homo faber. Das analoge Ausdrucksgebiet des Homo divinans ist der Mythos. Die Wissenschaft verarbeitet den objektivierten Gehalt denkhaft. Der Mythos, als Ausdruck einer Zeit undifferenzierten Bewusstseins, einer Zeit, die uns in Berichten über Mythen, Zeremonien, Zauberkulte erschließbar ist, beruht auf anderer Einstellung. Er ist nicht Ausdruck eines eigentlichen Willens zum »Erklären« und ist nicht auf den objektivierten Gehalt als solchen gerichtet. Vielmehr wird im Mythos der Erlebnisgehalt, in dem noch Subjektives und Objektives in einer Einheit zusammengeschlossen sind, gefühlsmäßig gestaltet. Geht in der Wissenschaft das Bestreben dahin, vom Gegenständlichen, vom Objekte aus einen denkhaft befriedigenden Einklang zu schaffen, so geht im Mythos das Bestreben dahin, vom Subjekte aus einen gefühlsmäßigen Einklang zu bilden. Der Homo faber bewältigt die Welt, 38 Eine eigenartige Verbindung von »Ebenbild« und »Zubehör« im Analogiezauber zeigt auch folgender Bericht von Indianern Nordamerikas: »Bei den Tlinkit verschaff‌te sich ein Zauberer, wenn er gegen ein Opfer vorgehen wollte, ein Stückchen von dessen Kleidung oder ein wenig von seinen Haaren oder Gräten von einem Fisch, von dem er gegessen hatte. Dann stellte er ein Abbild seines Körpers her, das er so behandelte, als wäre es die Person selbst, die er in ganz bestimmter Form leiden lassen wollte: wenn er diese abmagern lassen wollte, so formte er aus dem Abbild ein Skelett, wenn er eine Frau der Geschicklichkeit in Webearbeiten berauben wollte, verunstaltete er die Hände ihres Ebenbildes usw.« (J. R. Swanton [1905], The Tlingit Indians, 470, zit. n. Lévy-­Bruhl 1930,  120).

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

indem er sie erklärt, seinen Objektivitätserlebnissen eingliedert, der Homo divinans, indem er sie gestaltet, seinen Gefühlserlebnissen anpasst.39 Diese Darstellung läuft parallel mit dem oben Gesagten. Andererseits erscheint sie aber bei genauerer Untersuchung für eine ausreichende Charakterisierung des Gegensatzes zwischen magisch-mystischem und logisch-rationalem Welt­er­leben als zu eng. Auf der einen Seite stellt nämlich die gefühlsmäßige Gestaltung der Welt nur einen Wesenszug magischen Welt­er­lebens dar und andererseits ist das Erklären der Welt auch nur eine der aus logisch-rationalem Welt­ er­ leben resultierenden Bestrebungen. Beide Züge treffen sich z. B. wiederum in den Mythen und Sagen. Mythos und Wissenschaft sind zwar sehr typisch für die jeweilige Vorstellungs- und Anschauungsweise, aber auch nur einzeln herausgegriffen aus den aus der unterschiedlichen Einstellung erwachsenden Schöpfungen. Danzel erläutert zwar die Bewusstseinsstruktur des Homo divinans noch an mehreren anderen Hauptproblemen, doch wird dabei der Homo faber immer zu einseitig als der vom reinen Zweck-Rationalismus geleitete Mensch dargestellt. Für eine phänomenologische Betrachtung, wie sie in der vorliegenden Arbeit durchgeführt wird, erscheint daher die Darstellung der menschlichen Persönlichkeit bzw. des Individuums und seines Verhältnisses zu seiner Umwelt, wie sie im magischen Welt­er­leben erscheinen, als wesentlich umfassender. Es zeigte sich weiter oben, dass die Grenzen zwischen dem pri­mitiven Persönlichkeits- und Umweltbegriff nicht streng gezogen sind. Es zeigte sich ferner an den Beispielen der praktischen Magie, dass im magischen Welt­er­leben oft Ähnliches als identisch erlebt wird. Es zeigte sich weiterhin, dass – wie z. B. im Wakonda-­ Glauben – der magische Mensch eine Vereinigung mit einer vorgestellten, allumfassenden Kraft, mit irgendeinem mystischen Etwas, eben eine symbiotische Sympathetik mit Natur und Kosmos, erstrebt. Gilt für uns ferner der körperliche und geistige Zustand möglichsten Ausgeruhtseins und größter Nüchternheit, kurz, der Zustand des konzentrierten ICH-Gefühls, als die Voraussetzung für klare, logisch-rationale Erkenntnis, so sucht der magische Mensch im Gegensatz hierzu höhere Einsicht im Zustand der Ekstase, der Trance, des Rausches, im Traum usw., kurz, in denjenigen Zuständen, die dem weiter oben besprochenen fantasievollen Erfassen der Welt wesensgleich sind und in denen das ICH-Bewusstsein weitmöglichst verringert ist. 39 Vgl. Danzel 1928, 55  f.

73

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

Dies ist das Charakteristikum eines weiteren durchgehenden Wesensmerkmales des magischen Welt­er­lebens. Die primitiven Seelen- und Kräftevorstellungen zeigten schon, wie durch sie eine intensive Verbindung zwischen dem ICH und der Umwelt hergestellt wird. Diese Verbindung kann sich aber auch einfach derart dokumentieren, dass sich der Mensch eins weiß mit seiner Umwelt, in dem Gefühl, selbst nur ein Teil dieses Ganzen zu sein, in das er einbezogen ist durch eine gleichsam mystische Anteilnahme, durch – wie es Lévy-Bruhl nennt – eine »participation mystique«. Es ist dies die intensivste Form eines symbiotisch-sympathetischen Lebensgefühls, wie es – wenn auch nicht immer bewusst, so doch seinem Wesen nach – in den meisten magisch-mystischen Vorstellungen zum Ausdruck kommt bzw. durchklingt. Es kann andererseits jedoch auch weit über das magische Welt­ er­leben hinausgreifen, als das symbiotische Empfinden in seinen Auswirkungen nicht auf die magische Haltung beschränkt ist, sondern nicht minder auf die religiöse Einstellung übergreift und auch diese bestimmt, wie denn überhaupt die symbiotische Empfindung den religiösen Prozessen ebenso wie den magischen als Unterton dient.40 Dem Bereich des magischen Welt­er­lebens zuzurechnen, ist es nur in Verbindung mit anderen, diesem Erleben typischen Wesenszügen. Der in der participation mystique lebende magische Mensch erlebt also auch sich selbst nicht als Individuum, sondern immer als ein Glied eines Ganzen, der Familie, des Klans, des Stammes, der Totemgemeinschaft, des Kosmos usw. Was dem Ganzen geschieht, das geschieht auch mit ihm – nach dem Prinzip des »pars pro toto«. Auch kann er sich mit anderen Gliedern des Ganzen identisch fühlen usw.41 So beruht z. B. auch die Vorstellung, dass man sterben muss, wenn das Totem- oder Seelentier stirbt, auf diesem symbiotischen Lebensgefühl. 74

40 Vgl. Beth 1927, 187. 41 »In einer Geschichte aus Westafrika ermordet ein Mann die Frau seines Bruders, die sich ihm nicht hingeben wollte, nächtlicherweile im Walde, als sie sich eben zu ihren Verwandten begeben will. Er wird von dem Sohn seines Opfers bei der Tat gesehen und angeklagt. Darauf versammeln sich alle Leute des Dorfes um ihn und alle sind entsetzt über das Geschehen. Der Gatte beruft sie alle zur Beschlußfassung, das Palaver findet in seiner Behausung statt. Der Großvater und der Knabe erzählen die ganze Geschichte. Der Schwager der Ermordeten leugnet die Tat, aber ihr Gatte, sein Bruder, unterbricht ihn sofort: ›Rede nicht! Du bist schuldig! Und da wir Brüder sind und eins sind, ist dein Verbrechen auch mein Verbrechen und ich werde für dich gestehen‹« (R. H. Nassau [1904], Fetichism in West Africa. 40 Years’ Observation of Native Customs and Superstitions, 293, zit. n. Lévy-Bruhl 1930, 83).

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

Zusammen mit der schon erwähnten Erlebnisweise, in welcher ähnliche Eindrücke und Zustände als identisch erlebt werden, findet sich diese symbiotische Partizipation auch weitverbreitet im deutschen Volksglauben: Sobald jemand gestorben ist, müssen z. B. sofort alle Schlafenden im Hause geweckt werden, sonst wird ihr Schlaf ein Todesschlaf (Ostpreußen, Brandenburg, Schlesien, Oldenburg, Waldeck); der Vogelkäfig wird an einen anderen Platz gehängt, sonst stirbt der Vogel (Schlesien, Vogtland); wenn der Hausvater stirbt, muss alles Vieh im Stall geweckt, aufgejagt und umgebunden werden, sonst geht es ein (Ostpreußen, Lauenburg, Oldenburg, Vogtland, Baden) usw.42 In der participation mystique ist das ICH-Gefühl, das ICH-Bewusstsein verschwindend klein. Aber auch alle anderen Wesenheiten des magischen Welt­er­lebens bringen es in ihrem Vollzuge mit sich, dass das ICH seine sinnliche und übersinnliche Umwelt als übermächtig groß empfindet und so – um sich vor dem Einfluss der durch die Fantasie materialisierten Gefühle, Wünsche usw. bzw. vor der durch sie beseelten und belebten übermächtigen Materie zu schützen – zu magischen Praktiken oder mystischen Vereinigungsversuchen Zuflucht nimmt. Immer aber steht dabei das ICH mit all diesen Wirksamkeiten, mit dem »ES«, in einem so engen, vom ES bestimmten Zusammenhange, dass es seinem Wesen nach fast zu einem Teil des ES wird (vgl. Abb. 1).

ES

ICH

75 Abb. 1

42 Vgl. Wuttke 1925, 458  f.

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

Sage und Märchen als Gestaltungsformen magischen Welt­er­lebens

76

Die phänomenologische Betrachtung hervorstechender Erscheinungsformen zeigte, wie innerhalb der primitiven Gemeinschaf‌ten eine Erlebnisweise vorherrscht, die ganz allgemein aus einer phänomenal uneigenständigen Einstellung des Erlebenden zur Umwelt resultiert bzw. zu ihr hinführt. Es soll nun weiter untersucht werden, ob und inwieweit in den außerhalb des Bereichs der täglichen Lebensnotwendigkeit liegenden menschlichen Schöpfungen, d. h. inwieweit vor allem in den künstlerischen Gestaltungen das magische Welt­er­leben gestaltend wirkt bzw. diese Gestaltungen selbst ein magisches Welt­er­leben voraussetzen oder befördern.43 Schon in dem außerhalb des rein Ornamentalen liegenden, bildnerischen bzw. nachbildenden Schaffen des Primitiven (vgl. S. 71) zeigte sich eine nicht auf die Darstellung und Erkenntnis der Welt-an-sich gerichtete, sondern vorwiegend magischen Zwecken dienende Gestaltung, deren Hauptwert in der ihr eigenen Identität mit ihrem Vorbild beruht – auch bei äußerlicher Unähnlichkeit, aufgrund der magischen Erlebnisweise ihres Schöpfers. Zweck und Grundlage der Gestaltung waren also die Wirksamkeit der dem magischen Welt­er­leben wesenhaft eigentümlichen Erlebnisfunktionen, wie sie weiter oben dargelegt wurden. Noch deutlicher wird die Wirksamkeit bzw. das Zustandekommen magischen Welt­er­lebens in der sagen- und märchenhaf‌ten Gestaltung. Jede Sage ist in erster Linie ein Bericht von irgendeinem Ereignis. Was jedoch ihren sagenhaf‌ten Charakter ausmacht, ist die auf magischer Erlebnisweise fußende Produktion bzw. Reproduktion des Ereignisses, von dem berichtet wird. Das Charakteristikum der Sage ist, dass in dem Bericht, der von logisch-rational feststellbaren bzw. glaubhaf‌ ten Gegebenheiten ausgeht, Momente mehr oder weniger entscheidend wirksam werden, die nach logisch-rationalem Empfinden nicht anerkennbar sind. Es ist dabei gleichgültig, ob diese Ausweitung der tatsächlichen Gegebenheiten im Sinne eines magischen Welt­er­lebens schon im Augenblick des tatsächlichen Ereignisses – also durch ein tatsächliches, die Realität magisch aufnehmendes Erleben (das dann objektiv weiterberichtet wird) – oder erst nachträglich, also durch 43 An sich ist zwar schon jedes magische Erlebnis seinem Wesen nach eine Gestaltung, da die Realität ja umgebildet wird. Streng genommen kann als Gestaltung aber natürlich nur gelten, was auch außerhalb des aktuellen persönlichen Erlebnisses und unabhängig vom Erlebenden in irgendeiner Form für sich besteht, auch wenn es seinen Wert erst oder nur durch ein magisches Erleben bekommt.

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

Verarbeitung von Berichten und Überlieferungen im Sinne eines magischen Welt­er­lebens, geschieht. In beiden Fällen entsteht sofort bzw. nachträglich das, was man Sage nennt, nämlich der »Bericht über ein außerordentliches und wunderbares [= logisch-rational unerklärliches H. A.] Erlebnis, das [vom Erlebenden H. A.] geglaubt und für wahr gehalten wird« 44. Während sich nun bei der Sagenbildung die magisch-mystische Gestaltungsweise nahezu unbewusst vollzieht, tritt uns beim Märchen eine weitgehend bewusste künstlerische Gestaltung entgegen. In dieser eurythmischen, auf die Erregung des Umwelt­interesses gerichteten und in diesem ihren immanenten Werte habenden, primitiven-künstlerischen Komposition (vgl. S. 43  f.) von Erlebniselementen wird das magische Welt­er­leben in doppelter Weise wirksam. Einmal werden nämlich in der dargestellten Welt alle für ein magisches Welt­ er­ leben typischen Erscheinungen (Verwandlungen, Geister, Feen, magische Flucht usw.) als vollkommen natürliche Kräf‌te wirksam und zum anderen steht diese Wirksamkeit nicht für sich allein, sondern in starker Abhängigkeit vom Gestalter des Märchens bzw. vom erlebenden Subjekt, d. h. vom Erzähler oder Schreiber bzw. vom Hörer oder Leser des Märchens. M. a. W.: Das Märchen ist nicht nur eine magische Darstellung der Welt-an-sich, sondern vielmehr eine von den im magischen Welt­er­leben besonders wirksamen innerseelischen Kräf‌ten, von Wunsch- und Triebregungen usw. geformte Darstellung einer magisch vorgestellten Welt. Diese Regungen, die weiter oben als ein Wesensmerkmal des magischen Welt­er­lebens erkannt wurden, und deren hervorragende Wirksamkeit zum immanenten Wesen jedes Märchens gehört, sind es also, die – betrachtet man die Gattung Märchen unter dem die Erlebnisweise in den Mittelpunkt stellenden, dynamischen Gesichtspunkt – das für jede märchenhaf‌te Erzählung typische Umweltinteresse bewirken. Die dem Märchen adäquate Erlebnisweise ist also das phänomenal magische Welt­er­ leben, ist die Indifferenz zwischen ICH und Erlebniswelt. Auch die bei vielen Märchen sich dem Leser geradezu aufdrängende Parteinahme für die eine oder andere Person des Märchens beruht letzten Endes hierauf. Ebenso schafft die schwarz-weiß-Zeichnung von Gut und Böse, wie sie für die meisten Märchen typisch ist, eine der grundlegenden Voraussetzungen für diese magische Erlebnisweise des Lesers bzw. Hörers.45 44 v. d. Leyen 1935, 9. 45 »In seinen Märchen«, sagt F. Ranke in diesem Sinne, »besitzt unser Volk einen Schatz an tröstlichen Prosadichtungen, durch die es verrät, welche Richtung seine Wachträume nehmen, wenn sie, durch keine Erfahrung gelenkt oder

77

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

Damit steht das Märchen wiederum in enger Beziehung zu Zuständen, in denen diese so vollzogene Indifferenz in ihrer reinsten Form erscheint, und denen im Bereich des magischen Welt­ er­ lebens hervorragende Bedeutung zukommt, d.  h. zum Traumleben und zu den Zuständen der Ekstase oder auch des künstlich hervorgerufenen Rausches 46 usw. (vgl. S. 73  f.). Und so hat auch die Märchenforschung immer wieder mit Recht darauf hingewiesen, dass es sich bei allen Märchen um diesen Erlebnisweisen nahestehende, variierende Kompositionen handelt, deren Elemente immer wiederkehrende, wesensähnliche und auf die, auch letztlich allen Träumen zugrunde liegenden Regungen der Angst, des Wunsches oder einfach der ungebundenen Fantasie zurückführbare Motive sind.47 Der Unterschied zwischen Märchen und Sage ist unter diesem Gesichtspunkt nur ein gradueller, derart, dass das, was im Märchen fantasievoll-spielerisch erscheint, in der Sage eine Verbindung mit auch dem logisch-rationalen Welt­ er­leben tatsächlicher Gegebenheiten eingeht. Der Gestaltungsvorgang ist in beiden Fällen wesensgleich.

78

gehemmt, ins Blaue greifen und sich durch die Wunscherfüllung schaffen, die das Leben versagt. In den deutschen Märchen öffnet sich uns eine zauberhaf‌te, wirklichkeitsferne Welt, in der nicht nur die Tiere reden und handeln wie Menschen, sondern auch Sonne, Mond, Sterne, Wind, Blutstropfen und Speichel dem Frager Antwort geben, in der Menschen verwünscht, versteinert, verwandelt und wieder erlöst, von Drachen geraubt und wieder befreit werden, in der ein Kraut oder Wasser Tote wieder lebendig macht, in der das Tischlein sich von selbst mit den köstlichen Speisen deckt und der Esel Gold gibt und der Knüppel selbsttätig auf den Gegner drischt, in der jeder Wunsch, kaum ausgesprochen, in Erfüllung geht. Eine Welt, in der auch eine eigene Moral herrscht, ein naives Gerechtigkeitsgefühl, das seine Forderungen nicht an den Menschen, sondern an das Schicksal stellt, das nicht fragt ‚was muß ich tun?’, sondern ›wie sollte es in der Welt zugehen?‹ und diese Frage im Sinne einer unheroischen, wesentlich auf irdische Genüsse gerichteten Wunscherfüllung beantwortet: der Brave und Standhaf‌te kommt ans Ziel, der Dankbare und der Gütig-Hilfsbereite und der Mitleidige werden belohnt, der Listige setzt sich durch, alle Ungerechtigkeiten des Schicksals werden ausgeglichen: der Arme wird reich, der verachtete Dumme findet das Glück, der jüngste triumphiert über die älteren Brüder, die gequälte Stief‌tochter über die Peinigerin, getrennte Liebespaare kommen zusammen, und immer wieder endet es nach so vielen Gefahren mit Hochzeit, Glanz und Glück; die Bösen aber werden bestraft, ihre Heimtücke und Grausamkeit kommen zuletzt unfehlbar an den Tag, aus dem Grab des Ermordeten wächst das Pfeifenrohr, das den Mörder verrät, […] kurz, das Märchen ist eine Form, in der das Geschehen, der Lauf der Dinge so geordnet sind, daß sie, nach unserem absoluten Gefühlsurteil ›gut‹ und ›gerecht‹ sind« (Spamer 1935, 249). 46 Vgl. hierzu besonders auch die klassischen Schilderungen des Rauschzustandes von Thomas de Quincey (»Bekenntnisse eines englischen Opium­ essers«) und Charles Baudelaire (»Die künstlichen Paradiese«).

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

Der Mythos steht dem Märchen hinsichtlich seiner Gestaltung und des durch ihn vermittelten Erlebens sehr nahe. Er ist jedoch vom Märchen und den anderen Gattungen magischer Gestaltung unterschieden durch die »stärkere Offenbarung des Göttlichen, der göttlichen Personen und der göttlichen Gewalten« 48. Grundsätzlich unterscheidet er sich durch seine schon beträchtliche Jenseitigkeit und ist damit für das Problem magischen Welt­er­lebens, welch Letzteres auch bei Einbeziehung des Übersinnlichen kaum über die schaubare Welt hinausgreift, nur mehr von sekundärer Bedeutung. Denn das magische Welt­er­leben ist in erster Linie im Diesseits begründet. Das jenseitig Gedachte ist nur insofern von Bedeutung, als es die diesseitige Indifferenz von ICH und ES befördert. Letzteres ist allerdings im Mythos auch meistens der Fall (Wirken der Götter auf Erden usw.). Magisches Welt­er­leben wird fernerhin auch in der Legende wirksam, ja sogar in gewissem Sinne auch im Schwank, in dem die Figur des Märchenhelden ins Komische gewendet wird. Die Indifferenz zwischen ICH und Erlebniswelt wird hier mit umgekehrten Vorzeichen wirksam. Alles in allem zeigen sich also die zur Zeit ihrer Entstehung als wahr geglaubten bzw. als zur Zeit oder am Ort ihrer Entstehung als tatsächlich vorgestellten Mythen, Märchen und Sagen, wie sich der magische Mensch in seinem, von affektiven und längerwährenden Wunsch-, Trieb- und sonstigen Regungen beeinflussten Welt­er­leben auch die Welt-an-sich nach seinem Bilde gestaltet bzw. wie der im magischen Welt­er­leben befangene Mensch sich solchen, seinem innersten Empfinden entsprechenden Gestaltungen nacherlebend zuwendet.

Das magische Welt­er­leben als Wesensbegriff In den vorstehenden Abschnitten wurden Erscheinungsformen und charakteristische Wesensmerkmale des magischen Welt­er­ lebens aufgezeigt. Die Wahl der Beispiele beschränkte sich dabei auf die Frühzeit, auf die Naturvölker der Gegenwart und den betont magisch erlebenden Personenkreis unserer eigenen, gegenwärtigen Kultur. Wie jedoch in der Einleitung bereits angedeutet wurde, trifft man nicht nur dort, sondern auch auf höheren Kulturstufen und besonders auch innerhalb der betont oberschichtlich leben47 Vgl. v. d. Leyen 1911, 10  ff. Die umstrittene Frage nach dem Ursprung des Märchens (Vgl. auch Wesselski »Versuch einer Theorie des Märchens«) muss hier unberücksichtigt bleiben. Es handelt sich hier vielmehr lediglich um einen Nachweis der engen Parallelität der beiden Erlebnisweisen. 48 V. d. Leyen 1935, 45.

79

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

80

den Personenkreise unserer eigenen gegenwärtigen Kultur oft auf Erscheinungsformen magischen Welt­er­lebens, woraus sich ergibt, dass das magische Welt­er­leben (und ebenso natürlich sinngemäß auch das logisch-rationale Welt­er­leben) einen Wesensbegriff darstellen muss, der von der historischen Entwicklung einerseits und von der vorwiegend oberschichtlichen bzw. unterschichtlichen Verhaltensweise andererseits unabhängig ist. Tatsächlich zeigen sich auch schon innerhalb des vorwiegend magischen Weltbildes deutliche Stufungen, die sich unter dem Gesichtspunkt einer Verschiebung vom magischen zum rationalen Welt­er­leben betrachten lassen, wie sie Wundt z. B. in den Zeitaltern des (im höchsten Grade magisch bestimmten) »primitiven Menschen«, des »Totemismus« und der »Helden und Götter« abgrenzt.49 Die von ihm als Zeitalter der »Entwicklung zur Humanität« bezeichnete Epoche, in der wir uns selbst befinden, trügt dagegen die vorherrschenden Züge logisch-rationalen Welt­ er­lebens. Man mag diese chronologischen Abgrenzungen gutheißen oder ablehnen, fest steht jedenfalls der den einzelnen Epochen ihrem Stile nach eigentümliche Unterschied. So stellt der Totemismus – wie auch die weiter oben angeführten Beispiele zeigten – eine schon viel spezifiziertere Form des symbiotischen Lebensgefühls dar. So war das logisch-rationale Welt­er­leben und der Persönlichkeitsbegriff im klassischen Altertum neben reicher Mythologie schon hoch entwickelt. So ist in gewissem Sinne auch schon die magische Praktik ein – wenn auch noch furchtbetontes und unfreies – erstes Gegenübertreten von ICH und ES und der Magier der frühesten Zeiten ist in gewissem Sinne die Persönlichkeit, die sich durch die Kenntnis der Zaubermittel und die Fähigkeit sie zu gebrauchen über die Menge erhebt. Auch die für das magische Welt­er­leben typische Erkenntnisweise der Astrologie fußt auf der logisch-rational begründeten und vertretbaren Astronomie. Und die älteste mathematische Urkunde, die aus Ägypten (etwa um 1800 v. Chr.), also aus einer absolut mythisch bestimmten Kultur, stammt, zeigt schon ziemlich entwickelte arithmetische Kenntnisse, wie sich die Mathematik – die Wissenschaft höchster Logik und Abstraktion – überhaupt schon sehr früh und schnell entwickelt hat, ohne dass ihre frühesten, grundlegenden Erkenntnisse und Gesetze aus unserem logisch-rational orientierten Leben und Denken wegzudenken wären. Der Wesensunterschied zwischen Objekt-(= ES-)Betonung und Subjekt-(= ICH -)Betonung lässt sich u. a. auch in dem Gebiet der Sprachen nachweisen. So entspricht der ersteren die 49 Vgl. Wundt 1913.

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

Suf­fi x-Sprache (z. B. das Chinesische), der letzteren dagegen die Präfix-Sprache (z. B. das Arabische) usw. 50 Die Zahl der Beispiele für die Wesensverschiedenheit bzw. für die historische Entwicklung vom magisch-mystischen zum logisch-rationalen Welt­er­leben – welch letztere ihre beiden größten Wendepunkte im Auf‌treten des Christentums und des kopernikanischen Weltsystems hat – ließe sich beliebig vermehren. Alle Beispiele aber zeigen, dass es sich niemals um ein eindeutiges Nacheinander, sondern – in dem für uns übersehbaren entwicklungsgeschichtlichen Zeitabschnitt – um ein ständiges Nebeneinander verschiedener Funktionsweisen der essentiell in gleicher Weise vorhandenen, d. h. keimhaft gleichermaßen angelegten und immer entwickelbaren Anlagen handelt, die in variierenden Formen in Erscheinung treten. Mithin lassen sich auch sowohl in der linearen Entwicklung »Vergangenheit – Gegenwart« als auch in der vertikalen Stufung »Unterschicht – Oberschicht« beide Arten des Welt­er­lebens immer nur in einem mehr-oder-weniger feststellen.

Bereich logisch-rational möglicher Erkenn

r

ES

Bereich der magischen oder geheimen Wi Tatsächliche Einbeziehung desBereich ICH inlogi das Bereich der Tatsächliche

A

B

C

81

Bereich rein magischen Welt­er­lebens

r

Abb. 2 50 Vgl. Graebner 1924, 72  ff.

Bereich rationallogischer Erkenntnis

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

Der Grad der jeweiligen Wirksamkeit magisch-mystischen bzw. logisch-rationalen Welt­er­lebens im Individuum und in der Gruppe entspricht dabei ganz allgemein der Emanzipation des ICH vom ES (vgl. Abb. 1). Je stärker das ICH an das ES gebunden ist, desto geringer ist auch seine Fähigkeit, zu objektivieren und zu differenzieren. Je mehr es sich jedoch bei zunehmender Individualisierung zur Persönlichkeit und damit vom ES weg entwickelt (in Abb. 2 von A zu B), desto größer wird seine Möglichkeit, zu objektivieren und zu differenzieren, d. h. das ES logisch-rational zu erfassen. Der fiktive Punkt »C« zeigt die Situation der absolut logisch-rationalen Erfassung des ES, deren Beurteilung sich der Empirie entzieht.51 Es bleibt also in der für uns überblickbaren Situation (das ist von A bis ungefähr B) immer noch ein kleinerer oder größerer Restbestand logisch-rational nicht erfassbarer ES-Einflüsse auf das ICH, welche entweder ignoriert oder als Aberglaube oder aber in dem ICH und ES gleichermaßen umfassenden Bereich der Religion (r) miteinbezogen werden können.52 Zusammenfassend kann also festgestellt werden: Das magisch-­ mystische und das logisch-rationale Welt­er­leben sind zwei Wesensbegriffe und schließen sich ihrem Wesen nach gegenseitig aus. Ihre Wirksamkeit ist bestimmt von der Stellung des ICH zum ES. Der Mensch magischen Welt­er­lebens lebt bei geringer Emanzipation des ICH vom ES, d. h. bei kleinster Entwicklung des ICH-Bewusstseins, im Zustande höchster Indifferenz, wie sie sich vornehmlich mit den Wesensmerkmalen der fließenden Persön-

82

51 Es steht aber zu vermuten, dass die Erreichung dieses Punktes gleichzeitig eine vollkommene Loslösung des ICH vom ES mit sich brächte, wodurch wiederum das ICH, das ja immer von der Korrespondenz »ICH – ES« getragen wird, vernichtet würde. Auch müsste »C« notwendig außerhalb der religiösen Erlebniswelt liegen. Da unsere Vorstellungswelt jedoch immer ein Jenseits, also einen auf logisch-rationaler Stufe nur im Religiösen erfassbaren Bereich, umschließt, ist Punkt C menschlich unerreichbar und nur Spekulation für den areligiösen Übermenschen. 52 Auf die Religion und ihren, sich mit dem magischen und rationalen Welt­er­ leben vielfach überschneidenden, Wirkungsbereich einzugehen, würde über den Rahmen dieser Arbeit weit hinausführen. Es sei deshalb nur auf den Umstand hingewiesen, dass sich auch in der christlichen Hochreligion neben alten Überresten und wiederum neu eingedrungenen unterschichtlichem Volksglauben auch immer eine mehr mythologische und eine mehr rationale Seite unterscheiden lassen. Man denke dabei nur einerseits an den ausgeprägten katholischen Heiligenkult und andererseits an Pascals Gottesbegriff oder Kierkegaards religiöse Spekulationen. Wesensähnlich erscheint auch der Unterschied zwischen östlicher und westlicher Religiosität, zwischen Buddhismus und Christentum.

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

lichkeit bis zu einer participation mystique, d. h. dem Eingebettetsein und Aufgehen des ICH im ES, und der physiognomischen und nach seinem Bilde bestimmten, assoziativen Fantasiegestaltung der Welt, wie sie uns in Mythos, Märchen und Sage überliefert ist, charakterisieren lässt. Das logisch-rationale Welt­er­leben dagegen ist bestimmt vom Begriff der Persönlichkeit, mit dem Ziel einer höchstmöglichen Emanzipation des ICH vom ES. Es strebt in seinem nach der Idee der Logik orientierten Denken nach immer größerer Differenzierung und Individualisierung und danach, sich der Umwelt als geschlossene, eigenständige Persönlichkeit gegenüberzustellen. Gleichzeitig mit der Differenzierung der Persönlichkeit von der gegenständlichen und personalen Umwelt und damit der Differenzierung der verschiedenen belebten und unbelebten Umweltobjekte untereinander tritt fernerhin das physiognomische Welt­ er­leben zurück und an die Stelle der affektiv oder durch längerwährende Wunsch-, Trieb- oder sonstige Regungen beeinflussten Bild-Bedeutungs-Assoziationen tritt die logisch-rationale Schlussfolgerung. Es wird somit nicht nur die Fantasie-Überbrückung zwischen erlebendem Subjekt und erlebtem Objekt, zwischen dem ICH und der belebten und unbelebten Umwelt, aufgehoben, sondern auch die Welt an sich entseelt, »entgeheimnist« und entmythisiert. Im Gegensatz zum magisch-mystischen Welt­er­leben, das in seinem Vollzuge entweder eine magisch-praktische oder mystisch-hingebende Einstellung des Erlebenden zur Welt zur Folge hat, also eine praktische Beeinflussung bzw. ein angleichendes Mitleben der Weltvorgänge, wie sie erlebt werden, nach sich zieht, bewirkt das logisch-rationale Welt­er­leben in seinem Vollzuge ein Gegenüber-Verhältnis zwischen Erlebendem und Erlebtem, das kein kritikloses Einnehmen des einmal Erlebten zulässt. Damit ist auch die aus dem logisch-rationalen Welt­er­leben resultierende Einstellung zur Welt und Verhaltensweise des Erlebenden nicht nur eine Reaktion auf das Erlebnis an sich, sondern konstituiert sich vielmehr im Sinne einer echten Ratio – die nicht zu verwechseln ist mit einer das wahre geistige Leben nur hemmenden intellektuellen Zweckrationalität – in einem ständigen Streben nach Erkenntnis der Welt-an-sich, nach Erkenntnis der dem Weltgeschehen zugrunde liegenden Idee.

83

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

Erscheinungsformen offensichtlich magischen Welt­er­lebens in der Gegenwart

84

Wie aus den bisherigen Ausführungen hervorgeht, lassen sich die beiden Arten von Welt­er­leben nie vollkommen rein, sondern zu allen Zeiten und in allen Schichten immer nur in einem mehr-oder-weniger feststellen. Die dabei bisher verwendeten Beispiele entstammten dem Bereich der Frühzeit, der Naturvölker und der ländlichen Bevölkerung innerhalb der Unterschicht unserer eigenen Kultur, in jedem Falle also Gemeinschaf‌ten, die – besonders außerhalb des Bereichs ihrer täglichen praktischen Verrichtungen – vorwiegend vom magischen Welt­er­leben bestimmt sind. Im Sinne des dieser Arbeit zugrunde liegenden, vom Erlebnisvorgange ausgehenden, dynamischen Gesichtspunktes aber interessiert nun besonders auch die Wirksamkeit magischen Welt­ er­lebens in der Gegenwart und da wiederum in den vorwiegend oberschichtlich lebenden Personenkreisen unserer eigenen Kultur. Soziologisch erfassbar ist diese Personenschicht – als Gegensatz etwa zu der z. B. auch von Wetter, Jahreszeiten und manchen anderen unberechenbaren und das Zustandekommen eines phänomenal magischen Welt­er­lebens befördernden Faktoren abhängigen Landbevölkerung – annäherungsweise vor allem in den Schichten der Gebildeten und all derer, die unmittelbar im Wirkungsbereich der beiden größten Schöpfungen logisch-rationalen Denkens – der Wissenschaft und des modernen Wirtschaftssystems – leben, d. h. der größte Teil der Stadt- und Großstadtbevölkerung. Es interessiert also die Frage, inwieweit auch in dieser (soziologischen) Schicht ein Welt­er­leben feststellbar ist, das zwar nicht den bestimmenden Einfluss auf die Gesamtgestaltung des Lebens ausübt wie z. B. in der Frühzeit oder bei den Kulturvölkern der Gegenwart, das aber offensichtlich die dem dort als vorherrschend festgestellten bzw. alleinigen Welt­er­leben eigentümlichen Wesensmerkmale besitzt, ihm also wesensgleich ist. Die Erscheinungsformen eines solchen offensichtlich magischen Welt­er­lebens haben ihren Ursprung in zwei Hauptquellen: im religiösen Volks- bzw. im wissenschaftlichen Aberglauben,53 welche von der Unterschicht nach oben dringen oder im Sinne 53 Die Unterscheidung zwischen religiösem Volksglauben und wissenschaftlichem Aberglauben ergibt sich aus dem Umstande, dass die Bezeichnung »Aberglaube« ( = Afterglaube, falscher Glaube) immer einen allgemein als unbedingt richtig anerkannten Glauben voraussetzt. Nun ist diese Voraussetzung zwar bei den auf der ganzen Welt im Bereich logisch-rationalen Denkens als richtig anerkannten wissenschaftlichen Vorstellungen gegeben, nicht aber

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

unterschichtlicher Vorstellungen dort auch überhaupt neu entstehen (eben durch die ein magisches Welt­er­leben bewirkenden und im zweiten Teil dieser Arbeit an einem speziellen Objekt aufzuzeigenden magischen Einflüsse) und in den magischen oder geheimen Wissenschaf‌ten, welche in unzähligen Überlieferungen und Abwandlungen zugängig und immer auch wirksam sind. Hierbei lässt sich folgendes Phänomen beobachten: Die in die Schichten der Gebildeten usw. heraufdringenden, in ihr als Relikt bestehenden oder auch selbstständig neu entstehenden unterschichtlichen Vorstellungen, die den Erscheinungsformen magischen Welt­er­lebens zugrunde liegen, sind wesentlich farbloser und indifferenter als die denselben Erscheinungsformen zugrunde liegenden Vorstellungen in der eindeutig unterschichtlichen Lebenssphäre, d. h. in phänomenal primitiven Gemeinschaf‌ten. Die dort mehr oder weniger differenziert ausgebildeten Seelen-, Kraft-, Dämonen- oder sonstigen Vorstellungen treten hier bis auf wenige Ausnahmen fast ganz zurück und an ihre Stelle tritt ein mehr oder weniger indifferentes, in verschiedenen Formen wirkendes und beeinflussbares Etwas, Schicksal, Vorsehung, Zufall oder dergl. Es wird also das ES, das weiter oben als ein Sammelbegriff aller differenzierten magischen Vorstellungen verwendet wurde, hier tatsächlich als ein ES empfunden, von dem die eigene Person, das ICH, mehr oder weniger abhängig ist. Andererseits werden die aus dem Bereich der magischen Wissenschaf‌ten stammenden Vorstellungen, die – dringen sie in die besagten Bereiche der Unterschicht ein – meist eine farbige Ausgestaltung erhalten, in der Schicht der Gebildeten usw. mehr und mehr rationalisiert und mit Elementen des logisch-rationalen Welt­er­lebens durchflochten. Ersteres Phänomen zeigt sich besonders stark im modernen Amulett-Glauben. Die Amulette, Talismane, Glücksbringer, Maskottchen oder wie sie sonst noch heißen mögen, werden meist getragen, um dem Träger »Glück zu bringen«, ihn also ganz allgemein gegen »Unglück «, d. h. gegen für ihn ungünstige Einflüsse des ES, zu schützen. Die außerordentliche Verbreitung diesen Glaubens hat sogar eine eigene Anhänger-Industrie hervorgerufen und vierblättriger Glücksklee, kleine Kaminkehrer-Figuren, Glücksschweinchen, kleine Spielwürfel, die Zahl 13 u. a. erfreuen sich besonderer Beliebtheit und werden gerne als Armbänder oder am Halse getragen – oft am bisherigen Platz eines schlichten Kreuim Bereich der Religionen, von denen bisher keine uneingeschränkt auf der ganzen Welt anerkannt wurde. Es kann sich also bei der Religion nie um einen »falschen« Glauben handeln, sondern immer nur um vorwiegend magisch bestimmten Volksglauben.

85

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

86

zes.54 An Haustüren, Dachfirsten usw. befestigt man gerne gefundene Hufeisen als Glücksbringer. Spezialisierter erscheint der Amulett-Glaube in Verbindung mit besonderen Beschäftigungen, Tätigkeitsbereichen usw. So versichern sich die Kraftfahrer gerne durch ein an den Kühler anmontiertes Hufeisen, ein Maskottchen am Fondfenster oder am Lenkrad, eine Christophorus-Plakette am Schaltbrett usw.55 Auch die beliebten Schlüsselbundanhänger für Kraftfahrer in Form von besonders wichtigen Verkehrszeichen haben für ihren Besitzer wohl oft amulettähnlichen Charakter. Außer bei den Kraftfahrern waren die vor Unfall schützenden Maskottchen im letzten Kriege besonders auch bei Piloten beliebt. Unter den Skifahrern erstand in den letzten Jahren sogar ein eigener Schutzgott, »Ullr« genannt, und viele Skifahrer tragen heute die gegen »Bruch« schützende Ullr-Plakette nach Art eines Bierzipfels am Gürtel oder Uhrtäschchen (viele von ihnen aber sicher auch nur, weil es eben »zünftig« ist und dazu gehört). Erscheint nun in diesen Beispielen der Amulett-Glaube auch spezialisierter, so bezieht sich diese Spezialisierung doch nur auf den Wirkungsbereich und nicht auf die Einflüsse an sich, die man auch hier ganz allgemein als »ungünstige Einflüsse des ES« bezeichnen kann. Dem Amulett-Glauben nahe stehen die aus einem ähnlichen sympathetischen Lebensgefühl entspringende und auch heute noch in allen Schichten weit verbreitete Angst vor dem »Verschreien« oder »Bereden« und die Tagewählerei. Durch Klopfen am Holz oder unter den Tisch, durch Ausrufe wie »Unberufen!« usw. versichert man sich gegen das Verschreien, d. h. gegen die Einflüsse des ES auf einen Zustand oder ein Ereignis, die durch Sprechen über diesen Zustand oder dieses Ereignis hervorgerufen werden. Zeitliche Abhängigkeit zeigt sich in der Tagewählerei. Viele Leute tun z. B. nie am 13. eines Monats etwas Entscheidendes »und wir wissen von manchem, der im ganzen Jahr keinen Tag des Herrn kennt, aber um keinen Preis zu bewegen wäre, an einem Freitag ‌‌ ein Geschäft oder eine Reise zu unternehmen« 56. Die Zahl 13 gilt auch sonst in vieler Hinsicht (z. B. Zimmernummer 13 in einem Hotel,  13. Gast an einer Tafel usw.) als eine Zahl, mit der in irgendwelche Verbindung zu treten, Unglück bedeutet.57 54 Wobei allerdings zu bemerken ist, dass auch das Kreuz oft nur aufgrund magischer Vorstellungen getragen wird bzw. im Bereich des magischen Welt­ er­lebens oft das Amulett vertritt. 55 Wie L. Schmid aus Wien berichtet, werden dort die Kraftwagen auch zu der Christophorus-Weihe nach Christofen gefahren, »welche seit einiger Zeit kirchlich eingeführt ist« (Schmid 1940, 117). 56 Wuttke 1925, 487.

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

Weiterhin zeigt sich die geglaubte Abhängigkeit des ICH von dem als Schicksal, Vorsehung, Zufall, oder dergl. bezeichneten ES deutlich in dem vieldeutigen Angang-Glauben, dem Glauben an Vorzeichen, wie er sich in unendlich vielen Schattierungen findet. So kann, den häufigsten Vorstellungen zufolge, eine Begegnung mit Kaminkehrern, alten Weibern oder einem Leichenwagen Unglück (dem Glauben anderer nach aber auch wiederum Glück), eine von rechts über den Weg laufende schwarze Katze Glück, eine von links kommende aber Unglück bedeuten usw. Ferner gehören hierher auch die die Zukunft vorhersagenden »hellsichtigen Frauen«, »wahrsagenden Schäfer« usw. und mit ihnen auch das weite Gebiet der magischen, auf dem Prinzip der Sympathie beruhenden Heilmethoden.58 Bei allen diesen Vorstellungen ist es aber verallgemeinernd wohl unmöglich und von Fall zu Fall nur schwer zu entscheiden, inwieweit z. B. das Amulett wirklich als Amulett oder nur als spielerischer Schmuck getragen wird, oder ob das »Unberufen!« nur ausgerufen wird, weil man etwas Unverbindliches sagen will, oder ob tatsächlich eine gewisse Scheu vor einer eventuellen Beeinflussbarkeit der Geschehnisse in den Worten mitschwingt usw. Kurz, es ist schwer zu entscheiden, inwieweit die ihrer Erscheinungsform nach offensichtlich aus dem magischen Welt­er­leben stammenden Vorstellung tatsächlich magisch erlebt werden oder nur noch der Form nach lebendiges, inhaltlich aber schon längst totes historisches Relikt sind.59

57 Selbstverständlich ist es ebenso magischer Glaube, wenn in Ablehnung alles »Abergläubischen« immer und bewusst bei jeder Gelegenheit die Zahl 13 gewählt wird. 58 So soll man gegen Augenschmerzen ein gelbes Band um den Hals binden. Wenn jemand die Gelbsucht hat, soll man ihn anspucken, damit er erschrickt. Wenn man ein Gerstenkorn hat, soll man sich draufspucken lassen oder auch durch ein Astloch schauen. Bei Schluckanfällen soll man neun Schluck Wasser trinken. Nach einem jähen Schreck soll man das Wasser abschlagen. Gegen Haarausfall wird geraten mit der Bürste auf den Kopf zu klopfen usw. (vgl. auch Schmid 1940, 92  ff.). 59 So berichtet z. B. Beth (1927, 161  f.) von glandes, Schleuderbeilen, die im Heere Cäsars in Verwendung waren und auf denen die Soldaten oft Inschrif‌ten anbrachten wie »Feri pomp(ejum)«, »Triff den Pompejus!«, oder »Pertinacia vos radicitus tollet«, »So ihr in Hartnäckigkeit verharret, dann Gnade euch Gott!«. Eine deutliche Parallele hierzu zeigte sich im letzen Kriege in den Spott- und sonstigen Inschrif‌ten und Zeichnungen, die von Soldaten auf Geschoßen oder Fliegerbomben angebracht wurden. Ist nun aber im ersten Falle die magische Verbindung des Wunsches den Feind zu treffen mit der diesbezüglichen Aufschrift sehr wahrscheinlich, so erscheint eine derartige Verbindung im zweiten

87

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

Dagegen, dass es sich bei diesen, in den weitgehend nach logisch-rationalen Prinzipien lebenden Personenkreisen festzustellenden, Erscheinungsformen magisch-mystischen Welt­ er­lebens nur um historisches Relikt handelt, spricht neben ihrer relativ weiten Verbreitung 60 einmal das in unruhigen Kriegs- oder Krisenzeiten immer wieder zu beobachtende spontane Anwachsen solches Volks- und Aberglaubens, und zum anderen die oft vollkommen neue Gestaltung alter Vorstellungen, wie sie sich z. B. beim Ullr-Talisman zeigten. Alle Beobachtungen in dieser Richtung zeigen vielmehr, dass auch der absolut spielerisch geäußerten Anschauung keimhaft immer echtes magisches Welt­er­leben zugrunde liegt und es oft nur eines geringfügigen Zufalls oder Zusammentreffens bedarf, um einen Beweis für die Wahrheit solcher Vorstellungen und damit eine Grundlage für weiteres echtes und kontinuierliches magisches Welt­er­leben von mehr oder weniger bestimmendem Einfluss zu schaffen. Die vorstehenden Beispiele zeigten eindeutige Erscheinungsformen magischen Welt­er­lebens, welche die menschliche Persönlichkeit und ihr Verhältnis zur Umwelt betrafen, d. h. Situationen oder Vorstellungsweisen, in denen sich das ICH in der für das magische Welt­er­leben typischen Weise dem ES annähert bzw. in Abhängigkeit von ihm gerät. Im Gegensatz hierzu ist die unpersönliche Art magischen Welt­ er­ lebens, d. h. das offensichtlich mythische, märchen- oder sagenhaf‌te Erleben der Welt-an-sich in ihren Erscheinungsformen, wenn auch nicht minder stark vertreten, so doch wesentlich schwieriger aufzufinden. Am häufigsten ist sie mehr oder weniger getarnt in den Sensationsmeldungen der Tages- oder Boulevardzeitungen anzutreffen. Im Grunde ist in diesem Sinne schon jede Übertreibung der tatsächlichen Gegebenheiten ihrem Wesen nach ein erster Schritt zum Märchenhaf‌ten und jedes Gerücht und jeder Klatsch trägt 88

Falle – bei gleichzeitigem Bestehen desselben Wunsches und einer diesbezüglichen Aufschrift – doch wohl kaum oder nur in sehr unbewusster Form vorhanden gewesen zu sein. 60 So berichtet Wuttke (1925, 148 und 487) von einem Buch »Des alten Schäfers Thomas seine Geheim- und Sympathiemittel«, 1858, »in welchem allerhand Schwindelrezepte, auch über Photographie, Firnisse, Räucherkerzen, Papageienabrichtung und vieler toller Unsinn zusammengeschmiert sind; von den acht Bänden wurden in wenigen Jahren an 40 000 Exp. abgesetzt. Das Buch ›Wer will heiraten? Nebst einem sympathetischen Mittel, durch welches sich jeder Gegenliebe verschaffen kann‹, Berlin 1858, hat in einem Jahr drei Auf‌lagen erlebt. Die Mehrzahl der Leser solcher Bücher ist aber bestimmt nicht in der Landbevölkerung zu suchen, sondern wohl hauptsächlich in den Schichten der Gebildeten oder besser: Halbgebildeten.«

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

erste Anzeichen der Sagenbildung in sich.61 Daneben stehen Darstellungen, die ganz offensichtlich in den Bereich magischen Welt­ er­lebens fallen.62 Haf‌ten so fast jeder Sensationsnachricht, besonders denen aus dem Bereich der Wissenschaft, Elemente märchenund sagenhafter Gestaltung an, so besteht andererseits zwischen ihnen und den weiter oben erwähnten Gestaltungen offensichtlich magischen Welt­er­lebens (vgl. S. 76  ff.) der Unterschied, dass in ihnen nicht Dämonen, Basiliske, Geister, Wunderschwerter oder fliegende Teppiche, sondern Strahlen, Hypnose, Magnetismus, Atomzertrümmerung, Weltraumschiff usw. als allesvermögende Requisiten dienen.63 Ihrer Gestaltung und damit ihrem Wesen nach sind sie ihnen jedoch gleich. Im Allgemeinen sind die Wirkungen solcher Gestaltungen jedoch – ganz im Gegensatz zu den oben angeführten, das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt betreffenden Vorstellungen – nur von kurzer Dauer und die logisch-rationale Vorstellungswelt siegt bald wieder über das magische Welt­er­leben. Durch logisch-rationales Denken ist die Welt heute in dem der Untersuchung zugrunde liegenden europäischen Bereich schon zu sehr »entgeheimnist« und auch die Gebiete der Hypnose, der Elektrizität usw. breitesten Schichten schon zu vertraut, als dass man ihnen im Normalfalle tatsächlich übernatürliche Wirkungen zutrauen oder mithilfe ihrer Wirksamkeit die Welt für längere Zeit magisch erleben könnte. In der Literatur allerdings, also in einem Gebiet, das unserem tatsächlichen realen Lebensbereich in jedem Falle seinem Wesen nach um ein gutes Stück entrückt ist, leben mythisch-märchenhaf‌te Gestaltungen teilweise noch in ganz primitiven Formen – beson61 So umfasst ja auch das heute oft gebrauchte lateinische Wort »fama« neben den Bedeutungen »guter bzw. schlechter Ruf, öffentliche Meinung, Überlieferung« usw. auch die Bedeutung »Gerücht« und »Sage«. 62 Als bekannteste Beispiele sei hier nur an die Nachrichten vom »Ungeheuer von Loch Ness« und vom »Tatzelwurm« erinnert, die monate- und jahrelang von der Bevölkerung mit Spannung verfolgt und nicht nur von den ungebildeten Lesern, sondern auch von zahlreichen Wissenschaftlern geglaubt und der nähreren Untersuchung für würdig befunden wurden. 63 Wie stark uns in welchem Ausmaße solche Darstellungen als wahr geglaubt werden können, zeigte die Panik, die vor einigen Jahren in New York ausbrach, als im Rundfunk ein Hörspiel vom Einfall der Marsbewohner auf die Erde gesendet wurde und ein großer Teil der Zuhörer dieses Spiel als Tatsachenreportage auf‌fasste. Und auch die starke Wirkung, die im Deutschland des Zweiten Weltkrieges der ständige offizielle Hinweis auf die kommenden »Wunderwaffen« in den letzten Kriegsjahren ausübte, wird von diesem Gesichtspunkt aus sehr verständlich.

89

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

ders in Reiseschilderungen, in Abenteuerromanen und damit vor allem im Bereich der sog. »Schundliteratur«, die in vieler Hinsicht an die Stelle der alten Volksbücher getreten ist.64 Der Anschaulichkeit halber sei hier eine charakteristische Parallele nach W. E. Peuckert zitiert: Der Zauberer von Graz von Martin Winfried, erschien 1922 in der Romanheft-Reihe »Der neue Excentric Club« im Mignon-Verlag. Die Handlung ist in Kurzem folgende:

90

Percy Stuart, Amerikaner, jung, sehr reich, unabhängig, liebenswürdig, ein Meister aller sportlichen Künste, hat es sich in den Kopf gesetzt, Mitglied des berühmten Excentric-Clubs zu werden. In diesem Club werden nur Männer der vornehmen Gesellschaft aufgenommen, die durch tolle Streiche den Beweis geliefert haben, dass sie keine Dutzendmenschen, sondern ungewöhnliche und merkwürdige Naturen sind. Unter den Aufgaben, die man ihm stellt, um das zu beweisen, lautet die eine: In Graz lebe ein Professor Christian Eupherus Leander in einem alten burgähnlichen Hause auf dem Reinerkogel, zusammen mit seiner Tochter Nausikaa. Leander hat die Herstellung künstlicher Brillanten erfunden und Stuart wird die Aufgabe gestellt, das Geheimnis zu ergründen. Stuart versucht mit einer List – er gibt sich selbst als ähnlicher Erfinder aus – Zutritt zu dem abgeschottet lebenden Manne in seiner alten, halb verfallenen Burg auf dem Kogel zu erlangen, findet aber zunächst keine Zugangsmöglichkeit. Er steht vor dem Tor, an dem keine Klingel oder dergl. zu bemerken ist, und ruft. »Aber plötzlich vernahm Percy Stuart ein dumpfes Rollen und dann versank vor seinen Augen – er konnte durch die Gitter des Tores hineinschauen – das ganze Pflaster des Hofes und ein tiefer Graben gähnte zwischen ihm und dem Hause. Das war deutlich. Sein Besuch war also unerwünscht. Aber Percy Stuart ließ sich nicht einschüchtern.« Er wartete zwei, drei Stunden. »Da schloß sich über dem Graben wieder das Pflaster des Hofes und zugleich sprang das Tor, wie von Geisterhänden berührt, auf. P. St. schritt dem Hause zu. Ein großer Ausschnitt öffnete sich in der Tür. Ein Mädchenkopf von seltener Schönheit kam zum Vorschein. Aha! dachte P. St., das ist Nausikaa, die Tochter des Herrn Leander.« 64 L. Schmid schreibt zwar (1940, 109), dass es in Wien noch 1940 Volksbuchdruckereien gibt, »[…] welche die alten Volksbücher drucken und auch einen ziemlichen Absatz haben«. »Aber«, fügt er hinzu, »meist gehören diese Dinge nur mehr den Kindern an.«

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

P. St. bringt sein Anliegen vor, worauf das Haus unter Donnerschlag erzittert und ein mächtiges, ihn verspottendes Lachen ertönt. Nausikaa warnt P. St., ihren Vater nicht zu reizen, und führt ihn durch Geheimtüren usw. in das Laboratorium. Stuart wird bald entlarvt und auf ein Podium gelockt, der Professor öffnet ein kleines schwarzes Kästchen und »versteinert« den Abenteurer. »Eiskalt wurde plötzlich sein Blut, er konnte den erhobenen Arm nicht mehr bewegen, und sein ganzer Körper wurde so bewegungslos, als wäre er aus Stein. Zugleich umzuckten ihn gelbliche und bläuliche Blitze, die der Professor offenbar aus seinem Kästchen aufsteigen ließ und gegen ihn schleuderte.« Später kommt Nausikaa, um ihn zu füttern. Sie gesteht ihm, dass sie einen ungeliebten Mann heiraten soll, in Wirklichkeit aber nur ihn, P. St., liebt. »Höre mich, nahm sie dann das Wort, heute gegen Mitternacht komme ich zu dir und befreie dich. Ich werde meinem Vater das Kästchen stehlen, in welchem seine ganze Kraft liegt. Durch seine Erfindung, welche in einer Steigerung und Ausbreitung der Elektrizität 65 liegt, ist er mächtig; besitzt er das Kästchen nicht, so vermag er gegen unsere Flucht nichts auszurichten.« Um Mitternacht kommt sie mit dem Kästchen und bringt auch Brillanten und das Rezept zu ihrer Herstellung mit. Sie drückt auf den Taster des Kästchens, Blitze zucken, Percy ist befreit; wenig später stehen sie vor dem Hof. Eben wollen sie hinüber, als sich der fürchterliche Abgrund, den P. St. schon einmal erblickt hatte, abermals auf‌tut. Nausikaa hatte ihrem Vater aus Mitleid das Kästchen zurückgelassen, mit dessen Hilfe er sie nun verfolgt. P. St. will in den Abgrund hinabspringen um hinüberzugelangen, da füllt sich der Graben mit Wasser, in dem Krokodile schwimmen. Da zucken Blitze hinter den Fliehenden auf und ein Feuer, dessen Glut nicht zu ertragen ist, erfüllt das ganze Treppenhaus. P. St. schwimmt durch den Graben, um nicht von den Blitzen getötet zu werden und kann sich retten. Nausikaa wird von den Krokodilen getötet. Als er sich drüben umwendet, sieht er, wie das Haus des Zauberers in Flammen steht. »Die alte Burg war in sich zusammengestürzt und nicht einmal die Leichen des Professors und seiner Tochter wurden unter den Trümmern gefunden.«66

65 Von mir kursiv markiert. 66 Vgl. Peuckert 1938, 5  ff.

91

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

92

Diese Geschichte trägt zweifellos Märchenzüge. Tatsächlich lässt sich auch schon die Handlungslinie im Gebiet des Volksmärchens nachweisen. In »Grünus Kravalle« 67 wird Prinz Jack vom Eiland vom Teufel, an den er sich im Spiel verlor, begnadigt, wenn er ihn finden könne. Ein Einsiedler weist ihm den Weg zu einem Schloss, in dem er den Teufel finden werde, wenn er gleich, ohne sich aufzuhalten, nach Grünus Kravalle frage, sonst gehe es ihm schlimm. Das Schloss hat keine Tür und Prinz Jack muss warten, bis sich um zwölf Uhr die Mauer selbsttätig öffnet. Er gelangt in das Schloss, wird aber vom Teufel listig aufgehalten und, als er die Zeit überschritten hat, in den Eiskeller geworfen. Eine der beiden Töchter Kravalles, die gerade vorbeikam, als er in den Eiskeller geschleift wurde, hat jedoch Mitleid mit ihm, als sie eines Tages durch ein Fensterloch sieht, wie der Prinz im Eiskeller sein Brot in ein wenig Eiswasser erweicht. Sie bringt ihm von da ab jede Nacht zu essen. »Jedesmal blieb sie ein wenig länger bei ihm und ließ sich von ihm erzählen und jedesmal gefiel er ihr besser und sie ihm. Da sprach sie einmal: Höre, ich habe dich so lieb, daß ich ohne dich nicht mehr leben kann; wenn du mich heiratest, dann entfliehe ich mit dir, denn ich habe meinen Vater gar nicht lieb und dich mehr als die ganze Welt.« Sie fliehen, indem sich die Tochter des Teufels in einen Raben, den Prinzen in eine Taube verwandelt. In einer Fassung aus Siebenbürgen lässt des Teufels Tochter die »Zauberrute« ihres Vaters, mit der sie dem Prinzen geholfen hat, zurück und der Teufel versucht durch sie, nachdem er sie gefunden hat, der beiden Fliehenden habhaft zu werden.68 Neben der Analogie der äußeren Handlungsführung, die ja auch eine rein zufällige sein könnte, ohne dass damit schon etwas Absolutes über den märchenhaf‌ten Charakter der Geschichte des »Zauberers von Graz« festzustellen wäre, erscheint die Analogie der die Handlung tragenden Elemente von besonderer Wichtigkeit: Der böse Teufel – der alte Professor, der Prinz – der reiche Amerikaner, beide Male das geheimnisvolle Schloss und vor allem die Analogie zwischen »Zauberrute« und »schwarzem Kästchen«. Dieses schwarze Kästchen nun ist der Angelpunkt, an dem in der Erzählung die Wendung zum tatsächlichen magischen Welt­ er­leben vollzogen wird. Durch die fantastische Übersteigerung der Wirksamkeit elektrischer, also auch logisch-rational feststellbarer Kräf‌te werden alle magischen Vorgänge der Erzählung als auch in unserem realen Dasein mögliche Erscheinungen glaubhaft 67 J. W. Wolf (Hg.) (1851), Deutsche Hausmärchen, 286  ff., zit.  n. Peuckert 1938, 8. 68 J.  Haltrich (1877), Deutsche Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen, 151, zit. n. Peuckert 1938, 10.

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

gemacht. Alle dargestellten Vorgänge, und damit auch die reale, sonst vorwiegend logisch-rational erlebte Welt – denn in ihr ereignen sich ja alle diese Vorgänge und die Menschen der Handlung sind Menschen unserer Zeit und unseren Kulturkreises –, werden im Bereich der Erzählung magisch erlebt. Um diesen Kern sammeln sich dann die weiteren Märchenmotive: abenteuerliche Aufgabe des Helden im verwunschenen Schloss, unheimliche Macht des Grünus Kravalle bzw. des Professors, die Gefangenschaft im Eiskeller bzw. die »Versteinerung«, gemeinsame Flucht des Helden mit der ihn liebenden und ihn befreienden Tochter seines Widersachers (wobei Letztere allerdings im »Zauberer von Graz« – wegen der weiteren Abenteuer des Helden innerhalb der Romanserie – umkommen muss). Was also das Volksbuchhaf‌te oder – auf anderer Stufe – das Volksmärchenhaf‌te der Erzählung ausmacht, ist nicht einfach die fantastische Gestaltung (diese findet sich auch im Kunstmärchen), sondern die Verbindung der fantastischen (magischen) Elemente mit typischen Märchenmotiven, die in der dem Volksmärchen eigenen Form komponiert werden, und die Darstellung der Ereignisse als auch in der realen Alltagswelt des Lesers (in diesem Falle durch »Ausbreitung und Steigerung der Elektrizität«) mögliche Vorgänge. Hierdurch unterscheidet sich diese Art von Erzählungen auch von den fantastischen und surrealistischen Gestaltungen der zeitgenössischen Literatur.69 Sie verhalten sich zu ihr etwa wie in der Romantik die Volksmärchen zu den Kunstmärchen. Der »Schundroman« ist also in seiner volksbuchartigen Weiterentwicklung von aus dem magischen Welt­er­leben stammenden, eurythmisch komponierten Volksmärchenmotiven vielfach eine offensichtliche Erscheinungsform magischen Welt­er­lebens in der Gegenwart. Von den weiter oben angeführten, das Verhältnis des Menschen zur Umwelt betreffenden Erscheinungsformen magischen Welt­er­lebens in der Gegenwart, die den bei den Naturvölkern festgestellten Phänomenen wesensähnlich und vielfach auch gleichen psychischen Ursprungs sind, sind die magischen oder Geheim-­ Wissenschaf ‌ten, deren Wirksamkeit in der Schicht der Gebildeten unserer Kultur auch vielfach zu beobachten ist, ihrem Charakter und ihrer Entstehung nach verschieden. Sie entstammen zwar ebenso dem magischen Welt­er­leben, doch sind sie nicht wie jene aus der Masse des Volkes in unzähligen Modulationen, Veränderungen und Übertragungen entstanden, sondern die mehr oder 69 Etwa A.  Kubin, Die andere Seite ; E. Jünger, Das abenteuerliche Herz ; H. Kasack, Die Stadt hinter dem Strom u. a. m.

93

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

weniger bewusste Schöpfung einer oder mehrerer Einzelpersonen, die sie meist schriftlich niederlegten. Ferner sind die Begründungen der geheimwissenschaftlichen Theorien von den prälogischen Fundierungen des Volksglaubens insofern verschieden, als in ihnen ein ungleich stärkeres logisch-rationales Element wirksam ist. Doch erfährt dieses logisch-rationale Denksystem durch starke Beimischung typischer Wesensmerkmale magischen Welt­er­lebens eine über die Möglichkeiten logisch-rationaler Erkenntnis weit hinausgehende Erweiterung. Hierdurch wird nun zwar (im Sinne der Abb. 2) schon in einer Situation, in der das ICH dem ES noch verhältnismäßig nahe gelegen ist, eine nahezu vollkommene Erfassung des ES durch das ICH möglich, andererseits aber ist diese Form, die Welt zu erleben und erkennend zu verarbeiten, infolge der vielen in ihr enthaltenen Elemente eines magischen Welt­er­lebens ihrer Stille nach tatsächlich in ihrer Gesamtheit in den Bereich des magischen Welt­er­ lebens zu rechnen (vgl. Abb. 3).

ES

ICH

94

Bereich logisch-rational möglicher Erkenntnis Bereich logisch-rational möglicher Erkenntnis Bereich Bereich der magischen oder geheimen Wissenschaften rational-logischer möglicher Erkenntnis Bereich logisch-rational möglicher Erkenntnis Bereich der magischen oder geheimen Wissenschaften Tatsächliche Einbeziehung des ICH in das ES in magischem Welterleben Bereich der magischen oder geheimen Bereich magischen und geheimen Tatsächliche Einbeziehung des ICHErkenntnis in Wissenschaften dasWissenschaften ES in magischem Welterleben Bereich logisch-rational möglicher Tatsächliche Einbeziehung ICH dasin ESdas in magischem Welterleben Tatsächliche Einbeziehung desinICH ES in Bereich der magischen oderdes geheimen Wissenschaften

magischem Welterlebendes ICH in das ES in magischem Welterleben Tatsächliche Einbeziehung Abb. 3

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

In den Geheimwissenschaf‌ten werden die Phänomene des magischen Welt­er­lebens – bei, das ist zu betonen, gleichzeitigem Glauben an sie – in mehr oder weniger wissenschaftlicher Weise erfasst, geordnet und erforscht. Die Arbeitsweise ist also dem äußeren Anschein nach weitgehend wissenschaftlich im logisch-rationalen Sinne, die Voraussetzungen jedoch sind durch ihren magischen Ursprung und kritiklose, auf bloßem Glauben beruhende Übernahme und Anerkennung vollkommen unwissenschaftlich. Hierdurch wird durch die magischen Wissenschaf‌ ten für den Menschen keine Veränderung seiner Erlebniswelt und damit eine Entwicklung seiner eigenständigen Persönlichkeit bewirkt, sondern sein Erleben bleibt seinem Wesen nach weiterhin magisches Welt­er­leben – nur mit dem Unterschied, dass die Wesensmerkmale dieses Welt­er­lebens (Erweiterung des Persönlichkeitsbegriffes, Sympathie alles Seienden mit bestimmender Wirkung, participation mystique usw.), die im Volksglauben unbewusst gefühlt oder einfach geglaubt werden, durch die magische Wissenschaft nachträglich eine kritiklose Begründung bekommen. Die magischen Wissenschaf‌ten stellen so in weiterem Maße lediglich eine Intellektualisierung magisch-mystischer Vorstellungen dar. Für die erste Aufgabe einer Wissenschaft, d. h. das Sammeln und Ordnen von Tatsachen, Beobachtungen usw., finden sich erste Anfänge schon in der primitiven Gemeinschaft als ein Ordnen der geglaubten übernatürlichen Beziehungen und Wirksamkeiten, oder aber es werden einfach alle Umweltobjekte untereinander und in ihrer Beziehung zum ICH im Sinne irgendwelcher symbiotischer oder sympathetischer Beziehungen geordnet.70 Durch 70 So zerfällt z. B. bei den Zuñi-Indianern, einer Völkerschaft Nordamerikas, der Stamm in sieben Abteilungen. Demgemäß ist auch das Dorf, das dieses Volk bewohnt, in sieben Gebiete abgeteilt. Diesen sieben Gebieten entsprechen nun weiter sieben Weltgegenden, die die Indianer unterscheiden, nämlich: Norden, Süden, Osten, Westen, Oben, Unten, Mitte. Die Siebenteilung, diese Einteilung in sieben Klassen, erstreckt sich nun auf alles, was es in der Welt für den Indianer gibt. Jedes Ding, jeder Vorgang, jedes Element, jeder Zeitabschnitt gehört einer der sieben Klassen an. Der einen Klasse gehört die eine Abteilung des Stammes sowie der Norden, als Tier das Waldhuhn, als Farbe das Gelb, als Element das Element der Luft, als Jahreszeit der Winter zu. Einer anderen Klasse gehört eine andere Abteilung des Stammes, als Tier der Bär usw. zu. Auch die gesellschaftliche Gliederung, die Berufs- und Arbeitseinteilung passen sich diesem System ein. Dem Norden gehört der Krieg, dem Westen die Jagd, dem Süden die Landwirtschaft an usw. Eine gleiche Sicherheit und Ordnung beherrscht auch das gesamte Tun und Denken des Volkes. Es gibt keine Feier, keine Zeremonie, keine Ratsversammlung, keine Prozession, bei der irgendein Missverständnis über die in ihr einzuhaltende Ordnung usw. entstehen könnte. Auch in das Gebiet der unmittelbar praktischen Beschäf-

95

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

96

diese Art zu ordnen, die ihrem Charakter nach typisch ist für alle Einteilungssysteme im Bereich der magischen oder geheimen Wissenschaf‌ten, wird aber im Grunde nichts anderes getan, als der in einem sympathetischen Lebensgefühl wurzelnden unbewussten Vorstellung von einer participation mystique oder dergl. einen intellektuellen Rahmen zu geben, in den sich dann alle weiteren eventuell neu oder in neuer Form auf‌tretenden, aus einem magischen Welt­er­leben entspringenden Vorstellungen mühelos einfügen lassen. Sie treten zu dem Vorhandenen in eine durch assoziatives (oder sonst irgendwie für magisches Welt­er­leben typisches) Denken hergestellte sympathetische Beziehung, in das Verhältnis einer »Entsprechung«. In allen Formen magischer Wissenschaft ist dieses Entspre­ch­ ungsverhältnis, das hier eine Verbindung zwischen nach lo­gisch-­ rationalem Empfinden vollkommen differenten Wesenheiten herstellt, ein durchgehendes Wesensmerkmal. So finden sich in der Alchimie Entsprechungen von Geistigem und Materiellem, in der Kabbalistik von Zahl und Bedeutung, in der Cheirologie oder Chiromantie von Handlinien und Lebenslauf, in der Astrologie von himmlischem (planetarem) und irdischem Geschehen – denn der ganze Himmel stellt einen Menschen dar und alles im Menschen entspricht ihm 71 –, der Makrokosmos entspricht dem Mikrokosmos usw., wobei all diese, meist mantisch betonten, Erkenntnisweisen im Grunde – was sich besonders auch im Verhältnis der Volksmedizin zur magischen Heilwissenschaft zeigt – eine Weiterentwicklung von aus dem primitiven magischen Welt­er­ leben stammenden Anschauungen unter Zuhilfenahme des oben erwähnten mehr oder weniger wissenschaftlichen Verarbeitungssystems darstellen. Selbst dem zu Beginn des vorigen Jahrhunderts entstandenen und seither weit verbreiteten Spiritismus, der auf schon ziemlich differenzierten Vorstellungen von Dualismus »Leib – Seele« und der Unterscheidung eines Diesseits und eines Jenseits beruht, liegen ursprünglich Vorstellungen von einer Entsprechung zwischen der geistigen, d. h. der übersinnlichen bzw. jenseitigen, und der natürlichen, d. h. der sinnlichen bzw. diesseitigen, Welt zugrunde. tigung setzt sich die systematische Grundauf‌fassung fort; so verwenden die Zuñi-Indianer die größte Sorgfalt darauf, zu bewerkstelligen, dass die Farbe des Saatkornes der Klassenfarbe der Himmelsgegend, in der der betreffende Acker liegt, entspricht. Für den Norden etwa wird man gelbe Saatkörner, für den Westen aber bläuliche bevorzugen (vgl. Danzel 1924, 23  ff.). 71 Vgl. Swedenborg 1925, 131.

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

»Die ganze natürliche Welt entspricht der geistigen« sagt Swedenborg, der in wörtlicher Auslegung als ein Vorläufer des Spiritismus von dessen Vertretern immer wieder zitiert wird, »daher nennt man alles, was in der natürlichen aus der geistigen Welt entsteht, etwas Entsprechendes. […] Sämtliche Körper unter der Sonne, die Licht und Wärme von ihr empfangen, bilden die natürliche Welt; zu ihr gehört alles, was die Sonne erhält. Die geistige Welt aber ist der Himmel, ihr Reich ist das, was in den Himmeln ist. Der Mensch, welcher Himmel und Welt in kleinster Gestalt ist, hat sowohl die geistige, wie die natürliche in sich« 72. Am ausgeprägtesten und von bestimmendem Einfluss auf die Gesamtgestaltung des Lebens zeigen sich die magischen Wissenschaf‌ten auf den Höhen früher Kulturen, wie z. B. in den alten Kulturen Mexikos oder Perus, der assyrisch-babylonischen, der ägyptischen, chinesischen und indischen Kultur usw.73 Und wie in der primitiven Gemeinschaftskultur der Naturvölker der Medizinmann der Beherrscher magischer Kräf‌te und Möglichkeiten ist, so ist hier der Priester der Kenner und Bewahrer geheimwissenschaftlicher Weisheit und religiöse Offenbarungen, Visionen usw. gelten ihm als Axiome seines Wissens. In Europa lassen sich für Erscheinungsformen, denen Vorstellungen von aus diesen Bereichen stammenden Geheimwissenschaf‌ten zugrunde liegen, vor allem zwei Quellen nachweisen: Der erste Einfluss ging von den Chaldäern aus, zu der Zeit, als Alexander der Große in Persien eindrang. Der zweite Hauptstrom ist gemischten, nämlich jüdisch-ägyptisch-arabischen Ursprungs und gelangte mit den Mauren nach Europa.74 Wie sich jedoch schon unter einem allgemeineren Gesichtspunkt ein auch im primitivsten magischen Welt­ er­ leben keimhaft enthaltener logisch-rationaler Kern feststellen ließ (vgl. S. 81), so findet sich auch in der Entwicklung der magischen Wissenschaf‌ten eine Spaltung, die einmal zu einer Weiterentwicklung im Sinne wahrhaft logisch-rationaler Wissenschaft führt,75 und nach der andererseits die eigentlichen magischen Wissenschaf‌ten in ihrer bisherigen Form immer mehr an Bedeutung verlieren und nur noch unterschichtlich in Volksglauben, Volksbüchern, abergläubischen Vorstellungen usw. weiterleben,76 bis sie 72 Ebd., 87  f. 73 Vgl. Danzel 1924, 40  ff. 74 Vgl. Lehmann 1925, 42  ff. und 137  ff. 75 Bezeichnenderweise fallen entscheidende Wendungen zu dieser Richtung in die Zeit, in der auch das Persönlichkeitsgefühl spontan anwuchs: in die Re­ nais­sance. 76 Eine wie starke Verbreitung sie allerdings in dieser Form haben können, zeigt das von Wuttke (1925, 487) zitierte Buch F. F. Sohn’s Kunst aus der Hand-

97

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

98

dann irgendwann einmal plötzlich wieder an die Oberfläche kommen und als Bildungsaberglauben oder Pseudowissenschaft in der Schicht der Gebildeten zu neuem Leben erwachen. Für die erste Entwicklungslinie ist u. a. der Übergang von der Alchimie zur modernen Chemie, von der magischen Heilwissenschaft zur modernen Medizin und die endgültige Trennung der Astronomie von der Astrologie zu nennen; für die zweite dagegen ist besonders der in der Mitte des vorigen Jahrhunderts von Amerika kommende dritte Hauptstrom des das europäische Denken beeinflussenden magisch-wissenschaftlichen Welt­er­lebens zu erwähnen, dessen Haupterscheinungsform der Spiritismus ist.77 Der Spiritismus stellt die reinste Form der als Bildungsaberglaube oder Pseudowisschenschaft wiederbelebten magisch-­wis­ sen­schaftlichen Vorstellungen in der Gegenwart dar – bei gleichzeitiger Einbeziehung von dem Animismus nahestehenden Elementen primitiv-magischen Welt­er­lebens. Das für ein magisches Welt­ er­ leben charakteristische Wesensmerkmal ist dabei nicht lediglich der Glaube an das tatsächlich übernatürliche Wesen übernatürlich anmutender Erscheinungen, sondern vielmehr die Zusammenfassung all dieser Erscheinungen zu einem das Übernatürliche mit primitiver Logik vergewaltigenden Weltbild,78 das dem geschlossenen, aus primitiv-magischem Welt­er­leben resultierenden Weltbild wesensgleich ist. So besteht z. B. wohl kein wesentlicher Unterschied zwischen den Vorstellungen der primitiven Aranda- und Loritja-Stämmen Australiens, nach denen die Seelen der Verstorbenen zeitweilig in ihre Söhne und Enkel eingehen, um sie zu kräftigen, im Übrigen aber in einem Totenland hausen,79 und den modernen spiritistischen Anschauungen, nach denen Geister von Verstorbenen aus dem Jenseits (= eine differenziertere Vorstellung von der dort einfach als »Totenland« bezeichneten Sphäre) in das Diesseits wirken und Ratschläge usw. geben. Hier wie dort ist das magische Welt­er­leben bestimmend für die Vorstellungsbildung (z. B. »Materialisation«) und auch die geschickt aufgebauten Beweisgebäude des »wissenschaftlichen Spiritismus« bestehen nur auf dem Grunde wesenhaft magischen Welt­er­lebens. Ist dieses allerdings vorhanden, dann genügt auch bei starkem Skeptizismus oft schon ein wackelnder Tisch, um auch alle anderen Phänomene höhle, den Fingern und den Nägeln das Leben etc. genau zu bestimmen (21859), das in drei Jahren in 15 000 Exemplaren verkauft wurde. 77 Vgl. Lehmann 1925, 277  ff. 78 So hat man auch oft mit Recht auf den religiösen Charakter des Spiritismus als einen Hauptgrund für seine starke Verbreitung hingewiesen. 79 C.  Strehlow (1907), Die Aranda- und Loritja-Stämme in Zentral-Australien, I. Teil, 15  ff. und II. Teil, 7, zit. n. Graebner 1924, 40.

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

als tatsächlich wahr erachten zu lassen, und aller etwa zu Tage tretender Betrug oder Misserfolg wird mit den schon von der primitiven Magie und ihrer Theorie her bekannten Begründungen (vgl. S. 54 Anm. 3) entschuldigt. Ebenso wie dem Spiritismus liegt auch der weit verbreiteten modernen Astrologie und der (oft auch unter dem Namen »Charakterologie«) mantisch betriebenen Graphologie, Cheirologie usw. dasselbe magische Welt­er­leben zugrunde, wie den weiter oben angeführten primitiv-magischen Erscheinungsformen in der Gegenwart, nur dass es sich hier nicht wie dort naiv, affektbetont und oft unbewusst, sondern mehr bewusst und intellektualisiert äußert. Es geht dabei auch meistens nicht – wie dies im echten wissenschaftlichen Streben der Fall ist – um das Erkennen der Weltan-sich, sondern man will mithilfe der magischen Wissenschaft und ihrer Mittelchen einen Blick nach vorne tun, um zu erfahren, wie sich das eigene Leben im Rahmen des als bestimmend anerkannten Schicksals, der Vorsehung oder dergl. gestalten wird. Die magische Wissenschaft bewirkt also in diesem für ihre Erscheinungsformen in der Gegenwart typischen Vollzuge nicht – wie die echte Wissenschaft durch ein ständiges Streben nach einer Erkenntnis der Welt-an-sich – eine Veränderung der Erlebniswelt, ein ständig wachsendes Erfassen des ES durch das ICH und damit die der echten Persönlichkeitsentwicklung zugrunde liegende Emanzipation des ICH vom ES, sondern versucht lediglich unter der Voraussetzung einer mehr oder weniger bestimmten Abhängigkeit des ICH vom ES, die zu erwartenden Einflüsse des Letzteren auf das Erstere anzugeben und mehr oder weniger genau vorauszubestimmen. Selbstverständlich konnte es sich in der vorstehenden Darstellung der magischen oder geheimen Wissenschaft und ihrer Erscheinungsformen in der Gegenwart nicht um die Feststellung oder Wertung der in ihnen enthaltenen objektiven Wahrheit handeln, sondern nur um das ihnen zugrunde liegende Welt­er­leben, d. h. um diejenige Art und Weise innerseelischer Vorgänge und Erscheinungen der Außenwelt – welche zusammen als das ES bezeichnet wurden – wahrzunehmen, zu erleben und zu verarbeiten, welche dem Glauben an die objektive Wahrheit der magischen Wissenschaf‌ten in ihrer Gesamtheit adäquat ist. Auch die logisch-rationale Wissenschaft kommt immer wieder zu Ergebnissen, die den Anschauungen der magischen Wissenschaft ganz oder teilweise entsprechen. So bringt z. B. die moderne Physik durch die Erkenntnis, dass der kleinste noch nachweisbare Teil der Materie, das Atom, aus einem elektrisch geladenen Kern besteht, um den die Elektronen in rasender Geschwindig-

99

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

100

keit ähnlich wie Planeten um die Sonne kreisen, nur einen neuen logisch-rational gefundenen und begründbaren Beweis für die Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos. Die Abhängigkeit des Menschen von bestimmten Rhythmen gehört, seit der Begründung der Periodizität durch Fließ 80 u. a., als Tatsache schon lange nicht mehr in das Gebiet primitiver Vorstellungen. Und gerade die Psychologie, die in ihrem Bestreben bewusster Erforschung seelischer Vorgänge wahrhaft logisch-rationale Wissenschaft ist, hat sich besonders in der deutenden Ausdruckskunde die Lehre von den Entsprechungen zunutze gemacht. Ferner sind auch Hellseh- und andere logisch-rational nicht ohne weiteres erklärbare Phänomene einwandfrei beobachtet, geprüft und anerkannt worden usw. 81 Das Wesentliche für die vorliegende, den Erlebnisbegriff in den Mittelpunkt der Betrachtung stellende Untersuchung ist aber nicht der objektive Wahrheitsgehalt, sondern die Art und Weise die Erscheinungen aufzunehmen und zu erleben und seelisch zu verarbeiten. Es ist ein offensichtlicher Unterschied, ob jemand z. B. das Phänomen des bei spiritistischen Sitzungen tanzenden Tisches als eine Folgeerscheinung der durch Gemütserregung oder sonstige Nervenreizung hervorgerufenen Zitterbewegung versteht,82 oder an einem klopfenden Geist glaubt. Es ist ein Unterschied, ob jemand einen Arzt konsultiert in dem Bewusstsein, dass ihm dieser durch eine logisch-rational verständliche Heilmethode (auch Suggestionsheilmethode) helfen kann, oder ob er zu einem Naturheilpraktiker geht in dem Glauben, dass dieser ihm mit magnetischen, sympathetischen oder sonstigen übernatürlichen »Kräf‌ten« behandelt – obwohl in beiden Fällen der objektive Behandlungsvorgang und auch der Erfolg derselbe sein kann. Und es ist ein Unterschied, ob jemand ein graphologisches Gutachten einer Schrift, eine cheirologische Deutung oder dergl. als eine Zustandsoder Anlagenbestimmung aufnimmt, in dem sicheren Bewusstsein, dass es an ihm liegt, diese Anlage nach seinem freien Willen und seiner eigenen logisch-rationalen Erkenntnis gemäß zu nutzen, oder ob er derartige Aussagen als Schicksalsdeutungen betrachtet, in dem Glauben, dass ebenso wie die mehr oder weniger annähernd genau bestimmten Begebenheiten der Vergangen80 Vgl. Fließ 1916. 81 So berichtet z. B. Kant in seinem Brief vom 10. August 1758 an Charlotte von Knobloch von den visionären Geschichten Swedenborgs (vgl. 1925, 300  ff.), wobei mit Sicherheit anzunehmen ist, dass bei einem so kritischen Geiste wie dem Kants die Beobachtungen nicht von einem magischen Welt­er­ leben bestimmt waren. 82 Vgl. Lehmann 1925, 478  ff.

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

heit auch die aufgrund des Schemas vorausbestimmbaren Ereignisse der Zukunft zwangsläufig der Voraussage gemäß eintreffen müssen usw. Bestimmung und Freiheit sind die bewegenden Faktoren im menschlichen Welt­er­leben. Doch nur wer ohne Rücksicht auf das tatsächliche, objektive Verhältnis der beiden Faktoren zueinander und in dem Bestreben eines vernünftigen Erkennens der Welt-ansich ständig in dem Bewusstsein der ihm gegebenen Freiheit und Eigenständigkeit lebt und erlebt, und aufgrund dieser ihm gegebenen Freiheit in jedem Augenblick sein bewusstes ICH dem ES, d. h. allen innerseelischen und aus der Umwelt auf ihn einwirkenden Einflüssen, gegenüberstellt, erlebt die Welt wahrhaft logisch-rational und schafft damit die Möglichkeit echt ethischer Lebensgestaltung. ES und ICH stehen dabei in einem polaren Verhältnis. Letzte transzendente Fundierung der Ethik aber vollzieht sich in dem, ES und ICH gleichermaßen umfassenden, religiösen Erleben. Andererseits verliert, wer sich in diese ständig neu zu schaffende Situation begibt, mehr und mehr an ethischer Freiheit und psychischer Eigenständigkeit. Sein ICH gleicht sich mehr und mehr dem ES an. Die Welt wird mehr und mehr magisch-mystisch erlebt.

Erscheinungsformen verdeckt magischen Welt­er­lebens in der Gegenwart Neben den im vorigen Abschnitt dargelegten offensichtlichen Erscheinungsformen magischen Welt­er­lebens trifft man in der Gegenwart oft auch auf Erscheinungsformen eines phänomenal magischen Welt­er­lebens, das jedoch von wesentlich subtilerer Art und infolge des oft ganz unmagischen Charakters des Erlebnis­ gutes gewissermaßen vollkommen verdeckt ist. Die Vorstellungen von den bewegenden, magischen Kräf‌ten sind hierbei naturgemäß noch indifferenter als bei den offensichtlichen Erscheinungsformen (vgl. S.  83  f.). Derartiges verdeckt magische Erlebnisweisen begründendes oder beförderndes Erlebnisgut findet sich z. B. bei zahllosen religiösen Sekten, nicht zuletzt auch in der Theosophie, in der z. B. der Begriff Geist eine starke Wandlung zur Geistsubstanz erfährt, dessen Vermengung von Geistigem und Materiellem ja eines der hervorstechenden Wesensmerkmale magischen Welt­er­lebens ist, in der starke religiöse Verbrämung jedoch nicht gleich in diesem Sinne ins Auge fällt. Ferner findet sich derartiges phänomenal magisches Welt­er­leben im Umkreis fast aller Vereinigungen, die sich dem Studium astrologischer, kosmologischer, parapsycholo-

101

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

102

gischer, metapsychologischer und sonstiger Grenzwissenschaf‌ten widmen. Auch die Tiefenpsychologie, um noch ein Beispiel zu nennen, findet hin und wieder eine Auslegung und Anwendung, nach der das »In-­Einklang-­kommen-­mit-­dem-­Unbewussten« nicht als eine Auseinandersetzung und Bewusstmachung, sondern als eine Art Hingabe an das Unbewusste dargelegt wird, und wobei der Psychotherapeut oft als eine Art Magier erscheint. Jede Art logisch-­ rationaler Einstellung wird dabei als störender Intellekt abgelehnt. Das letztgenannte Beispiel zeigt jedoch auch, wie schwierig es im einzelnen Falle praktisch ist, zu entscheiden, von welcher Seite der entscheidende Antrieb zu einem magischen Welt­er­leben, wie dies bisher als theoretischer Begriff dargelegt wurde, kommt – ob vom Erlebnisgut oder vom erlebenden Subjekt bzw. von dem das Erlebnisgut vermittelnden und damit das Erlebnis mitformenden Menschen. Da die psychoanalytische Methode sich in der Hand des verantwortungsbewussten Therapeuten als logisch-rational vertretbare und anerkennbare Heilmethode vielfach bewährt hat, und da weiterhin ihr Ziel und Wesen somit nicht der obigen Auslegung entsprechen, kann der Antrieb in diesem Fall nur vom vermittelnden bzw. vom aufnehmenden Subjekt kommen. (In anderen Fällen wiederum – wie ein solcher im zweiten Teil untersucht werden wird – liegt das Verhältnis wieder umgekehrt.) Eine derartige vom Subjekt verursachte magische Erlebnisweise findet man z. B. auch bei den Menschen, welche in der festen Überzeugung leben, sie hätten ständig Glück bzw. bei den anderen, die sich von ständigem Unglück verfolgt glauben: Glückskind und Pechvogel. Sie leben und erleben in einer ständigen Überbewertung glücklicher bzw. unglücklicher Zufälle. Ihr Erleben ist einseitig nach der einen oder anderen Seite orientiert, wodurch in jedem Falle das ICH mehr und mehr seiner Freiheit beraubt und von dem bestimmend wirkenden ES aufgesogen wird. Und nur zu leicht ist man oft versucht, eine derartige optimistische bzw. pessimistische Resignation – die sich oft auch in Worten wie »Alles ist Bestimmung im Leben« usw. ausdrückt – als »Weisheit« zu bezeichnen, während sie in Wirklichkeit nichts anderes ist, als ein Ausweichen vor dem verantwortungsbewussten Gegenübertreten zu allen Einflüssen und Problemen: nämlich eine Hingabe an diese Einflüsse und Schwierigkeiten unter Aufgabe der persönlichen Freiheit und Eigenständigkeit – eine phänomenal uneigenständige Verhaltensweise, wie sie sich im ständigen phänomenal magischen Welt­er­ leben äußert und festigt. Derartige indifferente Erlebnisweisen in den vornehmlich oberschichtlich lebenden Personenkreisen der Gebildeten usw., wie sie sich vor allem auch in der Hinwendung zu kosmologischer Philo-

ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

sophie, zur Versenkung in fernöstliche Weisheit – wie sie seit langem Mode ist – usw. zeigt, haben in der vorwiegend vom magischen Welt­ er­ leben bestimmten, primitiven Gemeinschaftskultur ihre Parallele in der Hinwendung zum überlieferten magischen Erlebnisgut. Phänomenal ist sie ihr jedoch gleich. Ebenso wie dort, kann auch hier neues Wissensgut in magischer Erlebnisweise aufgenommen werden. Jede Lehre, jede wissenschaftliche Erkenntnis, kurz, alles Erlebnisgut, das von logisch-rational Erlebenden kritisch und, nach Prüfung, für weitere eigene Bestrebungen zur Erkenntnis der Welt-an-sich aufgenommen wird, wird den Menschen, welche vorwiegend auf diese Weise erleben, zur Offenbarung. Ihr Verhältnis zum Übermittler des Erlebnisgutes ist dabei nicht mehr das Verhältnis »Schüler – Lehrer«, sondern das Verhältnis »Meister – Jünger«, wie es sich in dieser Form in den magisch bestimmten Kulturen findet.83 Auch ist bei einem einmal konstituierten, vorwiegend bestimmend magischen Welt­er­leben die Gestaltung des Erlebnisses nicht mehr unbedingt vom Erlebnisgut abhängig, d. h. auch Objekte ohne jeden eigenen magischen Charakter können ohne Weiteres magisch erlebt werden. Wollte man die so erlebenden Menschen als Schicht erfassen, so ergäbe sich die schon erwähnte Schicht, welche das Leben der Oberschicht unterschichtlich mitlebt (vgl. S. 43  f.). Da es sich jedoch bei allen derartigen Erlebnissen, wie sie sich an allen Orten, bei allen Gelegenheiten und in Verbindung mit den unterschiedlichsten Arten von Erlebnisgut beobachten lassen,84 fast immer um fluktuierende, oft auch zeitlich sehr begrenzte und von der Grundeinstellung des Erlebenden prinzipiell unabhängige, unbewusste Vorgänge handelt, können derartige Erlebnisse nur unter dem dynamischen Gesichtspunkt erfasst und untersucht werden. Durch eine analytische Untersuchung des das Erlebnis fundierenden Erlebnisgutes bzw. der Art und Weise der Vermittlung des Erlebnisgutes und somit also durch die Untersuchung des durch das eine oder andere oder durch beide Faktoren hervorgerufenen 83 Vgl. hierzu auch J. Wach (1925), Meister und Jünger, Leipzig. 84 So z. B. bei fast allen religiösen Sekten, in politischen Versammlungen, in der Fundierung, Auslegung und Propagierung politischer Ideen und Programme, im Gebrauch jeder Art von Schlagworten, in der Reklame und im Gebiet der Propaganda, im Bereich der Unterhaltungs- und Kolportageliteratur, ganz allgemein in der Wirkung von Presse, Funk und Film, kurz bei allen Phänomenen, welche in das Gebiet der Massenpsychologie fallen, auch bei Operette und Revue usw. Auch die Mythologisierung des Staatsgedankens und die daraus sich ergebende Umwandlung der Moralbegriffe könnte unter diesem Gesichtspunkt untersucht werden. Vgl. auch die zitierten Phänomene (Magie des Geldes usw.) bei Hellpach 1947.

103

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

Erlebnisses ergibt sich die Möglichkeit, die einzelnen Erlebnismöglichkeiten auf das von ihnen vermittelte Erlebnis hin zu untersuchen und im Besonderen die Wirkung derartiger Erlebnisse und die Richtung, nach der sie im Rahmen der Bewegung innerhalb der Schichten drängen, zu verfolgen. Immer aber muss – handelt es sich um eine volkskundliche Untersuchung, welche die Erforschung der Wirksamkeit des aus dem Wechselspiel von Kulturgut und Verhaltensweise resultierenden unterschichtlichen Lebens bzw. der ein derartiges Leben befördernden Einflüsse zum Ziele hat – die Feststellung des Vorhandenseins phänomenal magischen Welt­er­lebens, wie dies in den vorstehenden Abschnitten phänomenologisch definiert wurde, im Mittelpunkt einer derartigen Untersuchung stehen.

10 4

Zur individuellen Psychologie des magischen Welt­er­lebens

Bisher wurde das magische Welt­er­leben dargestellt, wie es sich einmal in Erscheinungsformen der primitiven Gemeinschaftskultur und – mehr oder weniger graduell differenziert und getrennt – auch in den vorwiegend oberschichtlich bestimmten Bereichen unserer eigenen Kultur zeigt, und zum anderen als ein abstrakter Wesensbegriff, welcher dem Wesensbegriff des logisch-rationalen Welt­er­lebens gegenübersteht. Es zeigte sich dabei, dass in dem bisherigen Entwicklungsverlauf unserer Kultur das magische Welt­er­leben in seiner bestimmenden Bedeutung allmählich immer mehr hinter dem logisch-rationalen Welt­er­leben zurücktritt. Andererseits aber ergibt sich – auch in dem Bereich vorwiegend rationaler Lebensgestaltung, d. h. innerhalb der soziologisch anreißbaren, von oberschichtlicher Lebensweise bestimmten Schicht unserer gegenwärtigen Kultur – aus den anzutreffenden Erscheinungen wesenhaft magischen Welt­er­ lebens für das Problem der Wirksamkeit magischer Einflüsse in der Gegenwart die Frage, inwieweit der normale, voll entwickelte Mensch unserer Kultur für ein magisches Weiterleben disponiert ist, d. h. die Frage, inwieweit der Wesensbegriff des magischen Welt­ er­ lebens in seiner Wirksamkeit auf psychischen Faktoren beruht, die auch im voll entwickelten Kulturmenschen wirksam sind und so für die mehr oder weniger getarnten Einflüsse eine Resonanz bilden. M. a. W.: Es handelt sich um die Frage, inwieweit die aufgezeigten, historisch bestimmbaren Erscheinungsformen magischen Welt­er­lebens historisches Relikt sind oder Äußerungen einer allgemein-psychischen Disposition, welche in veränderlicher Intensität und in veränderlichen Erscheinungsformen – ihrem Wesen nach jedoch gleichartig – immer wirksam, ein seinem Wesen nach phänomenal magisches Welt­er­leben also immer möglich ist.

105

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

Horizontale Sicht: Die Beziehungen zwischen dem ICH und der Umwelt und ihre genetische Akzentuierung

106

Alles seelische Erleben vollzieht sich ganz allgemein als Korrespondenz zwischen dem Lebens- bzw. Seelenträger und der Welt. Alles Welt­er­leben vollzieht sich dabei als eine Korrespondenz zwischen dem ICH und dem ES. Es umfasst damit einmal das Innewerden und Erfassen der Welt und die damit in Zusammenhang stehenden innerseelischen Einflüsse – was bisher zusammen als das ES bezeichnet wurde – und zum anderen die in der Einstellung zu diesen Einflüssen sich äußernde Gestaltung der eigenen Situation, wie sie sich aus der jeweiligen Art dieses Weltinne­werdens ergibt. Für eine volkskundliche bzw. volkstheoretische oder volkspsychologische Betrachtungsweise ergeben sich hieraus als typische Erscheinungsformen einerseits – im magisch-mystischen Welt­er­leben – die magische Praktik und die mystische Eingabebestrebung, und andererseits – im logisch-rationalen Welt­er­leben – die vom Persönlichkeitsideal getragene, bewusste und logisch-­ rationale Lebensausrichtung. Ergeben sich aber zwei phänomenal verschiedene Einstellungen, so muss das ihnen zugrunde liegende Weltinnewerden dennoch (im Sinne des auf S. 81 festgestellten permanenten Vorhandenseins keimhaft gleich angelegter Anlagen) konstitutionell dasselbe sein und kann sich nur funktionell, d. h. durch Unterschiede der einzelnen Funktionen in ihrer Wertigkeit oder ihrem Verhältnis zueinander, differenzieren. Wie nun die neuere Psychologie betont, sind alle seelischen Funktionen in all ihren Vollzügen immer unlöslich ineinander verwoben. Sie stehen im Integrationszusammenhang 1. Das ICH, welches psychologisch als eine Verbindungs- und Kontrolleinheit aufzufassen ist, ist an all diesen seelischen Vorgängen und allem Erleben beteiligt. Die tatsächliche Konstituierung der jeweiligen phänomenal eigenständigen und phänomenal uneigenständigen Verhaltensweise und Erlebenseinstellung hängt also davon ab, inwieweit im Vollzuge des funktionellen Prozesses mehr das ICH zur Geltung kommt (was dem weiter oben als die Emanzipation des ICH bezeichneten Vorgangs gleichkommt), oder die Einflüsse 1 »Der Integrationszusammenhang ist das auszeichnende Merkmal alles Lebendigen. Er erweist sich darin, daß die Veränderung eines unterscheidbaren Teiles des lebendigen Gebildes auch dessen übrige Teile durchdringt. Eine Veränderung, die dagegen einen Teil des unorganischen Gebildes – etwa eines Steines – trifft, bleibt in ihrer Wirkung auf eben diesen Teil beschränkt« (Lersch 1948 b, 3).

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

der Umwelt bzw. innerseelische, dem ICH (in dieser Emanzipation) entgegengesetzte Einflüsse wirksam sind. Der allgemeinen Voraussetzung für jede Art von Welt­er­leben, dem Innewerden und Erfassen der Umwelt liegen nun drei psychische Funktionen zugrunde: das Wahrnehmen, das Vorstellen und das Denken. Jeder Wahrnehmung gehen Empfindungen voraus, d. h. Einflüsse, welche, aus der Umwelt kommend, die jeweiligen Wahrnehmungsorgane reizen. Schon auf dieser gewissermaßen untersten Stufe des Weltinnewerdens trifft man jedoch auf Anzeichen dafür, dass wir weniger die Welt-an-sich in ihren objektiven Gehalten, wie sie sich diesen Reizen zufolge uns zeigen müsste, sondern mehr die Welt-wie-sie-uns-erscheint wahrnehmen, d. h. die Welt, wie sie sich und durch längere oder kürzere Erfahrung in uns selbst gestaltet hat. Am klarsten zeigt sich dieser Unterschied zwischen physischem Reiz und physischer Verarbeitung im Bereich des optischen Erlebens. Das Auge bildet die Welt wie ein Fotoapparat ab, also auf dem Kopf stehend. Wir sehen die Welt aber tatsächlich so, wie sie wirklich ist. Dass es sich hierbei nicht um eine angeborene, sondern in jedem Augenblick sich neu auf‌bauende, unbewusste psychische Funktion handelt, zeigt deutlich der berühmte Versuch Strattons mit der Umkehrbrille.2 Bewirkte hierbei der psychologische Umsetzungsprozess seines Gegensatzes zum sinnlichen Reiz noch eine Wahrnehmung der Welt, wie sie wirklich ist, so führt die experimentell feststellbare Tatsache, dass die durch den physischen Reiz hervorgerufenen Empfindungen nicht an die Qualität des Reizes gebunden, sondern weitgehend vom empfindenden Subjekt abhängig sind, schon einen Schritt weiter. Die Subjektivität der Empfindung kann nämlich bis zu einer Stellvertretung eines Reizes durch einen anderen, 2 Stratton kehrte durch Tragen einer Brille den aufrechten Gesichtseindruck, den der Mensch von seiner Umwelt hat, um. Er trug diese Brille acht Tage lang ohne Unterbrechung. Er setzte sie morgens unmittelbar nach dem Erwachen auf und legte sie erst bei Dunkelheit wieder ab. Am ersten Tage stand die gesamte sichtbare Welt für Stratton auf dem Kopf. Nach einigen Tagen wurde die Umwelt trotz der umkehrenden Brille wieder regelrecht aufrecht gesehen, wie vorher ohne Brille. Als Stratton nach acht Tagen die Brille abnahm, trat keine neuerlicher Umkehr des Gesehenen auf, was beweist, dass die Ursachen für die Wiederaufrichtung der mit der Brille zunächst umgekehrt gesehenen Umwelt nicht aufgrund anatomischer oder physiologischer Veränderungen bewirkt worden sein kann (G. M. Stratton [1896], Some preliminary experiments on vision without inversion of the retinal image. Psychological Review 3, 611  ff. und ders. [1897], Vision without inversion of the retinal image. Psychological Review 4, 341  f., zit. n. Opfermann 1948, 10. Kap.).

107

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

108

ihm wesensunähnlichen Reiz gehen, der aber dennoch die gleiche Empfindung und Wahrnehmung hervorruft. Man lässt z. B. einen leichten elektrischen Stoß auf den Fuß eines Mensch einwirken und der Fuß zuckt in die Höhe. Gleichzeitig lässt man nun ein Glockensignal erklingen und wiederholt das mehrere Male. Dann wird das Glockenzeichen allein, ohne den elektrischen Stoß, das Hochzucken des Fußes bewirken.3 Eine relativ kurze Erfahrung oder besser: Gewöhnung oder Angleichung des erlebenden Subjektes an die Umweltgegebenheiten genügt hier also schon, um eine subjektive Veränderung der objektiv immer gleichbleibenden Reize zu bewirken. Die Vielzahl der in jedem Augenblick auf den Menschen einwirkenden Reize wird weiterhin nicht in gleicher Weise aufgenommen. Vielmehr muss ein Reiz, damit er eine Empfindung auslösen kann, so stark sein, dass er die sog. Reizschwelle übersteigt, die wiederum in Abhängigkeit von der subjektiven Einstellung des Menschen sehr veränderlich ist. So kann man sich z. B. bei konzentrierter geistiger Arbeit gegenüber den Umweltreizen weitgehend abschließen, während man andererseits bei konzentrierter Aufmerksamkeit auf ein Umweltobjekt dessen Einflüssen viel zugänglicher ist usw. Durch Übung und Einsicht kann die Reizschwelle höher oder niedriger gehalten werden. Neben diesen unbewussten Einstellungen sind aber in jedem Falle noch unbewusste, subjektive Antriebserlebnisse wirksam, die auch beim unaufmerksamen Wahrnehmen immer das eine oder andere Objekt stärker hervortreten, die von ihm ausgehenden Sinnesreize im Menschen stärker wirken lassen. Ohne diese innerseelischen dynamischen Antriebe würde eine Wahrnehmung gar nicht zustande kommen. Für den (mit Rücksicht auf den zweiten Teil hier immer besonders berücksichtigten) optischen Bereich gilt also: Man sieht nur das, wovon durch triebhaft-drängendes Suchen in unserem Inneren ein Bild schon vorgestaltet und in den Vordergrund gerückt ist (Theorie vom Suchbild). Ferner sei zum Phänomen der subjektiven, unbewusst-psychischen Umsetzung physischer Reize hier noch das sog. Konstanzprinzip erwähnt, d. h. die Tatsache, dass die gewohnten Objekte unserer Umwelt von uns, von unserer gewohnten Erlebnisperspektive aus in ihren Hauptmerkmalen, unberücksichtigt der unterschiedlichen Sinneseindrücke, konstant wahrgenommen werden. So bleibt z. B. ein Mensch, der 1,70 m groß ist, für uns immer 1,70 m

3 Beispiel aus J. B. Watson (1936), Psychology from the standpoint of a behaviorist, zit. n. Weiser-Aall 1937, 6.

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

groß, auch wenn wir ihn z. B. auf der Straße in 20 m Entfernung sehen, er uns dem Netzhautbild zufolge also nur 1 / 10 so groß wie in 2 m Entfernung erscheinen müsste. Ebenso sehen wir z. B. einen weit vorgestreckten Fuß eines sitzenden Menschen durchaus in Normalgröße, während eine fotografische (  = netzhautgetreue) Abbildung den Fuß überdimensional groß zeigt. Die durch objektive Reize hervorgerufenen und unserer Erfahrung gemäß umgesetzten Empfindungen werden also noch überdeckt durch das durch unsere Erfahrung vorgestaltete innerseelische Bild. Dieses Verhältnis kann sich allerdings ändern, wenn sich unsere Erlebnisperspektive ändert. So sehen wir z. B. von einem hohen Turm oder vom Flugzeug aus die Welt »spielzeugschachtelklein«. Dem an solche veränderten Perspektiven aber auch nur kurze Zeit gewöhnten Menschen (z. B. dem Piloten) erscheinen jedoch auch bald wieder Häuser und Bäume nicht nur im Unterschied zu ihrer belebten Umgebung, sondern auch »an sich« größer als Menschen und Tiere, also auch größer als der wahrnehmende Mensch (hier : Pilot) selbst, wodurch die Größenkonstanz wieder hergestellt ist. In derselben Weise wie hier von der Größenkonstanz spricht man fernerhin auch von einer Formkonstanz. Eine viereckige Tischplatte z. B. bietet sich dem Beschauer, wenn er sie von einer ihrer Seiten aus betrachtet, hinsichtlich des von ihr auf die Netzhaut geworfenen Bildes als ein Trapez dar. Tatsächlich aber wird sie als Quadrat oder Rechteck erlebt, da das Netzhautbild unbewusst durch die Erfahrung ergänzt bzw. verändert wird. Die vorstehenden Beispiele aus dem normalen (und selbstverständlich nur in der Theorie aus dem Integrationszusammenhang isolierbaren und als von anderen seelischen Funktionen unbeeinflusst darstellbaren) menschlichen Wahrnehmungserleben zeigen, dass der psychophysische menschliche Organismus derart gebildet ist, dass die Umwelteinflüsse vielfach eine subjektbetonte psychische Umsetzung erfahren müssen, um uns die Welt so erscheinen zu lassen, wie sie objektiv erscheint. Andererseits zeigt sich aber auch, dass in dieser Funktionsweise des seelischen Organismus schon die ersten Ansätze zu einer sich von den objektiven Gegebenheiten entfernenden Wahrnehmungsweise liegen, in Richtung einer subjektbetonten Wahrnehmung der Welt-­wie-­sie-­uns-­erscheint. Erheblich gesteigert wird die Möglichkeit einer Wahrnehmung in dieser Weise noch durch die – im Sinne des Integrationszusammenhanges – in jedem seelischen Erleben beteiligten anderen psychischen Funktionen, besonders durch die Gefühls- und Vorstellungserlebnisse. Der Wirksamkeit einer solchen Art der Wahrnehmung wird man sich jedoch meist erst bewusst, wenn man in der

109

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

Lage ist, deren Ergebnisse, d. h. die objektiven Tatbestände, rational zu überprüfen. Die offensichtlichsten Erscheinungen dieser Art trifft man in den Täuschungen, d. h. in denjenigen Wahrnehmungserlebnissen, die einem Vergleich mit den rational erkannten (oder auch gemessenen) Gegebenheiten nicht standhalten, wie man ihnen im Erleben von Zeit und Raum unterworfen ist. Selbst dem bewusst sich auf objektive Beobachtung Einstellenden wird es oft schwerfallen, Zeitabschnitte, welche nicht an einer gewohnten Beschäftigung, einem bekannten Vorgang oder durch ein sonstiges Hilfsmittel »gemessen« werden können, ihrer objektiven Länge gemäß zu erleben. Ihre Länge hängt in unbewusst subjektbetontem Erleben vielmehr weitgehend von der seelischen Gesamtsituation des Erlebenden ab. In gespannter Erwartung können »Minuten zu Stunden« werden, in angeregter Unterhaltung »fliegt« die Zeit vorbei usw. Ebenso schwer fällt es oft, Entfernungen, Abstände oder Größenverhältnisse richtig zu erleben bzw. zu schätzen. Der Anschaulichkeit halber sei hier eine Beobachtung aus »Brehms Tierleben« (Bd. VII., S. 299) zitiert:

110

»[A]us eigener Erfahrung weiß ich« heißt es dort, »wie außerordentlich schwer es hält, die Länge der Schlangen richtig zu schätzen. Selbst derjenige, welcher hierin schon geübt ist und seine Schätzungen später durch Anlegung des Maßstabes erprobt hat, irrt in unbegreif‌licher Weise. Schon bei kleinen Schlangen von Meterlänge, und selbst wenn man diese ruhig vor sich liegen sieht, auch voll Zeit hat, ihr Bild genau sich einzuprägen, ist man nur zu leicht geneigt ein reichliches Drittel zuzusetzen; bei Schlangen aber, welche drei Meter lang sind, verdoppeln und verdreifachen sich die Schwierigkeiten und damit die Fehler der Schätzung, und wenn ein solches Tier vollends sich bewegt, ist letztere einfach unmöglich. Worin dies eigentlich liegt, vermag ich nicht zu sagen, sondern nur als tatsächlich zu versichern, daß ausnahmslos jeder überschätzt, welcher überhaupt zu schätzen versucht, und daß jeder immer wieder in denselben Fehler verfällt, auch wenn er denselben wiederholt erkannt hat«. A. Lehmann, dessen Werk über Aberglauben und Zauberei dieses Zitat entnommen ist, schreibt dazu: Ich habe Brehms Angaben vermittels Seilen, die in großen Windungen auf einen Rasen gelegt und von vier geübten Beobachtern nach Augenmaß geschätzt wurden, nachgeprüft; danach wurde die Länge der Seile gemessen. Die gemachten Fehler

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

waren zwar nicht so groß wie die, welche Brehm angibt, waren aber doch ähnlicher Art. Wenn meine künstlichen Schlangen kürzer als ungefähr zwei Meter waren, wurden sie durchschnittlich stets zu klein geschätzt, waren sie dagegen über zwei Meter, wurde die Länge überschätzt.4 Der Vergleich zeigt, dass der Mangel an Übereinstimmung zwischen subjektiv erlebter und objektiver, gemessener Größe ein ganz allgemeines Phänomen ist. Der Unterschied in der Überein­ stimmungsdifferenz zwischen der Schlangenbeobachtung und dem Seile-Versuch ist wohl nur durch den unterschiedlichen Charakter der Beobachtungsobjekte (hier gut zu beobachtende harmlose Seile – dort sich bewegende gefährliche Tiere) begründet.5 Besonders innerhalb von Raum und Zeit ist auch die objektive Feststellung akustischer Reize oft mit großen Schwierigkeiten verbunden. Das menschliche Ohr ist nicht darauf eingerichtet, neben den Schallwellen auch noch die Richtung, aus der sie kommen, zu registrieren. Wir können z. B. wohl feststellen, ob sich auf einer nicht zu sehenden, nahen Straße ein Auto nähert oder entfernt, aber wir können seine Bewegungsrichtung nicht eindeutig festlegen, wir wissen nicht ob es von rechts oder von links kommt usw. Ferner ist es eine Erfahrungstatsache, dass man in der Nacht bei klarer Luft und Ausfall vieler Tagesgeräusche oder bei Dunkelheit, wenn die anderen Sinnesorgane ohne Reizeinflüsse sind, ferne Laute als näher bzw. schwache Laute stärker empfindet. Auch die Art des Geräusches können wir nur insofern definieren, soweit es ein uns bekanntes Geräusch ist, d. h. soweit in unserem Inneren ein vorgestaltetes Klang-Bild bereit liegt, welches uns die bildlich erfassbare Quelle des Tones ergänzt und damit dessen Charakter offenbart (Vogelgezwitscher, Autobremsen usw.). Zeigt sich so, wie auch schon ein auf objektives Erleben abzielendes, bewusstes und aufmerksames Wahrnehmen vielfachen Einflüssen ausgesetzt ist, welche von den objektiven Gegebenheiten weg zu einem subjektiv betonten Erleben führen können, so wird deutlich, welch entscheidende Rolle diese allgemein-psychologischen Gesetzmäßigkeiten für die Fundierung eines wesenhaft magischen Welt­er­lebens spielen, zumal wenn die Umweltverhält4 Lehmann 1925, 435. 5 Vielfach hilft man sich deshalb auch beim Schätzen von Entfernungen dadurch, dass man sich in die zu schätzende Entfernung eine bekannte, also als innerseelisches Bild vorhandene Entfernung hineindenkt. Es verhilft somit umgekehrt, ähnlich wie bei der Größenkonstanz, das subjektive innerseelische Bild hier in bewusster Verwendung zu einem objektiven Ergebnis.

111

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

112

nisse oder die innerseelische Situation des Erlebenden ein (im Rahmen der erwähnten Gesetzmäßigkeiten) objektives Wahrnehmen der tatsächlichen Gegebenheiten erschweren, wie dies beides – angefangen vom Erleben des angsterregten Naturmenschen im nachtdunklen Walde bis zu den durch langes, gespanntes Erwarten und andere Erregungsformen eingeleiteten spiritistischen Sitzungen im dunklen oder halbdunklen Raum – bei fast allen eindeutigen und das allgemeine Welt­er­leben bestimmenden magischen Erlebnissen mehr oder weniger der Fall ist. Alle ein objektives Wahrnehmen erschwerenden Faktoren treffen hier zusammen: rein physische Einflüsse auf den Gesichtssinn durch die ungenügende Beleuchtung (sog. Dämmersehen), schlechte Erkennbarkeit von Gegenständen und Vorgängen, und damit verbunden eine über das normale Missverhältnis hinausgehende Fehlschätzung ihrer Größe und Ausmaße, stärkeres Empfinden akustischer Reize, besonders solcher ungewohnter Art usw. Dies alles hat zur Folge, dass die innerseelische Situation des Erlebenden sich aufgrund der als tatsächlich erkannten Phänomene im Sinne eines magischen Welt­er­lebens verändert, wodurch wiederum neue und größere Täuschungen vorbereitet werden. Hierzu kommt, dass auch z. B. der sehr skeptische Teilnehmer an einer spiritistischen oder okkultistischen Sitzung schon durch das ständige, streng auf Objektivität gerichtete, durch die Umstände aber erschwerte Beobachten der Vorgänge oder in Erwartung derselben sich im Zustande einer von Gefühlen und anderen innerseelischen Vorgängen stark beeinflussten und bestimmbaren Erregung befindet. Noch weit intensiver wirken sich die zum subjektbetonten oder magischen Erleben führenden allgemein-psychologischen Elemente natürlich dann aus, wenn der Erlebende durch eigenes früheres Erleben, durch Überlieferung, Erzählung, theoretische Überzeugung oder dergl. auf die zu erwartende oder plötzlich ihm gegenübertretende und nicht sofort und ohne weiteres (ohne nähere Prüfung) sich als harmlos-natürlich herausstellende Erscheinung im Sinne eines magisch-mystischen Welt­ er­ lebens vorbereitet ist, seine Vorstellungen also, die er von derartigen Erscheinungen 6 hat, magisch-mystischer Art sind. Mit der Wahrnehmung in engstem Zusammenhang steht demnach im Bereich des Weltinnewerdens das menschliche Vorstel6 Als Erscheinung ist in diesem Zusammenhange selbstverständlich nicht nur die tatsächliche optische Geistererscheinung oder dergl. zu verstehen, sondern ganz allgemein jedes Erlebnis, das als mehr oder weniger ungewohnt in den Gesichtskreis des Erlebenden eintritt.

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

lungsvermögen. Unter Vorstellung versteht man eine von der Wahrnehmung und der Umwelt in ihrem Vollzuge unabhängige Empfindungsreproduktion. Eine derartige reine Reproduktion kennt man jedoch nur bei den höheren Sinnen, bei Gesicht und Gehör. Bei den niederen Sinnen – Geruch, Geschmack usw. – kann man (bis auf wenige Ausnahmen) nicht die Empfindung selbst reproduzieren, sondern nur Gefühle und andere Stellungnahmen durch Erinnerung hervorrufen, welche ein ähnliches Ergebnis wie eine Wahrnehmung bewirken. Die Vorstellung ist der Wahrnehmung ähnlich, grundsätzlich aber von ihr verschieden. Nach dem Unterscheidungsschema von Jaspers sind: — Wahrnehmungen = leibhaftig (besitzen Objektivitätscharakter) — Vorstellungen = bildhaftig (besitzen Subjektivitätscharakter).7 Lersch fasst die Unterscheidung in fünf Punkten zusammen: 1. Der Vorstellungsraum überlagert den sinnlichen Anschauungs­ raum, ins Unendliche übergehend. 2. Vorstellung gibt die Gegenstände lediglich in ihrem So-Sein, nicht wie die Wahrnehmung in ihrem Da-Sein wieder. 3. Wahrnehmung: Leibhaftigkeitscharakter, Vorstellung: Abbildhaftigkeitscharakter. 4. Wahrnehmung: beharrend, Vorstellung: nicht beharrend. 5. Mit der Wahrnehmung verbindet sich das Erlebnis der Passivität des Betroffenwerdens, Vorstellungen müssen wir selbst festhalten. Erlebnis der Spontaneität.8 In der Vorstellung zeigt sich also eine in ihrem Vollzuge vollkommen subjektive Funktion, in welcher, im Gegensatz zur Wahrnehmung, nicht detaillierte Abbilder, sondern in Zurückführung auf bestimmte Merkmale zum stellvertretenden Symbol komprimierte Bilder erlebt werden. Der Anstoß zur Entstehung dieser Vorstellungsbilder kann entweder bewusst vom ICH oder ohne dessen Dazutun von den anderen seelischen Funktionen, mit welchen selbstverständlich auch die Vorstellung im Integrationszusammenhang steht, oder aber von der Umwelt ausgehen. Ferner können, aber müssen sie nicht in Beziehung zu dem Moment ihres Erwerbes stehen. Man unterscheidet demnach (n. Lersch): a. »stigmatisierte oder unstigmatisierte« Vorstellungen, d. h. mit oder ohne Beziehung auf den Moment ihres Erwerbes. 7 Vgl. K. Jaspers (1920), Allgemeine Psychopathologie, zit. n. Jaensch 1925, 18. 8 Vgl. Lersch 1948 a, 23.

113

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

114

b. »spontane« oder »provozierte« Vorstellungen, d h. freisteigend oder absichtlich hervorgerufen. c. »selbständige« oder »gebundene« Vorstellungen, d. h. ohne Bindung an eine Wahrnehmung oder durch den Anstoß derselben hervorgerufen.9 Für das Zustandekommen eines aktuellen magischen Welt­er­lebens sind neben den anderen Arten besonders die stigmatisierte, spontane und gebundene Vorstellung von großer Bedeutung. Denn immer handelt es sich ja darum, dass die wahrgenommene Umwelt oder bestimmte Ereignisse oder Vorgänge in dieser Umwelt im Sinne des magisch-mystischen Welt­er­lebens vorgestellt werden, sei es in bewusster Erinnerung oder unbeabsichtigt in in irgendwelchen günstigen Momenten aufsteigenden Vorstellungen, welche irgendwelche Ereignisse oder dergl. in einem magischen Sinne vollkommen klar und verständlich erscheinen lassen. Sind also unsere Wahrnehmungen nur insofern von allen anderen seelischen Funktionen, von Trieben, Wünschen usw., abhängig, als diese Letzteren die – durch die verschiedenen psycho-­ physischen Bedingungen an sich teilweise schon erschwerte – objektive Wahrnehmung beeinflussen können, so sind wir in unserem Vorstellungsleben, dem die in der Wahrnehmung ständig mögliche Korrektur anhand der Umweltgegebenheiten fehlt, in unserem Erleben vollkommen zwischen die Pole des rationalen – nach logischer Erkenntnis des Sinnzusammenhanges der Welt-an-­ sich strebenden – ICH und der Gesamtheit unserer anderen seelischen Funktionen gestellt, die alle in mehr oder weniger starker Form ein magisches Welt­er­leben begünstigen können. Im Rahmen der Gesamtgestaltung unseres Lebens und damit in der Begründung unserer Gesamtverhaltensweise, üben die Vorstellungen einen beträchtlichen Einfluss aus.10 Zu magisch-mystischer Lebenseinstellung, d. h. zur Fundierung magisch-mystischer Anschauungen, drängen sie jedoch nur dann, wenn sie im Verhältnis zu den anderen seelischen Funktionen überwertig werden bzw. 9 Vgl. ebd., 24. 10 Wie stark durch das Vorstellungsleben nicht nur das dem Welt­er­leben zugrunde liegende Weltinnewerden, sondern auch rein organische Lebensvorgänge beeinflusst werden können, zeigt ein Beispiel aus G. R. Heyers Praktische Seelenheilkunde (1942): Es ist da von einem Mann die Rede, der künstlich seinen Blutkreisklauf beeinflussen konnte und der das in Kliniken demonstrierte. Als man der Sache nachging, wie der Betreffende diese anormale Fähigkeit erworben hatte, stellte sich folgendes heraus: Er hatte sich plastisch vorgestellt, er stehe am äußersten Rand eines Hafenkais über dem dunklen Wasser. Die Veränderung des Blutkreislaufs, die diese furchterregende Vorstellung hervorrief, übte er dann weiter ein.

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

wenn der kontrollierende Einfluss der logisch-rational orientierten ICH-Funktion nachlässt. Die Welt-wie-sie-ist ist nicht immer die Welt-wie-sie-uns-erscheint. Die Welt-wie-sie-uns-erscheint wird aber noch leichter zur Welt-wie-wir-sie-uns-vorstellen. Besonders klar wird dies, wenn die ein magisches Welt­er­leben begünstigenden Gefühlsregungen, Triebe, Wünsche usw. einige Zeit zur Verfügung haben, um die Vorstellung zu beeinflussen, bzw. wenn andere Bewusstseinsinhalte, einmal früher Gedachtes, Gehörtes, Geahntes oder dergl., sich mit dem neuen Bewusstseinsinhalt vermischen können, also im nachträglichen Bericht von irgendwelchen Ereignissen, Gegenständen usw. Dieser labile Charakter des Vorstellungserlebens hat zur Folge, dass uns alle Ereignisse der Vergangenheit in der Erinnerung in irgendeiner, meist von der das Ereignis begleitenden Gefühlsstimmung abhängigen »Färbung« erscheinen. Viele Berichte von »ungeheuren« Waldschraten, Trollen, Fabeltieren usw. 11 mögen, abgesehen von den bei der Wahrnehmung angeführten Täuschungsmöglichkeiten, auf ein solches von der gering entwickelten ICH-Funktion schwach kontrolliertes Vorstellungsleben zurückzuführen sein. Hierzu kommt, dass auch schon Dinge und Ereignisse, die man nicht selbst wahrgenommen, sondern nur gelesen oder sonstwie erfahren hat, nach einiger Zeit in Erinnerung und Vorstellung den Charakter der Echtheit und des Tatsächlichen bekommen können.12 Die Bedeutung der Vorstellung für das Zustandekommen magisch-mystischer Anschauungen ist jedoch nicht nur in ihrer im Verhältnis zu der Wahrnehmung leichteren Beeinflussbarkeit und ihrem möglichen Tatsächlichkeitscharakter begründet, sondern vor allem auch in dem ihr in ihrem Ablauf wesenseigenen assoziativen Charakter. Alles, was räumlich oder zeitlich benachbart in unserer Vorstellung als Gestalt in Erscheinung tritt, kann ohne Rücksicht auf logisch-rationale Erwägungen assoziiert werden.13 11 Vgl. hierzu auch die bei Lehman (1925, 464  ff.) zitierten Berichte über den »Seemönch« und das »Einhorn«. 12 Auf diese Weise können z. B. auch Gestalten der Literatur – z. B. Don Quichote – so erscheinen, als hätten sie wirklich gelebt. 13 Ein anschauliches Beispiel für den Charakter solcher Assoziationen findet sich in T. Storms Novelle »Beim Vetter Christian« (1874): Die alte Karoline findet ein Taschentuch ihres Herrn in der Tasche der Hausmamsell. Die keimende Neigung zwischen den beiden ahnend, ergibt sich folgende Assoziation stigmatisierter, spontaner, gebundener Vorstellungen: »Plötzlich fiel ein schneidendes Licht auf den Gegenstand ihrer Betrachtung. Der Großtürke, ja, das hatte ihr Bruderssohn, der Schiffer, einmal erzählt –, wenn der aufs Freien wollte, so schickte er vorher sein Schnupf‌tuch an das junge Frauenzimmer! Und ihr

115

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

Die Assoziation dieser Art aber steht dem logisch-rational orientierten Denken entgegen, wie diese Art die Welt zu erfassen und psychisch zu verarbeiten auch schon im vorigen Abschnitt als ein typisches Wesensmerkmal magischen Welt­er­lebens erkannt wurde. Die ausgeprägteste Form einer derartigen Vorstellungsweise, die auch den Auf‌fassungen der Welt-an-sich im magischen Welt­ er­leben zugrunde liegt, ist die reine Vorstellungsfantasie.14 Ist in den oben erwähnten Vorstellungsformen die Assoziation noch weitgehend an tatsächlich wahrgenommene, dem Erinnerungsgedächtnis 15 entstammende, also vorwiegend der sichtbaren Umwelt, zumindest aber der Vergangenheit zugehörende Gegebenheiten gebunden, so macht die »Antizipation des Noch-nicht-Gegenwärtigen« 16 über alle Schranken von Zeit und Raum hinaus das eigentliche Wesen der reinen Fantasie aus. Kann in der Vorstellungsassoziation die Assoziation noch vom ICH kontrolliert und in seinen Dienst gestellt werden, so folgt die Fantasie allein den innerseelischen Antriebskräf‌ten. Die Fantasie verhält sich zu der lebhaf‌ten, assoziierenden Vorstellung wie die Halluzination zur Illusion. Im Bereich der Gestaltungen des magischen Welt­er­lebens entspricht ihnen wiederum das Verhältnis vom Mythos zur Sage. Der psychologische Mechanismus ist in beiden Fällen derselbe. Illusion und Sage sind Teilfantasien, Halluzination und Mythos Vollfantasien. Die Illusion kann alle Grade von exakter Wahrnehmung zur Halluzination, die Sage dieselben Grade von exakter Geschichte bis zu reinem Mythos durchlaufen. Der Unterschied zwischen Illusion und Halluzination ist bisweilen unmerklich, ebenso zwischen Sage und Mythos.17 Die Tätigkeit der Fantasie wird in jedem Falle durch dieselben äußeren und innerseelischen Umstände befördert, welche auch bei der einfachen Wahrnehmung Beobachtungsfehler erleichtern.18 116

Herr, der Doktor, rauchte türkischen Tabak, er hatte vergangenen Sommer türkische Bohnen gezogen, er war überhaupt sehr für das Türkische!«. Der für sie unklare Begriff des »Türkischen« dient hier zur Assoziation von auf dem Wege logischen Denkens sinnvoll zu nicht verbindbaren Gestalten der Vorstellung. Durch diese Assoziation im Vorstellungserleben gewinnt aber gleichzeitig eine bisher unklare Ahnung oder ein Gefühl für die Erlebende Tatsächlichkeits­ charakter. 14 Im Gegensatz zu der vitalen Fantasie, welche vorstellungsfrei arbeitet (vgl. Lersch 1948 a, 30). 15 Im Gegensatz zum (vitalen) Erfahrungsgedächtnis, welches (ein Pendant zur vitalen Fantasie) ohne Reproduktion früherer Erlebnisse arbeitet und wirksam ist, besonders z. B. in jeder Gewohnheit (vgl. ebd., 24). 16 Vgl. ebd., 30. 17 Vgl. Ribot 1902, 95.

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

Im Sinne einer Fantasie-Überbrückung zwischen erlebendem Subjekt und erlebtem Objekt gewinnt die Vorstellung für das Zustandekommen aktuellen magischen Welt­ er­ lebens dann an Bedeutung, wenn sie eine Wahrnehmung überdeckt (vgl. S. 115 Anm. 13), d. h. wenn die durch die Wahrnehmung im Augenblick ihres Vollzuges im erlebenden Subjekt hervorgerufenen Vorstellungsbilder stärker erlebt werden als die Wahrnehmung selbst. Das innerseelisch vorgestellte Bild wird dann gewissermaßen in die Wahrnehmung hineinprojiziert, wobei der Begriff »Bild« hier natürlich nicht nur das sichtbare Abbild bezeichnet, sondern alle im Vorstellungserleben wirksamen, bildformenden Kräf‌te, denen im Falle einer derartigen Projektion das Wahrnehmungsbild unterworfen ist.18 Auf den vom magischen Welt­er­leben bestimmten niederen Entwicklungsstufen, denen ja auch die hauptsächlichsten Zeugnisse für derartige Projektionen entstammen (legt man an die diesbezüglichen Erscheinungsformen den allgemein-psychologischen Maßstab), scheinen die Erscheinungsformen der paticipation mystique aus einem Überwiegen derartiger Projektionen herzurühren; oder aber: Wahrnehmung und Vorstellung sind eben auf dieser Stufe überhaupt noch nicht differenziert, sondern haben sich – gemäß der Theorie E. R. Jaenschs 19 – erst später aus dieser »undifferenzierten Einheit« heraus entwickelt. Zweifellos ist aber die Fähigkeit zu derartigen Projektionen, wenn auch nicht in dem den primitiven Gemeinschaf‌ten eigenem Ausmaß, so doch prinzipiell auch in jedem voll entwickelten Menschen unserer Kultur vorhanden, wobei ihre, nach dem Gesetz der Integration, auch andere seelische Funktionen beeinflussende Wirksamkeit von dem die Wahrnehmung und die Vorstellung überlagernden Denken abhängig ist. 18 So sagt Wundt von der bildenden Fantasie der Primitiven: »Der frei im Wald herumstreifende Naturmensch hat weder Zeit noch Gelegenheit anders als an kleineren Objekten oder am Schmuck des eigenen Leibes seine Fantasie zu betätigen. Doch das Halbdunkel der Höhle ist wie wenige Aufenthalte geeignet, die nachbildende Fantasie anzuregen. Ungestört durch äußere Eindrücke, in Licht und Farbe durch das Dunkel gehoben, steigen hier die Erinnerungen an das im Freien Gesehene, vor allem an die Tiere des Urwaldes auf, und es treibt den einsamen und tatenlosen Bewohner diese Erinnerungsbilder an die Wand zu projizieren. Hier spielt eine Eigenschaft hinein, die wir auch an uns noch beobachten können: Unsere Erinnerungsbilder sind im Dunkel oder Halbdunkel ungleich lebendiger als im Licht des Tages. So ist in der Höhle, der ersten Wohnstätte des Menschen, vielleicht zum erstenmal der Übergang von den zu Schmuck- und Zauberzwecken dienenden Anfängen der bildenden Kunst zu einer freien Erinnerungskunst erfolgt« (Wundt 1913, 24). 19 Vgl. Jaensch 1925, 24  ff.

117

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

118

»Die Welt«, sagt C. G. Jung in diesem Sinne, »ist, wie sie immer war, aber unser Bewußtsein unterliegt eigentümlichen Veränderungen. Zuerst, in fernen Zeiten (was jedoch noch an heute lebenden Primitiven beobachtet werden kann) lag der Hauptteil des psychischen Lebens anscheinend außen in menschlichen und nichtmenschlichen Objekten: er war projiziert, wie wir jetzt sagen würden. In einem Zustande mehr oder weniger vollkommener Projektion kann es kaum ein Bewußtsein geben. Durch das Zurückziehen der Projektionen entwickelte sich langsam die bewußte Erkenntnis. Die Wissenschaft begann merkwürdigerweise mit der Entdeckung astronomischer Gesetze, also mit der Zurückziehung der quasi fernsten Projektionen. Das war eine erste Phase in der Entseelung der Welt. Ein Schritt folgte dem anderen: schon in der Antike wurden die Götter aus den Bergen, aus den Bäumen und Tieren entrückt. Unsere moderne Wissenschaft hat ihre Projektionen zwar bis zu einem fast unerkennbaren Grade verfeinert, aber unser tägliches Leben wimmelt noch von Projektionen. Sie machen sich breit in Zeitungen, Büchern, Gerüchten und gewöhnlichem gesellschaftlichen Klatsch. Alle Lücken, wo wirkliches Wissen fehlt, werden immer noch mit Projektionen ausgefüllt. Wir sind immer schon beinahe sicher, daß wir wissen, was andere Leute denken, oder was ihr wahrer Charakter ist« 20. Innerseelische Vorstellungsinhalte werden hierbei in außerseelische Wahrnehmungsobjekte projiziert. Auf einer ähnlichen Vermischung von Vorstellung und Wahrnehmung im aktuellen Erleben mag auch das Phänomen des Déjà-vu beruhen, dessen objektiv feststellbares und festgestelltes Vorkommen besonders von dem, logisch-rational gewonnenes und gesichertes Wissensgut im Sinne eines magischen Welt­ er­lebens verwertenden und ausdeutenden, modernen Bildungsaberglauben oft als zwingendes Argument angeführt wird. Unter Déjà-vu versteht man das in einer noch nie vorher erlebten Situation auf‌tretende bestimmte Gefühl, diese Situation schon einmal erlebt zu haben bzw. das Vorwissen, das Vorbekanntsein von Dingen und Geschehnissen. Es werden dabei Geschehnisse und Situationen vorbewusst erlebt, d. h. man »weiß«, was sich gleich im nächsten Augenblick ereignen wird und ist dann erstaunt und erschüttert zugleich, wenn das Geschehnis tatsächlich auch gleich eintrifft. Eine Versuchsperson von E. R. Jaensch berichtet z. B.: »In Florenz sah ich ein Haus mit einem Brunnen, ich hörte geradezu die Stimme, die mir etwas von dem Haus erzählte. Als ich hineinkam, 20 Jung 1939, 149.

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

kannte ich das Haus. Oder: In Rom, neben St. Stephano Rotunde, ist ein Garten einer amerikanischen Sekte. Als ich hineinkam, kannte ich den Garten vollkommen, ich wußte auch, daß Menschen durch diesen Garten hindurchgehen. Ich hatte das Gefühl, daß ich sie schon gesehen hatte. Auch die ganze Situation, die sich ergab, erlebte ich als eine genau bekannte« 21. Nach Bergson kommt das Déjà-vu dadurch zustande, dass im Augenblick der Wahrnehmung Wahrnehmung und Erinnerungen auseinandertreten.22 Man könnte sich aber – zumal in den wohl viel häufigeren Fällen des Déjà-vu, in welchen das Vorbewusstsein des kommenden Ereignisses nur ganz kurz vor oder fast gleichzeitig mit diesem Ereignis auf‌tritt, oder in den Fällen, in welchen überhaupt nur das spontane Gefühl entsteht »das habe ich schon einmal erlebt« – den Vorgang auch so vorstellen, dass im Augenblick der Wahrnehmung Wahrnehmung und Erinnerungsvorstellung im Sinne der »undifferenzierten Einheit« E. R. Jaenschs eine derart innige, sich dem kontrollierenden Denken entziehende Funktionsverbindung eingehen, dass in dem Moment, in dem die Wahrnehmung dem Erlebenden bewusst wird, er sie wahrnehmend als Erinnerungsvorstellung erlebt. Hierbei handelt es sich dann um eine Projektion, diesmal nicht einer Vorstellung oder eines Vorstellungsbildes in einer Wahrnehmung, sondern um eine, die der Vorstellungsbildung zugrunde liegenden, innerseelischen Antriebserlebnisse nach außen verlegende, sie in das Objekt »projizierende« Erlebnisweise. Nicht die Wahrnehmung wird mit einem Vorstellungsbild überdeckt, sondern das Wahrnehmungsabbild dringt direkt – ohne erst tatsächlich »wahrgenommen« zu werden – funktionell in die Erinnerungsvorstellung ein. Von diesem Zurücktreten der tatsächlichen Wahrnehmung mögen auch die oft bei Déjà-vu-Erscheinungen als Begleitumstände zu beobachtenden, dämmerhaf‌ten oder traumartigen Zustände herrühren. Die »schlagartige« Erkenntnis, die Situation schon einmal erlebt zu haben, tritt dann in dem Moment auf, wenn die Wahrnehmung sich von der Erinnerungsvorstellung wieder trennt, man also die Situation wieder tatsächlich als Wahr21 Eine andere Versuchsperson ging im Winter eine Straße entlang. Er sah auf einem Dach die Luke geöffnet. Da wusste er, gleich erscheint ein Mädchen und wirft einen faulen Apfel heraus. Er hatte kaum den Gedanken gedacht, da kam das Mädchen und warf den Apfel auf die schlittenfahrenden Kinder. Auch sonst weiß er, wenn er die Augustinergasse herauf‌kommt, dass im nächsten Augenblick ein Mädchen oder ein Mann um die Ecke kommt (vgl. Jaensch 1929, 181). 22 Vgl. H. Bergson (1896), Materie und Gedächtnis, zit. n. Jaensch 1929, 181.

119

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

120

nehmung erlebt und der eben vorher erlebte Situationsausschnitt objektiv als Erinnerung erscheint.23 Ein Phänomen, welches die Möglichkeit einer Projektion inner­ seelischer, subjektiver Vorstellungsbilder in die Außenwelt empirisch beweist, ist die, besonders von E. R. Jaensch empirisch-experimentell begründete und belegte Lehre von der eidetischen Anlage. Letztere besteht in der Fähigkeit, subjektive optische Anschauungsbilder zu sehen, d. h. Objekte der Umwelt erscheinen nicht nur in der Vorstellung als Erinnerungsbilder, sondern werden tatsächlich als in der Außenwelt verselbstständigt gesehen. Die optischen Anschauungsbilder sind – nach Jaensch – Phänomene, die eine Zwischenstellung zwischen Empfindung und Vorstellung einnehmen. Immer werden sie, ähnlich wie die gewöhnlichen physiologischen Nachbilder, und darum in einer hiermit vergleichbaren Weise, im buchstäblichen Sinne gesehen; abgesehen von dieser Eigenschaft, die sie mit den Empfindungen teilen und die ihnen notwendig und unter allen Umständen zukommt, können sie aber auch in anderer Hinsicht Eigenschaf‌ten der Vorstellungen zeigen. In Fällen, wo dieser Einschlag von Eigenschaf‌ten des Vorstellungslebens sehr gering ist, sind sie nur modifizierte, von der Norm in bestimmter Weise etwas abweichende Nach­ bilder; ist jener Einschlag nahezu gleich oder völlig gleich Null, so lassen sie sich einfach als gesteigerte Nachbilder auf‌fassen. Im entgegengesetzten Grenzfall maximalen Vorstellungseinschlags sind sie nach außen projizierte und gleich den Nachbildern im ganz buchstäblichen Sinne »sichtbare« Vorstellungen. So wie die Nuancen der Orangefarbe verschieden, nämlich mehr rötlich oder mehr gelblich sein können, immer aber irgendwo in der Mitte zwischen dem reinen Rot und dem reinen Gelb, bald diesem, bald jenem näher gelegen sind, ganz so bilden das einfach gesteigerte reine Nachbild und die nach außen projizierte, im buchstäblichen Sinne gesehene Vorstellung die äußersten Grenzfälle, zwischen denen die Anschauungsbilder gelegen sind. Dabei hängt es wesentlich

23 Da sich hierbei all die geschilderten Vorgänge in Bruchteilen von Sekunden abspielen, ist die Möglichkeit einer Vertauschung von »vorher« und »nachher«, zumal wenn man sich den Vorgang später ins Gedächtnis zurückruft, natürlich noch viel größer, als in den auch über größere Zeitabfolgen bei ungünstigen Erlebens- und Beobachtungsverhältnissen immer wieder zu beobachtenden Vertauschungen von »vorher« und »nachher« bei ähnlichen Vorgängen (vgl. Lehmann 1925, 441  ff.). Ferner ergab sich, dass sofortiges Konzentrieren der Aufmerksamkeit des Erlebenden auf den Vorgang des Déjà-vu diesen meist schnell abbricht bzw. zum Abklingen bringt. (Dem Erklärungsversuch liegen Beobachtungen an zahlreichen eigenen Déjà-vu-Erlebnissen zugrunde.)

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

von der psychologischen Konstitution der Persönlichkeit ab, an welcher Stelle zwischen diesen beiden äußersten Grenzpolen das Phänomen der Anschauungsbilder jeweils liegt, ob es dem einen oder dem anderen näher steht bzw. mit ihm zusammenfällt.24 Die durch die eidetische Anlage erzeugten Anschauungsbilder liegen also ihrem Charakter nach zwischen den Wahrnehmungen und den Vorstellungen, der Mehrzahl ihrer Merkmale nach stehen sie jedoch den Wahrnehmungen näher.25 Die eidetische Anlage findet sich bei allen Intelligenzgraden und besonders bei Jugendlichen. Mit fortschreitender Entwicklung verkümmert sie und bleibt nur bei den ausgesprochenen Eide­ tikern erhalten. Als Relikt in mehr oder weniger abgeschwächter Form – z. B. werden die Anschauungsbilder nicht mehr drei- sondern nur mehr zweidimensional gesehen – kommt sie aber auch bei vielen Erwachsenen, besonders aber bei Frauen vor. Hunger und Fasten, Ermüdung und Alkohol befördern die Erzeugung von Anschauungsbildern, ebenso alle schon im Zusammenhang mit den gewöhnlichen Täuschungsmöglichkeiten erwähnten (vgl. S. 111  f.) Bedingungen: schlechte Allgemeinbeleuchtung, innere Er­ regung usw. Besonders die Deutlichkeit und Räumlichkeit eines Anschauungsbildes hängen viel von der inneren Verhaltensweise des Betrachters ab.26 Von besonderer Bedeutung für das Zustandekommen aktuellen magischen Welt­er­lebens ist auch das vor allem im Zusammenhang mit eidetischen Anschauungsbildern, aber auch unabhängig von ihnen feststellbare Phänomen der spontanen Raumverlagerung,27 wie man es im Bereich magischen Welt­er­lebens vor allem im Märchen (Reise durch die Luft ohne Zeitverbrauch usw.), aber auch im Zusammenhang mit aktuellem magischem Welt­er­leben, 24 Vgl. Jaensch 1925,  1  ff. 25 Vgl. Jaensch 1929, 122. 26 »Wenn wir den Vpn. Bilder vorlegten, so konnten wir beobachten, wie sie sich ihnen ganz hingaben. Gr. betrachtet die Hochzeitsreise von Schwindt. Auf einmal sinkt sie leise nach vorn, wie gebannt blickt sie auf die Vorlage, sie scheint ganz daran verloren zu sein. Der Raum um sie ist vergessen. Auf einmal schreckt sie empor, blickt auf und sagt heftig: ›Da war ich mitten auf dem Platze, ich sah die Karte nicht mehr und winkte dem Wagen nach. Ich war in der Wirklichkeit.‹ Es ist gerade dies hingebende Betrachten, das die Erzeugung der AB ermöglicht« (Jaensch 1929, 110). 27 Eine Versuchsperson (16 Jahre alt) Jaenschs berichtet z. B., »daß ihm bei einem Trachtenfest ein vor einem Bauernwagen fahrender Landauer plötzlich 30–40 m hinter dem Bauernwagen zu fahren schien und dann ebenso plötzlich wieder vor ihm; die Erscheinung erfolgte so ruckartig, daß eine wirkliche Überholung ausgeschlossen war« (Jaensch 1927, 167).

121

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

122

mit Geistererscheinungen (z. B. Vorrücken eines Gegenstandes durch einen Geist) und dergl. immer wieder antrifft.28 Die durch exakte empirische Forschung gesicherte Tatsache der eidetischen Anlage braucht in ihrer Bedeutung für die Volkskunde im Allgemeinen und für das Problem des magischen Welt­er­lebens im Besonderen nicht mehr besonders hervorgehoben zu werden. Sie bildet eine experimentell-psychologische Begründung für die im vorigen, das magische Welt­er­leben unter phänomenologischem Gesichtspunkt betrachtenden Abschnitt, anhand der aus ihren Erscheinungsformen gewonnenen Wesensmerkmale. Geistererscheinungen, Beschwörungen in Ekstase, »lebender Leichnam« usw. erhalten durch sie eine psychologisch-rationale Erklärung. Selbstverständlich kann man hier nicht übertrieben verallgemeinern, aber es scheint dem in seiner Gültigkeit doch weitgehend nachgewiesenen biogenetischen Grundgesetz zufolge – nach dem Einzel- und Gattungsentwicklung parallel verlaufen – doch sehr wahrscheinlich, dass diese heute an der überwiegenden Zahl aller Jugendlichen feststellbare Anlage auch auf der Entwicklungsstufe der Gattung, für die das magische Welt­er­leben typisch ist, allgemein verbreitet war.29 Andererseits bilden die Ergebnisse von Jaensch die experimentelle Ergänzung zu der weiter oben mehr theoretisch dargelegten Projektionstheorie. Die dritte das Welt­er­leben fundierende seelische Funktion ist, neben dem Wahrnehmen und dem Vorstellen, das Denken. Im Gegensatz zu Wahrnehmung und Vorstellung setzt das Denken einen bewussten Willensakt voraus, wodurch es rein persönliche, subjektive Erlebnisse zugunsten außerpersönlicher, objektiver Ziele zurückzustellen und auszuschließen vermag. Andererseits ist aber auch die für das logisch-rationale Welt­er­leben als typisch erkannte logische Ausrichtung des Denkens ein von der tatsächlichen, psychologischen Denkfunktion unabhängiges und von ihr wohl zu unterscheidendes Postulat. Im Gegensatz zu Wahrnehmung und Vorstellung, in welchen Wirklichkeitsabbilder bzw. subjektive Vorstellungsbilder erlebt werden, arbeitet das reine Denken mit abstrakten Begriffen. Die ihm wesenseigene Funktionsweise ist die Bildung von Urteilen und das Ziehen von Schlüssen, wobei das »Urteil ein gestalthaftes Ganzes von Begriffen und der Schluß ein gestalthaftes Ganzes von Urteilen« 30 ist.

28 Vgl. Jaensch 1927,  155  ff. 29 Vgl. ebd., 221  ff. 30 Lersch 1948 a, 33.

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

Durch Begriff, Urteil und Schluss wird die Welt im Denken gewusst, festgestellt und erklärt. Das Denken ist also diejenige seelische Funktion, zu deren Wesen das für das logisch-rationale Welt­er­leben als typisch erkannte Gegenüberverhältnis »Subjekt – Objekt«, d. h. »Mensch – Welt«, gehört. Im reinen Denken ist der Mensch nicht von innerseelischen oder Umwelteinflüssen, welche eine mehr oder weniger magische Wirkung ausüben können, abhängig, sondern er »bringt die Welt vor das Bewusstsein als ein überschaubares und der Ordnung zugängliches Gefüge von Dingen und Wesenheiten« 31. Das reine Denken ist die dem logisch-rationalen Welt­er­leben gemäße Möglichkeit für das ICH, das ES zu erfassen. Allerdings lassen sich auch im Denken zwei wesenhaft voneinander verschiedene Formen, die Welt denkend zu erfassen und zu verarbeiten, unterscheiden, dessen Unterschied auf den ersten Blick der Unterscheidung von magisch und rational zu entsprechen scheint. Neben der oben beschriebenen, in ihrer reinen Form mit vorstellungsfreien, abstrakten Begriffen nach den Gesetzen der Logik orientiert arbeitenden Form des Denkens muss man nämlich noch eine andere, nicht unbedingt nach der Logik orientierte und der Vorstellung in gewissem Sinne ähnelnde Denkweise unterscheiden: das Erleben der Bilder oder, genauer definiert, der »Sinnbilder«. »Im Bild«, heißt es in diesem Sinne bei Lersch, »werden wir von der Welt angesprochen in pathetischem Erleben, während der Begriff einen aktiven Vorstoß in die Welt darstellt. Im Begriff tun wir etwas mit der Welt, im Bild wird etwas mit uns getan. Es sind zwei grundverschiedene Formen des Welt­er­lebens« 32. Dem sinnbildlichen Denken entspricht dabei ein mehr assoziierender, dem begriff‌lichen Denken ein mehr dissoziierender Denkverlauf.33 Dieser im Denken sich zeigende Dualismus ist jedoch streng zu trennen von dem Dualismus magisch/rational bzw. von der Unterscheidung zwischen den beiden Arten, die Welt zu erleben, wie sie bisher durchgeführt wurde. Entspricht dem pathetischen Bilderleben im obigen Sinne als Reaktion der Versuch eines aktiven Vorstoßes in die Welt durch den Begriff, so entspricht dem magischen Bilderleben als wesensähnliche Reaktion die magische Handlung. Handelt es sich bei der das Denken fundierenden Zweiheit um einen psychischen Funktionsdualismus, so in der bisher durchge31 Lersch 1948 b, 251. 32 Lersch 1948 a, 36. Diesem Unterschied entspricht bei C. G. Jung ungefähr die Unterscheidung von passivem und aktivem Denken. 33 Vgl. Ribot 1902,  11  ff.

123

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

führten Unterscheidung rational/magisch um einen durch veränderte Wirksamkeit derselben Funktionen konstituierten allgemeinen Erlebens- bzw. – in seiner ausgeprägteren Form und im Einklang mit ihm – Einstellungs-Dualismus, um zwei verschiedene Verhaltensweisen. Es ist ein wesenhafter Unterschied, ob subjektive Vorstellungsbilder objektive Gegebenheiten überdecken, oder ob die Welt im Denken sinnbildlich »erlebt«, d. h. gedacht wird.34 Beide Formen des reinen Denkens aber – die logisch-begriff‌� l iche und die sinnbildlich-anschauliche – vollziehen in ihrem ‌ Zusammenwirken die nach der Erkenntnis der Welt-an-sich, d. h. nach ideeller Erkenntnis strebende geistige Funktion des Denkens und fundieren damit, im Sinne echt logisch-rationalen Welt­er­ lebens, das persönlich-eigenständige Gegenüberverhältnis von Mensch und Welt. Dem logisch-begriff‌lichen und dem sinnbildlich-anschaulichen Denken, als den beiden, in ihrer reinen Form extremen Punkten dieser geistigen Funktion, entsprechen im Bereich der aus logisch-rationalem Welt­ er­ leben erwachsenden Schöpfungen die moderne Wissenschaft und die Kunst der Hochkultur in ihren ihrer Idee entsprechenden Werken.35 Die Welt wird durch diese Art des denkenden Erfassens zwar ihres magischen Zaubers entkleidet, doch bedeutet dies nicht, dass sie »entzaubert« wird im Sinne einer vollkommenen Zweckrationalisierung. Die frei gewollte, denkende Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt macht diesen vielmehr frei von den subjektbetonten – letzten Endes doch nur aufgrund der eigenen psychischen Unvollkommenheit als objektiv vorhanden geglaubten – magischen Einflüssen und setzt ihn in die Möglichkeit echter Erkenntnis.36

124

34 In diesem Sinne ist auch zu unterscheiden zwischen dem, in einem Kompensationsverhältnis zum begriff‌ lichen Denken stehenden symbolischen Denken im Bereich logisch-rationalen Welt­er­lebens (auch wenn die verwendeten Symbole einem überlieferten Mythos entstammen) und dem »geschauten« und damit magisch erlebten Mythos des magischen Welt­er­lebens. 35 Hier zeigt sich auch der Wesensunterschied zwischen der Dichtung der Klassik und dem aus magischem Welt­er­leben stammenden Mythos, zwischen der Malerei der Italiener und Niederländer etwa und der Bildnerei des frühen Altertums usw., kurz, zwischen den künstlerischen Schöpfungen der im Sinne der Definition logisch-rational orientierten Hochkultur und denjenigen aus magischem Welt­er­leben der Unterschicht bzw. der Frühzeit. Hier persönliche Auseinandersetzung und einmalige individuelle Schöpfung in Auf‌fassung und Gestaltung – dort unpersönliche, einer allgemeinen Auf‌fassung oder »Kollektivvorstellung« (im Sinne Lévy-Bruhls) entsprechende Werke. 36 Hier sei nochmals auf den Wesensunterschied zwischen magischem und religiösem Erleben hingewiesen und darauf, dass ebenso, wie sich in den verschiedenen Religionsformen magische und religiöse Elemente beisammen

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

Abgesehen von dem außerhalb des Bereichs der allgemeinen Psychologie liegenden, für das logisch-rationale Welt­er­leben wesenhaf‌ten Postulat der logischen Orientierung wurde das Denken betrachtet, d. h. eine Berücksichtigung des Integrationszusammenhanges, in welchem es, wie alle seelischen Funktionen, miteinbezogen ist. Ganz allgemein aber kann man sagen: Je mehr das vom freien Willen getragene Denken sich den anderen seelischen Funktionen überordnet, desto mehr unterstützt es die nach Verselbstständigung und Individualisierung drängende ICH-Funktion, desto mehr konstituiert sich in der Emanzipation des ICH vom ES der typische Repräsentant logisch-rationalen Welt­ er­ lebens: die eigenständige Persönlichkeit. Das Denken zeigt sich aber in seiner tatsächlichen psychologischen Erscheinung meist nicht so rein, wie es der obigen Darstellung nach den Anschein haben mag. Neben allen anderen schon erwähnten Einflüssen, die die Wirkungsweise der Funktionen des Weltinnewerdens in einer das magische Welt­er­leben begünstigenden Weise verändern, ist es beim Denken die ihm ähnlichste der beiden anderen Funktionen, die Vorstellung, deren Einflüsse zu einem seinem Wesen nach magischen Welt­er­leben führen können. So können bei starkem Vorstellungserleben – d. h. wenn die Vorstellung ihrer Wertigkeit nach im Rahmen des seelischen Gesamtorganismus das reine Denken überwiegt, die Integration von der Vorstellung her bestimmt ist – alle die im Zusammenhang mit diesem besprochenen Einflüsse im Denken wirksam werden.37 und vermischt finden (vgl. auch S. 82 Anm. 52), die sich ihrem Wesen nach aber voneinander trennen lassen, auch das individuelle religiöse Erleben mehr magischen oder mehr religiösen Ursprung und Charakter haben kann, dass also nicht, wie oft behauptet wird, »psychologisch gesehen kein Unterschied besteht zwischen magischem und religiösem Erleben« (Weiser-Aall 1937, 110). Gewiß sind es in beiden Fällen hauptsächlich drei gleiche Erlebnisse, die zu religiösen als auch magischen Glaubensreaktionen führen: tiefgreifende innere Erlebnisse, katastrophale Wahrnehmungen und Überlieferung (vgl. ebd.). Aber das sich über den aktuellen Fall hinaus aufgrund dieses Erlebnisses auf die Dauer konstituierende Glaubenserleben ist in seinem Charakter doch wohl von der jeweils spezifischen Funktionsweise der seelischen Funktionen abhängig, also auch psychologisch unterscheidbar. 37 Zum Beispiel: Ich lese in der Zeitung von der Neubesetzung einer öffentlichen Stelle. Der Mann, welcher diese Stelle übernehmen soll, kommt aber von einem Amt, mit welchem ich schon einmal ziemlichen Ärger hatte. Ich kenne nun den Menschen nicht, aber beim Lesen des Namens dieses Amtes tauchen in meiner Erinnerungsvorstellung alle unangenehmen Szenen, welche ich dort erlebt hatte, auf und verbinden sich assoziativ mit dessen Person (obwohl er vielleicht in einem ganz anderen Bezirk diese Amtes oder zur Zeit meines Streites überhaupt nicht dort tätig war). Je stärker diese Vorstellungsassoziationen

125

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

Auch das sog. »assoziative Denken«, das vielfach als entscheidendes Merkmal des Primitiven und Unterschichtlichen aufgefasst wird,38 und welches als ein Wesensmerkmal magischen Welt­er­ lebens festgestellt wurde, ist also vom allgemein-psychologischen Gesichtspunkt aus nur eine Überdeckung des eigentlichen Denkens durch Vorstellungsassoziationen.39 In engem Zusammenhang mit dem Phänomen der Vorstellungsassoziation stehen ferner auch die Gefühle, die, wie schon ihre wiederholte Erwähnung im Rahmen der obigen Darstellung des Weltinnewerdens zeigte, in jedes seelische Geschehen miteinbezogen sind. Da es besonders zum Wesen der Gefühle gehört, durch eindrucksvolle Situationen hervorgerufen oder zumindest bestärkt zu werden, ist ihr entscheidender Einfluss in dem durch starke Situationsabhängigkeit ausgezeichneten magischen Welt­ er­leben evident. Besonders die gerichteten oder Du-Gefühle sind von Bedeutung; ferner das Phänomen, dass Gefühle »irradieren«, d. h. auf andere Gefühlsinhalte überfärben können, wodurch die für ein magisches Welt­er­leben so typischen Gefühlsübertragungen möglich sind. Amulette und Maskottchen können ihre Kraft und Bedeutung durch derartige Gefühlsübertragungen bekommen usw.40 Ferner spielt das Gefühl eine entscheidende Rolle im Bereich des Denkens, in der Überbrückung des Unterschiedes zwischen Glauben und Wissen.

126

nun sind, desto stärker wird das unangenehme und ablehnende Gefühl sein, das ich diesem Menschen und der Nachricht entgegenbringe, desto mehr wird auch mein Denken in Bezug auf ihn und die Stellenbesetzung auch späterhin ungünstig beeinflusst sein und das ganze Faktum einen mit logisch-rationalen Gesichtspunkten unvereinbaren Wertcharakter, der in diesem fiktiven Beispiel subjektive, zudem durch Assoziationen gewonnene und von ganz speziellem persönlichen Gefühl getragene Vorstellungsinhalte in das Denken hineinprojiziert (vgl. auch S. 47, S. 115 Anm. 13 und S. 118). 38 So z. B. bei Reuschel (1920, 14): »Die Volkskunde beschäftigt sich mit den seelischen Äußerungen des Volkes, soweit sie entweder durch assoziative Denkform entstanden oder verändert, dem Volkempfinden angepasst worden sind«. 39 »Vom Denken sollte man nur da sprechen, wo es sich um die Verbindung von Vorstellungen durch einen Begriff handelt, wo also m. a. W. ein Urteilsakt vorliegt, gleichviel ob dieser Urteilsakt unserer Absicht entspringt oder nicht« (Jung 1940, 613). 40 Eine Gesellschaft von Studierenden leistete sich z. B. einmal eine Flasche Sekt. Der Pfropfen wurde auf‌bewahrt und auf Anforderung den Mitgliedern gegeben, wenn sie ins Examen stiegen. Auf diese Weise kam der Pfropfen an fast allen deutschen Hochschulen herum und soll, wie berichtet wird, allen geholfen haben. So wuchs seine Kraft von Semester zu Semester (vgl. H. Tiedemann, Niederdeutsche Zeitschrift für Volkskunde, Jg. 13, 1935, 53). –

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

Jedes Denken ist zielend. Es sucht nach dem evidenten Ergebnis. Die rein logisch-begriff‌liche Form des Denkens erreicht sie unter präziser Fragestellung durch logische Gedankenführung über Urteil und Schluss. Je mehr die logische Ausrichtung fehlt, je mehr fernerhin subjektive Regungen, besonders Vorstellungen, wirksamer werden, desto unzureichender wird schon die Fragestellung und desto eher erscheinen mit verschwommenen Begriffen gewonnene, unklare Schlüsse als evident, werden geglaubt. Der Begriff des Glaubens hat jedoch im logisch-rationalen bzw. magischen Welt­er­leben einen jeweils vollkommen anderen Charakter (welche Unterscheidung man gewöhnlich in nicht ganz zutreffender Form in Glauben und Aberglauben ausdrückt). Der subjektive Glaube – der Gegenpol des beweisbaren Wissens im Bereich des Wahrheitsempfindens – steht im Ergänzungs- und Gleichgewichtsverhältnis zum exakten Wissen. Je schwächer das Letztere ist, desto schwächer ist auch der subjektive Glaube, desto mehr Lücken muss er aber auch füllen. Er ist in einer im Verhältnis zur Entwicklung des kritischen Denkens ungeheuren Ausdehnung das Kennzeichen des »leichtgläubigen« Menschen, der besonders auch magischen Einflüssen zugänglich ist.41 Die begriff‌liche Denkfunktion weist also Variationen auf, die alle zwischen zwei extremen Endpunkten liegen: zwischen dem in einer gewissen Allesgläubigkeit eingebetteten, primitiven, zweckrationalen Denken des magischen Welt­er­lebens, wie es sich vornehmlich in der magischen Handlung zeigt, und dem logisch-­ begriff‌lichen Denken des logisch-rationalen Welt­ er­ lebens, wie es oben beschrieben wurde. Und in ähnlicher Weise durchläuft auch das bildliche Denken eine Stufenleiter vom subjektiven Vorstellungsbild bis zum Sinnbild in der sinnbildlich-anschaulichen, geistigen Funktion des Denkens. Die Übergänge sind hier wie Dieser von Weiser-Aall (1937, 58  f.) als Beispiel für Gefühlsübertragung zitierte Vorgang könnte der Schilderung nach ebenso gut als Vorstellungsprojektion aufgefasst werden. Gefühls- und Vorstellungsprojektion sind also ihrem Effekt nach wesentlich gleich. Der psychologische Unterschied zwischen den beiden Arten von Subjekt-Objekt-Überbrückung durch Projektion besteht demnach im Wesentlichen nur in einem Vorherrschen des projizierten Gefühls- bzw. Vorstellungsinhaltes. 41 Auch in der doppelten Bedeutung des Glaubensbegriffes zeigt sich so der psychologische Unterschied zwischen magischem und echt religiösem Erleben. Der Glaube der magischen Erlebensweise zeichnet sich bei geringer kritischer Fähigkeit des Erlebenden durch große Ausdehnung und geringe geistige Vertiefung aus. Im echt religiösen Erleben erlangt bei stärkerer Konzentration auf Wesentliches der Glaube im Sinne des Gleichgewichtsverhältnisses eine der denkenden Durchdringung entsprechende größere Vergeistigung.

127

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

dort fließend, der Charakter des jeweiligen Bildes ist im Sinne des Integrationszusammenhanges notwendig von der Wertigkeit der anderen seelischen Funktionen abhängig. Am deutlichsten zeigt sich dies an dem Phänomen, bei dem die Bilder ihre größte Wirksamkeit entfalten: in der Fantasie. Ihre Reichweite erstreckt sich von der infantilen oder auch primitiven, dem magischen Welt­er­leben zugehörenden Wunsch- und FurchtFantasie bis zur »planenden Fantasie« 42 der Reifezeit bzw. der vom logisch-rationalen Welt­er­leben bestimmten Hochkultur, in welcher sie – in ihrer reinsten Form – im Sinne echter, auf ideeller Erkenntnis gerichteter Ratio im Zusammenwirken mit dem logisch-begriff‌lichen Denken in dessen geistiger Funktion arbeitet. Die schöpferische Fantasie ist ein beide Extreme überlagernder und umfassender Begriff, dessen Wesen das psychologisch kaum mehr bestimmbare Schöpferische ausmacht. Die Gradabstufungen des logisch-begriff‌lichen und des sinnbildlich-anschaulichen Denkens entsprechen also der beiderseitigen historischen Entwicklung innerhalb der Gattung und der Entwicklung im Einzelindividuum. Nach Ribot gestaltet sich das Verhältnis der beiden seelischen Wirksamkeiten in der Entwicklung des Einzelindividuums folgendermaßen (vgl. Abb. 4):

128

Die erste Periode ist das Alter der Fantasie [Ribot betrachtet die Fantasie nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer Ursachen – wie Furcht, Wunsch usw. –, sondern allgemein unter dem Gesichtspunkt ihrer Schöpferkraft, als »imagination créatrice«, H. A.]. Bei dem normalen Menschen beginnt sie mit dem dritten Jahre und umfasst Kindheit, Reifezeit und Jugend. Sie ist bald von längerer, bald von kürzerer Dauer. Das Spiel, die romantische Erfindung, die mythischen und fantastischen Weltbegriffe bilden ihren hauptsächlichen Inhalt. Später macht sich der Einfluss der Leidenschaf‌ten, besonders der geschlechtlichen Liebe geltend. Lange Zeit bleibt die Fantasie frei von jedem rationellen Element, nach und nach aber dringt die Vernunft durch. Die Reflexion (als Inbegriff geistiger Arbeit aufgefasst) entsteht ziemlich spät, wächst langsam heran und zügelt in dem Maße, wie sie sich entwickelt, die Fantasie. Die Entwicklung der Fantasie beginnt also zuerst. Anfangs ziemlich langsam und dann rapide zunehmend entwickelt sie sich bis zu der dann eingehaltenen Maxi-

42 Vgl. Lersch 1948 a, 31. Ihr entspricht bei C. G. Jung etwa das »intuitive Denken« oder die »Intuition« bzw. die durch sie hervorgerufene »aktive Fantasie«.

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

malstärke (in der Zeichnung Kurve J–M). Die Entwicklung der Vernunft, d. h. der logisch-begriff‌lichen Denkweise, beginnt später und erreicht langsam, aber regelmäßig fortschreitend schließlich die Stärke der Fantasie (gestrichelte Kurve R–X). Die zweite Periode (die in der Zeichnung am Punkte MX einzufügen wäre) ist eine kritische Phase von unbestimmter Länge, die jedoch in jedem Falle viel kürzer ist als die beiden anderen. In physiologischer Hinsicht hat sie die Bildung eines ausgewachsenen Organismus und eines ausgewachsenen Gehirns zur Ursache, in psychologischer Hinsicht den Kampf zwischen der reinen Subjektivität der Fantasie und der Objektivität der Vernunft, mit anderen Worten der geistigen Unbeständigkeit gegen die geistige Beständigkeit. Das Resultat erscheint erst in der dritten Periode, dem Ergebnis dieser Umformungsphase.

J

R

M

N

X

O

N’

Abb. 4

Die dritte Periode ist definitiv. In dieser oder jener Weise, in irgendeinem Grade ist die Fantasie rationalisiert, aber diese Rationalisierung kann in verschiedenem Sinne vor sich gehen: 1. Die schöpferische Fantasie verfällt, die Kurve M–N senkt sich schnell zur Abszisse, ohne sie jedoch zu erreichen. Das ist der allgemeinste Fall, von dem die wirklich fantasiebegabten eine Ausnahme machen. Die Fantasie geht zurück, verschwindet indes bei keinem Menschen vollständig.

129

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

2. Die Fantasie bleibt erhalten, unterliegt aber Umformungen. Sie passt sich rationellen Bedingungen an, sie ist aber nicht mehr reine Fantasie, sondern eine Mischform (in der Zeichnung ist das angedeutet durch die enge Parallelität der beiden Linien M–N = Fantasie, und X–O = Vernunft).43

130

In der dritten Phase zeichnet sich also eine klare Scheidung ab. Einerseits geht die Fantasie, in der geistigen Funktion des Denkens das sinnbildlich-anschauliche Denken speisend, eine enge Verbindung mit dem logisch-begriff‌lichen Denken ein und führt so im logisch-rationalen Welt­er­leben, je nach dem Überwiegen der einen oder anderen Funktion, in der freien Betätigung zu mehr künstlerischer oder mehr wissenschaftlicher Aktivität (worunter jede Art aktiver oder passiver Anteilnahme an künstlerischer oder wissenschaftlicher Lebensgestaltung zu verstehen ist). Andererseits aber ist im Auseinandertreten der Fantasie und der Vernunft die weitaus häufigere Möglichkeit aufgezeigt, dass das Denken sich in rein logisch-begriff‌lichen Bahnen bewegt, die Fantasie jedoch zu einer weniger aktiven, zu ihrer Wirksamkeit des besonderen Anstoßes bedürfenden, in ihrer Wirkungsweise dann allerdings der infantilen bzw. primitiven Fantasie sich wiederum annähernden Form herabsinkt. Demnach ist also die weitaus größte Zahl von Menschen auch im Bereich der logisch-rationalen Kultur aufgrund der aufgezeigten Fantasieentwicklung im Falle der erforderlichen Einwirkungen psychisch für ein magisches Welt­er­leben disponiert. Die aufgezeigte Parallelität zwischen der historischen Entwicklung von vorwiegend magischem zu vorwiegend rationalem Welt­ er­leben und der psychischen Entwicklung des Einzelmenschen zeigt sich jedoch nicht nur in der speziell herausgegriffenen Fantasieentwicklung, sondern ganzheitlich im menschlich-psychischen Entwicklungsverlauf. Das Kind lebt – der neueren Jugend- und Entwicklungspsychologie zufolge – in einer anderen Welt als die Erwachsenen, es ist mit seiner ganzen Innerlichkeit noch in die Menschen und Dinge der Umgebung, die es bemerkt, hineinverflochten, es stellt sich ihnen noch nicht bewusst gegenüber als ein Wesen für sich, wenn es auch schon den Kontrast seiner naiv beseelenden, triebhaf‌ten Einstellung gegen den »realen« Weltlauf und die Forderungen der Erwachsenenwelt erlebt. Für das Knabenalter ist eine frische, nach außen gewandte kindliche Realistik bezeichnend. Außenwelterkenntnis wird durch bewusstes Fragen und Forschen gesucht, typisch ist das Erwachen technischer Interessen. Der Mensch in 43 Vgl. Ribot 1902,  116  ff.

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

dieser Epoche seiner Entwicklung ist schon Realist, aber mit der eigentümlichen Beschränkung auf die Gegenstände, welche die kindliche Welt ausmachen. Die Reifezeit wird durch drei Hauptmerkmale gekennzeichnet: durch die Entdeckung des ICH, durch die allmähliche Entstehung eines Lebensplanes und das Hineinwachsen in die einzelnen Lebensgebiete.44 Diese Parallelität zwischen allgemein-ontogenetischer und historisch-phylogenetischer Stufung und gleichzeitig die Möglichkeit, dass auch im erwachsenen Menschen infantile Funktionsweisen – ein »Kind im Manne« – erhalten und wirksam sind, zeigt, dass also auch dem erwachsenen Kulturmenschen ein primitives oder magisches Welt­er­leben möglich ist, wie sich ein solches in der Betrachtung historischer Erscheinungsformen darstellte. Die weiter oben unter vorwiegend volkskundlichem Gesichtspunkt entwickelte, allgemein-psychologische Betrachtung der des Welt­innewerdens fundierenden und besonders beeinflussenden seelischen Funktionen zeigt jedoch weiterhin, dass auch abgesehen von diesen entwicklungspsychologischen Tatsachen, oft auch nur geringfügige, vom ICH kaum erfassbare Verschiebungen oder Wertigkeitsveränderungen innerhalb der im Integrationszusammenhang stehenden seelischen Wirksamkeiten genügen, um ein seinem Wesen nach magisches Welt­er­leben entstehen zu lassen.

Vertikale Sicht: Die Beziehungen zwischen dem ICH und den innerseelischen Wirksamkeiten Die bisherigen Ausführungen zeigten die allgemein-psychologischen Möglichkeiten zur Fundierung wesenhaft magischen Welt­er­ lebens innerhalb des jedem Welt­er­leben zugrunde liegenden Welt­ innewerdens unter dem Aspekt der Beziehungen »Subjekt – Ob­ jekt« bzw. »Seele – Welt«, also gewissermaßen in horizontaler Sicht. Weitgehend unberücksichtigt blieben dabei alle diejenigen auf das Welt­er­leben wirkenden Einflüsse, welche bisher als innerseelische Triebe, Regungen oder Gefühle bezeichnet wurden, m. a. W alle diejenigen seelischen Eigenschaf‌ten und Wirksamkeiten, welche z. B. ein Überdecken von Wahrnehmungen durch subjektive Vorstellungen usw. begünstigen. Es muss also – im Sinne des in der neueren Psychologie sich immer mehr durchsetzenden Schichtgedankens – zu der horizontalen Sicht die das seelische Leben für sich betrachtende vertikale Sicht treten, welche dann 44 Vgl. Tumlirz 1930,  14  f.

131

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

132

vor allem auch das Verhältnis der verschiedenen Wirksamkeiten zueinander aufzuzeigen hat. Betrachtet man den psychophysischen menschlichen Organismus in seiner Gesamtheit, so zeigt sich, dass er alle Lebensfunktionen, angefangen von der organisch-vegetativen Sphäre bis zu der – gewissermaßen die Spitze der Lebenspyramide bildenden – ICH-Funktion, umfasst. Es erscheint damit aber auch nach dem bisher über den Unterschied zwischen logisch-rationalem und magisch-mystischem Welt­er­leben Gesagten sofort als klar, dass die die letztere Art des Welt­er­lebens fördernden Faktoren in den Tiefenschichten zu suchen sind. In den Tiefenschichten vollzieht sich jene der magischen Erlebnisweise ähnliche Verbindung zwischen Seele und Welt, von hier auch wirken aufgrund dieser, vom ICH nicht wahrgenommenen Verbindung die ein magisches Welt­er­ leben fördernden Wirksamkeiten innerseelisch im Sinne des Integrationszusammenhanges nach oben. Als die tiefsten psychologisch erfassbaren Schichten kann man das Animalische (das »Tier im Menschen«) und das Infantile (das »Kind im Menschen«) bezeichnen. Beide beeinflussen die mehr oder weniger vollmenschlich entwickelte personale Oberschicht. Doch andererseits läuft natürlich auch dort, wo das ICH-Erleben funktioniert, dieses tiefenschichtliche Erleben »nicht etwa nur in einer dunklen Tiefe für sich und in sich weiter, sondern es läuft ‌mindestens auch durch das ICH-bewusste Erleben hindurch« 45. Es ergibt sich so ein ständiges Zusammen- und Widerspiel zwischen tierischem und menschlichem Erleben und damit eine wechselweise Beeinflussung des Welt­er­lebens. Im Gegensatz zum Tierischen besitzt der Mensch Geist, d. h. »Sachlichkeit, Bestimmbarkeit durch das Sosein von Sachen selbst«. Somit kann sich der Mensch unbegrenzt »weltoffen« verhalten, während alles dem Tier Erfassbare »in den sicheren Zäunen und Grenzen seiner Umweltstruktur liegt«. »Mensch und Tier gemeinsam ist das Bewusstsein (im Gegensatz zur Pflanze), Selbstbewusstsein besitzt der Mensch allein« 46 ‌. Von entscheidender Bedeutung für den jeweiligen Charakter des Welt­er­lebens sind jedoch erst die im Bereich des spezif‌isch menschlichen liegenden bzw. spezif‌isch menschlich wirkenden Schichten. Alle Erscheinungsformen magischen Welt­er­lebens sind schon ganz typisch menschlich, die Beeinflussungen aus der das Menschliche unterlagernden animalischen oder vegetativ-organischen Schicht also nur von sekundärer Bedeutung. 45 Rothacker 1941, 42. 46 Vgl. Scheler 1928, 48 und 50.

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

Anders die menschlich-infantile Schicht. Durch das Moment des Spieltriebes steht sie zwar in enger Verbindung mit dem Animalischen,‌47 andererseits fasst sie aber auch schon keimhaft alle dem entwickelten Normalmenschen zuzurechnenden psychischen Faktoren in sich zusammen. Ist der Unterschied zwischen Animalischem und Infantilem noch ein fundamentaler, so ist der zwischen Kind und Erwachsenem nur mehr ein entwicklungsmäßig gradueller (vgl. S. 127  ff .). Es ist dies der Unterschied, welcher sich aus dem Verhältnis der Emotionalschicht zur Personschicht (Rothacker) bzw. des endothymen Grundes zum personellen Oberbau (Lersch) ergibt.48 Grund und Oberbau stehen im Integrationszusammenhang, wobei je nach der diesbezüglichen Akzentuierung des jeweiligen Charakters, der Hauptakzent auf dem einen oder anderen liegen kann (Gefühls-, Verstands-, Stimmungs-, Willensmensch usw.). Hinsichtlich der Unterscheidung Kind / Erwachsener kann man jedoch ganz allgemein sagen: Das Kind lebt mehr aus den Regungen und Antrieben des endothymen Grundes, der Erwachsene dagegen mehr nach den Maximen des Oberbaus. Auf die beiden Arten des Welt­er­lebens angewandt, ergibt sich hieraus: Magisches 47 Vgl. Rothacker 1941, 43  f. Rothacker rechnet sie weitgehend dem animalischen ES zu. (Es ist jedoch zu bemerken, dass sich der Begriff des ES, wie er in dieser Arbeit bisher verwendet wurde, mit dem von Rothacker nicht deckt. Dort umfasst er innerhalb der seelischen Gesamtstruktur im Sinne einer Schicht einen Bereich psychischer Möglichkeiten, während er hier für das Insgesamt aller auf das ICH im Sinne eines magischen Welt­er­lebens wirkenden Einflüsse steht.) 48 Der Oberbau umfasst dabei die ICH-gesteuerten Funktionen des Denkens und Wollens. Ihm steht im endothymen Grund eine andere Gruppe von Erlebnissen gegenüber, »bei denen die seelischen Vollzüge und Gehalte nicht vom ICH eingeleitet, in Gang gebracht, überschaut und gesteuert werden, sondern die aus einem dunklen Bereich kommen, der unüberschaubar und unkontrollierbar ist wie das was unter der Erde liegt, denen also nach dem Zeugnis der Selbstbestimmung der Charakter der Untergründigkeit zukommt. Sie kommen aus einem Grund, der uns bewußt wird als die nicht mehr unterscheidbare Tiefe unseres seelischen Daseins. Aber nicht nur der Unterschied von Oben und Unten, sondern auch der von Außen und Innen, von Peripherie und Mitte ist charakteristisch für diese Erlebnisse. Denn sie sind in ihrer Untergründigkeit zugleich gegeben als Gehalte eines inhaltlich qualifizierten, zuständlich getönten, subjektiven Kerns, als Gehalte des Zumuteseins, als Erfahrungen eines intimen Beisichseins der Seele. Sie haben, so wollen wir sagen, endothymen Charakter. […] Hierher gehören vor allem diejenigen seelischen Vorgänge und Zustände, die wir als Affekte, Gemütsbewegungen, Gefühle, Stimmungen und Leidenschaf‌ten zu bezeichnen gewöhnt sind, desgleichen aber auch die Triebe, Begierden und Strebungen« (Lersch 1948 b, 46). Vgl. zum Folgendem auch ebd., 45  ff.

133

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

134

Welt­ er­ leben setzt einen weitgehend autoritativen endothymen Grund voraus. Von logisch-rationalem Welt­er­leben dagegen kann man dort sprechen, wo die Gefühle und Strebungen des endothymen Grundes durch logisch-rational orientiertes Denken des Oberbaus verarbeitet oder anerkannt oder ihm entsprechend sind bzw. wo der Wille sie geformt oder der gedachten Idee untergeordnet hat. In einem Falle also ein Überwiegen des Grundes, im anderen ein Einbeziehen des Endothymen in das Personelle. Die Bedeutung gerade dieses Einbeziehens der Gefühle und Bestrebungen – im Sinne der für logisch-rationales Welt­er­leben typischen, auf den Sinn der Welt-an-sich gerichteten Ratio – zeigt sich besonders deutlich im Vollzuge der im endothymen Grunde wurzelnden, im personellen Oberbau aber erst zur Entfaltung und Bedeutung kommenden Wirksamkeiten der noëtischen, religiösen und ästhetischen Gefühle. So äußert sich die Wirksamkeit der Denkfunktion z. B. in den noëtischen Gefühlen des Staunens, des Zweifelns usw. Das religiöse Erleben andererseits bleibt magisch, solange es nicht in den Oberbau ragt. Und ebenso bleibt das künstlerische Erleben unvollständig, solange es nicht – verankert im Oberbau – nach Sinngehalten sucht, sondern – vom endothymen Grund bewegt und bestehend durch ihn – nur an äußeren Bedeutungsgehalten haf‌ten bleibt. »Die Sinnwerte erst sind es, die den Menschen über die Stufe des individuellen Daseins erheben und ihm das verleihen, was wir Existenz nennen. Existenz hat der Mensch erst dadurch, daß er hinausdrängt über den Gesichtskreis der rein individuellen Bedeutungswerte einer Umwelt und sein Leben einstellt in den Horizont einer Welt« 49. In den Bereichen magischen Welt­er­lebens sehen wir ein Überwiegen der individuellen Umwelt-Bedeutungswerte,50 im logisch-rationalen Welt­er­leben dagegen eine von Sinngehalten erfüllte und von einer Idee getragene Welt. Für den psychologischen Aspekt des magischen Welt­er­lebens wird diese Tatsache dadurch bedeutungsvoll, dass sie zeigt, wie im logisch-rationalen Welt­er­leben Elemente des magischen Welt­er­lebens bzw. – strukturpsychologisch ausgedrückt – Wirksamkeiten des endothymen Grundes durch den personellen Oberbau verarbeitet und in solch umgewandelter Form Teile echt logisch-rationalen Welt­er­lebens werden können, wie sich dies schon an dem Phänomen des sinn49 Ebd., 98. 50 Die Individualität bzw. Subjektivität solcher Umwelt-Bedeutungswerte zeigt sich bei allgemeiner Verbreitung darin, dass die Erscheinung der Umwelt ihre Bedeutung nur und allein durch ihre individuelle Beziehung zu dem oder den Erlebenden gewinnen, so z. B. in den Sonnenmythen (vgl. S. 53  f.).

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

bildlich-anschaulichen Denkens zeigte. In beiden Fällen handelt es sich nur um eine verschiedene Wertigkeit der funktionell jeweils gleichen Schichten. Wie jedoch die einzelnen seelischen Funktionen nur theoretisch als unbeeinflussbare Einzeltatsachen betrachtbar sind, so ist auch die Scheidung der Schichten – und damit zwischen endothymem Grund und personellem Oberbau – eine der Erkenntnis dienende, rein theoretische. Innerhalb des integrierten organischen Ganzen sind es jedoch vorwiegend einige Wirksamkeiten, gerade des endothymen Grundes, welche das Zustandekommen eines magischen Welt­ er­ lebens befördern. Im Zusammenhang mit den offensichtlichen Erscheinungsformen magischen Welt­er­ lebens (vgl. S. 87  ff .) sind hier besonders die Erregungsformen des Lebensgefühls, die Affekte zu benennen: Aufregung, Angst usw. »Im Bewußtseinsbereich der Vorstellungen äußert sich der Bewegungssturm der Aufregung als eine Störung des geordneten Vorstellungs- und Denkverlaufes, als Ausschaltung aller Zielvorstellungen« 51. Die Angst andererseits »ist eine Form des Lebensgefühls, die sich unter einem Abbau der willensmäßig-noëtischen Persönlichkeitsschicht vollzieht; die Welt entschwindet in der Angst dem Bewußtsein als ein Bereich überschaubarer Zusammenhänge und geordneter Beziehungen« 52. Innerhalb der Bereiche der gerichteten Gefühle (Du-Gefühle) gehören hierher die Gefühle der Überwältigung (Erschrecken, Entsetzen, Grauen) und die Schicksalsgefühle (Erwartung, Hoffnung, Furcht, Verzweif‌lung). Strebungen (Genuss- und Machtstreben, sexuelle Begierde, Erlebnisdrang usw.), welche im Vollzuge des realen Lebens nicht zu der ihrer Dynamik entsprechenden Entfaltung kommen, können in Form von Wunschfantasien – gesteigert bis zu Illusionen und Sachträumen – das Welt­er­leben phänomenal magischer Weise beeinflussen und subjektivieren. Die zu magischem Welt­er­leben drängende Wirksamkeit dieser endothymen, in jedem seelischen Organismus gegebenen Faktoren ist jedoch auch immer abhängig von deren Stärke und Intensität, d. h. von der Struktur des Gesamtcharakters. So können sie auch durch wirksamere andere Faktoren des endothymen Grundes, z. B. durch ein ihnen entgegenwirkendes Lebensgefühl (z. B. heitere oder lustige Lebensgrundstimmung), durch starkes Selbstgefühl (z. B. starkes Eigenmacht- oder Selbstwertgefühl), durch sie zurückdrängende Strebungen oder überhaupt durch die Funktionen des Oberbaus ganz oder teilweise kompensiert werden. Der in 51 Lersch 1948 b, 70. 52 Ebd., 71.

135

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

diesem Falle den Charakter bestimmende seelische Faktor gegensätzlicher Art rückt damit den ein magisches Welt­er­leben bzw. dessen Zustandekommen befördernden Faktor in die Peripherie des seelischen Erlebnisbereichs. Er wird relativ unwirksam.53 Das Zustandekommen wesenhaft magischen Welt­er­lebens lässt sich, wie sich im vorigen Abschnitt zeigte, allgemeinpsychologisch untersuchen und dahingehend bestimmen, dass bestimmte Funktionen des Weltinnewerdens andere Funktionen überdecken, d. h. dass die ersteren überwertig werden. Diese Überwertigkeit aber beruht vorwiegend auf dem von der innerseelischen Struktur abhängigen Verhältnis vom endothymen Grund zum personellen Oberbau bzw., innerhalb des von ihnen umrissenen seelischen Gesamtorganismus, auf dem bestimmenden Einfluss bestimmter hervortretender Wirksamkeiten, besonders des endothymen Grundes. Die Intensität dieser Wirksamkeiten und damit die jeweilige psychische Disposition für ein phänomenal magisches Welt­er­leben ist damit weitgehend von der Struktur des Charakters, d. h. von dem Verhältnis der einzelnen Funktionen und Wirksamkeiten zueinander, abhängig. Die psychischen Ursachen für das Zustandekommen eines magischen Welt­er­lebens können also zweifacher Art sein: außerseelische Einflüsse und innerseelische, vorwiegend vom Charakter bestimmte Disposition.

Der tiefenpsychologische Gesichtspunkt

136

Für eine Unterschung des Zustandekommens wesenhaft magischen Welt­er­lebens ist im Bereich der individuellen Psychologie neben der vorstehenden charakterologischen Sicht, welche weiter unten noch weitergeführt werden soll, weiterhin auch die, den seelischen Organsimus gleichsam auch im vertikalen Auf‌bau betrachtende, Tiefenpsychologie von großer Bedeutung. Ausgehend von dem alles Seelenleben durchziehenden Dualismus bewusst/­un­be­wusst 54 nimmt die Tiefenpsychologie bzw. (in Benennung nach ihrer Ar­ beits­methode) die Psychoanalyse gleichsam in Form einer das bewusste Seelenleben unterlagernden Schicht (welche nach dem bisher Gesagtem als innerhalb der vom Animalischen einerseits und 53 Vgl. zur Bedeutung der einzelnen für die seelischen Wirksamkeiten hier verwendeten Begriffe Lersch, 1948 b. 54 »Verhaltungen, die wir nicht mit wachem Bewußtsein begleiten oder steuern, nennen wir unbewußte. […] Alle in und an der Gesamtpersönlichkeit sich abspielenden Vorgänge, die weder vom wachen Bewußtsein mitvollzogen oder gesteuert sind, sind unbewußt« (Rothacker 1941, 8).

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

vom Endothymen andererseits begrenzten Sphäre anzunehmen wäre) ein vom bewussten ICH nicht steuer- oder kontrollierbares, unbewusstes Potential seelischer Möglichkeiten an, welches das seelische Leben weitgehend bestimmend beeinflusst. Ist nun einmal sowohl beim Kinde als auch beim primitiven, ganz im magischen Welt­er­leben befangenen Menschen bei geringer Entwicklung der eigenständigen Persönlichkeit – und damit des Bewusstseins – das unbewusste Erleben ein hervorstechendes Zeichen des allgemeinen Welt­er­lebens, so erscheint es andererseits – im Sinne des Schichtgedankens – auch als selbtsverständlich, dass auch das Unbewusste an sich (im Sinne der Tiefenpsychologie) vorwiegend in Richtung eines magischen Welt­er­lebens auf das bewusste ICH wirken muss. Wie aber gestaltet sich nun dieser Einfluss? Am deutlichsten wird er im Falle der sog. Neurose, d. h. der vom Unbewussten – aufgrund seiner Ignorierung vom Bewusstsein – verursachten Störung des Seelenlebens. Die Neurose ist eine Krisenerscheinung in der Auseinandersetzung zwischen bewusstem ICH und unbewussten innerseelischen Wirksamkeiten. Freud, nach dessen Konzeption vom Unbewussten (und dessen Wirksamkeit) die Neurose von der – vor allem in der durch kleines Eigenbewusstsein ausgezeichneten Kindheit – durch die Erziehung beförderte Verdrängung von libidinösen, d. h. triebhaft-­ sexuellen Regungen ins Unterbewusstsein (bzw. ins Unbewusste) hervorgerufen wird, hat einige Erscheinungen primitiv-magischen Welt­er­lebens hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit Erscheinungsformen der Neurose unter dem Gesichtspunkt der Psychoanalyse untersucht.55 Die seiner Theorie zugrunde liegende These von dem bestimmenden Einfluss der Libido 56 bestimmt auch hier den Gang der Untersuchung. 55 Vgl. Freud 1924. 56 Die »Libido«, der Sexualtrieb, ist nach Freud die das Unbewusste bewegende und damit auch die das ganze seelische Leben bestimmende Kraft. Alle seelischen Vollzüge lassen sich in ihren Antrieben letzten Endes auf sie zurückführen. Sie muss entweder in ihrer urtümlichen Form ausgelebt werden, oder aber sie kann (in Form von künstlerischer oder geistiger Tätigkeit usw.) »sublimiert« werden. Neurosen sind auf eine Verletzung dieses Triebes zurückzuführen bzw. auf seine »Verdrängung«. In der onto- wie auch phylogenetischen Entwicklung sind die Phasen durch die verschiedenen Auswirkungen dieses Triebes gekennzeichnet: Autoerotismus (= keine auch nur geringfügige Unterscheidung zwischen Ich und Umwelt, umfasst also die eigene Person und alle Objekte der Erlebniswelt gleichermaßen), Narzissmus (= die »bereits zu einer Einheit zusammengefassten, vorher vereinzelten Sexualtriebe« konzentrieren sich auf das Objekt des »um diese Zeit konstituierten ICH«), inzestiöse Periode ( = die Objekte der sexuellen Wahl liegen außerhalb des ICH, aber noch innerhalb des von den nächsten Blutverwandten gebildeten Personenkreises.

137

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

Nach Freud ist z. B. die im Bereich der Totemgemeinschaf‌ten zu beobachtende Exogamie, d. h. das Gesetz, dass das Mitglied eines Klans oder einer Totemgemeinschaft nur das Mitglied eines anderer Klans bzw. einer anderen Totemgemeinschaft heiraten darf, ein Beweis für die Inzestscheu dieser entwicklungsmäßig auf infantiler Stufe stehenden und damit im Bereich der durch bewusste Gesetze noch nicht verdrängten allumfassenden Sexualität lebenden Menschen,57 welche »die zur späteren Unbewusstheit bestimmten Inzestwünsche des Menschen noch als bedrohlich empfinden und der schärfsten Abwehrmaßregeln für würdig halten« 58. Der Neurotiker, bei dem die Inzestwünsche wieder aktuell werden, ist demnach durch einen gewissen, entweder durch Entwicklungshemmungen oder Regression entstandenen Infantilismus bzw. Primitivismus ausgezeichnet. Eine andere Parallele besteht zwischen dem aus magischem Welt­er­leben stammenden Begriff des Tabus (vgl. S. 65) und dem Phänomen der Berührungsphobie, der krankhaf‌ten Berührungsangst. Die Berührungsangst des Neurotikers aber ist, nach Freud, eine der in ganz früher Kindheit verdrängten starken Berührungslust entgegengesetzte, für das logisch-rationale Bewusstsein unverständliche Übersteigerung.59 Hieraus ergibt sich nun für das Problem des Welt­er­lebens einmal, dass im Sinne der Parallelität von Onto- und Phylogenese das Tabu unter dem Gesichtspunkt der Psychoanalyse ein »von außen (von einer Autorität) aufgedrängtes und gegen die stärksten Gelüste der Menschen gerichtetes Verbot« 60 ist, zum anderen aber ergibt sich, dass – wie die Beispiele zeigten – beim Neurotiker wie beim Primitiven die faktische Realität durch die psychische überdeckt wird. In einem Vergleich zwi-

138

Starke Bindung an die Eltern, Ödipuskomplex) und Reifezeit (= das voll entwickelte Individuum sucht unter Verzicht auf das Lustprinzip sein Objekt in der Außenwelt). 57 Das Denken ist »bei den Primitiven noch im hohen Maße sexualisiert« (Freud 1924, 110). 58 Ebd., 25. 59 Klinische Geschichte eines Falles von Berührungsangst: »In ganz früher Kindheit äußert sich eine starke Berührungslust, deren Ziel weit spezialisierter war, als man geneigt wäre zu erwarten (Berührung der Genitalien). Dieser Lust trat alsbald ein Verbot von außen entgegen, gerade diese Berührung nicht auszuführen. Das Verbot wurde aufgenommen, denn es konnte sich auf starke innere Kräf‌te stützen (auf die Beziehungen zu der geliebten Person, von der das Verbot ausging); es erwies sich stärker als der Trieb, der sich in der Berührung äußern wollte. Aber in Folge der primitiven psychischen Konstitution des Kindes gelang es dem Verbot nicht, den Trieb aufzuheben. Der Erfolg des Verbotes war nur, den Trieb – die Berührungslust – zu verdrängen und ihn ins Unbewusste zu verbannen« (Ebd., 39).

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

schen Phylo- und Ontogenese entspräche dann im Sinne Freuds (vgl. S. 137 Anm. 56) der primitivsten Stufe der Autoerotismus, der Stufe des magischen Welt­er­lebens der Narzissmus, der Stufe des Polytheismus die inzestuöse Periode und dem logisch-rationalen Welt­er­leben die Reifezeit. Auf die Mängel, an welchen die Konzeption Freuds durch ihr einseitig verallgemeinerndes Beziehen aller Äußerungen seelischen Lebens auf den Sexualtrieb leidet, braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Für das Verhältnis zwischen magisch-mystischer und logisch-rationaler Erlebnismöglichkeit im voll entwickelten Normalmenschen aber ergibt sich aus dieser psychoanalytischen Untersuchung, die die aus der Praxis am neurotischen Normalmenschen gewonnenen Erfahrungen und die aus ihnen abgeleitete Theorie auf Phänomene des primitiven, vorwiegend magisch beeinflussten Seelenlebens anwendet, ganz allgemein Folgendes: Strebungen und Erlebnisse, die aufgrund bewusster eigener oder fremder Setzungen oder Verbote im Vollzuge des realen Lebens nicht zu der ihrer Dynamik und Tendenz entsprechenden Entfaltung kommen, können nicht nur das Welt­er­leben in Form von Illusionen usw. subjektivieren (vgl. S. 135), sondern auch in das Unbewusste verdrängt werden und dort latent wirksam sein. Je mehr Strebungen und Erlebnisse in das Unbewusste verdrängt werden, desto mehr verdichtet sich die ständige Auseinandersetzung zwischen Bewusstsein und Unbewusstem zum Konflikt. Das Bewusstsein wird in seiner Funktion vom Unbewussten mehr und mehr beeinträchtigt, bis zu einer aus der Verdrängung resultierenden und mit ihrer Tendenz in Zusammenhang stehenden Neurose, in der das Unbewusste dominiert. Das Unbewusste zeigt sich somit als eine ständig wirksame und im Falle der Neurose oberwertig werdende seelische Potenz. Andererseits wiederum aber zeigen sich in der Neurose offensichtliche Parallelen zwischen neurotischer und primitiv-magischer Erlebnisweise (Überdeckung der autoritativ gegebenen, zum logisch-rationalen Welt­er­leben führenden Verbote durch weniger auf faktischen als auf psychischen Realitäten beruhende Gedankengängen, ferner assoziativer Verstellungsverlauf usw.), woraus sich ergibt, dass im Unbewussten auch beim gesunden Normalmenschen eine dem logisch-rationalen Welt­er­ leben entgegengesetzte Erlebnisweise unterschwellig, d. h. in vom 60 Ebd., 45. Im Sinne der in dieser Arbeit durchgeführten Untersuchung der beiden Arten von Welt­er­leben und den aus ihnen resultierenden Einstellungen handelt es sich bei dem Tabu-Verbot demnach um erste zweckrationale Gebote, welche wiederum eine erste rationale Einstellung fordern.

139

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

140

bewussten ICH unkontrollierbarer Form, immer wirksam ist. In der von allen Schichten des lebendigen Organismus hergestellten Verbindungen »Mensch – Welt«, die alle wiederum in ihren Reaktionen sich in der Verbindung »Seele – Welt« treffen, spielt also das Unbewusste für das Zustandekommen eines wesenhaft magischen Welt­er­lebens eine bedeutende Rolle.61 Weit deutlicher als bei Freud wird das Verhältnis zwischen Unbewusstem und Bewusstsein in der wesentlich umfassenderen Konzeption C. G. Jungs. Während bei Freud der Sexualtrieb das Vorherrschende ist und das Unbewusste nur die verdrängten Tendenzen dieses Triebes von frühester Kindheit an gewissermaßen aufspeichert, umfasst der Begriff des Unbewussten bei Jung darüber hinaus eine eigenartige, dem Bewusstsein entgegengesetzte Erlebens- und Vorstellungsweise. Das Unbewusste in der Konzeption Jungs ist geteilt in ein »persönliches Unbewusstes«, das ungefähr dem Begriff des Unbewussten bei Freud entspricht, und in ein dieses gewissermaßen noch unterlagerndes »kollektives Unbewusstes«, welches mit urtümlichen Bildern, sog. Archetypen, auf das Bewusstsein wirkt. Das persönliche Unbewusste reicht also entwicklungsgeschichtlich bis zu den frühesten Infantilerinnerungen, das kollektive Unbewusste dagegen »enthält die Präinfantilzeit, d. h. die Reste des Ahnenlebens. Während die Erinnerungsbilder des persönlichen Unbewußten gewissermaßen ausgefüllte, weil erlebte Bilder sind, sind die Archetypen des kollektiven Unbewußten unausgefüllte, weil vom Individuum nicht persönlich erlebte Formen. Wenn hingegen die Regression der psychischen Energie, selbst über die frühinfantile Zeit hinausgehend, in die Spuren der Hinterlassenschaf‌ten des Ahnenlebens einbricht, dann erwachen mythologische Bilder: die Archetypen. Eine geistige Innenwelt, von der wir zuvor nichts ahnten, tut sich auf und Inhalte erscheinen, die vielleicht in schärfstem Kontrast zu unseren bisherigen Auf ‌fassungen stehen« 62. Bei den so produzierten mythischen Bil61 Für das Problem des Wesensbegriffes der beiden Arten des Welt­er­lebens (vgl. S. 79  ff.) ist die Untersuchung Freuds also insofern von Interesse, als sie deutlich aufzeigt, dass auch in der primitiven, triebbeherrschten Schicht bzw. auf der ihr entsprechenden Entwicklungsstufe der Menschheit logisch-rationale Setzungen entstehen bzw. wirkungsvoll sind. 62 Jung 1943, 139  f. »Das kollektive Unbewußte«, sagt Jung an anderer Stelle (»Die Struktur der Seele«), »scheint, soweit wir uns überhaupt ein Urteil darüber gestatten dürfen, aus etwas wie mythologischen Bildern oder Motiven zu bestehen, weshalb die Mythen der Völker die eigentlichen Exponenten des kollektiven Unbewußten sind. Die gesamte Mythologie wäre eine Art Projektion des kollektiven Unbewußten. Am deutlichsten sehen wir dies am ge-

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

dern handelt es sich jedoch nicht um eine Vererbung von Vorstellungen, sondern nur von der »Möglichkeit des Vorstellens« 63. Im kollektiven Unbewussten ist demnach im Normalmenschen prinzipiell die Möglichkeit angelegt, innerseelische mythische Bilderlebnisse zu haben, d. h. es ist ganz allgemein durch eine derartig mögliche innerseelische Beeinflussung psychisch die Möglichkeit wesenhaft magischen Weiterlebens gegeben. Jung geht also in der Theorie vom kollektiven Unbewussten aus von dem Gedanken, dass im Sinne der Parallelität von Onto- und Phylogenese alle im Laufe der Entwicklung bzw. noch im heutigen Leben unserer Kultur erzeugten bzw. noch mehr oder weniger nachwirkenden Vorstellungen potenziell auch in jedem Menschen vorhanden sind, dass also somit auch in jedem Einzelmenschen prinzipiell beide Möglichkeiten des Welt­er­lebens, die des magischen wie die des logisch-rationalen, gegeben sind, je nachdem, ob das Welt­er­leben in seinen Funktionen mehr vom Bewusstsein oder mehr vom Unbewussten beeinflusst oder gesteuert wird. Das magische Welt­er­leben steht demnach in seiner innerseelischen Beeinflussung in Abhängigkeit vom kollektiven Unbewussten. Der Primitive kann – nach Jung – nicht behaupten oder denken, sondern »er denkt in ihm«. Die Spontaneität des Denkaktes liegt nicht kausal in seinem Bewusstsein, sondern bei seinem Unterbewussten. Er ist auch keiner bewussten Willensanstrengung fähig, sondern er muss sich zuvor in die Stimmung des Wollens versetzen oder versetzen lassen: daher seine »rites d’entrée et de sortie«. Sein Bewusstsein ist bedroht von einem übermächtigen Unbewussten, daher die Furcht vor magischen Einflüssen, welche jederzeit seine Absicht durchkreuzen können, und darum ist er auch umgeben von unbekannten Mächten, denen er sich auf irgendeine Weise anzupassen hat. Bei dem chronischen Dämmerzustand seines Bewusstseins ist es öfter fast unmöglich, herauszufinden, ob er etwas geträumt hat oder in Wirklichkeit erlebt hat. Die Selbstmanifestation des Unbewussten mit seinen Archetypen greift überall in das Bewusstsein über und die mythische Welt der Ahnen ist eine der materiellen Natur ebenbürtige, wenn nicht überlegene Existenz. Nicht die Welt, wie wir sie kennen, spricht aus seinem Unbewussten, sondern die unbekannte Welt der Psyche, von der stirnten Himmel, dessen chaotische Formen durch Bildprojektionen geordnet wurden. Daraus erklären sich die von der Astrologie behaupteten Gestirneinflüsse: sie sind Nichts anderes als unbewußte introspektive Wahrnehmungen der Fähigkeit des kollekiven Unbewußten. So wie die Konstellationsbilder an den Himmel projiziert wurden, so wurden ähnliche und andere Figuren in Legenden und Märchen oder auf historische Personen projiziert«. 63 Vgl. ebd., 119.

141

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

wir wissen, dass sie nur zum Teil unsere empirische Welt abbildet, und dass sie, zum anderen Teil, eben diese auch entsprechend der psychischen Voraussetzung formt.64 Derartige Vorstellungen aber sind nach der Theorie vom Unbewussten zwar graduell verschieden, ihrem Wesen nach jedoch gleichartig immer und bei jedem Menschen möglich. Sie können sich entweder in einer, wie Jung es nennt, »Assimilation« unbewusster Inhalte vollziehen, d. h. Bilder des kollektiven Unbewussten steigen in das Bewusstsein auf und werden dort wie bewusste Erlebnisinhalte verarbeitet,65 oder aber sie begründen sich auf eine »Identifikation« des bewussten Ich mit den unbewussten Inhalten, d. h. es wird an diese »dissimiliert«.66 Das bewusste Ich liefert sich in diesem Falle vollkommen an die Bilder und Regungen des kollektiven Unbewussten aus, der Mensch ist nicht nach eigenen Gesichtspunkten orientiert, sondern wird z. B. zum kritiklosen Anbeter einer Idee, zum »Jünger eines Propheten« 67 usw.

142

64 Vgl. Jung und Kerényi 1941, 108  f. 65 »Ich erinnere mich eines Geisteskranken, der weder ein Dichter noch sonst wie bedeutend war. Er war bloß eine stille Natur, ein etwas schwärmerisch veranlagter Jüngling. Er hatte sich in ein Mädchen verliebt, und, wie das so häufig geschieht, sich nicht genügend vergewissert, ob sie seine Liebe erwiderte. Seine primitive ›participation mystique‹ ließ ihn ohne weiteres annehmen, daß seine Ergriffenheit selbstverständlich auch die Ergriffenheit des Anderen sei, was auf den tieferen Stufen menschlicher Psychologie natürlicherweise der Fall ist. So baute er eine schwärmerische Liebesfantasie auf, die aber jäh zerbrach als er entdeckte, daß das Mädchen überhaupt nichts von ihm wissen wollte. Er war dermaßen verzweifelt, daß er geradewegs zum Flusse ging, um sich zu ertränken. Es war spät in der Nacht und die Sterne funkelten ihm aus dem Wasser entgegen. Es schien ihm als ob die Sterne in Paaren den Fluß hinunterschwömmen, und ein wunderbares Gefühl erfaßte ihn. Er vergaß seine selbstmörderische Absicht und starrte fasziniert auf das seltsam süße Schauspiel. Und allmählich wurde er gewahr, daß ein jeder Stern ein Gesicht war, und daß diese Paare Liebende waren, die, sich umschlungen haltend, träumend vorbeitrieben. So dämmerte ihm eine ganz neue Einsicht: Alles hatte sich gewandelt, auch sein Schicksal, seine Enttäuschung sowohl wie seine Liebe waren von ihm abgefallen, die Erinnerung an das Mädchen war fern und gleichgültig, dafür war ihm – er fühlte es deutlich – unerhörter Reichtum versprochen. Er wußte bereits, daß ein ungeheurer Schatz für ihn in der nahegelegenen Sternwarte verborgen lag. So kam es, daß er morgens um 4 Uhr beim Versuch in die Sternwarte einzubrechen von der Polizei verhaftet wurde« (Jung 1945 a, 42  f.). 66 »Ich gebrauche Assimilation in einem etwas erweiterten Sinne, nämlich als Angleichung des Objektes an das Subjekt überhaupt und setze ihr gegenüber die Dissimilation als Angleichung des Subjektes an das Objekt, und als Entfremdung des Subjektes von sich selber zu Gunsten des Objektes, sei es ein äußeres Objekt oder ein ›psychologisches‹ Objekt« (Jung 1940, 595). 67 »Neben der Möglichkeit, ein Prophet zu werden, winkt [in der Identifika-

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

Der Weg, der zur Überwindung dieser primitiven Erlebnisweisen und damit zu einem wesenhaft logisch-rationalen Welt­er­leben führt, der Weg, welcher in der Psychoanalyse durch den Therapeuten gewiesen wird, ist die Differenzierung 68 und Bewusstmachung der unbewussten Inhalte. »Jeder auch der kleinste Schritt vorwärts auf dem Pfade des Bewußtseins, schafft Welt, den sichtbaren und tastbaren Gott. Es gibt kein Bewußtsein ohne Unterscheidung von Gegensätzen. Das ist das Vaterprinzip des Logos, der sich in unendlichem Kampfe der Urwärme des mütterlichen Schoßes, eben der Unbewußtheit, entwindet« 69. Zu diesen unbewussten innerseelischen Wirksamkeiten treten im Vollzuge des Welt­er­lebens noch die Einflüsse der äußeren Objekte, welchen Komplex Jung unter dem Begriff der »Persona« zusammenfasst, während die bisher als innerseelisch bezeichneten Beziehungen bei ihm unter den Begriff der »Seele« fallen. Wie im seelischen Erleben das Ich mehr und mehr vom Unbewussten überragt werden kann, so kann es auch im Bereich der Persona sich an die äußeren Objekte dissimilieren usw. »So wie die Persona als Ausdruck der Anpassung an das Milieu in der Regel stark vom Milieu beeinflußt und geformt ist, so ist auch die Seele stark vom Unbewußten und dessen Qualitäten geformt. Wie die Persona in einem primitiven Milieu fast notwendigerweise primitive Züge annimmt, so übernimmt die Seele einerseits die archaischen Züge tion mit der Kollektivpsyche, H. A.] noch eine andere, subtilere und entscheidend legitimere Freude, nämlich die, Jünger eines Propheten zu werden. Dies ist für die Mehrzahl eine geradezu ideale Technik. Ihre Vorteile sind: das odium dignitatis, nämlich die übermenschliche Verpflichtung des Propheten, wird zu einem um so süßeren odium indignitatis, man ist unwürdig, bescheiden sitzt man dem ›Meister‹ zu Füßen und hütet sich vor eigenen Gedanken. Die geistige Trägheit wird zur Tugend, man darf sich der Sonne eines mindestens halbgöttlichen Wesens erfreuen. Der Archaisums und Infantilismus der unbewußten Phantasie kommt voll auf seine Rechnung ohne eigene Unkosten denn alle Verpflichtung ist auf den ›Meister‹ abgeschoben. Durch seine Verhimmlung wächst man, ohne es anscheinend zu bermerken, selber in die Höhe, und überdies hat man ja die große Wahrheit – nicht selber entdeckt – aber mindestens aus des Meisters eigenen Händen empfangen« (Jung 1945 a). 68 »Der Patient muß lernen, was Ich und was Nicht-Ich, d. h. Kollektivpsyche, ist. Dadurch gewinnt er den Stoff, mit dem er sich von diesem Moment an auf lange Zeit hinaus auseinandersetzen muß. Seine Energie, die vorher in untauglichen, pathologischen Formen angelegt war, hat damit ihr eigentliches Gebiet gefunden. Es gehört zur Unterscheidung des Ich und des Nicht-Ich, daß der Mensch in seiner Ich-Funktion auf festen Füßen steht, d. h. seine Pflicht gegenüber dem Leben erfüllt, so daß er in jeder Hinsicht ein lebensfähiges Glied der menschlichen Gesellschaft ist« (Jung 1943, 132  f.). 69 Jung in Eranos-Jahrbuch 1938, 430.

143

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

144

des Unbewußten, andererseits den symbolisch-prospektiven Charakter des Unbewußten. Daher stammt das ›Ahnungsreiche‹ und ›Schöpferische‹ der inneren Einstellung. Die Identität mit der Persona bedingt automatisch eine unbewußte Identität mit der Seele, denn wenn das Objekt, das Ich, ununterschieden ist von der Persona, so hat es keine bewußte Beziehung zu den Vorgängen des Unbewußten« 70. Der Weg zur individuellen Persönlichkeit, d. h. zum echten Repräsentanten logisch-rationalen Welt­er­lebens, ist nach Jung der Weg der »Individuation«. »Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichliche Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden. Man könnte ›Individuation‹ darum als ›Verselbstung‹ oder als ›Selbstverwirklichung‹ übersetzen.« 71 »Der Zweck der Individuation ist kein anderer als das Selbst aus den falschen Händen der Persona einerseits und aus der Suggestivgewalt unbewußter Bilder andererseits zu befreien.« 72 Die Struktur der Seele stellt sich demnach im Sinne Jungs folgendermaßen dar (vgl. Abb. 5) 73 : Der äußere Rand der oberen Hälf‌te des Diagramms stellt die »Persona« dar, die in beständigem Kontakt mit den Objekten der Außenwelt ist. Zu ihnen zählen in diesem Sinne nicht nur die tatsächlichen Wahrnehmungsobjekte, sondern auch außerseelische Satzungen, Konventionen usw. Die Persona überlagert das Bewusstsein, in dessen Brennpunkt das ICH steht. Das ICH kann aber auch, je nach seiner Abhängigkeit von äußeren bzw. inneren Einflüssen, mehr zur Persona oder mehr zum Unbewussten rücken, bis zur Identifikation mit dem einen oder anderen. Die Schwelle, die das Bewusstsein von dem es unterlagernden persönlichen Unbewussten trennt, ist relativ. Je zahlreicher die persönlichen Komplexe oder Verdrängungen sind, desto höher liegt sie. Die Grenze zwischen dem persönlichen und dem unpersönlichen Unbewussten dagegen ist feststehend und unveränderlich, und es ist dem Bewusstsein bzw. dem Willen nicht möglich, die Inhalte des Letzteren zu beeinflussen. Dem ICH im Bewusstsein entspricht in dem, im Rahmen der Gesamtstruktur ungefähr über die Hälf‌te sich erstreckenden, unpersönlichen oder kollektiven Unbewussten der »Schatten« – so genannt, 70 Jung 1940, 669. 71 Jung 1945 a, 91. 72 Ebd., 93. 73 Vgl. zum Folgenden besonders Jung 1940, 587  ff. und ders. 1931, 144  ff. sowie Corrie 1929, 11  ff.; ferner Jolande Jacobi, Die Psychologie von C. G. Jung. Eine Einführung.

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

weil er in den Träumen personifiziert wird durch eine gewissermaßen unterwertige, oft verzerrte Abbildung des Träumens. Der untere äußere, mit »Anima« bezeichnete Rand stellt eine Personifikation des Unbewussten dar, welche ausgleichend zur Persona wirkt und in ähnlichem Verhältnis zu den innerseelischen Objekten steht wie die Persona zu den Objekten der Umwelt. Sie ist in diesem kompensierenden Sinne, aufgrund der bisexuellen Anlage des Menschen, beim Manne weiblich und bei der Frau männlich (»Animus«). Die im Zentrum des Strukturschemas gelegene »Individualität« bezeichnet die keimhaft in jedem Menschen angelegte Möglichkeit, sich, gestützt auf die ICH-Funktion, innerhalb der ihm strukturell eigenen Möglichkeiten aus den Bindungen des persönlichen und kollektiven Unbewussten heraus und über die Grenzen der umweltbezogenen Persona hinaus zu einem einmaligen individuellen Wesen, zur Persönlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes zu entwickeln. ÄUSSERE OBJEK TE

I

IT

IND

DV

ÄT

PERSONA EGO

ID UAL

145

S

CH

AT T E

N

ANIM A ODER A NI MUS KO L TES LEK TIV ES UNBE WUSS Abb. 5

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

146

Die vorstehenden Hinweise können selbstverständlich nicht für sich in Anspruch nehmen, eine auch nur annähernd vollständige Darstellung der Psychologie C. G. Jungs gegeben zu haben. Worauf es ankam, war vielmehr lediglich darauf hinzuweisen, wie auch bzw. besonders auch nach dieser – unter weitgehender Berücksichtigung und Benutzung völkerpsychologischer Erkenntnisse – aus der psychotherapeutischen Praxis erwachsenen Theorie eine ihrem Wesen nach magische Erlebnisweise immer und bei jedem Menschen möglich ist und teilweise sogar als vorherrschend erscheint. Es zeigt sich somit, dass den aus den verschiedenen Erscheinungsformen magischen Welt­er­lebens gewonnenen phänomenologischen Wesensbegriffen im Bereich der individuellen Psychologie psychologische Wesensbegriffe entsprechen, dass weiterhin dem phänomenal magischen bzw. logisch-rationalen Welt­er­leben ganz bestimmte, im Bereich der Normalpsychologie liegende psychische Dispositionen entsprevchen, dass also beide Arten des Welt­er­lebens von der geschichtlichen Situation und der historischen Überlieferung bedingt unabhängig sind. Und so stellt auch das vorstehende Strukturthema nach Jung in gewissem Sinne eine gewisse Ergänzung zu den Diagrammen 1 bis 3 dar. Handelt es sich dort um anhand der Erscheinungsformen gewonnene unpersönliche, phänomenologische Tatsachen, so hier um eine durch individualpsychologische Beobachtung und Praxis am Einzelindividuum fundierte Theorie. Wurde dort gezeigt, wie sich – aufgrund der Emanzipation des ICH von den innerseelischen und Umwelteinflüssen – wesenhaft magisch-mystisches Welt­er­leben in wesenhaft logisch-rationales Welt­er­leben wandelt, so zeigen sich hier, am Schema der psychischen Struktur des voll entwickelten Normalmenschen, die diesem eigenen Möglichkeiten, diesen Wandel zu befördern oder zu hemmen. Je mehr hier die Individualität und das ICH entwickelt sind, d. h. je mehr das Letztere im Zentrum des Bewusstseins steht und je mehr die Erstere im Zusammenhang damit aus der Kollektivität zur Eigenständigkeit entwickelt ist, desto größer ist dort auch die Distanzierung, welche als die Emanzipation des ICH vom ES bezeichnet wurde, desto stärker ist die logisch-rationale Tendenz des Welt­ er­lebens. Andererseits aber stehen dieser Emanzipation neben allen anderen oben erwähnten psychischen Einflüssen auch die in jedem seelischen Organismus wirksamen Kräf‌te des persönlichen und des kollektiven Unbewussten mit ihrem Zuge nach Innen und die die Persona ansprechenden Umwelteinflüsse mit ihrem Zuge nach außen entgegen. Bewusstsein und Unbewusstes, personeller Oberbau und en­ dothymer Grund, eigenständiges ICH und innerseelische bzw.

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

Um­welteinflüsse: ICH und ES stehen im Vollzuge der Persönlichkeitsentwicklung in einem Verhältnis der Kompensation. Logisch-­rational orientiertes Welt­er­leben hat sich ständig magischer Einflüsse zu erwehren und findet seine eigenen Maße erst am Gegenüber des magischen Welt­er­lebens. Es ist dies ein polares Verhältnis, welches erst durch die ständige Anwesenheit und das Gegen­einanderwirken beider Pole Sinn und Wert erhält.

Persönlichkeitstypen Nach allem bisher aus dem Bereich der individuellen Psychologie Beigetragenen kann es als hinreichend sicher gelten, dass jeder Mensch eines magischen Welt­er­lebens fähig ist. Es bleibt aber noch die Frage offen, inwieweit über den Bereich der ein magisches Welt­er­leben begünstigenden äußeren Einflüsse hinaus eine dem magischen Welt­er­leben gegenüber positive Haltung allgemein oder nur vereinzelt anzutreffen ist. Es sei deshalb im Anschluss an die schon weiter oben (siehe S. 131  ff.) berührten charakterologischen Gesichtspunkte hier ergänzend noch auf für das Problem des magischen Welt­er­lebens wesentliche typologische Unterscheidungen hingewiesen. Von besonderem Interesse ist in diesem Sinne die von E. R . Jaensch, vorwiegend aufgrund experimenteller – besonders auch im Hinblick auf die eidetische Anlage vorgenommener 74 – Untersuchungen, nach naturwissenschaftlicher Methode unter dem Gesichtspunkt der Integration entwickelte, psychologische bzw. psychophysische Typologie. Er unterscheidet hierin zwei Hauptgruppen: integrierte und nicht- bzw. desintegrierte, d. h. seelische Strukturen, in welchen die einzelnen Funktionen sich wechselseitig durchdringen und ungetrennt zusammenwirken, und solche, in denen sie getrennt voneinander arbeiten und jede für sich eine unabhängige Einheit darstellt. Beide Gruppen liegen in ihrer gewöhnlichen Ausprägung in der Ebene des Normalen, während ihre Übersteigerungsformen zum Pathologischen überleiten. Für das Problem eines wesenhaft magischen Welt­er­lebens ist nach dem weiter oben, bei der horizontalen Sicht, Angeführten die Gruppe der Integrierten von besonderem Interesse. Innerhalb der Hauptgruppe der Integrierten stehen sich wiederum zwei Untergruppen gegenüber: Der nach außen integrierte J1-Typus und der rein nach innen integrierte bzw. die Übergangsform zu ihm, der J2-Typus; ferner gehören zu ihr der S-Typus, wel74 Vgl. Jaensch 1925.

147

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

148

cher eine Spezialform des J1-Typus ist, und der B-­Typus, welcher die Übersteigerungsform desselben darstellt. Gleichzeitig mit der Durchdringung der einzelnen seelischen Funktionen vollzieht sich weiterhin auch eine »starke Durchdringung von Subjekt und Objekt«, welche Jaensch als »Kohärenz« bezeichnet.75 In dem Integrationsprodukt, das durch diese Kohärenz von Subjekt und Objekt zustande kommt, überwiegt nun – nach Jaensch – beim J1-Typus durchaus das Objekt, beim Synästhetiker (= S-Typus) das Subjekt. An die Stelle der »Einfühlung« in Personen und Dinge tritt daher beim Synästhetiker die »Zufühlung«. Die Stimmung des J1-Typus richtet sich nach den äußeren Gegebenheiten und Sachverhalten, der Synästhetiker prägt seine Stimmung den äußeren Gegebenheiten auf und färbt sie mit dem Kolorit seines jeweiligen Seelenzustandes. In der Verbundenheit mit der Außenwelt, dem Kohärenzverhältnis zu ihr, das sowohl der J1-Typus wie der Synästhetiker hat, überwiegt beim J1-Typus das Hingegebensein und Aufnehmen, beim Synästhetiker das aktive Formen und Gestalten. Der J1-Typus ist »Rezeptionstypus«, der S-Typus »Projektionstypus«. Im Welt­er­leben des J1-Typus, der den Normalfall des Integrierten darstellt, treten also die Inhalte immer in Gestalt großer geschlossener Komplexe auf, entsprechend den Zusammenhängen und Komplexen des Wirklichen. Diese bleiben im Welt­er­leben des J1-Typus gewahrt. Das ist nicht der Fall beim Synästhetiker, bei dem, entsprechend dem Übergewicht der Subjektkomponente im Kohärenzverhältnis, das verbindende, Relationen stiftende Prinzip im Subjekt liegt. Aber nicht etwa in einer durchgehenden, von charaktervollem Wollen oder tiefem Fühlen gestifteten Linie, die sich hier bei der besonders großen Unstarrheit, Wandelbarkeit und Zerspaltbarkeit aller Erlebniskomplexe nie bilden kann. Diese Menschen haben unendlich feine Innenweltreflexe, Tausend Gefühlleben, aber kein Gefühl; und diese Innenweltreflexe stif‌ten Relationen, auch in und zwischen den von außen kommenden Inhalten. So entsteht oft der Eindruck, dass »Erlebnis-Brocken« willkürlich zusammengebunden sind. Die Synästhesie, das wichtigste Stigma dieses Typus, kann als Beispiel dienen. Denn im verbreitetsten Falle der Synästhesie ist es ein »Gefühl wie« – also ein 75 »Psychologisch kommt diese Kohärenz zwischen Subjekt und Objekt dadurch zustande, daß die Funktionen, durch die die Außenwelt gegeben ist, also Empfindungen und Wahrnehmungen, und die innerseelischen Funktionen – Vorstellungen, Gefühle usw. – hier nicht scharf voneinander getrennte Gebiete darstellen, sondern einander aufs stärkste durchdringen. So entsteht als Produkt die enge Kohärenz zwischen Subjekt und Objekt, eine Erlebnisform, in der vermöge dieses Verhaltens der Funktionen Subjekts- und Objektsanteil aufs innigste miteinander verwoben erscheinen« (Jaensch 1929, 18).

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

innerer Reflex –, was hier eine Verbindung stiftet zwischen Farbe und Ton oder überhaupt von Inhalten, die in der Außenwelt nicht miteinander verbunden sind. Selbst in der Begriffswelt werden die Beziehungen vorwiegend durch innere Reflexe geliefert. Die Begriffe sind daher im Bewusstsein großenteils repräsentiert durch die Gefühle, die der betreffende, im Begriff bezeichnete Komplex erweckt; sie sind Gefühlsbegriffe. Oder es tritt, durch das Gefühl vermittelt, ein Symbol auf, das die Beschaffenheit des Gefühls zum Ausdruck bringt; die Begriffe sind dann Symbolbegriffe. So sehr überwiegen diese Innenweltreflexe im Bewusstsein, dass das Symbol oft anstelle der Wirklichkeit gesetzt wird und die Beziehungen der Symbole an die Stelle der Außenweltbeziehungen treten. Daher rührt es auch, dass man im Denken oft den Eindruck hat, als ob die Inhalte »brockenhaft« miteinander verknüpft seien, sie sind willkürlich aufgegriffen und verknüpfen durch rein innere Reflexe. Die Gedanken des S-Typus tragen daher in ausgeprägten Fällen ein autistisches Gepräge; sie erscheinen mehr von subjektiver Bedeutsamkeit als von allgemeiner Gültigkeit. Die hochwertigen Denkleistungen des S-Typus verhalten sich zu denen des J1-Typus (bzw. des J2-Typus) wie »Esprit« zu »Geist«. Dieses freie Schalten mit dem Gegebenen ist nur möglich auf der Grundlage einer weitgehenden Lockerheit, Mastisität, Spaltbarkeit aller Inhalte und Zusammenhänge. Die Gesamtheit der Bewusstseinsphänomene und Bewusstseinsfunktionen ist hier noch labiler, noch plastischer als beim J1-Typus, dem Normalfall der Integration.76 Die hier von Jaensch als typische, in der Ebene des Normalen liegende Einstellung gegebenen psychischen Dispositionen entsprechen strukturell denjenigen Dispositionen, welche als Voraussetzung für phänomenal magisches Welt­er­leben angesehen wurden, m. a. W: Die psychische Möglichkeit magischen Welt­er­lebens ist nicht nur eine vereinzelte, sondern auch typische Eigenschaft. Es entspricht dabei approximativ die Möglichkeit einer magischen Gestaltung der Welt-an-sich der Disposition des J1-Typus, während das aktuelle magische Welt­er­leben mehr dem S-Typus anzurechnen wäre. Den Übergang vom rein nach außen integrierten zum rein nach innen integrierten Typus bildet in dem System Jaenschs der J2-Typus. Der ganze Mensch scheint hier mehr nach innen gerichtet. »Seine Gefühle sind tiefer verankert, bei aller Lebhaftigkeit seines Gefühlslebens ist seine Stimmung doch vorwiegend ernst. Zuweilen aber kann er recht ausgelassen und fröhlich sein und weiß dann oft keinen Grund dafür anzugeben, während der heitere Zustand 76 Vgl. Jaensch 1929, 26  f.

149

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

des J1-Typus meist an lustbetonte Inhalte, sei es der Wahrnehmung oder der Vorstellung geknüpft ist. J1 hat eben Anteilnahme an dem kleinsten Dinge am Wege und freut sich darüber, während J2 nicht auf die Außenwelt eingestellt ist und nur aufnimmt, was Beziehungen zu einer konstanten Ideenwelt hat, die einen dauernden Kern seines Inneren bildet« 77. Die Übersteigerungsformen des J1, der sog. B-Typus (so ge­ nannt, da er mit dem vegetativ Typischen des Basedowiden zusammenfällt), zeigt neben gesteigerter seelischer Labilität eine starke Abhängigkeit von den im Bereich des Welt­er­lebens vielfach offensichtlich mit magischem Welt­er­leben in Zusammenhang stehenden Einflüssen, wie Stimmungs-78 und Gefühlsabhängigkeit, starke Affektivität 79 usw., kurz alle schon bei der vertikalen Sicht erwähnten Einwirkungen des endothymen Grundes. Auch hat beim B-Typus die Kohärenz eine gesteigerte Form. So findet sich bei den Angehörigen dieses Typus besonders häufig die, in den Bereich der integrierten Typen fallende, eidetische Anlage, ferner das Phänomen der Umweltbeseelung (auch unabhängig von fundierten animistischen Vorstellungen) usw. Die allgemein oder nach außen integrierten Typen (J1 und die Sonderform des Synästhetikers) bilden also in jedem Moment sich oder die Umgebung zu einer aber nur in diesem Moment bestehenden Einheit, während der rein nach innen Integrierte – bzw. auch schon der Übergang zu ihm, der J2-Typus – eine durch die Zeit hindurchlaufende Einheit festhält. Für die Wirksamkeit magischen Welt­er­lebens ergibt sich hieraus: Die nach außen integrierten Typen sind für ein derartiges Erleben eher disponiert, sind anfälliger. Die nach innen Integrierten können infolge ihrer größeren Beständigkeit zwar für ein plötzliches derartiges Erleben weniger anfällig sein, andererseits aber, haben sich bei ihnen einmal magische Anschauungen gefestigt, in erhöhtem Maße prädisponiert sein. 150

77 Ebd., 224. 78 »Wir wollen noch einmal mit Nachdruck darauf hinweisen, daß die Stimmungen bei den stark integrierten Menschen vom B-Typus eine ganz andere Bedeutung haben als bei nichtintegrierten Menschen. Innerhalb der B-Konstitution bilden die Stimmungen einen integrierenden Bestandteil des psychischen Lebens. Sie sind ständige Begleiter des Bewußtseins, sie sind gewissermaßen das Fluidum, in das alle anderen psychischen Regungen eingebettet sind« (ebd., 98). 79 »Die Affektivität ist beim B-Typus besonders stark. Wir haben in unseren Untersuchungen nicht einen getroffen, der nicht gelegentlich unter starken Affektreaktionen zu leiden gehabt hätte. Darum muß die Affektivität wie die Emotionalität als ein wesentliches Merkmal der B-Konstitution bezeichnet werden« (ebd., 98  f.).

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

Beide Integrationstypen finden sich allgemein verbreitet, die nach außen Integrierten jedoch wohl mehr in der Stadt, die nach innen Integrierten mehr auf dem Lande bzw. bei der bodenständigeren Bevölkerung.80 Auch »scheinen in den wärmeren und sonnigeren Gegenden die stärker integrierten Typen (J1 und S) vorzuherrschen, in den kälteren, sonnenärmeren, sehr von Dunstschichten erfüllten dagegen die schwächer integrierten Typen, also der desintegrierte, der rein nach innen hin integrierte und allenfalls noch die Übergangsform zum allgemein integrierten Typus hin ( J2)« 81. Die entwicklungsgeschichtlich höhere Stufe und gleichzeitig neben den integrierten Typen die zweite Hauptgruppe bilden die Desintegrierten. »Als polarer Gegensatz zum integrierten Menschen stellt der nichtintegrierte Mensch einen psycho-physischen Konstitutionstypus dar, dessen bezeichnendes Merkmal die Getrenntheit und Festigkeit der einzelnen seelischen Funktionen ist, die sich auch bis ins Elementarseelische hinein nachweisen läßt. Darin tritt gerade der Charakter eines Strukturtypus als eines normalen Grundtypus zutage, daß sich die betreffende Struktur durch sämtliche Bereiche des seelischen Lebens, also auch bis ins Elementarseelische erstreckt. Es hat sich gezeigt, daß wirklich ausgesprochen nichtintegrierte Menschen in elementarpsychologischen und psychophysiologischen Versuchen verhältnismäßig selten aufgewiesen werden konnten, eine Tatsache, die dafür spricht, daß die integrierte Struktur, die ja im Kindesalter die vorherrschende ist, im Laufe der Entwicklung des Menschen nicht nur selten zur reinen Trennung der Funktionen auswächst, daß also fast überall ein Rest von Integration bestehen bleibt« 82. Eine Übersteigerungsform bzw. Verkrampfungsform des desintegrierten Typus bildet der sogenannte T-Typus (so genannt, da er mit typischen äußeren Anzeichen von Tetanie zusammenfällt). Das für den Typus des jeweiligen Welt­er­lebens fundamental wichtige Verhältnis von Subjekt und Objekt steht auch im Mittelpunkt der unter dem Gesichtspunkt der Einstellung entwickelten Typologie von C. G. Jung. Auch sie ist in zwei Hauptgruppen aufgeteilt: in Introvertierte und Extravertierte. Der Introvertierte hat 80 Vgl. ebd., 328. 81 Ebd., 27. Im Zusammenhang hiermit ist auch die Tatsache interessant, dass in der magischen Praktik der alten Nordländer nicht bildhaft vorstellbare Geister und Dämonen beschwört wurden, sondern dass »die Magie nach nordischer Auf‌fassung« nur in der »Einwirkung des Wortes auf die Dinge« bestand (vgl. Lehmann 1925, 96  ff.). 82 Ebd., 416.

151

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

Abstand zum Objekt, er verhält sich zu ihm sehr abstrahierend. »Er ist im Grunde genommen immer darauf bedacht, dem Objekt die Libido 83 zu entziehen, wie wenn er einer Übermacht des Objektes vorzubeugen hätte. Der Extravertierte dagegen verhält sich positiv zum Objekt. Er bejaht dessen Bedeutung in dem Maße, daß er seine subjektive Einstellung beständig nach dem Objekt orientiert und darauf bezieht« 84. Der allgemeinen Einstellung entsprechen auch die Wirksamkeiten der vier psychischen Grundfunktionen.85 Das nach der Theorie Jungs immer wirksame Unbewusste hat infolge seiner kompensatorischen Funktion im Normalfalle beim Introvertierten extravertierten und beim Extravertierten introvertierten Charakter. Auch können beide Komponenten, die Introversion wie die Extraversion, in ein und demselben Individuum vorkommen. Der Unterschied zwischen beiden Einstellungen ist immer nur ein akzentuierender. In Bezug auf die Anfälligkeit für ein magisches Welt­er­leben erscheint hier sofort die Hauptgruppe der Extravertierten als wesentlich. Tatsächlich kann sich bei diesem Typus die bewusste Ausrichtung am außerseelisch Gegebenen auch soweit steigern, dass der Extravertierte »in die Objekte hineingezogen wird und sich ‌ selbst darin ganz verliert« 86. Besonders begünstigt scheint das Zustandekommen eines magischen Welt­er­lebens auf diese Weise beim extravertierten Fühltypus zu sein, da bei ihm einmal das Denken als selbstständige Funktion verdrängt ist und zum anderen auch das Objekt leicht einen übertriebenen Einfluss gewinnen kann. Es zieht dann »das zu extravertierte Fühlen die Persönlichkeit zu viel ins Objekt, d. h. das Objekt assimiliert die Person, wodurch der persönliche Charakter des Fühlens, der seinen ‌ Hauptreiz ausmacht, verloren geht« 87. Ähnlich agiert der extravertierte Empfindungstypus. Das Empfinden wird hier vorwie152

83 Unter »Libido« versteht Jung nicht, wie Freud, den Sexualtrieb, sondern die »psychische Energie«, d. h. die Intensität des psychischen Vorganges, seinen psychologischen Wert. 84 Jung 1940, 473. 85 Als die vier Grundfunktionen betrachtet Jung das Denken, das Empfinden, das Fühlen und das Intuieren ( = »die Wahrnehmung der in einer Situation liegenden Möglichkeiten«). 86 Ebd., 482. Dort heißt es weiter: »Wie mir scheint ist die weitaus häufigste Neurose des extravertierten Typus die Hysterie. Der hysterische Schulfall ist immer durch einen übertriebenen Rapport mit den Personen der Umgebung charakterisiert, ebenso ist die geradezu imitatorische Einpassung in die Verhältnisse eine bezeichnende Eigentümlichkeit. […] Ferner die sprichwörtliche Suggestibilität, die Beeinflußbarkeit durch andere Personen«. 87 Ebd., 516.

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

gend durch das Objekt determiniert und kann sich dabei bis zu einer starken Bindung an das Objekt steigern. Zu einer derartig übersteigerten Einstellung aber stellt sich dann das Unbewusste in Opposition und besonders verdrängte Intuitionen können sich als Projektionen auf das Objekt geltend machen.88 Im Gegensatz zum extravertierten Typ zeichnet sich der introvertierte Typ durch ein »Reservat des Ich« 89 aus. Die starke Betonung des subjektiven Faktors im Bewusstsein zieht jedoch im Sinne der Kompensation eine Betonung des Objektes im Unbewussten nach sich, wodurch Letztere im Übersteigerungsfalle übermächtig werden kann. Wird durch den Introvertierten die bewusste Beziehung zum Objekt relativ verdrängt, so »geht sie durch das Unbewußte, wo sie mit den Qualitäten des Unbewußten beladen wird. Diese Qualitäten sind in erster Linie infantil-archaische. Infolgedessen wird seine Objektbeziehung primitiv und nimmt alle jene Eigentümlichkeiten an, welche die primitive Objektbeziehung kennzeichnen. Es ist dann, wie wenn das Objekt magische Gewalt besäße. Fremde, neue Objekte erregen Furcht und Mißtrauen, wie wenn sie unbekannte Gefahren bürgen, althergebrachte Objekte sind wie mit unsichtbaren Fäden an seine Seele gehängt, jede Veränderung erscheint störend, wenn nicht geradezu gefährlich, denn sie‌. scheint eine magische Selbstheit des Objekts zu bedeuten« 90 Besonders leicht vollzieht sich eine derartige Isolierung vom Objekt im Denken, wodurch auch der introvertierte Denktypus für eine derartige Beeinflussung besonders disponiert erscheint.91 88 »In schweren Fällen entwickeln sich Phobien aller Art, und besonders Zwangssymptome. Die pathologischen Inhalte sind von einem bemerkenswerten Irrealitätscharakter, häufig moralisch und religiös gefärbt. Es entwickelt sich oft eine spitzfindige Rabulistik, eine lächerlich-skrupellose Moralität und eine primitive, abergläubische und ›magische‹ Religiosität, die auf abstruse Riten zurückgreift. Alle diese Dinge stammen aus den verdrängten, minderdifferenzierten Funktionen, welche in solchen Fällen zum Bewußtsein schroff gegenüberstehen« (ebd., 524). 89 Vgl. ebd., 536. 90 Ebd., 544. 91 »Das Denken des introvertierten Typus ist positiv und synthetisch in Hinsicht der Entwicklung von Ideen, die sich in steigendem Maße der ewigen Gültigkeit der Urbilder annähern. Lockert sich aber ihr Zusammenhang mit der objektiven Erfahrung, so werden sie mythologisch und für die momentane Zeitlage unwahr. […] Wird das Denken aber mythologisch, so wird es irrelevant und verläuft in sich selbst. Die diesem Denken gegenüberstehenden relativ unbewußten Funktionen des Fühlens, Intuierens und Empfindens sind minderwertig und haben einen primitiv extravertierten Charakter, welchem alle die lästigen Objekteinflüsse, denen der introvertierte Denktypus unterworfen ist, zuzuschreiben sind. Die Selbstschutzmaßnahmen und die Hindernisfelder,

153

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

154

Für das Problem des magischen Welt­er­lebens ergibt sich demnach aus der Typologie C. G. Jungs Folgendes: Die Objektbezogenheit des erlebenden Subjektes (= Extraversion) ist eine typische seelisch-psychologische Grundeinstellung und Verhaltensweise. Sie kann sich bis zu einem Grade intensivieren, welcher der Indifferenz von Subjekt und Objekt im offensichtlich magischen Welt­ er­leben entspricht. Andererseits kann aber auch die gegensätzliche Grundeinstellung (= Introversion) im Falle ihrer Übersteigerung aufgrund der Funktion des Unbewussten zu einer psychischen Disposition führen, welche der dem magischen Welt­er­leben zugrunde liegenden entspricht. Ähnliche Unterscheidungen finden sich in anderen Typologien. Wie z. B. nach allem oben Gesagten Jungs Typus des Extravertierten in gewissem Sinne dem J1-Typus von Jaensch entspricht, so lässt sich beiden Kategorien wiederum der pyknische und zugleich zyklothyme Typus Kretzschmers 92 zuteilen usw. Nicht unerwähnt darf fernerhin die alle typologischen Unterscheidungen durchziehende Geschlechterpsychologie bleiben, welcher seit Weiningers Theorie von der in jedem Menschen vorhandenen psychischen Doppelgeschlechtlichkeit 93 große typologische Bedeutung zukommt. Hier ist es der weiblich akzentuierte seelische Organismus, welcher eine für das Zustandekommen phänomenal magischen Welt­er­lebens günstige Disposition aufweist.94 Über Bachofens Theorie vom Mutterrecht 95 zeigt sich dann, besonders an späten mutterrechtlichen Kulturen,96 unter wiederum historischem Gesichtspunkt die enge Verbindung zwischen dem Element des Weiblichen und wesenhaft magisch-mystischer Erlebnisweise besonders deutlich. Immer also steht der Gegensatz zwischen logisch-rationalem und magisch-mystischen Welt­er­leben in enger Parallelität zu psychologischen Typenunterschieden. Die Ausführungen des vorstehenden, der individuellen Psychologie gewidmeten Abschnittes leiden an einem doppelten Mangel: einmal an der im Wesen der Psychologie begründeten Tatsache, dass ihnen kein einheitliches Schema zugrunde gelegt werden konnte, sondern die Ergebnisse anhand von verschiedenartigen, manchmal sich überschneidenden oder gegenseitig sich ausschließenden Gesichtspunkten und Konzeptionen gewonnen die solche Leute um sich herum anzulegen pf‌legen, sind genügsam bekannt. Dies alles dient zur Abwehr magischer Einwirkungen« (Ebd., 554). 92 Vgl. Kretzschmer 1942. 93 Vgl. Weininger 1921. 94 Vgl. Lersch 1947 a, 43  ff. 95 Vgl. Bachofen 1927. 96 Vgl. Graebner 1924, 33  ff.

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

werden mussten, und zum anderen daran, dass im Sinne dieser Arbeit das psychische Geschehen einseitig unter dem Gesichtspunkt betrachtet wurde, inwieweit durch die Funktion dieses Geschehens die psychischen Voraussetzungen und Möglichkeiten für ein magisch-mystisches Welt­er­leben gegeben sind, die psychische Fundierung eines wesenhaft logisch-rationalen Welt­er­lebens also weitgehend unberücksichtigt blieb. Aufgrund all des unter diesem Gesichtspunkt aus dem Bereich der individuellen Psychologie Beigetragenen aber kann abschließend als hinreichend gesichert festgestellt werden: Das magisch-mystische Welt­er­leben, wie es im ersten Abschnitt aufgrund seiner Erscheinungsformen phänomenologisch definiert wurde, ist eine in ihren ausgeprägten Formen zwar in den Bereich des Pathologischen ragende, ihrem Wesen nach aber im Bereich der Normalpsychologie liegende psychologische Tatsache. Ein wesenhaft magisch-mystisches Welt­er­leben ist demnach bei jedem voll entwickelten Menschen prinzipiell möglich. Das Zustandekommen eines derartigen Welt­er­lebens kann durch äußere, d. h. in der Situation begründete, bzw. durch innere, d. h. in der Struktur des Charakters und der Ausprägung bestimmter Fähigkeiten begründete, Gegebenheiten begünstigt werden. Die ein wesenhaft magisch-mystisches Welt­er­leben befördernde innerseelische Disposition ist fernerhin keine Seltenheit, sondern kann in ihren elementaren Zügen für große Menschengruppen als typisch angesehen werden.

Die Wirksamkeit des Magischen Welt­er­lebens Aus der vorstehenden Untersuchung hat sich Folgendes ergeben: Die Unterscheidung von Oberschicht und Unterschicht ist ein von soziologischen Schichtungen unabhängiger Begriff. Von phänomenal oberschichtlichem bzw. phänomenal unterschichtlichem Leben kann man dort sprechen, wo geistig-seelische Eigenständigkeit bzw. geistig-seelische Uneigenständigkeit feststellbar ist. Diese Feststellung kann in analytischer Untersuchung der einzelnen Kulturgüter geschehen. Dort, wo auf diese Weise festgestelltes unterschichtliches Kulturgut adäquat aufgenommen wird, kann man von phänomenal unterschichtlichem Leben sprechen. Dieses adäquate Aufnehmen setzt jedoch eine phänomenal unterschichtliche Verhaltens- bzw. Erlebnisweise voraus. Lässt sich also das Kulturgut mit ziemlicher Bestimmtheit dem oberschichtlichen bzw. unterschichtlichen Lebensbereich zuweisen, so stehen die Menschen, die Träger des der jeweiligen Schicht eigentümlichen geistigen Lebens, nur in bedingtem Entsprechungsverhält-

155

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

156

nis zu dieser Schichtung des Kulturgutes. Unberücksichtigt bleibt vor allem der ganze Bereich inadäquaten Aufnehmens, d. h. – in volkskundlicher Sicht – das unterschichtliche Aufnehmen oberschichtlichen Kulturgutes, die unterschichtliche Verhaltensweise oberschichtlichem Kulturgut gegenüber, das phänomenal magische Erleben logisch-rationalen Erlebnisgutes. Untersuchungen, die sich mit dem Zustandekommen derartiger inadäquater Einstellungen und Verhaltensweisen und damit mit der tatsächlichen Eigenständigkeit bzw. Uneigenständigkeit innerhalb des Volksganzen befassen, müssen daher von anderen Voraussetzungen ausgehen. So wurde in der vorstehenden Untersuchung nicht vom Kulturgut selbst ausgegangen, sondern von dem Vorgang des Aufnehmens. Es wurde von dem ein phänomenal unterschichtliches Leben hervorrufenden und fundierenden Erlebnis nicht das Erlebnisgut, sondern vor allem die Erlebnisweise untersucht. Es ergab sich daraus die Gegenüberstellung zweier von jeder anderen Schichtung unabhängiger dynamischer Begriffe: des logisch-rationalen und des magisch-mystischen Welt­er­lebens. Es zeigte sich dabei, dass der erstere für unsere gegenwärtige Kultur typisch ist, während sich alle hervorstechenden Erscheinungsformen primitiven Welt­er­lebens, wie die primitiven Seelen- und Kräftevorstellungen usw., unter dem Begriff des magischen Welt­ er­lebens zusammenfassen lassen.97 Andererseits aber lässt sich ein phänomenal magisches Welt­er­leben auch in den betont oberschichtlich lebenden Personenkreisen unserer gegenwärtigen eigenen Kultur in typischen Erscheinungsformen, teils mit Bindung an offensichtlich magische Erscheinungs- und Brauchformen, teils ohne sie nachweisen. Das aus dem Bereich der individuellen Psychologie zum Problem der beiden unterschiedlichen Arten des Welt­er­lebens Beigetragene zeigte weiterhin, dass beide Erlebnisweisen, deren Unterschied letzten Endes auf eine Indifferenz bzw. Differenzierung von erlebendem Subjekt und erlebtem Objekt zurückzuführen ist – angefangen von ganz speziellen Erlebnismöglichkeiten bis 97 Dies kann nun freilich nicht besagen, dass mit den Begriffen »magisch-mystisch« und »logisch-rational« der ganze Bereich des unter- bzw. oberschichtlichen Lebens umrissen ist. Wie Magie und Mystizismus, Logik und Ratio nur typische Exponenten der jeweiligen Erlebnisweise, in ihrem Vollzuge typische Erscheinungsformen des jeweiligen Welt­er­lebens darstellen, ihre Gegensätzlichkeit aber dem Gegensatz von Unter- und Überschicht entspricht, so wird auch durch die Begriffe des »magisch-mystischen« bzw. »logisch-rationalen« Welt­er­lebens nur die typische Gegensätzlichkeit der beiden Erlebnisweisen ohne Einbeziehung irgendwelcher soziologisch oder volkskundlich festgelegter Begriffe phänomenologisch charakterisiert.

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

zu ganz allgemeinen psychischen Wirksamkeiten – , psychologische Tatsachen sind, welche in der Ebene des Normalen liegen. Es hat sich weiter gezeigt, dass sich auch im Bereich der Psychologie Unterscheidungen und Gegensätzlichkeiten aufzeigen lassen, welche der an den Erscheinungsformen gewonnenen phänomenalen Gegensätzlichkeit von magisch-mystischem und logisch-rationalem Welt­er­leben entsprechen: nämlich in der Typologie. Hieraus ergibt sich jedoch folgende notwendige Unterscheidung: Die phänomenologisch bzw. psychologisch festgestellte Gegensätzlichkeit in der Art und Weise des Welt­er­lebens sind Ausdrucksformen für parallele, sich innerhalb ihrer theoretisch fest voneinander abgrenzbaren Gebieten entsprechende Beziehungen, können aber nicht zueinander in das Verhältnis einer Entsprechung gebracht werden. M. a. W.: Nicht alle dem J1-Typus angehörenden oder alle weiblich akzentuierten Menschen, nicht alle Extravertierten, Pykniker usw. erleben die Welt magisch-mystisch, während die zu ihnen psychologisch im Verhältnis des Gegensatzes stehende psychologische Gruppen (Desintegrierte, männlich akzentuierte, Introvertierte usw.) die Welt vorwiegend logisch-­ rational erleben. Tritt aber so bei der Frage nach dem konstitutionell vorwiegend magisch-mystischen bzw. logisch-rationalen Welt­er­leben der psychologische Aspekt, d. h. die Frage nach der psychologischen Konstitution und der Reaktionsweise des psycho-physischen Organismus, fast vollkommen in den Hintergrund, so gewinnt er bei der Untersuchung des aktuellen Welt­er­lebens, d. h. bei der Untersuchung einzelner Erlebnisse, wesentlich an Bedeutung. Denn es besteht wohl kein Zweifel, dass in einer fraglichen Situation die erstgenannten Typen für ein magisch-mystisches Welt­er­leben eher, die letztgenannten dagegen weniger anfällig sind. Wenn man sich dann weiterhin erinnert, dass die beiden extravertierten, beim J1-Typus usw. hervortretenden, d. h. besonders akzentuierten psychischen Eigenschaf‌ten auch im Gegentyp in weniger ausgeprägter Form vorhanden sind, dass ferner Unbewusstes, endothymer Grund, kurz, alle mit diesen Begriffen theoretisch umrissenen innerseelischen Einflüsse in jedem Menschen vorhanden und immer mehr oder weniger wirksam sind, und wenn man sich ferner der ein phänomenal magisch-mystisches Welt­er­leben stark befördernden außerseelischen Umstände erinnert, dann kann man – wieder in den Bereich phänomenologischer Betrachtung eintretend – auch sagen: Phänomenal magisches Welt­er­leben ist bei jedem möglich. Je stärker die Umwelteinflüsse zu einem magisch-mystischen Welt­er­leben drängen, desto größer wird auch bei den für ein magisches Welt­er­leben weniger

157

I. DAS MAGISCHE WELTERLEBEN

158

disponierten Menschen die psychische Bereitschaft für ein derartiges Welt­er­leben sein. Das nie feststehende ICH wird zum ES gezogen, das Erleben bekommt phänomenal magischen Charakter. Man muss also streng unterscheiden zwischen konstitutionellem und gelegentlichem magischen Welt­er­leben. Das gelegentliche magische Welt­er­leben hängt ab von der psychischen Grunddisposition, d. h. der charakterologisch bestimmbaren Struktur, und von den Umwelt- und Bildungseinflüssen, die bis dahin auf das Erleben in dieser Richtung eingewirkt haben, d. h. von der (von der psychischen Grunddisposition unabhängigen) Entwicklung der Persönlichkeit. Für die Bildung eines mehr oder weniger konstanten magischen Welt­er­lebens ist neben all diesen Faktoren ferner noch die Menge der gelegentlichen magischen Erlebnisse und deren Intensität und Richtung von Bedeutung. Verbindet sich nun hierbei das magische Welt­er­leben mit traditionsgebundenem Erlebnisgut, so wird es mehr zum volksmäßigen Erlebnis führen, woraus sich dann in der Folge volksmäßiges bzw. massenmäßiges, immer eher unterschichtliches Leben entwickelt und damit wiederum eine konstitutionell unterschichtliche Einstellungs- und Verhaltensweise, welche auch oberschichtliches Kulturgut unterschichtlich (= inadäquat) aufnimmt. Im Gegensatz zum massenmäßigen unterschichtlichen Leben befördert jedoch das volksmäßige, mit traditionsgebundenem Erlebnisgut verbundene Erlebnis in gewissem Sinne auch die Entwicklung einer Persönlichkeit. Es führt zwar nicht zu logisch-rational begründeter Eigenständigkeit, aber Tradition, Sitte, Brauchtum usw. bilden einen festen und weniger veränderlichen Rahmen, welcher zwar auch ein »Leben von anderen her« (vgl. S. 42) bedingt, trotzdem aber auch zu allen Dingen des täglichen Lebens und allen Einflüssen gegenüber ein bestimmtes, festes Verhältnis (vgl. S. 47  f.) gibt. Massenmäßiges Erleben dagegen ist sowohl aus der logisch-rationalen als auch aus dieser traditionellen Bindung gelöst. Will man nun also Erscheinungen unseres Kulturlebens, welche an sich, ihrer äußeren Erscheinung nach, nicht ohne Weiteres der einen oder anderen (unterschichtlichen bzw. oberschichtlichen) Lebenssphäre zuzurechnen sind, volkskundlich untersuchen, so muss man vom Erlebnisvorgang, d. h. von dem durch sie vermittelten Erlebnis ausgehen. Es muss somit einmal untersucht werden, inwieweit aufgrund rein psychologischer Autoren, wie sie im vorigen Abschnitt dargelegt wurden, ein phänomenal magisch-mystisches Erleben zustande kommt und zum anderen, ob sich diese Erlebnisweise mit massenmäßigem bzw. volksmäßigem Erlebnisgut zu einem massenmäßigen bzw. volksmäßigen Erlebnis verbindet, inwieweit also weiterhin damit durch dieses Erlebnis mas-

ZUR INDIVIDUELLEN PSYCHOLOGIE DES MAGISCHEN WELTERLEBENS

senmäßiges bzw. volksmäßiges unterschichtliches Leben entsteht (vgl. S. 46  f.). Auf diese Weise lässt sich untersuchen, in welcher Richtung das zu untersuchende Kulturgut hinsichtlich der Bewegung innerhalb der Schichten wirkt. Hinsichtlich des dem logisch-rationalen Welt­er­leben entsprechenden ästhetischen Erlebens (vgl. S. 48, Anm. 14) ist noch zu erwähnen, dass sich dies bei aller eigenständigen, auf den Sinn der Welt-an-sich gerichteten Ration auch durch eine starke Anteilnahme auszeichnet, welche auf den ersten Blick als identisch mit der für ein magisches Welt­er­leben typischen Indifferenz »Subjekt – Objekt« erscheinen könnte. Sie ist jedoch keineswegs identisch mit dieser bzw. mit dem den Gestaltungen magischen Welt­er­lebens adäquaten Miterleben. Während der dort im magischen Sinne miterlebende Mensch infolge seiner Identifikation mit der Gestalt des Helden usw. nur die Abenteuer bzw. die aus ihnen resultierenden Gefühle innerhalb der zu einem glücklichen Ausgang führenden, eurythmischen Komposition erlebt und miterlebt, fühlt sich der ästhetisch erlebende Mensch in das Kunstwerk an sich ein und die Gefühle sind mehr oder weniger nur Begleiterscheinungen beim ästhetischen Genuss des dem Kunstwerke immanenten geistigen, d. h. im besten Sinne rationalen Gehaltes. Die Eigenständigkeit der Persönlichkeit bleibt so auch bei größter Mitgerissenheit unangetastet.98 Das ästhetische Erleben verhält sich also zum magischen Erleben ungefähr so wie das echte Mitgefühl zum sentimentalen Mitleid. Ebenso wie das ästhetische Erleben ist natürlich auch jede andere Art hellwachen Aufnehmens und aktiven, den ganzen Menschen und die ganze Persönlichkeit ergreifenden Miterlebens immer streng zu unterscheiden von phänomenal magischer Erlebnisweise. Im folgenden, zweiten Teil soll nun anhand des Films, also einer erst in der Neuzeit in dieser Form entstandenen und somit von historischen Einflüssen weitgehend unbeeinflussten Kunstgattung, untersucht werden, ob und in welcher Weise unabhängig von historischen Gegebenheiten einerseits und von der konstitutionell vorherrschenden Einstellung und Verhaltensweise des erlebenden Menschen andererseits (also als rein psychologische, für jeden voll entwickelten Normalmenschen zutreffende Tatsache) ein phänomenal magisch-mystisches Welt­er­leben entstehen kann und in welcher Richtung es hinsichtlich der Bewegungen innerhalb der Schichten wirksam wird.

98 Vgl. Volkelt 1920.

159

II. TEIL Das Magische des Films

Die Ursprünge des Films 1893 zeigte Edison in New York den ersten Film. Am 1. November 1895 fanden im Berliner Wintergarten die ersten öffentlichen Filmvorführungen in Europa durch die Brüder Max und Emil Skladanowsky statt. Am 28. November desselben Jahres führten die Gebrüder Lumière in Paris erstmalig lebende Fotografien vor. Der Kinematograph, der Film 1 war geboren. Von da ab, in dem halben Jahrhundert seines Bestehens, entwickelte sich der Film immer mehr aus der Sphäre seines ursprünglichen Wirkungsbereiches, des Jahrmarktes, des Varietés und der Schaubude heraus und entfernte sich immer mehr aus der Nachbarschaft von Wachsfigurenkabinett, Guckkasten, Panorama, Mo­ri­tat, Panoptikum usw. Besonders seit 1913 (»Der Student von Prag«) bzw., auf der neuen Basis des tönenden Films, seit dem Ende der 1920 er-Jahre 2 sind viele Produzenten, Regisseure und Autoren darum bemüht, der neuerstandenen Kunstform Film zu künstlerischer Höhe bzw. theoretisch-ästhetischer Fundierung zu verhelfen. Die Aufnahme- und Beleuchtungstechnik wurden verfeinert. Die Kamera wurde beweglich und die Schauspieler stellten sich von den Gegebenheiten des Theaters auf die neuen Möglichkeiten des Films um. Auch die Filmhandlungen wurden anspruchsvoller. Gleichlaufend mit diesen vielfach erfolgreichen Bemühungen wurden die technischen Bedingungen der Aufnahme bzw. der Reproduktion immer mehr vervollkommnet. Es gab bald keine verregneten Streifen mehr und die Menschen auf der Leinwand bewegten sich nicht mehr alle im Schnellschritt. Die übertriebe1 Unter der Bezeichnung »Film« wird hier und im Folgenden immer sowohl der Bereich der Kinematographie, d. h. der technische Vorgang von Aufnahme und Projektion, als auch der eigentliche Film, d. h. die Gestaltung der einzelnen Aufnahmen und deren Komposition im Gesamtablauf des Films, begriffen. 2 Der erste Tonfilm (»The Jazz Singer«) wurde am 5. August 1926 in New York uraufgeführt. In Deutschland liefen die ersten Tonfilme im Januar 1929 (Vgl. auch Kalbus 1935, Bd. 2, 9  f.).

163

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

164

nen Schminken verschwanden, der Film wurde immer wirklichkeitsgetreuer. Neben dem Tonfilm wurde der Farb-Tonfilm entwickelt und die Entwicklung des plastischen Farb-Tonfilms scheint nur mehr eine Frage der Zeit und der Finanzierung zu sein. Parallel mit dieser inneren Entwicklung des Films wuchs auch seine geographische, seinen Wirkungsbereich erweiternde Ausdehnung. Nicht nur, dass sich die Technik der Filmproduktion und -reproduktion als solche, ähnlich wie viele andere technische Errungenschaf‌ten, über die ganze Welt verbreitete, sondern auch die speziellen Ereignisse der einzelnen Produktionsstätten, d. h. die einzelnen Filme der verschiedenen großen Firmen, wandern heute oft um die ganze Welt. Leicht sind die wenigen Filmrollen zu transportieren, ebenso die Projektionsanlage. Schnell ist eine weiße Wand im Raum oder unter nachtdunklem Himmel errichtet und ebenso schnell ist nachher alles wieder abgebaut. Die äußeren Schwierigkeiten der Bildvorführung haben sich also seit der Zeit der Guckkastenmänner und Moritatensänger relativ unwesentlich vergrößert, die innere Spannung aber hat sich durch die Reproduktion der Bewegung und durch den weltumfassenden Austausch des Vorführungsgutes ungeheuer vergrößert. So werden heute Filme aus Hollywood im Fernen Osten gezeigt, Filme aus Berlin in New York, Filme aus Indien in London, Filme aus Paris in Buenos Aires oder Kapstadt usw. Und überall finden diese Filme – in Großstadt und ländlicher Abgeschiedenheit, in großen Palästen und kleinen Vorstadt- oder Hafenkinos – eine genügend große, die Rentabilität der Vorführungen und damit auch die der oft sehr kostspieligen Herstellung garantierende Zuschauerzahl. Das oft ein und demselben Film in verschiedenen und untereinander sehr unterschiedlichen Kulturkreisen gleichmäßig entgegengebrachte Interesse, diese dem Film überall bereitete offene Aufnahme aber ist es, welche die Frage nach der ungeheuren und schnellen Verbreitung des Films aus dem Bereich seiner äußerlich-technischen Vorführungsbedingungen usw. heraushebt. Sie zeigt, dass der Film, auch unabhängig von diesen Faktoren, seinem innersten Wesen nach einen weltumspannenden und weltverbindenden Kulturfaktor darstellt. Angesichts dieser Tatsachen muss eine volkskundliche Betrachtung des Phänomens Film von der Frage ausgehen: Was ist es, das vielen Filmen die über den engeren und auch den weiteren kulturellen Bereich ihres Entstehungsortes weit hinausgehende Verbreitung sichert, d. h. welche kulturellen Schichten spricht er an bzw. welche psychischen Voraussetzungen müssen für diese Wirkung gegeben sein? Woran sich dann die Frage anschließt: Welche Wirkung übt der Film im Bereich der europäischen Kultur, besonders

DIE URSPRÜNGE DES FILMS

hinsichtlich der Bewegungen und Veränderungen innerhalb der in ihr feststellbaren Schichten, aus? Die vorliegende Untersuchung nähert sich also diesem Fragen­ komplex unter dem im ersten Teil ausgeführten dynamischen Ge­ sichtspunkt mit der Betrachtung des vom Film vermittelten Erlebnisses. Jeder Film, gleich welcher Art, vermittelt in erster Linie ein Erlebnis, welches ganz typisch (»filmisch«) und dem Film wesenseigen ist. Die weiter oben genannten, innerhalb der historischen inneren Entwicklung des Films vollzogenen technischen Verbesserungen und Neuerungen haben hieran nichts geändert. Sie stellen vielmehr nur die Vervollkommnung eines Erlebnisvorganges dar, der sich heute (unberücksichtigt der unterschiedlichen Vorführungsbedingungen) in allen Kinos der Welt in der gleichen folgenden Weise vollzieht: Der im dunklen Raum sitzende Zuschauer sieht vor sich auf der Leinwand eine durch eine Handlung oder sonstigen Sinnzusammenhang verbundene Abfolge von lebendig-bewegten Fotogra­ fien. Oder aber (und jeder, der auch nur einmal eine Filmvorführung miterlebt hat, wird diese Version anerkennen): Der Zuschauer blickt aus dem sonst gegen alle anderen Erlebniseinflüsse weitgehend abgeschlossenen dunklen Raum gleichsam durch ein imaginäres Fenster, die Leinwand, in die Welt, die sich ihm in einer Ab­ folge von Wirklichkeitsausschnitten, welche durch eine Handlung oder sonstigen Sinnzusammenhang verbunden sind, darbietet. Das durch den Film vermittelte Erlebnis wird also einmal durch die Wirklichkeitsausschnitte und zum anderen durch den sie verbindenden Zusammenhang begründet. Beide wiederum sind von zahlreichen technischen und künstlerischen Faktoren abhängig, wie Technik und Kunst beim Film überhaupt in jeder Hinsicht eng miteinander verschwistert sind. Was jedoch die Hauptanziehungskraft des Films ausmacht und damit auch – unberücksichtigt jeder künstlerischen Gestaltung – die Ursache seiner für sein kurzes Bestehen ungeheuren Ausbreitung ist, ist die Tatsache, dass er vermittels seiner Technik bekannte oder unbekannte, gestaltete oder ungestaltete Wirklichkeitsausschnitte in lebendig-bewegter Form darzustellen vermag.3 Alle anderen Elemente sind von sekundärer Bedeutung. 3 Diese Tatsache wird u. a. auch durch die großen Erfolge der ersten, künstlerisch auf tiefstem Niveau stehenden Filme bestätigt. Die Erfolge der ersten Filme der Firma Pathé Frères dokumentieren sich z. B. in der Tatsache, dass sich das Gründungskapital der Firma von einer Million Francs in der Zeit von 1898 bis 1912 auf 30 Millionen vermehrte (vgl. Harms 1927, 5 ).

165

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

166

Eine volkskundliche Betrachtung des Phänomens Film konzentriert sich also in den Fragen: Wie zeigt sich uns die Welt im Film? Bzw.: Wie arbeiten und wirken die Mittel des Films? Und: Ist die Welt, die uns (durch das imaginäre Fenster der Leinwand betrachtet) im Film erscheint, unserer realen Welt gleich, oder wie unterscheidet sie sich von ihr durch künstlerische oder sonstige Gestaltung? M. a. W.: Die Frage, die die Volkskunde unter dem dynamischen Gesichtspunkt an den Film zu stellen hat, lautet: Welche Art von Welt­er­leben bewirkt oder befördert der Film und in welcher Art wirkt dieses vom Film vermittelte Erlebnis hinsichtlich der Bewegung innerhalb der Schichten? Bevor jedoch das Lichtspiel, der Film, in seiner heutigen Form unter diesem Gesichtspunkt untersucht werden kann, ist es notwendig, auf die Ursprünge des Films, auf die ihm innewohnende Idee zurückzugehen. Diese Grundidee des Films ist (unabhängig von künstlerischer oder sonstiger Gestaltung) die lebendige Darstellung des bewegten Lebens durch technisch-mechanische Mittel. Er erreicht dies besonders durch zwei Mittel: durch die, durch schnelle Abfolge unbewegter Einzelbilder bewerkstelligte, Darstellung der Bewegung und durch die Projektion, durch welche diese Bewegung im optischen Erlebnisraum des Betrachters verselbstständigt wird. Beide Phänomene, die Darstellung der Bewegung und die Projektion, lassen sich nun aber bis in früheste Zeiten zurückverfolgen. J. Gregor weist z. B. darauf hin, dass schon die Höhlenzeichnungen der ältesten Steinzeit, also die frühesten Zeugnisse primitiver, noch ganz von magischem Welt­er­leben bestimmter Bildnerei, oft, wie z. B. bei den Tierfresken in der Höhle von Altamira (Spanien), »den Willen des Künstlers zur Darstellung von Phasen zeigen« 4. Die naturgetreuen Abbilder immer des gleichen Tieres in immer anderer Stellung sind dort zwar noch vollkommen regellos über-, unter- und nebeneinander gezeichnet, vergegenwärtigt man sich jedoch die psychische Situation des diese Bilder gestaltenden bzw. betrachtenden Menschen (vgl. S. 117 Anm. 18), dann erscheint es durchaus nicht unwahrscheinlich, dass – gestützt auf die starken und im Halbdunkel der Höhle besonders lebendigen Erinnerungsvorstellungen – auch diese Bilder schon in gewissem Sinne den Eindruck von Lebendigkeit und Bewegung hervorriefen. Eine wesentlich konkretere Bestätigung dieser »erkenntnistheoretischen Urzelle des Films« 5 findet sich in den wesentlich jüngeren schwedischen Felsbildern der Bronzezeit (Leonardsberg), etwa 4 Gregor 1932, 4. 5 Ebd., 14.

DIE URSPRÜNGE DES FILMS

2. Jahrtausend v. Chr. »Diese Felsbilder sind fern von jedem Naturalismus; für Mann, Tier, Schiff usw. werden Sigel [sic], Symbolprägungen hergestellt, die sich aber hinsichtlich der Phase (z. B. speertragender axtschwingender Mann) und der Qualität (Prunkschiff, Spot) sehr fein unterscheiden und schon an sich von hoher Ausdruckskraft sind. Dadurch nun, daß diese Sigel nicht wild gehäuft, sondern mit deutlichem, primitiven [sic] Formgefühl ›in den Raum gesetzt sind‹, entsteht wie dort [bei den Höhlenbildern von Altamira, H. A.]) auf impressionistischer, hier auf deutlich expressionistischer ‌ Grundlage der Eindruck der Bewegtheit« 6. Dasselbe Prinzip der Reihendarstellung erscheint auf den Steinplatten des Kivik-Monuments in Schonen, auf Reliefen im alten Ägypten,7 im Grabe des Menna (westliches Theben XVIII. Dynastie),8 auf den Friesen griechischer Tempel, auf den Triumphbögen der Korsaren, auf Vasen usw. Allen diesen Darstellungen, in denen man die ersten Anklänge der kinematographischen Idee sehen kann, ist Folgendes gemeinsam: Verschiedene Phasen ein und desselben Vorganges werden simultan und meist in linearer Reihenfolge bildlich dargestellt, ohne dass jedoch die Summe der so aufeinander folgenden Bilder an sich schon ein organisches Gesamtbild ergibt. Die betont verschiedene, aber simultan dargestellte Zeitlichkeit der einzelnen Darstellungen macht es vielmehr notwendig, dass der organische Zusammenhang zwischen den Einzeldarstellungen, d. h. die in der Zeit sich vollziehende, in ihren nicht dargestellten Phasen zwischen den einzelnen Bildern vorzustellende und so die einzelnen Bilder zu einem organischen Ganzen verbindende Bewegung, durch den Betrachter hergestellt, d. h. dazugesehen wird. So ist es wohl auch kein Zufall, dass alle zitierten Darstellungen aus Epochen vorwiegend magisch-mystischen Welt­er­lebens stammen. Die 6 Ebd., 4. 7 »Die Wand erscheint [auf einem dieser Reliefs, H. A.] in Streifen zerlegt, innerhalb dieses Streifens wird das lineare Kompositionsprinzip angewendet, d. h. die Tätigkeit durch die Aufeinanderfolge verschiedener Bewegungsstadien charakterisiert. So füttern auf einem Bild Männer Kraniche, während in einem Bildausschnitt die Stopfnudeln hergestellt werden; so sind zwei Männer im Begriff ein noch stehendes Schlachttier niederzuwerfen, das im Bilde links daneben schon am Boden liegt usw.« (Ebd., 17). 8 »Im Grabe des Menna gibt es eine Schnittergruppe, wo die Arbeiter mit der Sichel sich sukzessive neigen, d. h. eine Figur immer gebeugter erscheint als die vorhergehende, es muss also aus dieser Bilderfolge notwendig der Eindruck des Mähens entstehen. Das Bild, in dem nichts verhindert, die erste filmische Darstellung zu sehen (um 1000 v. Chr.), wendet also eine modifizierte Rekurrenz an; wohl gleichen sich die Arbeiter aufs Haar, aber das Bewegungsstadium ist verändert« (ebd.).

167

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

unbewegten Phasendarstellungen fußen auf der für das magische Welt­er­leben typischen Fantasieüberbrückung (vgl. S. 71  f.), durch die die einzelnen Bewegungsphasen zu einem organischen Ganzen verbunden werden. So zeigen auch die von Gregor als ein weiteres Beispiel für die zeitlich-lineare Darstellung aus neuerer Zeit zitierten Tafeln von der im Jahre 1617 stattgefundenen Trauerfeier für Karl III. von Lothringen schon nicht mehr die Darstellung von Bewegungsphasen im eigentlichen Sinne.9 Die Tafeln sind hier nämlich nicht mehr Darstellungen von ein und demselben Vorgang in verschiedenen Phasen, sondern Teilabbildungen eines sich über alle Tafeln erstreckenden, beweglichen Objektes, nämlich des Leichenzuges. Betrachtet man die Tafeln nacheinander oder lässt man sie nacheinander vor sich abrollen, so stellt nicht wie in den oben genannten Fällen der Betrachter selbst die Bewegung durch Fantasieüberbrückung einzelner Phasendarstellungen her, sondern die Bewegung vollzieht sich, indem die verschiedenen Bilder, eines nach dem anderen, vor seinem Auge vorüberziehen, tatsächlich. Selbstverständlich kann hierbei unter Umständen auch der Eindruck entstehen, als ob der Leichenzug selbst und nicht die Bilder vorüberzögen. Dies ist jedoch immer nur eine Übertragung der tatsächlich sich vollziehenden, parallel laufenden Bewegung. Eine zwischen diesen beiden sich grundsätzlich voneinander unterscheidenden Formen der Bildbewegung liegende, sich den erstgenannten, aus vorwiegend magischem Welt­er­leben stammenden Phänomenen in gewissem Sinne annähernde Bewegungsherstellung durch die Fantasieüberbrückung des Zuschauers lässt sich

168

9 »Die Unzahl von Tafeln, auf denen der Zug linear dargestellt ist, zerfällt in folgende Abschnitte: 1. Bogenschützen und Fackelträger (6 T.), 2. Mönche (3 T.), 3. hohe Geistlichkeit (4 T.), 4. Bedienstete und Beamte (15 T.), 5. Wappen (3 T.), 6. Pferde und Waffen (3 T.), 7. höchste Geistlichkeit, Erzbischof und Legaten (4 T.). Es folgen nach dieser außerordentlich weitführenden Einleitung die Effigies der Leiche, und in zehn folgenden Tafeln die Trauergäste. […] Es ist nun von größtem Interesse, daß der Künstler, nachdem er seine Tafeln fertig hatte, eine Anweisung gab, wie diese zusammenzustellen sind und die folgendermaßen lautet: ›Die 48 Tafeln dieses Leichenzuges können, wenn man sie von den ersten bis zur letzten nach den Zahlen, mit denen sie versehen sind, zusammenheftet, in ein einziges Band (›rouleau‹) gebracht werden.‹ usw. […] Würde aber jemand auf den Gedanken verfallen sein – bei der Vorliebe des Zeitalters für derartige Spielerein [sic] ist es durchaus nicht ausgeschlossen –, das nach der Anweisung des Künstlers hergestellte Band (Rouleau) auch wirklich, wie dieser Ausdruck gewählt ist, ›abrollen‹ zu lassen, so würde man nichts anderes erhalten haben, als eine Art von Film, der das Leichenbegräbnis Karls III. von Lothringen festhält« (ebd., 23  f.). Eine Parallelerscheinung hierzu sind die Bildbänder an antiken Triumphsäulen.

DIE URSPRÜNGE DES FILMS

in neuerer Zeit wohl nur noch in den Guckkastenbildern (also in phänomenal unterschichtlichem Lebens- und Erlebnisbereich) sehen, falls der Wechsel von Zeit, Ort und Personen von einem zum anderen Bild nicht zu abrupt ist. Ohne jede Bindung an irgendeinen Erlebnisgehalt, als rein naturwissenschaftliches Experiment, entstanden dann zu Beginn des vorigen Jahrhunderts das Lebensrad (1829), das Stroboskop (1829), die Zundertrommel (1833) usw.,10 alles Apparate, welche Bewegungsvorgänge bzw. -abläufe in endlosem, kontinuierlichem Ablauf zeigten (z. B. einen immer wieder die gleiche Bewegung ausführenden Harlekin, Seiltänzer oder dergl.); alles Erfindungen, welche auf der psychophysischen Tatsache des sog. stroboskopischen Effektes auf‌bauten. Beim Film verbindet sich dieser Effekt dann wieder mit einem Erlebnisgehalt. Ähnlich wie für die Darstellung von Bewegungen gibt es auch für die Projektion frühe Vorläufer. Schon um 100 v.  Chr. z. B. be­ schreibt Heron von Alexandrien eine aus zwei ebenen Spiegeln bestehende Vorrichtung, mit deren Hilfe man in einem Tempel eine hinter dem Altar stehende Götterfigur freischwebend über dem Altar erscheinen lassen könnte.11 Ob und zu welchem Zwecke dieses System angewendet wurde, ist jedoch nicht überliefert. Zu größerer Bedeutung gelangt die Projektionskunst erst wieder seit dem 17. Jahrhundert mit der Erfindung bzw. Wiederentdeckung der Camera obscura – d. h. der dunklen Kammer, in der durch eine in der Wand eingelassene Linse die sich im Freien davor abspielenden Vorgänge für den in der Kammer sitzenden Zuschauer sichtbar werden – und mit der Entwicklung des eigentlichen Projektionsapparates Laterna magica. Und merkwürdiger­ weise finden diese beiden Geräte ihre erste und hauptsächliche Verwendung bei Geisterverschwörungen und Ähnlichem 12 und verdanken wohl auch ihre Entwicklung nicht zuletzt den in der damaligen Zeit so regen magisch-naturwissenschaftlichen 10 Vgl. Thun 1936, Kalbus 1935, Bd. 1, 6  ff., Panofsky 1940, 4  ff. und Oertel 1941, 9  ff. 11 Vgl. F. P. Liesegang (1918), Vom Geisterspiel zum Kino, zit. n. Oertel 1941, 20. 12 Einem zeitgenössischen Bericht (des Aguilonius) zufolge »brüsteten sich die Gaukler, so mit der Camera obscura umherzogen, sie könnten Teufelsgespenster aus der Hölle herauf‌beschwören. Während dann die Neugierigen in dem dunklen Gemach den prahlerischen Reden lauschten und mit Angst und Bangen das Kommen erwarteten, schritt draußen der Gesellen einer vorbei, in Teufelslarve mit Hörnern auf dem Kopf, Wolfsfell und Schwanz und klauichten Ärmel, dessen Bild, gar schrecklich anzusehen, sich nun auf der Papiertafel der Camera obscura abzeichnete und dem abergläubischen Volk für ihr gutes Geld gar höllische Angst einjagte« (ebd., 27).

169

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

170

Bestrebungen (worauf u. a. allein schon die Bezeichnung »laterna magica« hinweist). Schon der Jesuitenpater Athanasius Kirchner (1602–1680) verwendete die von ihm erfundene Laterna magica gelegentlich zur Bekehrung ungläubiger Menschen, indem er ihnen den Teufel ans Fenster oder ins Zimmer projizierte. Und um 1770 inszenierte ein Leipziger Kaffeehausbesitzer Namens Schröpfer mithilfe der Laterna magica Geisterbeschwörungen. Er führte seine Opfer in ein ganz schwarz gehaltenes Zimmer, worin ein Altar mit einem Totenkopf und ein Licht standen. Der Magus machte im Sand auf dem Boden einen Kreis, den beileibe niemand überschreiten darf – damit nämlich der Schwindel nicht bemerkt werde. Auf einmal verlöscht das Licht und unter furchtbarem Gepolter erscheint der vorgeladene Geist hinter dem Altar, ständig hin und her wallend. Natürlich ist er nichts anderes als ein Laterna-magica-Bild, das von hinten gegen den aufsteigenden Rauch geworfen wird. Der Magus haut mit dem Degen gegen den Geist los, um ihn zum Reden zu zwingen. Dieser stimmt ein jämmerliches Geheul an, das macht der Gehilfe nebenan, indem er durch ein bis zum Altar laufendes Rohr schreit, und beantwortet dann die Frage mit einer fürchterlichen rauen Stimme. Endlich verschwindet der Geist wieder unter schrecklichem Gepolter, wobei die Anwesenden zum Abschied einen Denkzettel erhalten, indem sie an allen Gliedern heftig erschüttert werden, was wieder der Gehilfe nebenan durch Antreiben einer Elektrisiermaschine besorgte, von der ein Draht unsichtbar über den Boden lief.13 Den Höhepunkt dieser Entwicklung aber stellen die Phantas­ magorien dar, welche der Belgier Etienne Caspard Norbert, ge­ nannt Robertson (1763–1837), in der Kapelle des Pariser Kapuzinerklosters am Vendômeplatz inszenierte. Die Kapelle war vom Straßenlärm abgeschlossen, verdunkelt und mit mysteriösen Bildern, Grabsteinen, Totenköpfen usw. ausgeschmückt. »Plötzlich wird die drückende Stille gestört durch das Heulen des Sturms und das Prasseln des Regens, dem Blitz und Donner folgen. Die Totenglocke ertönt und ruft die Geister empor. […] In weiter Ferne zeigt sich ein schwaches Licht, man erkennt eine geisterhaf‌te Gestalt. Langsam kommt sie näher, immer größer werdend, endlich steht das grausige Gespenst in gewaltiger Größe vor den entsetzten Zuschauern und droht unter sie zu stürzen. Ein Schrei […] das Phantom ist verschwunden« 14. Für diese Geistererscheinungen 13 Vgl. ebd., 33  f. (Siehe auch die mit diesem Bericht fast vollkommen übereinstimmende Darstellung einer Geisterbeschwörung in Schillers Erzählung »Der Geisterseher«, welche dort auch ebenso erklärt wird).

DIE URSPRÜNGE DES FILMS

bediente sich Robertson einer Laterna magica, die hinter einem transparenten Schirm auf Rädern geräuschlos vor- und rückwärts geschoben werden konnte. Zunächst stand er nahe am Schirm und entwarf ein kleines Bild, dessen Helligkeit durch vorgehaltene Tüllstücke gedämpft wurde. Dann wurden der Apparat zurückgerollt und die Tüllstücke entfernt, wobei das Bild an Deutlichkeit und Größe zunahm. Eine durch Excenter bediente Hebelvorrichtung stellte bei Verschieben des Apparates das Objektiv selbstständig auf Stärke ein.15 Was den Vorführungen Robertsons zu ihrer unheimlichen Wirkung verhalf, war sicher nicht zuletzt diese durch den rollenden Projektionsapparat hervorgerufene Bewegung der projizierten Erscheinungen. Wurde aber so durch diese Technik ein rein magisch-mystisches Erlebnis vermittelt, so erinnert der beschriebene Vorgang andererseits auch schon stark an die Technik des modernen Films (fahrbare Kamera). Es zeigt sich also, dass nicht nur die auf den psychophysischen Gegebenheiten des stroboskopischen Effektes beruhende Bewegung im modernen Filmbild eine technische Umsetzung des für das magische Welt­er­leben typischen Zusammensehens von einzelnen Bewegungsphasen ist, sondern dass auch die Projektion durch ihren Realitätscharakter magisches Welt­er­leben hervorrufen kann. Diese Wirkung wird natürlich, wie sich zeigte, noch beträchtlich erhöht, wenn die durch die Projektion im optischen Erlebnisraum des Betrachters verselbstständigten Darstellungen aus dem Vorstellungsbereich offensichtlich magischen Welt­er­lebens stammen. Der Schein wird in diesen ersten Projektionsvorführungen vollkommen als Sein erlebt. Bewegungsdarstellung und Projektion sind also eng mit einem phänomenal magischen Welt­er­leben verbunden. Die Ursprünge des Films liegen im magischen Welt­er­leben. Selbstverständlich verloren die Projektionsvorführungen mit der stärkeren Verbreitung der Laterna magica und damit mit der Verbreitung der rationalen Kenntnis von ihrem Wesen immer mehr ihren magischen Charakter und wurden immer mehr zur Familienunterhaltung. Die Erfindung und Entwicklung der Fotografie, die ein naturgetreues, unverfälschtes Abbild der Welt gibt, führten dann im Zusammenhang mit dem Projektionsprinzip und dem der Bewegungsdarstellung zugrunde liegenden Prinzip des stroboskopischen Effektes zur Entwicklung der eigentlichen Kinematographie.

14 Ebd., 36. 15 Vgl. ebd.

171

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

Für den modernen Menschen aber hat der Filmvorführer heute nicht mehr das geringste von einem Magier wie zur Zeit Robertsons, das Prinzipielle der Bewegungsdarstellung des Films ist heute fast jedem bekannt, nichts lässt die Technik des Films mehr geheimnisvoll erscheinen und auch die durch die naturalistische Darstellung des Films hervorgerufenen Überraschungs- und Schockeffekte, wie sie in der Frühzeit des Films wohl zuweilen vorkamen,16 gibt es heute kaum mehr. Die Menschen haben sich an den Film gewöhnt, haben »filmisch« sehen gelernt. Der Film ist zur Alltagserscheinung geworden. Trotzdem aber ergibt sich aus der Frage nach dem vom Film vermittelten Leben und aus dem Umstande, dass die Ursprünge des Films im magischen Welt­er­leben liegen, notwendig die Frage: Inwieweit ist das vom modernen Film vermittelte Erleben magisch und welche Wirkungen übt es aus ?

172

16 So soll bei einer der ersten Filmvorführungen im Berliner Wintergarten durch die Aufnahme eines schräg ins Bild, also aufs Publikum, zufahrenden Zuges fast eine Panik verursacht worden sein.

Die Mittel des Films Die elementaren Mittel Der materielle Träger des filmischen Erlebnisses ist der aus Zellu­ loid bestehende Filmstreifen, der einmal die Abfolge der die einzelnen Bewegungsphasen festhaltenden fotografischen Bilder enthält und zum anderen den Tonstreifen, d. h. die zu den jeweiligen Bildern und Bewegungsphasen gehörigen und durch die Fotozelle als Lichtwellen registrierten Tonwellen. Durch die filmische Projektion dieses Bildstreifens entsteht dann auf der Projektionswand ein bewegtes, tönendes Bild, welches vom Zuschauer ganz allgemein zumindest als ein naturgetreues Abbild der Wirklichkeit er­lebt wird. Die Grundelemente des filmischen Erlebnisses sind somit das fotografische (und in neuerer Zeit auch oft farbige) Bild, der Ton und die Bewegung. Eine Untersuchung des vom Film vermittelten Erlebnisses muss also bei diesen elementaren Mitteln einsetzten. Die Fotografie einer Person, eines Gegenstandes, einer Landschaft usw. erscheint uns im Allgemeinen als vollkommen naturgetreues Abbild. In Wissenschaft, Rechtsfindung usw. gelten fotografische Abbilder, besonders wegen ihrer Maßstabgerechtheit und ihrer dokumentarischen Treue, als Beweismittel. Es ist jedoch ein Unterschied zwischen dieser Echtheit und dem von einer fotografischen Abbildung hervorgerufenen Wirklichkeitseindruck. Wie ein Bildversuch C. G. Jungs zeigte, ist das Erkennen des naturgetreu abfotografierten Objektes durchaus nicht durch die fotografische Treue des Abbildes allein gegeben, sondern weitgehend abhängig von der psychischen Situation des Betrachters.1 Die Fotografie ist 1 Im Zuge einer Untersuchung der primitiven Mentalität zeigte C. G. Jung afrikanischen Eingeborenen auch Fotografien. Dazu schreibt er: »Ich habe eingeborenen Jägern, die über Sperberaugen verfügten, illustrierte Journale gezeigt, wo bei uns jedes Kind sofort menschliche Figuren erkannt hätte. Meine Jäger aber drehten die Bilder um und um bis schließlich einer, mit den Fingern den Konturen nachfahrend, plötzlich ausrief: ›Das sind weiße Männer‹, was

173

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

174

immer in erster Linie (und meistens überhaupt nur) ein maßstabgerechtes, dokumentarisch treues Abbild der äußeren Gegebenheiten. Der von ihr ausgehende Wirklichkeitseindruck ist weitgehend relativ. Er ist abhängig von der Fähigkeit des Betrachters, »fotograf‌isch« zu sehen, d. h. in der maßstabgerechten und dokumentarisch getreuen Wiedergabe die Wirklichkeit wiedererkennen zu können. Wie sehr sich Wirklichkeit und Fotografie voneinander unterschieden, d. h. wie sehr der vom Filmbild ausgehende Wirklichkeitseindruck von der tatsächlichen Wirklichkeit verschieden ist, zeigt auch folgender Auszug aus der von H. C. Opfermann vorgenommenen, auf physikalisch-physiologischer Grundlage aufgebauten Untersuchung der filmischen Naturwiedergabe: Das Wirklichkeitsvorbild sendet eine Vielfalt von Reizen aus, deren Zusammenklang im betrachtenden Menschen die Wirklichkeitsempfindung entstehen lassen. Soweit diese Reize optischen und akustischen Charakter tragen, können sie physikalisch nach ihren Grundsubstanzen unterschieden werden. Die den optischen Reizen zugrunde liegenden Vorgänge lassen sich durch genau definierbare Lichtwellen kennzeichnen, die von den Wirklichkeitselementen direkt oder indirekt ausgehend die lichtempfindlichen Elemente der Netzhaut im menschlichen Auge erregen. Die gleichen Licht­wellen erregen auch das Halogensilberkorn fotografischer Schichten und schaffen damit die Grundlage für die Entstehung fotografischer Bilder. Nicht alle der von den Wirklichkeitselementen ausgehenden und auf die Netzhaut des Auges wirkenden Lichtwellen wirken auch auf das Halogensilberkorn, ja es werden sogar Wellen im Halogensilberkorn wirksam, die zwar von den Wirklichkeitselementen normalerweise geliefert, von der Netzhaut des Auges aber nicht mehr empfunden werden können. Die überwiegende Anzahl der Lichtwellen, die als Grundlage der Entstehung fotografischer Bilder dienen, werden allerdings grundsätzlich so­ wohl von der Netzhaut wie vom Halogensilberkorn registriert. In der Wirklichkeit werden dem Auge wie dem Halogensilberkorn überwiegend Lichtwellengemische dargeboten, die für die Netzhaut den Charakter von Farbreizen in sich tragen. Der vom Menschen als farbig empfundene Lichtwellenreiz beruht indessen allgemein als eine große Entdeckung gefeiert wurde« (Jung 1931, 216). Aus diesem Versuch wird eindeutig ersichtlich, dass die Fotografie kein absolutes Wirklichkeitsabbild darstellt, sondern sich nur demjenigen als ein solches offenbart, der durch Erziehung und Gewöhnung imstande ist, in dem fotografischen Bild die Wirklichkeit wiederzuerkennen. Ein ähnliches Phänomen ist das perspektivische Sehen flächiger Darstellungen.

DIE MITTEL DES FILMS

nicht nur auf einer einfachen, sondern bereits zusammengesetzten Wirkung, die sich in Helligkeits- und Farbreizanteil zerlegen und genau untersuchen lässt. Fehlt der Farbreiz, so ist dennoch ein Helligkeitsreiz vorhanden. Dieser Helligkeitsreiz lässt sich mit den durch die fotografische Abbildung hervorgerufenen Lichtwellenenergien, die stets unbunten Reizen entsprechen, energetisch vergleichen. Die gebräuchlichen fotografischen Emulsionen liefern, wie vergleichende Messungen ergeben, kein energiegleiches Abbild der Helligkeitsintensität von Wirklichkeitsabbildern. Es ist zwar grundsätzlich möglich, fotografische Emulsionen für Negativ- und Positiv-Schichten herzustellen, die zu einer energiegleichen Registrierung aller von einem normalen Wirklichkeitsvorbild ausgehenden Lichtwellenenergien fähig sind; doch kommen derartige Emulsionen in der fotografischen Praxis nicht vor, weil sie für die Zwecke normaler fotografischer Abbildung grundsätzlich unbrauchbar wären. Damit wird deutlich, dass von einer Übereinstimmung der auf die Netzhaut des Auges gelangenden Helligkeitsreize durch das fotograf‌isch erzeugte Film- oder Papierbild in der Praxis keine Rede sein kann. Die physikalisch-optischen Unterschiede zwischen beiden sind energetisch so bedeutend, dass sie nicht mehr als Nachbildung definiert werden können.2 Diese im Filmbild zu der Reduzierung der Farbigkeit auf schwarz-weiß hinzutretende Reduzierung der Helligkeitsschattierung auf einem im Verhältnis zu den Abstufungen in der Wirklichkeit viel engeren Bereich macht es also notwendig, dass das Filmbild, um als Wirklichkeitsabbild zu wirken, durch den Zuschauer aus dessen eigenem Erinnerungs-, Vorstellungs- und Erfahrungsbestand ergänzt werden muss. Auch bei der farbig-fotografischen Naturwiedergabe, beim Farbfilm, ist dieser Vorgang für das Zustandekommen des Eindruckes einer annähernd vollkommenen Wirklichkeitsabbildung notwendig. Einmal ist die fotografische Farbwiedergabe immer noch in ähnlicher Weise (und dazu noch in stärkerem Maße) wie die Wiedergabe der Helligkeitswerte von den Tönungen der Wirklichkeit sehr verschieden. Ferner ergeben sich Schwankungen der Farbtönung bei der Projektion von Farbfilmen auch dadurch, dass dabei durch die Aufeinanderfolge von hellen und dunklen Szenen auch die Gesamthelligkeit im Zuschauerraum und damit die allgemeinen Sehbedingungen wechseln. Es kommt so, besonders bei der direkten Aufeinanderfolge bestimmter Farbwerte,3 oft zu mehr 2 Vgl. Opfermann 1948, 1. Kap. 3 Vgl. ebd.

175

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

176

oder weniger starken Farbvermischungen oder -veränderungen, die jedoch in den (häufigeren) unausgeprägteren Fällen infolge der Eigenergänzung durch den Zuschauer meist kaum bewusst werden. Der Zuschauer weiß eben, dass der Himmel blau, der Sand gelb ist usw., und ebenso wie für die Objekte hält er auch für die Farben dieser Objekte in seiner Erinnerungs- oder Vorstellungswelt bzw. auch schon ganz unbewusst in seinem Erfahrungsgedächtnis (vgl. S. 116 Anm. 15) immer bestimmte Farbwerte bereit, welche das Erleben der Farben im Film ausgleichend beeinflussen. Ein weiterer Punkt, in dem sich das Filmbild von der Wirklichkeit unterscheidet, ist seine Flächigkeit. Die Wirklichkeit wird normalerweise – infolge der Doppelsicht durch die zwei Augen – immer räumlich, d. h. dreidimensional erlebt. Fotografie und Film dagegen projizieren diesen Raum in die Fläche. Eine flächige Darstellung aber löst nur in ganz bestimmter Form und unter besonderen Umständen ein Raumerlebnis mit allen Begleitumständen, wie Größenkonstanz, Formkonstanz (vgl. S. 108  f.) usw., aus. Beim Film jedoch, und das ist das Eigenartige, wird jedem Zuschauer durch das in die Fläche projizierte Raumbild überwiegend das Erlebnis des Raumes vermittelt. Dieser Umstand verdient besondere Beachtung, da von Filmtheoretikern immer wieder betont wurde, dass der Film schon deswegen nicht rein technisch, sondern künstlerisch sei, weil er die Wirklichkeit nicht einfach mechanisch abbilde, sondern – wie die Malerei – eben den Raum in die Fläche projiziere.4 Diese Behauptung mag theoretisch richtig sein; sie ist jedoch falsch, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt des vom Film vermittelten Erlebnisses betrachtet. In der Malerei kommt das tatsächliche Raumerlebnis auch bei sehr naturalistischen Darstellungen nur in ganz speziellen Fällen vor, nämlich bei ausgesprochenen Eidetikern (vgl. S. 121 Anm. 26). Die Projektion des Raumes in die Fläche ist also bei der Malerei eine tatsächliche, sich weitgehend auch auf das Erleben auswirkende. Beim Filmbild, das eine Synthese aus Raum und Fläche darstellt, hat diese Projektion jedoch nur theoretische Bedeutung, da das tatsächlich vermittelte Erlebnis überwiegend räumlicher Natur ist. Der Film zwingt dem Zuschauer die Raumillusion auf. 5 Das illusorische Erlebnis aber ist vollkommen unab4 Vgl. z. B. Arnheim 1932, 24  ff. 5 Diese Räumlichkeit des Filmbildes ist natürlich nicht so zu verstehen, als ob der Zuschauer das Filmbild plastisch, gleichsam wie einen Bühnenraum, erlebte. Der Eindruck der Räumlichkeit kommt vielmehr so zustande, dass das Bild nicht von vornherein, sondern erst im Erlebnis selbst zur Räumlichkeit ergänzt wird. Die Illusion wird dabei nur teilweise in das tatsächliche Bild hinein verselbstständigt.

DIE MITTEL DES FILMS

hängig vom künstlerischen Erlebnis. Die Projektion des Raumes in die Fläche ist beim Film also noch kein Beweis dafür, dass der Film Kunst ist. In dem vom Film vermittelten vorwiegend räumlichen Erleben der Fläche zeigt sich ein Phänomen, das psychologisch stark an die Eidetik gemahnt (vgl. S. 120  ff.), zumal wenn man sich erinnert, dass herabgesetzte Allgemeinbeleuchtung, großflächige Vorlagen und interessante Objekte – alles Bedingungen, die beim Film weitgehend erfüllt sind – eidetische Erscheinungen begünstigen.6 Aber auch unabhängig von einer etwas latent vorhandenen und nun dem Illusionserlebnis des Films besonders entgegenkommenden eidetischen Anlage entsteht durch das Filmbild trotz der ihm eigenen Unzulänglichkeiten immer vorwiegend das Erlebnis einer dreidimensionalen, wirklichkeitsgetreuen Abbildung eines realen Wirklichkeitsausschnittes. Der Schein wird also durch die vom Filmbild ausgehende Suggestionskraft vom Zuschauer unbewusst durch am Sein gewonnene Erinnerungsbilder und subjektive Vorstellungsbilder (vgl. S. 113  ff .) ergänzt. Es entsteht eine unbewusste Verbindung zwischen erlebendem Subjekt und erlebtem Objekt, durch die das Letztere durch das Erstere eine mehr oder weniger große Umformung erfährt, die wiederum als objektive Tatsächlichkeit erlebt wird.7 Das filmische Bilderlebnis hat magischen Charakter. In ähnlicher Weise wie das Bild muss auch der Ton vom Zu­ schauer ausgeglichen und ergänzt werden, um als naturgetreu empfunden zu werden. Die Differenzen zwischen Natur- und Filmton ergeben sich vor allem aus den Einflüssen der Raumakustik im Vorführungsraum. Neben dem aus dem – unter oder hinter der Projektionswand angebrachten – Lautsprecher kommenden Ton 6 In diesem Zusammenhang ist auch Fawcetts Feststellung interessant, nach der die weitaus überwiegende Masse aller Kinozuschauer der Welt aus Frauen und Kindern (Jugendlichen) besteht, aus Menschen also, bei denen sich neben allen anderen ein magisches Welt­er­leben begünstigenden Faktoren auch die eidetische Anlage prozentual am meisten findet (vgl. Fawcett 1928, 107). 7 Diese Art der Bildergänzung, durch die die abfotografierte Wirklichkeit sich der tatsächlichen Wirklichkeit im Erleben angleicht und die es z. B. auch ermöglicht, einen Menschen auf einer Fotografie aufgrund der maßstabgerechten Wiedergabe bekannter Einzelheiten zu erkennen, ist streng zu unterschieden von dem ästhetischen Erleben, das beispielsweise ein vollkommen unnaturalistisches Porträt als ähnlich erscheinen lässt. Das künstlerisch gestaltete Portrait offenbart auch bei äußerlicher Unähnlichkeit, d. h. Maßstabungerechtheit, das Wesen des Dargestellten von innen heraus, während die Fotografie immer und in erster Linie die äußere Wirklichkeit darstellt und zu dieser ergänzt wird. Je intensiver nun diese Ergänzung ist, desto mehr nähert sie sich jener Art von Ergänzungsprojektion an, welche typisch ist für die primitive Bildnerei zu magischen Zwecken (vgl. ebd., 40).

177

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

178

wird nämlich auch die aus Absorptions- und Reflexionseffekten und aus der eigentlichen Raumresonanz resultierende »Hörsamkeit des Raumes« (Opfermann) wirksam. Ferner ist die Nachhallzeit bei verschiedenen Tongemischen oft sehr unterschiedlich (bei der menschlichen Sprache z. B. wesentlich kürzer als bei Orgelmusik) usw. »Der Raumakustiker muß daher bereits für die akustische Gestaltung von Filmvorführungsräumen Kompromisse schließen und die Nachhallzeit so bemessen, daß weder die Silbenverständlichkeit leidet, noch die musikalischen Darbietungen wesentlich beeinträchtigt werden. Eine ideale, d. h. absolute naturgetreue Ton­wiedergabe ist daher mit rein technischen Hilfsmitteln schon aus diesem Grunde nicht erzielbar« 8. Auch vollzieht sich die Tonverteilung im Raum vom Lautsprecher aus nicht immer gleichmäßig. In großen Kinos hat man z. B. meistens statt eines einzigen zwei schräg nach den Seiten ausstrahlende Lautsprecher, was jedoch oftmals zur Folge hat, dass sich entlang der Längsachse des Vorführungsraumes von der Leinwand her ein tropfenförmiger, gewissermaßen im Tonschatten liegender Raum bildet, in welchem die Akustik im Verhältnis zu den Seiten denkbar schlecht ist. In kleineren Kinos dagegen entspricht die Leistungsfähigkeit des Lautsprechers oft nicht der Raumgröße bzw. überragt sie beträchtlich usw. »Ist die Schallverteilung nicht überall gleich, so bewirkt sie eine physiologisch bedingte Störung der Schallverarbeitungsfähigkeit des menschlichen Ohres. Der Eindruck der Lautstärke in ihr wächst bei niedrigen Frequenzen. Je lauter also an irgend einer Stelle des Vorführungsraumes die Tonwiedergabe ist, umso dumpfer scheint ihr Gesamtklangcharakter, sodaß dem gleichen Tongemisch bei ungleichmäßiger Schallverteilung an einer Stelle des Vorführungsraumes für das Ohr ein anderer Klangcharakter eigen sein kann als an anderer Stelle« 9. Die Bedingungen der Vorführung bringen es also mit sich, dass der vom Film vermittelte Ton vom Naturton wesentlich verschieden ist. Auch über die in der Praxis unerfüllbaren raumakustischen Idealbedingungen hinaus läßt die physikalische Untersuchung von Schallphänomenen erkennen, daß zwischen einem wirklichen und dem davon übertragenen Schallphänomen stets tiefgreifende Verschiedenheiten bestehen. Die Luftschwingungen, die von den wirklichen Schallerzeugern hervorgebracht wer-

8 Opfermann 1948, 1. Kap. 9 Ebd.

DIE MITTEL DES FILMS

den, unterscheiden sich von den ihnen entsprechenden, durch die Tonapparatur erzeugten, sowohl ihrer Art, als auch ihrem Umfange nach, ganz erheblich. […] Die Verschiedenheit des wirklichen zum übertragenen Schallphänomen ist aus raumakustischen und übertragungstechnischen Gründen so groß, daß sie vom Fachmann stets deutlich gehört werden kann. Der Normalzuschauer hört sie bei Tonfilmszenen nur dann, wenn die Grenzverzerrung bzw. die raumakustischen Bedingungen die durch statistische Untersuchung festgelegten Mindestwerte überschreiten.‌10 Die Ergänzung bzw. Angleichung des vom Film vermittelten Tones zum Naturton durch den Zuschauer beruht wohl hauptsächlich darauf, dass jeder Ton nicht nur gehört, sondern in den meisten Fällen gleichzeitig auch »gesehen« wird. Wir hören im Film nicht nur, sondern wir sehen auch gleichzeitig auf der Leinwand die Menschen sprechen, lachen und singen, die Autos bremsen, die Flugzeugpropeller sich drehen, die Orchester spielen usw.11 Die sog. »Untermalungsmusik« wird vom Zuschauer nur selten als selbstständige Musik empfunden, der er besondere Aufmerksamkeit widmet (es sei denn, die Musik spielt eine besondere Rolle in der Handlung), sondern eher als »Untermalung«, als tönender Ausdruck des gezeigten Bildes. Hier wird der Ton bzw. die Melodie kaum als solche bewusst. In den erstgenannten Fällen aber, in denen der Ton »mitgesehen« wird,12 vollzieht sich eine Vermischung der Wahrnehmungen, die, auf normalen Funktionen auf‌bauend (vgl. S. 107), hier zu einem wesenhaft magischen Welt­er­leben führt. Dadurch näm10 Ebd. 11 Ein gutes Beispiel hierfür gibt u. a. folgende bei Gregor (1932, 125) als Beispiel für das sog. »Singspielprinzip« zitierte Szenenfolge aus dem älteren Film »Melodie des Herzens« : 192. Burgmauer der Zitadelle. Hornist bläst den Zapfenstreich. Unten die Stadt. / 193. Hellerleuchtete Bastei. Ganz ferne: Zapfenstreich. / 194. Ausflüglerschiff auf der Donau. Gesellschaft singt mit Zigeu­ nerbegleitung. / 195. Vorgarten eines mondänen Hotels. Jazzband. / 196. Korso. Promenieren der eleganten Welt. / 197. Rattern, Klingeln, Tuten, Lichtreklame. / 198. Inneres des »Paradies«. Klimpern des schlechten Klaviers. / 199. Stein­ terrasse der Burgwache. Zapfenstreich. 12 Auch in den meisten Fällen, in denen ein weniger allgemein bekannter Ton Bedeutung gewinnt, ohne gleichzeitig mitgesehen zu werden, ist dieser Ton schon vorher »sichtbar« eingeführt worden. In dem (franz.) Film »Der ewige Bann« (»L’Eternel Retour«) z. B. wird in der letzten Szene ein Motorboot erwartet. Abgesehen davon, dass dem Zuschauer bekannt ist, dass dieses Motorboot erwartet wird, wurde das Boot auch schon vorher in verschiedenen Szenen wiederholt in Fahrt gezeigt (also Bild und Ton zusammen), sodass das

179

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

180

lich, dass das im Inneren des Zuschauers vorgestaltete Klangbild (vgl. S. 111) nicht durch den Klang allein, sondern zum entscheidenden Teil durch das tatsächliche Filmbild hervorgerufen wird, glaubt der Zuschauer, naturgetreu zu hören, was er in Wirklichkeit in dem an sich schon unbewusst ergänzten Filmbild sieht. Der Wirklichkeitseindruck von Bild und Ton entsteht durch die Wechselwirkung von tönendem Bild und Zuschauer.13 Hierdurch aber vollzieht sich, angeregt durch das tönende Filmbild, eine starke physische Verbindung zwischen Zuschauer und Film, zwischen Subjekt und Objekt. Das Zusammenwirken von Bild und Ton, das im Erleben der realen Welt das objektive Erleben der Welt fundiert, bewirkt beim Film im ungeübten Normalzuschauer eine Eigenergänzung, die den Wirklichkeitseindruck eines an sich unwirklichen Objektes – oft bis zur Identifikation mit der Wirklichkeit – steigert. Dass es sich hierbei, wie bei den meisten Phänomenen magischen Welt­ er­lebens (vgl. S. 47  ff .), um eine logisch-rational klar erkennbare, ja sogar mit technischen Mitteln untersuchbare psychische Täuschung handelt, zeigt u. a. auch der Umstand, dass durch bewusste Übung und durch Kenntnis und Beobachtung der technischen Einzelheiten dieser Wirklichkeitseindruck, der die Voraussetzung des filmischen Erlebnisses und die Grundlage für die große Verbreitung des Films ist, stark vermindert werden kann. Die filmische Illusion fußt auf der Eigenprojektion des Zuschauers. Der Wirklichkeitseindruck des tönenden Filmbildes wird zum großen Teil durch die Bedingungen der Vorführung bewirkt. Die Faszination des leuchtenden Bildes bringt es in dem sonst dunklen und von äußeren Einflüssen abgeschlossenen Raum mit sich, dass der Zuschauer während der Vorführung die Objekte, d. h. das Erlebnisgut, nicht immer nur »als Bild«, sondern gewissermaßen »im Bild« erlebt. Das Bild wird hierbei schon deshalb nicht bewusst als solches erlebt, da sich in seiner Umgebung keine anderen, von ihm gut unterscheidbaren Objekte befinden. Das im Raum herrschende Dunkel reicht bis zum eigentlichen Bild. Zumal wenn nun das Bild im Verhältnis zum Abstand vom Zuschauer eine be­ Geräusch des sich nähernden Bootes, das dem in der Fischerhütte Wartenden dessen Ankunft ankündigt, auch für den Zuschauer sofort am Ton als solches zu erkennen ist. 13 Besonders deutlich wird dies z. B. bei an sich leisen Geräuschen, die im Film stark übertrieben herauskommen. Es wird z. B. ein Brief erbrochen, ein Kalenderblatt abgerissen oder dergl. Der Ton ist hierbei oft ein hartes Knacken. Dem Zuschauer wird dies jedoch kaum bewusst, da er durch das Bild ja weiß, dass dieser Ton Brieföffnen bzw. Blattabreißen bedeutet. Der Ton wird in diesem Falle durch die Bildergänzung vom Zuschauer zur Natürlichkeit ergänzt.

DIE MITTEL DES FILMS

stimmte (berechenbare) Größe hat und der Sinnzusammenhang der Bilderfolge das Interesse des Zuschauers in Anspruch nimmt, wird das Gesichtsfeld des Zuschauers faktisch durch den Bildrand begrenzt. Je günstiger die beiden letztgenannten Bedingungen sind, desto intensiver wird dieses Erleben im Bilde sein, hinter welchem ein ästhetisches Erleben (vgl. S. 48 Anm. 14) des vom menschlichen Gesichtsfeld theoretisch stark unterschiedenen Wirklichkeitsausschnittes der Kamera stark zurücktritt. Auch das von Filmtheoretikern zum Problem »Film als Kunst« beigebrachte Argument, dass die Bildbegrenzung beim Film eine ganze andere sei als die des realen Sehraums,14 hat also absolute Gültigkeit nur in der Theorie. Die Praxis der Vorführung bringt es dagegen mit sich, dass diese Bildbegrenzung in unzähligen Fällen nicht miterlebt wird, sondern der Zuschauer den Bildausschnitt wie den durch die Begrenzung des Sehraums gegebenen tatsächlichen Wirklichkeitsausschnitt erlebt.15 Von ständiger Wirkung ist die Bildbegrenzung nur in indirekter Weise: durch die Wirkung der abgebildeten Objekte, welche innerhalb und infolge dieser Begrenzung anders erscheinen als in Wirklichkeit. Von entscheidender Bedeutung aber für den vom tönenden Filmbild hervorgerufenen Wirklichkeitseindruck ist die vom Film vermittelte Wiedergabe der Bewegung. Durch die Bewegung erst unterscheidet sich der Film prinzipiell von allen anderen Projektionskünsten und erst durch die Bewegung vollzieht sich der entscheidende Schritt vom »Bild« zum Wirklichkeitsausschnitt. Denn jede Bewegung vollzieht sich in der Wirklichkeit dreidimensional. Somit bewirkt auch ihre filmische Wiedergabe, dass auch das Filmbild, in dem sich diese Bewegung von Seite zu Seite oder in die Tiefe bzw. aus ihr heraus vollzieht, dreidimensional erlebt wird. Die Perspektive gewinnt Leben und wird somit nicht mehr als Projektion des Raumes in die Fläche, sondern als vollkommene Abbildung der realen Gegebenheiten des Raumes erlebt.16 Zweifellos wird diese Bewegung von jedem Zuschauer als natürlich und wirklichkeitsgetreu empfunden. Es fragt sich nun, wie diese Bewegung und ihr Natürlichkeitscharakter zustande kommen. 14 Vgl. Arnheim 1932, 31  ff. 15 Natürlich wird einem die Begrenzung des tatsächlichen Sehraumes infolge der Beweglichkeit der Augen nie bewusst. Eine Parallelerscheinung zum »Film-Sehraum« wäre im Bereich des realen Sehens ungefähr das Phänomen des sog. »röhrenförmigen Gesichtsfeldes«. 16 Wie stark dieses Erlebnis von der Bewegung abhängig ist, merkt man deutlich, wenn in einem Film Standfotos eingeschnitten sind. Sofort werden der Raum- und Wirklichkeitseindruck gemindert.

181

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

182

Die Bewegung kommt im Film dadurch zustande, dass bei der Aufnahme die einzelnen Bewegungsphasen in der Reihenfolge ihres Ablaufes fotografiert und dann bei der Reproduktion in eben derselben Weise hintereinander projiziert werden, und zwar jeweils durchschnittlich 16 Phasen (Bilder) pro Sekunde. Bei der Projektion schiebt sich zwischen den einzelnen Bildern immer ein Verschluss vor die Linse, sodass die Bilder ruckweise projiziert werden: Ein Bild erscheint – es wird dunkel – das nächste Bild erscheint usw. Der Vorgang der Bewegungsabbildung ist also seinem Wesen nach beim Film derselbe wie z. B. bei der weiter oben zitierten Schnittergruppe im Grabe des Menna (vgl. S. 167 Anm. 8). Der Unterschied ist nur, dass dort alle Phasen gleichzeitig nebeneinander abgebildet waren, das Auge also hin und hergleiten (und dazusehen) konnte, während beim Film ein Bild dem anderen an immer dem gleichen, vom Zuschauer fixierten Platz folgt, also einerseits die Reihenfolge des Betrachters im Sinne des Bewegungsablaufes zwingend und andererseits immer jeweils nur eine Phasenabbildung zur Zeit sichtbar ist. Und zum anderen ist der unausgefüllte Zwischenraum zwischen den abgebildeten Phasen hier viel geringer als dort – so gering, dass sich der Zuschauer dieses Zwischenraumes gar nicht bewusst wird. Die einzelnen Phasen werden hier nicht, wie dort, mit Hilfe der Vorstellungsfantasie verbunden, sondern von vornherein als miteinander verbunden erlebt. Die Frage ist also, wie sich diese unbewusste Verbindung der Einzelphasen zum organischen, d. h. bewegten Ganzen im Zuschauer während der Filmvorführung vollzieht. Bei Opfermann finden sich hierzu folgende Darlegungen: Die auf die Netzhaut des Zuschauers gelangenden ruhenden Zustände verwandeln sich in ein Bewegungserlebnis, das mit demjenigen, das durch eine wirkliche Bewegung hervorgerufen wird, unterschiedslos übereinstimmt. Und zwar entsteht der Bewegungseindruck nicht bereits auf der Netzhaut, etwa dadurch, dass die in rascher Folge auf‌treffenden Einzelreize im Sinne der Bewegung miteinander verschmelzen, weil jeder vorhergehende Reiz noch im Abklingen begriffen ist, während der folgende bereits entsteht. Die neueren Forschungen haben vielmehr klar ergeben, dass die Bewegungsempfindung erst im Gehirn des Zuschauers von diesem selbst erzeugt wird. Das Auge des Zuschauers sieht in die ihm in rascher Folge dargebotenen ruhenden Einzelbilder eine Bewegung hinein, die gar nicht vorhanden ist. Damit der Zuschauer die Bewegung als auf der Kinoleinwand vor sich gehend bemerken kann, ist es nicht nur erforderlich, dass er sie in seinem Gehirn auf‌baut; er muss diese Bewegung dann wieder aus seinem Gehirn heraus

DIE MITTEL DES FILMS

auf die Kinoleinwand zurückverlegen und dort als getrennt und unabhängig von ihm vor sich gehend anschauen. Der Zuschauer ist in jedem Augenblick davon überzeugt, dass er eine Bewegung betrachtet, die auf der Leinwand – ganz unabhängig davon, ob er die Leinwand betrachtet oder nicht – abläuft. Würde er die Bewegung lediglich in seinem Gehirn auf‌bauen, dann müsste er in der Lage sein, zu erkennen, dass es sich um eine nur vorgestellte Bewegung, die keinen Wirklichkeitscharakter besitzt, handelt. Die Anerkennung der auf der Leinwand vor sich gehenden Bewegung wird indessen von jedem Zuschauer als wirklich erzwungen. Nun könnte allerdings die so erzwungene Anerkennung ihren Grund darin haben, dass auch die in der Wirklichkeit vorkommenden Bewegungen auf die gleiche Weise zustande kommen, wie die kinematographischen Bewegungen. Es könnte ja sein, dass auch wirkliche Bewegungen aus einer Vielzahl einander folgender ruhender Zustände bestehen, die erst im Gehirn des Betrachters miteinander verschmolzen werden und so den Bewegungseindruck entstehen lassen. Dass diese Deutung falsch ist, kann sowohl mithilfe physikalischer Messmethoden als auch durch psychologische Experimente allgemeingültig nachgewiesen werden. Es ist durch physikalische Experimente und Messungen eindeutig feststellbar, dass in der Wirklichkeit vorkommende Bewegungen auf einem kontinuierlichen Durchlaufen abgrenzbarer Raumstrecken beruhen. Es ergibt sich somit, dass die kinematographische Bewegung, die sich auf der Leinwand vollzieht, von der wirklichen Bewegung grundsätzlich wesensverschieden ist. Auf der Leinwand erscheinen ruhende Einzelzustände, in der Wirklichkeit vollziehen sich echte, kontinuierliche Bewegungen.17 Das Erlebnis der Bewegung ist also beim Film ein Vorgang, bei dem der Zuschauer (der Erlebende) unbewusst von sich aus das Erlebnisgut ergänzt. Man könnte diesen Vorgang funktionell etwa vergleichen mit der Umkehrung der im Auge ja tatsächlich als auf dem Kopf stehend abgebildeten Welt (vgl. S. 107).

17 Opfermann 1948, 1. Kap., siehe hierzu auch W. Neuhaus: »Zur Theorie der Scheinbewegung«, N. Ach: »Das Kompensations- und Produktionsprinzip der Identifikation«, und K. Lippert: »Neue Untersuchungen zur Psychologie der Motorik« (in: Bericht über den XII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, 1932), sowie S. Exner: »Über das Sehen von Bewegungen und die Theorie des zusammengesetzten Auges« (in: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaf‌ten zu Wien, 1873, Bd. 72, 156).

183

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

Hier wie dort wird ein physischer Reiz unbewusst-psychisch verarbeitet,18 und zwar derart, dass das den Reiz aussendende Objekt infolge dieser Umsetzung in seiner objektiven Natürlichkeit erlebt wird; hier die organische Bewegung, dort die aufrecht stehende Welt. Der grundsätzliche Unterschied zwischen den beiden Erlebnissen aber besteht darin, dass die Welt eben tatsächlich aufrecht steht, die filmische Bewegung aber sich nicht tatsächlich in der erlebten Form vollzieht. Dort wurde durch die Umsetzung das objektive Erleben der Wirklichkeit erreicht, hier gewinnt durch die unbewusst-psychische Verarbeitung und Ergänzung der vom Objekt ausgesandten Reize eine Illusion Wirklichkeitscharakter. Der Umsetzungsprozess führt hier zu einem Erlebnis, in dem das Erlebnisgut durch die Ergänzung aus der Vorstellungs- und Erfahrungswelt des Erlebenden einen über seine tatsächliche Wirklichkeit weit hinausgehenden Wirklichkeitseindruck hervorruft. Das filmische Bewegungserlebnis hat magischen Charakter. Aus der Betrachtung der elementaren Mittel des Films ergab sich Folgendes: Das filmische Wirklichkeitsabbild ist von der tatsächlichen Wirklichkeit in entscheidenden Punkten grundsätzlich verschieden. Der Normalzuschauer aber erlebt in den meisten Fällen den filmischen Wirklichkeitsausschnitt als ein naturgetreues Abbild der tatsächlichen Wirklichkeit. Es muss hierbei zwar zu keiner Verwechslung oder Identifikation der Filmwelt mit der tatsächlichen Welt kommen, aber im Augenblick des filmischen Erlebnisses erscheint hierdurch die Filmwelt als eine wirkliche Welt, die der tatsächlichen Welt außerhalb des Films phänomenal gleich ist. Dieses Erlebnis beruht in erster Linie auf der Faszination durch das Bild und auf der unbewussten Bewegungsergänzung. In ihrer Folge werden weiterhin Bild, Ton und Räumlichkeit unbewusst vom Zuschauer ergänzt.19 184

18 Dass es sich hierbei tatsächlich um eine ständig neue Einstellung zu jedem der schnell aufeinanderfolgenden Bilder (um eine Verarbeitung) handelt, zeigt u. a. auch die durch Filmvorführungen hervorgerufene, im Verhältnis zu ähnlichen Veranstaltungen auch bei besten technischen Anlagen oft ungleich stärkere Ermüdung des Zuschauers. 19 Die immer größere Annäherung des Films an das Naturvorbild durch technische Verbesserungen ändert hieran nichts. Denn auch z. B. in einem technisch vollkommenen, die Wirklichkeit plastisch und in naturgetreuen Farben und Tönen wiedergebenden Film würde immer die Bildfaszination und die Bewegungsergänzung bestehen bleiben und damit der eben durch sie hervorgerufene Wirklichkeitseindruck einer in jedem Falle immer nur räumlich »erscheinenden« Fläche. Die Grundlagen wären also dieselben: nur die Wirkung würde noch gesteigert.

DIE MITTEL DES FILMS

Eine solche Erlebnisweise aber, die durch die enge Verbindung zwischen erlebendem Subjekt und erlebtem Objekt, durch die Projektion innerseelischer Vorstellungen usw. in das außerseelische Erlebnisgut und durch die hierdurch hervorgerufene Umbildung des Scheins zum stellvertretenden Sein zustandekommt, ist phänomenal magisch.

Die Einstellung Die elementaren Mittel des Films sind – abgesehen von technischen Verbesserungen – unveränderliche Gegebenheiten und somit auch in ihrer Wirkung unveränderlich. Anders verhält es sich mit den Mitteln der Regie, welche beliebig angewandt und somit auch in ihrer Wirkung beliebig gesteigert und gemindert werden können. In jedem Falle aber fußen sie auf der Wirkung der elementaren Mittel. Die Frage ist nun, inwieweit durch die Regiemittel der Filmkunst das durch die Wirkung der elementaren Mittel im Normalzuschauer fundierte phänomenal magische Erlebnis gesteigert werden kann. In offensichtlicher Weise magisch kann die Einstellung wirken. Sie tut dies z. B., wenn die Filmkamera in Augenhöhe angebracht ist, der Zuschauer also mit der Kamera identifiziert wird. In einem Lehrbuch für Filmamateure findet sich z. B. folgendes Beispiel: Ein junger Mann hat sich durch Verkettung irgendwelcher Umstände irrtümlicherweise in einem im Schaufenster eines Möbelgeschäftes stehenden Bett schlafen gelegt. Am anderen Morgen wird der Rollladen des Schaufensters hochgezogen und die Passanten bemerken den eben erwachten Schläfer. Zur filmischen Lösung dieser Szene werden nun folgende zwei Einstellungsbeispiele gegeben: 1. Wir befinden uns unter den Passanten. Dann blicken wir direkt in das Schaufenster und sehen nun unseren Helden im Bett. Wir werden also eine Nahaufnahme des Helden aus einer Entfernung machen, die ungefähr dem Abstand des Bettes vom Schaufenster entspricht. 2. Wir liegen als unser Held im Bett und sehen, während wir er­wachen, die Leute, die sich vor dem Schaufenster stauen. Also wird unsere Aufnahme von einer so hoch über dem Boden liegenden Stelle, wie sie der Betthöhe entspricht, gemacht, und wir werden die Leute hinter einer Scheibe stehend direkt in unsere Kamera hineinschauen und -lachen lassen.20 20 Vgl. Opfermann 1938, 12.

185

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

186

Eine dritte, aber schon abschwächende Einstellung wäre die Aufnahme der Szene gewissermaßen aus der zweiten Reihe der Passanten heraus durch das Fenster. Hierdurch findet zwar auch noch eine gewisse Identifikation des Zuschauers mit der Kamera statt, doch ist dadurch, dass in diesem Falle noch einige Passanten (der ersten Reihe, also mit dem Rücken zur Kamera) im Bild erscheinen, die Szene schon viel mehr in sich geschlossen. Der Kinobesucher wird tatsächlich zum Zuschauer und ist nicht mehr, wie in den beiden ersten, typisch filmischen Fällen, in die Atmosphäre, in den Raum der Szene spontan miteinbezogen. Folgende, aus einem älteren Film stammende Szene zeigt, wie der Zuschauer durch die Identifikation mit der Kamera nicht nur in die Atmosphäre und den Raum, sondern auch in die Handlung miteinbezogen werden kann. »In dieser Szene versucht ein Schauspieler als kauziger Lebemann den Inhalt eines Gespräches zu erlauschen, das zwei im Hintergrund der Szene stehende Männer führen. Seine ganze Körperhaltung, der vorgestreckte Kopf, der geöffnete Mund sind auf das Erhaschen undeutlicher Wortfetzen ausgerichtet. Sein Blick aber ist nicht auf die Hintergrundszene gerichtet, sondern, obwohl er im Halbprofil steht, in das Kameraobjektiv. Das bedeutet, daß der Lauschende mit krampfhaft schielendem Auge den Zuschauer erblickt. Dieser Blick wirkt auf den Zuschauer so als ob er von dem Inhalt des Gespräches der beiden Personen im Hintergrund Kenntnis haben müsse« 21. Der Zuschauer wird also in diesem Moment vom Film her wie ein im Filmraum selbst anwesender und um die zwischen den beiden Männern im Hintergrund besprochene Sache wissender Mensch behandelt. Er wird in den Bereich der filmischen Handlung, in die Filmwelt miteinbezogen.22 Eine Intensivierung der Identifikation »Kamera – Zuschauer« zeigt sich in folgendem Beispiel: In dem Film »Münchhausen« lernt Münchhausen auf dem Markt in Petersburg ein Mädchen kennen, das ihm ein Rendezvous verspricht. Abends wird er von einer alten Frau zu diesem Rendezvous abgeholt. Er wird durch viele Gassen und Hintertüren bis zum kaiserlichen Palast geführt. Seine und 21 Opfermann 1948, 28. Kap. Wie Opfermann weiterhin feststellt, wird u. a. auch die im Zuschauer durch den Film hervorgerufene erotische Wirkung durch direktes Anblicken des Objektivs durch die Schauspieler gesteigert, besonders auch, wenn z. B. bei einer Umarmung der eine oder andere Partner ins Objektiv (und damit dem Zuschauer ins Auge) blickt. 22 Derartige Szenen erinnern an das »Beiseitesprechen« im Theater, sind jedoch ihrer Wirkung nach diesem nicht gleich, wie der Unterschied zwischen Film und Theater überhaupt ein grundlegender und weiter unten noch näher zu besprechender ist.

DIE MITTEL DES FILMS

des Kinobesuchers Spannung steigert sich. Dann muss er in einem kleinen Raum des Palastes warten. Er sieht sich im Raume um. Die Kamera lässt ihren Blick über die Wände gleiten. Die folgende Einstellung zeigt eine Tür dieses Raumes, so wie sie von Münchhausen gesehen wird. Die Kamera befindet sich in Augenhöhe. Der Kinobesucher sieht die Tür mit den Augen Münchhausens. Nun öffnet sich die Tür und heraus tritt das Mädchen vom Markt, in prächtigen Kleidern und Perlen: die Kaiserin Katharina. Die Identifizierung der Kamera mit dem Auge des Zuschauers setzte hier nicht plötzlich ein. Durch das Begleiten des Helden unter verschiedenen anderen Kameraeinstellungen wurde der Zuschauer vielmehr allmählich in die Situation immer mehr eingeführt und mit der Stimmung und Lage des Helden vertraut gemacht, bis dann im entscheidenden Augenblick (der zudem noch eine Überraschung bringt) die Identifikation eintritt. Durch diese Identifikation der Kamera mit dem Auge des Zuschauers und gleichzeitig mit dem Auge des Helden des Films wird nun der Zuschauer aber nicht nur in die Szene miteinbezogen, sondern seine bis dahin vielleicht nur mitfühlende Anteilnahme für das Schicksal des Helden wird durch diese Einstellung im Rahmen der Filmhandlung zu einer Identifikation mit der Person des Helden selbst realisiert. Der Zuschauer lebt so für die Zeit des Films das Leben des Helden mit allen seinen erhebenden und drückenden Gefühlsmomenten mit. Die Kaiserin also erscheint in dem obigen Beispiel nicht nur dem Helden, sondern der Doppelperson Held-Zuschauer. Die Worte, welche sie im Türrahmen stehend spricht, berühren den Zuschauer, als wären sie an ihn gerichtet. Die letztgenannte Doppelidentifikation »Kamera – Filmheld« (oder einfach »Schauspieler – Zuschauer«) ist wohl die häufigste, bestimmt aber auch die effektvollste. Es ist dabei gleichgültig, innerhalb welches Sinnzusammenhanges sich diese Identifikation vollzieht – ob in einem Wildwest-Film ein Revolver in das Objektiv hinein abgefeuert wird, ob der Zuschauer (d. h. die Kamera) mit bzw. anstelle des nach langer Abwesenheit zurückgekehrten Filmhelden durch die verlassenen Räume seines Hauses geht,23 ob er in einem Auto neben dem Chauffeur oder an dessen Stelle eine wilde Verbrecherjagd mitmacht, ob ein Schauspieler im Film sein Auge an ein Astloch annähert um irgendetwas zu beobachten und der Zuschauer die folgende Szene dann durch ein Astloch fotografiert 23 Hierbei »fährt« die Kamera zwar, der Blickpunkt ist jedoch trotzdem derselbe wie der des gehenden Menschen, da dieser ja auch die durch das Sehen hervorgerufenen Schwankungen und Schaukelbewegungen beim Sehen nicht bemerkt.

187

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

188

sieht, oder ob er schlechthin nur von einem Subjekt in dieser Form erlebbare Zustände miterlebt, wie Schwindel, Taumel, Stürzen usw. Immer erlebt der Zuschauer diese Eindrücke wie der Filmschauspieler bzw. -held selbst, d. h. an seiner Stelle. Fast könnte man bei dieser Art des filmischen Erlebnisses von Animismus sprechen, denn tatsächlich erlebt der Zuschauer in diesem Falle ja, während er körperlich auf seinem Platz im Kino sitzt, seelisch im Film, fährt dort Auto, hat dort Schwindelanfälle, geht dort durch die Räume des verlassenen Hauses usw. Selbstverständlich ist die Intensität dieses Erlebnisses nicht bei jedem Zuschauer gleich. Für die volle Erfüllung des in einer solchen Einstellung angelegten Erlebnisses sind vielmehr alle bisher genannten Faktoren (Bildfaszination usw.), ferner das Interesse für den jeweiligen Sinnzusammenhang des ganzen Filmstreifens usw. auch für den jeweiligen Darsteller usw. von großer Bedeutung. Auch dauert eine derartige Einstellung oft nur wenige Sekunden. In jedem Falle aber befördert sie über den Rahmen der durch die elementaren Mittel bedingten Ergänzung des Films hinaus eine Projektion der eigenen Gefühle, Vorstellungen usw. in den Film und eine Vermischung des eigenen Erlebens mit dem des Filmdarstellers, beides phänomenal magische Faktoren. Neben der Identifikation der Kamera mit dem einen oder anderen Darsteller kann aber auch schlechthin jede andere Einstellung eine magische Wirkung ausüben, derart, dass durch die Einstellung der Zuschauer einmal in den filmischen Raum miteinbezogen wird und zum anderen Reaktionen in ihm hervorgerufen werden, die in dem abgebildeten Objekt bzw. der Szene an sich nicht immanent gegeben sind. Jede Bewegung der Kamera ist für den physisch immer auf dem gleichen Platz des Kinos sitzenden Zuschauer eine Bewegung in dem filmischen Raum, der sich psychisch in ihm gestaltet und von ihm außerhalb seiner Person verselbstständigt wird. Der Zuschauer befindet sich in ständiger Bewegung, da sich sein Auge mit der Linse der Kamera, die ständig Entfernung und Richtung verändert, identifiziert. Und der Raum, der sich dem Zuschauer darbietet, ist ebenso beweglich wie der Zuschauer selbst. Nicht nur wirkliche Körper bewegen sich im Raum, sondern auch der Raum selbst bewegt sich indem er sich verändert, dreht, auf‌löst und wieder zusammensetzt.24 Das Gefühl für die Realität des Raumes schwindet und der Zuschauer macht zwangsläufig alle Verände-

24 Vgl. E. Panofsky (1934), Style and Medium in the Moving Pictures,  124  f., zit.  n. Kracauer 1947, 6 (Übersetzung H. A.).

DIE MITTEL DES FILMS

rungen des imaginären Raumes und alle Positionsveränderungen innerhalb desselben, d. h. alle Veränderungen des Kamerablickpunktes, mit. Besonders deutlich wird dies bei der Annäherung der Kamera an ein Objekt. Es ist dies dann derselbe Vorgang, der in ähnlicher Weise bei den Phantasmagorien Robertsons (vgl. S. 170  f.) den Zuschauern das auf einer Fläche sich ausdehnende Abbild einer geisterhaf‌ten Gestalt als eine im realen Raum sich nähernde und dadurch immer größer werdende Figur erscheinen ließ, nur mit dem Unterschied, dass der heutige Kinobesucher infolge seines Wissens um die technischen Gegebenheiten des Films die Gestalten nicht mehr im realen Raum des Kinos, in welchem er sich selbst physisch befindet, erlebt, sondern umgekehrt sich selbst in den imaginären filmischen Raum versetzt und dort miterlebt und mitlebt, das gleiche Erlebnis also auf indirekte Weise zustande kommt. Das Eigenartige ist nun, dass diese unzähligen, meistens vom normalen, gewohnten menschlichen Gesichtswinkel erheblich abweichenden Einstellungen keinen Abstand zwischen Zuschauer und Filmbild herstellen, sondern ganz im Gegenteil das Gefühl des »Dabeiseins« in den meisten Fällen noch steigern. Objektives Beobachten und ästhetisches Genießen (im Sinne des »interesselosen Wohlgefallens«) setzen bei visuell erfassbaren Objekten einen festen Blickpunkt voraus, von welchem aus die Vorgänge oder Objekte im gewohnten Raum und damit mit den diesem gewohnten Raum entsprechenden Maßstäben beobachtet werden bzw. mit den Augen abgetastet werden können. Diese Bedingungen aber sind nicht gegeben, wenn der Zu­ schauer in seiner Identifikation mit der Kamera, z. B. hinter dem Feuer aus einem Kamin heraus, unter einem Tisch hervor, von der Decke eines Raumes herab, aus einem Weinglas heraus usw., auf die Szene blickt. Es sind dies Blickpunkte, die im Verhältnis zu den Blickpunkten des realen Lebens ungewöhnlich und manchmal nur unter Schwierigkeiten oder überhaupt unmöglich zu erreichen sind. Hierdurch aber wird der Zuschauer zum »heimlichen Beobachter« und die Szene wirkt von vornherein und ohne Rücksicht auf ihren Inhalt faszinierend. In stärkster Weise kommt diese Faszination in der Großaufnahme zur Wirkung. Schon die Hinführung zur Großaufnahme ist zumeist ein allmählicher Übergang von der Totalen. In einem Sterbezimmer z. B. gleitet der Blick der Kamera zuerst von einem Punkt aus über den ganzen Raum hin, nähert sich dann dem Sterbenden, gleitet über ihn hinweg und bleibt an dem nun in Großaufnahme erfassten, tropfenden Wasserhahn neben dem Bett stehen. Der Zuschauer wird vom Allgemeinen zum Detail geführt,

189

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

190

von der Oberfläche in die Tiefe von Raum und Situation. Gleichzeitig wird durch das in der Großaufnahme erscheinende Objekt der imaginäre Raum in seiner ganzen Ausdehnung eingenommen, der Zuschauer erlebt das Objekt auf diese Weise besonders intensiv. Sein Erlebnis und damit die aufgrund der phänomenal magischen Verbindung zwischen ihm und der Filmwelt zustande kommende Erlebnisergänzung wird besonders stark. Das in der Großaufnahme erscheinende Objekt gewinnt so für den Zuschauer eine über sein tatsächliches Sein weit hinausgehende Bedeutung.25 Man spricht in diesem Zusammenhang auch oft von der symbolhaf‌ten Sprache oder symbolformenden Kraft des Films. Im Allgemeinen sind jedoch diese filmischen Symbole keine Symbole im geistigen Sinne des Wortes, d. h. Symbole, welche auch außerhalb der Filmwelt ihren symbolhaf‌ten Charakter behalten. Sie sagen nicht etwas sonst Unaussprechliches in einer durch begriff‌liche Darstellung in dieser Vollkommenheit nicht erreichbaren Form aus. Die vom Film geschaffenen Symbole sind vielmehr fast immer Allegorien, die nach dem Schema »so wie« gebildet sind: So wie (in dem oben erwähnten Einstellungsbeispiel) das Wasser aus dem in der Großaufnahme gezeigten Hahn im Sterbezimmer tropft, so rinnt auch das Leben hin; so wie die Frau gedankenverloren den Liebesbrief zerzupft (Großaufnahme) und die Fetzen im Winde wegflattern lässt (Großaufnahme), so ist auch ihre Liebe zu dem Schreiber dieser Zeilen zerstoben; so wie die Kriminalbeamten (in dem franz. Film »Sous les toits de Paris«) bei der Haussuchung in der Wohnung des Straßenmusikanten unachtsam mit großen Stiefeln auf die eben von diesem für die Verliebte gekauf‌ten Pantöffelchen treten (Großaufnahme), so zertritt auch das Schicksal in Form der Justiz das kleine neue Glück des armen Musikanten usw. Immer sind es Vorgänge, welche durch Analogiedenken, durch Bild-Bedeutungs-Assoziationen (vgl. S. 71) des Zuschauers ergänzt werden müssen, wobei allerdings diese Ergänzung wiederum aufgrund der Faszination durch die Großaufnahme erfolgt. Ferner ist ein solches Symbol immer von dem Gesamtzusammenhang abhängig und bekommt seinen Sinn – oft nur eine gefühlsmäßige Akzentuierung – durch ihn.26 25 Damit steht die Großaufnahme in Parallele zu all den dem magischen Welt­ er­leben entstammenden Erscheinungen, in denen Gegenstände und Personen furchterregend über ihre gewöhnliche Größe hinauswachsen, sei es im tatsächlichen Erleben, sei es in der Vorstellung (Vgl. z. B. auch in Grimms Sagen 1, 45, »Der einkehrende Zwerg«). 26 Dass das filmische Bildsymbol nur als Anreger für eigene, aus der Situation entspringende Assoziationen dient, geht u. a. auch daraus hervor, dass ein und dasselbe Symbol ganz verschiedene Bedeutungen haben kann, je nachdem

DIE MITTEL DES FILMS

Der Charakter dieser Art filmischen Symbolismus’ wird an folgendem Beispiel deutlich: In dem (deutschen) Film »Die gläserne Kugel« wird das Schicksal eines Mannes gezeigt, der sich, um eine Frau nicht zu kompromittieren, schuldlos einsperren lässt, wieder entkommt und ins Ausland flieht. Dort kommt er immer mehr herunter, bis er, gerade wie er sich das Leben nehmen will, mit einem Erfinder zusammentrifft. Dieser hat eine Varieténummer konstruiert, derart, dass auf einem Gerüst eine gläserne Kugel über eine Bahn rollt, durch die Luft wirbelt und wieder aufgefangen wird, und ist nur noch auf der Suche nach einem Manne, welcher Willens ist, sich in diese gläserne Kugel zu setzen. Der Mann nimmt das Angebot an, erlangt als Varietékünstler binnen kurzer Zeit mit der gläsernen Kugel Ruhm und Reichtum usw. Niedergang und Aufstieg im Leben dieses Mannes sind nun u. a. so dargestellt, dass immer wieder Großaufnahmen gezeigt werden, in denen zuerst – in immer schlechterem Schuhzeug – Füße über eine Treppe hinabsteigen. Nach dem Zusammentreffen mit dem Erfinder steigen diese Füße – nun in Flitterschuhen und Trikot des Artisten – dann wieder die Treppe hinauf. Diese Aufnahmen gewinnen innerhalb des Films symbolischen Charakter. Das Symbol ist dabei jedoch streng an die Welt des Films gebunden und hat nur innerhalb ihrer Grenzen Gültigkeit. Dies wird deutlich an einer Gegenüberstellung mit einem Brauch aus dem alten Mexiko. Es gab dort eine Zeremonie, »bei der ein zur Opferung bestimmter Jüngling langsam die Stufen einer Tempelpyramide emporsteigen mußte. Dieser feierliche Akt war kosmisch gemeint und versinnbildlichte das langsame Aufsteigen der Sonne am Firmamente« 27. Es ist dies ein ähnlicher Vorgang, der ‌ hier ebenfalls symbolische Bedeutung gewinnt, und zwar für den Gesamtbereich des realen Lebens. Doch auch dieses Symbol hat nur innerhalb dieses magischen Weltbildes Gültigkeit, in dem die Sonne eben als durch die verschiedenen Regionen aufsteigend erlebt wird. In beiden Fällen ist das Treppensteigen echtes Symbol.

an welcher Stelle, in welchem Sinnzusammenhang es erscheint. Der tropfende Wasserhahn des oben zitierten Beispiels kann z. B. im Zusammenhang mit einer Wassernot Symbol für menschliches Leid sein, im Zusammenhang mit dem Umstand, dass der Hausbesitzer seiner Mietpartei, die die Miete nicht bezahlen konnte, das Wasser sperrte, aber zum eindringlichen Beispiel sozialer Unterdrückung werden usw. Das filmische Symbol dient also in erster Linie zur Anregung der fefür das magische Welt­er­leben typischen Bild-BedeutungsAsso­ziationen. 27 Danzel 1928, 58  f. Es ist dies ebenso ein dem Analogiedenken entsprungenes Symbol wie das auf S. 53  f. zitierte.

191

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

192

Doch es bleibt nur dann und nur solange Symbol, wie sein Inhalt in diesem Bild erschöpfend und in höchster Vollkommenheit zum Ausdruck kommt. Einem logisch-rationalen Welt­er­leben kann dieses Bild nur mehr als Allegorie erscheinen, als ein Zeichen für etwas, was in Begriffen mindestens ebenso klar, wenn nicht klarer ausgedrückt werden kann. Der filmische Symbolismus dieser Art steht also nicht auf einer Stufe mit den Symbolen, welche auch in einem logisch-rationalen Weltbild ihre Lebendigkeit und Gültigkeit bewahren und in der »geistigen Funktion des Denkens« das »sinnbildliche Denken« (vgl. S. 123  f.) speisen, sondern zählt zu dem Bereich des Bilddenkens, welches typisch ist für das von einer ICH-gesteuerten Denkfunktion und begriff‌lichem Denken weitgehend unbeeinflusste magische Welt­er­leben, in welchem das Bild unter Ausschaltung der ICH-Funktion direkt auf das Unbewusste wirkt (vgl. S. 142). Durch derartige Symbolismen also ruft der Film im Zuschauer eine Denkweise hervor, welche phänomenal magisch ist und somit – durch Projektionen, Assoziationen usw. – ein stark subjektbetontes, ein phänomenal magisches Erleben der dargestellten Objekte und Vorgänge befördert. Mehr noch als an den bisher zitierten handlungsgebundenen Beispielen zeigt sich diese Wirkung an Bildeindrücken – besonders natürlich auch hier wiederum bei Großaufnahmen –, bei denen nicht ein Geschehen im Zusammenhang mit der Handlung symbolisch wirkt, sondern irgendein Objekt an sich. Schlechthin jedes Objekt kann – richtig fotografiert und im geeigneten Augenblick gezeigt – in diesem Sinne symbolisch wirken. Eine alte Petroleumlampe kann zum Symbol jeder Art sozialistischer Bestrebungen werden. Eine Gefängnismauer kann klarster symbolischer Ausdruck der Unterdrückung sein, im anderen Falle als Trutzburg des Rechts erscheinen usw. 28 Immer aber gewinnen diese Bilder ihre Bedeutung erst dadurch, dass der Zuschauer, durch den Film angeregt oder aus seiner eignen subjektiven Situation heraus, Vorstellungen, Assoziationen, Gefühle usw. in das film-symbolische Objekt hineinerlebt. Und immer kommt auf diese Weise ein Erleben zustande, welches Subjekt und Objekt verbindet, d. h. die Regungen des Ersteren stark im Letzteren erscheinen lässt (vgl. S. 61). Das Bild wirkt direkt auf das Unbewusste, der Zuschauer erlebt im Bilde zum guten Teil sein eigenes Unbewusstes. Das filmische Symbol hat somit phänomenal magischen Charakter. 28 In diesem Sinne symbolisch wirkt auch der in Filmen oft stellvertretend verwendete Schatten eines Menschen, z. B. Schatten eines behelmten Polizeibeamten an der Wohnungstür eines Verdächtigen, kurz bevor dieser öffnet usw.

DIE MITTEL DES FILMS

Ergänzend sei noch auf die Veränderung der objektiven Welt in Richtung eines subjektbetonten Weltbildes durch die Benutzung verschiedener Linsen an der Kamera hingewiesen. Die Objekte können mit ihrer Hilfe verschwommen und verzerrt erscheinen (Traum, Schwindel) usw. Und auch die Bildfaszination kann durch Linsenverstellung gesteigert werden.29 Immer also kann die Einstellung der Kamera, unberücksichtigt ihrer künstlerischen Möglichkeiten, magisch wirken, derart, dass sie die phänomenal magische Verbindung »Subjekt – Objekt«, d. h. »Zuschauer – Filmbild«, befördert.

Schnitt und Montage Werden schon durch die Einstellung Assoziationen angeregt, so kommen durch den Schnitt und mehr noch durch die, die Schnitte mit ganz bestimmter Absicht vornehmende, Montage geradezu gefilmte Assoziationen zustande. Der Schnitt, der Anfang und Ende der Einstellung bzw. den Übergang zur nächsten Einstellung darstellt, übt durch seine rhythmusbestimmende Funktion eine indirekte Wirkung auf den Zuschauer aus. Durch Häufung von Schnitten wird der Rhythmus des Films schnell und unruhig, wenige Schnitte auf derselben Strecke dagegen ergeben einen ruhigen, gleichmäßigen Rhythmus. Der Normalzuschauer erlebt den Rhythmus kaum als solchen, aber er erlebt die ihn bildenden Einstellungen (Szenen) in unbewusster Abhängigkeit von ihm. Ein schneller Rhythmus z. B. steigert ohne Zweifel die Erregtheit des Zuschauers und damit seine Affektibilität. Hierdurch wiederum befindet er sich in einer psychischen Situation, in der er die Umwelteinflüsse, d. h. in diesem Falle die Bildeindrücke, anders erlebt als bei objektiver Beobachtung: Der filmische Rhythmus ist in gewissem Sinne der »rîte d’entrée« (vgl. S. 141), welcher den Zuschauer, auf mechanisch-physische Weise psychisch auf ihn einwirkend, aus der realen Welt bewussten Erle29 In einer Szene spielen z. B. drei Schauspieler, zwei im Vordergrund und einer im Hintergrund. Während nun die Handlung sich zwischen den beiden Schauspielern im Vordergrund abspielt, sieht der Zuschauer diesen scharf gezeichnet, den Hintergrund dagegen verschwommen. Soll nun sein Interesse auf den dritten Schauspieler im Hintergrund gelenkt werden, so bedarf es nur einer Linsenverstellung: der Hintergrund wird scharf gezeichnet, der Vordergrund dagegen verschwimmt. Der Blick des Zuschauers ist so auf unbewusst-mechanische Weise und ohne Rücksicht auf den Sinnzusammenhang lenkbar, d. h. der Blick des Zuschauers wird nicht nur durch die Ereignisse gelenkt, sondern eilt den Ereignissen auch voraus.

193

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

bens herausführt und dem magisch betonten filmischen Erleben zugänglich macht. Die unbewusste Hingabe des Zuschauers an den Rhythmus steigert seine Assoziationsfähigkeit im Rahmen eben dieses Rhythmus und kann darüber hinaus eine vom dargestellten Bildinhalt unabhängige Gefühlsreaktion hervorrufen.30 Die Wirkung des Rhythmus ist prinzipiell unabhängig vom dargestellten Bild- bzw. Szeneninhalt. Interessant ist aber unter dem Gesichtspunkt, inwieweit das vom Film begründete, gefühlsbestimmte, affekt- und erregungsbetonte Erlebnis auf diese mechanische Weise hervorgerufen wird, ein Vergleich von Rhythmus und Handlung. Harms führt in seiner »Philosophie des Films« einmal folgende Messungen von Szenenlängen (in m) an: Zeitungsboten tragen die neuesten Depeschen aus: 3–5–2–2–3–3 Eine Verfolgung: 3–3–2–3–1–3–3–4–4 usw. Eine andere Verfolgung: 2–2–3–4–1–3–1–2–2–4–3 usw. Ein Zirkusbrand: 1–4–2–1–1–1–2–1–2–5–1–2–1 usw. Ein Boxkampf (1): 1–2–9–10–1–4–1–6–3–8–3–4 usw.

194

Ein Vergleich der Messungen 31 ergibt Folgendes: Bei Vorgängen, welche sich entweder an sich lange hinziehen oder nur aus den inneren Bedingungen des Geschehens heraus oder durch dessen Ausgang ihre Bedeutung erhalten (Wie geht die Verfolgung aus? Was hat der Zirkusbrand für Hintergründe? Für wen ist er von Bedeutung? usw.), wird, um den Zuschauer in die für die Begründung des filmischen Erlebnisses nötige Spannung und Erregung zu versetzen, ein schneller Rhythmus (= kurze Szenen) angewendet, bei Vorgängen dagegen, welche diese Erregung auch ohne Rücksicht auf den Gesamtsinnzusammenhang allein in ihrem bildlichen Geschehen bieten (Boxkampf), kann auch ein ruhiger Rhythmus (= lange Szenen) angewendet werden. Außer durch den Rhythmus kann diese für das Zustandekommen des magisch betonten filmischen Erlebnisses nötige, durch Spannung und Erregung gekennzeichnete Erlebniseinstellung im Zuschauer natürlich auch noch auf andere, weiter unten noch näher zu besprechende Arten hervorgerufen werden. 30 So kann z. B. eine vollkommen ruhig an einem Waschtrog arbeitende Frau dadurch, dass sie in schnellem unruhigem Rhythmus, d. h. mit einer Häufung von Einstellungswechseln, gefilmt wird, im Zuschauer eine Erregung hervorrufen, welche in dem Vorgange an sich nicht immanent gegeben ist. Wird andererseits ein Boxkampf in dieser Weise aufgenommen, so entspricht die Erregung dem dargestellten Bildinhalt. 31 Vgl. Harms 1926,  108  f.

DIE MITTEL DES FILMS

In ähnlicher, aber konkreterer Weise als der Schnitt wirkt die Montage. »Montage, das heißt sinnvolles Aneinanderfügen verschiedener Stücke Film zu einer berechneten Wirkung« 32. Der Montage liegt das System der Assoziation zugrunde, nach dem alles, was in irgendeiner vorgewussten Verbindung zueinander steht, assoziiert werden kann. Die Montage ist eines der Grundelemente der Filmregie. Sie ist ein Hauptmittel bildlicher und damit assoziativer Ausdrucksweise. In dem Eisenstein-Film »Zehn Tage, die die Welt erschütterten« z. B. wird in die Aufnahmen von Revolutionären, welche einen zaristischen Palast stürmen, immer wieder die Aufnahme eines wertvollen Kronleuchters aus diesem Palast einmontiert. Der Kronleuchter zittert leise unter den Erschütterungen, die von der Straße heraufdringen. Jedes Mal, wenn das Bilde wiederkehrt, zittert er etwas stärker, bis er schließlich – die Soldaten sind inzwischen in das Palais eingedrungen – von der Decke fällt und in Tausend Stücke zerbricht.33 Die wechselnde Montage von stürmenden Soldaten und zitterndem Kronleuchter kann nun aber über die Handlungsillustration hinaus eine Fülle von Assoziationen auslösen: Das untergehende Zarentum zittert vor der Revolution; die mittellose Soldateska im Kampf mit dem reichen Adel; Zusammenbruch des Alten – Ansturm des Neuen; die Kultur erliegt dem Ansturm der Massen; rohe Gewalt bricht in Gesetz und Ordnung ein; die längst schwankende und veraltete Gesellschaftsordnung fällt den gerechten Forderungen des Proletariats zum Opfer usw. Die Wirkung derartiger Montage ist also ein von den montierten Bildern nur indirekt abhängiges Erlebnis. Die Bilder gewinnen filmische Wirkung durch einen Bedeutungsgehalt, der ihr tatsächliches Sein überhöht. Dieser Bedeutungsgehalt aber ist – wie die untereinander verschiedenen, aber im Verhältnis zur Montage alle sinnvollen Assoziationsbeispiele zeigen – weitgehend von der subjektiven Einstellung des Zuschauers abhängig. Ein weiterer Schritt führt zu der Montage von bildgewordenen Gefühlsinhalten. In dem (russischen) Film »Mutter« z. B. hatte der Regisseur Pudowkin die Gefühle eines Gefangenen bei seiner Entlassung darzustellen: »Es handelt sich mir darum«, schreibt er, »den Ausdruck der Freude filmisch zu zeigen. Die Photographie des freudigerregten Gesichtes wäre wirkungslos verpufft. Ich zeige also das Spiel der Hände und eine Großaufnahme der unteren Gesichtshälf‌te, des lächelnden Mundes. Diese Aufnahmen mon32 Richter 1929, 24. 33 Vgl. Opfermann 1948, 30. Kap.

195

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

196

tiere ich mit verschiedenem anderen Material zusammen. Und zwar mit Aufnahmen eines rasend dahinströmenden Frühlingsbächleins, mit dem Spiel von Sonnenstrahlen, die sich im Wasser brechen, von Vögeln, die in einem Dorfweiher spielen und schließlich mit einem lachenden Kinde. Damit schien mir der Ausdruck ›Freude des Gefangenen‹ gestaltet« 34. Auf diese Weise lässt sich im Film mithilfe der Montage, zumal wenn die Aufnahmen teilweise übereinanderkopiert bzw. durch sinnvolle Blenden verbunden werden, schlechthin jede menschliche Regung darstellen, jeder Gedanke, Träume, Visionen usw. Eine Beschränkung ist nur gegeben in den zur Darstellung solcher Assoziationen verwendbaren Bildern: Sie müssen in vorbekannter Form eindeutig eben den darzustellenden Zustand zum Ausdruck bringen und dürfen andererseits wieder nicht so allgemein sein, dass sich verschiedenartige, gegensätzliche Assoziationen an sie knüpfen können. Hierdurch wird andererseits aber eine Typisierung hervorgerufen, wie sie in ihrer Auswirkung hinsichtlich eines magischen Welt­er­lebens weiter unten noch näher besprochen werden soll. Darüber hinaus aber erscheint eine derartige Idealforderung auch kaum erfüllbar, sodass das Erlebnis solcher filmischer Assoziationen immer zum guten Teil durch subjektive Assoziationen des Zuschauers ergänzt und umgebildet wird. Die einzelnen Filmbilder tendieren damit in ihrer Wirksamkeit zu den Bildsymbolen oder solchen phänomenal magischen Denkens. Sie regen Assoziationen und Gefühlsreaktionen an, welche wiederum den Inhalt der nächsten Bilder umformen oder beeinflussen können – insbesondere wenn die Bilder schon rein äußerlich symbolhaft zu verstehen sind –, sodass im Film dargebotene Fakten eine über ihren logisch-rationalen feststell- und anerkennbaren Wert weit hinausgehende Bedeutung erlangen. Dies zeigt z. B. folgender Schluss des stummen (russischen) Films »Sturm über Asien« (Regie: Pudowkin): 6 m Wolken 6 m Bäume im Sturm 6 m Landschaft im Sturm 4 m jagende Blätter am Boden 4 m Fortsetzung von 1. 3 m Fortsetzung von 2. 3 m Fortsetzung von 2. (andere Einstellung) 3 m Blätter und Äste am Boden (d. i. Fortsetzung von 2. und 4.) 3 m Militär kämpft gegen den Sturm (Korrelat zu 2.) 34 Arnheim 1932, 112  f., Bilder bei Richter 1929, 81.

DIE MITTEL DES FILMS

2 m Fortsetzung von 1. 2 m Mützen fliegen 2 m Fortsetzung von 2. 2 m Fortsetzung von 9. 2 m Gewehre fliegen vorbei 2 m Landschaft mit allem fliegt vorbei 2 m der Mongole reitet heran 1 m mit zehn Reitern – (Überblenden) 1 m mit 100 Reitern – (kurz Überblenden) 1 m mit 200 Reitern 1 m mit Zwischentitel (Hineinkopiert): DAS 20 Bilder: Reiter 1 m (hineinkopiert): IST 15 Bilder: Reiter näher 1,50 m: DER WILLE 10 Bilder: Reiter sehr nahe 2 m: DES VOLKES! 2 m Reiter jagen über uns. – (Abblenden) 35 Der Satz »DAS IST DER WILLE DES VOLKES!« ist hier nur mehr die begriff‌liche Bestätigung seines durch die symbolischen Bildwirkungen unbewusst schon längst anerkannten Inhaltes. Der Film wird auf diese Weise zum Anreger assoziativen Denkens und dient als Projektionsobjekt für die von diesem Den­ken hervorgerufenen Eigenbilder. Hiermit aber steht er wiederum den typisch magischen Erlebnisweisen des Traumes, des Rausches usw. nahe, in welchen auch nicht-außerseelische Objekte in der Begründung des Erlebnisses überwiegen, sondern innerseelische Regungen sich in Bilderfolgen und -kom­po­si­tionen ausdrücken.36 Wie stark auf diese Weise, d. h. durch unbewusste Assoziation und Projektion des Zuschauers, auch das Filmbild an sich in seiner tatsächlichen Erscheinung umgestaltet werden kann, zeigt folgendes Montage-Experiment, das der russische Filmregisseur J. Pudowkin gemeinsam mit dem Maler und Filmtheoretiker Kuleskow gemacht hat. Er berichtet darüber folgendermaßen:

35 Vgl. Gregor 1932, 169. 36 In der Montage offenbart sich andererseits auch wieder die phänomenal magische Verbindung »Zuschauer – Filmbild«. Wäre nämlich die Räumlichkeit des Filmbildes gleich der des Theaters, so würde die schnelle Montage durch ihre ruckartige Raumveränderung eher desillusionierende Wirkung haben. Erst dadurch, dass die Räumlichkeit des Filmbildes eben nur eine »vorgestellte« Räumlichkeit ist, wird die Montage in dieser Form möglich.

197

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

Wir entnahmen irgendeinem Film mehrere Großaufnahmen des bekannten russischen Schauspielers Mosjukin, und zwar wählten wir unbewegte und ausdrucklose friedliche Großaufnahmen.Wir setzten diese Fotos, die alle gleich waren, mit anderen Filmteilen in verschiedenen Kompositionen zusammen. In der ersten war die Großaufnahme Mosjukins, gefolgt von einem Bilde eines Tellers Suppe auf einem Tisch. Es war offenbar und gewiß, daß der Schauspieler die Suppe betrachtete. In der zweiten Zusammenstellung folgte dem Gesicht Mosjukins der Anblick eines Sarges, in dem der Leichnam einer Frau ruhte. In der dritten endlich folgte der Großaufnahme das Bild eines kleinen Mädchens, das mit einem amüsanten Stoff‌bären spielte. Als wir diese drei Kombinationen einem nichteingeweihten Publikum vorspielten, war das Ergebnis überraschend. Die Zuschauer waren ergriffen von dem Spiel des Künstlers. Sie hoben seinen Ausdruck tiefer Melancholie hervor, eingegeben durch die vergossene Suppe, waren gerührt und bewegt von dem tiefen Schmerz, mit welchem er die Tote betrachtete, und bewunderten das leichte und glückliche Lächeln, mit welchem er dem Spiel des kleinen Mädchens folgte. Aber wir wußten, daß in allen drei Fällen das Gesicht das gleiche gewesen war.37

198

Aus diesem Experiment geht klar hervor, dass der Zuschauer in dem vom Film vermittelten, phänomenal magischen Erlebnis nicht mehr in der Lage ist, die einzelnen Bildeindrücke, zumal wenn sie durch eine Montage miteinander verbunden sind, objektiv aufzunehmen. Die Bilder werden vielmehr derart ergänzt, dass durch vorhergehende Bildeindrücke hervorgerufene Gefühle und Vorstellungen in sie hineinprojiziert werden bzw. aus dem Eindruck der nachfolgenden Bilder die vorhergehenden umgebildet werden. So wie im menschlichen Erleben Gefühle irradiieren können (vgl. S. 126), so irradiieren im Film die Bildwirkungen von einem zum anderen Bild.

37 Opfermann 1948, 10. Kap., Bilder bei Richter 1929, 29. Es wurden für die Montage absichtlich ältere Beispiele aus der russischen Produktion gewählt, da die Russen die Montage nicht nur als erste einführten, sondern auch in konsequentester Weise anwandten. Eine gute methodische Zusammenstellung aller Montagemöglichkeiten findet sich bei Arnheim 1932, 116  ff.

DIE MITTEL DES FILMS

Der Trick Das gleichsam »filmischste« aller filmischen Mittel ist der Trick. »Das aus dem Angelsächsischen entlehnte Wort ›Trick‹ meint ganz allgemein die Verwendung von technischen oder psychologischen Vorrichtungen – meistens nur dem Vorführenden bekannter Art – zur Erzielung eines beabsichtigten Effektes, der eine Verblüffung beim passiven Teil bewirken soll. Der Film und seine eigentümliche Technik als solche verführen in besonderem Maße zur Anwendung des Tricks, da diese mit geringem Aufwand Abläufe usw. vorzuführen gestatten, welche mit anderen Mitteln nur mühsam zu erreichen wären und darüber hinaus auch unwahrscheinlichen und unmöglichen Dingen ihre Realisierung ermöglichen. Grundsätzlich ist die Verbreitung der Anwendung der verschiedenen Tricks, soweit sie den Film betreffen, keiner besonderen Filmart vorbehalten, also auch nicht dem Trickfilm. Es gibt folglich sowohl bei Spielfilmen normalen Gepräges wie auch bei Reklame-, Kultur-, Wochenschaufilmen die gelegentliche, mehr oder weniger häufige Verwendung der tricktechnischen Möglichkeiten« 38. Der Trick verlegt vorstellbare Gegebenheiten in die Sphäre realer Wahrnehmbarkeit. In den meisten Fällen wird jedoch dem Zuschauer der Trick als solcher bewusst und löst hierdurch Heiterkeit aus (z. B. Rücklauf: Schwimmer springen rückwärts wieder aus dem Wasser an Land, zerbrochenes Geschirr setzt sich wieder zusammen usw.). Er kann aber auch – in geeignetem Sinnzusammenhang angewandt – phänomenal magisch-mystische Gefühle auslösen und offenbart sich dann als das, was er seinem innersten Wesen nach ist: Als die logisch-rational unerklärliche, aber optisch wahrnehmbare Veränderung der Erlebniswelt, wie sie sich in einem magischen Welt­er­leben vollziehen kann. Seine Verwendung als künstlerisches Ausdrucksmittel bzw. als rein magische Wirksamkeit hängt von dem Charakter des ihn einschließenden und weiter unten noch zu besprechenden Sinnzusammenhanges ab. Der Trick ist somit eine Übersteigerung der filmischen Mittel und wird darum bewusst. Seinem Wesen nach gehört er jedoch zu ihnen und wirkt auch in der gleichen Richtung.39 Dies zeigt z. B. der sog. Zeichentrickfilm, der in dieser Hinsicht im Grunde nichts 38 Holtz 1940, 8  f. 39 Bekannt ist das Beispiel aus dem russischen Film »Zehn Tage, die die Welt erschütterten«: Während der Revolution wird ein Zarenstandbild vom Sockel gerissen und zerbricht in Tausend Stücke. Später fügen sich die einzelnen Stücke, wieder auf den Sockel zurückf‌liegend, wieder zusammen zum Standbild. Revolution und Konterrevolution werden so durch den Trick in der dem Film eigenen bildlich-symbolhaf‌ten Weise ausgedrückt.

199

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

200

anderes als der Normalfilm ist. Der »Trick« besteht nur darin, dass die einzelnen Phasendarstellungen nicht abfotografiert, sondern gezeichnet sind. Die das filmische Erlebnis auslösenden Gestalten und ihre Umwelt sind bei ihm nicht Abbilder tatsächlich lebender Menschen und deren Umwelt oder von Menschen und Umweltgegebenheiten, wie sie tatsächlich einmal bestanden haben, sondern schlechthin leblose Zeichnungen, Symbolprägungen, Siegel (vgl. S. 166  f.), Zeichen oder wie man es sonst nennen mag, kurz: eindeutige Projektionsobjekte. Das vom Zeichentrickfilm vermittelte Erlebnis ist jedoch dem vom Normalfilm vermittelten in wesentlichen Zügen gleich (was man besonders auch an den ihrer psychischen Konstitution wegen für ein filmisches Erlebnis besonders prädisponierten Kindern beobachten kann). Somit offenbart der Zeichentrickfilm in gesteigerter Form das Wesen des Filmes überhaupt. Was beim Normalfilm nur in indirekter Weise zum Ausdruck kommt und oft nur in Andeutungen erkannt werden kann, zeigt sich beim Zeichentrickfilm in offensichtlicher Weise, nämlich: Das vom Film vermittelte Erlebnis beruht in erster Linie auf der durch seine Mittel im Zuschauer hervorgerufenen phänomenal magischen Erlebnisweise, d. h. auf der magischen Wirkung seiner Technik. Nicht eigentlich zum Bereich des Tricks 40 gehörig, aber im Zu­ sammenhang mit ihm zu erwähnen, ist noch die Synchronisation. Synchronisation ist der Gleichlauf, hier der Gleichlauf von Bildund Tonstreifen. Durch bestimmte Komposition dieses Gleichlaufs können starke Veränderungen speziell des Bilderlebnisses hervorgerufen werden. Schon die bei allen Reportage-Filmen gebräuchliche, aber auch im Spielfilm oft vorkommende »Stimme aus dem Dunkel« z. B., d. h. der Sprecher, der zu den Bildern spricht, selbst aber nicht zu sehen ist, hat an sich eine suggestive und damit eine ein magisches Erlebnis befördernde Kraft. In weit stärkerem Ausmaße aber kann in dieser Richtung noch die sog. Untermalungsmusik (vgl. S. 179) wirken. Da sie hier kaum bewusst als Musik auf­ genommen wird, wirkt sie direkt auf das Unbewusste. Dunkle Straßen können durch sie angsterregend werden, das Rieseln des Sandes in einer Sanduhr, ein tropfender Wasserhahn, im Winde bewegte Zweige eines Baumes werden durch sie zu schaurigen Filmsymbolen gesteigert usw. Die Synchronisation bietet weite Möglichkeiten künstlerischer Gestaltung,41 wirkt aber, unberücksichtigt 40 Als Trick wurde im Sinne der obigen Definition hier nur der die Wirklichkeit verändernde oder formende Trick verstanden. Darüber hinaus kann man natürlich jede andere künstliche Formung des vom Film gegebenen Weltbildes (z. B. Seeschlacht im Planschbecken usw.) als Trick bezeichnen.

DIE MITTEL DES FILMS

dieser künstlerischen Wirkungen, immer und in erster Linie auch magisch, derart, dass sie eine unbewusste Veränderung des Erlebnisgutes, d. h. des im Filmbild bzw. in der Filmszene dargebotenen Wirklichkeitsausschnittes, durch den Zuschauer hervorruft, gleichgültig ob diese Wirkung beabsichtigt oder unbeabsichtigt ist.41 Aus der Betrachtung der Mittel des Films ergibt sich nun Folgendes: Durch die Wirkung der elementaren filmischen Mittel (Bild, Ton, Bewegung) wird eine sich besonders auf unbewusste sub­jektive Ergänzung des Erlebnisgutes, d. h. des vom Film dargebotenen Wirklichkeitsausschnittes, stützende, phänomenal magische Verbindung »Subjekt – Objekt«, d. h. »Zuschauer – Filmbild«, geschaffen. Diese Wirkung ist in der Technik des Films begründet. Die Technik des Films schafft die Voraussetzung dafür, dass die normalen psychischen Funktionen des Weltinnewerdens (vgl. S. 106  ff.) das erlebte Objekt in subjektiver Weise verändern und es so dem erlebenden Subjekt in einer seinem tatsächlichen Sein nicht mehr entsprechenden, aber als sein objektives Sein erlebten Form erscheinen zu lassen. Die Technik des Films wirkt also insofern magisch, als sie die für ein magisches Welt­er­leben typische Erlebnisweise hervorruft und befördert. Es ergibt sich weiterhin Folgendes: Die Mittel der Regie (Einstellung, Schnitt, Montage, Trick) fußen immer auf den elementaren Mitteln und deren Wirkung. Darüber hinaus können sie aber auch von sich aus das Zustandekommen eines phänomenal magischen Erlebnisses in entscheidender Weise befördern. So kann z. B. durch eine große Anzahl von Einstellungsarten ein Erleben im Zuschauer hervorgerufen werden, in dem er das Filmgeschehen nicht einfühlend, als ein von ihm unabhängiges, sich vor seinen Augen abspielendes Bildgeschehen, sondern »im Bilde« erlebt, d. h. so, als ob er selbst in die Filmwelt miteinbezogen sei. Ferner lassen besondere Einstellungen beim Film oft Objekte und Vorgänge des realen Lebens in einer ihr tatsächliches Sein überhöhenden Form erscheinen, durch welche sie im Rahmen des Filmgeschehens symbolische Bedeutung gewinnen. Diese Symbolkraft beruht jedoch auf den im Zuschauer durch die Aufnahmen angeregten und zum guten Teil subjektiv gefärbten Assoziationen und Projektionen. Die Bildersprache des Films führt so zu einem 41 In dem (deutschen) Film »Kleine Residenz« z. B wird dargestellt, wie ein pikantes Gerücht zum Stadtklatsch wird. Es werden zu diesem Zwecke Bilder sich unterhaltender Menschen gezeigt und Tierstimmen dazusynchronisiert: einkaufende Frauen – Gänsegeschnatter; ein Friseur und ein Kunde (Friseur mit großem Gebiss) – Pferdegewieher; Stammtisch mit dicken Herren – Schweinegrunzen usw. Die Synchronisation wird hier in ihrer künstlerischen Gestaltung auch dem Zuschauer bewusst und kann rein ästhetisch erlebt werden.

201

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

202

bildhaft-fantasievollen Denken in Verbindung mit naturgetreu erscheinenden Wirklichkeitsabbildern und damit zu der für ein magisches Welt­er­leben typischen bildbestimmten Verarbeitungsweise der erlebten Wirklichkeit. Schnitt und Montage, die beide den Rhythmus des Films und die durch den Film vermittelte Erlebnisabfolge und -gestaltung bestimmen, rufen einmal im Zuschauer auf mechanische Weise und unabhängig vom Bildgeschehen eine Nervenspannung und Erregung hervor und beruhen zum anderen auf den Gesetzen der Assoziation. Sie befördern dadurch im Zuschauer eine Verarbeitungsweise der vom Erlebnisgut (dem Film) auf ihn einwirkenden Eindrücke, in der die innerseelischen, von der ICH-Funktion nicht gesteuerten Einflüsse überwiegen. Damit steht eine derartige Bildkomposition phänomenologisch in einer Linie mit den für ein magisches Welt­er­leben typischen assoziativen Erlebnisweisen des Traumes, des Rausches, der freien Fantasiegestaltung usw. Die vom Film in dieser Weise vermittelten Erlebnisse sind damit wiederum nicht allein vom objektiven Sein des Films abhängig, sondern beruhen zum guten Teil auf der Eigenergänzung durch den Zuschauer. Der Trick endlich ist eine Übersteigerungsform der filmischen Mittel, wirkt aber in derselben Weise wie diese. Ganz allgemein liegt es also im Wesen des Films, dass das von ihm vermittelte Erlebnis nicht in ihm allein geformt ist, sondern erst durch die intensive Anteilnahme, durch die Ergänzung, Projektion, Assoziation, Identifikation usw. des Zuschauers zustande kommt. »Sinnzusammenhänge und Gefühle sind in der Filmszene nicht als selbstständige Gestaltungselemente enthalten. Sie entstehen im Zuschauer. Der Inhalt der Filmszenen kann dem Zuschauer nur zur Entstehung von Sinnzusammenhang und ‌Gefühl verhelfen« 42. Erst dadurch also, dass der Zuschauer im Film »mitlebt« und in den Film »hineinerlebt«, wird der Film zum Vermittler eines Erlebnisses. Diese Art der Verbindung von Subjekt und Objekt aber ist phänomenal magisch. Die Mittel des Films können natürlich über die magische Wirkung hinaus in jedem Falle auch künstlerische Wirkung haben. Sie wirken aber, wie die Untersuchung gezeigt hat, unberücksichtigt dieser künstlerischen Möglichkeiten, immer und in erster Linie phänomenal magisch. Inwieweit sie nun rein magisch oder auch künstlerisch wirken, hängt in hohem Maße von dem sie einschließenden Sinnzusammenhang, von der im Folgenden zu betrachtenden inneren Struktur der im filmischen Abbild erscheinenden Welt ab. 42 Opfermann 1948,  13.  Kap.

Die Welt des Films Die Welt des Films als Märchenwelt Die Welt des Films ist im Grunde nichts anderes als das filmische Abbild der realen Welt in ihrer ganzen zeitlichen und räumlichen Ausdehnung, einschließlich der über die Realität hinaus vorstellbaren und schaubaren Welt. Sie ist aber nicht nur abgebildete, sondern auch gestaltete Welt. Diese Gestaltung vollzieht sich in Dramaturgie und Regie. Der vorige Abschnitt zeigte, wie im Rahmen der Dramaturgie mit dem auf den elementaren Mitteln des Films auf‌bauenden Mitteln der Regie ein phänomenal magisches Welt­ er­leben befördert werden kann. Nun ist diese Wirkung aber in keiner Weise absolut, d. h. nur von diesen Mitteln abhängig. Ein durch schnelle Schnittfolge hervorgerufener unruhiger Rhythmus wird z. B. in einem Abenteuerfilm viel eher ein wesenhaft magisches Welt­er­leben des dargebotenen Weltausschnittes hervorrufen als z. B. in einem Kulturfilm über die Gewinnung des Eisens, über Tulpenzucht in Holland oder dergl. Man muss also in jedem Falle zwischen den einzelnen Filmarten unterscheiden. Der Spielfilm erscheint, infolge der ihm eigenen, kontinuierlichen und das Interesse des Zuschauers fesselnden Fabel, für das Zustandekommen eines wesenhaft magischen Welt­er­lebens von vornherein geeigneter als ein Kulturfilm, der mit Unterstützung von einer Folge bewegter Bilder irgendeinen, vielfach stark begriff‌lichen Gedankenablauf doziert. Zwischen beiden steht als dritte Grundgattung der Reportage- oder Dokumentarfilm (auch die »Wochenschau«). Auch unter einem anderen Gesichtspunkt aber drängt sich der Spielfilm bei einer volkskundlichen Untersuchung in den Vordergrund: Er überragt nämlich die beiden anderen Gattungen hinsichtlich Produktion und Breitenwirkung ungeheuer. Dies wiederum mag auf der dem Spielfilm zugrunde liegenden Fabel und auf der von ihr vorgenommenen Gestaltung der Wirklichkeit beruhen.

203

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

Die Frage ist also, inwieweit durch die Fabel und durch die auf ihr fußende dramaturgische Konzeption des Spielfilms – durch das von ihm vermittelte Weltbild also – das Zustandekommen eines phänomenal magischen Welt­ er­ lebens befördert wird. M. a. W.: Die Frage ist, inwieweit die Struktur der Welt im Spielfilm magischer Natur, d. h. vor allem inwieweit die Gestaltung der Welt im Spielfilm den Gestaltungsformen offensichtlich magischen Welt­er­ lebens (vgl. S. 76 ff .) gleich ist. Unter Gesichtspunkten, welche an den äußeren Erscheinungsformen des Films gewonnen sind, lässt sich diese Frage kaum beantworten. Zu groß ist die Zahl der verschiedenen Arten: historischer Film, Musik-, Varieté-, Operetten-, Revolutions-, Detektiv-, Liebes-, Gesellschafts-, Kriegs-, Trachten-, Zukunftsfilm usw. Auch die Frage nach dem Film als Kunstwerk, die sich in ihrer Beantwortung immer wieder auf einige wenige avantgardistische, künstlerisch neuartige oder sich durch besonderes künstlerisches Niveau auszeichnende Filme stützen müsste, muss weitgehend unberücksichtigt bleiben. Die Zahl dieser Filme ist gering. Der Film, der am meisten produziert, der am meisten gesehen wird, der die größte Breitenwirkung hat und darum im Rahmen dieser Untersuchung auch an erster Stelle stehen muss, das ist der sog. »Durchschnittsfilm«. Solch ein Durchschnittsfilms ist z. B. »Der letzte Trumpf« 1 (franz. Film der Pathé-Film Paris, Regie: J. Becker). Die Handlung dieses Films ist ungefähr folgende:

204

Montez und Clarence sind Schüler einer Ausbildungsschule für Detektive in einem Fantasielande. Sie sind die beiden Besten eines Kurses und den anderen Schülern weit überlegen. Auch in der Abschlussprüfung sind beide gleich gut. Die Entscheidung soll der Schießwettbewerb bringen. Aber auch hier schließen beide als erste mit dem gleichen Ergebnis ab und so wünschen sie sich, um den Besseren herauszufinden, vom Ausbildungsleiter eine Sonderaufgabe: Die Auf‌klärung eines Verbrechens. Es wird ihnen ein Mordfall übertragen: In einem Hotel ist ein berüchtigter amerikanischer Gangster, der dort unter falschem Namen abgestiegen war, ermordet worden. Montez und Cla1 Dieser Film wurde nicht aus einer Vielzahl anderer Filme, sondern – auf der Suche nach einem für eine Analyse dieser Art geeigneten Durchschnittsfilm – aus vier gleichzeitig im März 1949 in München laufenden Filmen ausgewählt. Die anderen drei Filme waren: »Das Haus der Lady Alquist«, »Münchnerinnen« und »Der ewige Bann«, welche ebenfalls alle noch zur Untersuchung herangezogen werden sollen. Damit scheint die Gewähr gegeben, dass es sich um keinen Ausnahmefall handelt, sondern um den Durchschnitt.

DIE WELT DES FILMS

rence haben bei der Auf‌klärung des Falles anscheinend Glück, bald scheint der Täter in der Geliebten des Gangsters gefunden und wird verhaftet. Montez wird zum Sieger erklärt, da er im Verhör den richtigen Namen des Ermordeten herausgebracht hat. Von einem höheren Kriminalbeamten wird ihnen jedoch die weitere Bearbeitung des Falles wegen ihrer Jugend abgenommen und sie bekommen Urlaub. Beide haben jedoch unabhängig voneinander noch schwerwiegende andere Verdachtsgründe. So ziehen sie beide für ihren Urlaub in das Hotel, um den wahren Täter zu finden. Um dem Beamten, der ihnen den Fall abgenommen hat, eine auszuwischen, beschließen sie, dass einer dem anderen von seinen Ergebnissen Mitteilung machen soll. Clarence hat in dem in der Auf‌ bewahrung abgegebenen Gepäck des Ermordeten eine große Summe Geld gefunden, die er versteckt. Eine Frau, welche ebenfalls im Hotel wohnt und mit der Tat in verdächtigem Zusammenhang steht, beginnt mit ihm zu flirten. Clarence geht darauf ein, hält aber die Augen weiterhin offen. Da wird ihm von ihr die Tasche, in welcher das Geld sich zuerst befunden hatte, gestohlen. Die Frau ist die Schwester eines anderen amerikanischen Gangsters namens Score, der seinen ihm untreu gewordenen Komplizen, der mit der gemeinsamen Kasse durchgegangen war, nachgefahren ist und ihn hat umbringen lassen. Nun will er noch das Geld zurück. Als sich herausstellt, dass die Tasche leer ist, wird Clarence – immer noch in Flirt mit Scores Schwester – von Scores Leuten entführt. Er wird zu ihm in eine einsame, abgelegene Villa gebracht und gesteht bei Todesandrohung, wo das Geld versteckt ist. Das Geld wird geholt, ist jedoch nur die Hälf‌te der erwarteten Summe. Nur die unter Mordverdacht inhaftierte Geliebte des Ermordeten kann wissen, wo sich die andere Hälf‌te befindet. Clarence soll – in seiner Eigenschaft als Detektiv – zu ihr ins Gefängnis und Erkundigungen einziehen oder sie selbst mitbringen. Sie ist jedoch inzwischen schon wieder auf freiem Fuß. Clarence, der sich immer noch in der Gewalt Scores und unter Bewachung und Beobachtung von zwei Gangstern und Scores Schwester befindet, erbietet sich, indem er ganz so tut, als ob er zu Score übertreten wolle, das Geld zu holen. Er trifft sich zu diesem Zwecke auch mit Montez – angeblich um ihn auszuhorchen – und da er sich mit ihm wegen der Bewachung durch die Gangster nicht frei unterhalten kann, gibt er ihm Nachrichten durch Zeitungen, welche er bei ihm – wie zufällig – liegen lässt und in welchen er in den Kreuzworträtseln Nach-

205

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

richten eingeschrieben hat. So erfährt Montez, dass Clarence ihm durch das Telefon Nachricht geben wird, wo sich Score befindet, da Clarence ja immer noch nicht weiß – ihm werden auf dem Wege immer die Augen verbunden – wo die geheimnisvolle Villa liegt. Die Geliebte des Ermordeten wird nun mithilfe von Clarence beraubt und Score will mit seinen Leuten fliehen. Clarence, der immer noch so tut, als wolle er für immer mit Score gemeinsame Sache machen, darf mitkommen, zumal er alle Wege bis zur Küste, wo das Boot zur Flucht bereit liegt, genau kennt. Kurz vor dem entscheidenden Gespräch über den Fluchtweg wählt nun Clarence auf dem Tischtelefon heimlich die Nummer von Montez und blockiert die Telefongabel, sodass Montez das Gespräch mithören und so den Fluchtweg erfahren kann. Nach aufregender Hetzjagd auf Initiative und unter der Führung von Montez werden die Gangster darauf‌hin gestellt und in einem Feuergefecht getötet, Clarence verwundet; aber er genest wieder. Der Ausbildungskurs hat nach wie vor zwei Beste. Dies ist in Umrissen die Handlung des Films. Er ist ein Kriminalfilm wie Tausend andere. Das Geschehen spielt in unserer Zeit, alle wesentlichen Elemente der Handlung sind logisch-rational verständlich und begründbar. Und doch: Das Ganze ist ein Märchen. Sein Vorbild findet sich in dem Zwei-Brüder-Märchen,2 das deshalb hier nach der Version der Gebrüder Grimm in seinen Hauptpunkten zitiert werden soll:

206

Zwei Brüdern ist durch Zufall die sonderbare Gabe gegeben, dass sie jeden Morgen ein Goldstück unter ihren Kopf‌kissen vorfinden. Da die Eltern glauben, der Böse sei mit im Spiele, entfernen sie die beiden aus ihrem Hause und geben sie einem Jäger in Pflege und Lehre. »Als sie herangewachsen waren, nahm sie der Pflegevater eines Tages mit in den Wald und sprach ›heute sollt ihr euren Probeschuß tun, damit ich euch frei sprechen und zu Jägern machen kann.‹ […] Der Jäger sah über sich und sah eine Kette von Schneegänsen in Gestalt eines Dreiecks fliegen, da sagte er an den einen ›nun schieß von jeder Ecke einen herab‹. Der tat es und vollbrachte damit seinen Probeschuß. Bald darauf kam noch eine Kette angeflogen und hatte die Gestalt der Ziffer zwei: da ließ der Jäger den ande2 Vgl. v. d. Leyen 1912, Bd. 1, 12  ff. (»Die zwei Brüder«), ferner Bolte und Polivka 1913, 528  ff.

DIE WELT DES FILMS

ren gleichfalls von jeder Ecke eine herunterholen, und dem gelang sein Probeschuß auch. Nun sagte der Pflegevater ›ich spreche euch frei, ihr seid ausgelernte Jäger.‹ Darauf gingen die beiden Brüder zusammen in den Wald und ratschlagten miteinander und verabredeten etwas. Und als sie abends sich zum Essen niedergesetzt hatten, sagten sie zu ihrem Pflegevater ›wir rühren die Speise nicht an und nehmen keinen Bissen, bevor ihr uns eine Bitte gewährt habt.‹ Sprach er, ›was ist denn eure Bitte?‹ Sie Antworteten ›wir haben nun ausgelernt, wir müssen uns auch in der Welt versuchen, so erlaubt, daß wir fortziehen und wandern.‹ Da sprach der Alte mit Freuden ›ihr redet wie brave Jäger, was ihr begehrt ist mein eigener Wunsch gewesen, zieht aus, es wird euch wohl ergehen‹«. Sie verabschiedeten sich von ihm »und beim Abschied gab er ihnen noch ein blankes Messer und sprach ›wann ihr euch einmal trennt, so stoßt dieses Messer am Scheideweg in einen Baum, daran kann einer, wenn er zurückkehrt, sehen wie es seinem abwesenden Bruder ergangen ist, denn die Seite, nach welcher dieser ausgezogen ist, rostet, wann er stirbt; solange er aber lebt, bleibt sie blank.‹ […] Nun zogen sie eine Weile heraus, konnten aber keinen Dienst finden, wo sie zusammen geblieben wären, da sprachen sie ›es geht nicht anders, wir müssen uns trennen‹«. Der eine kommt nun in ein Königreich, befreit die Königstochter von einem Drachen und wird König. »Es lag aber in der Nähe ein Wald von dem es hieß, er wäre nicht geheuer, und wäre einer ernst darin, so käme er nicht leicht wieder heraus. Der junge König aber hatte große Lust darin zu jagen. […] Nun ritt er mit einer großen Begleitung aus und als er zu dem Wald kam, sah er eine schneeweiße Hirschkuh darin und sprach zu seinen Leuten ›haltet hier bis ich zurückkomme, ich will das schöne Wild jagen‹ und ritt ihm nach in den Wald hinein. […] Die Leute hielten und warteten bis Abend, aber er kam nicht wieder. […] Er war aber dem schönen Wild immer nachgeritten und konnte es niemals einholen; wenn er meinte es wäre schußrecht, so sah er es gleich wieder in weiter Ferne dahinspringen, und endlich verschwand es ganz. Nun merkte er, daß er tief in den Wald hineingeraten war, nahm sein Horn und blies, aber er bekam keine Antwort, denn seine Leute konnten’s nicht hören«. Er kommt zu einem alten Weibe, welches ihn mit einer Rute schlägt und dadurch in Stein verwandelt. »Nun trug sich zu, daß gerade in dieser Zeit der andere Bruder, der bei der Trennung gen Osten gewandelt war, in das Königreich kam. […] Da fiel ihm ein, er wollte einmal nach dem

207

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

Messer sehen, das sie bei ihrer Trennung in den Baumstamm gestoßen hatten, um zu erfahren wie es seinem Bruder ginge. Wie er dahin kam, war seines Bruders Seite halb verrostet und halb war sie noch blank. Da erschrak er und dachte ›meinem Bruder muß ein großes Unglück zugestoßen sein, doch kann ich ihn vielleicht noch retten, denn die Hälf‌te des Messers ist noch blank‹«. Er kommt nun nach manchen Erlebnissen, ebenfalls der weißen Hirschkuh folgend, in den Wald zu der Hexe, die auf einem Baume sitzt. Sie will ihn auch verhexen, er schießt nach ihr, »aber die Hexe war fest gegen alle Bleikugeln, lachte, daß es gellte, und rief ›du sollst mich noch nicht treffen‹. Der Jäger wußte Bescheid, riß sich drei silberne Knöpfe vom Rock und lud sie in die Büchse, denn dagegen war ihre Kunst umsonst, und als er losdrückte, stürzte sie gleich mit Geschrei herab.« Nun zwingt er sie, seinen Bruder und alle anderen bisher versteinerten Menschen und Tiere freizugeben. Dann verbrennen sie gemeinsam die Hexe und ziehen zusammen nach Hause. Soweit das Zwei-Brüder-Märchen nach Grimm. Die Parallelität in der Komposition ist offensichtlich: IM FILM

IM MÄRCHEN

… spielt die Handlung in einem in kei- … spielt die Handlung in einem in keiner Weise näher bezeichneten »Fanta- ner Weise näher bezeichneten Lande. sielande«.

208

… sind Clarence und Montez durch besondere kriminalistische Gaben aus der Masse der anderen Schüler herausgehoben.

… unterscheiden sich die beiden Brüder von ihren Mitmenschen durch die (nur in einem magischen Welterleben als möglich erscheinende) Gabe des Goldstück-Findens.

… sind Cl. und M. perfekte Revolverschützen und dadurch für ihre zukünftige Aufgabe (d. i. Verbrecherjagd) besonders geeignet.

… sind die beiden Brüder perfekte Wildschützen und dadurch für ihre zukünftige Aufgabe (d. i. Jägerei) besonders geeignet.

… beweisen Cl. und M. diese Fähig­keit … beweisen die beiden Brüder diese beim Wettschießen in der Ab­schluss­ Fähigkeit beim Probeschießen mit ihrem Pflegevater. prü­fung des Kurses. … sind Cl. und M. durch gleiche Fähig- … sind die beiden Brüder, über ihre keiten und das gleiche Schussergeb- ver­­wandtschaftliche Beziehung hinnis einander verbunden. aus, durch das dem Goldstück-Finden zuzuschreibende gleiche Schicksal und die gleichen Fähigkeiten einander verbunden.

DIE WELT DES FILMS

… wünschen sich Cl. und M. eine Son- … wollen die beiden Brüder in die deraufgabe, um ihr Können unter Be- Welt ziehen, um sich zu bewähren. weis zu stellen. … treten Cl. und M. aus der Schule in … verlassen die beiden Brüder ihren die Welt des Handelns ein. Pflegevater und ziehen in die Welt hinaus. … arbeiten Cl. und M. zuerst zusam- … müssen sich die beiden Brüder notmen und trennen sich dann, da es die gedrungen nach einiger Zeit trennen. Aufgabe erfordert. … steht von da ab Clarence im Mittel- … folgt die Erzählung von da ab dem punkt der Handlung, Montez rückt in einen der beiden Brüder (dem im Märdie Peripherie des Geschehens. chen immer bevorzugten und im Mittelpunkt stehenden Jüngeren). … bleiben Cl. und M. aber weiterhin miteinander in Verbindung durch die chiffrierten Nachrichten in den Kreuzworträtseln.

…  können sich die beiden Brüder durch das (magisch wirkende) Messer über ihr gegenwärtiges Schicksal unterrichten.

…  macht Clarence wichtige Entde- … tötet der nunmehr im Mittelpunkt ckungen (Geld) und hat viele Erleb- stehende Held Drachen usw. nisse. … wird Clarence auf der Jagd nach … wird der Held durch eine Hirschkuh, dem Verbrecher durch dessen Schwes- welche offensichtlich mit einer Hexe ter in dessen Gewalt gebracht. in Verbindung steht, in einen ausweglosen Wald gelockt. … wird Clarence zu einer einsamen … wird der Held zu der Hexe gelockt, Villa gebracht, deren Lage ihm voll- von der aus er keinen Ausweg mehr kommen unbekannt ist. aus dem Wald weiß. … befindet sich Clarence von da ab in … wird der Held (auf magische Weise) der Gewalt des Verbrechers. versteinert und ist von da ab in der Gewalt der Hexe. … erfährt Montez durch die Kreuz- … erfährt der andere Bruder durch worträtselnachrichten von dem Schick- das (magisch wirkende) Messer von sal von Clarence. dem Schicksal seines Bruders. … kommt Montez – als deus ex ma­chi­ … kommt der eine Bruder dem andena – Clarence zu Hilfe und befreit ihn. ren – als deus ex machina – zu Hilfe und befreit ihn. … wird der Verbrecher durch einen … wird die Hexe durch einen Schuss kriminalistischen Trick erledigt. mit magisch wirkender Munition erledigt. … wird der Verbrecher getötet und … wird die Hexe getötet und der Held Clarence kommt mit einer Verwun- kommt mit dem Schrecken über seine dung davon. Versteinerung davon.

209

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

210

Nachdem also die durch enge Beziehungen verbundenen beiden Helden als überdurchschnittliche, in ihrem Spezialgebiet besonders begabte Menschen eingeführt werden und in die Welt des Handelns eingetreten sind (ein in Märchen und Sage immer wiederkehrendes Motiv), lautet die Handlungsfolge bei Film und Märchen in Umrissen gleichermaßen: Trennung – Abenteuer – Entführung – Haft (Versteinerung) – Befreiung – Vernichtung der Hexe (des Verbrechers). Die Handlungsfolge fußt dabei auf einer wechselweisen, eurythmischen Komposition einzelner Motive. Im Märchen sind es: Drache – weiße Hirschkuh – auswegloser Wald – Hexe – magisch wirkendes Messer – magisch wirkende Munition. Im Film entsprechen ihnen: Geld – gefährliche Frau – einsame Villa – skrupelloser Verbrecher – Kreuzworträtsel – Telefon. In beiden Fällen, im Film wie im Märchen, kommt durch die Komposition der einzelnen Motive, durch ihre eurythmische Anordnung (vgl. S. 43  f.), eine in steigender Spannung sich abwickelnde Handlung mit glücklichem Ausgang zustande. Neben dieser Parallelität sind Märchen und Film aber in manchen Punkten verschieden. Das Märchen stammt aus einer Zeit, da der Jäger eine verbreitete und damit zur heldischen Darstellung im Rahmen eines Märchens anregende Erscheinung war. Diese Zeit wiederum steht der Zeit vorwiegend magischen Welt­er­lebens nahe.3 Der Detektiv dagegen ist eine Erscheinung unserer Tage, der Film spielt in unserer vorwiegend logisch-rational orientierten Zeit. Daher unterscheiden sich in Märchen und Film auch einige Motive hinsichtlich ihrer Wirksamkeit. So erscheint das Geschehen des Märchens aus der Perspektive des magischen Welt­er­lebens als möglich, nicht aber unter logisch-rationalem Gesichtspunkt. Das Geschehen des Films dagegen erscheint auch aus der Perspektive logisch-rationalen Welt­er­lebens als möglich. Im Märchen sind das Goldstück-Finden, das rostende Messer und die Silberknöpfe als Munition rein magische Wirksamkeiten, im Film dagegen stehen an ihrer Stelle die auch nach logisch-rationalem Ermessen im Bereich der menschlichen Möglichkeiten liegenden Mittel der Intelligenz und des Könnens: hervorragende Schussergebnisse und sonstige kriminalistische Leistungen, Kreuzworträtsel-Nachrichten und Telefon-Trick. Trotz dieser Unterschiede in der vorgestellten Wirksamkeit der Mittel aber wird auch beim Film ein phänomenal magisches Welt­er­leben in jener doppelten Weise wirksam, welche für die dem magischen Welt­er­leben adäquaten Gestaltungen typisch ist (vgl. S. 77). Die im Film in Bezug auf den Handlungsablauf entschei3 Vgl. Peuckert 1938,  15  ff.

DIE WELT DES FILMS

dend wirksamen Motive hängen nämlich in ihrer tatsächlichen Wirksamkeit von unzähligen Imponderabilien ab, sie sind zufallsgebunden. Abgesehen davon, dass es Zufall ist, dass Clarence und Montez gleichermaßen die Besten des Kurses sind und dazu noch gleiche Schussergebnisse erzielen, müssen auch für die Operationen mit Kreuzworträtseln und Telefon eine große Anzahl von Zufällen zusammentreffen, um sie wirksam bzw. überhaupt möglich werden zu lassen. Dabei stellen sie aber, d. h. ihre Funktion, entscheidende Wendepunkte im Handlungsverlauf dar. Natürlich könnten bei veränderter Situation andere intelligenzgeborene Operationen an ihre Stelle treten. Immer aber würde auch dann – sollen sie wirksam werden – im Rahmen dieser Operationen und hinsichtlich ihrer Wirkung im Handlungsablauf der Zufall im Verhältnis zu den Gesetzmäßigkeiten von Kausalität und Wahrscheinlichkeit das Übergewicht behalten müssen. Die innere Struktur der Welt-an-sich ist dadurch im Film derjenigen des Märchens ähnlich, und zwar derart, dass die Wirksamkeiten, die dort magisch begründet und erklärbar sind, sich hier stark auf den nach logisch-rationalen Gesichtspunkten zwar möglichen, aber nicht sehr wahrscheinlichen Zufall stützen (vgl. S. 102  f.). Über diese phänomenal magische Struktur der Welt-an-sich hinaus wird beim Film aber, im Zusammenhang mit ihr, auch noch die andere, mit den dem magischen Welt­er­leben adäquaten Gestaltungen verbundene Art des Erlebens wirksam. Der Zufall wirkt nämlich auch hier – wie dort letzten Endes die magischen Mittel – nicht tatsächlich zufällig, sondern in einer bestimmten Gesetzmäßigkeit im Sinne der seelischen Projektionen des das Märchen Lesenden bzw. des den Film Sehenden. In beiden Fällen ist von vornherein die Welt mit allen ihren Geschehnissen in Gut und Böse, in Recht und Unrecht geteilt. Und von vornherein steht auch der Sieg des Guten über das Böse, des Rechts über das Unrecht fest. Der primitive Wunsch nach der Welt-wie-siesein-sollte (vgl. S. 77  f . Anm. 45) wird vom Leser bzw. Zuschauer in das dargestellte Geschehen hineinprojiziert und Märchen und Film lassen ihm diesen Wunsch, im Bereich einer magisch erlebten Welt, in welcher die magischen Wirksamkeiten (dort offensichtliche Magie – hier Zufall bzw. Zufalls-abhängige Intelligenz) seinen Wünschen gemäß wirken, gleichermaßen in Erfüllung gehen. Hierdurch – denn sowohl im Märchen (z. Zt. seiner Entstehung) als auch im Film ist das gestaltete Abbild der Welt des realen Daseins seinen äußeren Gegebenheiten nach gleich – wird die Welt-an-sich im Rahmen dieser Gestaltung in von innerseelischen Wirksamkeiten beeinflusster, subjektbetonter – in phänomenal magischer Weise erlebt. Eine Parteinahme für das Gute muss

211

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

da­bei in einem derartigen Film nicht immer unbedingt eintreten, wird sich aber in den meisten Fällen, auch wenn die Gestaltung des Geschehens nicht direkt darauf hindrängt, wohl schon infolge des vorgeahnten Ausganges der Handlung und dem Bestreben am Ende fast immer einstellen. Der Film stimmt also mit dem Märchen nicht nur hinsichtlich der eurythmischen Komposition überein, sondern es kommt bei ihm auch, ebenso wie beim Märchen, durch die der Handlung immanenten Thematik und durch das von ihm vermittelte Weltbild ein phänomenal magisches Erlebnis zustande. In beiden Fällen entspricht der Ausgang der Handlung den innerseelischen Wunsch- und Triebregungen der Masse der Kinobesucher (bzw. Leser). Die Erfüllung der von dieser Masse an das Leben gestellten und somit in die Welt des Films bzw. in das vom Film gegebene Wirklichkeitsbild hineinprojizierten Wünsche im Bereich eben dieser filmischen Welt im Vollzuge des filmischen Erlebnisses ist eines der hervorstechendsten Strukturelemente der Welt des Films, der Welt-wie-sie-uns-im-Film-erscheint.

Die magische Struktur der filmischen Welt

212

Die Märchenparallele, wie sie an dem Film »Der letzte Trumpf« aufgezeigt werden konnte, mag eine rein zufällige sein. Zufällig ist dann jedoch nur die Parallelität im tatsächlichen Handlungsablauf, d. h. in den 18 angeführten Punkten. Hinsichtlich ihrer Struktur stimmt die Welt des Durchschnittsfilms mit den phänomenal magischen Gestaltungsformen des Weltabbildes bzw. mit der Welt, wie sie im phänomenal magischen Welt­er­leben erlebt wird, in fast allen Fällen überein. Wie in »Der letzte Trumpf« findet sich eine auf eurythmischer, die Geschehnisse zu einem glücklichen Ende führender Komposition und auf phänomenal magische Wirksamkeiten (Zufall oder dergl.) aufgebaute und mit Typen und Motiven märchenhaf‌ten Charakters arbeitende Gestaltung des Weltbildes in fast jedem Durchschnittsfilm.4 Dies wird besonders deutlich, wenn ein Film auf historischen Tatsachen oder schon auf einer anderen künstlerischen oder sonstigen Gestaltung, einem Roman, einer Novelle, einem Drama usw. fußt. Der Film formt dann den Stoff bzw. die Tatsachen zumeist im Sinne des ihm eigentlichen Weltbildes um. So ist. z. B. der Film »Münchnerinnen« eine filmische Version des gleichnamigen Romans von Ludwig Thoma. Bei Thoma ist die Handlung ungefähr folgende: Zwei behäbige Münchner Spießer machen mit ihren beiden Frauen, welche von

DIE WELT DES FILMS

ihnen ziemlich vernachlässigt werden, einen Ausflug nach Schliersee. Während nun dort die beiden Männer im Wirtshaus Karten spielen, gehen die beiden untereinander befreundeten Frauen spa4 Ein ganz eindeutiges Beispiel für eine derartige in das Filmgeschehen hineingetragene Wunschprojektion und ihre Erfüllung infolge des phänomenal magischen (d. h. zufallsabhängigen) und im Sinne dieser Wünsche sich darstellenden Geschehensablaufes ist u. a. der amerikanische Film »Musik für Millionen« (»Music for Millions«): Das Mitglied eines während des letzten Krieges für amerik. Soldaten spielenden amerik. Symphonie-Orchesters, Barbara, ist mit einem amerik. Soldaten, Joe, der im Südpazifik an der Front ist, verheiratet. Sie erwartet ein Kind von ihm, ist aber trotzdem immer noch zusammen mit ihren anderen Kolleginnen auf Tournee. Seit vielen Wochen hat sie keine Nachricht mehr von Joe und befürchtet schon das Schlimmste. Dann kommt ein Telegramm vom Kriegsministerium, das den Tod Joes mitteilt. Barbaras Kolleginnen fangen jedoch das Telegramm ab und verheimlichen ihr dessen Inhalt, um sie in ihrem Zustande nicht aufzuregen. Als Barbara jedoch wegen des Ausbleibens der Post immer verzweifelter und die Situation immer unerträglicher wird, bittet eine der Kolleginnen ihren wegen Fälschungen eingesperrten und eben wieder aus der Haft entlassenen Onkel einen fingierten Brief (als Joe) an Barbara zu schreiben, damit diese wenigstens bis zu ihrer Niederkunft beruhigt ist. Der Onkel verspricht es zu tun und zwei Tage später kommt ein Brief, in welchem Joe berichtet, er sei mit seinem Flugzeug im Pazifik abgestürzt und erst nach Wochen von einem Schiff aus seiner unfreiwilligen Verbannung auf einer gottverlassenen Insel befreit worden. Barbara, welche eben ihre Niederkunft erwartet, freut sich, ihre Kolleginnen sind gedrückter Stimmung – bis abends der Onkel wiederkommt und sagt, er habe es sich überlegt, er wolle nicht mehr rückfällig werden und deshalb könne er auch den gewünschten Brief nicht schreiben. Der Brief war also echt, Joe ist wieder lebendig; das letzte Bild zeigt Barbara nach glücklicher Niederkunft. Die Spannung löst sich somit in einer Wunscherfüllung. Alle entgegenwirkenden Faktoren (langes Ausbleiben der Post, große Wahrscheinlichkeit von Joes Tod, Telegramm des Kriegsministeriums, Brief des Onkels usw.) werden durch ein in mannigfaltigen Zufällen wirksam werdendes gütiges Geschick, welches die Geschehnisse im Sinne der Welt-wie-sei-sein-sollte beeinflusst, außer Kraft gesetzt. — In einer anderen Form – um noch ein Beispiel zu nennen – zeigt sich diese Zufallsgebundenheit in folgender Szene eines älteren amerikanischen Films (»Der Kampf um den Piratenschatz«): Der Held wird von Gangstern bis auf das Dach eines Wolkenkratzers verfolgt. Er läuft in höchster Not eine Freitreppe zu einer Tür in einem Auf‌bau auf dem Dachgarten des Wolkenkratzers hinauf. Die Tür ist jedoch versperrt, seine Verfolger sind dicht hinter ihm und schon am Fuße der Treppe. Doch von der Mauer neben der Tür führt eine elektrische Freileitung zum Dachgarten des nächsten Wolkenkratzers. Schon hat der Held ein Stück Draht in der Hand, legt es über die Leitung, fasst es mit beiden Händen, gleitet wie eine Drahtseilbahn an der Freileitung zum nächsten Wolkenkratzer hinüber und entkommt so seinen Verfolgern. Zufällig also war das Stück Draht vorhanden, zufällig war die Leitung so abschüssig, zufällig war sie so glatt, dass der Draht auf ihr gleiten konnte, und zufällig war vor allem der Leitungsdraht so stark, dass er einen erwachsenen und sich zudem an ihm

213

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

214

zieren und finden bald Anschluss an zwei Münchner, den Studenten Franz von Higgauer und seinen Freund, einen Kunstmaler. Aus dieser Begegnung entwickelt sich zwischen der einen Frau, Resi, und dem Kunstmaler und der anderen Frau, Paula, und dem Studenten ein Verhältnis, das auch später in München fortgesetzt wird. Das Verhältnis der beiden Ersteren ist jedoch nur von oberflächlicher Art und damit naturgemäß auch nicht von langer Dauer. Resi hat Langeweile und will sich amüsieren, der Kunstmaler sucht ein Abenteuer. Franz von Higgauer und Paula dagegen sind wirklich ineinander verliebt und Paula hat auch wegen ihres Verhältnisses und ihrer Liebe zu Franz starke Skrupel. Allmählich aber kühlt auch Franzens Liebe ab, der Standesunterschied wird fühlbar, Einflüsse von zu Hause kommen hinzu, Paula wird ihm lästig. Er schwankt noch infolge seiner Entschlusslosigkeit. Dann aber ist alles aus, das Leben geht seinen gewohnten Gang weiter. Anders im Film: Paula ist mit dem Münchner Spießbürger nicht verheiratet, sondern steht kurz vor der Verlobung mit ihm. Franz von Higgauer ist bald fest entschlossen, Paula zu heiraten – unberücksichtigt aller Standesunterschiede usw. – und verfolgt diesen Entschluss konsequent durch alle Fährnisse, die sich für ihn und Paula letzten Endes doch zum Guten wenden. Auch als sein Vater gegen die Heirat ist, bleibt er fest und bekommt schließlich auch dessen Einwilligung. Und während Resi durch den von ihrer Seite in keiner Weise ernst zu nehmenden Flirt mit dem Kunstmaler ihren Mann eifersüchtig gemacht hat, dieser dadurch seine Liebe zu ihr neu entdeckt und Resi damit ihrer Ehe eine glückliche Wendung gegeben hat, schließt Franz von Higgauer Paula in die Arme. Im Gegensatz zu dem etwas fatalistischen Schluss bei Ludwig Thoma führt also der Film in Überwindung aller Schwierigkeiten zu einem doppelten »Happy End«. Ein Happy End in solcher oder ähnlicher Form steht – als stärkster Faktor in der oben erwähnten Wunscherfüllung – im Mit­ bewegenden Menschen tragen konnte. Unwillkürlich ist man an das Märchen erinnert, in welchem der Held auch auf einer ganz schmalen, dünnen Stange über einen tiefen und gefährlichen Abgrund gehen muss, um an das Ziel seiner Wünsche zu gelangen, und in welchem in dem Moment, da er seinen Fuß mutig auf die Stange setzt, die sich zur bequemen Brücke erweitert, was er wiederum dem wohlwollenden Zauber einer gütigen Fee zu verdanken hat. Hier wie dort überwindet der Held, mit dem der Zuschauer bzw. Leser mitlebt und miterlebt, mithilfe magischer Wirksamkeiten (hier Zufall – dort Zauber) Schwierigkeiten und Hindernissen von nach logisch-rationalem Empfinden beträchtlicher Stärke. Er überwindet sie aufgrund der magischen Struktur der Welt, in der er lebt und wirkt und in welcher die Geschehnisse und damit seine Abenteuer zu einem glücklichen Ausgang führen.

DIE WELT DES FILMS

tel­­punkt fast jedes Durchschnittfilmes.5 Eine Untersuchung der Fabeln von 100 Filmen aus der neueren und neusten Produktion von Hauptproduktionsländern (14 amerikanische, 34 deutsche, 21 eng­lische, 18 französische, 13 österreichische Filme) ergab z. B. (vgl. Anhang), dass ungefähr 83 von ihnen, also über 80 Prozent, mit einem Happy End irgendwelcher Art schlossen. Der Held und die Helden, welche meist schon von Anfang an als füreinander bestimmt erscheinen (der Wunsch nach ihrer Vereinigung, welcher nur der projizierte Vereinigungswunsch schlechthin ist, somit im Zuschauer erregt ist), kommen endlich zusammen bzw. irgendwelche andere Verwicklungen lösen sich günstig: Die Unschuld eines zu Unrecht Verurteilten wird erwiesen, ein Pionier der Wissenschaft, welcher zeitlebens verkannt worden war, wird anerkannt, eine Frau findet nach vielen Konflikten zu ihrem Mann zurück usw. – und immer wird der Blick frei auf eine bessere Zukunft. Oder aber der Film schließt, wenn ein Happy End in dieser offensichtlichen Form unmöglich ist, doch wenigstens in den meisten Fällen mit einem positiven Ausblick auf ein neues Leben, eine große bevorstehende Karriere des Helden oder dergl. Hierdurch aber wird, ebenso wie in den Fällen des klaren Happy End, eine auf einem angenehmen Gefühl basierende, direkte Beziehung zum Zuschauer geschaffen (im Sinn des »Und wenn sie nicht gestorben sind dann leben sie noch heute«), wodurch er zu den Geschehnissen des Films in ein identifizierendes Verhältnis gebracht wird und Situation und Beziehungen des Films auch für den Bereich seiner realen Welt als verbindlich erscheinen können. Die Moral, auf deren Folie sich solches Geschehen abspielt, und der dem Film immanente geistige Gehalt entsprechen dabei neben der unproblematischen Verherrlichung hergebrachter Ideale (Vaterlandsliebe, Menschenliebe, Keuschheit usw.) meist den auf einfaches Glauben abgestellten und von rationaler Durchdringung unbeeinflussten (vgl. S. 127) Moralbegriffen und Sprichwort-Weisheiten, wie »Ehrlich währt am längsten«, »Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein« 6 und dergl. – auf Weisheiten also, die 5 »Die Filmversion von Tolstois ›Anna Karenina‹ endete ursprünglich, gemäß dem Abschluß des Romans, mit dem Untergang der Heldin; aber in den kleinen Städten des Mittelwestens [Amerikas, H. A.] mißfiel dieser unglückliche Ausgang dermaßen, daß die Produzenten sich sofort entschließen mußten ›Anna Karenina‹ mit einem happy end zu versehen« (Fülöp-Miller 1931, 71). 6 In dem englischen Film »Hafen der Versuchung« (»Temptation Harbour«) z. B. beobachtet ein Bahnarbeiter einen Mord im Hafen und findet nachher einen Koffer mit Geld an der Mordstelle. Er meldet den Vorfall nicht, sondern versteckt das Geld. Dieses aber ist an sich schon gestohlen und wird nun sowohl von dem Mörder als auch von dem Besitzer (durch einen Detektiven)

215

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

216

selbst wiederum den Wunsch nach einem Triumph des Guten und nach einem glücklichen Einfluss des Geschicks einschließen. Die Struktur des filmischen Geschehensablaufes und damit die Struktur der filmischen Welt, in der ein solches Geschehen möglich und sinnvoll ist, hat also bei der überwiegenden Mehrzahl aller Filme, im sog. Durchschnittsfilm, auch unabhängig von äußeren Märchenparallelen und unabhängig von Zeit und Ort der Handlung, vorwiegend magischen Charakter. Sie ist das Spiegelbild der für das Zustandekommen eines phänomenal magischen Welt­ er­ lebens ausschlaggebenden, bedeutungsvollen innerseelischen Wunsch- und Triebregungen der Masse der Kinobesucher. Die Welt des Films wird infolge dieser ihrer inneren Struktur (in ähnlicher Weise wie die einzelnen vom Film dargebotenen Wirklichkeitsabbilder durch die Wirksamkeit der filmischen Mittel) in ihrer Gesamtheit zum Projektionsobjekt. Das in ihr sich vollziehende Geschehen wird zum Projektionsgeschehen in der für die Gestaltungsformen des magischen Welt­ er­ lebens typischen und adäquaten Weise. Die Welt-wie-sie-uns-im-Film-erscheint ist die Welt-wie-sie-sein-sollte. Diese Struktur der Welt-wie-sie-uns-im-Film-erscheint bringt es nun mit sich, dass die durch die Mittel des Films hervorgerufenen affektiven und Projektionserlebnisse nicht nur Begleiterscheinungen oder sekundäre Folgen des durch den Handlungsablauf hervorgerufenen Erlebnisse sind. Vielmehr bewirkt der Handlungsablauf, in dem die Zufälle (das Schicksal, die Einflüsse des ES) das Geschehen zu einem den Wünschen und Träumen des Publikums ansprechenden Ende wenden, auch von sich aus eine weit über den Bereich der ästhetischen Einfühlung (vgl. S. 159) hinausgehende Anteilnahme an dem filmischen Geschehen. Die Wirkungen der Mittel des Films gliedern sich dabei in diese Anteilnahme ein und fundieren in Zusammenwirkung mit ihr das filmische Erlebnis. Das Hauptgewicht aber liegt bei dieser Anteilnahme auf den Gefühlen, derart, dass im Zuschauer nicht nur Mitgefühl erzeugt wird, welches ihn selbst in eigenständiger Position belässt, sondern vor allem eine Gefühlsidentifikation zustande kommt, welche ihn das Geschehen des Films wie im Film, d. h. als selbst in der Filmwelt Seienden, erleben lässt. Die erotischen, freundschaftlichen, gesucht. Der Bahnarbeiter kommt immer mehr in Bedrängnis durch die beiden, seine Lage wird immer schwieriger, schließlich bringt er den Mörder um usw. – bis er endlich zur Besinnung kommt und (»Ehrlich währt am längsten«) den Koffer mit dem Geld zur Polizei trägt. Der Verbrecher Score (in »Der letzte Trumpf«) grub sich durch die Verfolgung seines ehemaligen Komplizen und durch das Gericht, das er über ihn hielt, die Grube, in die er dann letzten Endes selbst hineinfiel.

DIE WELT DES FILMS

hel­dischen, feindlichen, nationalen und sonstigen Gefühle der Dar­steller sind in solchen Fällen – immer natürlich im Rahmen der unbewusst durchgeführten Scheidung Gut/Böse bzw. Sympathie/Antipathie – gleichermaßen die Gefühle des Zuschauers. Hinsichtlich der psychologischen Charakteristik der so vollzogenen Gefühlsidentifikation aber ist es von entscheidender Bedeutung, dass in erster Linie gerade diejenigen Gefühle, welche – von endothermem Grund aufsteigend – das Zustandekommen eines aktuell phänomenal magischen Welt­er­lebens befördern (vgl. S. 134  f.), auch beim Zustandekommen dieser identifizierenden Anteilnahme eine hervorragende Rolle spielen und zu den vom Film am meisten und an erster Stelle vermittelten Gefühlen zählen. Wie also die Mittel des Films eine Einbeziehung des Zuschauers in die zeit-räumliche Scheinwelt des Films und gleichzeitig die für ein magisches Welt­er­leben typische Verarbeitungsweise der aus dieser Welt auf ihn einwirkenden Eindrücke hervorrufen, so ruft die filmische Gestaltung des Geschehens innerhalb des filmischen Weltabbildes eine weit über den Bereich der ästhetischen Einfühlung hinausgehende Anteilnahme für dieses Geschehen in dieser Welt hervor. Diese Anteilnahme wiederum ist in erster Linie auf einer starken Gefühlsbeteiligung begründet. Während nun aber die Wirkung der Mittel des Films immer vom eigentlichen Filmbild abhängig ist, kann die letztgenannte Anteilnahme am Geschehen auch ohne direkte Beziehung zum Bilde weiter bestehen. In dem Sängerfilm »Vergiß mein nicht« z. B. hängt das Schicksal des Helden (eines Sängers) – und damit natürlich auch der positive Ausgang der Handlung – allein von der Macht seines Gesanges ab. »Der Held liebt seine Frau, die ihn verlassen will, und es gelingt ihm allein durch seinen Gesang die Schwankende von dem letzten entscheidenden Schritt zurückzuhalten. Die Frau besucht, unmittelbar bevor sie die Trennung vollziehen will, noch ein Konzert, in dem ihr Mann singt und wird durch den nur für sie begründeten Ausdruck des Leides und der Angst, der in den Tönen der Arien mitschwingt, so tief beeindruckt, daß sie ihren Entschluß zu fliehen aufgibt und bleibt. Der Zuschauer, der im Wechsel der Einstellungen den inneren Kampf der hin- und hergerissenen Frau und die flehende Angst des Mannes miterlebt, geht über die wechselnden sichtbaren Szeneninhalte hinweg die Wesensgemeinschaft 7 vor allem mit dem Gesang, die [sic] die Szenenfolgen unterbrochen überlagert, ein. Er wirbt und fleht mit den Tönen mit und triumphiert schließlich mit dem Gefühl, daß die 7 Der Begriff der »Wesensgemeinschaft« ist hier (bei H. C. Opfermann) im Sinne einer Art »participation mystique« zu verstehen.

217

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

218

edlen Anlagen der Frau über ihre Triebe den Sieg davongetragen haben. Dieses Triumphgefühl ist Bestandteil der Filmhandlung, obwohl es weder auf das Schicksal des Helden noch seiner Frau irgendeinen Einfluß hat. An diesem Beispiel zeigt sich, daß die Handlung eines Filmwerkes zeitweilig in einem Gefühl bestehen kann, das vom Fabelinhalt unabhängig ist« 8. Wie in dem vorgenannten Beispiel kann die Handlung als solche – wie dort für die kurze Dauer eine Liedes – aber auch fast für die Dauer eines ganzen Filmes hinter den durch diesen vermittelten Gefühlsabfolgen zurücktreten. Der Handlungsablauf, der ja immer logisch-rational verfolgt und erkannt werden kann, ist dabei für das Zustandekommen des filmischen Erlebnisses von geringer Bedeutung, sein Vorbekanntsein kann unter Umständen sogar hemmend wirken. Als ein charakteristisches Beispiel für derartige Kompositionen sei hier die Handlung des – übrigens sehr erfolgreichen – amerikanischen Films »Das Haus der Lady Alquist« (»Gaslight«) angeführt: Er handelt von einem Pianisten, welcher sich die wertvollen Diamanten einer Sängerin, die auf geheimnisvolle, unerwartete Weise gestorben ist und mit der er früher konzertiert hatte und liiert gewesen war, aneignen will. Nur er weiß von der Existenz dieser Diamanten, weiß aber nicht, wo sie sich befinden. Er heiratet darum die junge Nichte und Alleinerbin der Sängerin und zieht mit ihr nach London in der Letzteren Haus. Dort lässt er alle Möbel und allen Hausrat auf den Speicher schaffen, diesen zunageln und das Haus dann neu einrichten. Jeden Abend geht er dann – unter wechselnden Begründungen oder geheimnisvoll schweigend – aus und lässt seine Frau allein zu Hause. Und jedes Mal erlebt die Frau dann wenig später, wie in ihrem Zimmer das Gaslicht (Der Film spielt um die Jahrhundertwende.) schwächer wird und glaubt über sich auf dem Speicher Schritte zu hören. Sie erzählt dies ihrem Mann. Dieser nun, um sich nicht zu verraten – denn er ist es, der jeden Abend von dem leerstehenden Nachbarhause aus über das Dach in den eigenen Speicher steigt und dort die Möbel, Wäsche und Hausrat bei Gaslicht nach den Diamanten durchsucht –, redet ihr ein, dass sie sich getäuscht haben müsse. Die Ereignisse wiederholen sich jedoch. Um sich zu schützen, redet der Pianist seiner Frau nun ein, sie sei geisteskrank. Sie glaubt es allmählich und wird immer verstörter. Die Spannung wird unerträglich, bis ein junger Kriminalinspektor, der sich schon zu Anfang des Films in die Frau verliebt und den ungeklärten Todesfall der Sängerin wieder aufgegriffen hat (Er hatte als Knabe für die Sängerin geschwärmt und fand 8 Opfermann 1948, 22. Kap.

DIE WELT DES FILMS

nun in ihrer Nichte ihr verjüngtes Abbild wieder.), eingreift. Er gewinnt durch einen bestickten Bühnenhandschuh, welchen ihm die Sängerin einst geschenkt hatte und dessen Pendant die Frau des Pianisten besitzt, das Vertrauen der Letzteren, kann sie aus ihrer gefährlichen Verwirrung befreien und den Pianisten – gerade in dem Moment, da dieser die Diamanten an einem Bühnenkleid auf dem Speicher gefunden hat – als Mörder der Sängerin verhaf‌ten. Auch dieser Film stellt, wie fast alle zitierten Beispiele, eine eurythmische, in steigender Spannung zum glücklichen Ende führende Komposition dar. Ähnlich wie in »Der letzte Trumpf« sind auch seine Gestalten ins Moderne übertragende Märchentypen: der finstere, geldgierige und verbrecherische Unhold, das an ihn ausgelieferte, unschuldige und hilf‌lose Mädchen und der edle Retter, der sie im Augenblicke höchster Not (gleich wie ein Dornröschen) aus eigener Verwirrung und der Gewalt des Unholden befreit. Dazu die Motive: Heiß ersehnte Diamanten, geheimnisvolles Haus, Handschuh-Pendant (eine Parallele zu dem Märchenmotiv des auseinandergebrochenen Fingerringes als Erkennungszeichen). Abgesehen hiervon unterscheidet sich dieser Film aber von den anderen Beispielen dadurch, dass das durch ihn vermittelte filmische Erlebnis in ganz betonter Weise auf den durch ihn hervorgerufenen Gefühlen beruht. Die Abfolge der filmischen Wirklichkeitsausschnitte, in denen sich phänomenal magisches Geschehen darbietet – derart, dass Märchentypen in der Wunschwelt des Märchens agieren –, ist im Grunde nur die Basis, auf der sich die das Erlebnis tragenden Gefühle und Gefühlsassoziationen auf‌bauen. Das Übergewicht der Gefühlsreaktion im Zuschauer im Verhältnis zu der Wirkung des tatsächlichen Handlungsablaufes wird deutlich durch eine retrospektive Betrachtung des Letzteren. Es zeigt sich hierbei, dass der Verbrecher, der in allen seinen Zügen – durch seine überlegten Vorbereitungen auf der Suche nach den Diamanten, durch die raffinierte Inszenierung der Wahnsinnspsychose bei seiner Frau usw. – als ein ausgesprochener Intelligenzverbrecher charakterisiert ist, offensichtlich unlogisch und in einer seiner Intelligenz nicht entsprechender Weise handelt. Er hätte alle Schwierigkeiten umgehen können, wenn er zuerst allein nach London gefahren wäre und dabei das Haus durchsucht hätte, wenn er gleich, nachdem das Gaslicht die Aufmerksamkeit seiner Frau erregt hatte, diese für einige Zeit zur Erholung weggeschickt hätte oder dergl. Kurz, eine logisch-rationale Erkenntnis und Kenntnis der Handlung und ihrer Struktur würde hier – zumal bei ihrem Vorbekanntsein – dem Zustandekommen eines filmischen Erlebnisses entgegenwirken.

219

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

220

Diese Erkenntnis wird jedoch auf doppelte Weise vermieden: Erstens erfährt der Zuschauer den ganzen Tatbestand erst am Ende des Filmes. Durch den glücklichen Ausgang aber bietet das Geschehen von da ab keine Problematik und damit keinen Denkanreiz mehr. Und zweitens werden logisch-rationale Erwägungen während des Films – sollten sie trotzdem Platz greifen – durch die von den einzelnen Situationen ausgehenden Wirkungen weitgehend unterdrückt. Die elementaren und Regiemittel werden in Richtung eines magischen Welt­er­lebens wirksam, über dem ganzen Geschehen liegt von Anfang an eine Atmosphäre des Unheimlichen. Die Straßenszenen mit Londoner Nebel, das unheimliche Gaslicht, dessen Wirkungen an der Frau des Pianisten (Der Pianist und seine Frau werden nebenbei von ausgezeichneten Darstellern verkörpert.) miterlebt werden, Erregung von Furcht-, Angst- und Bedrücktheitsgefühlen wirken zusammen zu einer von Bildern getragenen Gefühlskomposition, in die der Zuschauer bis zum glücklichen Ende miteinbezogen ist. Wie beim aktuellen magischen Erlebnis jede Situation durch die affektiven, innerseelischen Regungen des Erlebenden eine subjektive Gefühlsfärbung erhält und den Erlebenden unter weitgehender Ausschaltung von dessen logisch-rationalem Verarbeitungsvermögen und der Möglichkeit objektiver Beobachtung in ihren Bann zieht, so erlebt auch hier der Zuschauer jede Szene in erster Linie – in phänomenal magischer Weise – als einen Gefühls- und seelischen Spannungswert. Da sich der Zuschauer dabei vollkommen passiv verhält, nähert sich dieses Erlebnis wiederum dem für magisches Welt­er­leben bedeutungsvollen Erleben bildgewordener Gefühlsabläufe, dem traumhaf‌ten und rauschartigen Erleben an. Dass sich dieses Überwiegen der Gefühlsregungen neben der (im Sinne der Wunschprojektion) zu glücklichem Ausgang führenden eurythmischen Komposition in fast jedem Durchschnittsfilm in mehr oder weniger ausgeprägter Form findet, wird deutlich, wenn man sich die Mühe nimmt, einen solchen Film zweimal oder sogar mehrere Male anzusehen. Bei einem zweiten oder dritten Betrachten des gleichen Streifens bleibt das Interesse und damit das Erlebnis nur dann erhalten, wenn entweder die Gefühlsreaktion direkt durch die Handlung – auch bei deren Vorbekanntsein – ohne ein identifizierendes Interesse hervorgerufen wird, die dem Film immanente Thematik also über den geschlossenen Kreis der Wunscherfüllung hinaus eine (auch beim Vorbekanntsein der Handlung) nicht gleich gelöste Problematik enthält, oder aber wenn die abgebildeten Wirklichkeitsausschnitte so reichhaltig oder als Bilder in ihrer reinen Bildwirkung so künstlerisch sind und die Mittel der Regie derart über den Bereich ihrer rein magi-

DIE WELT DES FILMS

schen Wirksamkeit hinausgreifen, dass ein partielles oder mehr oder weniger vollkommenes ästhetisches Erleben möglich ist. Im anderen Falle kann allenfalls unter Ausschaltung aller logisch-rationalen Gesichtspunkte der Gefühlsablauf in ähnlicher Weise wie beim Wiederhören oder Wiederlesen eines Märchens wiedererlebt werden. Durch die magische Einbeziehung des Zuschauers in seine Welt ist der Film also zu nichts eher geeignet, als dazu, dass Gefühls- und Vorstellungsprojektionen des Zuschauers die einzelnen Szenen erfüllen und ihnen damit einen weitgehend subjektivierten Erlebnisgehalt geben bzw. auch ganze Szenenfolgen in einer dem logisch-rationalen Welt­er­leben widersprechenden Weise organisch zu verbinden. Diese organische Verbindung aber beruht wiederum auf der Tätigkeit derjenigen Form der Fantasie, wie sie einmal für ein magisches Welt­er­leben und andererseits für die infantile Entwicklungsstufe und, in rudimentärer und für ihre Betätigung des besonderen Anreizes bedürfenden Form, für die überwiegende Anzahl aller Erwachsenen als typisch erkannt wurde (vgl. S. 127  ff .). Der Film führt so zu einem phänomenal magischen Erleben des durch ihn dargebotenen Wirklichkeitsausschnittes, zu einem magischen Erleben der filmischen Welt. Ebenso wie auf einzelne Szenen und Szenenfolgen des Films können sich aber derartige Projektionen, auch unberücksichtigt der magischen Wirkung der filmischen Mittel, auch auf einzelne Objekte des von ihm dargebotenen Weltabbildes richten. Bei den Mitteln der Regie zeigt sich eine ähnliche Wirkung in der symbolbildenden Kraft der Einstellung. Im Bereich der Handlung des Films, d. h. innerhalb des von ihm dargebotenen Weltabbildes, entspricht ihr der sog. »Requisitenfilm«, ein Film also, dessen Hauptdarsteller ein lebloses Requisit, ein Zehnmarkschein etwa,9 eine Perlenkette oder dergl. ist. In dem (amerikanischen) Film »Sechs Schicksale« (»Manhattan Tales«) z. B. werden das Schicksal eines Fracks vom Schneider bis zur letzten Verwendung in einer Negersiedlung und gleichzeitig Ausschnitte aus dem Leben seiner sechs Besitzer gezeigt. Jedem bringt er entweder Glück oder Unglück, immer aber wird er in entscheidender Situation getragen.10 Hierdurch gewinnt dieser Frack (das Requisit) eine über sein tatsächliches Sein weit hinausge9 Der erste deutsche Film dieser Art war »Die Abenteuer eines Zehnmarkscheins« (1926). 10 In ähnlicher Weise verfuhr der ältere französische Film »Die Perlen der Krone«, in dem die Perlen der Krone Frankreichs das Requisit, die mit ihnen verbundenen Schicksale, das Thema des Films darstellen.

221

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

hende Bedeutung. Nachdem seine Funktion im ersten Viertel bis ersten Drittel des Films dem Zuschauer aber eindeutig klar geworden ist, projizieren sich die Vorstellungen, Wünsche, Gefühle usw. des Zuschauers nun weniger in Menschen oder Situationen, sondern in erster Linie in den Frack. Unabhängig von der künstlerischen Wirkung dieses Mittels konstituiert sich auf diese Weise zwischen dem Zuschauer und dem filmischen Abbild eines leblosen Objektes eine phänomenal magische Verbindung »Subjekt – Objekt«. Das Requisit erlangt so im Requisitenfilm (gewissermaßen als »Zubehör«) in gewissem Sinne fetischistische Bedeutung (vgl. S.  66  f .). Die magische Struktur der filmischen Welt zeigt sich also auch unabhängig von dem Geschehensablauf in dem vom Film vermittelten und hervorgerufenen Erleben der filmischen Welt an sich. Sie befördert, auf den Wirksamkeiten der filmischen Mittel auf‌bauend, eine assoziative, affektbetonte und von innerseelischen Regungen und unbewussten Projektionen getragene Erlebnisweise, wie sie in ihren intensivsten Formen dem Rausch, dem Traum usw. nahesteht und für den Bereich offensichtlich magischen Welt­er­ lebens typisch ist.

Die Welt des Films als typische Welt

222

Die bisherigen Untersuchungen der Welt des Films zeigten, dass die­ses Weltbild infolge seiner märchenhaf‌ten Gestaltung und in­ folge seiner magischen Struktur ein phänomenal magisches Welt­er­ leben in jener doppelten Weise wirksam werden lässt, welche für die einem magischen Welt­er­leben adäquaten Gestaltungen typisch ist. Das phänomenal magische Erlebnis wird jedoch – insbesondere bei Märchen und Sage – über die dem Geschehensablauf immanente Wunschprojektion und -erfüllung hinaus vor allem auch begründet durch die identifizierende Eigenprojektion des Erlebenden in den handelnden Helden einerseits und durch die intime Kenntnis der Örtlichkeiten, in denen sich das Geschehen abspielt, andererseits. Der Lesende bzw. Hörende nimmt ganz entschieden Partei für seinen Helden, er fühlt mit ihm und erlebt dessen Taten und Abenteuer ungefähr so wie eigene Erlebnisse seines realen Daseins in lebhafter Fantasie und Erinnerung. Und Königsschlösser, verwunschene Türme, Hexenhäuser, Troll- und Zwergbehausungen usw. sind für ihn, obwohl er dergleichen meist nie in seinem realen Dasein gesehen hat, klar vorstellbar und er bewegt sich in ihnen mit seinem Helden wie an gewohnten Plätzen.

DIE WELT DES FILMS

Beides wird erreicht durch eine Typisierung, in welcher der Held und die Örtlichkeiten den Wünschen und Vorstellungen des Erlebenden entsprechen. D. h. der Held wird in wenigen allgemeinen und positiven Zügen, die Örtlichkeiten werden ebenso durch wenige Andeutungen gezeichnet. Das Übrige bleibt der subjektiven Vorstellungs- und Fantasieergänzung durch den Erlebenden überlassen. Er erlebt so den Helden so, wie er sich einen Helden vorstellt und ebenso sind die Örtlichkeiten seinen subjektiven Vorstellungen gemäß. Gestalten und Örtlichkeiten erhalten Leben und Substanz erst durch die Projektion des Erlebenden (vgl. S. 140  f . Anm.  62). Das Märchen und viele Sagen sind so Gestaltungsformen, in denen im magischen Welt­er­leben vorstellbare und mögliche Begebenheiten, die tatsächlich, aber magisch erlebt werden, in Form von Erzählung oder Bericht niedergelegt sind. Das magische Erleben dieses Berichtes oder dieser Erzählung kommt beim Lesen oder Hören durch Vorstellung und Fantasie oder durch unbewusste Projektionen zustande, die das in Umrissen dargestellte Geschehen aus der eigenen Erlebniswelt bildhaft ergänzen. Anders beim Film: Auch der Film vermittelt infolge seiner eurythmischen, zum glücklichen Ende führenden Komposition, infolge der Wirksamkeit seiner Mittel und infolge seiner magischen Struktur in den meisten Fällen ein phänomenal magisches Erlebnis. Die Bildhaftigkeit dieses Erlebnisses jedoch ist nicht nur vorgestellt oder fantasiegeboren bzw. lebt aus der Eigenprojektion, sondern das Erlebnis begründet sich tatsächlich und in erster Linie auf ein selbstständiges, außerseelisches Bildgeschehen. Beim filmischen Erlebnis können also etwaige Bilder des Unbewussten oder Vorstellungen nicht etwa in eine Fantasiegestalt, sondern nur in mehr oder weniger tatsächliche und in der Welt des Films sichtbare und handelnde Personen projiziert werden und auch die Gestalt der Örtlichkeiten ist nicht allein von der Vorstellung und Fantasie des Erlebenden abhängig, sondern weitgehend bildlich-anschaulich vorgebildet. Je stärker aber in einer künstlerischen oder sonstigen weltabbildenden Gestaltungsform einzelne individuelle Züge der einzelnen logisch-rational begründbaren (religiösen, weltanschaulichen und sonstigen) Bezogenheiten herausgearbeitet und vorgebildet sind, desto geringere Anreize bieten sie für subjektive Projektionen. Tatsächlich aber haben nun die meisten Gestalten der Filmwelt – besonders natürlich wiederum im Durchschnittsfilm – mit denen der Märchen- und Sagenwelt vieles gemein. Schon die kurze Betrachtung der beiden Filme »Der letzte Trumpf« und »Das Haus der Lady Alquist« z. B. zeigte eine auf‌fallende Parallelität von Mär-

223

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

224

chen- und Filmfiguren. Diese zeichneten sich dadurch aus, dass sie ganz typische Exponenten der von ihnen dargestellten Situationen waren. Diese Typisierung aber kann sich nun je nach der Art des Filmes noch beträchtlich steigern. So stehen z. B. ein männlicher und ein weiblicher Held im Mittelpunkt fast eines jeden Spielfilms. Sie heben sich von Anfang an eindeutig von ihrer Umgebung ab, alle Geschehnisse des Films sind direkt oder indirekt auf sie bezogen. Ihre Beziehung ist prädestiniert zur Liebesbeziehung, ihre Vereinigung die der Handlung immanente Thematik. Sie werden so zum typischen Liebespaar in dieser oder jener Variation, sie werden somit für den Zuschauer unwillkürlich zu Projektionsträgern. Die Projektion kann sich aber auch direkt oder indirekt auf nur einen Helden konzentrieren. Bei einigen Film-Gattungen bzw. Film-Serien-Gattungen – z. B. Wildwest-, Detektiv-, Expeditions-, Abenteurerfilm usw. – steht oft ein Held in so deutlicher Weise im Vordergrund, dass das ganze Geschehen wirklich nur als ein Bericht über ein glücklich ausgehendes Abenteuer eben dieses (oft innerhalb einer Film-Serie immer durch den gleichen Schauspieler dargestellten) Helden erscheint. Der Zuschauer wird über den Bereich der Wirksamkeit der filmischen Mittel hinaus, durch Eigenprojektion in den Helden, zum Erlebenden innerhalb der Welt des Films. Für das Zustandekommen einer derartigen Projektion ist nun aber Bedingung, dass der Eigenfantasie und der Ergänzung aus der eigenen subjektiven Vorstellungswelt und des Unbewussten ein möglichst großer Spielraum gelassen wird. In der Märchen- und Sagengestaltung geschieht dies durch die spärliche Charakterisierung. Clarence und Montez (in »Der letzte Trumpf«) z. B. waren von vornherein mit wenigen Hinweisen (Beste des Kurses, beste Schützen usw.) als hervorragende Kriminalisten herausgestellt. Alle ihre späteren Handlungen und Erfolge werden aus dieser spärlichen, aber durch die Eigenergänzung des Zuschauers überreichen Charakterisierung heraus verständlich. Ebenso ist in »Das Haus der Lady Alquist« der Pianist von vornherein der hintergründige Verbrecher, seine Frau unbefangen-unschuldig, der Kriminalinspektor edel und scharfsichtig. Die Typisierung und damit die Parteinahme innerhalb des Miterlebens sind auch bei differenziertestem Spiel der Darsteller von vornherein klar. Die Eigenvorstellung von Gut und Böse und die unbewussten Figurationen des bösen, guten, unschuldigen, edlen Menschen projizieren sich von Anfang an auf die entsprechenden Typen. Zum Typ gehört die typische Welt. Diese Welt wiederum verhält sich beim Film zu der erst in der Fantasie des Lesers oder Hörers entstehenden Märchenwelt, wie der Filmheld zum Märchen- bzw.

DIE WELT DES FILMS

Sagenhelden. Sie ist in ihrer Gesamtheit und in ihren Details ebenfalls nur angedeutet in für den Zuschauer vorbekannten Gegebenheiten, das Übrige ist unbewusste Ergänzung. Und ebenso wie sich in der Gesamtwelt des Märchens bestimmte eigenartige Bereiche – Lebensbereich der Könige, der Hexen, der Zwerge, mit Schlössern, Höhlen usw. – unterscheiden lassen, ebenso lassen sich auch innerhalb des vom Film gegebenen Weltabbildes, innerhalb der Gesamtwelt des Films, ganz bestimmte Bereiche unterscheiden, die Eigenexistenz gewonnen haben. Die Welt des Theaters, des Varietés, der Oper usw. hinter den Kulissen, die Welt der großstädtischen Spelunken, der Luxushotels, der Häfen usw., haben durch ihre stetige Wiederkehr in der Filmproduktion Eigenexistenz gewonnen und sind – ähnlich wie im Märchen die Welt der Könige, Hexen usw. durch ständig neue Variationen für den Märchenleser – fester Besitz der Vorstellungswelt des Kinobesuchers geworden. Seinem realen Dasein sind sie fast ebenso fern wie einem logisch-rational beeinflussten Dasein der Welt des Märchens, die darum von dieser Erlebnisperspektive aus auch in die unbestimmte Vergangenheit des »es war einmal« verlegt wird. Auch andere Bereiche – das Gebiet der Geschichte, der Wissenschaft, der Technik, ferner Länder usw. – müssen beim Film für das Zustandekommen eines magischen Erlebnisses oft stark auf typische Merkmale reduziert werden. Der Held als Wissenschaftler z. B. wird im Labor gezeigt, zusammen mit einigen Retorten. Historische Filme arbeiten mit allgemein bekannten bzw. der allgemeinen Vorstellung entgegenkommenden Inszenierungen usw. Auch die Menschen der den Helden umgebenden Welt müssen, um auf den ersten Blick in ihrer Funktion erkannt werden zu können, typisch sein. Ein Kellner z. B. ist im Film fast immer ein typischer Kellner, eine Stenotypistin eine typische Stenotypistin usw. Immer sind Filmszene, Filmfiguren und Filmwelt weitgehend typisiert, sie sind für den Zuschauer nur ein »sinnbildlicher Entwurf, auf den er die von ihm ausdifferenzierte Gesamtgestalt aufprojizieren kann« 11. Die Begründung des filmischen Erlebnisses ist in hervorragendem Maße von dieser Projektionsverbindung, von dieser phänomenal magischen Verbindung zwischen Subjekt und Objekt abhängig.12 11 Opfermann 1948, 12. Kap. 12 Ohne Zweifel regen auch Filmankündigungen wie »Die Geschichte eines Schicksals«, »Ein Film, den das Leben selbst schrieb« usw. weniger dazu an, einen objektiven Bericht zu erwarten, als vielmehr dazu, ein Stück Leben bzw. Schicksal selbst mitzuleben.

225

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

226

Die Typisierung von Welt und Menschen bringt es aber auch mit sich, dass auch die Handlung – abgesehen von ihrer märchenhaft-magischen Struktur – bis zu einem gewissen Grade typisiert werden muss. Der Held oder die Heldin werden in diesen sehr zahlreichen Fällen – schon infolge der Kürze des Films – immer nur in typischen Situationen gezeigt und auch das Geschehen besteht aus einer Folge typischer Situationen. Zum Beispiel: Der Erfinder im Labor – mit seiner Erfindung in der Öffentlichkeit – Ablehnung – wieder im Labor – Entdeckung – Berühmtheit – Intrige – Niedergang – erneuter Aufstieg – endgültige Anerkennung usw. Das ganze ist die Geschichte eines Menschenlebens, in Wirklichkeit aber nur die Summe untereinander durch kurze Übergänge verbundener entscheidender Stationen dieses Schicksals. Man erfährt im Gegensatz zu diesen einprägsamen Situationen als Erlebnis kaum etwas von der monatelangen, mühseligen Arbeit bis zur entscheidenden Entdeckung, kaum etwas von dem glücklichen Familienleben bis zur Intrige usw. Dies wird alles nur angedeutet und muss aus der eigenen Vorstellung ergänzt werden. Tatsächlich gezeigt werden nur die Situationen, welche für den wunscherfüllenden, eurythmischen Ablauf des Geschehens von Wichtigkeit sind. Das typisch filmische Erlebnis, einen Schicksalsablauf miterlebt zu haben, kommt erst dadurch zustande, dass die an den Einzelsituationen gewonnenen typischen Merkmale zum individuellen Schicksal ergänzt werden.13 Doch auch innerhalb der einzelnen wichtigen Szenen erlebt der Zuschauer, infolge der nur angedeuteten Zeichnung aller Züge der Menschen und der sie umgebenden Welt, den Erfinder eben so wie er sich einen Erfinder vorstellt. Er bekommt im Interieur des Labors (Retorten, Block, Bleistift, Mikroskop, Zahlen usw.) das Bild des typischen Erfinders geboten und projiziert sein Bild vom Erfinder in diesen Typ hinein – und mit ihm bis zu einem gewissen Grade auch sein eigenes Ich – und erlebt nun in dieser Projektionsfigur des Erfinders alle Höhen und Tiefen des dargestellten Geschehnisses im Sinne der magischen Struktur des Films. So ist dies derselbe Vorgang wie bei dem durch das Lesen oder Hören eines Märchens ausgelösten Erlebnis, bei dem durch die Darstellung des Geschehens meist auch nur das Projektionsbild des Helden ergänzt und ausgemalt bzw. dem Helden und seiner heldischen Funktion gemäße Situationen geschaffen werden, deren eurythmischer Ablauf zur endlichen Wunscherfüllung führt. 13 So sind die Erfinder- bzw. Arztschicksale in den Filmen »Robert Koch« (deutsch), »Madame Curie« (amerikanisch) und »Prof. Ehrlich« (amerikanisch) z. B. fast vollkommen gleich und dem oben zitierten Beispiel ähnlich.

DIE WELT DES FILMS

Diese Typisierung, die den typischen Helden in typischer Welt zeigt und diese Darstellung durch Typisierung der Situation noch stützt, entrückt wiederum die Welt des Films beträchtlich der Welt des realen Daseins, wobei natürlich immer der äußere Schein des Letzteren gewahrt bleibt. Alle Dinge, welche im Letzteren eine wesentliche Rolle spielen, bleiben daher im Ersteren weitgehend unberücksichtigt. In erster Linie gilt dies für Arbeit und Geld. Sie spielen im Durchschnittsfilm meist nur eine untergeordnete Rolle. Die Arbeit dient in Andeutung zur Bezeichnung des Berufes, Geld spielt selten eine negative Rolle. Immer ist Geld da, wenn eine Reise notwendig wird oder dergl., Taxis, Zechen usw. werden manchmal überhaupt nicht bezahlt und dergl. mehr. Das Entscheidende ist hierbei jedoch nicht, dass der Vorgang des Zahlens nicht gezeigt bzw. übergangen wird, sondern dass durch das weitgehende Fehlen der Faktoren Arbeit und Geld, die im realen Dasein eine so entscheidende und oft negative Rolle spielen, die Welt des Films, die das im Rahmen der Fotografie getreue Abbild dieses realen Daseins gibt, eine weitere Veränderung in Richtung einer magisch strukturierten Welt erfährt. Auch die Typisierung befördert also die in den vorigen Abschnitten betrachtete, auf märchenhaft-magischer Struktur begründete, doppelt phänomenal magische Wirkung des Films derart, dass Projektionstypen in typischer Welt und typischen Situationen im Sinne eines Wunsch-Projektions-Geschehens agieren. Der mit allen hervorragenden Eigenschaf‌ ten ausgerüstete Filmheld hat noch ein Gegenbild. Dem klugen Helden steht im Märchen der Typ des Tölpels gegenüber. Ihm entspricht im Bereich der filmischen Welt der Komikertyp. Er ist ein Projektionstyp mit umgekehrten Vorzeichen.14 Der Filmtyp als Handlungstyp (als Detektiv, Salonlöwe, Graf usw.) ist eine Erscheinung, die in markantesten Formen in der Frühzeit des Films vorherrschte,15 allmählich jedoch immer mehr zurückgedrängt wurde. Der reiche Graf, der das arme Mädchen heiratet, wird immer mehr zur Ausnahmeerscheinung. Die magische Struktur und der märchenhaf‌te Charakter des Durch14 So z. B. Charlie Chaplin, Fernandel, Theo Lingen usw. – Nicht direkt im Sinne der Typisierung des Weltabbildes, aber doch parallel zu ihr wirken auch die typischen, immer wiederkehrenden Handlungselemente: die Uhr, auf der das Vorbeieilen der Stunden sichtbar wird, der schnell sich füllende Aschenbecher, das krampfhaft zerknüllte Taschentuch als Ausdruck der Erregung usw. 15 So nannte eine der ersten Publikationen über den Film (»Das Lichtspiel von Pordes«) folgende Filmgattungen: Gesellschaftsfilm, Detektivfilm, geschichtlicher und Milieufilm, fantastischer Film.

227

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

228

schnittfilms treten also in solch äußeren Erscheinungsformen und -merkmalen nur mehr selten in Erscheinung. Meistens scheinen die Typen durch ihre Verkörperungen in ausgesprochen individuellen Schicksalsträgern nur sehr hindurch und werden nicht mehr bewusst aufgrund der typischen Welt, in der sie agieren, als Handlungstypen empfunden. Mit dem Unbewusstwerden der magischen Struktur des Films werden auch die Typen des Films als solche unbewusst. Eine Form des Projektionstyps dagegen, welche unabhängig vom filmischen Geschehen besteht, ist der Typ des Darstellers. Der Zuschauer projiziert nicht in Handlungstypen, sondern in den Typ, wie er sich ihm, unabhängig von der Handlung, rein bildlich darstellt. Er hat eine Reihe von Darstellern, welche – bewusst oder unbewusst – seinen Vorstellungen und Wünschen entsprechen, die ihm »sympathisch« sind, und projiziert nun unabhängig vom Geschehen in den Darstellertyp. Das »Filmgesicht« wurde so die Voraussetzung für jede Schauspielerkarriere beim Film. Aus diesem Phänomen heraus entwickelte sich mit dem Film das sog. Starwesen, welches auch nicht ohne Grund von der Filmindustrie befördert wird. Der Star ist das Ideal- und Projektionsabbild der Masse der Kinobesucher. Er gewinnt an Realität dadurch, dass z. B. bekannt ist, wo und wie der Star lebt, dass er im realen Leben oft von einem ähnlichen Luxus umgeben ist wie im Film usw. Die Grenze zwischen Illusion und Wirklichkeit wird verwischt. Aber auch unabhängig von solchen äußeren Gegebenheiten gewinnt der Darsteller-Typ im Sinne der Projektion mit dem Zurücktreten des Handlungstyps immer mehr an Bedeutung.16 Das filmische Geschehen – gleich ob in der Gegenwart oder Vergangenheit – ob in Nähe oder Ferne sich abspielend – gewinnt also Bedeutung und erlebnisformende Kraft im Sinne eines magischen Welt­er­lebens vor allem auch dadurch, dass das Bild des Typs vom Zuschauer ergänzt und im Rahmen der magischen Struktur entwickelt wird.

16 Einer Umfrage des Bielefelder Instituts für Marktforschung und -ermittlung »Emnid« zufolge (veröffentlicht in »Die Zeit« vom 12.  5.  1949) sind die »besten Schauspieler« im Film: Willy Birgel, Hans Albers, Theo Lingen, Hans Moser; die »besten Schauspielerinnen«: Marika Rökk, Kristina Söderbaum, Hilde Krahl, Paula Wessely. Darsteller (besonders männliche) also, die vor allem auch starke Projektionstypen repräsentieren und natürlich auch meistens in ihrem Typ entsprechenden Situationen und Handlungsabläufen gezeigt werden.

DIE WELT DES FILMS

Die Realität des Irrealen Bisher wurde das filmische Weltabbild als ein Abbild realen Geschehens betrachtet. Es zeigte sich dabei, dass sich die Welt des Films von der realen Welt durch ihre phänomenal magische und märchenhaf‌te Struktur und Typisierung unterscheidet und dass durch die Gestaltung des Geschehens und die gefühlsbetonte Verbindung zwischen Zuschauer und Handlung ein vorwiegend magisches Erleben der dargestellten Realität zustande kommt. Dieses magische Erleben wird nun natürlich in seiner Intensität und Ausdehnung noch beträchtlich gesteigert, wenn der Film in Ausnutzung der ihm in dieser Hinsicht gegebenen Möglichkeiten in die Welt des Irrealen vordringt bzw. das Irreale in seine Welt einbezieht.17 Seine Technik erlaubt es ihm, schlechthin jeden Vorgang, jede Vorstellung, jeden Gedanken schaubar zu machen. Zu berücksichtigen ist hierbei jedoch, dass die so schaubar gemachten, irrealen und an sich unkörperlichen Wesenheiten, sobald sie im Film sichtbar werden, auf eine Stufe mit allen anderen auch in der realen Welt sichtbaren körperlichen und realen Wesenheiten gestellt sind. Sie unterscheiden sich kaum oder nur unmerklich in ihrem Sein von allen anderen Objekten und Vorgängen der filmischen Welt. Die Mittel der Regie, besonders Montage und Schnitt, bringen es mit sich, dass der Ablauf filmischen Geschehens in assoziativer Weise erlebt wird. Dieses Erleben steht den rein magischen Erlebnisweisen des Traumes, des Rausches usw. nahe. Wird nun aber im Film ein tatsächlicher Traum oder Rausch dargestellt, so unterscheidet sich das hieraus resultierende Erlebnis infolge der gleichen Ebene der Darstellung nur sehr unwesentlich von dem Erlebnis, welches durch den die Realität darstellenden Film ausgelöst wird. Die Dimensionen sind nur wenig verändert und vor allem die reale Körperlichkeit der Objekte und die Räumlichkeit der Welt, in der diese Objekte sich befinden, sind der filmischen Welt realer Darstellungen vollkommen gleich. Während also im realen Dasein Traum und Rausch einerseits und die reale Wirklichkeit andererseits durch die vollkommen unterschiedlichen Bedingungen, die das von ihnen hervorgerufene Erlebnis begründen, stark voneinander unterschieden sind, gehen im Film die Erlebnisbereiche organisch ineinander über. Hierdurch aber gewinnen wiederum die Zustände des Traumes, des Rausches usw. in der filmischen Darstellung im Bereich der 17 So weist z. B. schon Balazs in seinem programmatischen Buch »Der sichtbare Mensch« (1924, 43) auf die hervorragenden Möglichkeiten des Films, das Déjà-vu-Phänomen darzustellen, hin.

229

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

230

filmischen Welt für den Zuschauer eine Realität, die ungefähr ihrer erlebten Realität im Bereich des magischen Welt­er­lebens entspricht. Wie einem magisch erlebenden Menschen eine Halluzination oder Illusion eben tatsächlich als eine Wirklichkeit innerhalb der zeit-räumlichen Welt, in der sich der Erlebende selbst befindet, erscheint, so erscheinen dem Kinobesucher die filmischen Darstellungen von Traum, Rausch, Halluzination, Vision usw. innerhalb der filmischen Welt, in welche er selbst auf mannigfache Weise magisch einbezogen ist, unbewusst als wirklich. Sie werden auf der gleichen Ebene wie die Realitäten erlebt. Ungleich stärker wird dieses Erlebnis natürlich noch, wenn ganz eindeutige Vorstellungen des magischen Welt­er­lebens (Geistererscheinungen, Ich-Spaltungen und dergl.) nicht nur als Visionen, sondern als tatsächliche, reale Dinge und Vorkommnisse innerhalb der filmischen Welt dargestellt werden. Vorstellungen und Anschauungen, die im realen Dasein eben nur als Vorstellungen und Anschauungen bestehen und höchstens in besonderen Momenten sich realisieren und ein magisches Welt­er­leben aktueller Form hervorrufen, sind hier von vornherein realisiert und werden vom Zuschauer als real erlebt. Es kommt so ein im wörtlichsten Sinne magisches Erlebnis zustande. So ergeben sich im Film aufgrund seiner Technik große Möglichkeiten surrealistischer und fantastischer Darstellung. Ihre Wirksamkeit als rein magische Mittel einerseits bzw. künstlerische Mittel andererseits hängt ebenso wie bei der fantastischen oder märchenhaf‌ ten Erzählung (vgl. S. 92  f.) von ihrer Verwendung innerhalb des Geschehensablaufes ab. Im Falle des Durchschnittsfilms – und damit in der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle – gliedern sie sich in die phänomenal magische Struktur der filmischen Welt ein und bewirken hierdurch, dass die Geschehnisse nicht nur von dem logisch-rational immerhin möglichen Zufall, sondern tatsächlich von ganz deutlich vor- und darstellbaren irrealen Gegebenheiten abhängen, die dann in der Welt-wie-sie-unsim-Film-erscheint natürlich auch im Sinne der Welt-wie-sie-seinsollte wirken. In besonders deutlicher Weise und gleichzeitig beispielhaft für die Verbindung von logisch-rationalen Erkenntnissen mit magischen Wirksamkeiten kommt dies in zahlreichen psychoanalytischen Filmen zum Ausdruck. Innerseelisches Geschehen, das wohl zum Subtilsten gehört, was es gibt, und niemals in seiner ursprünglichen Form außerseelisch verselbstständigt werden kann, erscheint hier im Film auf der gleichen Ebene und in der gleichen Gestalt und Realität wie das reale Geschehen. Der glückliche Ausgang der Handlung ist hierbei meist von der Auf‌lösung der

DIE WELT DES FILMS

psychischen Störung abhängig. Diese wiederum wird durch den behandelnden Arzt erreicht, der aufgrund seiner hervorragenden Fähigkeiten allmählich der störenden Einflüsse Herr wird. Der entscheidende Wendepunkt in der Wunscherfüllung liegt also hier nicht im magischen (zufallsbedingten) Geschehen, sondern wird durch den Arzt bewusst herbeigeführt. Der Arzt ist der Beherrscher der in das reale Dasein hereinbrechenden irrealen Kräf‌te. Er wird so innerhalb der Welt des Films zum Magier, der diese Kräf‌te, welche im filmischen Weltabbild – wie in einem magischen Welt­er­leben – auf gleicher Ebene mit den realen Gegebenheiten schaubar werden, beherrscht.18 Die Einbeziehung des Irrealen führt so zu offensichtlich magischem Welt­er­leben innerhalb der Welt des Films. Aus der Betrachtung der Welt des Films ergibt sich Folgendes: Die Welt des Films, d. h. das vom Film gegebene Wirklichkeitsabbild, ist ihrer Struktur nach von ihrem Vorbild, der Welt des realen Daseins, in entscheidenden Punkten grundsätzlich verschieden, derart, dass bei der überwiegenden Mehrzahl aller Filme, beim sog. Durchschnittsfilm, die filmische Gestaltung des von der Welt des realen Daseins gegebenen Abbildes zu einer märchenhaft-magischen Strukturierung drängt. Durch die Komposition des Geschehensablaufes wird so ein märchenhaftes oder sagenhaftes, d. h. in doppelter Weise phänomenal magisches Erleben wirksam. Besonders auf‌fallend in Verbindung mit dieser Komposition, prinzipiell aber auch unabhängig von ihr, ist fernerhin das Phänomen, dass infolge der Gefühlsbetontheit des Films, infolge seiner Typisierung usw. das filmische Geschehen in affektiver Weise und wesentlich ergänzt durch Eigenprojektion, innerseelische Wunsch- und Triebregungen usw., d. h. in phänomenal magischer Weise, erlebt wird. Ein derartiges Erleben der filmischen Welt kommt dadurch zustande, dass durch den Film die ein magisches Welt­er­leben befördernden und in jedem voll entwickelten Normalmenschen in mehr oder weniger starker Ausprägung vorhandenen psychischen Funktionen in ihrer Wirksamkeit unterstützt, die Grundfunktionen logisch-rationalen Welt­er­lebens dagegen in ihrer Wirksamkeit zurückgedrängt werden. Beträchtlich gesteigert wird ein derartiges phänomenal magisches Erlebnis natürlich noch, wenn der Film über die märchenhaft-magische Gestaltung der realen Welt hinausgeht und sich, wie er es vielfach tut, dem Irrealen zuwendet bzw. das Irreale in seine Welt einbezieht. 18 So z. B. in dem (englischen) Film »Irrtum im Jenseits« (»A Matter of Life and Death«) und ähnlich in dem wenig älteren (englischen) Film »Der letzte Schleier« (»The seventh Veil«).

231

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

Das Zustandekommen des phänomenal magischen filmischen Erlebnisses, wie es der überwiegenden Mehrzahl aller filmischen Gestaltungen adäquat ist, vollzieht sich also in wechselweisem Zusammenwirken von Zuschauer und auf der Leinwand sichtbarem Geschehen einerseits und den Mitteln des Films und der magischen Struktur der filmischen Welt andererseits. Der überwiegenden, um die dieses Erlebnis bewirkenden Kräf‌te nicht wissenden Mehrzahl aller Kinobesucher aber wird auf diese Weise ohne Rücksicht auf ihren Bildungsgrad und ihre vorwiegend oberschichtliche bzw. unterschichtliche Verhaltensweise, ein phänomenal magisches Erlebnis vermittelt. Magisches Welt­er­leben aber drängt immer zu phänomenal unterschichtlicher – volksmäßiger oder massenmäßiger – Verhaltensweise. Es bleibt also die Frage, in welcher Richtung die bildende Kraft dieses vom Film vermittelten Erlebnisses wirkt.

232

Die Wirkung des Films Der Film als Kunst In der bisherigen Untersuchung konnte und sollte die Frage nach dem Film als Kunst nicht berücksichtigt werden. Sie ist von der Frage nach dem vom Film vermittelten Erleben weitgehend unabhängig. So befördern z. B. einerseits die Mittel des Films ohne Rücksicht auf dessen Inhalt und dessen künstlerische Gestaltung ein phänomenal magisches Erleben. Andererseits schließt die rein künstlerische Wirkung von einzelnen Bildausschnitten oder -folgen, ein hohes Niveau schauspielerisch-künstlerischer Leistung usw. dies nicht aus. Auch lassen sich bei vielen der primitiv-eurythmischen und ein phänomenal magisches Erleben als adäquate Erlebnisweise voraussetzenden Gestaltungen filmischen Geschehens immer wieder Ansätze zu einer hochkünstlerischen Gestaltung feststellen, der – im Sinne eines logisch-rationalen Welt­er­lebens – ein ästhetisches Erleben in dem Sinne des Wortes, wie er weiter oben dargelegt wurde, adäquat ist. Für das Zustandekommen eines derartigen Erlebnisses ist nun aber Voraussetzung, dass die der künstlerischen Gestaltung immanente Thematik auf eine reine Erkenntnis der Welt-an-sich zielt bzw. in Abhängigkeit von einer aus dem rationalen Gegenüberverhältnis »Ich – Welt« bzw. »Ich – Gott« resultierenden Weltsicht steht, und weiterhin, dass auch die äußeren Bedingungen der Darbietung ein derartiges, auf die Erkenntnis der dem Kunstwerk immanenten Idee gerichtetes Erlebnis zulassen bzw. befördern. Für die volkskundliche Fragestellung ist also von Wichtigkeit, inwieweit der Film in seiner Gesamtheit ein derartiges Erlebnis befördert bzw. wie sich das von ihm vermittelte Erlebnis unter diesem Gesichtspunkt darstellt. Offensichtlich treten die beiden letztgenannten Faktoren – die auf die Erkenntnis der Welt-an-sich gerichtete Idee und das phänomenal eigenständige (rationale) Erleben der Darbietung – beim Film im Verhältnis zu den anderen Künsten in hohem Maße hin-

233

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

ter der Wirksamkeit der ein unrationales und damit phänomenal magisches Erleben fördernden Faktoren zurück. Ein Vergleich weniger entscheidender Merkmale des Films mit solchen der ihm am nächsten stehenden Kunst, des Theaters, zeigt dies besonders deutlich.

234

DAS THEATER

DER FILM

… fußt auf einer Idee, die dem Ge­ gen­überverhältnis »Mensch  –  Welt«, »Mensch – Gott«, »Mensch – Schicksal« usw. entstammt und dieses Verhältnis in echt rationaler Weise (d. h. das als unabdingbar erkannte Tragische des menschlichen Daseins anerkennend bzw. auf das Komische in ihm hinweisend) umfasst.

… weicht den rational erkennbaren Bedingungen des menschlichen Daseins aus und formt das Verhältnis »Mensch – Welt«, »Mensch – Schicksal« usw. im Sinne der subjektiven Wunsch- und Triebregungen der Masse der Kinobesucher. Er entbehrt damit der echten geistigen Idee.

… setzt den Menschen im Vollzuge des von ihm vermittelten Erlebnisses in das Bewusstsein seiner Existenz, in das rationale Bewusstsein seines Verhältnisses zu Gott, Welt, Schicksal, des Verhältnisses von ICH und Nicht-ICH.

… führt den Menschen im Vollzuge des von ihm vermittelten Erlebnisses aus der Welt seiner realen Existenz heraus in eine Welt, die dieser ihren äußeren Gegebenheiten nach zwar gleich, in ihrem Wesen jedoch durch unbewusste Bildprojektionen usw. in unrationaler Weise verändert ist.

… vermittelt innerhalb engster zeit-­ … kennt praktisch keine zeit-räumliräumlicher Grenzen ein Erlebnis, in che Begrenzung. Das von ihm vermitdessen Vollzug der Zuschauer aus sei- telte Erlebnis bezieht den Zuschaunen eigenen zeit-räumlichen Grenzen er in die Endlichkeit seiner ebenfalls herausgerissen und der Unendlichkeit zeit-räumlich bestimmten Welt ein, gegenübergestellt wird. Die Mitgeris- welche ihren äußeren Formen nach senheit des Zuschauers ist geistig-re- zwar viel weiter, infolge ihrer magischen Struktur jedoch innerlich weligiösen Ursprungs. sentlich enger, als die Welt seines realen Daseins ist. Die Mitgerissenheit des Zuschauers ist magischen Ursprungs. … entstammt damit dem religiösen Bereich. Sein wesentlichster Zug »besteht darin, daß nicht nur vor den Zuschauern, sondern vor Gott selber gespielt wird« .1

1 Stepun 1932, 17.

… entstammt damit dem Bereich magischen Welterlebens und magischer Illusionskünste. Sein wesentlichster Zug besteht darin, dass er den Menschen aus den Bindungen seines realen Daseins (und damit auch aus seinen transzendenten Bindungen) herauslöst und in seine vollkommen anders geartete, diesseitige Welt einbezieht.

DIE WIRKUNG DES FILMS

… steht das Wort im Mittelpunkt. Das … steht das Bild im Mittelpunkt, der Hauptgewicht der Darstellung liegt Schauspieler aber steht auf gleicher auf dem Schauspieler. Stufe mit seiner Umwelt und wird so für den Zuschauer zum Normalmenschen dieser Welt.2 … begründet sich das Erlebnis auf das …  fundiert sich das Erlebnis weitbewusst-ästhetische Mitfühlen einer gehend auf eine mehr oder weniger identifizierende Anteilnahme. künstlerischen Gestaltung. … bewirkt die »reale Wandlung der Schauspielerseele« eine »reale Miterlösung der Zuschauermasse aus dem Nichtsein des Alltags zum höchsten Sein des heldisch-tragischen Lebens«3. Die Erhebung hat direkte Beziehung zur Alltagssituation des Zuschauers.

… bewirkt das Abbild einer seelischen Handlung die Eigenergänzung dieses Abbildes durch den Zuschauer. Diese Eigenergänzung steht meist in einem diametral entgegengesetzten Verhältnis zur Alltagssituation des Zuschauers.4

… wird der Zuschauer hierdurch in die geistige, auch in seinem realen Dasein Gültigkeit behaltende Welt des Bühnenstückes einbezogen.

… wird der Zuschauer hierdurch in die sinnliche Scheinwelt des Films, die von der Welt seines realen Daseins innerlich wesentlich verschieden ist, einbezogen.

… bildet sich das Abbild der Wirklich- … liegt das Hauptgewicht in der opkeit immer im Geistigen. tisch-sinnlichen Abbildung der Wirklichkeit.5 … besteht die geistige Form aus sich … zerfällt in Ermangelung einer geisselbst. Auch bei mehrmaligem Erle- tigen Form die Gestaltung bei mehrben offenbart sie sich, wie bei jedem maligem Erleben. echten Kunstwerk, immer wieder von Neuem.

2 Während bei der Bühne »den Beobachter die Gewißheit doch keinen Mo­ ment verläßt, daß der auf der Bühne sprechende Wallenstein nur ein Schein-­ Wallenstein im Abbilde ist« (J. Volkelt [1905]: System der Ästhetik, zit. n. Harms 1926, 175). 3 Ebd., 26. 4 M. a. W.: Das vom Theater vermittelte Erlebnis gibt neue und weitere Perspektiven, auch für den Alltag, das vom Film vermittelte Erlebnis dagegen wirkt als Kompensation für die verdrängten Wünsche und Regungen dieses Alltags. Es schafft somit infolge seiner In-sich-Geschlossenheit keine neuen Gesichtspunkte für das reale Dasein des Zuschauers. 5 »Er kann kein anderes Weltbild gestalten, als sein eigenes: die Sichtbarkeit der Erscheinungen, das geistige Weltbild ist ihm fern und unerreichbar. Noch der geistigste, abstrakteste, mystischste Film wächst aus seiner typisch filmischen, synthetischen Bewußtseinsstruktur, die da glaubt, daß auch das Mystische schon im Realen sichtbar ist, und daß es nichts gibt, das man nicht in irgendeiner Form sehen kann« (Groll 1937, 89  f.).

235

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

Diese wenigen Hinweise zeigen den phänomenalen Unterschied zwischen Theater und Film.6 Das Theater ragt demnach seinem innersten Wesen nach in die das Theater und alles echte Kulturschaffen wie auch die Welt des realen Daseins gleichermaßen überlagernde geistige Welt und empfängt seinen Sinn aus ihr. Der Film dagegen hat in der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle keine wesentliche Beziehung zu dieser Welt, sondern stellt in erster Linie eine Umbildung der realen Welt zu einer Scheinwelt im Sinne des magischen Welt­er­lebens dar, die der realen Welt zwar hinsichtlich ihrer äußeren Gegebenheiten, nicht aber ihrer Struktur nach gleicht. Das Theater vermittelt geistige Wirklichkeiten, das vom Film vermittelte Erleben dagegen begründet sich auf die scheinbare Wirklichkeit seiner Scheinwelt. »Große Kunst ist immer Sichtbarmachung der unsichtbaren Welt. Der Film kann sehr viel mehr als das Theater Ungesehenes zeigen; zu dem Unsichtbaren aber hat er kein inneres Verhältnis. So sehr er, rein ästhetisch 7 gesehen, reine und wahre Kunst ist, so sehr ist er – metaphysisch gesehen – nicht nur ‌. Antitheater, sondern […] auch Antikunst« 8

236

6 Die Vergleichsglieder waren dabei in diesem Vergleich an sich ungleichwertig. Unter Theater wurden die hohe Tragödie und die Komödie von Niveau verstanden, unter Film dagegen der Durchschnittsfilm, wie er mit seinem Überwiegen magischer Elemente in der bisherigen Untersuchung dargestellt wurde. Unter Theaterzuschauer wurde der im Verhältnis zur Idee des Theaters adäquat aufnehmende, also vorwiegend ästhetisch erlebende, unter Kinobesucher der vorwiegend phänomenal magisch erlebende Zuschauer verstanden. In der Praxis sind die Übergänge natürlich hier wie dort fließend. Die Ungleichheit der Vergleichsglieder hat jedoch ihre methodische Berechtigung. Einmal entspringt nämlich das Theater in seiner heutigen Form einer Theaterform (der ersten Gestaltungsform, welche in diesem Sinne als Theater bezeichnet werden kann), für welche alles Gesagte in höchstem Maße zutrifft, dem religiös-mystischen Theater, der griechischen Tragödie. Der Film dagegen entspringt in seiner heutigen Form einem Filmtyp, für welchen wiederum alles über den Film Gesagte in erhöhtem Maße zutrifft. Und zum anderen drängen auch ohne Berücksichtigung dieser Faktoren die Mittel des Theaters allein schon den Zuschauer von vornherein zu einem ästhetischen Erleben geistiger Werte im Mimus (vgl. zum Begriff des Mimus Kutscher 1932, 81  ff.), die Mittel des Films dagegen zu einer magischen Hingezogenheit in eine sinnliche Scheinwelt. 7 Der Begriff des ästhetischen Erlebens bezieht sich hier offensichtlich nur auf ein solches der vom Film dargebotenen äußeren Formen, der schauspielerischen Leistung usw. und nicht wie in der bisher in dieser Arbeit verwendeten Auf‌fassung des Begriffs auf das eigenständige Erleben des Kunstwerkes als Ganzes (einschließlich und gerade zusammen mit dessen metaphysischer Seite). 8 Stepun 1932, 95.

DIE WIRKUNG DES FILMS

Dieser Satz wurde geschrieben, als der Tonfilm noch am Anfang seiner Entwicklung stand (1932). Aber auch dessen weitere Entwicklung zeigte, dass der Film, obwohl er nun im Wort theoretisch ebenso wie das Theater die gesteigerte Möglichkeit hatte, Geistiges auszudrücken, sich nur wenig von seiner ursprünglichen Linie entfernte. Zwar wurden die Effekte dezenter, die Nuancen feiner, die Typisierung geringer und verschleierter, die Erotik indirekter usw. Sein Hauptausdruckmittel aber blieb das Bild mit all seinen vielfachen Verwendungsmöglichkeiten und Einflüssen. Das vom Film vermittelte Erlebnis blieb seinem Wesen nach das gleiche, denn seine elementaren Mittel und Strukturelemente blieben die gleichen. Trotzdem aber hat der Film fraglos auch Möglichkeiten, auch in dem von der Wirklichkeit dieser Elemente begrenzten Bereich im Sinne der anfangs angeführten Definition (vgl. S. 44  f.) hochkünstlerische Werke zu schaffen und damit ein echt ästhetisches Erlebnis zu begründen und zu befördern. Dies kann jedoch mit Hinblick auf die von ihm vermittelte Erlebnisweise nur auf zweierlei Art geschehen: entweder wird das filmische Weltabbild so gestaltet, dass es, obwohl es die Wirklichkeit zum Vorbild hat, nicht als getreues Abbild der Wirklichkeit wirkt (dies wäre in gewissem Sinne eine Überwindung der magischen Wirkung der filmischen Mittel), oder aber die Wirklichkeit wird mit einem Realismus und in einer Form dargestellt, dass sie trotz künstlerischer Gestaltung mit den Gegebenheiten des realen Daseins übereinstimmt (dies wäre eine Überwindung der magischen Strukturierung der filmischen Welt und ihrer Wirksamkeit). Hierfür zwei Beispiele: Der (französische) Film »Der ewige Bann« (»L’ Éternel Re­tour«, Buch: J. Cocteau, Regie: J. Delannoy) handelt von einem jungen Mann, Patrice, der seinem Onkel, Marc, welcher sich seiner Ansicht nach wieder verheiraten sollte, von einem Ausflug ein Mädchen, Nathalie, als Frau auf dessen Schloss mitbringt. Nathalie heiratet Marc. Sie hat aber von ihrer kräuterkundigen Pflegemutter, mit der sie vor Jahren – von Norwegen kommend – an die Küste des nicht näher bezeichneten südlichen Landes verschlagen worden war, in einem Fläschchen einen Liebestrank mitbekommen, um mit ihm die Verbindung zwischen sich und ihrem wesentlich älteren Manne zu befestigen. In der Absicht, Patrice und Nathalie zu vergif‌ten, gibt ihnen der Vetter von Patrice, Achill – ein zwergwüchsiger, hinterhältiger Kretin – den Trank zu trinken, worauf sie sich unrettbar ineinander verlieben. Marc überrascht beide bei einem Stelldichein und verstößt sie. Sie leben zusammen in einer einsamen Hütte, bis Marc Nathalie heimlich zurückholt. Kaum im Schloss angelangt, erkrankt Nathalie schwer. Patrice zieht, nachdem er sich verlassen

237

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

238

findet, in die Stadt, findet Arbeit bei einem Freund in dessen Autoschlosserei und ist bald entschlossen, dessen Schwester zu heiraten. In Wahrheit aber liebt er immer noch hoffnungslos Nathalie. Einmal will er sie noch sehen vor seiner Hochzeit. Er schleicht sich nachts an ihr Fenster. Doch Nathalie hört sein Pfeifen nicht, sie ist in einen anderen Teil des Schlosses umgezogen. Als sich Patrice zum Gehen umwendet, wird er von Achill, der ihn bemerkt hat, in der Meinung, er sei ein Dieb, oder aus Missgunst angeschossen. Er schleppt sich zum Strand und erwartet in einer Fischerhütte den Tod. Nathalie, von seinem Zustande benachrichtigt, eilt trotz ihrer schweren und gefährlichen Krankheit zu ihm und sinkt neben dem inzwischen Gestorbenen tot zusammen. Es ist dies eine moderne Variation des Tristan-und-Isolde-Motivs. Derartige Motiv-Parallelen finden sich naturgemäß in vielen Filmen. Was jedoch diesen Film, abgesehen davon, dass auf diese Parallele im Vorspann hingewiesen wird und sie das bewusste Thema des Films ist, aus der Masse der Durchschnittsproduktionen heraushebt, ist Folgendes: Von Anfang an wird durch Inszenierung, ausgewogene Bildwirkung, Ausstattung, Dialog usw. die Welt des Films der gegenwärtigen realen Welt, welche sie an sich abbildet, entrückt. Das Schlafzimmer z. B., in dem Patrice und Nathalie von Marc überrascht werden, ist durch seine Architektur der Gegenwart so entrückt, dass man kaum auf den Gedanken kommen würde – sähe man dieses Bild allein –, die Szene spiele in unserer Zeit (eher erinnerte dieses an die modernen Theaterexperimente, antike Stücke in moderner Kleidung zu spielen). Das Auto, mit dem Patrice und Nathalie nach ihrer Verstoßung fahren, ist dermaßen altmodisch, dass es fast zeitlos wirkt. Die Szene, wie Patrice, von seinem Ausflug zurückkommend, Nathalie auf dem Pferde vor ihm sitzend, ins Schloss mitbringt, könnte (abgesehen von dem modernen, aber unauf‌f älligen Reitdress des Patrice) ebenso im 16. Jahrhundert spielen usw. Nie wird durch weitläufige Milieuschilderungen ein möglichst umfangreiches Weltabbild gegeben. Jeder Ort ist in betonter Zeitlosigkeit nur angedeutet, alle wenigen Menschen, die im Bilde erscheinen, haben direkte Beziehung zum Geschehen. Hierdurch wirkt auch der für die Handlung entscheidend wichtige, magisch wirkende Liebestrank hier vollkommen natürlich. Die Welt des Films ist hier zwar ebenso wie im Durchschnittsfilm in sich geschlossen, aber der Zuschauer wird hier bei Weitem nicht in dem Maße wie dort in diese Welt miteinbezogen, da die stilisierende und auf Überzeitlichkeit zielende Gestaltung des Geschehens dieses tatsächlich in hohem Maße als überzeitlich erscheinen lässt und so weniger als reales Geschehen als vielmehr

DIE WIRKUNG DES FILMS

als Gleichnis erlebt wird.9 Die Scheinwelt des Films wird kaum mit der realen Wirklichkeit identifiziert, das filmische Geschehen wird verselbstständigt. Der (italienische) Film »In Frieden leben« (»Vivere in pace«, Regie: L. Zampi) dagegen ist ein Beispiel für die andere zitierte Möglichkeit filmisch-künstlerischen Ausdrucks. In ihm wird das Schicksal eines kleinen italienischen Bergdorfes während der letzten Monate des letzten Krieges geschildert. Dieses Dorf lebt nur der Arbeit und den kleinen Freuden wegen und besonders einer der Weinbauern hat nur den einen Wunsch: in Frieden zu leben. Und gerade er wird, ohne eigenes Verschulden, vom Kriege am meisten heimgesucht. Noch ist deutsches Militär im Dorf, da werden ihm eines Nachts zwei Amerikaner (davon einer ein verwundeter Neger) ins Haus gebracht. Er versteckt sie und pflegt den Verwundeten. Während einer Trinkerei mit dem letzten noch im Dorfe verbliebenen deutschen Soldaten im Hause des Weinbauern bricht jedoch der Neger im Rausch aus seinem Versteck, dem Weinkeller, hervor und trinkt mit dem auch betrunkenen deutschen Soldaten Brüderschaft. Dann ziehen sie beide durch das Dorf und verkünden, dass der Krieg nun zu Ende sei. Alles freut sich und ist guter Laune, bis nahes Artilleriefeuer anzeigt, dass der Krieg noch nicht zu Ende ist. Nun bekommt alles Angst, denn nach deutschem Befehl wird jedes Dorf, welches Partisanen, Alliierte usw. beherbergt, gebrandschatzt. Das ganze Dorf zieht darum noch in derselben Nacht in die Berge. Nur der Pfarrer bleibt und soll durch Läuten der Glocken Bescheid geben, ob der deutsche Soldat von seinem Rausch etwas im Gedächtnis behalten hat oder nicht. Am Morgen beobachtet der Weinbauer vom Berg aus, wie der Soldat in Eile das Dorf verlässt. Er geht ihm entgegen, um ihn aufzuhalten. Doch der Soldat will nicht den Vorfall melden. Er hat vielmehr Nachricht bekommen, dass die Alliierten im Anmarsch sind und will desertieren. Er will nicht nochmals nach Russland, sondern will endlich auch in Frieden leben. Der Weinbauer gibt ihm Zivilkleider, doch eben als der Soldat damit in einer Kapelle verschwinden will, erscheint eine deutsche Motorradstreife, erschießt den Deserteur und den Weinbauern und flieht weiter. Der Wunsch des Weinbauern, in Frieden zu leben, wurde ihm nicht erfüllt. Dieser Film ist die Geschichte des einfachen, unpolitischen Menschen, der zwischen das Räderwerk des Krieges und der Weltanschauung gekommen und – nicht zuletzt wegen seines guten und hilfsbereiten Wesens – nicht fähig ist, sich daraus zu retten. 9 Eine andere, aber der oben zitierten Darstellung ähnliche Form ist die tatsächliche Märchenverfilmung, wie Cocteaus »Es war einmal« (»La Belle et la nate«).

239

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

Was diesen Film aus der Masse der Durchschnittsfilme heraushebt, ist, neben seiner aus der Problematik des realen Gegenwartsdaseins entstandenen Thematik, sein klarer Realismus in der Darstellung. Alle Haupt- und Nebenrollen sind echte Menschen, keine prädestinierten Projektionstypen. Der Weinbauer, seine Frau, seine Tochter, der faschistische Parteifunktionär des Dorfes, ein italienischer Deserteur, die beiden Amerikaner, der deutsche Soldat, alle sind sie – im Sinne der dem Film zugrunde liegenden pazifistischen Idee – realistisch dargestellt und die Handlung steht mit dem dargestellten Weltausschnitt in rationalem Einklang, d. h. sie ist weit entfernt von jeder Art von Wunscherfüllung (So endet z. B. auch die Zuneigung des einen Amerikaners zur Tochter des Weinbauers damit, dass er sich beim Einmarsch seiner Kameraden von ihr verabschiedet und beide sich bewusst sind, dass keiner mehr, als die Erinnerung vom andern behält). Der Film stellt die Gegenwartswirklichkeit in filmischer Weise dar, aber die innere Struktur des von ihm gegeben Weltbildes stimmt dabei in hohem Maße mit der Struktur des Wirklichkeitsvorbildes überein.10 Eine Betrachtung des Films als Kunstwerk zeigt also, dass es ihm, unberücksichtigt seiner Thematik, allein schon aufgrund der Wirkungen seiner Mittel schwer wird, rein künstlerisch-ästhetische Wirkungen auszuüben. Hierdurch unterscheidet sich der Film phänomenal von allen anderen Künsten,11 in denen der Erle-

240

10 Dass die beiden zitierten Filme beide nicht mit einem Happy End schließen ist weniger Vorraussetzung als Folge ihrer Struktur. Einen ähnlichen Realismus wie »Vivere in pace« zeigen übrigens, bei anderer gegenwartsgeborener Thematik und Tendenz, auch die beiden (italienischen) Filme Rossilinis »Rom offene Stadt« (»Roma sittà aperta«) und »Païsa«. 11 In dieser Hinsicht steht der Film der Musik eigentlich am nächsten. Ähnlich wie beim Film ist auch bei der Musik die Versuchung zu einem »dilletantischen« Erleben besonders groß. »Halbmusikalische Laien pf‌legen sich durch Musik zu Bildern, Träumereien, Geschichten anregen zu lassen; sie genießen diese Bilder, diese Träumereien und Geschichten, sie genießen nicht das Kunstwerk. […] Es ist ein beliebter Streit unter Laien, welche unter den vielen Geschichten, die man sich beim Anhören eines Musikstückes vorstellen kann, die ›richtigeren‹ seien – bezeichnender Ausdruck der Verkennung dessen, worauf es beim Musikhören ankommt: Auf das Musikstück selbst und nicht auf irgendwelche damit verbundenen Assoziationen« (Geiger 1928, 8  f.). Der Film unterscheidet sich von der Musik in dieser Hinsicht nur insofern grundlegend, als sich hier das dilletantische Erleben nicht im unstoff‌lichen Bereich der Töne vollzieht, sondern dass auf ganz real erscheinende Objekte und Personen aufprojiziert wird. Durch diese Verbindung mit der realen Welt und dadurch, dass die Objekte (Bilder, Szenen) im Sinne des magischen Welt­er­lebens komponiert sind, wird das Erlebnis beim Film phänomenal magisch.

DIE WIRKUNG DES FILMS

bende das Kunstwerk infolge der ihm immanenten Wirkungsweise immer vorwiegend als ein von ihm selbst unabhängiges Erlebnisgut erlebt.12 Darüber hinaus hat aber die Thematik des Films aus mannigfachen Gründen in der überwiegenden Zahl aller Fälle märchenhaft-magischen Charakter. Künstlerische Gestaltung und Wirkung ist also beim Film, wie auch die beiden letztzitierten Beispiele zeigten, zwar prinzipiell möglich,13 für die volkskundliche Fragestellung fällt sie jedoch wegen ihres relativ geringen Vorkommens kaum ins Gewicht. Die Wirkung des Films in seiner Gesamtheit ist in prozentual überwiegendem Maße nicht ästhetischer, sondern phänomenal magischer Art, wie in den vorhergehenden Abschnitten dargelegt wurde. Die Frage ist nur noch, wie sich die Wirkung außerhalb der filmischen Erlebnisbereiche bemerkbar macht.

Die Wirklichkeit einer Scheinwelt Ein Vergleich des Films mit der ihm am nächsten stehenden Kunstform, dem Theater, zeigte, dass der Film – abgesehen von seiner Beziehungslosigkeit zu geistigen Werten – in ungleich stärkerem Maße als das Theater ein Erleben hervorruft, in dem das dargebotene Wirklichkeitsabbild als identisch mit der Wirklichkeit erlebt wird. Nach den Ergebnissen der bisherigen Untersuchungen aber werden diese Mittel in den meisten Fällen, d. h. beim sog. Durchschnittsfilm, nur angewendet, um den Zuschauer in eine von der Welt des realen Daseins grundsätzlich verschiedenen Scheinwelt märchenhaft-magischer Struktur einzubeziehen und ihm in ihr ein von rational-ästhetischem Erleben weit entferntes, in doppelter Weise phänomenal magisches Erlebnis zu vermitteln. »Die Suggestionskraft des Films entsteht durch die Verwischung des Bewußtseins vom Scheincharakter der Darstellung« 14.

12 Er verhält sich damit diametral entgegengesetzt zum Theater, bei dem in der Inszenierung durch die sinnlich-darstellerische Gestaltung die Brücke vom geistigen Bereich des Theaters zur sinnlichen Erlebnis-Sphäre des Zuschauers geschlagen wird. Beim Film dagegen versperrt das Vorherrschen und in den meisten Fällen auch die Festlegung des sinnlichen Erlebnisbereiches den Zugang zu geistigen Ausdrucksmöglichkeiten. 13 Dies ergibt sich auch daraus, dass der Unterschied zwischen Film und Wirklichkeit (Räumlichkeit des Filmbildes usw.), auch wenn er nicht bewusst wird, faktisch ja immer vorhanden ist, seine Ausnutzung also aus der magischen Wirksamkeit seiner Mittel herausführen kann. 14 Harms 1926, 17.

241

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

242

Dadurch aber, dass sich dieses Erlebnis eben in einer Welt bzw. an einem Weltbild bildet, das seinen äußeren Gegebenheiten nach stark der Welt des realen Daseins des Kinobesuchers gleicht, führt ein derartiges Erlebnis – zumal bei häufiger Wiederholung – wohl ohne Zweifel zu einer Vermischung der beiden Erlebnisebenen. Wie stark diese Wirkung besonders bei Jugendlichen ist, die ja infolge ihrer psychischen Konstitution einem filmischen Erleben stark entgegenkommen, darauf braucht hier nicht erneut hingewiesen zu werden. Die Steigerung der Jugendkriminalität z. B. durch den Verbrecher- und Abenteuerfilm ist eine altbekannte Tatsache.15 Aber nicht nur der Jugendliche, sondern schlechthin jeder Kinobesucher unterliegt wohl mehr oder weniger dieser Vermischung von Filmwelt und realer Welt. Dies wird vor allem durch die Einprägsamkeit der Filmbilder bewirkt. Es ist z. B. ein auf‌fallendes Phänomen, dass bei Befragung nach Filmeindrücken – gleichgültig ob länger oder kürzer zurückliegend, stärker jedoch bei länger zurückliegenden – fast alle Befragten sich in erster Linie in Schilderungen besonders eindrucksvoller Bildmomente ergehen. Bilder und Situationen sind beim Film zweifellos einprägsamer als der Sinnzusammenhang. Bilder und Situationen werden aber beim Film gleichzeitig auch als Abbilder der realen Welt empfunden. Je mehr sie nun als eigentliche Filmbilder in Vergessenheit geraten, desto mehr werden sie Erinnerungen und Vorstellungsinhalten des Zuschauers angepasst und ergänzen diese. Da jedoch im filmischen Erlebnis die Wirklichkeitsabbilder, wie die Untersuchung zeigte, wiederum in typisch magischer Weise erlebt werden, wird auf diese Weise auch das Erleben der realen Welt in gewissem Sinne in Richtung eines magischen Welt­er­lebens bzw. durch seine Beeinflussung verändert. Wenn jemand z. B. eine Reihe von Filmen über die Londoner Unterwelt gesehen hat, wenn er zudem selbst noch nie in London gewesen ist und auch keine anderen Informationen über dieses Thema besitzt, so werden sich seine Vorstellungen über die Londoner Unterwelt (in ihm selbst weitgehend unbewusster Weise) wahrscheinlich stark auf die durch den Film gewonnen Eindrücke stützen. Diese Eindrücke aber sind, wie die Untersuchung zeigte, 15 Es ist bemerkenswert, dass hierbei die Trennung Gut / Böse in keiner Weise nur in Richtung des Guten in das reale Leben hineinwirkt. Vielmehr werden im Film die Abenteuer dort mitgelebt, wo es am leichtesten und günstigsten ist: auf der Seite des Guten. Im realen Leben dagegen werden die Abenteuer in derselben Erlebnissphäre gesucht, aber auch dort, wo sie am leichtesten zu finden sind: in Handlungen gegen Gesetz und Ordnung.

DIE WIRKUNG DES FILMS

wiederum grundsätzlich verschieden von den vom Wirklichkeitsvorbild ausgehenden Eindrücken. Sie sind in starkem Maße durch subjektive Affektationen, Projektionen usw. geformt. Die so aus dem Erlebnis der filmischen Welt gewonnenen Vorstellungen von der Londoner Unterwelt beeinflussen unbewusst wieder die Vorstellungen von der tatsächlichen Londoner Unterwelt. Findet sich nun dieser Zuschauer zufällig einmal tatsächlich in einer verrufenen Gegend Londons, dann werden ohne Zweifel auch die am Film gewonnenen, magisch gebildeten Vorstellungen auf sein tatsächliches aktuelles Erleben einwirken und es konstituiert sich so ein magisch beeinflusstes aktuelles Welt­er­leben. Das Filmbild beeinflusst und verändert also auch das reale (unfilmische) Weltbild. Besondere Bedeutung kommt diesem Phänomen – dem Phänomen »Wirklichkeit einer Scheinwelt« – dann zu, wenn ein Film dokumentarische oder informatorische Funktion hat, wenn seine Aufgabe also nicht in der Vermittlung eines eurythmisch-künstlerischen Erlebnisses besteht, sondern in einfacher Unterrichtung. Naturgemäß müssen auch hier alle Mittel (Einstellung, Schnitt, Montage usw.) angewendet werden und naturgemäß können sie auch hier – zumal bei bewusster, in diese Richtung zielender Anwendung – phänomenal magisch wirken. Die Wirklichkeit des dokumentarisch abgebildeten Wirklichkeitsvorbildes kann damit aufgrund der magischen Wirksamkeiten des Films verändert werden, ohne dass diese Veränderung dem Zuschauer bewusst wird. Die Eigenergänzung, Eigenprojektionen, Affektationen usw. können aber auch derartig gelenkt und mit in Rechnung gezogen werden, dass das aus der Bilderfolge resultierende Erlebnis und die aus ihm wiederum resultierenden Schlussfolgerungen und Ansichten in krassem Widerspruch stehen zu den Tatsachen, die in den einzelnen Bildern der Folge gezeigt werden bzw. zu den Schlussfolgerungen, die unter logisch-rationalem Gesichtspunkt nach Kenntnisnahme der objektiven Tatsachen gezogen werden müssten. In weit stärkerem Maße als bei den anderen Formen magischen Erlebens von Nachrichten oder realen Gegebenheiten (vgl. S. 88  f.) kann beim Film infolge seiner Bildhaftigkeit und seiner sonstigen Möglichkeiten ein phänomenal magisches, auch mythen- und sagenbildendes Erleben der abgebildeten realen Welt begründet werden. Ein deutliches Beispiel für eine derartige bewusste Ausnutzung der magischen Möglichkeiten des Films gaben die deutschen Propagandafilme des letzten Krieges und »Die deutsche Wochenschau«. Ihre Funktion war, während sie nach außen hin als reine Reportage erschienen, die Zuschauer im Sinne der totalen Mobilmachung zu aktivieren. Sie dienten somit weniger der Unterrichtung als vielmehr der Beeindruckung des Publikums. In welcher

243

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

Weise die filmischen Mittel zu diesem Zweck u. a. angewendet wurden, zeigt eine psychologische Analyse der beiden Filme »Feuer­ taufe« (Polenfeldzug) und »Sieg im Westen« (Frankreichfeldzug) durch S. Kracauer, aus der deshalb folgende Bemerkungen zitiert seien:

244

In ›Sieg im Westen‹ werden Ellipsen gebildet, derart, dass der Ankündigung einer Aktion unverzüglich deren Resultat folgt und lange Entwicklungen auf die kurze Zeit von zwei Sätzen zusammengezogen werden. Hierdurch verschwindet ein gutes Stück der Wirklichkeit in den ›Ritzen‹ des Kommentars. Das Publikum bekommt das Gefühl, dass es eine leichte Unternehmung war, und der Eindruck eines unbezwinglichen deutschen ›Blitzes‹ [Abkürzung für die von Deutschland propagierte Blitzkriegführung, H. A.] verstärkt sich. Tatsächlich aber zuckte der Blitz durch einen künstlichen Leerraum. Innerhalb der Abbildungen wird vielfach die Tatsache ausgenützt, dass Bilder direkt auf das Unbewusste und das Nervensystem wirken. Viele [filmische, H. A.] Mittel werden zu dem alleinigen Zweck verwendet im Publikum irgendwelche bestimmten Gefühle zu erregen. […] Landkarten begleiten nicht nur die strategischen Ausführungen, sondern erscheinen jedes mal, wenn eine symbolische Darstellung gegeben werden soll. […] Sie unterstützen die Propagandafunktion des Berichtes insofern als sie, durch eine Reihe sich bewegender Pfeile und Linien, gewissermaßen einen Experimentalvorgang an irgendeinem neuen Material zu illustrieren scheinen. Tabellen über physikalische Prozesse gleichend, zeigen sie wie alle bekannten Stoffe durch einen neuen Stoff aufgebrochen, durchdrungen, zurückgeschoben und aufgefressen werden und demonstrieren so in höchst schlagkräftiger Weise dessen absolute Überlegenheit. […] Zusätzlich werden diese Vorgänge auf Flächen dargestellt, welche vom Flugzeug aus betrachteten Gebieten gleichen – welcher Eindruck dadurch zustandekommt, dass die Kamera sich immer hin und her bewegt, hebt und senkt. Ihre ständige Bewegung wirkt auf die motorischen Nerven und vertieft im Zuschauer die Überzeugung von der dynamischen Kraft der Nazis; Bewegung um und über einem Gebiet schließt die vollkommene Kontrolle dieses Gebietes ein. Andere wichtige Mittel in dieser Hinsicht sind: die Ausnutzung der physiognomischen Qualitäten durch Kontrastierung, z. B. Großaufnahmen eines tierischen Negers und deutsches Soldatengesicht; die Mitverwendung eroberten feindlichen Filmmaterials und seine Verwendung in der Weise, dass es gegen das

DIE WIRKUNG DES FILMS

Land seiner Herkunft aussagt; die Einführung von Leitmotiven mit der Absicht die Komposition zu formen und gewisse propagandistische Absichten innerhalb der Abbildungen zu unterstützen. […] Beim Gebrauch von Abbildungen in Verbindung mit Wortberichten ist die Tatsache bestimmend, dass viele Propaganda-­ Ideen durch Bilder allein ausgedrückt werden. Die Bilder be­ schränken sich nicht darauf den Kommentar zu illustrieren, sondern tendieren ganz im Gegenteil dazu ein selbständiges Leben anzunehmen, welche, anstatt den Kommentar zu begleiten, manchmal einer eigenen Linie folgt – ein äußerst wichtiges und in ausgedehntestem Maße angewendetes Mittel. […] Jedes mal, wenn Artillerie angreift, erscheint eine Reihe von Bildern von feuernden Kanonen in schneller Folge. […] Ganze Schlachten entwickeln sich im Niemandsland, wo die Deutschen über Zeit und Raum hinwegrollen. Diese Praktik wirkt in derselben Weise wie eine Anzahl anderer Mittel: Mit ihrer Hilfe wird der Zuschauer durch blendende Bilderfolgen verwirrt und so gefügiger gemacht für bestimmte Suggestionen. […] Eine hervorragende Rolle spielt die Musik, besonders in ›Sieg im Westen‹. Indem sie Bilderfolgen und Berichte begleitet, vertieft sie nicht nur die durch diese hervorgerufenen Wirkungen oder ändert die Bedeutung der gleichlaufenden Einheiten [Bild und Kommentar, H. A.]. Musik, Musik allein verändert einen englischen Panzer in ein Spielzeug. In anderen Momenten lassen musikalische Themen die Müdigkeit von einem Soldatengesicht verschwinden oder machen einige rollende Panzer zum Symbol der vorrückenden deutschen Wehrmacht. Eine heitere Melodie färbt die Parade im geschmückten Paris im Charakter der ›vie parisienne‹. Durch diese aktive Teilnahme der Musik greifen die Bilderfolgen die Sinne mit intensivierter Kraft an. […] 16 Die Mittel des Films wirken hier in der Weise, dass das dargestellte Wirklichkeitsabbild ein wesentlich anderes Erlebnis hervorruft, als das tatsächliche Wirklichkeitsvorbild bzw. seine objektive Wiedergabe hervorgerufen haben würde. Hier seien noch zwei Beispiele 16 Kracauer 1947, 278  ff. (Übersetzung H. A.) Vgl. zum Obigen auch das Analyse-Beispiel im Anhang. Interessant ist auch die auf sorgfältigste Auswahl des komponierten Bildmaterials hinweisende Feststellung Kracauers, dass der 2.000 m lange Film »Feuertaufe« aus ungefähr 60.000 m Wochenschaumaterial, der ungefähr ebenso lange Film »Sieg im Westen« dagegen aus sogar ungefähr 300.000 m Material zusammengestellt worden war.

245

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

246

dafür angeführt, wie eine derartige Darstellung auch zur Mythenund Sagenbildung führen kann. Es zeigt sich dies an der Darstellung der Person Hitlers in den beiden eben zitierten Filmen. In »Feuertaufe« erscheint Hitler, der Führer, häufig im Bild: Der Führer inspiziert Truppen, der Führer isst zusammen mit Soldaten an der Feldküche, der Führer im Kartenzimmer usw. Der Kommentar erwähnt ihn kaum, aber aus den Bildern geht hervor, dass er überall ist, dass er der Mann ist, der alles macht, der den Mechanismus der Kriegsmaschinerie kennt und beherrscht. Überall, wo sich wichtige Entscheidungen vollziehen, erscheint das Bild des Führers (obwohl seine Anwesenheit in diesen Punkten strategisch meist unmotiviert bzw. unnötig ist). Der Führer wird so zum Symbol der militärischen Kraft und Wirksamkeiten. In dem späteren Film »Sieg im Westen« wird das Symbolische zum Sagenhaf‌ten und Mythischen gesteigert. Hier ist das Verhältnis von Bildern und Kommentar verändert. »Hier preist die Wehrmacht den Mann, der den Angriff gegen die Westmächte durchführte, als ein strategisches Genie. Der Kriegs-Herr wächst über die Executive hinaus und wird ein Kriegs-Gott – und von einem Gott dürfen keine Bilder gemacht werden. So verschwindet Hitler fast vollkommen hinter Wolken, die sich nur in feierlichsten Augenblicken zerteilen (z. B.: Hitler nach Beendigung des Frankreichfeldzuges in einer Kathedrale; Musik: ›Nun danket alle Gott‹ [Choral von Leuthen, H. A.]); aber der Kommentar spricht enthusiastisch über den genialen Plan des Führers und vergöttert ihn als den, der allein weiß wann die Stunde der Entscheidung gekommen ist« 17. Die Person eines Staatsmannes – in diesem Falle Hitlers – kann so durch die Wirkung der filmischen Mittel und der Komposition ins Sagenhaf‌te und Mythische gesteigert werden. In ähnlicher Weise wird in »Krieg im Westen« auch die Idee des Nationalsozialismus und des Krieges in Richtung seiner Mythisierung verändert. Es werden nämlich eroberte französische Filmstreifen eingefügt, die den Mechanismus der Maginot-Linie und seine Bedienung während eines Manövers zeigen. Die Darstellung ist ziemlich ausführlich und gibt einen Eindruck von der hohen Präzision dieses Verteidigungswerkes. Dazwischen erscheinen nun aber Frontaufnahmen von den deutschen Angriffen auf die Maginot-Linie während des Feldzuges: Soldaten, die den Stacheldraht durchschneiden, Flammenwerfer usw. Aus der Komposition dieser beiden Bilderfolgen ergibt sich eine starke Kontrastwirkung, die wiederum zu Assoziationen führt, welche durch die dargestell17 Ebd., 282 (Übersetzung H. A.)

DIE WIRKUNG DES FILMS

ten Inhalte an sich nicht hervorgerufen würden und auch nicht in ihnen enthalten sind, und zwar: Hier die mechanisch arbeitende Maschine und die (wegen der Ungefährlichkeit des Manövers) gleichgültigen Gesichtsausdrücke und ruhigen Bewegungen der französischen Soldaten – dort die stürmenden, in höchster körperlicher und seelischer Anspannung gegen die Forts ankämpfenden deutschen Soldaten. Dem Zuschauer wird in diesem Augenblick nicht bewusst, dass es sich im ersten Falle um Manöveraufnahmen handelt (vorausgesetzt, dass er das überhaupt erfahren kann) und so ergibt sich für ihn assoziativ der Schluss, dass »der deus ex machina niemals eine Maschine sein kann; daß auch die vollkommenste Organisation ihre Nutzlosigkeit erweist, wenn sie für mehr als ein bloßes Werkzeug gehalten wird, wenn sie durch eine untergehende Generation als eine selbständige Macht vergöttert wird. Die ganze Darstellung dient zu dem Hinweis, daß die Maginot-­ Linie gerade dies für die Franzosen war und daß folgerichtig der deutsche Sieg auch ein Sieg des Lebens über den Tod, der Zukunft über die Vergangenheit war« 18. Die vorstehenden psychologisch-analytischen Hinweise zeigten, wie in einem Reportage- oder Dokumentarfilm allein durch geeignete Anwendung der filmischen Mittel eine Veränderung des von der Fotografie gegebenen Weltabbildes erreicht werden kann.19 Diese Veränderung beruht auf der Ausnutzung der dem filmischen Erlebnis eigentümlichen psychologischen Gesetzmäßigkeiten. Diese Gesetzmäßigkeiten aber beruhen wiederum auf denjenigen, in jedem voll entwickelten Normalmenschen mehr oder weniger entwickelten psychischen Funktionen, welche, wie besonders die Untersuchungen des ersten Teiles zeigten, ein phänomenal magisches Welt­er­leben begründen. Das magische Erleben der filmischen Welt wirkt damit in ganz bestimmter Weise auch in die Welt des realen Daseins hinein. Die obigen analytischen Beispiele wurden deshalb gewählt, weil sich in ihnen, infolge der bewussten Verwendung der filmischen Mittel mit bestimmter Absicht, das Verhältnis der objektiven Realität zu der magisch erlebten Scheinwelt besonders klar zeigte. Ein derartiges, magisches, die Realität umbildendes Erleben aber ist, infolge der Subjektivierung des filmischen Erlebnisses und der durch seinen magischen Charakter gegebenen Assozia18 Ebd. (Übersetzung H. A.) 19 In ähnlicher Weise war auch der Film über die Prozesse im Zusammenhang mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 gestaltet. Die Anklagebehörde war eindeutig postitv, die Beklagten dagegen waren eindeutig negativ herausgestellt (durch Aufnahmetechnik, Verstellung der Tonstärke usw.).

247

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

248

tions-, Projektions- usw. -möglichkeiten, auch ohne die bewusste und auf Fälschung zielende Benutzung der filmischen Mittel, an sich bei jedem filmischen Erlebnis mehr oder weniger wirksam. Und ebenso ist auch jeder Spielfilm in dieser Hinsicht in gewissem Sinne ein Reportage-Film, denn jeder Film gibt ja immer die reale Welt der Gegenwart oder Vergangenheit im Rahmen seiner Möglichkeiten in mehr oder weniger unterrichtender Weise wieder. Die magische Struktur der filmischen Welt bedingt also immer auch einen demgemäßen Einfluss auch auf das reale Dasein des Zuschauers. Lassen sich so die mit dem Ablauf des filmischen Geschehens in Zusammenhang stehenden magischen Einflüsse und Veränderungen der realen Welt durch das Erleben der Filmwelt noch einigermaßen verfolgen, so entziehen sich die Einflüsse, welche das magische Erleben der einzelnen Bild- und Szeneneindrücke – auch unabhängig vom Sinnzusammenhang – nach sich zieht, so ziemlich jeder genaueren Beobachtung. Es ist aber nach allem bisher Gesagten wohl mit Sicherheit anzunehmen, dass auch hier der Einfluss der gleiche ist. Der Wissenschaftler z. B., den der Zuschauer im Film im Labor sieht (vgl. S. 226), ist infolge seiner weitgehenden Typisierung immer zum guten Teil auch der Wissenschaftler-wie-er-ihn-sichvorstellt (der Zuschauer). Durch den von der filmischen Scheinwelt hervorgerufenen Wirklichkeitseindruck aber bekommt dieses den Typ ergänzende Bild vom Wissenschaftler-wie-er-ihn-sichvorstellt, zumal nach unbewusster Verarbeitung und mehr noch nach öfterem Erleben (d. i. hier: in mehreren Filmen), für ihn mehr und mehr Realitätscharakter. Damit aber wird wiederum sein Bild vom Wissenschaftler-an-sich, wie es sich ihm aus den Erfahrungen seines realen Daseins unter mehr oder weniger starkem logisch-rationalem Einfluss bildet, mehr und mehr zum Bild des Wissenschaftlers-wie-er-ihm-im-Film-erscheint, zum Bild des Wissenschaftlers-wie-er-ihn-sich-vorstellt. Die beispielhaf‌te Darstellung eines so subtilen Vorganges, wie ihn die Beeinflussung des mehr oder weniger logisch-rational orientierten Welt­er­lebens durch das phänomenal magisch-mystische filmische Erleben darstellt, wird den tatsächlichen Vorgang immer nur in vergröberter und verallgemeinerter Form wiedergeben können. Nach den Ergebnissen der bisherigen Untersuchung aber kann es wohl als hinreichend gesichert gelten, dass das Erlebnis der ihrer Struktur nach von der Welt des realen Daseins grundsätzlich verschiedenen Welt des Film in seiner bildenden Kraft auch in wesentlicher Weise in das reale Dasein, d. h. auf das Erleben der realen Welt, einwirkt. Das magische filmische Erlebnis wirkt also

DIE WIRKUNG DES FILMS

aktiv in das reale Leben, d. h. in die Verhaltensweise des Zuschauers den Gegebenheiten des realen Daseins gegenüber, hinein.

Film, Volk und Masse Die bisherigen Untersuchungen zeigten, dass das vom Film vermittelte Erlebnis vorwiegend magisch-mystischen Charakter hat, in dem Sinne wie dieser Begriff im ersten Teil dieser Arbeit als eine von der vorwiegend ober- bzw. unterschichtlichen Verhaltensweise und von historischen Faktoren unabhängige Wirksamkeit dargestellt und anhand zahlreicher Erscheinungsformen einerseits und allgemeinpsychologischer Tatsachen andererseits begründet wurde. Ferner wurde festgestellt, dass dieses Erlebnis mit seiner bildenden Kraft auch in das reale Dasein des Erlebenden hineinwirkt. Die dem magisch-mystischen Welt­er­leben adäquate Verhaltensweise aber ist immer die unterschichtliche Verhaltensweise und ebenso drängt die bildende Kraft jedes magisch-mystischen Erlebnisses immer zur Begründung einer mehr oder weniger konstitutionellen unterschichtlichen Verhaltensweise. Die Frage ist nun, in welcher Weise die bildende Kraft des in das reale Dasein des Erlebenden hineinwirkenden filmischen Erlebnisses wirkt, d. h. ob sie mehr zur Begründung einer volksmäßigen oder mehr zur Begründung einer massenmäßigen Verhaltensweise drängt. Wie alle kulturellen Erscheinungen ist auch der Film eingespannt in das Wechselspiel der von ihm selbst hervorgerufenen, d. h. ihm immanenten Wirkungsweise einerseits und dem diese Wirkung befördernden und tragenden bzw. ablehnenden und unterdrückenden Zeitgeist andererseits. Die kulturellen Werte und der Geist einer Epoche stehen immer in enger Wechselbeziehung zueinander. Die Frage nach der Wirkung des Films auf Volk, Individuum, Masse, Nation usw. kann also einmal von der Epoche her und zum anderen vom Film selbst aus beantwortet werden. Wie nun schon die wenigen Hinweise auf die schnelle Verbreitung des Films zeigten (vgl. S. 163  f.), kommt unsere Epoche, der der Film entstammt, dem filmischen Erlebnis und damit auch der vom Film verursachten Wirkung offensichtlich entgegen und macht damit auch die Ausbreitung und Steigerung dieser Wirkung durch ihren Zuspruch möglich. Das Wesen des Films erhellt sich also zuerst durch eine kurze kulturkritische Betrachtung dieser unserer Epoche. Es ist ein offenes Geheimnis, daß das europäische Kulturleben seit ca. 100 Jahren unter dem Zeichen der Vermassung steht, welche in erster Linie auf die sehr nüchterne statistische Tatsache

249

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

eines enormen Bevölkerungszuwachses zurückzuführen ist. Dieser stellt sich folgendermaßen dar: »Seit Beginn der europäischen Geschichte im 6. Jahrh. bis 1800 – also zwölf Jahrhunderte lang – beträgt die Einwohnerzahl Europas nie mehr als 18 Millionen. Von 1800 bis 1914 – also in wenig mehr als einem Jahrhundert – steigt die europäische Bevölkerung von 180 auf 460 Millionen!« 20 Die Entwicklung in Richtung einer Vermassung der Kultur hat also in erster Linie historisch-biologische Hintergründe. Parallel mit diesem Zuwachs an Bevölkerungsmassen verlaufen zwei andere Entwicklungen, die schon vielfach behandelt worden sind 21 und deshalb hier nur kurz zitiert zu werden brauchen: Es ist dies einmal eine Vervollkommnung der Technik und, gleichlaufend mit ihr, eine weitgehende Spezialisierung der Wissenschaft und alles Wissens und zum anderem eine offensichtliche Primitivierung das ganzen Kulturlebens.22 Durch diese Entwicklung aber wurde eine Situation geschaffen, welche das Zustandekommen eines phänomenal magisch-mystischen Welt­er­lebens entschieden befördert. Technik und Spezialisierung bringen es in ihrer Auswirkung auf die Gesamteinstellung naturgemäß mit sich, dass der Mensch im engen Bereich seiner täglichen Verrichtungen und seines Berufes in eine reine Zweckrationalität hineingedrängt wird, die zwar für diesen Bereich genügen mag, irgendwelchen von außerhalb dieses Bereiches liegenden Sphären auf ihn eindringenden Einflüssen gegenüber jedoch versagen muss. Je größer somit die flächenmäßige Ausbreitung von Kultur und Zivilisation wurde, desto mehr hat das menschliche Erkennungsvermögen an Tiefenwirkung verloren. Die großen, dem Menschen außerhalb seiner täglichen Verrichtungen verbleibenden, unspezialisierten und von der Zweckrationalität nicht erfassbaren Erlebnisbereiche aber verfallen damit einem mehr oder weniger ausgeprägten magischen Welt­er­leben. 250

20 Ortega y Gasset 1947, 32. 21 Als neuere Arbeiten seien nur Veit (1947): Die Flucht vor der Freiheit, Lersch (1947): Der Mensch in der Gegenwart, und Jüngers Essay (1946): Die Perfektion der Technik genannt. 22 »Als Kriterien der Rückkehr zur Primitivität sehe ich an: das Streben nach Gemeinschaftsbildung, die religiöse Durchdringung und das Bestreben, alle Dinge zu Gott in Beziehung zu setzen, die Nichtachtung und Zerstörung der feinen ausgebildeten Normen und Formen, die Rückkehr zum Phantastischen und Assoziativen in der Kunst, die Undifferenziertheit in Bezug auf wahr und unwahr, schön und häßlich, aber die starke Differenzierung von Gut und Böse, die Verwechslung äußerer politischer Freiheit mit der inneren Freiheit des Christenmenschen […] und schließlich ein neues Landschafts- und Naturgefühl« (Naumann 1921, 16).

DIE WIRKUNG DES FILMS

Es wird auf diese Weise auf anderer Stufe eine ähnliche Situation geschaffen, wie sie für die Bereiche offensichtlich magischen Welt­ er­lebens typisch ist: Die einfachen Verrichtungen des täglichen Lebens (einschließlich Beruf) werden auf logisch-rational verständliche und anerkennbare Weise erledigt, sie sind jedoch in ein mehr oder weniger phänomenal magisches Weltbild eingeschlossen und auch alle anderen über den engeren täglichen Erlebnisbereich hinausgehenden, d. h. vor allem alle existenziellen Gegebenheiten (vgl. S. 55  ff .) werden mehr oder weniger magisch-mystisch erlebt. Dies Phänomen wächst naturgemäß in Krisenzeiten an Ausdehnung und Bedeutung beträchtlich. »Kommen Kriege oder innerpolitische Wirren oder wirtschaftliche Schwierigkeiten, dann erlahmt auch noch in der modernen Kulturwelt das bißchen von logischer Arbeit, das sie sonst auf‌bringt« 23. Und noch ein anderes Phänomen kommt hinzu: die Schnelligkeit. Das ganze Leben ist in Europa seit ca. 100 Jahren schneller geworden. Nicht nur, dass die Maschine für schnellere Produktion sorgt, die geringere Qualität der Erzeugnisse dagegen auch für deren schnelleren Verbrauch. Auch die Transportmittel und der Verkehr sind schneller geworden. Mit der Schnelligkeit werden aber auch die Entfernungen geringer und die Räume kleiner. Der Gesichtskreis wird hierdurch zwar erweitert, die Tiefensicht jedoch nicht unbedingt gesteigert. Volksmenschentum aber, das sich in langsameren Zeiten lange in unveränderter Form erhalten hat, geht durch die Erweiterung der Räume leicht in Massenmenschentum über. Denn die verschiedenen Ausprägungen lokalisierter, volkstümlich-uneigenständiger Verhaltensweisen sind infolge ihrer eigentlichen psychischen Begründung natürlich besonders geeignet, sich in die ebenfalls uneigenständige, aber unausgeprägte Verhaltensweise der Massen zu verwandeln. Und noch in einer anderen Weise wird das neue Phänomen der Schnelligkeit wirksam: im Erleben selbst. Tiefgreifende mitmenschliche Beziehungen werden durch die Schnelllebigkeit der Zeit zu flüchtigen Begegnungen, erschütternde Schrecken zu prickelnden Sensationen usw. Die Extravertiertheit des Massenmenschen oder, m. a. W, seine in seinem Verhältnis zur Umwelt sich äußernde psychische Labilität lassen ihn im Hinblick auf das magische Welt­er­leben zwar weniger an alten Formen festhalten, machen ihn aber andererseits für aktuelle derartige Erlebniseinflüsse besonders aufgeschlossen. Spezialistentum, kultureller Primitivismus und Schnelllebigkeit sind also diejenigen Phänomene, welche 23 Beth 1927, 10.

251

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

in erster Linie zu der uneigenständigen und zugleich oberflächlichen und psychisch-labilen Verhaltensweise der Massen führen. Ein Phänomen, welches besonders im Zusammenhang mit dem Film noch von hervorragender Bedeutung ist, ist fernerhin der steigende Einfluss, den das Bild und damit das Bilddenken in unserer Epoche gewonnen hat. Mit der Erfindung der Fotografie und mit der im 19. Jahrhundert entstandenen »Illustrierten« beginnt das Bild seinen Siegeszug.24 Schneller und leichter als begriff‌liche Formulierungen kann es aufgenommen werden und schneller als diese – aber, wie die Untersuchung zeigte, in vorwiegend phänomenal magischer Weise – vermittelt es Erlebnis und Kenntnis. Das Bild ist heute in seiner starken Ausbreitung aus der Publizistik aller Schattierungen nicht mehr wegzudenken. Dies waren kurze charakteristische Hinweise auf die Epoche, welcher der Film entstammt und die den Film groß und mächtig werden ließ. Sie zeigten, dass diese Epoche ganz offensichtlich aus vielerlei Gründen der Vermassung zustrebt. Die Frage, die die Volkskunde an den Film zu stellen hat, lautet also: Kommt der Film dieser Entwicklung entgegen und wie kommt er ihr entgegen? M. a. W.: Ist der Film Massenkunst? Als Massenkunst weist sich der Film an sich von vornherein schon durch seine über Volkskreise weit hinausgehende allgemeine Verbreitung, welche durch keine übervölkische geistige Bezogenheit begründet ist, aus. Ferner ist aber auch sein Publikum die Masse schlechthin. Der Besuch des Kinos erfordert keine besonderen Vorbereitungen, weder von Seiten der Darbietenden noch von Seiten des Zuschauers. Eine derartige innere (und äußere) Vorbereitung, wie sie zu der dem Film am nächsten stehenden Kunst, dem Theater, ihrer Idee nach gehört,25 ist beim Film

252

24 Interessante Zahlenbelege für dieses Anwachsen des Visualismus finden sich bei Gregor (1932, 62): »Im Jahre 1926 betrug die Anzahl der in der Theatersammlung Wien benützten Bücher 2001, die der Bilder 1646. Im Jahre 1931 wurden 3004 Bücher und 11.642 (!) Bilder benützt.« Eine weitere typische Erscheinungsform sind auch die, besonders in den angelsächsischen Ländern sehr verbreiteten und beliebten sog. »strip-cartoons«, das sind gezeichnete Bildergeschichten (naturalistisch oder im Stil der Disney-Filme) in endlosen Fortsetzungen. 25 Wie sehr allerdings auch das Theater der Vermassung und damit Verflachung anheimgefallen ist, zeigt folgende Betrachtung von Stepun (1932, 5): »Wie gänzlich unmöglich heute ein wahres Theater ist, begreift man nirgends so klar wie im Theater selbst. Jahrzehnte hindurch zur Formlosigkeit und Passivität in allen Dingen erzogen, die über die gewohnte Arbeit und sachliche Leistung hinausweisen, erscheint der moderne Durchschnittsmensch im Theater keinesfalls mit der, wenn auch unbewussten, Sehnsucht im Herzen, ›die

DIE WIRKUNG DES FILMS

von vornherein nicht immanent gegeben. Die Masse, so wie sie die Züge, die Restaurants, die Badestrände füllt, füllt auch die Kinos. Hierbei ist allerdings als wesentlich zu beachten, dass das vom Film vermittelte Erlebnis kein Massenerlebnis ist in dem Sinne, wie die Massenpsychologie (besonders Le Bon) diesen Begriff für gewöhnlich auf‌fasst. Die Zuschauer treten zwar in Masse auf, bilden aber doch nur in sehr geringem Maße eine Masse in diesem psychologischen Sinne.26 Der einzelne Zuschauer, der sich im Theater mit den anderen Zuschauern zur Gemeinschaft vereint (oder wenigstens vereinen sollte) und allenfalls mit ihnen zur Masse in diesem psychologischen Sinne werden kann, geht im Kino mit den anderen Zuschauern kaum eine derartige, vornehmlich auf psychischer Ansteckung beruhende Verbindung ein. Er sitzt vielmehr fast allein der Leinwand gegenüber bzw. fühlt sich alleinig in die magische Welt des Films einbezogen (Die Kamera kann sich z. B. immer nur mit einem Zuschauer identifizieren usw.). Der massen- bzw. volksmäßige Charakter des Films ist also nur zum ganz geringen Teil durch seine Vorführungsbedingungen gegeben. Das filmische Erlebnis drängt vielmehr von sich aus und auf andere Weise zur Begründung einer unterschichtlichen Verhaltensweise. Dies zeigt eine Untersuchung, inwieweit die zitierten typischen Phänomene aus dem Leben unserer Zeit (Technisierung, Primitivismus, Schnelllebigkeit und Vorherrschen des Bildhaf‌ten) im Film wirksam werden bzw. inwieweit er ihnen entgegenkommt. Dass der Film vorwiegend Technik ist, braucht hier nicht nochmals erläutert zu werden. Die ganze Produktion eines Films hängt von ungleich mehr technischen als künstlerischen Faktoren ab und auch bei seiner Reproduktion im Kino wirken immer und in erster Linie die magischen Mittel seiner Technik, bevor künstlerische Wirkung möglich wird. »Die lebendige Kraft des Menschen ist von einem Mechanismus aus rotierenden Rädern und laufenden Zelluloidstreifen aufgesogen. Das Individuum, das durch seine Hingabe erst dem technische Apparat Leben verleiht, wird enge Bühne seines Lebens durch das Leben auf der Bühne zu erweitern‹. Eine solche Sinngebung des Theaters ist ihm absolut fern, ist ihm ›phrasenhaftes Gerede‹ und ›romantische Verstiegenheit‹. Er kommt ins Theater, nicht, um schöpferisch an dem Bühnenvorgang mitzutragen, sondern um sich zu entspannen, um von dem ›Schuf‌ten‹ auszuruhen, das er öfter Schaffen nennt. Von der entscheidenden Bedeutung des Zuschauerensembles weiß er nichts. Er steht im Sperrsitz oder in der Loge, Einzelne seines Bekanntenkreises zerstreut grüßend, und sinkt dann in seinen Sessel, gemütlich plaudernd oder auch in einer Zeitung mit den Blicken irrend. […] Man sitzt heute im Theater – und das ist das Entscheidende – ganz ebenso wie im Kino.« 26 Vgl. Le Bon 1938,  10  ff.

253

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

254

im gleichen Augenblick von ihm überwältigt und steht dem Ablauf dieses Geschehens nunmehr machtlos gegenüber« 27. Der Eindruck eines Weltbildes entsteht durch die magische Kraft einer an sich logisch-rational erkennbaren und verstehbaren Maschine. Der Film reiht sich damit in diejenigen Erscheinungsformen unseres Lebens ein, welche sich dadurch auszeichnen, dass eine unbekannte oder unerkannte bzw. nicht bewusst werdende technische Gegebenheit unbewusst-magisch erlebt wird. Man kann hier im strengsten Sinne des Wortes von einer Magie der Technik (hier der Filmtechnik) sprechen. Ein derartiges von jeder volksmäßigen Bindung gelöstes, auf dem Zusammenwirken einer phänomenal magischen Erlebnisweise mit typisch masseneigenem Erlebnisgut beruhendes Erlebnis aber hat in klarer Weise massenmäßigen Charakter. In ähnlicher Form findet sich beim Film der Primitivismus. Er begründet sich hier wie in jedem Falle auf eine magische Erlebnisweise. Diese wird, wie die Untersuchungen zeigten, in starker Weise vom Film selbstständig hervorgerufen. Sie verbindet sich aber mit der filmischen Welt, die wiederum märchenhaft-magischer, also primitiver Struktur ist. Ob dieser Primitivismus nun zur Begründung einer mehr massenmäßigen oder mehr volksmäßigen Verhaltensweise drängt, lässt sich auch hier, wie im Falle der Filmtechnik, wieder aus dem Zusammenwirken von Erlebnisweise und Erlebnisgut erkennen.Volkseigenes Erlebnisgut ist hierbei sog. traditionsgebundenes, d. h. aus volksmäßigen Anschauungen entstandenes und in ihnen wurzelndes, massenmäßiges Erlebnisgut dagegen ist an sich logisch-rationales, aber phänomenal magisch erlebtes Erlebnisgut. Auch unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich klar das Vorherrschen des Massenmäßigen im Film. Denn die Welt des Films ist in den meisten Fällen die magisch erlebte Welt des an sich vorwiegend logisch-rational orientierten Daseins, in besonders charakteristischen Fällen sogar die Welt der Wirtschaft, die Welt des Geldgeschäftes, der Wissenschaft usw., also Welten, in welchen oft sogar der reinste Zweckrationalismus herrscht. Diese Weltsicht ergibt sich für den Film schon allein mit Rücksicht auf seine wirtschaftliche Seite, hinsichtlich welcher er fast vollkommen von der Gunst der Massen abhängig ist. Das Erlebnis, das sich im Einzelzuschauer ohne Rücksicht auf deren massenmäßige oder gemeinschaftliche Verbindung mit den anderen Zuschauern durch seine Einbezogenheit in die filmische Welt bildet, hat also vorwiegend massenmäßigen Charakter. 27 Harms 1927, 11.

DIE WIRKUNG DES FILMS

Dieser Zug zum Massenmäßigen wird noch unterstützt durch die Bildhaftigkeit und die Schnelligkeit des filmischen Erlebnisses. Es wurde schon zur Genüge darauf hingewiesen, wie das Bild direkt auf das Unbewusste wirkt usw. Diese Bildhaftigkeit verbindet sich nun mit typisierten Gegebenheiten des Alltags (z. B. Wissenschaftler im Labor), der Geschichte usw. Und weiterhin können diese Bilder kaum ruhig betrachtet, sondern in ihrem schnellen Vorbeigang nur schnell zur Kenntnis genommen werden. Jede Möglichkeit der Überprüfung ist also weitgehend ausgeschaltet. Bild folgt auf Bild, Einstellung auf Einstellung, Vorstellung (im psychologischen Sinne) auf Vorstellung. Die rationale Denktätigkeit wird weitgehend ausgeschaltet. Das primitive Bilderlebnis vollzieht sich somit an Wirklichkeitsausschnitten, welche als naturgetreu abgebildet empfunden werden, in der für das Massenerlebnis typischen Schnelligkeit und Oberflächlichkeit. Durch das aktive Hineinwirken des filmischen Erlebnisses in das reale Dasein, wie es weiter oben dargestellt wurde, drängt damit diese Schnelligkeit des Erlebens und seine Oberflächlichkeit zu einer massenmäßigen Verhaltensweise. Das filmische Erlebnis schafft auf diese Weise den typischen Vertreter des Massenmenschentums: den Schlagwortmenschen. Man kann in diesem Sinne beim Film in ähnlicher Weise, wie man beim Liede von einem »Zersingen« spricht, von einem »Zerfilmen« sprechen. Denn die im Film notwenige Typisierung wirkt immer in Richtung einer verflachenden, schlagwortähnlichen Verallgemeinerung. Um nur ein Beispiel hierfür zu nennen, sei der neue (englische) »Hamlet«-Film erwähnt. Abgesehen von psychoanalytischen Typisierungen stellt dieser (in vieler Hinsicht auch wiederum hochkünstlerische) Film das Hamlet-Problem einfach als die »Geschichte eines Menschen, der sich nicht entschließen konnte« 28 dar. Ein weiteres Phänomen, welches auf den massenmäßigen Charakter des vom Film vermittelten Erlebnisses schließen lässt, ist die unverkennbare Wirkung, welche er auf die schnelllebige Mode ausübt. Vielfach mag hier der Wunsch des Kinobesuchers mitwirken, sich auch im täglichen Leben wenigstens durch die Kleidung dem als Projektionstyp verehrten Star anzugleichen. Auch das Volkslied wird durch den Filmschlager verdrängt und ersetzt usw. Und nicht unerwähnt darf schließlich das Verhältnis des Films zur Reklame bleiben. Beide stehen sich hinsichtlich der von ihnen angesprochenen Bewusstseinsschicht nahe, beide appellieren an die Wunsch28 Der Film beginnt und schließt mit dem vom Sprecher gesprochenen Satz »This is (was) the story of a man who couldn’t make up his mind«.

255

II. DAS MAGISCHE DES FILMS

256

und Triebregungen des Publikums, beide ergänzen und stützen einander 29 und beide wenden sich vornehmlich an den Massenmenschen und üben bei ihm auch die größte Wirkung aus. Aus der Untersuchung des Verhältnisses »Film – Volk – Masse« ergab sich, dass das vom Film vermittelte, phänomenal magische Erlebnis infolge seiner Verbindung mit typisch massenmäßigem Erlebnisgut einerseits und andererseits dadurch, dass es den zur Vermassung drängenden Zeitströmungen entgegenkommt, zur Begründung massenmäßiger Verhaltensweisen drängt.30 »Die große […] Tragik des Films besteht darin, daß er aus innerer Notwendigkeit, von der Gunst der Massen zu leben, dazu gezwungen wird, sich selber zu dem durch technische Mittel barbarisierten Schund- und Kitschtheater zu degradieren, als das wir ihn trotz großer Fortschritte der letzten Jahre, in wohl mehr als 80 % aller Filmproduktion immer wieder erleben«31. Diese Feststellung Stepuns aus dem Jahre 1932 hat, wie die Ergebnisse dieser Untersuchung über den Durchschnittsfilm unse­ rer Tage zeigten, bis heute nur wenig an Gültigkeit verloren. Zwar tritt die Ungeistigkeit des Films nicht mehr so in Erscheinung wie damals und auch die jeden echten hochkünstlerischen Gestalten entgegenwirkende märchenhaft-magische Struktur tritt nicht mehr so in den Vordergrund. In seiner Gesamtheit aber gilt für den Film heute noch im Wesentlichen das Gleiche wie damals: Die unbewusst phänomenal magisch wirkenden Mittel des Films begründen im Zusammenwirken mit der märchenhaft-magischen Struktur der filmischen Welt ein phänomenal magisches Erlebnis, das mit seiner bildenden Kraft den Zuschauer zu seiner massenmäßigen, unterschichtlichen Verhaltensweise drängt. Wie schon an verschiedenen Stellen muss auch hier abschließend nochmals darauf hingewiesen werden, dass es bei der vorliegenden Untersuchung in keinem Falle weder auf die Feststellung objektiver Werte noch auf die Festlegung objektiver Wertbegriffe ankam. So besteht z. B. kein Zweifel darüber, dass der Film Kunst sein kann, dass er, abgesehen von seiner Aufgabe als Kulturfilm usw., allein schon dadurch, dass er den in unserer Zeit oft 29 Ein großer Teil der Erfolge mancher Filme beruht ohne Zweifel oft nur auf geschickter Reklame und der durch sie angeregten Neugier und Sensationsbedürfnisse (vgl. auch S. 225 Anm. 12). 30 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch noch die schon 1914 von Altenloh getroffene Feststellung, dass seit dem Auf‌treten des Kinos weniger Kolportage-Literatur gelesen und die Volksstücke weniger besucht werden (vgl. Altenloh 1914). 31 Stepun 1932, 72.

DIE WIRKUNG DES FILMS

viel zu stark im Begriff‌lichen befangenen Menschen wieder sehen lehrt; ein Sehen, das wie jedes echte Sehen ein kindliches Staunen ist.32 Ferner hat auch die märchenhaft-magische Struktur absolut ihre Existenzberechtigung und das harmlose Narkotikum des Film-Rausches hat vielleicht schon manches Unheil verhindert. Und ebenso ist in dem Begriff der Masse noch kein Werturteil eingeschlossen. Die Bewegung in Richtung einer Vermassung ist in unserer Kultur eine Reaktion gegen den unfruchtbaren Intellektualismus und Zweckrationalismus. Sie kann nicht für sich gewertet, sondern muss immer auch aus diesen heraus verstanden werden. Und ebenso sind Oberschicht und Unterschicht nie in diesem Sinne wertbare, sondern immer nur feststellbare Tatsachen (auch wenn in dieser Arbeit, welche ihren Gegenstand immer unter logisch-rationalem Gesichtspunkt betrachtete, zuweilen Wertungen auf‌tauchten), wie auch jede volkskundlich forschende Bemühung immer streng zu unterscheiden ist von allen krampfhaf‌ten Wiederbelebungsversuchen und Erhaltungsversuchen alter Bräuche usw. Sinn und Wert der ober- bzw. unterschichtlichen Verhaltensweise liegt in ihrem polaren Verhältnis zueinander. Der Zweck dieser Arbeit war vielmehr lediglich zu untersuchen, wie und auf welche Weise (besonders beim Film) ein phänomenal magisches Erleben zustande kommt und wie es hinsichtlich der Bewegung innerhalb der Schichten des Volksganzen wirkt.

257

32 »Die Kinder sehen die Welt in Großaufnahmen« (Balász 1924, 115).

Zusammenfassung und Schluss Gang und Ergebnis der Untersuchung, in deren Mittelpunkt immer der Begriff des Erlebnisses, des Welt­er­lebens stand, lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen: 1. Die europäische Kultur zeichnet sich durch eine Schichtung aus. Sie ist in Oberschicht und Unterschicht geteilt. Diese Schichtung ist jedoch von soziologischen Begriffen unabhängig. Oberschicht und Unterschicht unterscheiden sich durch eine diametral entgegengesetzte geistige und psychische Ver­ hal­tensweise. 2. Der oberschichtlichen bzw. unterschichtlichen Verhaltensweise entsprechen hinsichtlich des Erlebens und erlebenden Verarbeitens der Welt ein magisch-mystisches bzw. logisch-rationales Welt­er­leben. Diese drängen auch mit der jedem Erlebnis innewohnenden Kraft immer zu einer unterschichtlichen bzw. oberschichtlichen Verhaltensweise.Von der konstitutionell vor­ wiegenden unterschichtlichen bzw. oberschichtlichen Einstellung und Verhaltensweise des Erlebenden sind sie jedoch prinzipiell unabhängig. 3. Das magisch-mystische Welt­er­leben ist diejenige Art und Weise die Welt bzw. Umwelt zu erleben und seelisch zu verarbeiten, der in ihren ausgeprägtesten Formen Magie und Mystizismus entspringen. Ihr Hauptmerkmal ist eine alles durchdringende Indifferenz, besonders von erlebendem Subjekt und erlebtem Objekt. 4. Das magisch-mystische Welt­er­leben, welches allen Erscheinungsformen primitiven Glaubens (Animismus, Totemismus usw.) zugrunde liegt, ist ein Wesensbegriff, der dem Wesensbegriff des logisch-rationalen Welt­er­lebens gegenübersteht. 5. Beide Arten des Welt­er­lebens lassen sich dennoch auch in dem historisch überschaubaren Bereich des europäischen Kultur­

259

DAS MAGISCHE DES FILMS

260

lebens immer nebeneinander nachweisen. Es handelt sich also bei der magisch-mystischen bzw. logisch-rationalen Weltverarbeitung nie um ein entweder/oder, sondern immer um ein mehr-oder-weniger. 6. Im Verlauf der historischen Entwicklung tritt das magisch-mystische Welt­er­leben in seinem bestimmenden Einfluss immer mehr hinter einem logisch-rationalen Welt­er­leben zurück. Die Erscheinungsformen offensichtlichen und verdeckten magischen Welt­er­lebens in der Gegenwart weisen jedoch, besonders in ihren neuerstandenen Formen, darauf hin, dass es sich bei ihnen nicht um ein Relikt aus früherer Zeit handeln kann. 7. Das magische Welt­er­leben ist vielmehr eine psychologische Tatsache, welche sich auf in jedem voll entwickelten Normalmenschen vorhandene und mehr oder weniger entwickelte psychische Funktionen begründet. 8. Die ein aktuelles magisches Welt­er­leben befördernde gesamtpsychische Konstitution ist fernerhin keine Seltenheit, sondern für große Menschengruppen ohne Rücksicht auf den Bildungsgrad typisch. Die Wirkung der normalpsychischen Funktionen in Richtung eines phänomenal magischen Welt­er­lebens kann fernerhin durch Einflüsse von außen befördert werden. 9. Das magische Welt­er­leben ist also eine ständig vorhandene und unabhängig von historischen Gegebenheiten, konstitutionell anders gearteten Verhaltensweisen, Bildungsgrad usw. in Erscheinung tretende Wirksamkeit. 10. Am Phänomen Film, also an einer in dieser Form erst im 20. Jahr­hundert entstandenen Kunstgattung, lässt sich diese Wirksamkeit phänomenal magischen Welt­er­lebens beispielhaft nachweisen. 11. Der Film wurzelt seiner Idee nach im magischen Welt­er­leben. 12. Die elementaren filmischen Mittel (Bild, Ton, Bewegung) und zahlreiche Mittel der Regie (Einstellung, Schnitt, Montage, Trick) wirken, unberücksichtigt ihrer künstlerischen Möglichkeiten, immer und in erster Linie magisch im Sinne eines magischen Welt­er­lebens. 13. Auch die Struktur der filmischen Welt ist in der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle, im sog. Durchschnittsfilm, magisch, d. h. sie gleicht der Struktur der aus einem magischen Welt­er­leben heraus gestalteten Weltabbilder (Märchen, Sage, Mythos usw.). 14. Das vom Film vermittelte phänomenal magische Erlebnis drängt mit seiner bildenden Kraft zu unterschichtlicher, und zwar, infolge seiner Verbindung mit massenmäßigem Erlebnisgut, zu massenmäßiger Verhaltensweise.

ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSS

15. Der Film vermittelt also ein Erlebnis, welches den Erlebnissen aus dem Bereich offensichtlichen und vorherrschenden magischen Welt­er­lebens phänomenal gleich ist, und bewirkt mit ihm in erster Linie – infolge der Masse und Volk gemeinsamen, vorwiegend uneigenständigen Verhaltensweise – auch eine Veränderung von Volksmenschentum in Massenmenschentum. 16. Der Film ist jedoch in dieser Hinsicht keine Ausnahmeerscheinung, sondern nur ein typisches Beispiel für das in Punkt 9 aufgeführte und auch in mannigfachen anderen Erscheinungsformen feststellbare Phänomen.

261

Anhang Die in der Arbeit behandelten Filme Für die Frage nach der Häufigkeit der in der Untersuchung dargestellten Phänomene ist es von Interesse, dass von allen behandelten oder zitierten Filmen die folgenden ungefähr gleichzeitig (d. h. ungefähr innerhalb von vier Wochen) im Frühjahr 1949 in München gezeigt wurden: »Der ewige Bann« (franz., »L’ Eternel Retour«) »Müchhausen« (deutsch) – Wiederauf‌führung »Sous les toits de Paris« (franz.) – Wiederauf‌führung »Der letzte Trumpf« (franz.) »Das Haus der Lady Alquist« (amerik., »Gaslight«) »Müchnerinnen« (deutsch) »Musik für Millionen« (amerik., »Music for Millions«) »Hafen der Versuchung« (engl., »Temptation Harbour«) »Vergiß mein nicht« (deutsch) – Wiederauf‌führung »Irrtum im Jenseits« (engl., »A Matter of Life and Death«) »Es war einmal« (franz., »La Belle et la Bête«)

Der Film von den Prozessen im Zusammenhang mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 wurde Anfang 1949 in einer einmaligen Sondervorführung in München gezeigt. Folgende Filme wurden im November 1948 ungefähr gleichzeitig in London gezeigt: »Hamlet« (engl.) »Rom, offene Stadt« (ital., »Roma, città aperta«) »In Frieden leben« (ital., »Vivere in pace«) »Païsa« (ital.)

263

DAS MAGISCHE DES FILMS

[Zu Seite 215] Die Filme, deren Fabel anhand der »Film-Bühne« (Ausgabeort München) untersucht wurde, sind hier nach der Produktionsliste der »Film-Bühne« vom April 1949 aufgeführt. Die Filme wurden ohne Auswahl der Reihe nach untersucht. Die fehlenden Nummern waren nicht mehr erhältlich oder noch nicht erschienen. a = amerik. f = franz.

264

d = deutsch ö = österr.

e = engl.

201 Irrtum im Jenseits 203 Tagebuch einer Frau 215 Sein Verzicht 217 Der Weg zur Hölle 220 Musikpiraten 221 Ich weiß wohin ich gehe 222 Begegnung 223 Menschen in Gottes Hand 224 Die Schwindlerin 225 Der Weg nach Marokko 227 Der kupferne Berg 228 Abenteuer in Brasilien 231 Razzia 233 Abgründe 234 Glückspilze 236 Die Frau mit den zwei Gesichtern 237 Mutterherz 238 Scotland Yard greift ein 243 Die Abenteuerin 244 Draufgänger 245 Hamlet 246 Die Söhne des Herrn Gaspari 247 Liebespremiere 248 Das verlorene Gesicht 249 Der Apfel ist ab 250 Tragödie einer Leiden- schaft 252 Die kupferne Hochzeit 253 Die beiden Schwestern 255 Dein ist mein Herz 257 Jugendliebe 260 Der unbekannte Sänger 261 Der ewige Bann

e a f f e e e d e a e e d e a a

x x x x x x x x x x o x x o x x

a a a a e d

o x x x o x

d d d d

x x x o

d d e e f f

x x x x o o

x = mit Happy End o = ohne Happy End 262 Es war einmal f 265 Der Graf von Monte Christo f 266 Der Nachtigallenkäfig f 267 Der Idiot f 268 Unvergessene Jahre e 269 Notlandung e 270 Die Wurzel allen Übels e 271 Miranda e 272 Dezembernacht f 273 Für eine Liebesnacht f 275 Bigamie e 276 Der letzte Trumpf f 277 Engel der Nacht f 278 Sprung in die Wolken f 279 Das unheimliche Lied f 280 Das hohe Lied der Liebe f 287 Narziß der unfreiwillige f Flieger 292 Irrlichter der Grenze f 296 Wenn der Himmel f versagt 297 Drei Ehen e 298 Glück muß man haben e 299 Sieg und Platz e 300 Das Mädchen Christine d 301 Fregola ö 301 Der Hofrat Geiger ö 303 Wiener Melodien ö 304 Der Herr Kanzleirat ö 305 Münchnerinnen d 306 1 – 2 – 3 Corona d 307 Kein Platz für Liebe d 308 Die seltsamen Abenteu­er d des Herrn Frido­lin B. 309 Schuld allein ist der Wein d

x x x o x o x x x x x x x x x o x o x x x x x x x x x x x x x x

ANHANG

310 Hallo – Sie haben Ihre Frau vergessen 312 Bravo George 313 Bedelia 314 Morgen ist alles besser 315 Vor uns liegt das Leben 317 Die Zeit mit Dir 318 Der himmlische Walzer 319 Singende Engel 320 Der Engel mit der Posaune 321 Anni 322 Der Millionär 323 Dreimal Komödie 325 Arlberg-Expreß 326 Praterbuben 327 Liebe 47 328 Blockierte Signale 329 Rendezvous im Salz- kammergut 330 Die Frau am Wege

d x e e d d d ö ö ö ö d d ö ö d d ö

x o x x x x x x o x x x x x x x

ö x

331 Ninotschka 332 Kleine Melodie aus Wien 333 Clara Schumanns große Liebe 334 Die letzte Nacht 335 Philine 336 Musik für Millionen 337 Liebesbriefe 338 Teufelskerle 343 12 Herzen für Charly 344 Diese Nacht vergeß ich nie 347 Der Ruf 349 Geheimnis einer Mutter 350 Hallo Fräulein ! 355 Du bist nicht allein 356 Anonyme Briefe 358 Ein Herz schlägt für Dich 360 Verführte Hände 364 Das Geheimnis der roten Katze

a x d x a o d d a a a d d d a d d d ö d d

o x x x x x x o o x x x x x x

(Da die Inhaltsangaben der Programme immer sehr knapp gehalten sind, konnten für die Untersuchung nur die tatsächlichen Handlungsgänge berücksichtigt werden, nicht aber die stimmungsmäßigen Abschlüsse, wie positiver Ausblick usw. Es steht aber zu erwarten, dass sich der Prozentsatz der »Happy-End-­Filme« bei Einbeziehung dieser Faktoren noch erhöhen würde.)

265

DAS MAGISCHE DES FILMS

[Zu Seite 243] Analysebeispiel aus »Der Sieg im Westen« BEHAUPTUNGEN

BILDEINHEITEN

1 ) »Das Oberkommando der Wehrmacht hat Informationen erhalten, daß in der Gegend von Lille starke feindliche Kräf‌te in Stärke mehrerer französischer Divisionen Befehl bekommen haben unter Verletzung der belgischen und holländischen Neutralität gegen den Niederrhein und in das Ruhrgebiet vorzustoßen.«

1 ) Ein Bild einer Land­ karte, welche die Absicht darstellt. Pfeile, welche feindliche Kampfeinheiten symbolisieren, durchbrechen die belgischen Grenzlinien und beginnen gegen einen als »Ruhr« bezeichneten Punkt vorzudringen.

TONEINHEITEN

2 a ) Ungefähr 19 Einstel­ lungen, die den Vormarsch französischer Heereseinheiten darstellen: Motorräder, Fahrräder, 2 ) (»Willig öffnen die belgischen Zollbeamten Artillerie, rollende Panzer, die Schlagbäume für Soldaten in Güter­zügen. die Trup-pen der West- Eine der ersten Einstellunmächte.«) Der Beginn gen zeigt belgische Zolldieser Behauptung fällt beamte beim Öffnen der mit der Einstellung von Schlagbäume. Die letzten den belgischen Zollbe- Einstellungen stellen aus amten in Bildeinheit 2a verschiedenen Ecken [des zusammen. Bildes H. A.] marschier­ ende französische Infanterie, meistens Neger, dar.

266

2 b) Britische Truppen: Einst. 1: Halbnahe Aufnahme von zwei zusammenstehenden englischen Offizieren. / Einst. 2 : Großaufnahme eines sich nach links bewegenden englischen Panzers. / Einst. 3: Engl. Infanterie-Kolonne nach links vorrückend. / Einst. 4 : Diesselbe von einer anderen Ecke [des Bildes H. A.] aus. / Einst. 5: Englische Infanterie in Einzelreihe sich langsam zum Hintergrund bewegend. / Einst. 6: Großaufnahme eines rollenden Panzers.

2 b) Mit den Einstelungen 1 – 2 synchronisierte Tonsicherheit: Musik, die das Geschnatter in einem Hühnerhof imitiert. 2b) Mit den Einstellungen 3 – 6 synchronisierte Ton­einheit: Variation des englischen Soldatenliedes »Die Siegfriedlinie« schwach instrumentiert und vom Chor gesungen.

ANHANG

Analyse Kommentar, Behauptungen 1. Inhalt: Die Absicht des Feindes, die Neutralität Belgiens zu verletzen und in das Ruhrgebiet einzudringen im Stadium ihrer Verwirklichung. Funktionen: Feind als Angreifer gebrandmarkt. Bemerkung: Behauptung einer Fälschung. 2. Funktionen: Hinweis auf Belgiens Schuld schließt die moralische Rechtfertigung des deutschen Angriffes auf Belgien ein. Inhalt: Belgien verletzt die Neutralität tatsächlich. Bemerkung: Behauptung einer Fälschung. Beziehungen: keine. Bilder, Bildeinheiten 1. Inhalt: Siehe Beschreibung der Bildeinheit. Funktionen: Bedrohung des Ruhrgebietes symbolisch gefestigt. Bemerkung: Bewegte Landkarte. 2 a) u. 2 b) Inhalt: Durch die Beziehung mit der Landkarte (siehe Be­zeichnungen) und Verbindung der Landkarte mit Behauptung 1 (siehe Synchronisation) ist der Inhalt als »Feind betritt Belgien« bestimmt (Beweist Behauptung). Funktionen: a) Angriff ist eine Tatsache. b) Bilder der Negertruppen mit Absicht das Rassenvorurteil zu steigern und das französische Rassenbewusstsein zu miss­bil­ ligen. Bemerkungen: Bearbeitung von erobertem franz. und engl. Film­­ material. Beziehungen Beschreibung: Bildeinheit 2 scheint, da sie der Landkarte in Bildeinheit 1 unmittelbar folgt, das symbolische Vorrücken der Pfeile zu verkörpern. Beide Bildeinheiten in Beziehung zueinander. Funktionen: Siehe Funktionen a) der Bildeinheit 2a und 2b. Ton 2b) Charakterisierung : Komisch. 2b) Charakterisierung : Satirische Variation. Die Musik nimmt da­ durch, dass sie englische Soldaten lächerlich macht, eine propagandistische Funktion an – ein Ausnahmefall. Bemerkung : Verwendung des populären englischen Liedes »Die Siegfriedlinie«.

267

DAS MAGISCHE DES FILMS

Synchronisation, Verbindung der Bilder mit dem Kommentar 1. Charakterisierung: Landkarte symbolisiert Behauptung 1. Funktionen: Die symbolische Darstellung gibt den Eindruck, dass die Feinde schon dabei sind, die in der Behauptung angekündigten Absichten auszuführen. 2. Charakterisierung: Veranschaulichend mit dem Hinweis, die Behauptung »Feind betritt Belgien« zu beweisen. Funktionen: Siehe Funktion a) der Bildeinheit 2a und 2b. Verbindung von Ton und Bildern 2b) Funktionen: Lächerlichmachen des großen englischen Panzers. 2b) Funktionen: Lächerlichmachen der englischen Soldaten. Kompostion des Ganzen Kommentar: Feind beabsichtigt Agression. Moralische Recht­ ferti­gung des deutschen Angriffs. Bilder: Sie stellen die feindliche Agression als eine Tatsache heraus und steigern darüber hinaus (durch Verbindung der Landkarte mit dem Kommentar, Beziehungen und Bildeinheiten) das Rassenvorurteil. Ton: Lächerlichmachen englischer Waffen und Truppen (durch den Ton allein und durch Verbindung von Ton und Bild). (Kracauer, From Caligari to Hitler, 319  f. [Übersetzung H. A.])

Literaturnachweis

268

Altenloh, Emilie (1914), Zur Soziologie des Kino. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, Jena. Arnheim, Rudolf (1932), Film als Kunst, Berlin. Bachofen, Johann Jakob (1927), Mutterrecht und Urreligion. Eine Auswahl, Rudolf Marx (Hg.), Leipzig. Bächtold-Stäubli (1938/1941), Hanns /Eduard Hoffmann-Krayer (Hg.), »Hand­­­­wörterbuch des deutschen Aberglaubens«, in: Verband Deut­scher Vereine für Volkskunde (Hg.), Handwörterbücher zur deutschen Volkskunde: Abteilung 1, Aber­glaube, Berlin. Balázs, Béla (1924), Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films, Wien. Beth, Karl (1927), Religion und Magie: Ein religionsgeschichtlicher Beitrag zur psychologischen Grundlegung der religiösen Prinzipienlehre, Leipzig. Bolte, Johannes / Georg Polívka (1913), Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, Bd. 1, Leipzig.

ANHANG

Le Bon, Gustave (1938), Psychologie der Massen, Stuttgart. Corrie, Joan (1929), C. G. Jungs Psychologie im Abriß, Zürich. Danzel, Theodor-Wilhelm (1924), Magie und Geheimwissenschaft in ihrer Bedeutung für Kultur und Kulturgeschichte, Stuttgart. Danzel, Theodor-Wilhelm (1928), Der magische Mensch (homo di­vi­nans): Vom Wesen der primitiven Kultur, Potsdam. Dessoir, Max (1947), Das Ich, der Traum, der Tod, Stuttgart. Eckert, Gerhard (1936), Gestaltungen eines literarischen Stoffes in Tonfilm und Hörspiel, Berlin. Fawcett, L’ Estrange (1928), Die Welt des Films, Wien. Fliess, Wilhelm (1916), Vom Leben und vom Tode: Biologische Vor­ träge, Jena. Freisburger, Walter (1936), Theater im Film: Eine Untersuchung über die Grundzüge und Wandlungen in den Beziehungen zwischen Theater und Film, Emsdetten. Freud, Sigmund (1924), »Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben des Wilden und des Neurotikers«, in: Totem und Tabu: Arbeiten zur Anwendung der Psychoanalyse, Gesammelte Schrif‌ten, Bd.  10, Leipzig  /  Wien  / Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. Fülöp-Miller, René (1931), Die Phantasiemaschine: Eine Saga der Gewinnsucht, Berlin / Wien / Leipzig. Ortega y Gasset, José (1947), Der Aufstand der Massen, Stuttgart. Geiger, Moritz (1928), Zugänge zur Ästhetik, Leipzig. Gesek, Ludwig (1948), Gestalter der Filmkunst. Von Asta Nielsen bis Walt Disney. Geschichten zur Filmgeschichte, Wien. Graebner, Fritz (1924), Das Weltbild der Primitiven. Eine Untersuchung der Urformen weltanschaulichen Denkens bei Naturvölkern, München. Gregor, Joseph (1932), Das Zeitalter des Films. Wien / Leipzig. Groll, Gunter (1937), Film, die unentdeckte Kunst, München. (Zu­­ gleich Dissertation unter dem Titel: »Das Gesetz des Films«, Universität München) Harms, Rudolf (1926), Philosophie des Films. Seine ästhetischen und metaphysischen Grundlagen, Leipzig. — (1927), Kulturbedeutung und Kulturgefahren des Films, Karlsruhe. Heyer, Gustav Richard (1932), Der Organismus der Seele. Eine Einführung in die analytische Seelenheilkunde, München. Hellpach, Willy (1947), Das Magethos. Eine Untersuchung über Zauberdenken und Zauberdienst als Verknüpfung von jenseitigen Mächten mit diesseitigen Pflichten für die Entstehung und Befestigung von Geltungen und Setzungen, Brauch und Recht, Gewissen und Gesittung, Moralen und Religionen, Stuttgart. Holtz, Reinhold Johann (1940), »Die Phänomenologie und Psycho-

269

DAS MAGISCHE DES FILMS

270

logie des Trickfilms. Analytische Untersuchungen über die phänomenologischen, psychologischen und künstlerischen Strukturen der Trickfilmgruppe«. (Dissertation Universität Hamburg) Jaensch, Erich Rudolf (1925), Die Eidetik und die typologische Forschungsmethode in ihrer Bedeutung für die Jugendpsychologie und Pädagogik, für die allgemeine Psychologie und die Psychophysiologie der menschlichen Persönlichkeit. (Mit besonderer Berücksichtigung der grundlegenden Fragen und der Untersuchungsmethodik), Leipzig. — (u. Mitarbeiter) (1927), Über den Auf‌bau der Wahrnehmungswelt und die Grundlagen der menschlichen Er­kenntnis, Leipzig. — (u. Mitarbeiter)  (1929), Grundformen men­schlichen Seins. (Mit Berücksichtigung ihrer Beziehungen zu Biologie und Medizin, zu Kulturphilosophie und Pädagogik), Berlin. Jung, Carl Gustav (1931), Seelenprobleme der Gegenwart. Vorträge und Aufsätze, Zürich. — (1939), »Die psychologischen Aspekte des Mutterarchetypus«, in: Olga Fröbe-Kapteyn (Hg.), Eranos-Jahrbuch 1938, Bd. VI, Vorträge über Gestalt und Kult der »Grossen Mutter«, Zürich. — (1939), Psychologie und Religion, Zürich. — (1940), Psychologische Typen, Zürich. — (1943), Über die Psychologie des Unbewußten, Zürich. — (1945 a), Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten, Zürich. — (1945 b), Psychologische Betrachtungen. Eine Auslese aus den Schrif ­‌ten von C.  G.  Jung. Zusammengestellt und herausgegeben von Dr. Jolan Jacobi, Zürich. — u. Kerényi, Karl (1941), Einführung in das Wesen der Mythologie: Gottkindmythos, eleusinische Mysterien, Amsterdam. Kalbus, Oskar (1935), Vom Werden den deutscher Filmkunst. Bd. 1: Der stumme Film, Bd. 2: Der Tonfilm, Altona-Bahrenfeld. Kracauer, Siegfried (1947), From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film, Princeton. Kretzschmer, Ernst (1942), Körperbau und Charakter. Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten, Berlin. Kutscher, Artur (1932), Die Elemente des Theaters, Düsseldorf. — (1936), Grundriß der Theaterwissenschaft. II. Teil, Stilkunde des Theaters, Düsseldorf. Lehmann, Alfred (1925), Aberglaube und Zauberei, von den ältesten Zeiten an bis in die Gegenwart, Stuttgart. Lersch, Philipp (1947 a), Vom Wesen der Geschlechter, München. — (1947 b), Der Mensch in der Gegenwart, München. — (1948 a), Grundtatsachen des Seelenlebens, München.

ANHANG

— (1948 b), Der Auf‌bau des Charakters, Leipzig. Lévy-Bruhl, Lucien (1921), Das Denken der Naturvölker, Wien. — (1930), Die Seele der Primitiven, Wien. Leyen, Friedrich von der (1911), Das Märchen. Ein Versuch, Leipzig. — (Hg.) (1912), Kinder- und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm. Bd. 1 u. 2, Jubiläumsausgabe, Jena. — (1933), Volkstum und Dichtung. Studien zum Ursprung und zum Leben der Dichtung, Jena. Mally, Ernst (1935), Erlebnis und Wirklichkeit. Einleitung zur Philosophie der natürlichen Weltauf‌fassung, Leipzig. Moreck, Curt (1926), Sittengeschichte des Kinos, Dresden. Müller, Gottfried (1942), Dramaturgie des Theaters und des Films, Würzburg. Naumann, Hans (1921), Primitive Gemeinschaftskultur. Beiträge zur Volkskunde und Mythologie, Jena. — (1922), Grundzüge der deutschen Volkskunde, Leipzig. Nicoll, Allardyce (1936), Film and theatre, New York. Negelin, Julius von (1931), Weltgeschichte des Aberglaubens, Berlin. Oertel, Rudolf (1941), Filmspiegel. Ein Brevier aus der Welt des Films, Wien. Opfermann, Hans Carl (1938), Die Geheimnisse des Spielfilms. Ein Buch für Filmer und Leute, die gern ins Kino gehen, Berlin. — (1948), Grundbegriffe der Filmkunst. Ein Lehrbuch der Filmgestaltung, Manuskript. Panofsky, Walter (1940), Die Geburt des Films, ein Stück Kulturgeschichte. Versuch einer zeitgeschichtlichen Darstellung des Lichtspiels in seinen Anfangsjahren, Würzburg. (Zugleich Dissertation unter dem Titel: »Die Entstehung des Films«, Universität München) Peuckert, Will-Erich (1938), Deutsches Volkstum in Märchen und Sage, Schwank und Rätsel, Berlin. Pfister, Friedrich (1936), Deutsches Volkstum in Glauben und Aber­ glauben, Berlin. Pordes, Victor E. (1919), Das Lichtspiel: Wesen – Dramaturgie – Regie, Wien. Rehlinger, Bruno (1938), Der Begriff Filmisch, Emsdetten. Reuschel, Karl (1920), Deutsche Volkskunde im Grundriß, Leipzig. Ribot, Théodule (1902), Die Schöpferkraft der Phantasie. Eine Studie, Bonn. Richter, Hans (1929), Filmgegner von heute – Filmfreunde von mor­ gen, Berlin. Rothacker, Erich (1941), Die Schichten der Persönlichkeit, Leipzig.

271

DAS MAGISCHE DES FILMS

272

Schamoni, Victor (1936), Das Lichtspiel. Möglichkeiten des absoluten Films, Hamm. (Zugleich Dissertation, Universität Münster). Sartori, Paul (1910), Sitte und Brauch, Leipzig. Scheler, Max (1928), Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darm­ stadt. Schmid, Leopold (1940), Wiener Volkskunde. Ein Aufriß, Wien. Spamer, Adolf (Hg.) (1934), Die deutsche Volkskunde, Leipzig. Stavenhagen, Kurt (1936), Kritische Gänge in die Volkstheorie, Riga. Stepun, Fedor (1932), Theater und Kino, Berlin. Swedenborg, Emanuel (1925), Himmel, Hölle, Geisterwelt. Eine Auswahl aus dem lateinischen Text in deutscher Nachdichtung von Walter Hasenclever, Berlin. Thun, Rudolph (1936), Entwicklung der Kinotechnik, Berlin. Tumlirz, Otto (1930), Jugendpsychologie der Gegenwart, Berlin. Vierkandt, Alfred (1896), Naturvölker und Kulturvölker. Ein Beitrag zur Socialpsychologie, Leipzig. Volkelt, Johannes (1920), Das ästhetische Bewußtsein. Prinzipienfragen der Ästhetik, München. Wahnrau, Gerhard (1939), Spielfilm und Handlung, Rostock. Weinhold, Karl (1937), Brauch und Glaube. Weinholds Schrif‌ten zur deutschen Volkskunde, Carl Puetzfeld (Hg.), Gießen. Weininger, Otto (22 1921), Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, Wien. Weiser-Aall, Lily (1937), Volkskunde und Psychologie. Eine Einführung, Berlin. Weiss, Richard (1946), Volkskunde der Schweiz: Grundriß, Zürich. Wesselski, Albert (1931), »Versuch einer Theorie des Märchens«, in: Prager Deutsche Studien, 45. Heft, Reichenberg/B. Wundt, Wilhelm (1913), Elemente der Völkerpsychologie. Grundlinien einer psychologischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit, Leipzig. Wuttke, Adolf (1925), Deutscher Volksaberglaube der Gegenwart, Leipzig. Zucker, Konrad (1948), Psychologie des Aberglaubens, Heidelberg.

ANHANG

Lebenslauf Ich bin am 14.  9.  1923 als Sohn des Kunstmalers Prof. Karl Arnold und seiner Ehefrau Anne-Dora in München geboren. Dort be­ suchte ich auch von 1929 bis Ostern 1933 die Volksschule und von Ostern 1933 bis Herbst 1941 die realgymnasiale Abteilung der Wittelsbacher Oberschule. Von Okt. 1941 bis Mai 1945 war ich Soldat der Luftwaffe (Italien, Russland, Frankreich, Balkan). Von Dezember 1945 bis April 1946 nahm ich am Förderungskurs für Kriegsteilnehmer der Universität München teil. Dann studierte ich acht Semester an der Universität München Volkskunde in Verbindung mit Psychologie und deutscher Literatur und hörte daneben Vorlesungen in Philosophie, Kunstgeschichte, Neuphilogie und Theaterwissenschaft. Insbesondere nahm ich an Vorlesungen und Übungen folgender Professoren teil: Basler, Borcherdt, Clemen, Hartl, Jantzen, Kriß, Kutscher, Konrad, Lersch, v. d. Leyen, Pauli, Stürmann. Mein Berufsziel ist die Publizistik (Presse- oder Verlagswesen, Rund­­funk, Filmproduktion). H. A.

273

Die Arbeit wurde von der philosophischen Fakultät der Universität München als Dissertation angenommen. Referenten waren Prof. Rudolf Kriß und Prof. Philipp Lersch. Tag der mündlichen Prü­fung war der 9. August 1949.

Hans Arnold Nachwort

Lebensumstände und Arbeitsbedingungen Mein Studium an der Universität München (1946–1949) und meine Arbeit für die Dissertation wurden durch die Lebensumstände im Deutschland der Nachkriegszeit und durch die unmittelbaren Nachwirkungen der Nazizeit nicht über die allgemeinen damaligen Lebensumstände und Nachwirkungen hinaus beeinträchtigt. Meine Familie und ich hatten keine mit der Nazizeit zusammenhängenden Nachteile, aber bis zur Währungsreform (1948) nicht geringe wirtschaftliche Probleme. Ab 1948 konnte ich zunächst als Sekretär des Schriftstellers Walter von Molo und dann als freier Journalist arbeiten. Vor dem eigentlichen Studium hatten wir Studenten zunächst einen so genannten »Kriegsteilnehmerlehrgang« zu absolvieren. Mit dem wir nochmals eine Art Schnellabitur durchmachten, aber wohl auch nach meist mehrjährigem »Landser«-Leben wieder an zivile und universitäre Verhältnisse und Ordnung gewöhnt werden sollten. Und wir mussten Trümmerdienst leisten. In ihm hatte ich aus den Trümmern der zerstörten oder beschädigten Gebäude der Universitätskliniken Ziegelsteine herauszuarbeiten und für eine Wiederverwendung zurechtzuklopfen. Wir verstanden das alle als Mitwirkung, »dass es wieder aufwärts geht«. Studiert wurde zunächst in Trimestern. Niemand wollte Zeit vergeuden. Hinsichtlich der allgemeinen Einstellung zur Nazizeit und mehr noch einer Rückbesinnung auf sie war es nach meiner Erinnerung typisch, dass eigentlich alle Deutschen, die nicht unmittelbar Opfer oder Widerstandskämpfer gewesen waren, damals vornehmlich schwiegen. Ich kann mich auch nicht an ein einziges irgendwie fundiertes Gespräch über Nazi- und Kriegszeit im Kreise von Kommilitonen und Kommilitoninnen erinnern. Auch ich selbst hatte nie das Bedürfnis irgend etwas aus meiner Zeit als

275

HANS ARNOLD

276

Soldat anzusprechen. Wir Studenten waren wohl alle und jeder auf seine Weise nach vorne orientiert, wollten auf unsere Zukunft hin leben und arbeiten. In der Philosophischen Fakultät lebten die meisten auf das höhere Lehramt hin. Ich habe übrigens auch erst nach meinem Studium erfahren, dass mein Doktorvater Rudolf Kriss von den Nazis zum Tode verurteilt, dann aber doch noch zu lebenslänglicher Haft begnadigt worden war. Und dass der Ko-Referent für meine Dissertation, der Psychologe Philipp Lersch, durch die Nazizeit, wie man damals so sagte, »angebräunt« war. In meinem engeren Interessen- und Arbeitsbereich war von nicht unerheblicher Auswirkung, dass in ihm in der Nazizeit von der Obrigkeit alles teilweise verboten und insgesamt vernachlässigt worden war, was mit individueller und mit thematisch weiter ausgreifender Psychologie, Anthropologie, Ethnologie, Volkskunde, den Anfängen von Soziologie und ähnlichen auch gesellschaftlich relevanten Sichtweisen und Forschungsansätzen zusammenhing. Die Volkskunde etwa war auf Folkloristik reduziert und durch die massive »völkische« Blut-und-Boden- und Germanen-Ideologie und deren breite Propagierung überlagert worden. Wobei aber beispielsweise im Bereich der Psychologie keineswegs nur die Tatsache maßgebend war, dass hier Freud, Adler und einige andere renommierte Psychologen und ähnlich auch in der Ethnologie der für mich interessante Th. W. Danzel (s. u.), jüdischer Abstammung waren. Vielmehr zielten – wie generell so auch in den Geisteswissenschaften – die Pflege und Propagierung der bekannten weltanschaulichen, nationalistischen und rassistischen Ideologien auf eine Umformung der Bevölkerung zu einer der Staatsführung für ihre Zwecke verfügbaren Masse. Eine der für mich spürbaren Auswirkungen dieser Politik waren in meiner Studienzeit auf zweifache Weise Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Literatur. Es war nicht immer ganz einfach, die aus der Zeit von vor 1933 vorhandene Literatur zu beschaffen. Und es war noch schwieriger, zu der während der Nazizeit im Ausland neu erschienene Literatur zu gelangen. Letzteres galt für mich vor allem für die Ergebnisse der Forschungen des schweizerischen Psychologen C. G. Jung. Es war ein Glücksfall, dass ich seine Bücher durch mir in München persönlich bekannte Psychotherapeuten zur Kenntnis erhalten konnte. Wie es auch hinsichtlich der filmtechnischen Entwicklungen ein Glücksfall war, dass ich Hans Opfermann kennen lernte, und er mich in das Manuskript seines »Lehrbuches der Filmgestaltung« hatte Einblick nehmen lassen. Selbst über die Entwicklungen, die vom Nazi-Regime gewünscht und gefördert worden waren, fehlten so kurz nach der Nazi- und

NACHWORT

Kriegszeit Materialien und Vorarbeiten – zum Teil vielleicht auch, weil man sie nicht zeigen wollte. Mit Ausnahme von einigen der von Leni Riefenstahl erreichten und – ganz unabhängig von ihrem sonstigen Verhalten – herausragenden kinotechnischen und künstlerischen Fortschritten. Es war ebenfalls ein Glücksfall, dass mir über die nazistische Filmpolitik wenigstens die präzise Studie From Caligari to Hitler von Siegfried Kracauer zur Verfügung stand. Denn ich hatte zwar persönliche Erinnerungen. Aber die konnten ja nicht gerade als wissenschaftlich gesicherte Quellen verwendet werden. Und um zur Illustrierung der Lage noch ein Beispiel zu nennen: Dem Namen von Walter Benjamin (dessen einschlägiger Essay »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« später bekanntlich Furore machen sollte) bin ich in meiner Studienzeit nicht ein einziges Mal begegnet.

Entstehung der Dissertation Bei meinem Studium gab es für den von mir anvisierten Beruf des Journalisten keine irgendwie geartete Vorgabe für ein Universitätsstudium. Hinzu kam, dass ich vier Jahre eines unwilligen und eher stumpfsinnigen Soldatendaseins in der Luftwaffen-Nachrichtentruppe hinter mir hatte. Wobei es allerdings ebenfalls ein Glücksfall gewesen war, dass ich in einer nicht-kämpfenden Truppe Soldat war und immer wieder auch Gelegenheit hatte, mich zur Lektüre zurückzuziehen. Von diesem »Vorleben« her habe ich – geleitet von Interessen für kulturelle Zusammenhänge und Entwicklungen und menschliche Verhaltensweisen – in der philosophischen Fakultät zunächst gewissermaßen kreuz und quer studiert. Mit dem vagen Ziel, »Erkenntnisse« zu gewinnen. Bis ich – angeregt vor allem durch Texte von C. G. Jung, aber auch von Huizinga, Ortega y Gasset, Le Bon, Levy-Bruhl, Kracauer, Scheler, Worringer, Wundt und einigen mehr – zum Thema meiner Dissertation und zu dem entsprechenden Studien-Dreiklang Psychologie-Volkskunde / Ethnologie-Germanistik gelangte. Den endgültigen Anstoß für mein Thema hatte das 1928 erschienene Buch Der magische Mensch des Ethnologen Theodor-Wilhelm Danzel gegeben. In ihm hatte Danzel versucht, den Unterschied zwischen dem Bewusstsein des modernen Menschen und dem der (damals so genannten) primitiven Völker dadurch systematisierend zu beschreiben, dass er dem Prototyp eines Homo faber (des technisch-rationalen Menschen) den Prototyp eines Homo divinans (des magischen Menschen) gegenüber-

277

HANS ARNOLD

278

stellte. Wobei er als ›magisch‹ mehr oder weniger all das verstand, was nicht rational ist. Es mag im übrigen auch sein, dass meine Absicht, diese Dissertation zu erarbeiten, zusätzlich dadurch etwas belebt wurde, dass gewissermaßen im Kielwasser der damals allgemeinen Sinnsuche nach den großen Katastrophen von Nazi-Zeit und Weltkrieg in Münchner Intellektuellenkreisen auch Esoterisches und Themen wie Spiritismus, Okkultismus, Hellseherei, Schamanismus usw. diskutiert wurden. Der Kinofilm schließlich bot sich auf doppelte Weise an. Einmal dadurch, dass er eindeutig ein neues und für meine Zwecke hervorragend geeignetes Medium war, und zum anderen dadurch, dass ich von Kindheit an ein Filmliebhaber gewesen war. Auszugehen war für die Dissertation von dem Stand der beiden damals noch relativ jungen Wissenschaften der (im 19. Jahrhundert mit der deutschen Einigungsbewegung entstandenen) Volkskunde und der (mit den Entdeckungen und dem Kolonialismus entstandenen) Ethnologie. Hinzu kamen die damals noch ganz neuen und für mich wichtigen tiefenpsychologischen Forschungsergebnisse des Psychologen C. G. Jung. Darzulegen und zu interpretieren waren in meiner Arbeit vor allem zwei Phänomene. Einmal das Phänomen, dass der Mensch der vor- und vor allem der frühgeschichtlichen Epoche die Welt und das Geschehen in ihr nicht nur so wahrgenommen hat, wie sich diese ihm objektiv darboten. Sondern so, wie er diese innerhalb eines Gesamtbildes wahrnahm, zu dem auch all das gehörte, was sich gleichzeitig mit dieser Wahrnehmung in ihm selbst innerlich abspielte. Also das Phänomen, dass das Welt­er­leben der Menschen dieser Epochen immer gleichzeitig von außen und innen gespeist wurde. Wobei die frühgeschichtliche Epoche allgemein als »mythisch« bezeichnet wird, da in ihr u. a. fast alle auf solcher Wahrnehmung beruhenden Religionen und großen Epen und Mythen wurzeln. Das zweite in der Dissertation darzulegende und zu interpretierende Phänomen war, dass diese Art von zweifacher Wahrnehmung und das durch sie bewirkte Welt­er­leben unter bestimmten Umständen auch in unserer an sich durch Rationalität bestimmten Zeit noch wirksam sein können. Und dass somit also beide Formen des diesem Welt­er­leben zu Grunde liegenden Bewusstseins – das objektive/rationale und das innere/mythische – in Vergangenheit und Gegenwart bestanden und bestehen und auch auf einander einwirken konnten und können. Einreichen konnte ich meine Dissertation entweder im Fachbereich Psychologie oder im Fachbereich Volkskunde, zu dem in der damaligen Wiederaufbauphase auch die Ethnologie gehörte.

NACHWORT

Ich habe mich für die Volkskunde entschieden, da ich von den konkreten Ursprüngen und primären Erscheinungsformen der von mir behandelten Phänomene ausgehen wollte, und da mir bei meinen Erkundungsgesprächen der Professor für Volkskunde als verständnisvoller erschien. Und in der damalige Zeit, in der es für Studenten keine Vervielfältigungs- und Druckmöglichkeiten gab, mussten von Dissertationen lediglich sieben mit Maschine getippte Exemplare abgeliefert werden. Aus heutiger Sicht sollten nach meinem Eindruck in die Dissertation mehr, als dies geschehen ist, früh- und vorgeschichtliche und auch menschheitsgeschichtliche Aspekte einbezogen werden. Denn diese Forschungsbereiche gehören eigentlich auch zum hiesigen Thema, und in ihnen scheinen sich seither Erkenntnisse ergeben zu haben, die auch für das hiesige Einzelthema von Nutzen sein können. Für die Frage nach dem Ursprung magischen Welt­ er­lebens etwa kann von Interesse sein, dass im ältesten bekannten Epos »Gilgamesch« irdische und transzendentale Lebewesen in einem einheitlichen Raum miteinander umgehen. Aus der vorgeschichtlichen Zeit wiederum dürfte die Tatsache von Interesse sein, dass die Phase des magischen Welt­er­lebens und des aus ihm inhaltlich entstandenen mythischen Welt­er­lebens eine vergleichsweise nur kurze von mehreren Phasen war, in denen sich das Lebewesen Mensch entwickelt hat: ausgehend von langen Phasen, in denen es noch, wie alle anderen Lebewesen auch, integraler und willenloser und nur durch die Triebe der Selbsterhaltung und Fortpflanzung vorangebrachter Teil des gesamten allgemeinen Naturgeschehens war. Bis zu den Phasen, in denen sich dies vor/ frühmenschliche Lebewesen durch typisch menschliches Denken, empfinden und Handeln zu seiner heutigen Form des Homo sapiens entwickelte. Als letzte dieser Phasen lässt sich wohl die des (nach seinem Fundort in Südfrankreich so benannten) Cro-Magnon-Menschen (etwa 40–30.000 v. Chr.) verstehen, von dessen vermutlich magischem Welt­er­leben seine Felsenzeichnungen zeugen. Zu den Rahmenbedingungen des Themas der Dissertation gehört eben auch die Geschichte der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins als der Grundlage des von ihm getragenen Welt­ er­ lebens mit seinem Wandel von einem vermutlich total magischen über ein noch vorwiegend magisches bis zu einem fast vollständig rationalen Welt­er­leben. Und es ist dies gleichzeitig die Geschichte von der Entwicklung des menschlichen Verstands vom Bild zum Begriff. Mit anderen Worten die Geschichte von den Bildern des Cro-Magnon-Menschen bis zu der Relativitätstheorie von Albert Einstein.

279

HANS ARNOLD

Zum Begriff ›magisch‹

280

Die Bezeichnung ›das Magische‹ ergab sich zunächst etwas da­ durch, dass dieser Begriff für mich von Th. W. Danzel her zu einer Art von Orientierungs- und Unterscheidungsbegriff geworden war. Endgültig ergab sich diese Bezeichnung dann aus der Suche nach einem Substantiv, mit dem im Titel der Dissertation deren Thema mit einem Wort markiert werden konnte. Insgesamt bot sich ›das Magische‹ dadurch an, dass das magische Welt­er­leben eine der wichtigsten und zumindest schon aus der frühen mythischen Epoche überlieferten menschlichen Bekundungen bzw. Verhaltensweisen ist. Ferner war der Begriff ›magisch‹ auch generell als Bezeichnung für das hier in Frage stehende Welt­er­leben und für die aus ihm entstandenen Praktiken in Gebrauch. Und schließlich wurde und wird ›das Magische‹, einschließlich der magischen Praktiken, von seinen Adepten bis heute als real, also als ›vernünftig‹ empfunden. Denn ein Mensch nimmt dann magisch wahr und empfindet und denkt dann magisch, wenn er magische Wahrnehmungen und Handlungen für vernünftig hält oder zumindest das Magische als etwas nicht total Unvernünftiges toleriert. Heute aber sollte der Begriff ›magisch‹, der damals inhaltlich ziemlich klar definiert war, vielleicht nicht mehr oder zumindest nicht mehr so umfassend wie damals oder nur mit Vorbehalt verwendet werden, denn heute wird der Begriff bekanntlich (ähnlich wie die Begriffe ›geheim‹, ›Kult‹ oder ›Legende‹) ohne präzise Bedeutung allen möglichen Dingen, Personen und Vorgängen als Adjektiv beigegeben. Wichtiger erscheint mir allerdings, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen, das in der Dissertation als ›magisches Welt­er­leben‹ bezeichnet wird, immer weiter in Breite und Tiefe entwickelt hat. Insbesondere scheint dies für die Tiefenpsychologie zu gelten. Beispielsweise ließ sich schon zu meiner Studienzeit das ›magische Welt­er­leben‹ inhaltlich fast wie ein Synonym für den von Sigmund Freud entwickelten Begriff der ›Projektion‹ oder auch als eine Wirksamkeit wie die des von C. G. Jung definierten individuellen oder kollektiven Unbewussten verstehen. Und bereits in meinem Kreuz-und-quer-Studium war ich in der Kunstgeschichte auf Wilhelm Worringers Abstraktion und Einfühlung gestoßen. Es fragte sich und ich fragte mich damals, ob nicht mit bereits vorhandenen Begriffen – wie eben Einfühlung und Projektion, aber auch Empathie, innere Bilder usw. – das von mir zu Sagende gesagt werden könne – oder vielleicht auch schon irgendwie gesagt sei. Ich blieb beim ›Magischen‹. Es bot nach meinem Eindruck die

NACHWORT

volkskundlich, historisch, kunsthistorisch und, vor allem, psychologisch umfassendste Möglichkeit für die Darstellung und Erläuterung des in Frage stehenden Phänomens. Und gerade mit Bezug auf das Thema Film empfand ich das Magische als den ursprünglichsten und umfassendsten Betrachtungs- und Erklärungsansatz.

Zur Einbeziehung von Religion(en) in die Dissertation Das magische und das religiöse Welt­er­leben und Handeln haben ihre gemeinsamen Wurzeln in der Prähistorie. Gemeinsam ist ihnen, dass sie beide auf Glaubensinhalten beruhen, die nicht rational erkannt oder begründet, sondern nur geglaubt werden können. Wobei manche religiösen Glaubensinhalte von ihnen gläubig zugetanen Menschen über lange Zeiträume gepflegt und gestaltet wurden. Wodurch ihnen eine im Vergleich mit nur magischen Glaubensinhalten größere Plausibilität und mit dieser eine sozusagen größere Glaub-Würdigkeit eigen sein kann. Welche es wiederum Gläubigen ermöglicht, ihren Glauben für vernünftig im Sinne von rational begründbar zu halten. Ferner haben beide Arten des Welt­er­lebens gemeinsam, dass mit ihnen für die Wahrnehmung und Wirksamkeit von religiösen oder von nur magischen Glaubensinhalten auch reale magische Handlungen und Funktionalitäten erforderlich sind. Wobei es das wesentliche Charakteristikum sowohl des religiösen Glaubens als auch des Glaubens an magische Wirksamkeiten außerhalb des religiösen Bereichs ist, dass mit beiden Glaubensinhalten auf ihre Weise Antworten auf Fragen gegeben werden sollen, die rational nicht beantwortet werden können, bzw. dass beide Glaubensformen versuchen, das rational Unbegreifbare begreifbar zu machen. An sich wären also in eine wissenschaftliche Untersuchung des magischen Welt­er­lebens auch Phänomene der Religiosität und von Religionen einzubeziehen gewesen. Wobei freilich die rational und damit wissenschaftlich nicht erfassbaren Glaubensinhalte als solche unberücksichtigt zu bleiben hätten. Es wären also in beiden Fällen in einer religiös bzw. weltanschaulich wertfreien Betrachtung die ihrer Erscheinung nach gleichartigen magischen bzw. religiösen Handlungen und Funktionalitäten zu erfassen gewesen. An sich hatte ich aus systematischen Gründen die Einbeziehung einer solchen strukturellen, phänomenologischen, ethnologischen und psychologischen (also hinsichtlich des Glaubens und von Glaubensinhalten wertfreien) Betrachtung in den allgemeinen Teil der Dissertation für geboten gehalten. Dies auch etwas aus persönlichem Interesse, da ich unmittelbar neben einer katholischen Kirche

281

HANS ARNOLD

282

geboren wurde und aufgewachsen bin und als Soldat u. a. in christlich-orthodoxen und muslimischen Gebieten stationiert gewesen war. Doch erwies sich eine solche Darstellung als problematisch. Denn in unserer weitgehend auch religiös durch das Christentum geprägten deutschen Lebenswelt gleichen sich zwar der hier maßgebliche monotheistische christliche Glauben und der ihm vorangegangene und in ihm aufgegangene, unmittelbar aus magischem Welt­er­leben entstandene Volksglauben in vielen Teilen wie ein Ei dem anderen. Dies umso mehr, als das Christentum, vor allem das katholischer Prägung, und der christlich grundierte Volksglauben – wie sich dies in meiner engeren bayerischen Heimat unschwer erkennen lässt – unentwirrbar miteinander verwoben sind. Doch standen für mich damals einer solchen gleichartigen Betrachtung und Bewertung von gleichartigem Handeln in der Welt des nur Magischen und in der Welt des christlichen Glaubens unübersehbar religiöse Glaubensdogmen und -überzeugungen und auch öffentliche und andere Meinungen entgegen. Es sprachen zumindest drei Gründe gegen die Aufnahme des Themas ›Religion(en)‹ in die Dissertation. Erstens hätte sich damals die notwendige wertfreie Betrachtung angesichts der historischen, kulturellen, gesellschaftlichen und auch politischen Bedeutung der Religion in unserer Gesellschaft vermutlich sehr kompliziert gestaltet. Denn schließlich hätte mit der gebotenen Darstellungsweise beispielsweise auch die Eucharistie, ein Kernstück katholischen Glaubens, zunächst als eine magische Handlung verstanden werden müssen. Zweitens stand einer solchen Behandlung der Religion(en) der damalige Zeitgeist entgegen. Er war einerseits durch die Tatsache geformt, dass das barbarische und neben allem Anderen auch anti-religiöse und anti-kirchliche Nazi-Regime gerade erst beendet worden war. Und dass unmittelbar anschließend durch den anti-religiösen Kommunismus eine massive Bedrohung aus dem Osten Europas entstanden war. Diese Entwicklungen hatten zu einer starken Rückbesinnung auf Religionen, Konfessionen und Kirchen und zu einer Hinwendung zu traditionellen christlichen Werten geführt und nicht zuletzt auch zur Gründung von politischen Parteien mit dem Begriff ›christlich‹ im Parteinamen. Zur Illustration: die in Bayern an sich allmächtige amerikanische Militärregierung hatte auf deutschen Einspruch hin eine Plakataktion für mehr Verkehrssicherheit abgebrochen, weil sie lautete: ›Drive carefully – Death is so permanent‹. Unter diesen Umständen hätte eine ›wertfreie‹ Betrachtung von religiösen oder sogar christlichen Werten als eine Verächtlichmachung von Religion oder gar als eine Sympathiebekundung für den anti-religiösen Kommunis-

NACHWORT

mus missverstanden werden können. Drittens wäre dies Thema als solches äußerst umfangreich gewesen und hätte dadurch vielleicht den Rahmen der (ohnehin nicht gerade kurzen) Dissertation gesprengt. Aus diesen Gründen wird in der Dissertation auf Religionen nur an wenigen Stellen und ohne Vertiefung des Themas Bezug genommen.

Zum Medium Film Die Dissertation ist zu einem Zeitpunkt entstanden, in dem die technische Entstehungsphase des Mediums Film abgeschlossen war. Technisch hatte der Film durch sein Verfahren, durch Bilderfolge Bewegung und durch die Beifügung von Ton Wirklichkeit vorzutäuschen, die ihm mögliche Vollkommenheit erreicht. Deren Stabilität ähnelt damit der des Mediums Buchdruck, das seit Gutenberg auch unverändert darin besteht, dass Druckerschwärze in der Form von Buchstaben auf eine Fläche aufgebracht wird. Für beide Medien haben sich im Laufe der Zeit Modernisierungen und Verbesserungen ergeben, jedoch keine, durch welche ihre Kern-Verfahren und damit ihr »Wesen« verändert worden wären. Beim Medium Film gilt dies auch für die spätere Beifügung von Farbe, da diese zwar zweifellos eine Bereicherung, aber für die Vermittlung des typisch filmischen Erlebnisses nicht zwingend notwendig ist. Zwei Vorhaben, dem Film weitere Möglichkeiten zu erschließen, sind die Breitwandprojektion und das 3D-Verfahren. Beide Neuerungen konnten zum Zeitpunkt der Abfassung der Dissertation, ähnlich wie das ›Fernsehen‹, in ihrer tatsächlichen späteren Wirksamkeit noch nicht einmal geahnt werden. Beide Vorhaben scheinen freilich nicht aus Konstellationen oder Bedürfnissen entstanden zu sein, die dem Medium Film inhärent sind, sondern wohl vor allem aus wirtschaftlichen Überlegungen. Der einzige Breitwandfilm, an den ich mich erinnere, war der Film ›The Bridge on the River Kwai‹, der, glaube ich, auch der erste dieser Art war. Ich habe ihn Ende der 1950 er Jahre in einem gigantischen amerikanischen Kino gesehen. Ich erinnere mich an einen gut und spannend gemachten, inhaltlich und bildlich leicht erfassbaren Film. Hinsichtlich der die ganze Projektionswand vor mir in Anspruch nehmenden Breitwand-Projektion erinnere ich mich, dass ich, um nichts zu verpassen, den Kopf immer nach links und nach rechts gewendet habe. Bis ich merkte, dass sich an den Rändern des Filmbildes nichts Wesentliches abspielte. Nach meiner Erinnerung erschien mir damals durch die Breitwand-Pro-

283

HANS ARNOLD

284

jektion der filmische Erlebnisraum für den Kinobesucher nicht nur als verbreitert, sondern als insgesamt vergrößert. Und mein Erleben dessen, was sich filmisch auf dieser großen Projektionsfläche abspielte, empfand ich als gewaltiger, aber nicht wirklich als intensiver. Zu dem 3D-Verfahren kann ich auf keine persönliche Erfahrung zurückgreifen. Nach allem, was mir bekannt und vorstellbar ist, dürfte die durch das 3D-Verfahren im Film angestrebte totale drei-dimensionale räumliche Illusion ungefähr folgendes bewirken: Der Zuschauer dürfte den ihm als filmisches Geschehen vorgetäuschten Raum nicht sehr viel anders wahrnehmen, als er in seinem wirklichen (drei-dimensionalen) Leben Räume und deren Einzelheiten wahrnimmt. Er dürfte also mit seinem Filmerlebnis das auf seinem realen Lebens- und Kinoraum fußende Raumgefühl in den vorgetäuschten filmischen raum hinein fortsetzen. Wobei das reale Erleben des realen Kinoraumes während des Filmerlebnisses in gewissem Umfange wirksam bleiben dürfte, sei es auch nur sozusagen im Hinterkopf des Zuschauers. Sodass also das mit dem üblichen Projektionsverfahren erreichte typische Filmerlebnis, bei dem der Zuschauer mit seinem Bewusstsein in gewisser Weise in das filmische Bild und Geschehen hineingezogen wird, mit dem 3D-Verfahren vermutlich nicht oder nur in zu geringem Umfang erreicht werden kann. Mit anderen Worten: Durch das 3D-Verfahren dürfte der Kino-Besucher den Film in etwa so erleben, wie der Theater-Besucher das theatralische Geschehen erlebt, nämlich als eine Teilnahme am gemeinsamen Erleben aller Zuschauer im für Schauspieler, Schauspiel (bzw. für Filmprojektion) und Zuschauer gemeinsamen realen Raum. Allerdings mit dem gravierenden Unterschied, dass die für ein volles Erleben des Geschehens nötige Entrückung des Zuschauers aus seiner momentanen Wirklichkeit im Theater primär durch das (rationale) Wort und im Kino primär durch das (magische) Bild geschieht. Das sich aber im 3D-Verfahren vermutlich nicht voll entfalten kann. Diese mit Bild-Ton-Raum dreiteilige 3D-Problematik erinnert im übrigen etwas an die dreiteilige Problematik, die beim Stummfilm durch die Aufteilung Bild-Raum-Schrift entstanden war, dadurch dass in den bildlichen Handlungsablauf immer wieder Textseiten eingeblendet werden mussten. Wodurch für den Zuschauer dessen filmisches (bildliches) Erleben immer wieder durch ein zwangsläufiges Lese-Erlebnis unterbrochen bzw. durch welches Lese-Erlebnis der Zuschauer immer wieder aus seinem filmischen Erleben herausgenommen wurde. In beiden Fällen (hier und bei 3D) dürfte also die (auf magischer Grundlage bestehende) typische interne Ergänzung durch den erlebenden Zuschauer, wie

NACHWORT

immer man will, eingeschränkt oder beschädigt werden. – Das hier zum 3D-Verfahren Gesagte kann freilich nur für Spielfilme gelten, bei denen in erster Linie die Wahrnehmung der Handlung das (›magische‹) Filmerlebnis aktiviert. Bei Dokumentarfilmen hingegen mag das 3D-Verfahren durchaus positiv wirken. Denn im Dokumentarfilm erwartet der Zuschauer Genauigkeit, im Spielfilm erwartet er Entrückung.

Der Stand der Dinge und ›die Augen von damals‹ Dieser dürfte heute vor allem hinsichtlich des in der Dissertation behandelten Mediums Film von Interesse sein. Denn schließlich hat sich die Medienwelt in den letzten Jahrzehnten auf teilweise geradezu explosive Weise entwickelt, und das Medium Film wurde dadurch mit einer kaum noch überschaubaren Vielfalt von Vorgängen und Zusammenhängen in Verbindung gebracht. Wodurch wiederum die Möglichkeiten und Wirksamkeiten dieses Mediums immer vielfältiger wurden. Doch haben sich dessen Grundstruktur und primäre Verfahren nicht verändert. Nach wie vor nehmen die Zuschauer die von ihnen mit Hilfe des Mediums Film betrachtete Welt auf die in der Dissertation dargestellte Weise wahr. In der Dissertation war der Film freilich nicht das zentrale Thema, sondern mehr ein Beispiel oder Demonstrationsobjekt für das in ihr behandelte magische Welt­er­leben. Mit den wichtigen und folgenreichen Entwicklungen in der Medienwelt dürfte der Film inzwischen aber auch in einem solchen Zusammenhang zusätzliche eigene Bedeutung gewonnen haben, und dies vermutlich im Einklang sowohl mit der wissenschaftlichen als auch mit der allgemeinen Interessenlage. Wissenschaftlich sind derartige Themen, die fachlich nicht von vorneherein eindeutig zugeordnet werden können, häufig auf unterschiedliche Weise in unterschiedlichen Fachrichtungen beheimatet. Hinsichtlich des Dissertationsthemas ist hierzu festzuhalten: Das Thema war gemäß den damaligen Gegebenheiten aus volkskundlich-ethnologisch-psychologischen Tatbeständen und Überlegungen entstanden. Heute aber dürfte es wohl am besten in der Fachrichtung Medienwissenschaft aufgehoben sein. Denn hier vor allem dürften heute das Medium Film und damit auch die in der Dissertation mit ihm verbundenen Zusammenhänge von Interesse sein. Auch wollte es der Zufall, dass fast gleichzeitig mit der Dissertation (1949) das erste medienwissenschaftliche Buch des Medien­­ wissenschaftlers Marshall McLuhan (1911–1980) erschienen war: Die mechanische Braut – Volkskultur des industriellen Menschen

285

HANS ARNOLD

286

(1951). Im hiesigen Zusammenhang geht es allerdings nicht um diesen genialischen Anschieber, Initiator und Ideengeber der heutigen Medienwissenschaft und nach weit verbreiteter Meinung ihrem eigentlichen Schöpfer oder dessen bis heute nicht ganz unumstrittenes Werk, sondern nur um eine gewisse Nachbarschaft zwischen einigen seiner Postulate und Teilen der Dissertation. Hierfür ein Beispiel, das sich auch in einem von McLuhans Hauptwerken findet: Understanding Media. The Extension of Man (1964, deutsche Fassung Die magischen Kanäle). McLuhan entwickelt dort die Vorstellung, dass sich der Mensch mit jeder seiner Erfindungen, die seine Möglichkeiten zur Kommunikation verbessert (wie etwa der Erfindung des Rades oder der Erfindung der Elektronik) mit seinem Bewusstsein, wie es McLuhan nennt, »ausdehnt«. Diese Vorstellung lässt sich unschwer in die Reihe der Vorstellungen einreihen, die hier weiter oben in den Anmerkungen zu dem Begriff des Magischen aufgeführt wurden. Denn ebenso wie die anderen dort genannten Beispiele ist auch diese Vorstellung McLuhans der Vorstellung vom magischen Welt­er­leben unmittelbar benachbart. Als weiteres Beispiel sei das berühmte Postulat von McLuhan »The Medium is the Message« aus seinem gleichnamigen Buch von 1967 genannt. Es besagt bekanntlich, dass das Medium nie nur ein reines Transportmittel für die Botschaft ist, sondern immer auch ein Teil der Umwelt der Botschaft. Und, so McLuhan, »Umwelten sind keine passiven Hüllen, sondern aktive Prozesse, die unsichtbar ablaufen. Ihre Grundstrukturen und alles überziehenden Muster entziehen sich der unmittelbaren Wahrnehmung« (a. a. O.). Das heißt: Der Empfänger nimmt die Botschaft als wirklich zur Kenntnis, mit ihr aber unbewusst immer auch die Wirkungen aus deren Umwelt, in die hinein er sich auch im Laufe seiner Entwicklung mit seinem Bewusstsein immer mehr »ausgedehnt« hat. Wobei beim Film dessen Inhalt als die sachliche Botschaft und der Film als solcher als deren Umwelt zu verstehen ist. Auf gleiche Weise aber funktioniert auch das in der Dissertation dargestellte und diesen Vorstellungen damit unmittelbar benachbarte Filmerlebnis auf der Grundlage des magischen Welt­er­lebens. Oder, in Zusammenfassung beider Abläufe: Der Mensch erlebt die Welt so, wie er sie mit seinen bewussten und unbewussten Möglichkeiten wahrnimmt. Diese völlig unabhängig voneinander entstandene Nachbarschaft bzw. Parallelität zwischen der Dissertation und Vor­­­stellungen von Marshall McLuhan ist im übrigen auch eine kleine aber interessante Erläuterung der kaum zu überschätzenden Bedeutung der Thematisierung des Unbewussten in der Medienwissenschaft durch Marshall McLuhan.

NACHWORT

Beim Blick auf den Stand der Dinge springt ins Auge, dass in der heutigen Medienwelt das Bild und alles Bildliche und Bildhafte eine wesentliche wenn nicht gar eine maßgebliche Rolle spielen. Und deutlich erkennbar sind dabei einmal das Verhältnis zwischen Bild und Begriff und zum anderen das Verhältnis zwischen Film(bild) und Wirklichkeit. Für das Verhältnis zwischen Bild und Begriff ist an den originellen Gestalter Otl Aicher zu erinnern, der für die Olympiade von 1972 Piktogramme für bildliche Kurzinformationen in mehr oder weniger öffentlichen Räumen entworfen hat. Es war dies ein maßgeblicher Schritt in Richtung eines Wechsels vom Schriftzeichen zum Bildzeichen. Heute ist z. B. kein einigermaßen großer Veranstaltungsraum mehr vorstellbar, in dem nicht statt des früheren Hinweises »Notausgang« und eines Pfeils das Piktogramm mit dem laufenden Männchen in die richtige Richtung weist. Heute sind allerdings auch ohne vergleichbare bildliche Zweckbestimmung immer mehr solche Bildzeichen und Bilder in Gebrauch. Desgleichen auch kurze Buchstabenkombinationen mit bildhafter Wirkung, da man für deren Verständnis nicht unbedingt deren Langtext und seine Bedeutung vor Augen haben muss. Es scheint, dass inzwischen Bildzeichen schriftliche Informationen auf breiter Ebene verdrängen. Zu dieser Entwicklung gehört ein Trend von begrifflicher (schriftlich fixierter) zu bildlicher Kommunikation. So kann man beispielsweise beim Kauf eines technischen Geräts zu ihm eine Gebrauchsanweisung erhalten, die nur aus Bildern besteht. Oder man kann in einer Buchhandlung auf Bücher stoßen, in denen klassische literarische Texte zu Bildergeschichten mit Sprechblasen, zu so genannten Graphic Novels, umgestaltet sind, weil sie sich so anscheinend besser verkaufen. Der Anteil von Schauspielern in Talk-Shows und Werbung, um ein letztes Beispiel zu nennen, ist überproportional groß, da man deren Gesichter besser kennt, als etwa die von Nobelpreisträgern. Zur wachsenden Verwendung von Bildern gehört freilich auch, dass heute jeder siebte Deutsche ein Analphabet, und die Kenntnis der deutschen Rechtschreibung in katastrophalem Zustand ist. Vor allem aber ist für eine Beurteilung dieser Entwicklung von Bedeutung, dass der Begriff und mit ihm das Wort am klarsten rationale Beschreibungen, Unterscheidungen und Grenzen vermitteln kann, während das Bild sie verwischt. Ist der Mensch also, so lässt sich vielleicht fragen, auf dem Weg zurück vom Wort zum Bild, von der Relativitätstheorie zur Höhle von Cro-Magnon? Wird vielleicht, wie dies McLuhan skizziert hat, künftig eine von Schrift und Druckerzeugnissen befreite, oral kommunizierende Menschheit zu einfachen Stammesgemeinschaften zurückfinden, die in

287

HANS ARNOLD

288

der kulturellen Schlichtheit eines (wie McLuhan es benannte) »globalen Dorfes« zusammenleben werden? Sollte vielleicht das Rudel-Herden-Schwarm-Verhalten, das sich heute bei manchen Massenkundgebungen beobachten lässt, schon ein Vorzeichen für eine solchen Entwicklung sein? Wohl kaum, und wenn, dann dürfte all dies nur im Zuge einer Entwicklung in einem menschheitsgeschichtlichem Zeitrahmen möglich sein, über die heute nachzudenken ziemlich müßig sein dürfte. Mehr noch als das Verhältnis zwischen Bild und Schrift ist nach meinem Eindruck das Verhältnis zwischen Film(bild) und Wirklichkeit heute wegen der bekannten Wirkkraft von Bildern im allgemeinen und der bekannten Wirksamkeit des Films, vor allem des Spielfilms, im besonderen das alle Probleme und Fragen der Kommunikation mit Medien überwölbende Problem. Dieses Problem bestand zwar schon von Anfang an so, wie es auch heute besteht. Seine gegenwärtige und künftige Bedeutung beruht auf seiner heute um ein Vielfaches ausgedehnten und verstärkten Wirksamkeit. Zur Zeit der Abfassung der Dissertation etwa und noch viele Jahre darüber hinaus war das Erleben eines Films – nicht anders als das einer Theateraufführung oder das der Lektüre eines Buches – ein mehr oder weniger besonderes und zeitlich begrenztes Unternehmen von einer mehr oder weniger großen Zahl von Menschen und von meistens auch nur begrenzter gesellschaftlicher Wirksamkeit. Heute hingegen kann sich dank der sich technisch und inhaltlich großräumig fortentwickelnden Welt des Kino-Fernseh-Internet-Video-Konsolen-Films, in den hoch entwickelten Industriestaaten praktisch jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt jeden von ihm gewünschten Film sehen. Womit die Filmrezeption zu einem umfassenden gesellschaftlichen Thema geworden ist. Das Verhältnis zwischen Film(bild) und Wirklichkeit hat zwei problematische Auswirkungen: die Verwischung der Grenzen zwischen der Wahrnehmung von Realität und der Wahrnehmung von filmischen Vorstellungen, und – gewissermaßen als Folgeerscheinung – die Bildung von (vorgestellten) Nebenwelten. Die Verwischung der Grenze zwischen Realität und Vorstellung ist hier dem Umstand geschuldet, dass in dem wahrnehmenden Menschen in diesen Fällen das magische Welt­er­leben (sei es auch nur zeitweise) stärker wirksam ist als das rationale Welt­er­leben, was zu einer Veränderung der Wahrnehmung führen kann. Ein Beispiel hierfür findet sich in den zahlreichen Fernseh-Dokumentarfilmen, die historische Entwicklungen nachzeichnen. In diese Dokumentationen sind so genannte »Spielszenen« eingeschoben, in denen Schauspieler historische Persönlichkeiten mit all ihren Verhaltensweisen und Ansichten in bestimmten Hand-

NACHWORT

lungssituationen verkörpern. Womit der Zuschauer durch die ihm mit diesem Schauspiel oktroyierte Vorstellung von Lebensnähe in Kombination mit den dann wieder folgenden realen Reportage-­ Sequenzen fast zwangsläufig zu dem Ergebnis kommen dürfte »Ja, so war es, so muss es gewesen sein«. Die historische Genauigkeit solcher Spielszenen obliegt den Drehbuchautoren, Regisseuren und Schauspielern, die wiederum von nicht wenigen unhistorischen Faktoren abhängig sind. Solche bildgestützte, zwischen Roman und Wirklichkeit angesiedelte Wirkung mag vernachlässigbar sein, wenn es sich um Dokumentationen über Kelten, Wikinger, Römer oder Germanen oder etwa auch um die Rolle Wallensteins im Dreißigjährigen Krieg handelt. Solche Dokumentationen können aber fragwürdig werden, wenn es um einigermaßen gegenwartsnahe Themen geht. An Beispielen ist keine Mangel. Die Auswirkung, dass sich vorgestellte Nebenwelten bilden, entsteht durch extensive virtuelle Wahrnehmungsaufenthalte von Zuschauern in Filmwelten, insbesondere in solchen von Programm-Serien im Fernsehen, die sehr oft moderne tendenziell märchen- oder sagenhafte Vorstellungen und Welten vermitteln. Solche Wahrnehmungsaufenthalte können auch als eine über das Filmerlebnis hinaus innerlich fortdauernde virtuelle Anwesenheit von Zuschauern in solchem Programm-Geschehen und –Welten wirksam bleiben. Und bei solchen Filmkonsumenten lassen sich manchmal auch eine gewisse Abhängigkeit von den Ansichten von Helden solcher Serien, vor allem von generellen Ansichten bezüglich Recht, Gerechtigkeit, Schicksal usw. feststellen In einem erfolgreichen Science-Fiction-Film etwa, in dem es um Kämpfe im Weltraum ging, erfuhr der Zuschauer in der Eingangsphase des Films, dass der (nach dem klassischen Modell der »Heldenreise« gestaltete) Held der Geschichte in seinem (filmischen) Vorleben Mitglied der amerikanischen Elitestreitkraft »Marines« gewesen war. Man kann sich leicht vorstellen, was in einem jugendlichen Zuschauer vor sich gehen mag, der einen solchen Film auf die bekannte intensive Weise erlebt. Die Verwischung der Grenze zwischen Wirklichkeit und Vorstellung dürfte eines der gravierendsten Probleme des Mediums Film sein. Mit der Dissertation war der Frage nachgegangen worden: Woher kommt das magische Welt­er­leben, und wie funktioniert es im Menschen und mit dem Medium Film? Die Frage, die sich heute stellt, lautet: Wohin führt das Zusammenwirken von magischem Welt­er­leben und Medien die Menschen? Riedering b. Rosenheim, Oktober 2014

289

Metabasis – Transkriptionen zwischen Literaturen, Künsten und Medien Jan Distelmeyer, Lisa Andergassen, Nora Johanna Werdich (Hg.) Raumdeutung Zur Wiederkehr des 3D-Films 2012, 178 Seiten, kart., zahlr. Abb., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1815-0

Arthur Engelbert Global Images Eine Studie zur Praxis der Bilder. Mit einem Glossar zu Bildbegriffen 2011, 216 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1687-3

Gertrud Lehnert (Hg.) Raum und Gefühl Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung 2011, 368 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1404-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2015-01-05 11-39-51 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03e3386859632654|(S.

1-

3) ANZ3003.p 386859632662

Metabasis – Transkriptionen zwischen Literaturen, Künsten und Medien Michael Mayer Tarkowskijs Gehirn Über das Kino als Ort der Konversion 2012, 266 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2070-2

Jan-H. Möller Mediale Reflexivität Beiträge zu einer negativen Medienthorie August 2014, 262 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2804-3

Jörg Sternagel, Dieter Mersch, Lisa Stertz (Hg.) Kraft der Alterität Ethische und aisthetische Dimensionen des Performativen Mai 2015, ca. 228 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2355-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2015-01-05 11-39-52 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03e3386859632654|(S.

1-

3) ANZ3003.p 386859632662

Metabasis – Transkriptionen zwischen Literaturen, Künsten und Medien Margrid Bircken, Dieter Mersch, Hans-Christian Stillmark (Hg.) Ein Riss geht durch den Autor Transmediale Inszenierungen im Werk von Peter Weiss

Martina Heßler, Dieter Mersch (Hg.) Logik des Bildlichen Zur Kritik der ikonischen Vernunft

2009, 240 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1156-4

2009, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1051-2

Judith Coffey »The Power of Love« Heteronormativität und Bürgerlichkeit in der modernen Liebesgeschichte 2013, 270 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2395-6

Stefanie Diekmann, Winfried Gerling (Hg.) Freeze Frames Zum Verhältnis von Fotografie und Film 2010, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1363-6

Brigitte Krüger, Hans-Christian Stillmark (Hg.) Mythos und Kulturtransfer Neue Figurationen in Literatur, Kunst und modernen Medien 2013, 372 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2530-1

Dagmar Venohr medium macht mode Zur Ikonotextualität der Modezeitschrift 2010, 310 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1451-0

Jan Distelmeyer, Christine Hanke, Dieter Mersch (Hg.) Game over!? Perspektiven des Computerspiels

Ulrich Ziemons Aufzeichnungen eines Storm Squatters George Kuchars »Weather Diaries«

2008, 164 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-790-5

Juni 2014, 224 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2685-8

Mira Fliescher Signaturen der Alterität Zur medialen Reflexivität der Kunst Yasumasa Morimuras 2013, 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2345-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2015-01-05 11-39-52 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03e3386859632654|(S.

1-

3) ANZ3003.p 386859632662