Das Hohelied Salomos zwischen Poesie und Erzählung: Erzähltextanalyse eines poetischen Textes. Habilitationsschrift 9783161503870, 3161503872

Das Hohelied Salomos erzählt eine Liebesgeschichte. Es steht zwischen Poesie und Erzählung. Deshalb bestimmen rezeptions

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German Pages 275 [288] Year 2010

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Widmung
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel: Fragestellung und Aufbau
2. Kapitel: Methodische Grundentscheide
2.1. Synchrone Textanalyse
2.2. Strukturanalyse
2.2.1. Paradigmatik und Syntagmatik
2.2.2. Kohärenz und Kohäsion
2.2.3. Werkimmanente Interpretation
2.3. Erzähltextanalyse eines poetischen Textes
2.3.1. Poesie und Prosa
2.3.2. Stellenwert der Schriftlichkeit
2.4. Fiktionalität der erzählten Welt
2.5. Handlung und Darstellung
3. Kapitel: Übersetzung von Hoheslied
Hoheslied 1
Hoheslied 2
Hoheslied 3
Hoheslied 4
Hoheslied 5
Hoheslied 6
Hoheslied 7
Hoheslied 8
4. Kapitel: Struktur
4.1. Gliederung durch rekurrente Elemente
4.2. Strukturindikatoren
4.2.1. Funktion und Inhalt der Beschwörungsformeln
4.2.2. Intimitätsaussage der Zugehörigkeit
4.2.3. Das Suchen des Geliebten
4.3. Provisorische Gliederung durch Strukturelemente
4.4. Leseoptionen: Linearität und Progression, Konzentrik , Zyklizität
4.4.1. Linearität und Progression
4.4.2. Entwurf einer linearen Leseweise
4.4.2.1. Erster Erzählbogen: 1,2–5,1
Makroeinheit I (1,2–2,7)
1. Szene 1,2–4: Königshof
2. Szene 1,5–6: Weinberg
3. Szene 1,7–8: Ländliche Umgebung
4. Szene 1,9–17: Am Königshof und in den Weinbergen von En-Gedi
5. Szene 2,1–7: In ländlicher Umgebung und im Weinhaus
Makroeinheit II (2,8–17)
Szene 2,8–17: Ländliche Umgebung
Makroeinheit III (3,1–5)
Szene 3,1–5: Schlafzimmer und Straße – Nächtliche Sehnsucht und Suche
Makroeinheit IV (3,6–11)
Szene 3,6–11: Hochzeitszug in der Wüste, von Jerusalem aus betrachtet
Makroeinheit V (4,1–5,1)
4.4.2.2. Zweiter Erzählbogen: 5,2–8,7
Makroeinheit VI (5,2–6,3)
1. Szene 5,2–8: Schlafzimmer und Straße – Nächtliche Sehnsucht und Suche
2. Szene 5,9–6,3: Fortsetzung der Suche nach dem Geliebten
Makroeinheit VII (6,4–7,11)
1.Szene 6,4–10: Lobpreis auf die Einzigartigkeit der Frau
2. Szene 6,11–12: Gang in den Nussgarten und zu den Wagen Amminadibs
3. Szene 7,1–11: Lagerszene und Lobpreise auf die Frau
Makroeinheit VIII (7,12–8,7)
1. Szene 7,12–14: Aufforderung sich aufs Land zu begeben
2. Szene 8,1–6a: Einladung der Frau an den Mann und Vereinigung der Liebenden
3. Szene 8,6b–7: Die Vorrangstellung der Liebe
4.4.2.3. Epilog: 8,8–14
4.4.3. Entwurf einer konzentrischen Leseweise
4.4.3.1. Entwürfe
4.4.3.2. Rahmung
4.4.4. Entwurf einer zyklischen Leseweise
4.5. Strukturentwurf
5. Kapitel: Darstellung
5.1. Zeit
5.1.1. Ordnung
5.1.1.2. Zeitpositionen der Vergangenheit und Vorvergangenheit
5.1.1.3. Zeitposition der Zukunft
5.1.1.4. Zeitposition der Gegenwart
5.1.1.5. Zeitpositionen des Erzählens
5.1.1.6. Zeitstruktur
5.1.2. Dauer
5.1.2.1. Erzähltempo
5.1.2.2. Erzähltempo und Struktur
5.1.2.3. Erzählzeit und erzählte Zeit
5.1.2.4. Szenische Darstellung und fiktive Gegenwart
5.1.3. Frequenz
5.1.3.1. Singuläre Szenen
5.1.3.2. Repetitive und singuläre Szenen
5.1.3.3. Spiegelungen
5.2. Modus
5.2.1. Distanz
5.2.2. Autonome Figurenrede und andere Modi der Rede
5.3. Stimme
5.3.1. Kommunikationsverhältnisse
5.3.2. Indirekte Leseranrede
5.4. Fokalisierung
5.4.1. Homodiegetische Fokalisierung
5.4.1.1. Interne homodiegetische Fokalisierung
5.4.1.2. Variable und multiple homodiegetische Fokalisierung
5.4.1.3. Nullfokalisierung eines homodiegetischen Erzählers
5.4.2. Heterodiegetische Fokalisierung
5.4.3. Auktorialer Interpret
5.5. Ort und Raum
5.5.1. Raumkategorien
5.5.2. Orte und Landschaften
5.5.3. Räume
5.5.3.1. Raum und Gender
5.5.3.2. Raumanalyse
1. Häuser in der Stadt
Der Königspalast
Der Schlafraum der Frau (3,1; 5,2) und das Haus der Mutter (3,4; 8,2)
2. Häuser auf dem Land
Das Zedernhaus (1,16.17)
Das Weinhaus (2,4)
Das Haus der Frau auf dem Land (2,9)
3. Das Draußen der Stadt
Nächtliche Straßen
Die Stadt als Bollwerk (8,8.9)
Die Wüste
Arbeitswelt
4. Das Draußen der ländlichen Umgebung – Kulturland und natürlicheLandschaft
Garten und Weinberg
5. Räume als Orte der Zuwendung der Liebenden
6. Das Verletzen von Raumkonventionen
5.5.3.3. Raum in der Bildwelt der Personenbeschreibungen
5.6. Figuren
6. Kapitel: Handlung
6.1. Figurenidentitäten und Travestien
6.2. Welt
6.2.1. Ereignishorizont
6.2.2. Inner- und außerfiktionale Handlung
6.2.3. Relation zur Welt des Lesers
6.3. Motivierung
6.4. Bausteine der Handlung
6.4.1. Die Überschrift
6.4.2. Eröffnung
6.4.3. Rahmen- und Binnenhandlung
6.4.4. Schluss
7. Kapitel: Ertrag und Ausblick
7.1. Exegese
7.1.1. Struktur
7.1.2. Homodiegetischer und heterodiegetischer Erzähler
7.1.2.1. Auswirkungen der durch den Erzähler eingeführten Figur Salomos auf die Interpretation
7.1.2.2. Auswirkungen der durch den Erzähler eingeführten Figur Salomos auf die Frage der Autorschaft
7.1.3. Handlungsebenen
7.1.4. Gattung
7.1.5. Gender
7.2. Methodik
7.3. Hermeneutik und Theologie
Literaturverzeichnis
Bibelstellenregister
Sachregister
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Das Hohelied Salomos zwischen Poesie und Erzählung: Erzähltextanalyse eines poetischen Textes. Habilitationsschrift
 9783161503870, 3161503872

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Forschungen zum Alten Testament Herausgegeben von Bernd Janowski (Tübingen) · Mark S. Smith (New York) Hermann Spieckermann (Göttingen)

72

Stefan Fischer

Das Hohelied Salomos zwischen Poesie und Erzählung Erzähltextanalyse eines poetischen Textes

Mohr Siebeck

Stefan Fischer, geboren 1966; Studium der evangelischen Theologie in Basel, Jerusalem, Pretoria, Pietermaritzburg, Wien; Lehrtätigkeit am Morija Theological Seminary, Lesotho; Research Associate der University of the Free State, Bloemfontein; Pfarrer der evangelisch-reformierten Kirche Basel-Stadt; Universitätsassistent PD an der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Wien; 1997 Dissertation; 2009 Habilitation.

e-ISBN PDF 978-3-16-151113-4 ISBN 978-3-16-150387-0 ISSN 0940-4155 (Forschungen zum Alten Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. d-nb.de abrufbar. © 2010 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Für Andrea Ilona

Vorwort Hoheslied ist ein faszinierendes Buch. Diese Faszination hat mich bei aller wissenschaftlichen Beschäftigung nie losgelassen, sondern tiefer in dieses Buch hineingezogen. Die Faszination beruht auf den Facetten der Liebe, die in Hoheslied zum Tragen kommen und sich zugleich dem Leser wieder entziehen. Die vorliegende Studie wurde unter dem Titel: „Hoheslied – Erzähltextanalyse eines poetischen Textes“ im Mai 2009 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien als Habilitationsschrift angenommen. Sie wurde für die Publikation geringfügig überarbeitet. Dabei habe ich gerne Anregungen aus den Gutachten aufgenommen und vereinzelt neue Literatur berücksichtigt. Der gegenüber der Habilitationsschrift geänderte Titel „Das Hohelied Salomos zwischen Poesie und Erzählung“ richtet den Fokus von der Methode auf den Text. Der performative Charakter des Textes trat im Verlauf der Struktur- und Erzähltextanalyse immer mehr hervor und zeigte bei der Verhältnisbestimmung von Erzählung und Poesie die Unzulänglichkeit der Erzähltextanalyse auf, so dass als noch zu leistende Arbeit eine performative Analyse von Hoheslied aussteht. Das soll aber nicht daran hindern, diesen Zwischenstand der Forschung zu publizieren. Die Anwendung literaturwissenschaftlicher Methoden auf alttestamentliche Texte hat im vergangenen Jahrzehnt auch im deutschsprachigen Forschungsraum eine gewisse Akzeptanz und Verbreitung gefunden. Hierzu leistet dieses Buch einen eigenständigen Beitrag. Die Habilitationsschrift hat mich während eines Jahrzehnts begleitet, anfänglich noch während meiner Lehrtätigkeit am theologischen Seminar der evangelischen Kirche von Lesotho. Von dort nahm ich sie ins Pfarramt der reformierten Kirche Basel-Stadt und in die Assistenz für Altes Testament in Wien mit. Für die aufwändige Erstellung der Gutachten und die anregende Kritik danke ich Susanne Gillmayer-Bucher, James Alfred Loader, Wilhelm Pratscher und Andreas Wagner. James Alfred Loader, der bereits mein Doktorvater war, hat mich in vielen Gesprächen, die weit über die fachliche Diskussion hinausgingen, immer wieder gedanklich angeregt und so dazu beigetragen, mich auf die jetzt vorgelegte Fragestellung zu konzentrieren.

VIII

Vorwort

Im Arbeitskreis für die Rezeption des Alten Testamentes (AKRAT) konnte ich mehrfach meine Überlegungen vorstellen. Für die Diskussionen und die Zeit zum Zuhören danke ich aus diesem Kreis besonders Alexandra Grund, Ulrike Sals, Detlev Dieckmann und Marianne Grohmann. Mit letzterer habe ich im Wiener Universitätsalltag ebenso wie mit Gerhard Karner, Fritz Schipper und Markus Öhler immer wieder angenehme kollegiale und freundschaftliche Begegnungen gehabt. In Basel war es Hans-Peter Mathys, der unermüdlich über Jahre nachfragte, wie weit ich mit meiner Arbeit sei und mir Gelegenheit bot, meine Forschungen in der Basler alttestamentlichen Sozietät vorzutragen. Die guten Bibliotheken in Basel und Wien haben meine Forschungen wesentlich erleichtert. In freundschaftlicher Verbundenheit unterstützten mich Stefan Felber und Beat Weber mit ihrem kritischen Nachfragen und anregenden Diskussionen. Auf verschiedenen Konferenzen traf ich immer wieder südafrikanische Kollegen, die ich aus meiner siebenjährigen Studien- und Lehrtätigkeit im südlichen Afrika kenne. Mit ihnen bin ich auch durch die Old Testament Society of South Africa und meinen Status als Research Associate der University of the Free State, Bloemfontein verbunden. Stellvertretend seien hier genannt: Eben Scheffler, Fanie Snyman und Jourie Le Roux. Mein Dank geht an Ulrike Swoboda und Astrid Bamberger für das Korrekturlesen und an Helene Lechner, welche die umfangreichen Formatierungsanpassungen vornahm. Den Herausgebern der Reihe „Forschungen zum Alten Testament“ Bernd Janowski, Mark S. Smith und Hermann Spieckermann sei für die Aufnahme in die Reihe gedankt, ebenso Ilse König und Henning Ziebritzki vom Verlag Mohr Siebeck für die Betreuung während der Vorbereitung der Publikation. Meine Frau, Andrea Ilona Fischer, hat manchen Abend und manchmal ganze Wochen ohne mich verbracht und so das Gemeinsame zurückgestellt und mir immer wieder den Rücken im Alltag frei gehalten. Dafür danke ich herzlich.

Wien, Juli 2010

Stefan Fischer

Inhaltsverzeichnis Vorwort ..........................................................................................................VII

1. Kapitel: Fragestellung und Aufbau ..................................................... 1 2. Kapitel: Methodische Grundentscheide ............................................ 4 2.1. Synchrone Textanalyse .............................................................................. 4 2.2. Strukturanalyse .......................................................................................... 6 2.2.1. Paradigmatik und Syntagmatik ........................................................ 6 2.2.2. Kohärenz und Kohäsion................................................................. 10 2.2.3. Werkimmanente Interpretation .......................................................11 2.3. Erzähltextanalyse eines poetischen Textes .............................................. 13 2.3.1. Poesie und Prosa ............................................................................ 13 2.3.2. Stellenwert der Schriftlichkeit ....................................................... 15 2.4. Fiktionalität der erzählten Welt ............................................................... 18 2.5. Handlung und Darstellung....................................................................... 19

3. Kapitel: Übersetzung von Hoheslied ............................................... 22 4. Kapitel: Struktur .................................................................................... 39 4.1. Gliederung durch rekurrente Elemente.................................................... 39 4.2. Strukturindikatoren.................................................................................. 44 4.2.1. Funktion und Inhalt der Beschwörungsformeln ............................ 46 4.2.2. Intimitätsaussage der Zugehörigkeit .............................................. 49 4.2.3. Das Suchen des Geliebten.............................................................. 50 4.3. Provisorische Gliederung durch Strukturelemente.................................. 50 4.4. Leseoptionen............................................................................................ 54 4.4.1. Linearität und Progression ............................................................. 55 4.4.2. Entwurf einer linearen Leseweise.................................................. 56

X

Inhaltsverzeichnis

4.4.3. Entwurf einer konzentrischen Leseweise ...................................... 78 4.4.4. Entwurf einer zyklischen Leseweise.............................................. 82 4.5. Strukturentwurf........................................................................................ 83

5. Kapitel: Darstellung.............................................................................. 88 5.1. Zeit .................................................................................................... 88 5.1.1. Ordnung ......................................................................................... 90 5.1.2. Dauer ...........................................................................................112 5.1.3. Frequenz....................................................................................... 128 5.2. Modus .................................................................................................. 136 5.2.1. Distanz ......................................................................................... 138 5.2.2. Autonome Figurenrede und andere Modi der Rede..................... 141 5.3. Stimme .................................................................................................. 153 5.3.1. Kommunikationsverhältnisse....................................................... 153 5.3.2. Indirekte Leseranrede .................................................................. 157 5.4. Fokalisierung ......................................................................................... 160 5.4.1. Homodiegetische Fokalisierung .................................................. 165 5.4.2. Heterodiegetische Fokalisierung.................................................. 170 5.4.3. Auktorialer Interpret .................................................................... 172 5.5. Ort und Raum ........................................................................................ 173 5.5.1. Raumkategorien ........................................................................... 173 5.5.2. Orte und Landschaften................................................................. 181 5.5.3. Räume .......................................................................................... 187 5.6. Figuren .................................................................................................. 209

6. Kapitel: Handlung ................................................................................211 6.1. Figurenidentitäten und Travestien ......................................................... 212 6.2. Welt .................................................................................................. 216 6.2.1. Ereignishorizont........................................................................... 216 6.2.2. Inner- und außerfiktionale Handlung........................................... 218 6.2.3. Relation zur Welt des Lesers........................................................ 219 6.3. Motivierung ........................................................................................... 220 6.4. Bausteine der Handlung......................................................................... 223 6.4.1. Die Überschrift ............................................................................ 224 6.4.2. Eröffnung ..................................................................................... 226 6.4.3. Rahmen- und Binnenhandlung .................................................... 226 6.4.4. Schluss ......................................................................................... 229

Inhaltsverzeichnis

XI

7. Kapitel: Ertrag und Ausblick ........................................................ 230 7.1. Exegese.................................................................................................. 230 7.1.1. Struktur ........................................................................................ 230 7.1.2. Homodiegetischer und heterodiegetischer Erzähler .................... 232 7.1.3. Handlungsebenen......................................................................... 237 7.1.4. Gattung......................................................................................... 238 7.1.5. Gender.......................................................................................... 241 7.2. Methodik................................................................................................ 242 7.3. Hermeneutik und Theologie .................................................................. 244

Literaturverzeichnis................................................................................. 249 Bibelstellenregister .................................................................................. 265 Sachregister ............................................................................................... 273

1. Kapitel 1

Fragestellung und Aufbau Diese Monographie bietet einen Beitrag zur Exegese des Buches Hoheslied,1 welches einer Erzähltextanalyse unterzogen wird. Gemeinhin wird Hoheslied als poetischer Text wahrgenommen, so dass Methoden der Poetik zur Interpretation herangezogen werden. Deshalb bedarf die Anwendung erzähltechnischer Methoden einer methodologischen Rechtfertigung. Sie fußt auf der Beobachtung, dass Hoheslied sowohl poetische als auch narrative Abschnitte enthält und poetische und narrative Texte, wie etwa im Hiobbuch, zu einer Handlung verknüpft und doch unabhängig davon gelesen werden können. Die narrativen Anteile sind dabei für die Interpretation maßgeblich. Ob dieser Ansatz textgemäß ist, kann sich erst nach durchführung der Analyse zeigen. Die Erzähltextanalyse erfolgt im Anschluss an Genette2 und Martinez/Scheffel3. Im Fokus steht die Bestimmung von Darstellung und Handlung. Dazu wird zuerst eine Strukturanalyse durchgeführt, da eine zusammenhängende Struktur als Voraussetzung für die Darstellung einer übergreifenden Handlung gesehen wird. Der Darstellung wird unter den Fragestellungen nach Zeit, Modus, Stimme, Fokalisierung sowie Ort, Raum und Figuren nachgegangen. Nachdem die Handlung durch die Figurenidentitäten, die Lebenswelt und Motivierung erschlossen wird, werden die Bausteine der Handlung ermittelt, auf denen die Handlungsoptionen beruhen. Schließlich wird nach dem Ertrag der Analyse für die Exegese, Methodik, Hermeneutik und Theologie gefragt. Im Verlauf der Analyse wird geklärt, wie bereits durch die Struktur unterschiedlichen Texten eine Schlüsselfunktion für die Interpretation zukommt. Um den narratologischen Gehalt der Informationsstruktur zu bestimmen, wird auf Erkenntnisse zurückgegriffen, die im Formalismus und 1

Für den Titel gibt es im Deutschen verschiedene Bezeichnungen. Eingebürgert hat sich Das Hohelied [Salomos], welches dem Kasus angepasst und gelegentlich mit dem Hohelied der Liebe (1 Kor 13) verwechselt wird. Um beides zu vermeiden und einem veralteten Sprachgebrauch entgegen zu wirken, verwende ich die Bezeichnung Hoheslied. 2 GENETTE 1998. 3 MARTINEZ/SCHEFFEL 2003.

2

1. Fragestellung und Aufbau

Strukturalismus entwickelt wurden. Im Anschluss an die Zwei-AchsenTheorie von Jakobson4 wird das Verhältnis von Paradigmatik und Syntagmatik, sowie Kohärenz und Kohäsion herangezogen. Das Ergebnis der Strukturanalyse sei hier vorweggenommen, da es für die Erzähltextanalyse wichtig ist. Die Struktur von Hoheslied ist komplex. Sie lässt sich nicht auf ein einfaches lineares oder konzentrisches Schema reduzieren. Sie ist sowohl fortlaufend, also linear, als auch auf ein Zentrum hin, also konzentrisch, angelegt. Dieses strukturale Zentrum ist zugleich Höhepunkt des ersten Erzählbogens bei linearer Leseweise. Bei linearer Leseweise kommt es zu einem offenen Schluss, der Anfang und Ende miteinander verbindet und zu mehrfachem Lesen des Textes einlädt. Zudem gibt es eine Leseweise mit mehreren inneren Zyklen, die mit der linearen und der konzentrischen Leseweise in ein üperlappendes Verhältnis gesetzt werden kann. Diese strukturalen Erkenntnisse werfen die Frage nach einer übergreifenden Handlung auf. Eine Erzähltextanalyse beinhaltet die Frage nach einer einheitlichen Handlung. Der Verfasser ging lange davon aus, dass sich durch die Bestimmung der übergreifenden Struktur und die Erzähltextanalyse die einheitliche Darstellung eines Plots aufzeigen lasse, aus dem sich die spezifische Ausgestaltung der Story ergäbe. Anstelle eines Titels wie Hoheslied als Erzählung wurde für die Habilitationsschrift der Titel Erzähltextanalyse eines poetischen Textes gewählt und dieser nun neu als Das Hohelied Salomos zwischen Poesie und Erzählung formuliert. Dieses lässt bereits erahnen, dass die Annahme einer einheitlichen Handlung revidiert wurde und die Spannung zwischen Erzähltext und Poesie bedeutend wurde. An ihr zeigt sich, dass sich zwar Bausteine einer Liebesgeschichte herausstellen lassen, die nicht nur episodischen Charakter haben, aber in ihren wechselseitigen Bezügen zu mehreren möglichen Handlungen führen. Dadurch kommt neben den Wirksignalen des Textes der Leser5 als Empfänger in den Blick. Die reflektierten oder nicht reflektierten Vorentscheide des Lesers fließen in die Ausgangs- und Erwartungshaltung gegenüber dem Text ein und bestimmen die Interpretation.6 Die eingenommene Leseweise und die damit verbundene Sinnkonstruktion wird zu einem einigenden Prinzip der Interpretation. Sie kann dazu führen im Text eine übergreifende Handlung zu finden. Die Erzähltextanalyse soll Signale des Textes aufzeigen, die beim Leser unterschiedliche Interpretationen auslösen können. Die Vielfalt von Handlungsoptionen verlangt danach, Hoheslied mit den Methoden der Er4

Cf. J AKOBSON 1960. Wenn die maskuline Form verwendet wird, so ist die feminine implizit. 6 Eine ausführliche Darstellung der hauptsächlichen Theorien zur Interpretation von Hoheslied bietet RIEKERT 1983. 5

1. Fragestellung und Aufbau

3

zähltextanalyse zu bearbeiten, um aufzuzeigen, wo sie, da sie nicht beliebig sind, durch die Syntagmatik und wo durch die Paradigmatik bestimmt werden. Da die verschiedenen Textelemente unterschiedlich miteinander verbunden werden können und die Erzähltextanalyse den Text mit unterschiedlichen Fragestellungen analysiert, kommt es in dieser Abhandlung zwangsläufig zu wiederholter Aufnahme und Beschreibung gleicher Textpassagen, um die oben angeführten verschiedenen Blickwinkel auf den Text und seine Leseweisen zu verdeutlichen. Daran wird bereits deutlich, dass die verschiedenen Blickwinkel, die im Verlauf der Analyse auf den Text geworfen werden, ihr wesentlicher exegetischer Ertrag sind. Dass die Interpretation nicht nur durch den Text bestimmt wird, sondern der Rezipient von seiner Weltsicht und der Lebensgemeinschaft, in der er steht, beeinflusst wird und sich in einen hermeneutischen Zirkel begibt, ist offensichtlich. Die Analyse bezieht sich auf den vorliegenden Text nach der BHQ. Dabei wird zwar prinzipiell dem vokalisierten Text gefolgt, da aber der konsonantische Prätext älter als der vokalisierte Text ist, wird gelegentlich vom vokalisierten Text abgewichen, wo dieses sinnvoll erscheint. Dadurch wird letztlich ein neuer, erst im Prozess der Übersetzung zugrunde gelegter hebräischer Text geschaffen, der, wenn auch nur geringfügig, vom masoretischen Text abweicht und auch von Erwägungen der Rückübersetzung aus der LXX beeinflusst wurde. Dennoch wird prinzipiell ein synchroner Ansatz gewählt, da verschiedene Überlieferungs- und Redaktionsstufen nicht analysiert und einbezogen werden. Der Einbezug verschiedener Überlieferungs- und Redaktionsstufen ließe keine weiteren methodischen Erkenntnisse in Bezug auf die Erzählung erwarten, sondern würde lediglich die Möglichkeiten der Interpretation erhöhen. Prinzipiell kann aber eine synchrone Interpretation auf jeder diachron ermittelten redaktionellen Stufe durchgeführt werden. Diese methodische Begrenzung führt gelegentlich dazu, dass in der synchronen Interpretation Spannungen offensichtlich werden, welche Hinweis auf den redaktionellen Prozess geben.7 Auch wird darauf verzichtet einen Überblick über die Forschungs- und Interpretationsgeschichte von Hoheslied zu geben, da diese in den einschlägigen Kommentaren und Monografien schon mehrfach geschehen ist.

7

So etwa der Wüstenzug in 3,6–11, welcher zwar durch die Wiederaufnahme in 8,5a Teil der Struktur ist, aber durch Wortwahl und Thema hervorsticht. Desweiteren siehe unter 2.1. Synchrone Textanalyse.

2. Kapitel 2

Methodische Grundentscheide 2.1. Synchrone Textanalyse 2.1. Synchrone Textanalyse

Die Erzähltextanalyse zählt zu den synchronen Textinterpretationen. Sie steht in ergänzender Spannung, aber nicht in einem prinzipiellen Widerspruch zum diachronen Ansatz historisch-kritischer Methode.1 In jener ist alttestamentliche Exegese „das Bemühen um die historische, wissenschaftlich ausgewiesene Sinnbestimmung von Texten“2. Sie beschränkt sich auf die „historische Sinnbestimmung des Textes [...] innerhalb des alttestamentlichen Überlieferungsbereichs“. Sie zielt darauf, den „Aufweis des ursprünglichen Textsinnes“ zu erbringen und sieht sich als „Anwalt des ursprünglichen Textsinnes“3. Diese fußt auf einem objektivistischen Wirklichkeitsverständnis, welches im Zeichen eines Wissenschaftsverständnisses des 19. Jahrhunderts steht. So wie von Ranke der Geschichtswissenschaft die Aufgabe zuerkannte, zu „zeigen, wie es eigentlich gewesen“4 ist, so soll die Exegese einen eigentlichen und ursprünglichen Textsinn herausarbeiten.5 Das hier vorliegende Verständnis von Objektivität berücksichtigt dabei jedoch nicht, dass es den Text aus dem kommunikatorischen Prozess löst, als ob dieser unabhängig vom gegenwärtigen Empfänger sei. Auch wenn diese extreme Position durch die Unterscheidung von Werturteil und Wertbeziehung längst relativiert wurde6 und anerkannt ist, dass es keine wertfreie Analyse gibt, da jeder Exeget seine Kriterien der Wertung in die Entscheidungen mit hineinträgt, so wird dieses nur allzu leicht nicht berücksichtigt und der Exeget verwechselt „die Logik der 1 Cf. B ECKER 2005:42–49; UTZSCHNEIDER/NITSCHE 2001:17–21. Grundsätzlich fasst GROHMANN 2000:157 zusammen: „Eine sinnvolle Ergänzungsmöglichkeit für die Defizite historisch-kritischer Forschung erscheint mir die Aufnahme literarischer Hermeneutik.“ 2 STECK 1989:3. 3 STECK 1989:4. 4 VON RANKE 1874:VII. 5 Zur Position Rankes in der Auseinandersetzung zwischen dem Postulat der Unparteilichkeit und der Standortgebundenheit historischer Erkenntnis cf. EMICH 2006:73–81. 6 Cf. WEBER 1991 [1904]:49.

2.1. Synchrone Textanalyse

5

Historie mit der semantischen Isotopie des Textes“7. Wenn in der historisch-kritischen Exegese der ursprüngliche Textsinn aufgezeigt werden soll, so weist ursprünglich auf die Zeitgebundenheit der Vermittlung hin und rückt die Geschichte als Problemfeld ins Blickfeld. Doch bereits aus der Geschichte ergibt sich eine Relativierung der Ergebnisse, da historische Rahmenbedingungen an sich nicht objektiv erfasst werden können. Es ist illusorisch zu meinen, einen vollständigen Verlauf mit einem Anfang und definitiven Ende erfassen zu können.8 Deshalb bezieht eine synchrone Textinterpretation rezeptionsästhetisch den kommunikativen Prozess ein und legt über ihn Rechenschaft ab, so dass sowohl das Element der Vermittlung als auch der Empfänger berücksichtigt wird. Spannungen innerhalb einer Komposition können sowohl synchrone als auch diachrone – etwa redaktionsgeschichtliche – Ursachen haben. Ein synchroner Ansatz kann im Rahmen der Ergebnisse historisch-kritischer, diachroner Exegese verwendet werden. Bei einer synchronen Leseweise werden die Spannungen und Brüche als Bedeutungsträger relevant. In der Redaktions- und Literarkritik dienen sie dazu, verschiedene Schichten und Quellen zu unterscheiden. Dabei ergeben sich immer wieder neue Stufen der Gleichzeitigkeit, wenn eine Vorstufe eines biblischen Textes ermittelt wird. Insofern sind beide Ansätze komplementär und können sich gegenseitig befruchten. Denn auch umgekehrt gilt, dass eine literarkritische Analyse eines Einzeltextes, wenn sie diesen als sekundäre Ergänzung erkennt, Auswirkungen auf die Anlage der Gesamtstruktur hat und z.B. fehlende Symmetrie erklären kann. In den vergangenen Jahren haben Methoden zeitgenössischer Literaturwissenschaft zunehmend Eingang in die alt- und neutestamentliche Exegese gefunden und damit den Zugang zum Text erweitert. Im deutschsprachigen Raum gab der Bonner Arbeitskreis Theologie und Linguistik ab 1970 unter Erhard Güttgemanns eine interdisziplinäre Zeitschrift für Theologie und Linguistik Linguistica Biblica heraus. Diese führte in der deutschsprachigen Bibelwissenschaft ein Schattendasein und wurde 1993 eingestellt.9 Im angelsächsischen Raum kam es 1974, auch angeregt durch 7

GÜTTGEMANNS 1972b:14. Cf. J AUSS 1970:219–220. 9 In Linguistica Biblica kommen zwei Wurzeln zum Tragen, welche die Exegese maßgeblich beeinflussten, nämlich der russisch-slavische Strukturalismus (Bachtin, Lotman, Jakobson), welcher z.T. mit marxistischen Gedankengut angereichert und durchsetzt ist, und die Hermeneutik der Konstanzer Schule (Iser, Jauß) samt ihren Vorläufern (Hamburger). Güttgemanns wurde neben der Komplexheit seines Systems und der schwer zugänglichen Sprache auch wegen der theologisch-politischen Haltung ins Abseits geschoben, so etwa durch GREENWOOD 1985:87, der nicht die linguistische Methode kritisiert, sondern dogmatisch postuliert, dass dieses säkulare System dem Wort Gottes nicht angemessen sei: „The basic problem, then, is, whether any portion of the word of God can 8

6

2. Methodische Grundentscheide

die Entwicklungen in Deutschland, zu einer ausführlichen hermeneutischen Reflexion in der Zeitschrift Semeia: an experimental journal for biblical criticism.10 Nachhaltigere Wirkung hatten im deutschen Sprachraum die Ansätze einer Exegese als Literaturwissenschaft von Richter11, der letztlich die sprachwissenschaftlichen Fragestellungen in den historisch-kritischen Ansatz einordnet sowie die textpragmatische Literaturwissenschaft wie sie Hardmeier12 als Alternative zur historisch-kritischen Methode entwickelt. Insbesondere in der Analyse von Erzähltexten kam es im angelsächsischen Raum zu mehreren Monografien.13 Dadurch angeregt wurde die literaturwissenschaftliche Diskussion in der deutschsprachigen alttestamentlichen Exegese wieder aufgenommen und führte zu vereinzelten Monographien mit spezifischen Fragestellungen.14 Diese finden unterdessen als komplementärer Ansatz Akzeptanz und haben durch das Lehrbuch von Utzschneider und Nitsche15 Eingang in die universitäre Exegese gefunden. Bisher wurden in der alttestamentlichen Forschung vor allem Erzähltexte mit neueren literaturwissenschaftlichen Methoden bearbeitet und die Methodologie daran weiter entwickelt. Die Bearbeitung poetischer Texte erfolgte erst ansatzweise. Hier könnte Hoheslied, in welchem sich poetische und prosaische Textanteile finden, eine Brückenfunktion zukommen.

2.2. Strukturanalyse 2.2. Strukturanalyse

2.2.1. Paradigmatik und Syntagmatik De Saussure16 stellt fest, dass ein sprachliches Zeichen nicht einen Namen und eine Sache vereinigt, sondern eine Vorstellung und den psychischen Eindruck, nämlich das innere Bild eines Lautes, das Lautbild. Diese Vorstellung benennt die Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens. De Saussure properly be analyzed exclusevely under the control of a linguistic methodology being operated almost in vacou.“ 10 Seit 2002 erscheint sie unter dem Namen Semeia studies. 11 R ICHTER 1971. 12 HARDMEIER 1978, 2003, 2004. 13 B AR–EFRAT 1979. Die hebräische Originalausgabe von 1979 wurde 1989 ins Englische und 2006 ins Deutsche übersetzt und jeweils aktualisiert. Diese langen Abstände entsprechen der nur schleppenden Verbreitung der Ansätze im englischen und deutschen Sprachraum. Außerdem: F ISHBANE 1985; B ERLIN 1983; SKA 1990. 14 Strukturalismus: W EBER 1995; Sprechaktanalyse: WAGNER 1997, W ELKE-HOLTMANN 2004; Narratologie: M ÜLLNER 1997, B. SCHMITZ 2008; Textstrategie: K ÖHLMOOS 1999; Rezeptionsästhetik: ERBELE-KÜSTER 2001. 15 UTZSCHNEIDER/NITSCHE 2001. 16 Cf. DE SAUSSURE 2001:78.

2.2. Strukturanalyse

7

nennt diese das Signifikat bzw. das Bezeichnete. Das Lautbild ist die Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens, welche er den Signifikanten bzw. das Bezeichnende nennt. Beide zusammen bilden das Zeichen. Dabei kommt der Schrift die Funktion zu, die Sprache darzustellen.17 Derrida zeigt auf, dass de Saussures Vorstellung dekonstruierbar ist. Da die Bedeutung eines Wortes von jedem Leser unterschiedlich aufgefasst wird und sich auch im Verlauf der Zeit verändert, ist es letztlich nicht möglich vom Signifikanten auf das Signifikat zu schließen. Es bleibt immer eine Differenz von Schrift und Sprache bestehen: „Es muss ein transzendentales Signifikat geben, damit so etwas wie eine absolute und 18 irreduzible Differenz zwischen Signifikat und Signifikant zustande kommt.“

Die Dichotomie von Syntagmatik und Paradigmatik wird von de Saussure in die Sprachwissenschaften eingeführt. Die einzelnen sprachlichen Zeichen stehen als Glieder eines Textes untereinander in Beziehung. Sie werden durch lineare Abfolge aneinander gereiht und bilden Syntagmen, bei denen jedes Glied seinen Wert durch die vorausgehenden und nachfolgenden Glieder erhält. Andererseits entstehen Netzwerke von Bedeutung durch die assoziativen Beziehungen der Sprache, bei denen die Motivation eines Wortes und die Gedächtnisleistung des Lesers maßgeblich sind.19 Der Leser vollbringt einen kreativen Akt, indem er nicht nur Erinnerungen hervorruft, sondern neue Verbindungen durch Sprachelemente schafft.20 Die Assoziationen beruhen auf der Semiotik der Ähnlichkeit. Sie äußern sich als morphologische Gleichartigkeit und proportionale Analogie und können verschiedene Formen der Substitution annehmen, die innerhalb einer literarischen Tradition verwendet werden.21 Den Doppelcharakter der Sprache, der Interaktion von Syntagmatik und Paradigmatik, vertieft Jakobson22 in seiner Zwei-Achsen-Theorie. Er stellt Assoziation, Poetik und Paradigmatik in einen kausalen Zusammenhang mit der Syntagmatik:

17

Cf. DE SAUSSURE 2001:28. DERRIDA 1974:38. 19 Cf. DE SAUSSURE 2001:147–159. Die Relevanz der Assoziation in der Textinterpretation, wie sie sich aus den Theorien von DE SAUSSURE 1916 [2001] und B ÜHLER 1934 in Verknüpfung mit dem Kommunikationsmodell von J AKOBSON 1960 ergibt, habe ich für Hoheslied exemplarisch am Begriff Kuss dargestellt. Cf. S. FISCHER 2005. 20 Hier schließt sich Noam CHOMSKY 1957 an, der eine Grammatiktheorie entwirft, die aus begrenzten Symbolen und Regeln eine unendliche Möglichkeit von Kombinationen aufzeigt. 21 Cf. ECO 1996:52. 22 Cf. J AKOBSON 1960. 18

8

2. Methodische Grundentscheide

„The poetic function projects the principle of equivalence from the axis of selection into 23 the axis of combination.“

Demnach werden die Signale eines Textes, falls sie nicht bereits auf der syntagmatischen Ebene sind, von der paradigmatischen Vertikale auf die syntagmatische Horizontale gebracht. Die Wirksignale des Textes unterscheiden sich also dadurch, dass die einen schon auf der syntagmatischen Ebene sind und die anderen noch nicht. Damit üben sie eine unterschiedliche Funktion aus. Da Wirksignale auf der syntagmatischen Ebene eindeutiger sind, haben sie in Bezug auf den Leser eine stärker direktive Wirkung, so dass sie im Unterschied zu den paradigmatischen Wirksignalen als Direktivsignale bezeichnet werden können. Unter dem Aspekt der Referentialität können Syntagmatik und Paradigmatik auch als Prosa und Poesie unterschieden werden, wobei die Prosa von der Kontiguität der gleichen semantischen Ebene getragen ist. Jedoch ist diese Begrifflichkeit missverständlich, da Poesie häufig im Unterschied zur Prosa als Versdichtung mit Metrik und Rhythmik angesehen wird, so dass beide Begriffe zu übergeordneten Gattungsbegriffen werden, deren Gattungen jedoch einem Wandel unterworfen sind.24 Das Erfassen eines Textes geschieht nicht in der Aneinanderreihung von Fakten, als sei der Text ein autonomes Kunstwerk25, sondern als ein rezeptionsästhetischer Vorgang. Dazu bietet der Text Rezeptionsvorgaben,26 also die möglichen Funktionen, die der Text wahrnehmen kann, um die Rezeption zu steuern.27 Es geht also darum, die Signale des Textes zu erkennen, welche die Textstrategie und die Art der Textaneignung bestimmen. Die Textstrategie ergibt sich aus dem Verlauf des durch narrative Strukturen gegliederten Textes.28 Dabei stellt sich die Textstrategie der Problematik, dass ein Text primär linear wahrgenommen und im fortlaufenden Leseprozess erfasst wird. Im Leseprozess richtet sich der Leser nach den syntagmatisch im Text angelegten Sinnzusammenhängen aus. Zwar sollte die Struktur vor der Inter23

J AKOBSON 1960:358. So sind Epik, Lyrik und Dramatik die klassischen Gattungen der Poesie. Jedoch können Epik und Dramatik, seltener auch Lyrik, heutzutage als Prosa auftreten. 25 NAUMANN 1973:134 bezeichnet im Anschluss an Jauß die „Überwindung der Auffassung von der Autonomie des Kunstwerks“ als Hauptanliegen der Rezeptionsästhetik. 26 Die Bezeichnung stammt von Naumann und entspricht in etwa der impliziten Leserreaktion bei Iser und der Rezeptionsvorgabe bei Jauß. 27 Cf. FUNKE 2004:56. 28 Neben dem Erkennen der auf der strukturalen Ebene bezeichenbaren syntagmatischen Elemente wird der Rezeptionsprozess durch die Gattungszuordnung des Textes, die intertextuellen Bezüge und die ontologische Einschätzung als fiktionaler oder faktualer Text geprägt. 24

2.2. Strukturanalyse

9

pretation geklärt werden, aber zugleich muss eine konsistente Struktur zum Erfassen des Sinns vorausgesetzt werden, denn der Leser nimmt im Rezeptionsvorgang Konsistenz bildende Ausgleichsoperationen vor, um die Textaussagen zu integrieren.29 Die kreative Leistung des Lesers beinhaltet nicht nur das Erfassen syntagmatischer Zusammenhänge, sondern den Transfer paradigmatischer Elemente auf die Ebene der Syntagmatik und die Verknüpfung mit den bereits erfassten Syntagmen. Demnach besteht ein qualitativer Unterschied zwischen referentieller Syntagmatik (, ) und rekursiver Paradigmatik (). Dabei bezeichnet Rekursivität die Eigenschaft, die Konstituenten eines Satzes vielfältig, schier unendlich, aufeinander zu beziehen. Zeichen der Rekursivität sind Wiederholung, Gleichheit, Ähnlichkeit, Symmetrie, Kongruenz, Gegensätzlichkeit, Analogie etc.30 Beim Lesen eines Textes erstellt der Leser gedankliche Verknüpfungen. Dabei sind die Relationen, die zwischen den einzelnen Satzteilen bestehen, ebenso von Bedeutung, wie einzelne Wörter und Metaphern. Hier kommt die Bedeutung der Assoziation und damit die des kreativen Lesers im Verhältnis zum Text zum Tragen, der nicht nur Erinnerungen hervorruft, sondern neue und überraschende Kombinationen erstellt. Die beim fortlaufenden Lesen erfassten Syntagmen haben zeitliche und qualitative Priorität vor den paradigmatischen Elementen, selbst wenn bei einem poetischen Text die quantitative Dominanz paradigmatischer Textelemente überwiegt. Da narrative Textelemente syntagmatisch sind, spricht der Leser beim sinnerfassenden Lesen auf diese an. Die poetische Struktur hingegen unterstreicht die damit verbundene Paradigmatik, so dass syntagmatische Vorgabe und paradigmatische Assoziation miteinander ins Verhältnis zu setzen sind. Beide sind einander, im Anschluss an Jakobsons Zwei-AchsenTheorie, wie syntagmatische und paradigmatische Texte, in einem Koordinatensystem zugeordnet, wobei die Makroeinheiten der horizontalen und die Querbezüge der vertikalen Achse entsprechen. Im assoziativen Prozess des Erstellens paradigmatischer Strukturen werden diese von der vertikalen auf die horizontale Ebene transferiert, so dass sie mit den vorgefundenen Narrativstrukturen verknüpft werden. Syntagmatische Abschnitte31 haben in Bezug auf die Erzählung Vorrang vor paradigmatischen. Da auf der Ebene der Zeichen Wörter und Sätze 29

Cf. H. MÜLLER 1997:191. Cf. NEL 1992:140. 31 Ich verwende den Begriff Abschnitt für eine strukturale Einheit, die jedoch auch durch das Textthema ermittelt wird. Abschnitte können unverbunden sein oder Teil einer Makroeinheit. Die Untereinheit des Abschnittes ist die Sequenz, die sich wiederum aus einzelnen Versen zusammensetzt. Dort, wo es sich um poetische Texte handelt, können 30

10

2. Methodische Grundentscheide

unterschiedlich motiviert sein können, führt die Syntagmatik zu satzübergreifenden Textsequenzen und damit zu logischen Verknüpfungen. Die poetischen Texte innerhalb von Hoheslied sind rekursiv und weniger eindeutig. Insofern sind für eine Erzählung die syntagmatischen Anteile maßgeblich, obwohl eine Unterscheidung zwischen poetischen und prosaischen Anteilen keine absolute, sondern nur eine relative sein kann, da die logischen Verknüpfungen nicht unabhängig vom Leser entstehen und auch poetische Texte eine narrative Dimension entfalten können. Diese Voraussetzungen der Interpretation verneinen von Anfang an eine eindeutige, verbindliche Interpretation von Hoheslied.32 Sie zeigen jedoch Interpretationsmöglichkeiten auf, die nicht willkürlich sind. Die Paradigmatik von Hoheslied eröffnet den Horizont der Vielfalt von Interpretationen. Diese werden jedoch durch die Syntagmatik begrenzt. Wo diese nicht beachtet wird, kommt es zur willkürlichen Interpretation. 2.2.2. Kohärenz und Kohäsion Kohärenz und Kohäsion verhalten sich zueinander wie Handlung und Darstellung einer Erzählung. Unter Kohäsion wird die „explizit materiell kodierte Verknüpfung von Sätzen“33 verstanden. Die Kohäsion erfasst die Oberflächenstruktur und wird, was Hoheslied betrifft, unterschiedlich beurteilt. Es zeichnen sich für die Struktur zwei Grundpositionen ab, welche die Leseweise nachhaltig beeinflussen. Auf der einen Seite wird Hoheslied als eine Sammlung von durch Stichwortverbindungen, als losem Ordnungskriterium, zusammengehaltenen Gedichten und anderen kurzen Texten, die im Zusammenhang mit der Person Salomos oder dem Themenfeld der Liebe stehen, angesehen.34 Wegen mangelnder Kohäsion wird Hoheslied zur Anthologie. Auf der anderen Seite wird Hoheslied als ein struktu-

dafür auch Strophe und Stanze verwendet werden. Zeitliche Einheiten werden als Segmente bezeichnet. Satzinhalte eines Textthemas werden als Proposition bzw. Makroproposition bezeichnet. Da Hoheslied wechselnde Dialoge und häufig wechselnde Orte hat, spreche ich stattdessen von Szenen mit dramaturgischem Gehalt. Eine Szene zeichnet sich neben der Einheitlichkeit des Textthemas durch Kontinuität von Ort und Zeit aus. 32 „Bedeutungen literarischer Texte werden überhaupt erst im Lesevorgang generiert; sie sind das Produkt einer Interaktion von Text und Leser und keine im Text versteckten Größen, die aufzuspüren allein der Interpretation vorbehalten bleibt. Generiert der Leser die Bedeutung eines Textes, so ist es nur zwangsläufig, wenn diese in einer je individuellen Gestalt erscheint.“ (ISER 1970:7). 33 COSERIU 1994:235 Anm. 17. 34 Cf. AUDET 1955; P OPE 1977:40–54; KRINETZKI 1980; FALK 1982; KEEL 1986; G ILLINGHAM 1994; SEYBOLD 1999; ZAKOVITCH 2004 u.v.a.

2.2. Strukturanalyse

11

rierter Text, dem ein übergreifendes Ordnungsschema35 zu Grunde liegt, aufgefasst. Dieses Ordnungsschema beruht vornehmlich auf der Rekurrenz von Phrasen. Sie dienen als Strukturindikatoren, indem sie zur Begrenzung der Sequenzen und zur Bestimmung der Aufeinanderbezogenheit herangezogen werden. Die Kohäsion des Textes führt jedoch nicht zwingend zur Kohärenz. Eine kohärente Handlung verlangt nach einer narrativen Abfolge. Dazu müssen neben der Rekurrenz von Stichwörtern weitere Kohäsionsmerkmale hinzutreten. Zu diesen Kontinuitätssignalen zählen satzübergreifende Textsequenzen mit zeitlicher Kontinuität, Kausalität und Pronominalisierung.36 Die Kohärenz des Textes erschließt sich im Leseprozess. Hinter einer strukturellen Einheitlichkeit steht eine individualistisch-kombinatorische Haltung der Textverknüpfung. Die auf Kohärenz ausgerichteten Interpretationen postulieren einen übergreifenden Zusammenhang und leiten daraus eine Handlung ab. Diese wird auch in den dramatischen Interpretationen von Hoheslied angenommen. Sie wird dort jedoch neben der Syntagmatik des Textes stark durch die Gattungszuordnung und der auf einem Handlungsschema des Lesers beruhenden Assoziativkraft erstellt. Eine Analyse von Hoheslied als Erzähltext untersucht die Kohäsion des Textes und den Modus der Darstellung auf seine Mittelbarkeit hin. Kohäsion kann im narrativen wie im dramatischen Modus gegeben sein. Eine auf Kohäsion und Kohärenz ausgerichtete literale Interpretation muss den Modus von Hoheslied klären. Der Modus der Darstellung kann mittelbar oder unmittelbar sein oder eine Zwischenstellung einnehmen. So sind etwa dramatische Interpretationen unmittelbar, denn der zitierten Rede kommt höhere Bedeutung zu als der erzählten Rede. Hingegen ist die erzählte Rede durch ihren narrativen Modus mittelbar. 2.2.3. Werkimmanente Interpretation Bei der Erzähltextanalyse handelt es sich um eine werkimmanente Interpretation. Die Methode dieser Interpretation und damit auch die Füllung des Begriffs hat einen Wandel vollzogen, und zwar von einem auf dem Gefühl beruhenden Zugang zu einer analytischen Methode, welche den „Bauformen des Erzählens“37 und nachgeht und die Ordnungsprinzipien der Strukturen anwendet.

35

Cf. ANGÉNIEUX 1965.1966.1968; EXUM 1973; MURPHY 1979; SHEA 1980; STER 1982; B URDEN 1987; LANDY 1983.1987.2001; E LLIOTT 1989; DORSEY W ENDLAND 1995; STEINBERG 2002; 2006; DAVIDSON 2003. 36 Cf. HARDMEIER 2003:64. 37 So der Titel des Buches von LÄMMERT 1955.

WEB1990;

12

2. Methodische Grundentscheide

Erstere sieht den unmittelbaren Eindruck als das Entscheidende an. Staiger fasst es in dem Satz zusammen: „Daß wir begreifen, was uns ergreift, das ist das eigentliche Ziel der Literaturwissenschaft.“38

Dieses Ergriffensein von einem Text legt das subjektive Gefühl des Lesers zu Grunde und wird zum Ausgangspunkt der Beschäftigung und leitet das Erkenntnisinteresse. Die werkimmanente Exegese wertschätzt den Text „als in sich geschlossenes sprachliches Gefüge“39, öffnet sich aber zugleich auf eine rezeptionsästhetische Interpretation hin, da der Leser innerhalb des fiktionalen Textes seine eigene fiktionale Rolle aufbaut.40 Dabei kommt es zu einer Nichtunterscheidbarkeit von Innen- und Außenwelt, von Subjektivem und Objektivem, wie sie für lyrische Texte typisch ist.41 Diese Verschmelzung von Innen- und Außenwelt gewährt zwar einerseits eine Nähe zum Text, beeinträchtigt aber andererseits eine textgemäße Interpretation, da der Verstehensprozess auf einen psychischen Mechanismus reduziert wird, welcher dem eigenen Meinen entspricht. Auch neigt er zur Textverfälschung durch Paraphrasierung.42 Die werkimmanente Interpretation darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der Literatur keine beziehungslose Aussage an sich gibt. Sie darf deshalb nicht zu einer scheinbar ahistorischen Begegnung mit dem Text führen. Ein Text ist immer geprägt von den Erfahrungen und Vorstellungen des Verfassers, die in einem historischen Kontext entstehen. Alle Aussagen geschehen in einer Sprache mit ihrer Begrenztheit und den in ihr liegenden Möglichkeiten. Deshalb sind die Erwägungen Heideggers in Erinnerung zu rufen, dass das menschliche Verstehen stets Entwurfcharakter hat, welches durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff bestimmt wird. Es ist anzustreben das Ganze eines Themas in die Vorhabe, im Hinblick auf ein Werk, einzubringen. Dabei ist das Thema mit Vorsicht zu fassen, da die Vorgabe der Begrifflichkeit das Erkenntnisinteresse steuert und das Verstehen der Vorhabe folgt. Es geht also nicht darum, aus dem hermeneutischen Zirkel des Verstehens herauszukommen, sondern „in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen“43.

38

STAIGER 1939:13. KAYSER 1948:5. 40 Cf. H. MÜLLER 1997:197. 41 „Wenn lyrische Dichtung nicht objektiv ist, so darf sie darum doch nicht subjektiv heißen. Und wenn sie nicht Außenwelt darstellt, stellt sie dennoch auch keine Innenwelt dar. Sondern „innen“ und „außen“, „subjektiv“ und „objektiv“ sind in der lyrischen Poesie überhaupt nicht geschieden.“ (STAIGER 1946:44–45). 42 Cf. SCHULTE-SASSE 1997:29–40. 43 HEIDEGGER 1927:§31. 39

2.3. Erzähltextanalyse eines poetischen Textes

13

Die Notwendigkeit wird auch mit Blick auf Hoheslied unmittelbar verständlich. Sprache und Thema von Hoheslied eröffnen eine Welt vergangener Zeiten, die eine unmittelbare Ausstrahlung auf den Leser ausübt. Die Vertrautheit des ewigen Themas der Liebe und die Andersartigkeit der Lebenswelt und Sprache bewirken Fremdheit und Faszination, Anziehungskraft und Unverständlichkeit zugleich. Sie üben eine starke Projektionsund Assoziationskraft auf den Leser aus, so dass diese Form der werkimmanenten Interpretation bei einer anthologischen Interpretation nahe liegend ist. Von hier zu einem Zugang von Hoheslied zu gelangen, der es methodisch reflektiert, analysiert und zugleich den Eigenwert des Textes bewahrt, ist die Aufgabe einer werkimmanenten Interpretation.

2.3. Erzähltextanalyse eines poetischen Textes 2.3. Erzähltextanalyse eines poetischen Textes

2.3.1. Poesie und Prosa Im deutschsprachigen Raum wird im allgemeinen Sprachgebrauch unter Poesie Dichtkunst verstanden. Sie zielt auf die poetische Form eines Textes ab, der sich stilistisch und formal von der Prosa absetzt. Poetik ist die Lehre von der Poesie: „Ein poetischer Text liegt also offenbar dann vor, wenn nicht das Was sondern das Wie der Mitteilung im Vordergrund steht, wenn der Text nach einem bestimmten Plan harmo44 nisch gestaltet wurde.“

Wenn Hoheslied in den gängigen wissenschaftlichen Textausgaben von BHS und BHQ nicht als Fließtext, sondern in Versen abgedruckt wird, so ist ein Vorentscheid zugunsten der Poesie getroffen worden, der von der Gattungszuordnung her gefällt wurde.45 Die masoretische Akzentsetzung übernimmt auch die Funktion der Interpunktion und nimmt eine metrische Gliederung vor. Loretz46, der um die Unsicherheit der Ergebnisse einer metrischen Analyse weiß und diese als Ausgangspunkt einer poetischen Analyse ablehnt, unterzieht Hoheslied einer stichiometrischen Analyse. Zwar führt er diese mit dem Ziel durch, die ursprünglichen Textverhältnisse zu rekonstruieren, aber auch für die Frage nach dem Verhältnis von Poesie und Prosa sind seine Ergebnisse nützlich. Er hebt hervor, dass 134 Bikola, häufig in Verbindung mit dem parallelismus membrorum, und 24 44

COSERIU 1994:79. Dieses gilt auch für das Druckbild moderner Übersetzungen. Cf. Neue Zürcher Übersetzung; Bibel in gerechter Sprache. Noch weiter gehen metrische Übersetzungen mit für die deutsche Sprache typischem Endreim. Cf. I. STADELMAN in DELITZSCH 1875:143–161; E PSTEIN 1911:3–22. 46 Cf. LORETZ 1971:55–58. Cf. ROBERTS 2007, der stets auch die Metrik analysiert. 45

14

2. Methodische Grundentscheide

Trikola den Aufbau bestimmen. Mit dieser Methode erfasst er jedoch nicht die für die Syntagmatik eines Textes maßgeblichen Wirksignale. Denn es kann nicht darum gehen, Hoheslied in prosaische und poetische Texte einzuteilen. Auch dort, wo Bi- und Trikola vorherrschen, können diese syntagmatisch eingebunden sein. Syntagmatik ist ein Faktor der Narrativität, der sowohl mit poetischen Anteilen als auch mit einer narrativ-fortlaufenden Leserichtung in Beziehung zu setzen ist, so dass es zu einer Balance der Rezeptionsvorgaben von paradigmatischen und syntagmatischen Wirksignalen kommt. Diese Spannung schlägt sich auch in der von mir vorgelegten Übersetzung nieder, welche auch dort in Kurzversen erfolgt, wo dieses nicht durch die Stichiometrie gefordert ist. Poetische Texte haben häufig einen anderen als einen linearen Aufbau. Wiederholungen durch Parallelismen und rekursive Strukturen haben zur Folge, dass der Text andere Signale setzt, als dieses der lineare Leseprozess nahe legt. Der Leser muss den Transfer vom linearen Lesen zum Erfassen der Struktur und der sich daraus ergebenden Handlung leisten. Da hierzu eine aktive, kreative Leistung des Lesers gefordert ist, ist es offensichtlich, dass es zu unterschiedlichen Interpretationen kommt. Erzählung und Poesie unterscheiden sich durch ihre Referentialität. Bei einem poetischen Text tritt die referentielle Sprachfunktion zurück. Er ist reflexiv autoreferentiell. Er verweist auf sich selbst zurück und erschließt sich durch die sich aus der Beschäftigung mit dem Text ergebenden Assoziationen. Hier wird die poetische Funktion zur beherrschenden Funktion.47 Poetische Texte machen auf sich selbst aufmerksam, um als sprachliches Kunstwerk wahrgenommen zu werden, und haben weniger referentielle Funktion. Dieses wird noch durch die Semiotik poetischer Texte verstärkt. Ihnen sind weniger verbindende Elemente zu eigen. Sie sind prinzipiell eher paradigmatisch als syntagmatisch und bieten somit eine Vielfalt von Kombinationsmöglichkeiten, wenn der Leser sie von der paradigmatischen auf die syntagmatische Ebene transferiert. Entsprechend spielen bei „der Analyse eines poetischen Werkes [...] die außertextlichen Zusammenhänge und Beziehungen eine geringere Rolle als in der Prosa.“48 Wenn Utzschneider49 von der „Poetik der alttestamentlichen Erzählliteratur“ spricht, so löst er den Begriff von der Form des Textes, die nun auch Prosa sein kann, und verwendet den ursprünglichen Poetikbegriff, wie dieser klassisch durch Todorov50 eingeführt wurde. Die von Utzschneider verwendete Begrifflichkeit löst die enge Bindung von 47

Cf. INTERDISZIPLINÄRES FORSCHUNGSTEAM 1971:36. LOTMAN 1972:63. 49 UTZSCHNEIDER/NITSCHE 2001:124. 50 Cf. TODOROV 1971. Todorovs Sammlung von Aufsätzen der 60er Jahre trägt bezeichnenderweise den Namen Poétique de la prose. 48

2.3. Erzähltextanalyse eines poetischen Textes

15

Struktur und Inhalt auf. So wird deutlich, dass Narrativtexte auch auf sich selbst verweisen, also Literatur und nicht Geschichte sind, obwohl sie Geschichte enthalten können. Gleiches gilt für die umgekehrte Bewegung, dass es also auch eine Narrativität alttestamentlicher Poesie geben kann. Zur Entwicklung einer analytisch-funktionalen Methodik der Textanalyse haben Lämmert51, Hamburger52 und Stanzel53 wesentliche Beiträge geliefert. Genette54 als low structuralist55 entwickelte eigene Kategorien und Begriffe der Erzähltextanalyse, mit denen es möglich ist, Erzählungen differenziert zu analysieren. Diese werden in der hier vorliegenden Erzähltextanalyse zu Grunde gelegt. Für die Gestaltung einer Erzählung lassen sich vier Grundformen unterscheiden: Romanze, Satire, Komödie und Tragödie, die mit unterschiedlichen Arten der Argumentation und der Vorstrukturierung des Textes durch die Grundtropen Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie verbunden sind.56 Da Hoheslied keine Erzählung ist, aber Erzählelemente enthält, ist davon auszugehen, dass diese Grundformen und ihre Tropen prinzipiell zur Geltung kommen und die Interpretation prägen können. 2.3.2. Stellenwert der Schriftlichkeit Als Steigerungsform bringt    Lied der Lieder einen Elativ zum Ausdruck, so dass eine Übersetzung als Schönstes Gedicht bzw. Schönstes Lied nahe liegend ist. Hoheslied liegt als Text vor. Das Medium der schriftlichen Überlieferung steht in einem inhärenten Widerspruch zur Bezeichnung als    Schönstes Gedicht, welches auf eine mündliche Vortragsweise hinweist. Demnach ist der vorliegende Text auf Rezitation angelegt, sei es, dass er durch Gesang oder Sprechen und Darstellung vorgetragen wird. Beides verlangt neben dem Vortragenden nach einer Hörer- oder Zuschauerschaft. Offen bleibt, ob der Gesamtentwurf auf eine mündliche Vortragsform hin angelegt ist. Zumindest ist er dafür geeignet.57

51

LÄMMERT 1955. HAMBURGER 1968. 53 STANZEL 1995 [1979]. 54 GENETTE 1998. 55 SCHOLES 1974:157 prägte den Begriff low structuralists für Vertreter eines formalistischen Ansatzes wie Genette, Todorov, Brémont und unterschied sie von high structuralists wie Derrida oder Barthes. 56 Cf. HÄFNER 2007:76–82. 57 Indirekt bestätigen zeitgenössische Publikationen auf Tonträgern dieses, denn sie gehen über die Bibel als Hörbuch hinaus und entwerfen beim Vorlesen durch Musikunterlegung, Intonation, Sprecherwechsel und Gliederung eine Komposition, die über das reine Vorlesen hinausgeht. Z.B. S PEIDEL/M ACCALLINI 2006. 52

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2. Methodische Grundentscheide

Die hebräische Sprache trifft eine Unterscheidung zwischen   und   . Letzteres ist ein nomen unitatis, welches das einzelne Lied im Unterschied zum Kollektiv hervorhebt.58 Vom hebräischen Titel    her liegt es nahe zu fragen, ob hier die strukturelle Einheitlichkeit angelegt ist. Wenn auch diese Unterscheidung im alttestamentlichen Kanon nicht konsequent durchgehalten wird, da sich   als gebräuchliche Form für beides durchsetzte, so kann es doch darauf hinweisen, dass nicht so sehr das einzelne Lied als vielmehr die Gesamtheit59 ins Auge gefasst sein könnte. Dieses würde wiederum einen übergreifenden Zusammenhang der einzelnen Lieder beinhalten, so dass es mindestens eine thematische, möglicherweise aber auch eine strukturelle Einheitlichkeit nach sich zieht.

Dass zumindest Teile von Hoheslied zum Singen geeignet sind, zeigt sich sowohl an den zu Hoheslied vergleichbaren außerbiblischen Texten60 als auch in seiner Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte,61 denn aus Hoheslied wurden Lieder gesungen. Die Rabbinen kannten außerhalb des Verlesens oder Inkantierens im Gottesdienst das profane Singen62 in Gasthäusern: „R. ‘Akiba sagt: ‚Wer das Hohe Lied in einer Schänke trällert und es zu einer Art [profa63 nem] Lied macht, hat keinen Anteil an der zukünftigen Welt.‘“

In ähnlicher Weise kennt auch der babylonische Talmud eine mündliche Verwendung von Einzelstücken von Hoheslied, die von den Rabbinen abgelehnt wurde: 58

GK §122t. In 1 Kön 5,12 werden die tausendundfünf Lieder, die als von Salomo gedichtet erwähnt werden, als  , und zwar im kollektiven Singular, bezeichnet. 60 Es sind zwar keine Einzeltexte bekannt, die als Vorlage gedient haben, aber Bezüge werden nach Assur (N ISSINEN 1998, 2006) und Ägypten (FOX 1985) hergestellt und zwar zur Liebeslyrik und zu Liedern, die der Unterhaltung dienten. Hoheslied hat vor allem in der Motivik Anklänge an aus Ägypten stammenden Liedern. Die ägyptischen Lieder dienten zur gesellschaftlichen Unterhaltung. Die Sammlung ägyptischer Liebeslieder auf Papyrus Harris recto 500 werden als Lieder des Herzzerstreuens (sm.jb) in 4,1; 7,3; 8,4; bei FOX 1985:16.26.29) bezeichnet und die Vorträgerin wird zur Liedsängerin des Herzzerstreuens (s m .t jb) in Papyrus Chester Beatty I V 1,1; cf. FOX 1985:52.55). Hingegen weisen die assyrischen Liebeslieder von Nabu und Tašmetu ein dramatisches Design mit klar unterscheidbaren Episoden auf. Cf. NISSINEN 1998:592. 61 Die Begriffe Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte werden häufig synonym verwendet. Sie unterscheiden sich jedoch in der Quelle: „Wirkung benennt […] das vom Text bedingte, Rezeption das vom Adressaten bedingte Element der Konkretisation oder Traditionsbildung.“ (J AUSS 1973:33). 62 Über die suprasegmentalen Texteme der Betonung und Intonation gibt es Kenntnis aus späterer Zeit und zwar, sowohl durch den Gebrauch im jüdischen Gottesdienst, als auch durch den profanen Gebrauch im Volkslied. Cf. BRENNER 2000:157. Da keine Kontinuität der Überlieferung gegeben ist, handelt es sich nur um mögliche Interpretationen. 63 Tosefta Sanhedrin 12:10. 59

2.3. Erzähltextanalyse eines poetischen Textes

17

„Wer einen Vers aus [dem Buche] ‚Lied der Lieder‘ als Lied singt oder in einem Gast64 hause einen Schriftvers zur ungeeigneten Zeit vorliest, bringt Unglück über die Welt.“

Was hier geschieht, könnte an der ursprünglichen Verwendung von Einzeltexten, die in Hoheslied Eingang gefunden haben, anknüpfen. Sie wären sekundär aus dem schriftlichen Zusammenhang genommen und in eine mündliche Vortagsform rückübertragen worden. Hoheslied als vorliegender, schriftlich fixierter Text unterscheidet sich von den Einzelstücken der mündlichen Überlieferung. Als geschriebener Text ist er gebildeten Kreisen vorbehalten gewesen, die nicht nur des Lesens eines komplexen mit vielen Fremdwörtern angereicherten Textes fähig waren, sondern auch die Bildung und die Mittel hatten, einen Text schriftlich festzuhalten.65 Die mögliche Bekanntschaft mit altorientalischen Texten weist ebenfalls auf gebildete Kreise, wie etwa Weisheitslehrer, hin. Eine originäre mündliche Überlieferung einer marginalisierten Gruppe ist deshalb wenig wahrscheinlich. Lieder, die im Volk verbreitet waren, werden durch diejenigen, welche die Verschriftlichung vornahmen, gefiltert worden sein, so dass sie in der vorliegenden Form einer Neuinterpretation unterworfen worden sind. Die Bezeichnung als Lied weist sowohl auf die Gattung als auch auf die Vortragsweise hin, so wie die Narration einer Erzählung. Zum Vergleich mag auf die Ilias verwiesen werden. Sie wurde in Versform geschrieben und die Geschichte wurde im mündlichen Vortrag neu als epische Erzählung geschaffen.66 Entsprechend ist es möglich, dass Hoheslied eine Handlung erzählt bzw. besingt. Der Handlungsverlauf von Hoheslied, wie er weiter unten aufgezeigt wird,67 entspricht in groben Zügen einer Erzählung, wenn den Kriterien von Bar-Efrat68 gefolgt wird. Nach ihm „steigert sich der Handlungsverlauf von einer Ausgangssituation über eine Kette von Ereignissen zu einem zentralen Ereignis, das die Veränderung herbeiführt und anschließend über weitere Ereignisse zur Schlusssituation“69. Demnach schließt die Zuordnung von Hoheslied zur Gattung Lied nicht aus, es einer Analyse mit Methoden der Erzähltechnik zu unterziehen. In einer Erzähltextanalyse können die narrativen Elemente herausgestellt und ihre Funktion als Handlungsträger bestimmt werden.

64

bT Sanhedrin 101a. Damit trugen sie monopolistisch zur Meinungsbildung bei. Je höher das Analphabetentum in einer Gesellschaft ist, desto größer ist der Abstand der Priviligierten von der Mehrheit. Cf. FRANCO 1976:278. 66 Cf. T. A. SCHMITZ 2002:123.124. 67 Cf. Kapitel 6: Handlung. 68 B AR-EFRAT 2006. 69 B AR-EFRAT 2006:134. 65

18

2. Methodische Grundentscheide

2.4. Fiktionalität der erzählten Welt 2.4. Fiktionalität der erzählten Welt

Im angelsächsischen Bereich wird Poetik gemeinhin eher im ursprünglichen Sinn des Wortes als poetics verwendet und nicht als lyrische Dichtkunst. Sie gründet sich auf der bei Aristoteles70 vorgenommenen Unterscheidung von wirklich Geschehenem und möglichem Geschehen. Dabei steht poetics als erdichtetes, nicht reales Geschehen dem faktualen gegenüber. Poetik ist die Konstruktion einer möglichen Wirklichkeit. Diese kann sowohl offensichtlich eine neue Welt erdichten, so dass die Gesamtheit des Textes als fiktiv zu betrachten ist, als auch mimetisch an der faktualen Welt anknüpfen, so dass diese real erscheint. Wirkliche und mögliche, faktuale und fiktionale Welt unterscheiden sich demnach nicht primär durch die Darstellungsform, als ob die Darstellungsform Poesie Fiktionalität und Prosa Faktualität des Inhalts nach sich zöge, sondern dadurch, dass ein faktualer Text Authentizität beansprucht. Fiktionalität ist kein Kriterium für die Zuweisung zur Lyrik. Drama und Epik können ebenfalls fiktional sein.71 In einem fiktionalen Text haben die Ereignisse keinen Anspruch auf Authentizität. Sie können zwar textintern imaginär-authentisch sein, sind dieses aber real nicht, da Reales und Fiktives einfließen kann. Reales wird jedoch durch die Aufnahme in die Fiktion ebenfalls zu einem fiktiven Element und ist nicht mehr der faktischen Realität der Historie verpflichtet. Für die Figuren eines Textes bedeutet dieses, dass sie, selbst wenn sie als historische Persönlichkeiten bekannt sind, lediglich einen quasi-historischen Status innehaben können. Sie stellen die Konstruktion einer möglichen Person dar. Ein fiktionaler Text ist, auch wenn er in einer realen Welt spielt, nicht mehr der Historizität verpflichtet. Wenn historische und fiktive Figuren in der gleichen Welt auftreten, so kann diese nur eine fiktive Welt sein. Folglich sind auch die Situationen, Handlungen, Handlungszeiten und der Raum fiktiv, selbst wenn historische Ereignisse oder sogar Quellen einfließen.72 Ihre Inhalte sind fiktiv, selbst wenn sie der faktualen Welt nachgebildet werden. Wenn Ereignisse und Figuren in imaginäre Kommunikationssituationen gestellt werden, können sie keine reale, sondern nur imaginäre Authentizität erlangen. Sie dienen der ästhetischen Illusionsbildung73 und bilden eine literarische Wirklichkeit ab, die ohne 70

Cf. ARISTOTELES 1994:§1451b. HEMPFER 1973:173 hebt hervor, dass sich die Fiktion am Aussageobjekt festmacht. Er widerspricht damit Hamburger, welche das Aussagesubjekt heranzieht und die Lyrik ausschließt, weil dort das Ausgesagte keiner fiktiven Person zugeordnet werden kann. 72 Cf. SCHMID 2005:44–45. Hier setzt das diachron ausgerichtete historisch-kritische Forschungsinteresse an. 73 Cf. MARTINEZ/SCHEFFEL 2003:21. 71

2.5. Handlung und Darstellung

19

Wirklichkeit vorzutäuschen „sich als erdachte Vorstellungswelt von faktischer Realität abhebt“74. In der Antike werden nicht nur faktuale und fiktionale Texte unterschieden sondern drei Kategorien. Sie werden nach ihrem Wahrheitsgehalt differenziert: Erstens die fabula, zu der der Mythos zu zählen ist, der nicht wahr oder wahrscheinlich ist, zweitens die historia, welche wahre Ereignisse res verae erzählt und drittens das argumentum res fictae bzw.      , also Erzählungen, die, obwohl sie nicht wahr sind, sich doch so zugetragen haben könnten, also wahrscheinlich sind.75 Die dritte Kategorie kann in einem Text wichtig werden, der auf die Überlieferung einer aus der Historie bekannten Person und auf mit ihr verbundene Überlieferungen von historischen Bezügen (res factae) zurückgreift und diese in eine durch erzählerische Kohärenz neu entworfene Geschichte einfügt. Dadurch dominiert die Fiktion über das Faktum und die historische Referentialität wird nur noch zu einem literarischen Bezugspunkt. Auf Fiktionalität lässt sich durch Textsignale schließen. Jedoch sind weder die Absicht des Autors noch die Fiktionssignale zwingend zu erkennen;76 sie lassen sich nur annähernd erschließen. Eine Verwechslung der Kategorien ist möglich, wenn sich ein fiktionaler Text auf eine reale Welt bezieht und die entsprechenden Fiktionalitätssignale nicht erkannt werden. Kriterien der Fiktionalität sind Signale, wie etwa die der Gattungszugehörigkeit beim Märchen.77 Häufig tritt die Gewährung eines unmittelbaren Zugangs zu einer fremden Innenwelt, die Allwissenheit eines Erzählers, die Außerkraftsetzung der Naturgesetze, eine Zeitreise oder das Schaffen nichtexistenter Orte oder Wesen hinzu. Falls diese Fiktionssignale verwischt werden, damit die Fiktionalität nicht erkannt wird, so ist der Text fingiert.

2.5. Handlung und Darstellung 2.5. Handlung und Darstellung

Genette78 wendet de Saussures Unterscheidung von Signifikat und Signifikant auf die Erzählung an und weitet so den Begriff des Zeichens auf die Erzählung79 aus. 74

W IEGMANN 2002:14. Cf. HOLZBERG 1995:94. 76 Cf. HAMBURGER 1968:65. 77 V. PROPP 1975.1987. 78 Cf. GENETTE 1998:16. 79 Da der Begriff Erzählung mit der Darstellung verbunden ist und sowohl die Narration als auch die Erzählung i. S. v. recit umfassen kann, wird dem Begriff Handlung der Vorzug gegeben. In der Handlung werden Motive und Geschehen zur Geschichte zusammengefügt, so dass gegebenenfalls sogar ein Handlungsschema offensichtlich wird. 75

20

2. Methodische Grundentscheide

Signifikat und Signifikant verhalten sich zueinander, wie Handlung und Darstellung80, Story und Plot,81 histoire und discours82, Fabula und Sujet83 mit ihren kausalen, logischen und temporalen Verknüpfungen.84 Sie bezeichnen in etwa dasselbe. Der Begriff Fabula stammt aus dem russischen Formalismus und bezeichnet die „Gesamtheit der Ereignisse“ als Gegenstück zum Sujet, welches die „künstlerisch aufgebaute Verteilung der Ereignisse“85 bezeichnet. Aus Motiven werden aufeinander folgende Geschehen entworfen.86 Dieses sind die Handlungen der einzelnen Abschnitte. Diese Ereignisabfolge in ihrer Zeit- und Raumstruktur formt „a narrative of events, the emphasis falling on causality“87. So wird die Fabula zu einem Sujet, zu einer Story verknüpft. Das Sujet gestaltet das Thema nicht beliebig aus, sondern folgt der Darstellung der Handlung. Handlung und Darstellung bezeichnen das Was und Wie einer Erzählung.88 Sie setzen eine Aufeinanderfolge von Ereignissen voraus und implizieren damit, dass es eine Chronologie und Logik der Abfolge gibt. Eine Erzählung ist ein fiktionaler Text. In ihm sind Inhalt und Form, Handlung und Darstellung zu unterscheiden. Zur Handlung gehören Ereignis, Geschehen, Geschichte und Handlungsschema, zur Darstellung Erzählung und Erzählen89. Geschichte ist die „Gesamtheit des erzählten Ereignisses“ und Erzählung der „schriftliche oder mündliche Diskurs, der von ihnen erzählt“90. Genette91 führt eine Dreiteilung ein. Dabei bezeichnet er wie Todorov das Signifikat, die sequentielle Struktur des Geschehens, wie sie in der Erzählung vorliegt, also den narrativen Inhalt der Geschichte, als histoire. Dadurch bleibt die Offenheit gewahrt, dass auch poetische Texte eine Handlung vermitteln können. 80 MARTINEZ/SCHEFFEL 2003. 81 Die Bezeichnungen Story und Plot werden zwar ebenfalls parallel verwendet, sie sind aber weniger eindeutig, da sie unterschiedlich gefüllt werden. Sie wurden von FORSTER 1974 [1927]:17–29; 58–72 eingeführt, der sie der Handlung als Geschehen und Geschichte zuordnete. 82 T ODOROV 1971. 83 T OMAŠEVSKIJ 1985 [1931]. 84 Nach TOMAŠEVSKIJ 1985:227 bezeichnet die Fabel „die Gesamtheit der Motive in ihrer logischen, kausal-temporalen Verknüpfung“ und das Sujet „die Gesamtheit derselben Motive in derjenigen Reihenfolge und Verknüpfung, in der sie im Werk vorliegen.“ 85 T OMAŠEVSKIJ 1985:227. 86 Bereits T ODOROV 1971 arbeitet in Poétique de la prose mit der Prämisse, dass narrative Strukturen parallel zur Sprache gebildet werden. 87 FORSTER 1974:60. 88 Cf. MARTINEZ/SCHEFFEL 2003:25. 89 Cf. MARTINEZ/SCHEFFEL 2003:26. 90 GENETTE 1998:199. 91 GENETTE 1998.

2.5. Handlung und Darstellung

21

Der Signifikant entspricht dem Sujet und lässt sich differenzieren. Er setzt sich zusammen aus dem Akt des Erzählens, der Narration (narration), und dessen schriftlicher Ausprägung der Erzählung (recit), der bestimmten Weise, in der die Erzählung Gestalt annimmt.92 Die Syntagmatik bewirkt, dass der Leser von der Darstellung auf eine Handlung schließt. Dieses geschieht durch logische, kausale und temporale Verknüpfung, so dass die Ereignisse „nicht nur aufeinander, sondern auch auseinander folgen“93. Bereits Aristoteles beschreibt das Verhältnis von Handlung und Darstellung ohne jedoch diese Begriffe zu kennen: „Die Stoffe, die überlieferten und die erfundenen, soll man, wenn man sie selbst bearbeitet, zunächst im allgemeinen skizzieren und erst dann szenisch ausarbeiten und zur 94 vollen Länge entwickeln.“

Die Erzählung ist ein literarisches Geschehen. Sie gibt Ereignisse und Episoden wieder, die nach einem inhaltlichen Ordnungsschema zusammengestellt sind, zu dem auch Elemente wie Temporalität und Kausalität gehören. Dass Hoheslied sowohl narrative als auch poetische Anteile hat, führt zu unterschiedlichen kausalen, temporalen und logischen Verknüpfungen der Geschichte als histoire und zum spezifischen Verhältnis von Paradigmatik und Syntagmatik, welches die Erzählung (recit) prägt. Während gewöhnlich zuerst die Handlung beschrieben und dann die Umsetzung in der Darstellung analysiert wird, so wie Story und Plot aufeinander bezogen sind, wird hier der umgekehrte Weg gewählt. Zwar werden bereits bei der Strukturanalyse Handlungselemente aufgezeigt, so dass eine Story vage erkennbar wird. Jedoch ist diese mit so vielen Leerstellen verbunden, dass mehr als eine Story möglich scheint. Deshalb wird nach dem Strukturentwurf erst die Darstellung analysiert, um so die Bausteine der Handlung aufzuzeigen. Eine Analyse von Hoheslied mit Methoden der Erzähltechnik greift auf die Beobachtung zurück, dass verschiedene Gesamtinterpretationen vorgelegt wurden, bei denen eine Handlung zwischen den Szenen oder hinter dem Text95 gefunden wurde. Diese begründen bereits eine narrative Auslegungstradition ohne sich methodisch der Frage der Erzähltechnik gestellt zu haben.

92 Ebenfalls eine Dreiteilung führt B AL 1997 durch. Sie differenziert in Fabula, Story und Text und findet so bei SCHMIDT 2003 Eingang in die deutschsprachige alttestamentliche Exegese. 93 MARTINEZ/SCHEFFEL 2003:25. 94 ARISTOTELES 1994:§17. 95 Cf. EXUM 2005b:106.

3. Kapitel 3

Übersetzung von Hoheslied Hoheslied 1 Hoheslied 1 Schönstes Gedicht Salomos. Er1 küsse mich mit Küssen seines Mundes. Gewiss,2 deine Liebkosungen sind wohltuender als Wein. Der Duft deiner Öle ist köstlich. Ausgeschüttetes3 Öl ist dein Name. Deshalb lieben4 dich die jungen Frauen. Zieh mich dir nach! Lass uns eilen! Der König brachte5 mich in seine Gemächer. Wir wollen jubeln und wir wollen uns freuen mit dir.6 Wir wollen preisen deine Liebkosungen mehr als Wein. Zu Recht7 lieben sie dich. Schwarz bin ich und schön, Töchter Jerusalems,

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Ein Wechsel zwischen der zweiten und der dritten Person ist ein häufiges Phänomen in der lobpreisenden Anrede (cf. 1,4), insbesondere Gottes (cf. Ps 145,3.4). 2   gewiss hat hier, wie in 8,6, eine emphatische Funktion. Cf. WALTKE/O’ CONNOR 1990:§39.3.4e. 3 Möglich wäre auch eine Übersetzung mit Herkunftsangabe: Öl von Turaq. 4 Die Übersetzung der qatal-Form im Präsens wird wegen des begleitenden Vollzugs der Handlung gewählt; so öfters in Hoheslied. Cf. Anm. zu 5,1. 5 Luis de León vertrat die Ansicht, die qatal-Form würde eine futurische Bedeutung haben (B ARR 1994:319). Dann würde es in Hoheslied stets um die noch unerfüllten Wünsche der Frau gehen, damit aber der ambivalente Charakter der Liebesbeziehung einseitig aufgelöst. 6 Die Präposition  dich wird als 2. m. Sg. aufgefasst, als ob es eine Pausaform wäre. Die 2. f. Sg. würde einen raschen Wechsel der Adressaten von der Frau zum Mann verlangen, da die nächste Zeile an den Mann gerichtet ist. Die LXX scheint beides auf die Frau zu beziehen, da sie  deine Liebkosungen mit    deine Brust, und zwar der weiblichen Brust, übersetzt. Im ursprünglichen Konsonantentext war die Zuordnung des grammatischen Geschlechts offen. 7 Das Substantiv   Gerechtigkeit (KBL I 548) hat eine adverbiale Funktion übernommen. Cf. MURAOKA/J OÜON 1993:§126d.

3. Übersetzung

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23

wie die Zelte Kedars, wie die Vorhänge Salomos.8 Starrt mich nicht an, dass ich schwärzlich bin, dass mich die Sonne bräunte! Die Söhne meiner Mutter zürnten mit mir. Sie bestimmten mich als Hüterin der Weinberge. Meinen eigenen Weinberg, der mir zur Verfügung steht,9 habe ich nicht behütet. Sage mir doch, du, den10 meine Seele11 liebt: Wo wirst du weiden? Wo wirst du dich am Mittag lagern? Warum soll ich werden wie eine Verhüllte bei den Herden deiner Kameraden? Wenn du es doch12 nicht weißt, Schönste unter den Frauen, so zieh doch hinaus auf den Spuren des Kleinviehs und weide deine Zicklein bei den Lagerstätten der Hirten. Mit einer Stute13 an den Wagen Pharaos vergleiche ich dich, meine Gefährtin. Lieblich sind deine beiden Wangen mit den Gehängen,14 dein Hals mit den Muschelketten. Gehänge von Gold wollen wir dir machen mit Perlen von Silber.

8 LXX und masoretischer Text lesen hier den Namen  ,   , Salomo. Die Namensangabe Salomo ist wahrscheinlich eine sekundäre Angleichung, um Salomo in Hoheslied mehr Präsenz zu geben. Die inhaltliche Parallele zu Kedar legt nahe, dass hier ursprünglich ebenfalls der Name eines Stammes stand, und zwar Salmah. Der Stamm Salmah wird im Ostjordanland angesiedelt; so erstmals Hugo Winckler in SCHRADER 1903:152. 9 Cf. 8,12. Hier wird, wie in Gen 24,51      Siehe, Rebekka steht Dir zur Verfügung, die Verfügungsgewalt, die jemandem gewährt wird, zum Ausdruck gebracht. Cf. HAUPT 1907:46. 10 Der Relativpartikel wird hier wie ein Vokativ verwendet. Cf. WALTKE/O’ CONNOR 1990:§19.4. 11 Ich behalte den traditionellen Begriff „Seele“ für ! in Ermangelung eines besseren Begriffes bei. Dabei umfasst die Seele die Psyche des Menschen, so dass auch die Physis mit betroffen sein kann. 12 Der dativus ethicus drückt die innere Teilnahme aus und dient zur Verstärkung des Imperativs; so auch 2,10.13. Cf. DIRKSEN 2004:59. 13 Das Suffix der 1.Ps. Sg hat als  ireq compaginis rythmische Funktion und wird nicht possessiv mit meine Stute übersetzt. Cf MURAOKA/J OÜON 1993:§93l. 14 Mit "# I Gehänge, Bänder (KBL II 1575) wird Schmuck, möglicherweise Ohrringe, bezeichnet.

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3. Übersetzung

Bis der König bei seiner Couch15 ist, gibt meine Narde ihren Duft. Büschel der Myrrhe ist mein Geliebter für mich. Zwischen meinen Brüsten wird er nächtigen. Traube von Henna ist mein Geliebter für mich, in den Weinbergen von En-Gedi. Siehe, du bist schön, meine Gefährtin! Siehe, du bist schön! Deine Augen sind wie Tauben! Siehe, du bist schön, mein Geliebter! In der Tat angenehm. In der Tat, unser Bett ist grün. Die Balken unseres Hauses16 sind Zedern, unsere Täfelung Zypressen.

Hoheslied 2 1 2 3

Hoheslied 2 Ich bin eine Herbstzeitlose der Scharonebene, eine Lilie der Täler. Wie eine Lilie zwischen den Dornen, so ist meine Gefährtin unter den Töchtern. Wie ein Aprikosenbaum17 unter den Bäumen des Dickichts, so ist mein Geliebter unter den Söhnen.

15 Die LXX liest   , welches als Möbelstück zum Zurücklehnen, eine Couch oder ein Bett bezeichnen kann. Im Anschluss an das Mischnahebräisch wird $  häufig mit Tafelrunde und in Ausweitung des Begriffs als terminus technicus für die liegende Tafelrunde mit Gelage, Bankett wiedergegeben (cf. KRINETZKI 1964:102; ZAKOVITCH 2004:129; B ARBIERO 2004:80; KBL I 571). Da hier eine intime Szene eingeleitet wird, liegt es nahe, $  als den Aufenthaltsort des Liebesspiels von Mann und Frau anzusehen. Bei einer Übersetzung mit Bankett, Gelage wäre diese Intimität nicht gegeben, so dass trotz motivischer Ähnlichkeit keine Gastmahlszene vorliegt. Gastmahlszenen waren in Ägypten verbreitet. Dort waren Frauen mit Salbkegeln präsent. Wenn sich HEINEVETTER 1988:212 an ein griechisches Symposion erinnert fühlt, so fehlen die Bezüge zum damit verbundenen Vereinswesen und eine Haremssituation war dort ebenfalls nicht gegeben. Irgendeine Form des Gelages wäre jedoch lediglich eine plakative Vorstellung königlichen Wohllebens, ohne dass sie im Handlungsverlauf nochmals aufgenommen würde. Wenn es sich jedoch um den intimen Ort von Mann und Frau handelt, so ist eine Übersetzung von $  mit Couch, Bett vorzuziehen. Das Suffix 3. m. Sg. Seine Couch drückt aus, dass sich die Frau an einem Ort des Mannes befindet. 16 Der Plural für den Singular von % Haus entsteht durch Assimilation an den Plural %" Balken unter Einfluss des Mischnahebräischen Cf. ZAKOVITCH 2004:135. 17 Häufig wird & '(# mit Apfelbaum übersetzt. Dieser wurde jedoch erst später in der Levante kultiviert. Cf. BOROWSKI 1979:185.



3. Übersetzung

25

Nach seinem Schatten verlangte mich und ich setzte mich und seine Frucht war köstlich für meinen Gaumen. Er brachte mich ins Weinhaus und sein Blick18 auf mich war Liebe. Stärkt mich mit Traubenkuchen, erfrischt mich mit Aprikosen, denn ich bin krank vor Liebe. Seine Linke unter meinem Kopf und seine Rechte wird mich umarmen.19 Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, bei den Gazellen oder Hirschkühen des Hochlands:20 Stört nicht und stört nicht auf die Liebe, bis es ihr gefällt! Stimme meines Geliebten! Siehe, dieser kommt, springend über die Berge, hüpfend über die Hügel! Gleich ist mein Geliebter einer Gazelle oder einem Jungtier der Hirsche. Siehe, dieser steht hinter unserer Wand, schauend vom21 Fenster her, starrend vom Gitter her! Mein Geliebter sprach22 und sagte zu mir: Erhebe dich doch,

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Cf. GORDIS 1974:81, der ) anschauen auf Akkadisches du-gul-an-ni Schau auf mich! von der Wurzel  Auf jemanden schauen zurückführt. 19 Übersetzung der yiqtol-Form als unvollendete, in der Zukunft liegende Handlung, welche die Wunschvorstellung der Frau zum Ausdruck bringt. Cf. 8,3. Die Liebeskrankheit der Frau lässt darauf schließen, dass es sich hier nach dem Bericht über die Liebesbegegnung mit dem Mann (2,3.4) um den noch unerfüllten Wunsch einer weiteren Begegnung handelt. 20 Laut W. H. PROPP 1987:23 bezeichnet !* wie in 7,12 nicht einfach ein Ackerfeld, sondern das Hochland, ein Gebiet außerhalb einer Stadt oder eines nationalen Territoriums. 21 Übersetzung der Präposition + als von ... her anstelle von durch nach ABRAMOWITZ 1978–79:64. Nach ihm wird von verwendet, wenn das Augenmerk auf das Subjekt gerichtet ist und durch, wenn der Fokus auf dem zu betrachtenden Objekt ist. Die LXX übersetzt mit   durch. Für B UDDE 1898:10 ist es die Frau, welche durch das Fenster schaut. Er erreicht diesen Blickwechsel durch eine Konjektur des hebräischen Textes. 22 So mit BARBIERO 2004:97: „Il mio diletto parla, e mi dice.“ Einer Übersetzung von , mit antworten müsste eine Rede oder Einladung der Frau vorausgehen. 18

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3. Übersetzung

meine Gefährtin, meine Schöne, und komm doch!23 Denn siehe, der Winter ist vergangen. Der Regen ist vorübergegangen. Er ging mit ihm. Die Blumen gingen auf im Land, die Zeit des Schneidens/Singens24 kam, und die Stimme der Turteltaube ließ sich hören in unserm Land. Der Feigenbaum, er brachte seine Frühfrüchte hervor und die Weinreben in Blüte gaben Duft. Erhebe dich bestimmt, meine Gefährtin, meine Schöne und komm doch! Meine Taube in den Nischen des Felsens, im Versteck des Felssims. Lass mich deine Gestalt sehen! Lass mich deine Stimme hören! Denn deine Stimme ist süß und deine Gestalt ist lieblich. Fangt anstelle25 von uns die Füchse, die kleinen Füchse, welche die Weinberge verderben, denn26 unsere Weinberge sind in Blüte. Mein Geliebter gehört mir und ich gehöre ihm, der in den Lilien weidet, bis der Tag weht und die Schatten fliehen. Wende dich weg! Sei gleich, mein Geliebter einer Gazelle oder einem Jungtier der Hirsche auf den Bergen von Bether.

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Dativus commodi wie in Gen 12,2. Eine inhaltliche Bezugnahme auf den Befehl an Abraham wird von T OURNAY 1975:544–552 vertreten. Die grammatische Parallelität und die Stichwortverbindung Land reichen dafür nicht aus. 24 Es liegt Homonymie der Wurzel - vor. Sie wird in - I singen und - II beschneiden, die Reben ausputzen (cf. KBL I 262.263) unterschieden. Ein Bezug auf IV aufspringen, fliehen wird in keiner mir bekannten Übersetzung angenommen. Dass diese Konnotation mitschwingt, ist im Anschluss an die Aufforderungen Erhebe dich! Komm mit! (2,10) nicht auszuschließen. Sie sprengt jedoch die Möglichkeiten der Übersetzung und ist assoziativer Natur. LEMAIRE 1975:26 hebt mit Verweis auf den Kalender von Gezer hervor, dass hier die Zeit der Weinlese gemeint sei. 25 Hier handelt es sich um ein lamed dativum. Cf. S. FISCHER 2003:80. 26 Das waw consecutivum bewirkt eine kausale Konnotation.

3. Übersetzung

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Hoheslied 3 Hoheslied 3

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Auf dem Bett in den Nächten suchte ich den, welchen meine Seele liebt. Ich suchte ihn, aber27 ich fand ihn nicht. Ich will mich nun aufmachen und umher gehen in der Stadt, in den Gassen und in den Straßen. Ich will ihn suchen, welchen meine Seele liebt. Ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht. Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umher gehen. Denjenigen, welchen meine Seele liebt, saht ihr ihn? Kaum28 kam ich an ihnen vorbei, bis ich denjenigen fand, welchen meine Seele liebt. Ich ergriff ihn und ließ ihn nicht los,29 bis ich ihn ins Haus meiner Mutter gebracht hatte und in die Kammer meiner Gebärerin.30 Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, bei den Gazellen oder Hirschkühen des Hochlandes: Stört nicht und stört nicht auf die Liebe, bis es ihr gefällt! Wer ist diese, die aus der Wüste heraufzieht gleich wie Rauchsäulen mit Räucherwerk von Myrrhe und Weihrauch von allem Pulver des Händlers? Siehe, seine Sänfte, welche Salomo gehört. Sechzig Soldaten umgeben sie, sie sind von den Soldaten Israels. Sie alle sind Schwertträger, geübt in der Schlacht. Jeder hat sein Schwert an seiner Hüfte gegen die Schrecken der Nächte. Einen Tragsessel machte sich der König Salomo aus den Hölzern des Libanon.

27 Das disjunktive waw ist eine Ausdrucksweise des waw explicativum. Es unterbricht die Haupterzählung und fügt eine für den Fortgang der Erzählung notwendige Information ein. Cf. WALTKE/O’ CONNOR 1990:§39.2.3.a. 28 Das temporale Adverb .,  kaum ist mit oder ohne Relativpartikel identisch. Cf. B LAU 1959:131. 29 Zur Zeitenfolge cf. ZAKOVITCH 2004:168–169. 30 Nominale Übersetzung des Qal Ptz. fem. Sg. Suff. 1. Sg. von . Die Wurzel  bezeichnet nicht nur das Gebären, sondern die „verschiedenen Phasen der Schwangerschaft von der Zeugung bis zur Geburt“ (S. FISCHER 2006:63).



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3. Übersetzung

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Seine Säulen machte er aus Silber, seinen Baldachin aus Gold, seinen Sitz aus Purpur. Sein Inneres ist mit prächtigen Dekorationen31 ausgestattet durch die Töchter Jerusalems. Kommt heraus und seht doch, Töchter Zions, den König Salomo mit der Krone, mit der ihn seine Mutter gekrönt hat am Tag seiner Hochzeit, am Tag seiner Herzensfreude.

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Hoheslied 4 Hoheslied 4

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Siehe, du bist schön meine Gefährtin, siehe, du bist schön, deine Augen sind Tauben, sie gucken von hinten hervor durch deinen Schleier. Dein Haar ist wie eine Herde von Ziegen, welche vom Berg Gilead herabkommen. Deine Zähne sind wie eine Herde geschorener Schafe, welche heraufkommen von der Schwemme, welche alle Zwillinge haben. und eine ohne Junge gibt es nicht unter ihnen. Wie eine karmesinfarbene Schnur sind deine Lippen und dein Mund ist lieblich. Wie ein Spalt vom Granatapfel ist deine Schläfe hinter32 deinem Schleier. Wie der Turm Davids ist dein Hals in die Runde gebildet. Tausend Schilde sind an ihn gehängt, alle Waffen der Krieger. Deine beiden Brüste sind wie zwei Jungtiere, Zwillinge der Gazelle, welche in den Lilien weiden, bis der Tag weht und die Schatten fliehen. Ich will gehen zum Berg der Myrrhe und zum Hügel des Weihrauchs.

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Cf. T AWIL 2003:270. Die Doppelpräposition ,   von hinten hervor, durch bringt hier zum Ausdruck, dass die Farbe der Schläfe durch den Schleier hindurch schimmert. 32

3. Übersetzung

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Alles an dir ist schön, meine Gefährtin und ein Makel ist nicht an dir. Mit mir vom Libanon, Braut, mit mir vom Libanon, komm,33 zieh mit mir vom Gipfel Amanas, vom Gipfel Senirs und Hermons, von den Lagerplätzen der Löwen, vom Gebirge der Leoparden. Du raubst mir mein Herz,34 meine Schwester, Braut. Du raubst mir mein Herzmit einem einzigen von deinen Blicken, mit einer einzigen Kette von deinem Halsschmuck. Was sind sie wohltuend, deine Liebkosungen, meine Schwester, Braut! Was sind deine Liebkosungen angenehmer als Wein und der Duft deines Öls mehr als alle Gewürzdüfte! Honigseim tropfen deine Lippen, Braut, Honig und Milch sind unter deiner Zunge und der Duft deiner Kleidung ist wie der Duft vom Libanon. Ein verschlossener Garten bist du, meine Schwester, Braut, ein verschlossener Garten, eine versiegelte Quelle. Deine Sprosse35 sind ein Paradiesgarten, Granatäpfelbäume mit köstlichen Früchten, Henna mit Narden, Narde und Safran, Kalmus und Zimt mit allen Hölzern des Libanons,

33 Die zwei yiqtol-Formen sind morphologisch identisch und verbinden durch ihre chiastische Stellung die ersten zwei Stanza mit den nachfolgenden. Cf. ROBERTS 2007: 181. Sie haben imperativische Funktion: /"# ' # Komm mit mir; zieh mit mir! Die Wurzel 0 I wird als partizipiale Nominalbildung auch für Karawane verwendet (cf. Ez 27,25), so dass bei der Aufforderung, mitzuziehen, eine Anspielung auf den karawanenartigen Hochzeitszug durch die Wüste (3,6–10) vorliegen könnte, welcher über die Berge aus der Wüste kommt. ZAKOVITCH 2004: 192 übersetzt mit springen, und zwar in Anlehnung an 2,8. Dort springt der Mann wie eine Gazelle herbei. Eine Übersetzung von 0 II mit blicken, so Barbiero 2004:174.175, sucht die Parallele im Blick von 4,9b. 34 Piel privativum. Cf. GK §52h. B ARBIERO 2004:174 interpretiert in legerer, aber treffender Weise mit „Tu mi hai fatto impazzire“ Du hast mich verrückt gemacht. 35 KEEL 1986:162–164 schlägt Kanäle vor. Dagegen spricht die A B A" B"-Struktur (HESS 2005:148) und das Wortfeld der Wurzel & , welches auch als aussenden, ausstrecken im Sinn von sprossen verwendet wird, so etwa in Jer 17,8. Cf. G ARRETT 2004:197.

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15 16

3. Übersetzung

Myrrhe und Aloe mit allen hervorragenden Gewürzdüften. Quelle der Gärten, Süßwasserbrunnen36 und Bäche37 vom Libanon. Wach auf, Nordwind und komm, Südwind! Durchwehe meinen Garten! Seine Gewürzdüfte mögen strömen. Er möge kommen, mein Geliebter, in seinen Garten, so dass er seine köstlichen Früchte esse!

Hoheslied 5 Hoheslied 5

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Ich komme38 zu meinem Garten, meine Schwester, Braut. Ich pflücke meine Myrrhe mit meinem Gewürz. Ich esse meine Honigwabe mit meinem Honig. Ich trinke meinen Wein mit meiner Milch. Esst, Freunde! Trinkt und berauscht euch, Geliebte! Ich schlief, aber39 mein Herz war wach. Stimme meines Geliebten, bedrängend:40



36

1&  , Wasser des Lebens, bezeichnet das trinkbare Grundwasser (Gen 26,19), welches eine köstliche Quelle ist (Jer 2,13; 17,13). Es bewirkt kultische Reinigung (Lev 14,5–6.50–52; 15,13; Num 19,17) und ist Teil endzeitlicher Hoffnung der Wiederherstellung paradiesischer Zustände (Sach 14,8). 37 Das Partizip wird nominalisiert und die Aufzählung fortgesetzt. Das Qal Ptz. m. Sg. abs. findet als Nomen Bäche, Ströme, Fluten Verwendung. Cf. Ex 15,8; Ps 78,16; Spr 5,15; Jes 44,3; Jer 18,14. 38 Nach WAGNER 1997:125 handelt es sich hier nicht um einen Bericht, denn „der Sprecher drückt hier doch wohl sein Gefühl des Begehrens oder des unmittelbar bevorstehenden Genusses aus oder er begleitet den ‚Vollzug‘ sprachlich.“ 39 Es handelt sich wie in 3,1 um ein waw disjunctivum. 40 Wenn " mit anklopfend übersetzt wird, so ergibt sich zur Übersetzung von " Stimme eine Inkongruenz, da die Stimme als pars pro toto für den Mann angesehen werden müsste, der anklopft oder " müsste als unabhängiges prädikatives Partizip ohne Bezugspronomen aufgefasst werden, was so in Hoheslied nicht vorkommt und insgesamt selten ist (z.B. Jos 8,6). ROBERTS 2007:205 schlägt vor, " nicht mit Stimme (voice) sondern mit sound zu übersetzen. Dieses wäre auch in 2,8 möglich. In diesem Fall würde es sich auf das Klopfen des Mannes und in 2,8 auf die mit seinem Kommen verbundenen Geräusche beziehen. Da im Folgenden die Worte des Mannes zitiert werden, liegt es jedoch näher, hier die direkte Rede des Mannes zu erwarten. Auch in 2,8 bereitet " die direkte Rede des Mannes vor, die in 2,10 einsetzt. Wenn jedoch " nicht das spezifische Anklopfen bezeichnet, sondern mit FOX 1985:143–144 als bedrängend übersetzt

3. Übersetzung

3

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Öffne mir, meine Schwester, meine Gefährtin, meine Taube, meine Vollkommene! Denn mein Kopf ist voll Tau, meine Locken von Tropfen der Nacht. Ich habe mein Kleid ausgezogen. Wie soll ich es wieder anziehen? Ich habe meine Füße gewaschen. Wie soll ich sie wiederum beschmutzen? 41 Mein Freund, er streckte seine Hand aus vom Loch her42 und mein Inneres war erregt nach ihm. Ich erhob mich, um meinem Geliebten zu öffnen und meine Hände, sie tropften von Myrrhe. Und meine Finger: Myrrhe geht über auf den Griff des Riegels. Ich selbst öffnete für meinen Geliebten, aber mein Geliebter, er hatte sich weggewandt, er war fortgegangen. Meine Seele war außer sich, dass er sich abgewandt43 hatte. Ich suchte ihn und fand ihn nicht. Ich rief ihn und er antwortete mir nicht. Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen. Sie schlugen mich. Sie verwundeten mich. Sie nahmen meinen Überwurf von mir, die Wächter der Mauern.

wird, so löst sich die Diskrepanz, da es sich auf die Art und Weise bezieht, in welcher der Mann kommt. 41 Die Wahl des Tempus der Übersetzung ist vom Adressaten der Rede und der damit verbundenen dramatischen Performanz abhängig. In der hier gewählten Übersetzung wird die Rede der Frau als Antwort auf das Einlassbegehren des vor der Tür stehenden Mannes angesehen (5,2). Sie hält ihn mit ihrer Antwort hin. Die andere Möglichkeit ist, in der Vorvergangenheit zu übersetzen, so dass hier der sonst in 5,4 anzusetzende Adressatenwechsel an die Töchter Jerusalems einsetzt, denen die Frau berichtet: Ich hatte mein Kleid ausgezogen. Wie sollte ich es anziehen? Ich hatte meine Füße gewaschen. Wie sollte ich sie beschmutzen? Wie 2,10–14 sind 5,2–3 der Erzählebene der Frau an die Töchter Jerusalems untergeordnet und werden als zitierte Rede eingeleitet. 42 Die Präpositon + von ... weg; durch (cf. KBL I 565) benennt den Ausgangspunkt einer Bewegung, die hier vom Mann als handelndem Subjekt ausgeht. Eine Übersetzung mit durch wird dieser Nuancierung hier ebensowenig gerecht wie in 2,9. Die Szene wird aus der Perspektive der Frau geschildert. Aus ihrer Perspektive streckt er seine Hand vom Riegelloch her zu ihr hin. Eine gegenläufige Bewegung nimmt ABRAMOWITZ 1978– 1979:62–64 an. Er sieht hier den Beginn des Abwendens des Mannes und übersetzt mit zieht zurück. 43 Pi. Inf. cs. mit Suff. 3. m. Sg. von  I den Rücken kehren, sich abwenden (KBL I 203). Eine Herleitung von  II sprechen, reden (cf. KBL I 204) ist zwar möglich, wird aber der Abfolge der Ereignisse nicht gerecht, welche das Verschwinden des Mannes als Ursache ihres Durch meine Seele war außer sich angedeuteten psychischen Leidens ansieht. Cf. FOX 1985:146.



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3. Übersetzung

Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, Wenn ihr meinen Geliebten finden werdet, was werdet ihr ihm sagen? Dass ich krank vor Liebe bin. Was hat dein Geliebter einem anderen Geliebten voraus, Schönste unter den Frauen? Was hat dein Geliebter einem anderen Geliebten voraus, dass du uns so beschwörst? Mein Geliebter ist leuchtend weiß und rot, strahlender als eine Zehntausendschaft.44 Sein Kopf ist Gold, Feingold. Seine Locken sind Dattelrispen, schwarz wie der Rabe. Seine Augen sind wie Tauben an Wasserbächen, badend in Milch, sitzend an der Fülle. Seine Wangen sind wie die Balsambeete,45 hervor sprießende Gewürzkräuter. Seine Lippen sind Lilien, triefend von flüssiger Myrrhe. Seine Hände sind gedrehtes Gold, gefüllt mit dem Tarsis-Edelstein, sein Inneres Elfenbein, bedeckt mit Saphiren. Seine Schenkel sind Säulen von Marmor, gegründet auf Sockeln von Feingold. Seine Gestalt ist wie der Libanon, ausgewählt wie die Zedern. Sein Gaumen ist süß und alles an ihm begehrenswert. So ist mein Geliebter und so ist mein Freund, Töchter Jerusalems.

44 Komparative Übersetzung der Präposition + mehr als. Cf. W ALTKE/O’ CONNOR 1990:§11.2.11e, welche allerdings die Metapher auflösen und mit „more attractive than ten thousand“ übersetzen. Da bei ')2 strahlend mit der Wurzel ) das Feldzeichen anklingt, ist ein militärischer Vergleich gegeben; cf. 6,10. Dieses wird durch eine Übersetzung von 3 mit Zehntausendschaft zum Ausdruck gebracht. 45 Der Dual 0 & Seine Wangen verlangt eine Übersetzung von %)4',5 Das Beet im Plural und erfolgt in Angleichung zu 6,2. Sie wird durch viele Handschriften der LXX sowie Vulgata und Peschitta gestützt. Die vorliegende konsonantische Form kann als Defektivschreibung aufgefasst werden, die als Singular vokalisiert wurde.



3. Übersetzung

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Hoheslied 6 Hoheslied 6

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Wohin ging dein Geliebter, schönste unter den Frauen? Wohin wandte sich dein Geliebter, auf dass46 wir ihn mit dir suchen mögen? Mein Geliebter ging hinunter in seinen Garten zu den Balsambeeten, um zu weiden in den Gärten und um Lilien zu sammeln. Ich gehöre meinem Geliebten und mein Geliebter gehört mir, der in den Lilien weidet. Du bist schön, meine Gefährtin, wie Tirzah, lieblich wie Jerusalem, aufregend wie diese Sehenswürdigkeiten!47 Wende deine Augen von mir, denn sie verwirren mich. Dein Haar ist wie eine Herde von Ziegen, welche vom Gilead herabkommt. Deine Zähne sind wie eine Herde von Mutterschafen, welche heraufkommen von der Schwemme, welche alle Zwillinge haben und eine ohne Junge gibt es nicht unter ihnen. Wie ein Spalt vom Granatapfel ist deine Schläfe hinter deinem Schleier. Sechzig Königinnen sind sie und achtzig Nebenfrauen und junge Frauen ohne Zahl.

46 Das waw mit nachfolgendem Kohortativ bringt einen volitiven Modus, so dass es konsekutive Funktion hat. Cf. M URAOKA/J OÜON 1993:§116a. 47 Es handelt sich bei %"6 3 wie in 6,10 um ein Nif. Ptz. fem. Pl. abs. von ) anschauen; cf. 2,4; 5,10. Es verweist auf die vorhergehende Aufzählung der Dinge zurück, die mit Bewunderung und Erstaunen betrachtet wurden. Cf. GORDIS 1974:92–93. In 6,4 kann mit Sehenswürdigkeiten übersetzt werden, da es im Kontext von Jerusalem und Tirzah, zweier Bewunderung auslösender Städte, steht. In 6,10 steht es im Zusammenhang der astralen Erscheinungen von Mond und Sonne, so dass eine Übersetzung mit Erscheinungen angebracht scheint. Die LXX übersetzt in 6,4.10 als Ptz. Perf. Pass. fem. Pl.   von  „to be set in array“ (LUST 1992:606) und lässt so an eine Schlachtaufstellung denken. Die Übersetzung von ) mit beflaggt sein, als Denominativum Banner, Fahnenaufzug würde das Aufregende eines militärischen Aufzugs als Vergleichsobjekt für die Frau wählen.

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3. Übersetzung

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Einzigartig ist sie, meine Taube, meine Vollkommene. Einzigartig ist sie für ihre Mutter, auserkoren48 ist sie für ihre Gebärerin. Die Töchter sahen sie und priesen sie glücklich. Königinnen und Nebenfrauen rühmten sie. Wer ist diese, welche hervor bricht gleichwie die Morgenröte? Sie ist schön wie der Mond. Sie ist strahlend wie die Sonne. Sie ist aufregend wie diese Erscheinungen. In den Walnussgarten49 ging ich hinab, um zu sehen nach den Knospen im Tal, um zu sehen, ob der Weinstock treibt, ob die Granatbäume blühen. Ohne dass ich es merkte, trieb mich mein Verlangen zu den Wagen Amminadibs.50

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Hoheslied 7 Hoheslied 7

Kehr um! Kehr um, Schulammitin!51 Kehr um! Kehr um, wir wollen dich anschauen! Was schaut ihr die Schulammitin an wie den Reigentanz der Doppellager? Was sind deine Füße in den Sandalen schön, Tochter Nadibs. Die Rundungen deiner beiden Hüften sind gleich Geschmeide, das Werk der Hände eines Künstlers. Dein Nabel ist ein Mondbecken.52 Er möge keinen Mangel an Mischwein haben. Dein Leib ist ein Haufen Weizen umzäunt von Lilien.

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48 Das Adjektiv   wird in 6,10 wieder aufgenommen. Von der Grundbedeutung ausgesondert, gereinigt entfalten sich zwei Bedeutungsrichtungen ausgesondert, auserkoren und klar, strahlend. Cf. GERLEMANN 1965:184. 49 -")/ Walnuss ist ein aus dem nachbiblischen Hebräisch bekanntes hapax legomenon. Cf. P OPE 1977:574–579. 50 Da der hebräische Text schwierig ist, wird der Name Amminadib beibehalten.  kann als Nomen oder Adjektiv aufgefasst werden. Tournay (1995:70) versteht  als Hitpael „s’engager“. Da die Frau als  % ; Tochter Nadibs bezeichnet wird (7,2), könnte es sich um eine Personenbezeichnung handeln, die jedoch nicht als Eigenname, sondern als Ehrentitel gedacht ist. 51 Artikel als Vokativ. Cf. GK §126e. 52 Cf. ZAKOVITCH 2004:245: „Es handelt sich um eine Schale in der Form eines vollen Mondes.“



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3. Übersetzung

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Deine beiden Brüste sind wie zwei Jungtiere, Zwillinge der Gazelle. Dein Hals ist wie ein Turm aus Elfenbein. Deine Augen sind wie die Teiche in Heschbon am Tor der Tochter Rabbims. Deine Nase ist wie der Libanonturm, ein Wächter53 Richtung Damaskus. Dein Haupt ist auf dir wie der Karmel und das Haupthaar ist wie Purpur. Ein König ist gebunden in den Locken. Was bist du schön, was bist du lieblich, Liebe, Tochter Tanugims! Dieses ist deine Statur: Sie ist gleich einer Palme und deine Brüste sind gleich den Weintrauben. Ich sprach: Ich will auf die Dattelpalme steigen. Ich will ihre Fruchtrispen ergreifen, so dass deine Brüste mir nun wie Weintrauben sein werden54 und der Atem deiner Nase wie Aprikosen und dein Gaumen wie der beste Wein. Er geht meinem Geliebten gerade herunter. Er bewegt die Lippen der Schlafenden. Ich gehöre meinem Geliebten und nach mir steht sein Verlangen. Komm, mein Geliebter! Lass uns hinaus ziehen ins Hochland! Lass uns übernachten unter Hennasträuchern! Lass uns früh zu den Weinbergen aufbrechen! Lass uns schauen, ob der Wein Knospen treibt! Die Weinknospe hat sich geöffnet. Die Granatbäume haben zu blühen begonnen. Dort will ich dir meine Liebe geben. Die Alraunen verströmen Duft und an unseren Eingängen sind alle Köstlichkeiten, neue und auch alte. Mein Geliebter, ich habe für dich aufbewahrt!

53 Das Qal Ptz. m. Sg. akt. wird meistens nominalisiert übersetzt. Cf. ohne Artikel: Ps 37,2; Ez 3,17; 33,2.7; Hos 9,8; mit Artikel: 2 Sam 13,34; 18,24–27; 2 Kön 9,17–20; Ez 33,6. 54 Zum waw finalis cf. 6,1.

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3. Übersetzung

Hoheslied 8 Hoheslied 8

Ach,55 wärest Du mir doch wie ein Bruder gegeben, ein Säugling56 der Brüste meiner Mutter! Wenn ich dich draußen finden werde, werde ich dich küssen, ohne dass man mich verachten wird. Ich werde dich mitnehmen. Ich werde dich ins Haus meiner Mutter bringen, die mich empfing.57 Ich werde dir zu trinken geben vom Gewürzwein, vom Granatapfelmost. Seine Linke unter meinem Kopf und seine Rechte wird mich umarmen. Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems: Was solltet ihr stören und was solltet ihr aufstören die Liebe, bis es ihr gefällt?58 Wer ist diese, die aus der Wüste heraufzieht, sich stützend auf ihren Geliebten? Unter dem Aprikosenbaum weckte ich dich. Dort empfing dich deine Mutter, dort empfing, die dich gebar. Lege mich wie das Siegel auf dein Herz, wie das Siegel auf deinen Arm! Gewiss,59 stark wie der Tod ist Liebe, unerbittlich wie der Scheol ist Leidenschaft.60

1

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Das Fragepronomen  wer kann, insbesondere mit nachfolgender yiqtol-Form von die Funktion einer Wunschpartikel Ach, wäre doch einnehmen. Cf. Hi 23,3. Es könnte die ägyptische Wunschpartikel nr anklingen, welche in häufig in der Eröffnung fiktionaler Texte Verwendung findet. Cf. W HITE 1978:147. FOX 1985:281 hebt hervor, dass Wunschlieder, die durch  nr eingeleitet werden ein literarischer Typ der Liebeslieder sind. 56 Die Übersetzung von  " Qal Ptz. m. Sg. akt. als Nomen Säugling führt eine Apposition zu &/ Bruder ein und kennzeichnet diesen als genealogische Verwandtschaft. Zur Nominalisierung von  " cf. Dt 32,25; 1 Sam 15,3 u.ö. 57 Da der masoretische Text nicht mehr nachvollzogen werden kann, folgt die Übersetzung der LXX 

 . Cf. S. FISCHER 2006:62 Anm. 12. 58 Die Aussageintention zielt darauf, nicht zu stören. Cf. SNAITH 1993:78, der  was als Negativum übersetzt. 59   gewiss hat hier eine emphatische Funktion. Cf. 1,2 60 Es handelt sich um zwei vorwiegend synonyme Parallelismen. Die zweite Zeile bewirkt durch die Wortwahl von /3 Leidenschaft anstelle von 5/ Liebe eine Zuspitzung, da Leidenschaft das exklusive Element stärker hervorhebt (EXUM 2005a:252), so dass der Parallelismus auch ein synthetisches Element enthält. Zum parallelen Gebrauch von -, stark und   unerbittlich cf. Gen 49,7. %0 Tod und "/  Scheol stehen als 55

+%









3. Übersetzung

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Ihre Glut ist eine Glut des Feuers, eine Flamme Jahs.61 Mächtige Wasser vermögen nicht die Liebe auszulöschen und Flüsse werden sie nicht fortspülen. Wenn ein Mann das ganze Vermögen seines Hauses für die Liebe gäbe, man verachtete ihn gewiss. Wir haben eine kleine Schwester und sie hat keine Brüste. Was sollen wir für unsere Schwester tun, an dem Tag, an dem man um sie wirbt? Wenn sie eine Mauer sein sollte, werden wir auf ihr eine Zinne von Silber errichten. Und wenn sie eine Tür sein sollte, werden wir sie sichern mit einem Zederbrett. Ich bin eine Mauer und meine Brüste sind wie Türme. Dann wurde ich in seinen Augen wie eine Findende des Friedens. Salomo besaß einen Weinberg in Baal-Hamon. Er gab den Weinberg den Hütern. Ein Mann sollte für seine Frucht bringen, tausend Silberstücke. Mein eigener Weinberg steht mir zur Verfügung, die Tausend sind für dich, Salomo! Und die Zweihundert sind für die Hüter seiner Frucht.

absolute Superlative mit negativem Sinn. Cf. WALTKE/O’ CONNOR 1990:§14.5.c.23. W INTON T HOMAS 1953:223 übersetzt unerbittlich wie der Scheol mit „profoundly cruel“ und löst die Metapher auf. 61 Die Erwähnung der Kurzform des Gottesnamens Jahwe kann als Superlativ zur Steigerung der Flamme als mächtige Flamme aufgefasst werden; cf. SAYDON 1953:432– 433; MURAOKA/J OÜON 1993:§141n. Zur Übersetzungsdiskussion cf. DAVIDSON 2007: 624–632. W INTON T HOMAS 1953:216 weist mit Bezug auf Vergleichsmaterial darauf hin, dass „the superlative force is imparted, not by the addition of the divine names as intensifying epithets, but by the fact that a person or thing is brought into relationship with God.“ Da die Metaphern von Tod und Scheol trotz ihrer ebenfalls steigernden Funktion nicht aufgelöst wurden, wird auch am Gottesnamen festgehalten. Dadurch wird der Ambivalenz Rechnung getragen, dass auch bei einer steigernden Funktion, welche keine Aussage über Jahwe als Urheber der Liebe treffen will, eine Anspielung auf Jahwe vorliegt, die durch eine vage Anspielung an das Göttliche erinnert und eine transzendierende Wirkung haben will. Cf. SEYBOLD 1999:118.

38

3. Übersetzung

Sich in den Gärten Aufhaltende,62 Kameraden lauschen auf deine Stimme.63 Lass mich hören! Fliehe, mein Geliebter und sei gleich einer Gazelle oder einem Jungtier der Hirsche auf den Bergen von Besamim!

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Cf. Ri 13,9: 8 %! !" Die sich auf dem Feld aufhält. Als Objekt kann " sowohl dem vorhergehenden wie dem nachfolgenden Verb zugeordnet werden, ohne dass es zu einer signifikanten Aussageveränderung käme. Bereits LXX und Vulgata sind hier uneins. Cf. ROBERTS 2007:363.364. 62

63



4. Kapitel 4

Struktur 4.1. Gliederung durch rekurrente Elemente 4.1. Gliederung durch rekurrente Elemente

Zur Klärung von Struktur und Aufbau wird Hoheslied einer Strukturanalyse unterzogen und auf seine inhaltlichen Verknüpfungen hin untersucht. Da ein Text auf mehrfache Weise gegliedert und erfasst werden kann, erschließt sich die Struktur durch verschiedene Ordnungskriterien. Dabei sind Stichwortverbindungen sowie thematische und zeitliche Abfolgen wesentlich. Für eine Anthologie genügt eine lose Gliederung durch Stichwortverbindungen oder eine thematische Zusammenstellung. Die Rekurrenz von sprachlichen Wendungen trägt zu thematischer Einheitlichkeit bei. Sie wird auf der Isotopieebene erstellt, so dass sie keine strukturelle Einheitlichkeit zwingend nach sich zieht. Sie hat für den Leser primär die Funktion assoziativer Verknüpfung mit suggestiver Wirkung. Herder sieht Wiederholungen, deren Rekurrenz thematisch bedingt ist, nicht als Argument der literarischen, sondern der kulturellen Einheitlichkeit eines Werkes an. Dabei erstellt der kreative Leser in einem assoziativen und kombinatorischen Prozess Verknüpfungen und Zusammenhänge: „Anfänge und Absätze dieser Lieder sind Liederanfänge, Liederabsätze, die wieder kommen, weil es das Ohr, weil es die Materie so will. Hat nicht jede Nation ihre Lieb1 lingsanfänge und Wiederholungen?“

Herder bereitet damit die bis heute vertretene Ansicht vor, dass wiederkehrende Elemente zum kulturellen Allgemeingut eines Landes oder einer Region gehören und somit als „conventional stock“2 nach Bedarf Verwendung finden. Diese Bausteine lassen sich zwar gliedern, jedoch besteht über die Gliederungskriterien und die daraus resultierende Anzahl der Gedichte kein Konsens.3 1

HERDER 1778:119. FALK 1982:65. 3 HAUPT 1907:134 rekonstruiert zwölf Lieder. Dazu nimmt er starke Umstellungen des Textes vor und spätere griechische Zusätze an. Häufig wird der vorliegende Texte unterteilt: HAAG/E LLIGER 2001 teilen in 36 Lieder auf, LONGMAN 2001 in 23, ZAKOVITCH 2004 in 31, B ARBIERO 2004 in 35, JENSON 2005 in 30 etc. 2

40

4. Struktur

In dieser Sichtweise wird die Einheit durch Themen und Begriffe erstellt. Broadribb4 sieht Wiederholung und Modifizierung als Bausteine der Einheit von Hoheslied an, durch welche das Thema entfaltet wird: „We have [...] the statement of theme in the first strophe restated in the final strophe, with development of thought rather than action coming between. We are at no point in the poem more advanced in action than we were at the start. It is drawing out of original 5 themes that we must see in the poem.“

Fox6 findet die Einheit von Hoheslied ebenfalls im Thema. Für ihn eröffnet die lockere Zusammenstellung der einzelnen Sequenzen die Möglichkeit einer flexiblen Umstellung und Abänderung des mündlichen Textes im Aufführungs- und Überlieferungsprozess (Umsingen, Zurechtsingen, Zersingen):7 „Limitless possible permutations of authorship, compilation, transmission, and copying could have produced the version of the Song we have, but the poem would be none the 8 less unity.“

Durch assoziative Stichwortverbindungen entsteht ein Netzwerk von Bezügen, welche in eine logische Abfolge gebracht werden. So beobachtet bereits Herder: „Offenbar aber hat der Verfasser oder Sammler noch einen feinen Faden der Einheit durchgewebt, über den ich mich, nicht weil ich ihn finde, sondern, weil er fein und lehrreich ist, freue. Er verfolgt nämlich die Liebe von ihrem ersten Keim, von ihrer zärtesten Knospe, durch alle Stufen und Zustände ihres Wachsthums, ihrer Blüthe, ihres Gedeihens bis zu reifer Frucht und neuer Sprosse.“9

So wird die Entwicklung eines Themas, wie dem der zwischenmenschlichen Liebe erreicht, ohne dass es zu einer übergreifenden Handlung kommt. Die paradigmatisch bedingte Vieldeutigkeit macht die Entwicklung des Gedankenfortschritts zwar nachvollziehbar, aber nicht vorhersehbar. Jedoch werden hier Beobachtungen auf der Ebene der Handlung getroffen, die Grundlagen für eine narrative Interpretation legen. Für diese ist die Darstellung mit einzubeziehen. Dazu sind die makrostrukturalen Be4

BROADRIBB 1961–62. BROADRIBB 1961–62:24. 6 Cf. FOX 1985:202–204. 7 DE W ETTE 1822:374 nimmt an, „daß diese Lieder im Munde des Volks fortgepflanzt und umgebildet worden sind, woraus zugleich die fragmentarische Zusammenstellung erklärbar wird.“ STÄRK 1911:267 erklärt den Ausfall ganzer Reihen und die Einsetzung verwandter Motive damit, dass die Lieder zersungen sind. Bis heute werden verschiedene Verse von Hoheslied neu zusammengestellt und durch moderne Hebräische Passagen ergänzt. Ebenso werden Zitate aus Hoheslied insbesondere in Liebesliedern eingeflochten. Cf. BRENNER 2000:157.158. 8 FOX 1985:223. 9 HERDER 1778:110–111. 5

4.1. Gliederung durch rekurrente Elemente

41

züge herauszuarbeiten und mit dem Inhalt zu verbinden, denn „structure can only be approached through content, through the patient discovery of the inner connections of images and sequences“10. Eine Interpretation als Erzählung bedingt neben der Handlung eine Darstellung des Themas in einer sinnvollen Anordnung der Textelemente innerhalb einer systematischen Makrostruktur. Dabei hat die diachrone Fragestellung nach dem ursprünglichen Textzusammenhang der einzelnen Quellen kein Gewicht. Stattdessen ist zu klären, wie die verarbeiteten Quellen eingesetzt werden, so dass ihnen eine Funktion innerhalb des vorliegenden Textes zukommt. Dabei können sich Inhalt und Struktur gegenseitig beeinflussen, indem ein Wort aus formalen Gründen wie z.B. des Klanges oder Reimes gewählt oder die Struktur um des Inhalts willen durchbrochen wird.11 So ist offensichtlich, dass ein formalistischer Strukturalismus und eine rein strukturale Gliederung dem Wesen eines poetischen Textes, wie Hoheslied einer ist, nicht gerecht werden. Literarische Einheitlichkeit ist thematisch und struktural begründet. Durch eine einzig thematische und nicht strukturale Gliederung würde der Text unter einen Systematisierungszwang gestellt. Kohäsion und Kohärenz sind Faktoren literarischer Einheitlichkeit. Die Verwendung von Zeit- und Raumkonzepten, die konsistente Darstellungsweise eines Charakters und eine Rahmung12 sind weitere Faktoren, die auf einen narrativen Text verweisen. Dazu treten inhaltliche Hinweise, die nicht nur durch die Wiederaufnahme des Themas sondern auch durch Szenenwechsel, Zusammenfassungen am Ende eines Abschnittes (Summaries) und den Wechsel von Figuren, Perspektiven und Themen angezeigt werden. Obwohl Hoheslied diachron auf verschiedene Lieder, die als Vorlage gedient haben, zurückgreift, so entsteht doch ein einheitliches Bild der Protagonisten und nicht eine Vielzahl verschiedener Männer und Frauen mit jeweils unterschiedlichen Beziehungen. Die Einheitlichkeit der Figurenbeschreibungen trägt zum Gesamteindruck bei. Wenn Hoheslied aus unabhängigen Gedichten bestehen würde, so wäre zu erwarten, dass verschiedene Männer und Frauen, unterschiedlich in Herkunft, Alter und Wertvor10

LANDY 1983:39. Darin unterscheidet es sich von festen poetischen Formen, wie z.B. dem Sonett, welches eine Form hat, nach welcher der Inhalt auszurichten ist. 12 Die Rahmenhandlung ist von der Rahmung als Strukturelement zu unterscheiden. Die Rahmung umfasst den aufeinander bezogenen Eröffnungs- und Schlussteil. Während sich Rahmen/Rahmung allein auf die Struktur bezieht, umfasst die Rahmenhandlung, die zwar ebenfalls bei der Eröffnung einsetzt auch den Inhalt. Eine Rahmenhandlung ist z.B. in den Büchern Hiob und Kohelet gegeben. In Hoheslied ist diese nicht so offensichtlich, aber im Gespräch zwischen der Frau und den Töchtern Jerusalems gegeben. Die Erzählung von Mann und Frau bildet die Binnenerzählung (s.u.). 11

42

4. Struktur

stellungen vorhanden wären. Die verwendeten Travestien können jedoch nicht einer großen Anzahl verschiedener Figuren zugeteilt werden, sondern weisen auf einen Mann, der gegebenenfalls noch durch einen zweiten konkurrenziert wird und eine Frau als Protagonisten hin. Auch das rekurrente Thema Liebe weist eine einheitliche Haltung zu Sex und Körperlichkeit auf.13 Dass die einzelnen Texte nicht durch inhaltliche Überschriften voneinander getrennt sind bzw. gegliedert werden, verweist ebenfalls auf eine Gesamtkomposition.14 Zur Gliederung von Hoheslied ist seine Makrostruktur zu ermitteln, und zwar sowohl in der Gliederung der Abfolge als auch in der Zuordnung der einzelnen Einheiten zueinander. Hier haben die rekurrenten Wörter und Phrasen ihre Bedeutung, da sie dazu beitragen, einzelne Sequenzen zu strukturieren und miteinander in Beziehung zu setzen. Wenn die Makroeinheiten ermittelt sind, trägt die inhaltliche Variation eines Themas, die sich neben Phrasen und Schlüsselwörtern auch in der Wiederaufnahme von Wortfeldern zeigt, zur Zuordnung der Makroeinheiten bei. Treten Wiederholungen über das literarische Werk verteilt mehrfach auf, so können sie gliedernde Funktion für das Gesamtwerk haben, indem sie z.B. einen Refrain bilden.15 Dieses ist zwar auch für einzelne Wörter möglich, trifft aber eher auf längere Phrasen oder ganze Strophen zu.16 Hierzu sind lineare und konzentrische Wirksignale gegeneinander abzuwägen und verschiedene Grade der Wiederholung zu unterscheiden, denn die Wiederholung einzelner Wörter und Wortpaare zeigt die internen Bezüge eines Gedichtes an. Sie kann in Hoheslied die Binnenstruktur eines Verses (4,8.9; 5,9; 7,1) oder die Mikrostruktur einer Sequenz gliedern (1,2–4). In einem Text sind demnach Indikatoren vorhanden, welche die Struktur unterteilen und andere, welche die Querbezüge zwischen den Sequenzen und Abschnitten erstellen und aufzeigen, wie ein Text verwoben ist. Folglich sind die sich beim fortlaufenden Lesen erschließenden Makroeinheiten für die Narrativstruktur und die Querbeziehungen für die poetische Struktur relevant. Da Hoheslied große poetische Anteile hat, dürfte Rekurrenz als strukturelles Phänomen dominieren. Für Hoheslied gibt es eine Fülle von Strukturentwürfen, ohne dass ein Konsens besteht. Jedoch gibt es Schnittmengen in der Zuordnung. Dem13

Cf. EXUM 2005a:35. Cf. EXUM 2005a:33. 15 Ein Refrain stellt, da er ein Ordnungsprinzip ist, einen übergreifenden Zusammenhang her. KRINETZKI 1980:13 erkennt Liedgruppen an, die durch die Refrains markiert werden, zieht daraus aber keine Konsequenzen für die Gesamtstruktur, sondern sieht nur einen losen Zusammenhang. 16 Cf. ELLIOTT 1989:37. 14

4.1. Gliederung durch rekurrente Elemente

43

nach gibt es nicht einen einzigen Verlauf, sondern verschiedene Verlaufsoptionen. Insofern unterscheidet sich Hoheslied bereits im Ansatz von einem einfachen Erzähltext. Dennoch geschieht beim Lesen von Hoheslied beim Rezipienten eine Entwicklung. Einzelne Texte werden durch ihre Abfolge miteinander verknüpft, andere durch die Wiederaufnahme von Stichwörtern oder Phrasen miteinander vernetzt. Nicht durch die Abwesenheit von Strukturelementen, sondern durch ihre Vielzahl17 entsteht kein einheitliches Bild von Hoheslied, weder in der Struktur noch in der inhaltlichen Entwicklung. Dennoch geschieht die Verknüpfung beim Leser nicht zufällig, sondern wird durch Paradigmatik und Syntagmatik des Textes bestimmt. Narrative Elemente von Hoheslied müssen in der Syntagmatik ersichtlich sein. Sie sind referentiell und wenig beliebig. Dazu gehören die Raum- und Zeitangaben, die Figurencharakterisierungen und verknüpfende Bindewörter, welche Kausalität erstellen. Für die Interpretation von Hoheslied bedeutet dieses, dass nicht nur die Strukturindikatoren zusammenzustellen sind, um eine strukturale Gliederung vorzunehmen, sondern dass diese mit der narrativen Leseanweisung in unmittelbarer Verbindung stehen. Einzelne Texte mit höherem syntagmatischem Anteil, wie etwa die Schlafzimmer-/Straßenszene (3,1–5; 5,2– 8), prägen die Interpretation. Je nach Rezipient verschieden werden diese narrativen Leseanweisungen mit den paradigmatischen poetischen Elementen verknüpft und neue Sinnzusammenhänge erstellt.18 Um Hoheslied in Makroeinheiten zu gliedern, sind in einem ersten Schritt die Abgrenzungen der Abschnitte durch die Bestimmung rekurrenter Sätze und Phrasen und ihre Kombinationen zu ermitteln. In einem zweiten Schritt ist zu klären, in welcher Weise diese Makroeinheiten aufeinander bezogen sind. Dabei stehen lineare, konzentrische und zyklische Strukturentwürfe zur Debatte.

17 ELLIOTT 1989 arbeitet die vielfältigen Bezüge heraus und stellt sie tabellarisch zusammen. Dennoch kann sie sie nicht alle gleichermaßen bei ihrem eigenen Strukturentwurf berücksichtigen. 18 EDER 2004:3–24 verbindet diese beiden Szenen mit 2,8–14 und liest die drei Szenen als eine narrative Einheit. 1. Der Mann wirbt um die Frau. 2. Die Frau sehnt sich nach ihm. 3. Die Frau wird enttäuscht, als sie sich aufmacht. Es kommt zu keinem Happy End. Diese Interpretation beruht auf der Annahme, dass die zweite Szene (3,1–4) als Wachtraum in der Phantasie der Frau abläuft und die nächste Szene (5,2–8) real ist.

44

4. Struktur

4.2. Strukturindikatoren 4.2. Strukturindikatoren

Murphy19 unterscheidet für die Analyse der Einheitlichkeit drei Kategorien, und zwar Refrains, Themen und die Wiederholung einzelner Wörter und Phrasen. In einer strukturalen Analyse müssen die Themen zurücktreten und einzelnen Wörtern kommt nur eine untergeordnete Stellung zu, so dass Refrains und Phrasen als Strukturindikatoren besonders wichtig sind. Es zeigen sich folgende wiederkehrende Elemente, die eine Funktion als Strukturindikator haben könnten: Strukturindikator

Referenz

Text

Aufforderung, sich zu erheben

2,10; 2,13

Erhebe dich, meine Gefährtin

Lobpreis der Schönheit

1,15; 4,1

Siehe, du bist schön, meine Gefährtin! Siehe, du bist schön!

Zustandsaussage: liebeskrank

2,5; 5,8

Ich bin krank vor Liebe.

Zustandsaussage: verliebt

1,7; 3,1–4 (4x)

welchen meine Seele liebt.

Intimitätsaussage: Liebesspiel

2,6; 8,3

Seine Linke unter meinem Kopf und seine Rechte wird mich umarmen.

Intimitätsaussage: Zugehörigkeit

2,16

Mein Geliebter gehört mir und ich gehöre ihm.

6,3; 7,11

Intimitätsaussage: Metapher „weiden“ mit Zeitangabe

2,16b.17a

Er weidet in den Lilien, bis der Tag weht und die Schatten fliehen.

4,5–6a; 6,2.3 (ohne Zeitangabe)

Intimitätsaussage: Ungestörtheit

2,7b; 3,5b

Stört nicht und stört nicht auf die Liebe bis es ihr gefällt!

8,4b

Beschwörung

2,7a; 3,5a; Ich beschwöre euch, Töchter 5,8a; 8,4a Jerusalems.

19

Cf. MURPHY 1979:436.

Variante

1,16; 2,14; 4,7; 6,4; 7,7

45

4.2. Strukturindikatoren

Strukturindikator

Referenz

Text

Variante

Tiermetapher verbunden mit Fluchtaufforderung zu einem Berg

2,17; 8,14

Sei gleich, mein Geliebter einer Gazelle oder einem Jungtier der Hirsche auf den Bergen von Bether/Besamim

4,5–6

Tiermetapher im Beschreibungslied

4,5; 7,4

Deine zwei Brüste sind wie zwei Jungtiere, Zwillinge der Gazelle.

Pflanzenmetapher im Beschreibungslied

4,3; 6,7

Wie ein Spalt vom Granatapfel ist deine Schläfe von hinten hervor durch deinen Schleier.

Lobpreis auf die Einzigartigkeit

6,9

Einzigartig ist sie, meine Taube, meine Vollkommene. Einzigartig ist sie für ihre Mutter.

2,8; 5,2

Stimme meines Geliebten!

2,14; 8,13

Lass mich [deine Stimme] hören!

3,6; 8,5

Wer ist diese, die aus der Wüste heraufzieht?

Ausruf zu " Stimme, Klang Aufforderung, die Stimme hören zu lassen

%/-9--Frage

20

4,7; 5,16

6,1

Die für den Strukturentwurf herangezogenen Indikatoren sind formaler und inhaltlicher Natur. Sie bilden Zäsuren des Textes von unterschiedlicher Stärke. Manche, wie der Lobpreis der Schönheit, verbreiten ein Thema im ganzen Buch und haben für die Gliederung nur eine untergeordnete Funktion. Einzelne sind auf einen Abschnitt beschränkt und strukturieren (2,10.13; 3,1–4) oder verbinden einzelne Abschnitte miteinander (3,1–4 und 1,7; 2,5 und 5,8; 2,6 und 8,3; 2,8 und 5,2; 1,15–16 und 4,1). Da etliche Texte den Abschluss oder die Eröffnung einzelner Szenen bilden und an anderer Stelle wieder aufgenommen werden, haben sie sowohl eine gliedernde als auch eine verknüpfende Funktion. 20 Die Tiermetapher der Gazelle wird nicht auf den Mann sondern auf die Frau bezogen und anstelle einer Fluchtaufforderung steht der Vorsatz, sich zu den Bergen zu begeben. J OHNSTON 2009:295 bezeichnet 2,17; 4,6 und 8,14 als „gazelle refrain“. Dieses ist jedoch für 4,6 nicht überzeugend. Es hat zwar eine abschließende Funktion gemeinsam, jedoch lediglich innerhalb eines Subabschnittes, aber unterscheidet sich deutlich in Wortwahl und Thematik.

46

4. Struktur

Einige Texte bilden durch mehrfache Wiederholung einen Refrain oder zeigen den Abschluss einer wiederkehrenden Szene an. Dieses kann auch durch die Häufung mehrerer Indikatoren geschehen. Sie sind für die Struktur von besonderer Wichtigkeit. Dieses sind die Beschwörungen, die Aufforderungen zur Ungestörtheit, die teilweise in Verbindung mit der %/-9-Frage, die Intimitätsaussagen der Zugehörigkeit des Weidens samt dem Tag-/Schattenmotiv und eine mit Tiermetaphern verbundene Fluchtaufforderung. Der Nachweis von Strukturindikatoren erzwingt keine narrative Interpretation. Die Wiederholung einzelner Strukturelemente ist ebenso in der Poesie möglich und bei einem poetischen Text als Refrain zu erwarten. Zu den Strukturindikatoren müssen demnach narrative Blöcke hinzutreten, wie dieses mit den zwei Schlafzimmer-/Straßenszenen (3,1–5; 5,2–8) der Fall ist. 4.2.1. Funktion und Inhalt der Beschwörungsformeln Viermal wird eine Beschwörungsformel verwendet, die an die Töchter Jerusalems gerichtet ist und die Liebenden im Blick hat. Dreimal (2,7; 3,5; 8,4) ist sie mit der Intimitätsaussage der Ungestörtheit verbunden, zweimal mit der Intimitätsaussage über das Liebesspiel (2,6; 8,3). Die zum Nicht-Stören auffordernde Schwurformel (2,7; 3,5; 8,4) beendet eine Liebesszene21 und fordert dazu auf, die Ungestörtheit des Liebesspiels zu verhüllen. Diese Beschwörungen bilden „Ruhepunkte der Handlung“22. 2,7 und 3,5 sind identisch. 5,8 und 8,4 variieren leicht, indem sie die Beschwörung jeweils mit einer Frage weiterführen.23 Sie richten sich jeweils an die Töchter Jerusalems und haben Scharnierfunktion, denn sie schließen einerseits einen Abschnitt ab24 und führen andererseits den Gedanken der Vereinigung weiter. Der abschließende Charakter der Beschwörungsformeln schützt die Intimität der Liebenden und der sich an21

Dieses geschieht, als ob sich bei einem Bühnenstück der Vorhang schließt und den Rest der Einbildungskraft des Zuschauers überlässt. Hier könnte neben der Schutz- auch eine Schamfunktion vorhanden sein. 22 EWALD 1826:5. 23 Dabei wird 8,4 häufig als rhetorische Frage verstanden. Cf. MURAOKA/J OÜON 1993:§144b. 24 TRIBLE 1978:146 unterteilt deshalb Hoheslied in fünf Abschnitte. Anders sieht es EXUM 1973:53, die 2,7 und 3,5 als inclusio eines Abschnittes ansieht. Meistens wird der einen Abschnitt abschließende, refrainartige Charakter hervorgehoben, so etwa J OHNSTON 2009:293: „Each of these three sections opens with desire (1:2–4; 3:1; 7:12– 14) and closes with fulfillment (2:6–7; 3:4–5; 8:3–4). On the other hand the third refrain (5:8), which features the most variation on the pattern, serves as a minor structure marker, since it appears at the end of a poem (5:2–8) but in the middle of a canto (5:2– 6:3), where it provides the transition between two poetic sections (5:2–8 and 5:9–6:3).“

4.2. Strukturindikatoren

47

schließende Absatz nimmt jeweils die Thematik des Kommens des Geliebten auf: 2,8seq

Der Geliebte eilt herbei wie eine Gazelle.

3,6seq

Der Geliebte kommt in einer Sänfte durch die Wüste.

5,8bff

Der Geliebte soll gefunden werden.

8,5

Der Geliebte und die Frau kommen gemeinsam durch die Wüste.

Die Beschwörungsformel ist, abgesehen von 5,8, durch die Stichwortverbindung 0, erregen thematisch eingebunden.25 In 5,2; 8,5 ist die Erregung in Bezug auf die Liebe gemeint, und zwar als Sehnsucht (5,2) oder vollzogene Liebe (8,5). In den Beschwörungsformeln (2,7; 3,5; 8,4) ist die zuvor beschriebene Situation jeweils die des Liebesspiels, so dass 0, die von der wörtlichen Bedeutung abgeleitete Konnotation stören erhält. Dabei haben die Töchter Jerusalems eine die Liebenden unterstützende Funktion, dass nämlich diese in ihrer Liebe nicht gestört werden bis es der Liebe selber gefällt. Und eben dieses ist in 8,5b erreicht. Wenn die Beschwörungen aus dem Kontext genommen werden, so können sie von der individuellen Erfahrung abstrahiert und als Lehraussage über die Liebe angesehen werden. Dann klängen hier weisheitliche Töne an,26 die genau das Gegenteil der hier vorgelegten Interpretation aussagen würden. Sie wären eine dringliche Warnung zur Enthaltsamkeit. Diese Interpretation wird gelegentlich auf den Text angewendet.27 Sie wird aber weder der Handlung gerecht noch dem Unterschied zwischen Beschwörungsformel und Weisheitsspruch, noch erklärt sie den Artikel bei 5/  die Liebe, durch den deutlich wird, dass hier keine allgemeine Aussage über Liebe getroffen wird. Der Artikel kann rückverweisend auf das vorherige Geschehen aufgefasst werden und schwache demonstrative Funktion haben,28 so dass hier vom Liebesspiel die Rede ist. Die Wurzel 0, erregen kann im Sinn von aktiv machen einerseits mit Schlaf verbunden sein und andererseits eine Erregung ausdrücken, die über das Aufwachen hinausgeht und Sehnsucht und sexuelle Erregung beinhaltet. 0, als erwache findet sich in 4,16, und zwar dort, wo das Wehen des Nordwindes poetisch als Aufwachen beschrieben wird. Cf. J. SCHREINER 1986:1185. 26 Cf. FOKKELMAN 2001:205. 27 So sieht KOOREVAAR 2000b:26 darin eine Warnung, nicht zu freien, da dieses unumgänglich zum Geschlechtsverkehr führt. ANDERSON 2007:569 entdeckt eine Aufforderung, bis zur Ehe Jungfrau zu bleiben, also bis zur rechten Zeit Enthaltsamkeit zu üben. SPARKS 2008:286 sieht sie als Warnung der Frau an die Töchter Jerusalems an, sich von den Gefahren der Liebe fern zu halten. 28 Cf. MURAOKA/J OÜON 1993:§137f. 25

48

4. Struktur

Nicht auszuschließen ist, dass es sich um eine geläufige Beschwörung29 als Aufruf zur Enthaltsamkeit handelt, die nun zum Schutz der Liebenden verwendet und damit ironisch mit dem gegenteiligen Sinn gebraucht wird. Für diese Ambivalenz der Verwendung spricht die Doppeldeutigkeit des Verbs 0,. Einerseits wird damit der Abschluss des Liebesgeschehens (8,5) ausgesagt,30 als sie ihn aus dem Schlaf unter dem Apfelbaum aufweckt.31 Andererseits wird daran erinnert, dass sie seine Liebe erregt, also erweckt hat. Es wird also auf das Liebesspiel hingewiesen, welches unter dem Aprikosenbaum stattfand (2,3).32 Da in 8,5b die Empfängnis und Geburt durch die Mutter in Erinnerung gerufen33 und in 8,5a der Hochzeitszug (3,6–11) wieder aufgenommen wird, mag das Liebesspiel auch den Geschlechtsverkehr beinhalten. Dabei geht 8,5b zeitlich 8,5a voraus, wird aber als Rückblick präsentiert. 8,4 ist auch dadurch mit 3,5 verbunden, dass beide eine Verbindung zum darauf folgenden Wüstenzug bilden und die Frage formulieren:

 3: +  , %/-9  Wer ist diese, welche aus der Wüste heraufzieht? Wenn erkannt wird, das es sich um einen Hochzeitszug handelt, dann zielt die Frage darauf ab, die Identität der Braut zu klären,34 denn der Pomp um die Sänfte mit den sie umgebenen Soldaten gibt Salomo bereits als Bräutigam zu erkennen (3,11). In 8,5 wird auf diese Situation Bezug genommen. Nun ist die Frau sichtbar. Sie stützt sich auf ihren Geliebten. Sie ziehen gemeinsam herauf. Aber ihre Identität bleibt ungeklärt, so dass es nahe liegend ist, sie mit der Protagonistin gleichzusetzen. Jedoch hängt dieses von 29

Die Anrufung von Gazellen und Hirschkühen könnte als Euphemismus für El Shadday und Elohim Zebaoth verwendet werden. Cf. MURPHY 1990:133. Bei einer Verwendung der Beschwörung als kursierenden Ausspruch oder bei einer Aufführung als Sitz im Leben wäre so die Einhaltung des Gebotes, den Gottesnamen nicht zu missbrauchen, gewährleistet. Dieses scheint mir die nächst liegende Begründung für die Verwendung der Tiere zu sein. SCHWAB 2002:47 sieht darüber hinaus zwei weitere Referenzbezüge, dass sie nämlich auf die Liebenden, denen Tiervergleiche zugeschrieben werden, und deren sexuellen Appeal verweisen. So sind die Tiere selbst bereits Symbole sexueller Potenz, die sich hier als Anmut und Leidenschaft äußern könnte. 30 Gegen B ARBIERO 2002:187, der kein Ende des Liebesaktes feststellt, sondern annimmt, dass für die Frau nur Liebende wach, also „realistisch, wirklichkeitsbezogen‚ geweckt“ sind. 31 J. SCHREINER 1986:1186 sieht nur den zweiten Aspekt. 32 HERDER 1778:223 entnimmt aus 2,3 den Apfelbaum als Ort des Liebesspiels: „Sie ist ja noch im Folgenden unter dem Apfelbaum und will mit Aepfeln, mit der Frucht ihres Geliebten erquickt sein.“ Zur Übersetzung von Aprikosen- statt Apfelbaum siehe Anmerkung 13 der Übersetzung in Kaptel 3. 33 Cf. EXUM 1973:51. 34 DIRKSEN 1989:223: „The question ‚Who is coming there?‘ [...] In that case it must have been the bride as is clear from the feminine forms zo t and ola.“ Dieses beachtet STEINBERG 2006:350 nicht, wenn er den Mann als Antwort annimmt.

4.2. Strukturindikatoren

49

der Figurenidentität innerhalb der Gesamtinterpretation ab. In der dritten mit %/-9 eingeleiteten Frage (6,10) scheint nicht auf die durch die anderen beiden Fragen eingeleitete Szene Bezug genommen zu werden. Hier wird die Bewunderung gegenüber der Geliebten mit astralen Vergleichen ausgedrückt. 4.2.2. Intimitätsaussage der Zugehörigkeit Die Intimitätsaussage der Zugehörigkeit erscheint (2,16; 6,3) am Ende einer Sequenz und drückt die Liebesbeziehung als gegenseitiges Besitzverhältnis aus: " /504  "2 Mein Geliebter gehört mir und ich gehöre ihm.35 Jeweils schließt sich die metaphorische Aussage an, dass der Geliebte in den Lilien weidet. Das Verhältnis zwischen Mann und Frau wird in einem Aktiv-Passiv-Verhältnis ausgesagt, wobei dem Mann die aktive Rolle des Weidens zukommt und die Lilien die Rolle der Frau repräsentieren. In 7,11 wird das gegenseitige Besitzverhältnis wieder aufgenommen, dabei aber von einer Prädikation des Geliebten durch das Motiv36 des Weidens abgesehen. Stattdessen wird eine ungewöhnliche Sehnsuchtsaussage aus der Perspektive des Mannes getroffen: "% ' #  , 03 Nach mir steht sein Verlangen. Hier findet sich eine Umkehrung der Beziehung des Verlangens, wie sie in der Paradiesgeschichte gesetzt wird (Gen 3,16). Das Verlangen ist positiv konnotiert und kontrastiert das Verlangen der Sünde (Gen 4,7). Sie gehört ihm und er verlangt nach ihr.37 Zweimal wird die Intimitätsaussage des Weidens mit dem Tag-/Schattenmotiv (2,16.17a; 4,5–6a) verbunden und ein temporales Element eingeführt, da die Dauer des Liebesspiels bis zum Morgengrauen38 angedeutet wird. In 2,17 folgt auf das Ende des nächtlichen Liebesspiels eine Verknüpfung mit der Tiermetapher Gazelle. Diese steht für Schnelligkeit, so dass sie sowohl für das Enteilen des Geliebten im Morgengrauen als auch für das Kommen des Geliebten (2,9) stehen könnte. 35 Auch wenn es hier um keine Aussage über ein Besitzverhältnis unter rechtlichem Aspekt geht, sondern diese Aussage als Konsequenz emotionaler Bezogenheit anzusehen ist, ist sie in einem Umfeld, in welchem die Frau besitzrechtlich Eigentum des Mannes war, außerordentlich. 36 Ein Motiv bezeichnet „die kleinste thematische Einheit der Handlung“ (MARTINEZ/ SCHEFFEL 2003:190). 37 Für HEINEVETTER 1988:191 gehört das Verlangen zur gefallenen Welt, dient aber in Hoheslied zur Rückkehr in den paradiesischen Zustand. 38 Gelegentlich wird vertreten, dass hier vom Ausklingen des Tages die Rede ist. Das Wehen des Tages könnte sowohl den Abend- als auch den Morgenwind bezeichnen. Die Schatten bezeichnen jedoch die Nachtstunden, welche durch den neuen Tag vertrieben werden, so dass hier vom Morgengrauen die Rede ist. Cf. GORDIS 1974:83; ZAKOVITCH 2004:162.

50

4. Struktur

4.2.3. Das Suchen des Geliebten Die zwei Erzählungen vom Suchen nach dem Geliebten (3,1–4; 5,2–7) weisen strukturale Parallelen auf, denn die Kernaussagen finden sich in völliger Übereinstimmung in beiden Abschnitten: Ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht (3,1b.2b; 5,6b )39 und Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen (3,3a; 5,7a). Hiervon ausgehend werden Handlungen mit unterschiedlichem Ausgang entworfen. Die Unterschiedlichkeit der Szenen bahnt sich schon dadurch an, dass die Gliederung der ersten Begebenheit (3,1–4) durch das vierfach wiederholte

  4 5/ ! %/ welchen meine Seele liebt (cf. 1,7),40 welches in der Parallelerzählung fehlt, erfolgt.

4.3. Provisorische Gliederung durch Strukturelemente 4.3. Provisorische Gliederung durch Strukturelemente

Werden die verschiedenen Indikatoren herangezogen, so gliedert sich Hoheslied nebst der Überschrift in neun Makroeinheiten, die sich aus vierundzwanzig Abschnitten, meist Gedichten, aber auch kurzen Erzählungen zusammensetzen. Die meisten bestehen aus kleineren Sequenzen. Von diesen gibt es etwa achtunddreißig. Die Übergänge sind nicht immer glatt und die Abgrenzung ist nicht immer offensichtlich, so dass hier die Aufnahme und Modifizierung der ursprünglichen Einheiten anklingt. Da es in Hoheslied keinerlei Überschriften gibt, liegt es am Leser, aus Sequenzen Abschnitte und Makroeinheiten zu bilden und eine Handlung nachzuvollziehen.41 Die Zyklizität der Themen bewirkt, dass der Leser, selbst wenn er einzelne Sequenzen oder Abschnitte nicht erfasst, das Thema nicht verlässt. Aus den Einzelbeobachtungen stellt sich die Struktur wie folgt dar:

39 TRIBLE 1978:148 dehnt die Parallele auf 5,6b Ich rief ihn, aber er antwortete mir nicht aus und stellt es parallel zu 3,1b LXX           , welches im wohl vorzuziehenden masoretischen Text fehlt. 40 ALONSO SCHÖKEL 1991:22-23 übersetzt die Phrase in 3,1-4 treffend mit „die Liebe meines Lebens“ und in 1,7, wohl da es sich um eine Anrede handelt, mit „mein Geliebter“. 41 ROBERTS 2007:396 unterscheidet „minimal structural segments“ und „higher structural levels“ und schließt so von kleineren auf größere Einheiten. Er entdeckt eine „much higher order of structured units than it is typically recognized by anthologists. Moreover, it evinces a high level of compositional unity that makes it essentially one Song and not many.“

4.3. Provisorische Gliederung durch Strukturelemente

Makroeinheit

I

Referenz

Anfangsmarkierung

1,1

Überschrift; Archaische Sprache

1,2–2,7 1,2–17

2,1–7

II

51

Schlussmarkierung

42

43

1,2 Jussiv: Er küsse

1,15–16b Aufmerksamkeitserreger  

Siehe mit zusammenfassendem Lobpreis der Schönheit im Stil der Einzigartigkeitsaussage 1,17 Schluss durch Inhalt und Struktur: Vereinigung der 44 Liebenden

2,1 Selbstbeschreibung

2,5 Zustand: liebeskrank 2,6 Intimitätsaussage: Liebesspiel 2,7a Beschwörung 2,7b Intimitätsaussage: Ungestörtheit

2,8–17 2,8–13

2,8 Ausruf "2 " Stimme meines Geliebten 2,8.9 Zweifaches  

2,10.13 Aufforderung an die Frau, sich zu erheben als inclusio der Rede des Mannes

42 In der Makroeinheit I 1,2–2,7 gibt es zwischen 1,2–17 und 2,1–7 verbindende und trennende Elemente. Da 1,15–16 einen gegenseitigen und zugleich summarischen Lobpreis im Stil der Einzigartigkeitsaussage bietet und 1,17 und 1,4 inhaltlich für den Ort des Liebesspiels durch die Lokalisation innen verbunden sind, kommt es zu einer Zäsur nach 1,17. Zugleich sind verbindende Elemente zu 2,1–7 vorhanden. Nach einer Selbstprädikation (2,1) wird der gegenseitige Lobpreis (2,2–3) in der Lokalisation draußen fortgeführt. Der Ortswechsel wird graduell vollzogen. Denn obwohl die Frau den Mann im Haus erwartet, wird der Ort des Liebesspiels ins Grüne verlegt, aber mit Bestandteilen eines Hauses (Zedernbalken, Täfelung) bzw. des Mobiliars (Couch) beschrieben. So wird die Verbindung der Szene zum Anfang gewährleistet, denn in der Kammer des Königs (1,4) wären Zedernbalken, Täfelung und Mobiliar angemessen. 43 Die Feingliederung von 1,2–17 lässt sich durch weitere thematische und strukturale Indikatoren erschließen: 1,2–4; 1,5–8; 1,9–11; 1,12–17. Cf. ELLIOT 1989:44–59. 44 „Closure in this strophe is effected thematically by the reference to a bed and the evocation of the union of the couple [...]. That thematic closure is supported by the exeptionally strong parallelism and rhyme of the last two cola.“ (ROBERTS 2007:81).

52

4. Struktur

Makroeinheit

Referenz

Anfangsmarkierung

Schlussmarkierung

Siehe als Aufmerksamkeitserreger 2,11   Siehe als Submarkierung 2,14–17

2,14 Aufforderung, die Stimme hören zu lassen

2,16 Intimitätsaussage: Zugehörigkeit 2,16.17 Tiermetapher bei Aufforderung zur Eile

III

3,1–5

3,1: Szenenwechsel: Schlafkammer; getrennte Liebende

3,5a Beschwörungsformel 3,5b Intimitätsaussage: Ungestörtheit

IV

3,6–11

3,6 Frage: %/-9  Wer ist diese?

3,7   Siehe als 45 Zwischenmarkierung 3,11 Imperativ; Inhaltlicher Abschluss

V

4,1–5,1 Inhaltlicher Neuansatz: Beschreibungslied 4,1   Siehe als Aufmerksamkeitserreger

4,5b.6a Weiden mit Zeitangabe 4,7 Lobpreis der Schönheit

4,8 Fluchtaufforderung mit Stichwortverbindung: Libanon 4,8–11 Abgrenzung der Sequenz durch Wiederholungen in verdoppelten 46 Kola 4,12–15 Szenenwechsel: Garten

4,11.15 Stichwortverbindung: Libanon als Rahmung

4,16 Imperative

5,1 Imperative

4,1–7



4,8–15

4,16–5,1

45

47



ZAKOVITCH 2004:173 sieht hier den Beginn eines Liedes. Allerdings gliedert er 3,6 als redaktionellen Einschub aus. 46 Cf. ZAKOVITCH 2004:191. 47 Da die Gartenszene aus 4,11–15 weitergeführt wird, kann diese Sequenz auch als Untersequenz aufgefasst werden, welche durch die Imperative begrenzt wird.

4.3. Provisorische Gliederung durch Strukturelemente

Makroeinheit

Referenz

VI

5,2–6,3 5,2–8

VII

Anfangsmarkierung

5,2 Ausruf "2 " Stimme meines Geliebten 5,2 Szenenwechsel: Schlafkammer; getrennte Liebende

53

Schlussmarkierung

5,8 Beschwörung Zustand: liebeskrank

5,9–16

Wechsel von Sprecher und Blickrichtung

5,16 Lobpreis der Einzigartigkeit Ende des Beschreibungsliedes

6,1–3

6,1 Frage der Töchter mit Rückbezug auf 5,8

6,3 Intimitätsaussage: Zugehörigkeit

6,4 Lobpreis der Schönheit 6,4 Phrase:

6,9 Lobpreis der Einzigartigkeit 6,10 Frage: %/-9  Wer ist diese? 6,10 Phrase: %"6 3 : ;/5 Aufregend wie diese Sehenswürdigkeiten/ Erscheinungen

6,4–7,11 6,4–10

%"6 3 :;/5

Aufregend wie diese Sehenswürdigkeiten/ Erscheinungen

6,11–12

6,11 Wiederaufnahme der Gartenmetapher

6,12 Szenenwechsel: Überleitung zur Szene im Lager

7,1–11

Neue Szene: 7,1 Imperative

Zwischenmarkierung: 7,7 Lobpreis der Schönheit 7,11 Intimitätsaussage: Zugehörigkeit

VIII

7,12–8,7

Neue Szene: 7,12 Imperativ

8,3 Intimitätsaussage: Liebesspiel; Intimitätsaussage: Ungestörtheit 8,4b Beschwörung 8,5 Frage: %/-9  Wer ist diese? 8,6b.7 Weisheitliche Lehraussage

IX

8,8–14

Aufforderung, die Stimme hören zu lassen

8,14 Tiermetapher bei Fluchtaufforderung

54

4. Struktur

An dieser Gliederung wird offensichtlich, dass sie durch verschiedene Elemente bestimmt wird. Strukturale Elemente zu Beginn oder zum Schluss eines Abschnittes, sowie deren Wiederaufnahme und Verbindung mit weiteren Strukturelementen bilden ein komplexes Bezugssystem. Dazu treten sprachliche Elemente wie Imperative und Aufmerksamkeitserreger, sowie poetische Elemente der Rekurrenz und inhaltliche Neueinsätze durch Szenen-, Themen- und Sprecherwechsel. Diese widersprüchliche Vielfalt von Strukturindikatoren weist darauf hin, dass es nicht eine einzige verbindliche Struktur gibt. Die Gewichtung und Zuordnung der Faktoren wird durch die subjektive Entscheidung des Lesers bestimmt und mag sich beim wiederholten Lesen verändern. Wenn Hoheslied auf seine Anfangs- und Schlussmarkierungen hin untersucht wird, so können diese nur annähernd bezeichnet werden, da bei der Bestimmung der Markierungen sowie der Gewichtung des Verhältnisses verbindender und trennender Elemente eine subjektive Einschätzung hineinspielt. Entsprechend unterschiedlich fallen die vorgeschlagenen Gesamtstrukturen aus. Poetische und narrative Strukturelemente greifen ineinander. Manche Phrasen führen zu Querverbindungen zwischen einzelnen Sequenzen (z.B. 4,3; 6,7), ohne dass diese für die Abgrenzung der Sequenzen oder eine lineare Struktur von Bedeutung sind. Da es sich um einen poetischen Text handelt, sind diese Rekurrenzen jedoch nicht zu ignorieren, sondern können in einer konzentrischen oder zyklischen Struktur von Bedeutung sein.

4.4. Leseoptionen: Linearität und Progression, Konzentrik, Zyklizität 4.4. Leseoptionen

Bei Hoheslied handelt es sich nicht um eine nur lose, etwa durch Stichwortverbindungen oder anderweitig hervorgerufene Assoziationen verknüpfte Komposition, sondern um ein durch eine mehrfache Struktur gegliedertes literarisches Werk. Die Struktur von Hoheslied kann durch drei Leseoptionen unterschiedlich erschlossen werden: Linearität, Konzentrik und Zyklizität.48 Demnach ist sowohl die lineare Abfolge als auch die konzentrische Aufeinanderbezogenheit der Einheiten relevant. Die Gliederungsfaktoren von Linearität, Konzentrik und Zyklizität sind nicht deckungsgleich und führen zur Unschärfe in den Abgrenzungen. Diese zeigt sich besonders in der zweiten Hälfte von Hoheslied.

48 Die Zyklizität innerhalb der Einheiten wird seit einiger Zeit von STEINBERG 2002; 2006 postuliert.

4.4. Leseoptionen

55

4.4.1. Linearität und Progression Linearität bezeichnet die Leserichtung, einen Text von vorne nach hinten, vom Anfang bis zum Ende zu lesen. Sie leitet den Leser durch den Gedankengang des Textes, der sich fortlaufend erschließt und eröffnet einen diskursiven Raum, der auf Kohärenz und Kohäsion beruht. Dadurch vermittelt Linearität den Eindruck der Progression, aber Progression ist nicht allein textübergreifend linear begründet, als wenn sich eines aus dem anderen zwingend erschließen würde. Linearität eröffnet einen diskursiven und Progression einen narrativen Raum. Progression erschließt sich im Leseprozess durch die Entwicklung einer Handlung oder eines Themas. Sie entsteht aus der im Leser begründeten Kombination von syntagmatischen und paradigmatischen, narrativen und poetischen Textelementen. Die Progression bildet keinen prinzipiellen Gegensatz zur Poesie. Deshalb ist sie in Hoheslied innerhalb einzelner Sequenzen unbestritten. Umstritten ist eine das ganze Buch umfassende Progression, insbesondere in allen anthologischen Interpretationen. Progression wird in einigen Spielarten der Dramentheorie vorausgesetzt und kommt auch in kultisch-mythologischen Interpretationen zum Tragen. Bei der Rückführung auf Hochzeitszyklen ist eine Progression nicht zwingend, aber möglich. Eine auf eine lineare Leseweise zurückgehende Progression findet sich in unterschiedlichen Spielarten, so z.B. Bea, der eine figurative Interpretation auf die verzehrende Liebe zwischen Christus und seiner Gemeinde vertritt,49 unterteilt in sechs Abschnitte, die aufeinander Bezug nehmen.50 Goulder51 nimmt einen sich stetig entwickelnden Plot an. Er knüpft an den dramatischen Interpretationen an und entwirft eine Handlung, in welcher eine arabische Prinzessin an den Hof Salomos kommt, ihn in der Audienzhalle trifft, mit ihm die Nacht verbringt, in der königlichen Sänfte zur Hochzeit getragen wird und es zur ehelichen Vereinigung kommt. Die zweite Hälfte von Hoheslied schildert ihre Einsetzung als Königin. Murphy52 findet die Einheit in der übergreifenden Kohäsion des Textes, aus der er eine kohärente Handlung entwirft. 49

Cf. B EA 1953:9–10. Initia amoris inter sponsum et sponsam (1,2–2,7); Incrementum amoris (2,8–3,5); Deductio sponsae ad sponsum (3,6–5,1); Probatio et confirmation amoris sponsae (5,2– 6,10); Sponsae praestantia et gaudia (6,11–8,4); Unionis confirmatio et perpetua stabilitas (8,5–8,14). 51 GOULDER 1986:4 unterteilt Hoheslied in vierzehn Lieder und hält es für eine Abhandlung gegen die Verbannung ausländischer Frauen in postexilischer Zeit, wie sie unter Esra und Nehemia geschah: 1,1–8; 1,9–2,7; 2,8–17; 3,1–5; 3,6–11; 4,1–7; 4,8–5,1; 5,2–9; 5,10–6,3; 6,4–12; 7,1–10; 7,11–8,4; 8,5–10; 8,11–14. 52 MURPHY 1990:62–91 unterteilt in zehn Abschnitte: 1,2–6; 1,7–2,7; 2,8–17; 3,1–5; 3,6–11; 4,1–5,1; 5,2–6,3; 6,4–12; 6,13–8,4; 8,5–14. 50

56

4. Struktur

Munro53 vertritt eine lineare Progression, in welcher ein männlicher Liebhaber durch die Schönheit einer Frau gefangen genommen wird und diese quasi zu einer Königin aufsteigt. Diese Entwicklung wird auch an der Entwicklung der königlich-höfischen Bildwelt offensichtlich. 4.4.2. Entwurf einer linearen Leseweise Wie unten ausgeführt wird, erfolgt die Darstellung von Hoheslied in zwei Erzählbögen (1,2–5,1; 5,2–8,7) und wird durch einen Epilog (8,8–14)54 abgeschlossen. Die Darstellung der Handlung geschieht in einzelnen Szenen. Eine Handlungsfolge ergibt sich aus der Verknüpfung der einzelnen Szenen. Obwohl dieses durch den Leser geschieht, wird die lineare Leseweise nicht einfach vom Leser in den Text hineingetragen, sondern ist, wie bereits ausgeführt,55 Teil des hermeneutischen Zirkels des Verstehens. In der Eröffnung des ersten Erzählbogens werden die Haupt- und Nebenfiguren eingeführt. Was die Sequenz der Handlung betrifft, so folgt auf die Überschrift die Exposition, die in zwei verschiedene Situationen einführt. Die Protagonistin Frau befindet sich einerseits in einer idealen Situation, nämlich der Zuwendung des Königs an dessen Hof (1,2–4), und andererseits in einer Konfliktsituation mit ihren Brüdern in ländlicher Umgebung (1,5–8). Einmal ist sie mit ihrem Geliebten vereint, das andere Mal getrennt. Verschiedene Szenen, die miteinander verwoben und aufeinander bezogen sind, führen zum zentralen Ereignis der Begegnung und Vereinigung im Garten (4,16–5,1). Der zweite Erzählbogen setzt bei der zweiten Schlafkammerszene ein. Nach der Vereinigung der Liebenden (4,16–5,1) wird hier der Leser wieder in eine Situation der Trennung zurückversetzt, so dass ein erneuter Erzählbogen den Weg der Liebenden zueinander aufnimmt (5,2–7,11). Die Ereignisse greifen auf die erste Hälfte zurück, so dass ein Netzwerk von Bezügen entsteht, welche die Schlusssituation vorbereiten. Letztere ist komplex, da sie die Hauptaspekte der Handlung resümiert (7,12–8,7) und auf die doppelte Eröffnung von Brüderkonflikt und Rendezvous zurückverweist (8,8–14). Sie führt zu einem offenen Schluss, der die Spannung von Nähe und Distanz bewahrt.

53 „Narrativity is most evident in the development of regal imagery throughout the Song, for the movement of images tells the ‚story‘ [...]. The capacity of the shifting images to take on the character of a ‚story‘ depends on the resources of the imaginative field [...] for the narrative takes shape in the interaction of images drawn from the different aspects of courtly life.“ (MUNRO 1995:145). 54 Bereits 7,12–8,7 haben eine zusammenfassende Funktion, da sie in wenigen Motiven viel aus den Makroeinheiten A B C D wieder aufnehmen. 55 Siehe die Ausführungen zum hermeneutischen Zirkel bei Heidegger unter 2.2.3.

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4.4. Leseoptionen

Der erste Erzählbogen schildert vorwiegend aus der Sicht der Frau den Weg des Mannes zu ihr. Der zweite Erzählbogen schildert zuerst den nicht erfolgreichen Weg der Frau zum Mann und dann den Weg des Mannes zur Frau. Insbesondere für die lineare Leseweise, aber auch für die anderen, sind die einzelnen Szenen zu bestimmen. Die Abgrenzung und zusammenfassende Nacherzählung der einzelnen Sequenzen hat bereits narrativen Charakter. 4.4.2.1. Erster Erzählbogen: 1,2–5,1 Makroeinheit I (1,2–2,7) Zu Beginn gibt es rasche Wechsel der Sprecher und der Orte. Die Ausgangssituation ist am Königshof. In 1,2–6 handelt es sich um zwei ineinander greifende Sequenzen, nämlich um einen Dialog über die Vortrefflichkeit des Königs, der die Frau mit sich in seine Gemächer nimmt (1,2– 4), und eine Erklärung der Frau an die Töchter Jerusalems, wie sie zu ihrer Hautfarbe gekommen ist (1,5–6). 1. Szene 1,2–4: Königshof Im Königspalast befinden sich mehrere Frauen: die Töchter Jerusalems und eine von ihnen unterschiedene Frau, die sich nach den Küssen des Königs sehnt. Sie berichtet, dass sie von ihm in seine Gemächer gebracht wurde. Sie stellt den König ins Zentrum der Szene. Sie preist ihn wegen seiner Schönheit und Qualität als Liebhaber. Dass der König die Frau in seine Kammer brachte, erklärt ihre Anwesenheit unter den jungen Frauen, welche durch den Verbund mit 1,5 als die Töchter Jerusalems erkennbar sind und sich als diejenigen zeigen, die ebenfalls dem König zujubeln und ihn preisen. Danach beginnt die Erzählung der Frau. Sie erzählt ihre Geschichte. Es wird kein Ortswechsel für das Gespräch angedeutet, obwohl es von einem Geschehen an einem anderen Ort in ländlicher Umgebung handelt. 2. Szene 1,5–6: Weinberg Die Frau spricht zu den Töchtern Jerusalems und hebt ihnen gegenüber ihre eigene Schönheit hervor. Sie ist braun 56 gebrannt, weil sie von ihren

56 Dieses ist nicht ihre natürliche Hautfarbe, sondern ist sekundär durch Bräunung erfolgt. Das Adjektiv & kann sowohl schwarz als auch rötlich braun meinen. Die Reduplikation der zweiten Silbe bei %&3& könnte sowohl eine Verstärkung als auch eine Abschwächung ausdrücken. Da es sich hier auf die Haut bezieht, während  "& (1,5)





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4. Struktur

Brüdern zur Arbeit im Weinberg gezwungen wurde und dort der Sonne ausgesetzt war.57 Asyndetisch schließt sie an, dass sie ihren Weinberg nicht behütet hat. Dabei bleibt offen, ob in dieser Begründung eine metaphorische Ebene mitschwingt und es sich nicht nur um einen Weinberg handelt, sondern sie zugleich von sich selbst, etwa vom Nichtbewahren ihrer Jungfräulichkeit, spricht. 3. Szene 1,7–8: Ländliche Umgebung Die Frau setzt ihre Erzählung fort und geht von der Weinbergszene zu einer Hirtenszene über. Die Verbindung wird durch die ländliche Szenerie erstellt. Die Rolle der Frau verändert sich jedoch, da sie nun nicht mehr als Weinberghüterin, sondern als Ziegenhüterin erscheint. Sie redet den Geliebten an und fragt ihn nach seinem Weideort. Auch hier schwingt wiederum eine metaphorische Ebene mit, da Weiden zu den strukturrelevanten Begriffen gehört (cf. 2,16; 4,5; 6,2.3). Der Wechsel vom Bericht zur direkten Anrede des Geliebten geschieht unmittelbar. Da die Szene in ländlicher Umgebung nie verlassen wird, bleibt die Erzählsituation bestehen, so dass sie Teil ihrer Erzählung an die Töchter Jerusalems ist. 4. Szene 1,9–17: Am Königshof und in den Weinbergen von En-Gedi Mann und Frau rühmen einander. Der Mann bewundert die Frau (1,9–10) und die Frau den Mann (1,12–14). Er beschreibt ihr Äußeres, sie das gemeinsame Liebesspiel. Darin eingebettet (1,11) ist das Rühmen der Frau seitens einer Gruppe, wohl der Töchter Jerusalems. Den Abschluss bildet der gegenseitige Lobpreis von Mann und Frau. Der Mann erscheint wieder die Gesamterscheinung samt dem schwarzen Haupthaar umfassen kann, ist wohl von einer abschwächenden Funktion schwärzlich, bräunlich auszugehen. 57 Die chiastische Verschränkung von 1,6a mit 1,5a (ZAKOVITCH 2004:119) lässt erkennen, dass die Frau ihre dunkle Hautfarbe positiv hervorhebt und sie nicht als Makel ansieht. Das Verb