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German Pages 176 [175] Year 2015
Ludger Schwienhorst-Schönberger Das Hohelied der Liebe
Ludger Schwienhorst-Schönberger
Das Hohelied der Liebe
Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015 Alle Rechte vorbehalten www.herder.de Umschlaggestaltung: Verlag Herder Umschlagmotiv: © Peter Weidl, Wittibreut Satz und PDF-E-Book: dtp studio eckart | Jörg Eckart ©
ISBN (Buch): 978-3-451-31238-0 ISBN (PDF-E-Book): 978-3-451-80348-2
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Die Überschrift (Hld 1,1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Das Lied der Lieder (1,1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Von Salomo (1,1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
Prolog: Die Sehnsucht nach dem Geliebten (1,2–2,7) . . 30 Er küsse mich mit Küssen seines Mundes! (1,2–4) . . . . . . . . . . 30 Dein Name . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Zieh mich hinter dir her / Trahe me post te . . . . . . . . . . . . . . . 34 Der königliche Bräutigam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Schwarz, aber doch schön (1,5–6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Zieh hinaus (1,7–8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Einer Stute gleich bei Pharaos Streitwagen (1,9–11) . . . . . . . . . 49 Mein Geliebter (1,12–14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Bildliches Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Metaphorische Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Sehnsucht nach höchster Lust? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Wie schön bist du! (1,15–17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Ein Bett im Kornfeld? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Die Lilie des Scharon (2,1–3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Krank vor Liebe (2,4–5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Ordnung der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Nüchterne Trunkenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Bei den Hinden des Feldes (2,6–7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Weckt die Liebe nicht auf! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 5
I. Teil: Der Geliebte kommt (2,8–5,1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Mein Geliebter kommt (2,8–9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Erhebe dich, meine Freundin! (2,10–13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Meine Taube in den Felsklüften (2,14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Weinberg-Verwüster (2,15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein (2,16–17) . . . . . . . . . 89 Auf meinem Lager in den Nächten (3,1–5) . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Ich suchte ihn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Und fand ihn nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Die Wächter der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Im Haus meiner Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Ein Hochzeitszug (3,6–11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Der Friedenskönig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Vor dem Schrecken der Nacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Die königliche Hochzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Schön bist du, meine Freundin (4,1–7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Der Blick (4,8–9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Sinnliche Wahrnehmung (4,10–11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Ein verschlossener Garten (4,12–15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Die Rückkehr ins Paradies (4,16–5,1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
II. Teil: Getrennt und wieder vereint (5,2–8,4) . . . . . . . . . 127 Der Kairos der Liebe (5,2–8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Eine Gottesstatue (5,9–16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Wohin ist dein Geliebter gegangen? (6,1–3) . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Einzig ist meine Taube (6,4–9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Wie die Morgenröte (6,9–10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Absteigende und aufsteigende Liebe (6,11–12) . . . . . . . . . . . . . . 139 Die Aufhebung des Fluches (7,1–11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Für dich auf bewahrt (7,12–14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Wärest du doch mein Bruder! (8,1–4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
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Epilog: Stärker als der Tod ist die Liebe (8,5–8,14) . . . . . 152 Wer ist sie? (8,5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Stark wie der Tod ist die Liebe (8,6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Eine Flamme Jahs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Weder Tod noch Leben (8,7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Schalom gefunden (8,8–10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Die Eine und die Vielen (8,11–12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Die Liebe bleibt (8,13–14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Gott ist die Liebe (1 Joh 4,8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Der Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
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Vorwort
Das Hohelied gehört in der Geschichte der Theologie und Spiritualität zu den wichtigsten und am häufigsten kommentierten Büchern der Heiligen Schrift. In der in hochpoetischer Sprache besungenen Liebe zwischen Mann und Frau, zwischen Braut und Bräutigam sieht die jüdische und die christliche Tradition ein Bild für die Liebe Gottes zu seinem Volk. In der Neuzeit änderte sich das Verständnis des Liedes grundlegend. Das Hohelied, so sagte man nun, spreche nicht von der göttlichen, sondern von der menschlichen Liebe. Es sei eine Sammlung profaner Liebeslieder. Damit verlor das Hohelied seine theologische Relevanz. „Das Christentum der Zeit nach Goethe“, so urteilt der Germanist Friedrich Ohly, „hat keine große religiöse Begegnung mit dem Hohenlied mehr erlebt und sein Verhältnis zu ihm in steigendem Maße als philologisch-historisches wenn nicht ästhetisches Problem oder als eine Frage unveräußerlicher Tradition betrachtet, der jedoch keine lebendigen Impulse mehr verdankt wurden“ (Hohelied-Studien, Wiesbaden 1958, 5). Im Prozess der theologischen Entwertung des Hoheliedes spiegelt sich zugleich ein Umbruch im Verständnis menschlicher Liebe. Sie wurde nun in zunehmendem Maße entweder als eine rein profane Angelegenheit verstanden, oder aber religiös überladen und mit Erwartungen überfrachtet, die sie nicht erfüllen kann. Der vorliegende Kommentar versucht zu zeigen, dass diese Entwicklung im Hohelied selbst keine Stütze findet. Im Gegenteil. In dem tief in der biblischen Tradition verankerten Buch erklingt ein Dialog der Liebe zweier Menschen, der sich in Rätselbild und Gleichnis als ein Dialog zwischen Gott und Mensch zu erkennen gibt. In den polytheistischen Religionen der Antike gehen Götter und Göttinnen vielfältige Liebesbeziehungen miteinander ein. Die Rolle, die in altorientalischen Religionen die Göttin als Partnerin eines Gottes einnimmt, wird im Hohelied von einer menschlichen Figur, nämlich der Frau, eingenommen. Diese Frau steht für das Gottes9
volk Israel und – vermittelt durch das Gottesvolk – für die ganze Menschheit und somit für jeden einzelnen Menschen. Damit findet eine Revolution im Gottesbild statt. Der menschliche Partner, repräsentiert durch die Frau, wird geadelt und in gewisser Weise vergöttlicht, der göttliche Partner, repräsentiert durch den Mann, wird vermenschlicht. Gott und Mensch finden zu einer wahrhaft menschlich-göttlichen Begegnung. „Wenn der Seele ein Kuss widerfährt von der Gottheit, so steht sie in ganzer Vollkommenheit und in Seligkeit; da wird sie umfangen von der Einheit“ (Meister Eckhart, Predigt 10, DW I, 172,4–6 / W I, 131). Vor dem Hintergrund dieser Dynamik wird verständlich, weshalb die christliche Tradition das Hohelied als das für den spirituellen Weg wichtigste Buch der Heiligen Schrift erachtet, sind doch in ihr die Vergöttlichung des Menschen (Theopoiesis) und die Menschwerdung Gottes die beiden Brennpunkte ihrer Theologie. Mit der Hochschätzung des Buches steht die christliche Theologie in der jüdischen Tradition. Sie bestätigt und konkretisiert damit das Urteil Rabbi Akibas: „Sind alle Schriften heilig, so ist das Hohelied hochheilig“ (Mischna Jadajim III,5). Der vorliegende Kommentar geht auf Auslegungen zurück, die ich in der Wochenzeitschrift „Christ in der Gegenwart“ (51/2012– 18/2014) veröffentlicht habe. Viele dieser Auslegungen konnte ich mit Frau Dr. Elisabeth Birnbaum besprechen. Ihr danke ich für wertvolle Anregungen. Seit ich im Jahre 2001 aus Anlass des 100. Geburtstags Gerhard von Rads an der Universität Heidelberg im Rahmen eines wissenschaftlichen Symposions erstmals das hier entfaltete Verständnis des Hoheliedes zur Diskussion stellen konnte, habe ich vielfältige Denkanstöße von Kolleginnen und Kollegen empfangen, die hier nicht alle einzeln dokumentiert sind. Ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Frau Katharina Rötzer und Herr stud. theol. Markus Fischer haben das Manuskript Korrektur gelesen. Ihnen danke ich für ihre Unterstützung. Ich widme das Buch Gabriele und Jan-Heiner Tück. Wien, November 2014
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Ludger Schwienhorst-Schönberger
Wenn der Seele ein Kuss widerfährt von der Gottheit, so steht sie in ganzer Vollkommenheit und in Seligkeit; da wird sie umfangen von der Einheit. Meister Eckhart, Predigt 10 (DW I, 172,4–6 / W I, 131)
Hinführung
„Er küsse mich mit Küssen seines Mundes! Ja, deine Liebe ist schöner als Wein.“ Mit diesen Worten eröffnet eine weibliche Stimme das „Lied der Lieder“. In ihrer Liebessehnsucht ruft sie nach dem König: „Zieh mich hinter dir her (trahe me post te)! Lasst uns eilen! Der König hat mich in seine Gemächer gebracht. Jubeln wollen wir und deiner uns freuen.“ Wer ist dieser König? Und wer ist die Frau, die hier spricht? Da rauf werden sehr unterschiedliche Antworten gegeben. Die jüdische Tradition versteht das Hohelied in einem geistig-allegorischen Sinn als ein Buch, das von der Liebe Gottes zu seinem Volk spricht. Deshalb wird das Hohelied im heutigen Judentum als Festrolle am Pesachfest gelesen. JHWH ist der König Israels (Ex 19,6; Zef 3,15; Ps 47). Die Befreiung aus der Knechtschaft Ägyptens ist Ausdruck seiner Liebe zu seinem Volk: „Weil der Herr euch liebt …, deshalb hat der Herr euch mit starker Hand herausgeführt und euch aus dem Sklavenhaus freigekauft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten“ (Dtn 7,8; vgl. 4,37). Prophetische Texte richten den Blick in eine Zukunft, da sich Gott mit seinem Volk wie mit einer Braut (in neuer Weise) vermählen wird (vgl. Hos 2,16–22; 14,5–9; Jes 54,4–8; 61,10; 62; Ps 45,11f). Die christliche Tradition hat das jüdische Verständnis aufgegriffen und weiter entfaltet. Der älteste uns bekannte christliche Kommentar zum Hohelied stammt von Hippolyt von Rom aus dem Jahre 11
235 n. Chr. Hippolyt versteht das Hohelied in einem ekklesiologischen Sinn als Zeugnis der Liebe zwischen Christus, dem königlichen Bräutigam, und seiner Kirche, der Braut (vgl. Mk 2,19 par.; Joh 3,29). Einige Jahre später erweitert und vertieft Origenes (185–ca. 254) diese Deutung in einem mystischen Sinn. Neben der kollektiven Deutung der Braut auf die Kirche entfaltet Origenes eine individuelle Deutung auf die einzelne Seele. Dieser Interpretation zufolge geht es im Hohelied um die Vermählung zwischen dem göttlichen Wort (Logos) als dem Bräutigam und der menschlichen Seele als der Braut. Eine dritte, mariologische Interpretation findet sich in Ansätzen bereits bei Methodius von Olympus (gest. ca. 311 n. Chr.) und bei Ambrosius von Mailand (333–397); zur vollen Entfaltung gelangte sie aber erst im 12. Jahrhundert bei Rupert von Deutz (1075–1129). Dieser sieht in der Braut Maria und im Hohelied das Geheimnis der Menschwerdung vorausverkündet. Der jüdischen und christlichen Tradition zufolge darf man beim Hohelied nicht bei der vordergründigen Bedeutung des Gesagten verweilen. Zwar spricht das Hohelied von der Liebe zwischen Mann und Frau, es meint damit aber etwas anderes. „Glaubst du vielleicht“, schreibt Gregor von Nyssa (335–398), „ich rede von jenem Salomo, dem Sohn der Batseba, der die tausend Rinder auf dem Berg darbrachte …? Nein, ein anderer ‚Salomo‘ wird durch diesen bezeichnet … sein Name ist Friede, er ist der wahre König Israels … Dieser (gemeint ist Christus) gebrauchte jenen (nämlich Salomo) als Werkzeug“ (Homilien zum Hohenlied 1,16–17, FC 16/1, 119). Das Hohelied sagt (agoreuo) also etwas anderes (allo), als es meint, so die Tradition. Dieses Verständnis des Hoheliedes nennen wir das allegorische Verständnis. Weil es das wörtliche Verständnis auf einen geistigen Gehalt hin übersteigt, wird es auch das „geistige Verständnis“ genannt, das Verständnis secundum spiritualem sensum. Auf die im Hohelied beschriebene Vereinigung des Bräutigams und der Braut (unio sponsi et sponsae) zielt die gesamte Intention der Heiligen Schrift, so Bonaventura, „und alle Erleuchtung, die von oben herabsteigt und ohne die alle Erkenntnis eitel ist“ (Über die Rückführung der Künste auf die Theologie, 26). In diesem geistigen Verständnis gehörte das Hohelied über viele Jahrhunderte hin zu den am häufigsten kommentierten Büchern der Heiligen Schrift. 12
Doch in der Neuzeit sollte sich das Verständnis des Buches grundlegend ändern. Das Hohelied, so sagte man nun, spricht nicht von der göttlichen, sondern von der menschlichen Liebe. Johann Gottfried Herder (1744–1803) sah in ihm eine Sammlung weltlicher Liebeslieder. Dieses Verständnis setzte sich im 19. Jahrhundert weitgehend durch. Die geistig-allegorische Deutung wurde als Fehlinterpretation angesehen. Es gehe in diesem Lied um die Liebe zwischen Mann und Frau, wie sie in ähnlicher Form in ägyptischen Liebesliedern oder arabischen Hochzeitsliedern der damaligen Zeit besungen wurde. Die moderne Interpretation verbindet sich bei einigen ihrer Vertreter mit einer scharfen Kritik am traditionellen geistig-allegorischen Verständnis. Nach Othmar Keel ist die Allegorisierung des Hoheliedes „nichts als eine elegant gestaltete Verachtung des Textes, der wie ein Packesel mit allen möglichen Dingen beladen wird, dem selber aber keine Stimme und keine Bedeutung mehr zukommt“ (Das Hohelied, Zürcher Bibelkommentare AT 18, Zürich 1986, 2 1992, 40). Diese Deutungen, so Keel, haben „nicht das geringste zu einem besseren Verständnis des Hhld. beigetragen“ (ebd. 17). Befreit von einer tatsächlichen oder vermeintlichen leib- und sexualfeindlichen Auslegungstradition feierte man die neu gewonnene Erkenntnis als „Heimführung des Hoheliedes aus der babylonischen Gefangenschaft der Allegorese“ (so der gleichnamige Aufsatz von Thomas Staubli, in: Bibel und Liturgie 70, 1997, 91–99). Otto Kaiser prophezeite in seiner „Einleitung in das Alte Testament“ (Gütersloh 51984, 361), dass das gänzliche Verschwinden der allegorischen Interpretation „nur noch eine Frage der Zeit sein“ dürfte, „sofern die Klarheit des historischen Bewusstseins nicht erlischt. Die allegorische Interpretation widerstreitet dem klaren Wortlaut der Lieder.“ Hans-Peter Müller vertritt die Ansicht, dass sich die „natürliche Deutung“ der „Sammlung profaner Liebeslieder“ „nicht zuletzt dank des reformatorischen Schriftverständnisses … soweit durchgesetzt“ habe, „dass es ihrer Rechtfertigung nicht mehr bedarf“ (Das Hohelied, ATD 16/2, Göttingen 41992, 8). In jüngster Zeit jedoch melden sich neue Stimmen zu Wort. Der an der Hebräischen Universität in Jerusalem lehrende Exeget Yair Zakovitch vertritt die Ansicht, dass das Hohelied von seiner Ursprungs13
bedeutung her zwar keine Allegorie sei, dass es aber sehr wohl im überlieferten biblischen Kontext vielfältige Anknüpfungspunkte für ein allegorisches Verständnis biete: „Viele Lieder von Hld tragen Rätsel- und Gleichnischarakter. Von daher rechnet der Leser mit vielschichtiger Bedeutung … Überhaupt ist die Allegorie der biblischen Literatur nicht fremd … Das völlige Fehlen jeglicher Gottesbezeichnung in Hld erleichtert paradoxerweise die Deutung des Textes auf die Beziehung zwischen Gott und Israel. Wenn nämlich neben dem männlichen Protagonisten (Bräutigam, Hirt, König) hier und da auch Gott genannt wäre, könnte die zentrale männliche Hauptfigur nicht ohne Weiteres mit Gott identifiziert werden. Dies ist eher möglich, weil Gott überhaupt nicht vorkommt … Gott wird biblisch sowohl mit einem Hirten (z. B. Gen 48,15; Ps 23,1f; 80,2) als auch mit einem König (z. B. Ps 93,1; 98,6) verglichen. Daher lassen sich die entsprechenden Erwähnungen des Mannes in Hld auf Gott beziehen … Was die allegorische Deutung des Hld vor allem fördert und stützt, ist die Tatsache, dass die Beziehung zwischen Gott und Israel in der Bibel mit denselben Worten und Bildern dargestellt wird, die in Hld die Beziehung zwischen dem Geliebten und seiner Freundin beschreiben“ (Das Hohelied, HThK, Freiburg i. Br. 2004, 94f). Erich Zenger bemerkt zum Hohelied-Kommentar von Zakovitch: „Im Horizont der traditionellen jüdischen Lektüre des Hohenliedes gewinnt auch die Diskussion über die Möglichkeit einer allegorischen Deutung dieser Liebeslieder neue Facetten“ (ebd. Vorwort, 9). Hier kommen neuere Einsichten der Literaturwissenschaft zur Geltung. Die Bedeutung eines literarischen Werkes wird durch den Kontext geprägt, in dem es überliefert ist. Liest jemand das Hohelied außerhalb der Bibel, so gewinnt das Buch für ihn eine andere Bedeutung als für jemanden, der es innerhalb der Heiligen Schrift liest. Diese „andere Bedeutung“ wird dem Werk nicht von außen als etwas Fremdes zugetragen, sondern ist in ihm selbst angelegt. So weist Gianni Barbiero zu Recht darauf hin, dass bereits der „wörtliche Sinn“ des Hoheliedes von eminent theologischer Bedeutung ist, wenn das Buch vor dem Hintergrund der ganzen Bibel gelesen wird (Song of Songs. A Close Reading, Leiden 2011, 42). Einen wesentlichen Schritt darüber hinaus geht der evangelische Alttestamentler Meik Gerhards. Ihm zufolge ist das Hohelied bereits 14
in seiner ursprünglichen Bedeutung als Allegorie zu verstehen. In seiner Habilitationsschrift „Das Hohelied. Studien zu seiner literarischen Gestalt und theologischen Bedeutung“ (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 35, Leipzig 2010) geht er ausführlich auf die geistesgeschichtlich bedingten Vorbehalte und Vorurteile gegen die allegorische Deutung ein und beleuchtet die Hintergründe, die zum Bedeutungsverlust allegorischer Interpretation seit dem 18. Jahrhundert geführt haben. Er weist auf die Verbreitung allegorischer Texte innerhalb des Alten Testaments hin und zeigt, dass in diesen vor allem prophetischen Texten (u. a. Hos 1–3; 14,5–9; Jes 54,4–8; 61,10f; 62,1–12; Ps 45) „die Wiederherstellung Israels nach Exil und Fremdherrschaft in das Bild einer Hochzeit gefasst [wird], wobei es jeweils eindeutig um das Verhältnis zwischen Jahwe und Israel bzw. Jahwe und Jerusalem geht. Diese Texte aktualisieren also ein Bildfeld, das einen Spezialfall der altorientalischen göttlich-menschlichen Geschlechtsmetapher darstellt“ (ebd. 503). Als Ergebnis hält Gerhards fest: „1) Die verbreitete Abwehr der allegorischen Deutung tritt zwar üblicherweise mit dem Anspruch auf, die historische Kritik lasse in dieser Frage keine andere Wahl mehr zu. Tatsächlich dürfte sie aber mit einem in der Ästhetik Herders und der deutschen Klassik begründeten Vorbehalt gegenüber allegorischer Dichtung zusammenhängen und darüber hinaus von den Vorurteilen mitbestimmt sein, dass ein allegorisches Verständnis rein willkürlich sei und auf die Sublimierung bzw. Entschärfung des erotischen Charakters des Textes ziele. 2) Die religiös-allegorische Deutung ist gegenüber alternativen Vorschlägen im Vorteil, weil allein in ihrem Fall durch die Wirkungsgeschichte belegt ist, dass es sich um ein schon in der Antike vertretenes Verständnis handelt, während die alternativen Vorschläge nur als Konstruktionen der neuzeitlichen Exegese belegt sind“ (ebd. 531). Unter Berücksichtigung dieser und weiterer Gesichtspunkte „kann die Annahme, das Hohelied sei vom Autor als religiöse Allegorie verfasst worden, sogar als die aus historisch-kritischer Sicht am besten begründete Hypothese zum Grundverständnis der Dichtung gelten“ (ebd. 532). Was im Laufe der Auslegungsgeschichte die allegorische Auslegung vor allem in Misskredit gebracht hat, war der häufig unternommene Versuch, jedem einzelnen Element des Textes einen allegorischen Sinn abzugewinnen. Das führte 15
zu Deutungen, die aus dem kulturellen Umfeld, in dem das Hohelied entstanden ist, nicht mehr nachzuvollziehen sind. Diese – rezeptionsästhetisch verständliche, produktionsästhetisch aber nicht mehr verifizierbare – Überstrapazierung der allegorischen Deutung ändert aber nichts an der exegetisch gut begründeten These, so Gerhards, „das Hohelied als religiös-allegorische Dichtung der Seleukidenzeit [d. h. des 2. Jahrhunderts v. Chr.] zu verstehen“ (ebd. 538). Völlig unumstritten war die in der Neuzeit dominierende rein profane Deutung des Hoheliedes nie. Es hat immer Gegenstimmen gegeben. Aber sie konnten sich nicht wirklich durchsetzen. Im Kontext der gegenwärtig neu aufgebrochenen Diskussion erscheinen diese Stimmen in einem neuen Licht. Es lohnt sich, einen Blick auf ihre exegetische Methode zu werfen, um das im Hintergrund stehende Problem zu verstehen. Der französische Exeget André Robert vom Institut Catholique de Paris hat mit einer Gruppe von Exegeten die allegorische Deutung des Hoheliedes immer verteidigt. Der von ihm und Raymond Tournay verfasste Kommentar „Le Cantique des Cantiques“ aus dem Jahre 1963 gilt gewöhnlich als der letzte große Versuch, mit streng exegetisch-wissenschaftlicher Methode die allegorische Auslegung gegenüber der vor allem im deutschsprachigen Raum vorherrschenden Exegese zu rechtfertigen. Man könnte vermuten, dass hier die stärkere Traditionsverbundenheit der katholischen Exegese die Feder führt. Es fällt jedoch auf, dass Robert und Tournay großen Wert darauf legen, ihre Methode als eine streng wissenschaftliche Methode zu rechtfertigen. André Feuillet, einer seiner Schüler, stimmt dem ausdrücklich zu. Das explizit religiöse Verständnis des Hoheliedes sei nicht mit dem Verweis auf die Tradition zu halten, sondern nur dann, wenn es streng wissenschaftlich bewiesen werden könne. In der im Jahre 1953 erstmals und 1999 in einer Neubearbeitung erschienenen Monographie „Comment lire le Cantique des Cantiques. Étude de théologie biblique et réflexions sur une méthode d’exégèse“ versucht er mit streng exegetischen Methoden zu zeigen, dass das Hohelied von seinem Ursprung her als religiöse Dichtung zu verstehen sei und dass sowohl die jüdische als auch die christliche Tradition diese Idee im Grunde richtig erfasst haben, auch wenn der gegenwärtige Mainstream der Exegese (noch) ganz anderer Ansicht sei. Die exege16
tische Methode, die bei ihm zur Anwendung kommt, bezeichnet er als „la méthode des parallélismes“ (ebd. 11). Diese „Methode der Parallelismen“, so Feuillet, sei in der Lage, streng wissenschaftlich den religiösen Charakter des Hoheliedes aufzuzeigen (ebd. 7f; 207–261). Der entscheidende Punkt dabei ist, dass man mit dieser Methode auf prophetische Texte stößt, die den erneuerten Bund zwischen Gott und seinem Volk im Bilde eines Liebes- und Ehebundes zur Sprache bringen und die dabei signifikante lexematische, motivische und thematische Entsprechungen zu den Texten des Hoheliedes aufweisen. Zu diesen Texten gehören vor allem solche aus den Büchern der Propheten Hosea (insbesondere Hos 1–3; 11; 14), Jeremia (insbesondere Jer 31), Ezechiel (insbesondere Ez 16; 23), Jesaja (insbesondere Jes 40–66) sowie die Psalmen 45 und 72. Das bei dieser Diskussion im Hintergrund stehende exegetische und literaturwissenschaftliche Problem ist folgendes: Das so genannte weltliche Verständnis des Hoheliedes ist vor allem von der Gattungskritik her geprägt. Diese Methode wurde in der alttestamentlichen Exegese zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem von Hermann Gunkel (1862–1932) im Rahmen der Genesis- und Psalmenexegese entwickelt. Gunkel war stark von der Ästhetik Herders mit ihrer Vorliebe für die einfache, im literarisch ungebildeten Volk beheimatete Naturpoesie inspiriert. Die Gattungskritik fragt nach der Gattung, der ursprünglichen und idealen Form eines Textes und einem ihr entsprechenden „Sitz im Leben“. Bei dieser Methode tritt der literarische Zusammenhang, in dem der Text überliefert ist, in den Hintergrund. Der Text wird gewöhnlich aus dem vorliegenden literarischen Kontext herausgenommen und vor dem Hintergrund eines hypothetisch rekonstruierten Sitzes im Leben interpretiert. Bezeichnend für diese Methode ist eine Aussage von Othmar Keel: „Wer das Hhld. in irgend einem anderen Zusammenhang als dem der Bibel anträfe, zögerte kaum, darin eine Sammlung von Liebesliedern zu sehen, was das Büchlein von Haus aus auch ist“ (a. a. O. 9). Dem ist durchaus zuzustimmen. Nun ist uns das Hohelied aber nicht in irgendeinem Zusammenhang überliefert, sondern in einem ganz bestimmten, nämlich dem der Heiligen Schrift. Nur in diesem Kontext wird es von Kirche und Synagoge als kanonisches Buch anerkannt. Das Liebeslied, welches das Buch möglicherweise „von Haus 17
aus auch ist“, gewinnt dadurch eine Bedeutung, die unabhängig von diesem Kontext kaum erkannt werden kann. Und in eben diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Von welcher Liebe wird hier gesprochen? Wer den Text des Vaterunsers in einer Gaststätte fände und den jüdischen und christlichen Glauben nicht kennen würde, könnte die Vermutung aufstellen, es handle sich um ein Gebet aus dem Bereich des Ahnenkultes. Durch den Kontext, in dem das Vaterunser überliefert ist, wird ein solches Verständnis ausgeschlossen. Die Gattungskritik darf also nicht so angewandt werden, dass sie einen biblischen Text aus dem Zusammenhang der Heiligen Schrift herausnimmt und ihn unabhängig von diesem Kontext interpretiert. Genau das sagt auch die Offenbarungskonstitution Dei Verbum des II. Vatikanischen Konzils, wenn sie darauf hinweist, dass „für die rechte Ermittlung des Sinnes der heiligen Texte nicht weniger sorgfältig auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift zu achten sei“ (III, 12). Selbst wenn man das Hohelied von seinem Ursprung her nicht als Allegorie versteht, gilt doch die Aussage von Yair Zakovitch: „Die allegorischen Ausleger von Hld fanden in der biblischen Literatur reichlich Anhaltspunkte für ihre Deutung“ (a. a. O. 97). Das allegorische Verständnis ist also alles andere als eine dem Hohelied „totalitär verordnete theologische Persönlichkeitsveränderung“, wie Othmar Keel behauptet (a. a. O. 41). In der Bibel gibt es Allegorien, die nicht als solche gekennzeichnet sind. Ps 45, das Lied zur Hochzeit des Königs, ist nur eines von vielen Beispielen. Gott ist hier der König und die Tochter Zion die von ihm geliebte Braut, „die ihre Sündengeschichte hinter sich lässt und sich vorbehaltlos ihrem königlichen Herrn und Gemahl verbindet“ (Erich Zenger, [Frank-Lothar Hossfeld], Die Psalmen. Psalm 1–50, NEB, Würzburg 1993, 279). Dass hier eine Allegorie vorliegt, wird nirgends ausdrücklich gesagt. Es ist also keineswegs so, dass eine Allegorie in der Bibel ausdrücklich als Allegorie gekennzeichnet sein muss, um als Allegorie zu gelten. Es macht gerade den Reiz literarisch und poetisch anspruchsvoller Texte aus, hintergründig angelegte Sinndimensionen zu erfassen. Auch außerhalb der biblischen Literatur gibt es viele zeitgenössische nicht als solche gekennzeichnete Allegorien. Eine Inschrift aus der Zeit der Entstehung des Hoheliedes wie etwa die aus der Grabanlage von Marisa, die einen 18
erotischen Inhalt aufweist, ist sehr wahrscheinlich als Allegorie zu verstehen (vgl. Meik Gerhards, a. a. O. 137–152). Methodologisch gesehen besteht also der Unterschied zwischen der profanen und der religiösen Deutung des Hoheliedes darin, dass die profane Deutung das Hohelied aus dem biblischen Kontext herausnimmt, es in den Kontext der altorientalischen Literaturen versetzt und es von dorther zu verstehen sucht. So schreibt Gilis Gerleman: „Die Dichtung des Hohenliedes macht … den Eindruck einer ziemlich isolierten literarischen Erscheinung, die im Alten Testament kein Gegenstück hat und ohne die Annahme ausländischer Vorbilder kaum begreiflich ist. Als die nächstbenachbarte alte Kulturmacht tritt dann Ägypten von selbst ins Blickfeld“ (Das Hohelied, BK XVIII, Neukirchen-Vluyn 21981, 77). Als flankierende Maßnahme wird die gattungsgeschichtliche Methode in Anschlag gebracht, mit deren Hilfe man das Hohelied zur Weisheitsliteratur rechnet. Diese, so die Auskunft, sei streng von der prophetischen Literatur zu unterscheiden. Konkret heißt das, dass man die Texte des Hoheliedes nicht in Verbindung mit prophetischen Texten interpretieren darf, selbst dann nicht, wenn es eindeutige sprachliche und motivische Verbindungen zwischen beiden gibt. Prophetische und weisheitliche Texte, so die Auskunft, gehören unterschiedlichen Lebenswelten („Sitz im Leben“) an, die nichts miteinander zu tun haben. Othmar Keel gesteht zwar ein, dass „schon im Alten Testament Mann-FrauBeziehungen als Modelle (Metaphern) für das Verhältnis JHWH-Israel benützt (Hos. 2; Jer. 2) und gelegentlich auch allegorisch ausgebaut (Ez. 16 und 23)“ werden. „Dabei wird das tertium comparationis aber auf die rechtlichen Aspekte, vor allem die Treue eingeschränkt, sexuell-erotische Symbolik wird im Hinblick auf die gemeinte Sache vermieden … Diese ganze Tradition ist typisch für die prophetische Literatur und strikt auf sie beschränkt“ (a. a. O. 15). Eine strikte Trennung zwischen prophetischer und weisheitlicher Literatur ist schon in überlieferungsgeschichtlicher Hinsicht künstlich. Gerade in Texten der nachexilischen Zeit sind die Übergänge fließend. Die weisheitliche Literatur greift auf prophetische Redeformen zurück, prophetische Texte werden weisheitlich gelesen und erweitert (vgl. Hos 14,10). Im Buch der Sprichwörter (1,20–33) tritt die Weisheit wie eine Prophetin auf. In späten Passagen weisheit19
licher Literatur wird in hohem Maße mit Metaphern und Allegorien gespielt. In Spr 1–9 erscheinen Weisheit und Torheit in der Gestalt einer Frau. Im Buch der Weisheit ist die Geliebte Salomos Frau Weisheit, die an der Seite Gottes thront (Weish 8,9–18; 9,4). Bedeutender für unsere Fragestellung ist jedoch der hermeneutische und methodologische Umbruch, der sich in jüngerer Zeit in der Exegese vollzogen hat. Was André Robert, Raymond Jacques Tournay und André Feuillet als „méthode des parallélismes“ bezeichnen, wird heute in der Exegese gewöhnlich „Intertextualität“ genannt. Diese Methode erweist sich insbesondere bei der Auslegung jener Texte als fruchtbar, die relativ spät zu datieren sind. Das ist beim Hohelied der Fall. So gelangt auch Edmée Kingsmill in ihrer Monographie The Song of Songs and the Eros of God. A Study in Biblical Intertextuality, Oxford 2010, zu der These, dass das Hohelied tief in der biblischen Tradition verankert ist und von der göttlichen Liebe spricht. Forschungsgeschichtlich interessant ist die Tatsache, dass die „moderne“, profane Deutung des Buches zu einer „konservativen“ Frühdatierung desselben tendiert(e). Mit dem Versuch, das Buch in die salomonische (so Gilis Gerlemann, a.a.O. 76f) oder mittlere Königszeit (so Othmar Keel, a. a. O. 14: „Die Sammlung scheint mir am ehesten irgendwo zwischen das 8. und 6. Jahrh. v. Chr. zu gehören, weil damals auch die altägyptische Liebesliteratur noch blühte“) zu datieren, versuchte man offensichtlich, eine möglichst enge Verbindung zu den altorientalischen, insbesondere ägyptischen Kulturen und Literaturen herzustellen. Die „konservative“ religiöse Deutung von Robert, Tournay und Feuillet hingegen vertritt dezidiert eine Spätdatierung des Buches. Sie geht davon aus, dass ein literarisch hochgebildeter Autor aus der späten nachexilischen Zeit im Rückgriff auf und in subtiler Anspielung auf vor allem prophetische Texte ein hochpoetisches Kunstwerk mit einem tiefreligiösen Inhalt verfasst habe. Da sich die Spätdatierung des Hoheliedes heute weitgehend durchgesetzt hat (vgl. Gianni Barbiero, a. a. O. 45–36 datiert es in die zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr.), kann diesem Verständnis eine gewisse Plausibilität nicht von vorneherein abgesprochen werden. Auch aus religionsgeschichtlicher Sicht wird neuerdings die rein profane Deutung des Hoheliedes zunehmend in Frage gestellt. Es wird 20
darauf hingewiesen, dass die Trennung von religiöser und erotischsexueller Sphäre, wie sie in modernen Gesellschaften verbreitet ist, nicht ohne Weiteres für antike Kulturen vorausgesetzt werden darf. Der finnische Alttestamentler Martti Nissinen hält es für berechtigt, in diesem Zusammenhang von einer „in der göttlich-menschlichen Geschlechtsmetapher verankerten Spiritualität zu reden“ (Die Heilige Hochzeit und das Hohelied in: lectio difficilior, 1/2006, 9): „Da der Alte Orient … diese ,göttlich-menschliche Geschlechtsmetapher‘ kennt, haben ,moderne westliche Gelehrte‘ zu beachten, dass altorientalische Liebespoesie sowohl religiös als auch nichtreligiös verstanden werden kann“ (ebd. 6). Weiter schreibt Nissinen: „Offenbar wurde die Liebespoesie im Alten Orient in verschiedenen Situationen gesungen, was wohl auch zu verschiedenen Auslegungen geführt hat, je nach den Bedürfnissen der Aufführung. Auch das Hohelied wurde schon früh im religiösen Sinne interpretiert – so früh in der Tat, dass wir eigentlich keinen eindeutigen Beleg für Auslegungen anderer Art haben“ (ebd. 9). In eine ähnliche Richtung zielen die Überlegungen des evangelischen Alttestamentlers Rüdiger Bartelmus. Er hält die Gegenüberstellung von „allegorisch“ und „wörtlich“ hinsichtlich der Auslegung des Hoheliedes für irreführend. Seiner Ansicht nach ist eine streng wörtliche Lesung der hochpoetischen, von einer bilderreichen Sprache geprägten Lieder überhaupt nicht möglich: „Ja, man kommt schwerlich um die Feststellung herum, daß das Hohelied wohl nie in den Kanon aufgenommen wäre, hätte nicht die Möglichkeit bestanden, eindeutig erotisch besetzte, körperbezogene Lexeme theologisch zu lesen, d. h. auf Gott zu beziehen“ (Von jungfräulichen Huris, 2007, 21). Unter den veränderten bibelhermeneutischen Rahmenbedingungen kehrt sich nun gewissermaßen die „Beweislast“ um. Hatte Oswald Loretz noch die allegorisch-typologische Auslegung des Hoheliedes als „ein Tribut christlichen Denkens an die Zeitumstände vergangener Jahrhunderte“ bezeichnet (Die theologische Bedeutung des Hohenliedes, BZ NF 10, 1966, 42), so kehrt Meik Gerhards den Spieß um und fragt, ob nicht auch das so genannte „wörtliche Verständnis“ des Hoheliedes in ähnlicher Weise als Tribut an den Zeitgeist zu verstehen sei. Ausführlich geht er auf die geistesgeschicht21
lich bedingten Vorbehalte und Vorurteile gegen die allegorische Deutung ein und beleuchtet die Hintergründe, die zum Bedeutungsverlust allegorischer Interpretation seit dem 18. Jahrhundert geführt haben (ebd. 441–542). Zur Diskussion steht also die Frage, ob das Hohelied ein Gedicht ist, das in seiner ursprünglichen Bedeutung von der menschlichen, erotisch-sexuellen Liebe zwischen Mann und Frau spricht und erst zu einem späteren Zeitpunkt von der jüdischen und christlichen Tradition in einem allegorischen Sinn auf die göttliche Liebe hin gedeutet und folglich in seiner ursprünglichen Bedeutung missverstanden wurde, oder ob es sich um ein Gedicht handelt, das von Anfang an in erotisch gefärbten Bildern von der Liebe zwischen Gott und seinem Volk spricht. Entschieden werden kann die Frage letztlich nur durch eine hermeneutisch reflektierte und methodologisch nachvollziehbare Auslegung der Texte selbst. Der vorliegende Kommentar will diese Aufgabe zumindest in Ansätzen in Angriff nehmen. Bei der hier skizzierten Alternative geht es nicht um belanglose Streitereien von Exegeten. Vielmehr werden grundlegende Fragen der Anthropologie und der Theologie berührt. Vertreter des so genannten wörtlichen Verständnisses weisen gerne darauf hin, dass sich die Theologie aus der im Hohelied gefeierten Liebe zweier Menschen geflissentlich herauszuhalten habe. Das geistige Verständnis des Hoheliedes tut sich oft schwer, die leibliche Dimension der (göttlichen) Liebe angemessen zu würdigen. Der vorliegende Kommentar geht davon aus, dass beide Dimensionen zusammengehören. Sie sind zu unterscheiden, aber nicht zu trennen. In der christlichen Liebesmystik nimmt das Hohelied eine Schlüsselstellung ein. Die einzelnen Stufen des spirituellen Weges werden seit Origenes gerne mit der Abfolge der drei biblischen Bücher Sprichwörter, Kohelet und Hohelied veranschaulicht. Sie werden den drei Fächern der antiken Philosophie zugeordnet: das Buch der Sprichwörter der Ethik (disciplina moralis), das Buch Kohelet der Physik (disciplina naturalis) und das Hohelied der Theologie (disciplina inspectiva). Im Buch der Sprichwörter lehrt Salomo die Moral, indem er in kurzen und präzisen Sätzen die Regeln zusammenstellt, die der junge Mensch zu lernen und zu beachten hat. Im Buch Kohelet lehrt Salomo, das Nichtige und Sinnlose vom Nützlichen und Not22
wendigen zu unterscheiden, und er ermahnt, das Sinnlose zurückzulassen und das Nützliche und Richtige zu befolgen. Im Hohelied lehrt er die Kunst der Betrachtung. „Hier flößt er der Seele im Bild von Braut und Bräutigam die Liebe zum Himmlischen und das Verlangen zum Göttlichen ein, indem er lehrt, auf den Wegen der Liebe und des Verlangens (caritatis et amoris viis) zur Gemeinschaft mit Gott zu gelangen“ (in cant. Prol. 3,6f; ausführlicher dazu: Ludger Schwienhorst-Schönberger, Kohelet, HThK, Freiburg i. Br. 2004, 2 2011, 123–134). Mystik und Erotik hängen einerseits eng miteinander zusammen, sind andererseits aber auch deutlich voneinander zu unterscheiden. Wenn wir die Mystik der reinen Vernunft einmal zurückstellen und uns auf die so genannte Liebesmystik beschränken, dann kann die mystische Erfahrung in ihrem Kern als eine erotische Erfahrung verstanden werden. Gian Lorenzo Berninis (1598–1680) Darstellung der heiligen Teresa von Ávila in der Kirche Santa Maria della Vittoria in Rom vermag davon einen Eindruck zu vermitteln. Teresa von Ávila (1515–1582) beschreibt in ihren „Meditationen zum Hohelied“ die mystische Erfahrung als einen Freudentaumel, bei dem die Seele „so versunken und aufgesogen ist, dass sie meint, nicht mehr bei sich, sondern in einer Art von Gott-Trunkenheit“ (borrachez divina) zu sein, „wo sie nicht mehr weiß, was sie möchte, sagt oder erbittet“ (IV, 3). Gregor von Nyssa (335–398) beschreibt die mystische Erfahrung als ein erotisches Glühen, das der Geist in unserer Wahrnehmung bewirkt (Homilien zum Hohenlied 1,27, FC 16/1, 135). In der erotischen Liebeserfahrung wird der Mensch über sich selbst hinaus in eine ihn überschreitende Einheit geführt (vgl. Gen 2,24). Von ihrer Struktur her weist diese Erfahrung einen religiösen Charakter auf. Sie darf jedoch nicht mit der göttlichen Wirklichkeit selbst verwechselt werden. Sie vermittelt eine Ahnung, nicht mehr. Der Psychotherapeut und Paarberater Hans Jellouschek weist zu Recht darauf hin: „Unser Sehnsuchtspotential ist auf Dauer in keiner erotischen Beziehung unterzubringen, sondern übersteigt sie grundsätzlich. Wer das nicht wahrhaben will, wird beziehungs-, liebes- oder sexsüchtig und endet in der Selbstzerstörung“ (Die Kunst als Paar zu leben, Stuttgart 2005, 139). 23
Nach christlichem Verständnis ist es deshalb von grundlegender Bedeutung, der religiösen Erfahrung als solcher einen eigenen Raum zu bereiten. In diesem Raum bleibt die menschlich-erotische Erfahrung außen vor. Sexuelle und erotische Gedanken und Emotionen werden hier nicht weiter beachtet, sie werden zurückgelassen. Das ist gemeint, wenn Gregor von Nyssa davor warnt, bei der wörtlichen Bedeutung des Hoheliedes stehen zu bleiben, „da uns in vielem die vordergründige Bedeutung des Gesagten schaden könnte für ein der Tugend entsprechendes Leben. Vielmehr muss man zur immateriellen und geistigen Betrachtung übergehen, so dass die eher leiblich-konkreten Gedanken verwandelt werden in Vernunft und Verstand, nachdem die fleischlichere Bedeutung des Gesagten wie Staub entfernt worden ist“ (Homilien zum Hohenlied, Prolog 6–7, FC 16/1, 101). Solche und ähnliche Aussagen der Tradition stoßen heute weitgehend auf Unverständnis. Sogar unter Theologinnen und Theologen kann man erleben, dass sich ein emotional aufgeladener Protest entlädt, wenn derartige Äußerungen vernommen werden. Man wittert „Leib- und Sexualfeindschaft“. Aus der Geschichte und vor dem Hintergrund individueller Biographien mögen derartige Reaktionen verständlich sein. Sie sollten jedoch nicht davon abhalten, das Wesen menschlicher Sexualität und mystischer Erfahrung unvoreingenommen zur Kenntnis zu nehmen und zu bedenken. Die zeitgenössische Psychotherapie ist da in vielen Punkten weiter als eine Theologie, die es gut meint. Nach Hans Jellouschek muss der Mensch lernen, „göttliche und menschliche Liebe nicht miteinander zu vermischen“ (ebd. 145). Als eine grundlegende Übung, der Gefahr einer Vermischung zu entkommen, verweist er auf die Übung der Kontemplation. Der Mensch bedarf einer Übung, in der er sich ausschließlich auf die göttliche Wirklichkeit als solcher ausrichtet und nicht auf irgendwelche (schönen) Vorstellungen, die er sich von ihr macht. Auch erotische Bilder müssen hier „gelassen“ werden. So findet der Mensch in eine Gelassenheit hinein, die ihn vor überzogenen Ansprüchen an eine menschliche Liebesbeziehung bewahrt. Das traditionelle christliche Verständnis des Hoheliedes hat diese Zusammenhänge intuitiv erfasst und theologisch durchdacht. Auch wenn wir ihre sprachlichen Formulierungen heute nicht mehr in 24
allen Einzelheiten übernehmen können, so hat sie doch sehr deutlich sowohl den Zusammenhang als auch den Unterschied zwischen der erotisch-menschlichen und der göttlichen Liebe erkannt. Die erotische Erfahrung weist über sich hinaus auf eine göttliche Wirklichkeit. Erst in der Vereinigung mit dieser göttlichen Wirklichkeit (unio mystica) findet die Sehnsucht des Menschen ihre letzte Erfüllung. Wird diese Wirklichkeit, die der Mensch in der erotischen Begegnung ahnt, mit der erotischen Erfahrung selbst identifiziert, erliegt der Mensch einer schweren Täuschung. Der Psychotherapeut Hans Jellouschek schreibt dazu: „Wenn die Liebenden in ihrem Bewusstsein die göttliche Vereinigung nicht von der menschlichen Vereinigung unterscheiden, werden sie ihre religiöse Sehnsucht an die erotische Erfahrung hängen, werden davon enttäuscht sein, werden weiter suchen, weiter enttäuscht werden, und schließlich wird ihr Suchen zur Sucht, entweder direkt zur Sex- und Beziehungssucht oder verschoben zur Ess-, Mager-, Arbeits- oder Drogensucht“ (ebd. 141). Es zeigt sich, dass die Frage nach der rechten Auslegung des Hoheliedes zentrale Aspekte der Anthropologie und Theologie berührt. In der Inkarnation, der Menschwerdung Gottes, finden Gottheit und Menschheit in eine Einheit bei bleibender Unterschiedenheit. Vor dem Hintergrund des Hoheliedes ist diese Einheit in bleibender Unterschiedenheit als ein Dialog der Liebe zu verstehen (vgl. dazu vor allem das letzte Kapitel: „Gott ist die Liebe“). Die hier vertretene Auslegung des Hoheliedes lässt sich von der Einsicht leiten, dass diese Dimension im Text des Hoheliedes selbst angelegt ist.
25
Die Überschrift (Hld 1,1) Das Lied der Lieder (1,1) 1,1 Das Lied der Lieder, das von Salomo (stammt).
„Lied der Lieder“ (schir ha-schirim) – so wird das Büchlein in der Überschrift bezeichnet. Der Ausdruck ist im Sinne eines Superlativs, der höchsten Steigerungsform, zu verstehen: „Lied der Lieder“ meint das schönste und bedeutendste aller Lieder, das „Lied schlechthin“. Martin Luther hat dafür den Ausdruck „Das Hohe Lied“ geprägt. Die griechische Septuaginta (asma asmaton) und die lateinische Vulgata (canticum canticorum) geben die hebräische Überschrift in wörtlicher Übersetzung wieder. „Lied“ (schir) bezeichnet im Alten Testament gewöhnlich ein Lied, das aus freudigem Anlass gesungen wird, häufig in Begleitung von Musikinstrumenten (Am 6,5). In Psalm 45,1 ist damit sogar ein Liebeslied zur Hochzeit des Königs gemeint, das hier auf die Liebe zwischen Gott und seiner geliebten Braut, der Tochter Zion, verweist (vgl. Jes 5,1). Mit dem Wort „Lied“ (schir) können sowohl weltliche (Jes 24,9) als auch religiöse Lieder (Ps 92,1; 120–134) bezeichnet werden, wobei die Grenzen oft fließend sind. Für Klage- und Trauerlieder verwendet das Alte Testament gewöhnlich jedoch andere Ausdrücke. In der Überschrift wird das Wort im Singular verwendet. Damit soll offensichtlich die Einheit des Buches betont werden. Zwar lassen sich in ihm viele Lieder erkennen, die von verschiedenen Personen gesungen werden, doch scheint die Überschrift diese als Strophen eines einzigen Liedes zu verstehen. Dem Leser stellt sich somit die Frage: Ist das Lied Ausdruck einer einzigen Geschichte, einer einzigen und einzigartigen Liebesgeschichte? Die Auslegung wird zeigen, dass dies in der Tat der Fall ist. Worin besteht nun das Außergewöhnliche dieses Liedes? Was macht es zum „Lied der Lieder“? Dass das Hohelied von seiner 26
sprachlichen Form her eine hochstehende, ästhetisch ansprechende Dichtung darstellt, ist schon früh erkannt worden. Ihm aber allein aus diesem Grund das Prädikat „Lied der Lieder“ zuzuschreiben, dürfte zu modern gedacht sein. Dafür gibt es in der biblischen Tradition keine Anhaltspunkte. Die Qualifikation „Lied der Lieder“ dürfte wohl zunächst und vor allem in seinem Inhalt begründet sein. Damit stehen wir vor der Frage: Worum geht es in diesem „Lied der Lieder“? In deutlicher Anspielung auf die Überschrift beschreibt Rabbi Akiba (2. Jahrhundert n. Chr.) die Bedeutung des Buches wie folgt: „Wenn alle biblischen Schriften heilig sind, dann ist das Lied der Lieder das heiligste der heiligen“ (Mischna Jadajim III,5). Dass Rabbi Akiba damit auf das Verhältnis von Gott und Israel anspielt, ergibt sich aus seinem Kommentar zu Ex 15,2. Diesen Vers, der die Rettung Israels am Schilfmeer besingt, kommentiert Rabbi Akiba mit Worten aus dem Hohelied: „Reden will ich von den Schönheiten und Vorzügen des Heiligen … vor allen Völkern der Welt. Denn siehe, die Völker der Welt fragen die Israeliten: ‚Was ist dein Freund vor einem (anderen) Freunde, dass du uns so beschworen hast‘ (vgl. Hld 5,9)? … ‚Mein Freund gehört mir und ich ihm‘ (vgl. Hld 2,16).“ Diese Deutung und weitere Beobachtungen deuten darauf hin, dass die inhaltliche Bedeutung des Hoheliedes in seinem geistigallegorischen Verständnis zu sehen ist, wie es bereits in der ältesten jüdischen Tradition bezeugt wird. Dabei wird der Liebhaber auf Gott und die Geliebte auf Israel gedeutet. Die Überschrift „Lied der Lieder“ scheint genau darauf abzuheben. Sie darf nicht, wie es in der Neuzeit weitgehend der Fall war, in einem ausschließlich ästhetischen Sinn verstanden werden. Vielmehr qualifiziert sie das Hohelied als das bedeutendste Lied der Heiligen Schrift, weil in ihm das Herz der Bibel schlägt: die Liebe zwischen Gott und seiner geliebten Braut. Freilich wird im Rahmen der Auslegung zu fragen sein: Besteht diese Zuschreibung von der ursprünglichen Bedeutung der einzelnen Lieder her gesehen zu Recht? Es ist möglich, dass die Überschrift später hinzugefügt wurde. Dann wäre sie ein Hinweis auf ein sehr frühes allegorisches Verständnis des Buches. Es ist aber auch möglich, dass die Überschrift ursprünglich ist. Dann würde sie die vom Autor intendierte ur27
sprüngliche Bedeutung des Liedes als eine „über allen anderen Liedern“ stehende Bedeutung hervorheben. Das Hohelied, so deutet bereits die Überschrift an, führt uns zum Herzen der Heiligen Schrift, es ist das schönste und bedeutendste aller Lieder.
Von Salomo (1,1) Das „Lied der Lieder“ wird König Salomo zugeschrieben. Dafür werden unterschiedliche Gründe in Erwägung gezogen. Innerhalb des Buches ist dreimal von einem König die Rede (1,4.12; 3,9), einige Male fällt sogar der Name „Salomo“ (1,5; 3,7. 9. 11; 8,11f). Die Geliebte wird in 7,1 als „Schulammit“, das heißt als „die zu Salomo Gehörige“ bezeichnet. Bisweilen wird darauf verwiesen, dass Salomo einen großen Harem besaß (1 Kön 11,1–3) und vielfältige Beziehungen zu Frauen unterhielt (1 Kön 1,17–22; 3,1; 10,1–10) und sich somit in Sachen der „Liebe“ gut ausgekannt habe. Könnte auch dies ein Anlass gewesen sein, ihn, den Liebhaber vieler Frauen, als Autor des Hoheliedes anzuführen? Wohl kaum, denn das Hohelied übt eine feinsinnige, aber doch unüberhörbare Kritik an dieser Seite Salomos: Im Hohelied stellt der Mann seine Geliebte als einzige und einzigartige den vielen Frauen Salomos gegenüber (8,11f; vgl. 6,8–10). Vor diesem Hintergrund führt uns der königliche Liebhaber des Hoheliedes eine Seite Salomos vor Augen, die in der Lebensgeschichte des Königs, wie sie in den Büchern der Könige erzählt wird, kaum zum Vorschein kam. Man ist geneigt zu sagen: Im Hohelied kommt der wahre Salomo zur Sprache, so wie er von Gott gemeint war. Mit den Worten des österreichisch-ungarischen Schriftstellers Ödön von Horváth aus der Komödie „Zur schönen Aussicht“ gesagt: „Eigentlich bin ich ganz anders, ich komm nur so selten dazu.“ Ausschlaggebend für die Zuschreibung an Salomo dürfte ein anderer Grund gewesen sein. Was von Salomo in der biblischen Überlieferung vor allem in Erinnerung gehalten wurde, war seine Weisheit. Auch das Neue Testament weiß von der „Weisheit Salomos“ zu erzählen (Lk 11,31). Im ersten Buch der Könige lesen wir: „Er war weiser als alle Menschen“ (1 Kön 5,11). Im unmittelbaren Anschluss daran heißt es, dass Salomo 3.000 Sprichwörter und 1.005 Lieder verfasst habe. Die Weisheit Salomos zeigt sich offensichtlich unter 28
anderem darin, dass er anspruchsvolle Texte verfasst hat. Dazu gehören auch Texte, in denen verschlüsselte Aussagen enthalten sind, Texte, die Rätselcharakter aufweisen. In den „Sprichwörtern Salomos“ wird der Weise eingeladen, „Sinnspruch und Gleichnis zu verstehen, die Worte und Rätsel der Weisen“ (Spr 1,6). In der griechischen Übersetzung ist von Parabeln (parabolai), von „Gleichnissen“ die Rede. Salomo hat also, wie Jesus, in Gleichnissen gesprochen. Vor diesem Hintergrund dürfte die Zuschreibung des Hoheliedes an Salomo ein versteckter Hinweis darauf sein, dass auch hier mit Rätseln und Gleichnissen zu rechnen ist. Vor allem bei den Themen Liebe und Sexualität wird in vielen Kulturen und Sprachen gerne mit Rätseln und Andeutungen gespielt (vgl. Ri 14,18). Das dem Salomo zugeschriebene Buch scheint somit eine Bedeutung aufzuweisen, die über das, was bei einem vordergründigen Lesen wahrgenommen wird, hinausführt. Wie die Gleichnisse Jesu, so bedarf offensichtlich auch das Verständnis des Hoheliedes einer Gabe, die vom Sehen zum Erkennen und vom Hören zum Verstehen führt (vgl. Mk 4,10–12). Die Zuschreibung an Salomo ist natürlich in einem fiktiven Sinn zu verstehen. Das Hohelied wurde nicht vom „historischen Salomo“ im 10. Jahrhundert v. Chr. verfasst. Dagegen sprechen vor allem sprachliche, aber auch andere Gründe. In dieser Frage ist sich die heutige Exegese weitgehend einig. Sie datiert das Hohelied in die Zeit nach dem Exil, näherhin in das 3. Jahrhundert v. Chr. Es wird jenem Salomo zugeschrieben, von dem in der Heiligen Schrift erzählt wird. Es fügt seinem facettenreichen Bild eine weitere – und wie wir noch sehen werden – eine messianische Facette hinzu.
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Prolog: Die Sehnsucht nach dem Geliebten (1,2–2,7)
Die einzelnen Strophen des Hoheliedes stehen nicht beziehungslos nebeneinander, sondern sind durch Stichworte und Motive in vielfältiger Weise miteinander verbunden. Früher meinte man, das Hohelied sei eine Sammlung von Liedern und Liedfragmenten, in der keine übergreifende Ordnung zu erkennen sei. In der jüngeren Forschung wird dagegen zu Recht betont, dass es Zusammenhänge gibt, die sich über mehrere Strophen erstrecken. Die erste größere Einheit wird gewöhnlich in Hld 1,2–2,7 gesehen. Gianni Barbiero bezeichnet diesen Teil als Einleitung oder als Prolog. Hier werden die beiden Hauptpersonen eingeführt und die zentralen Motive des Werkes eingespielt: Es beginnt mit der Sehnsucht der Frau nach dem Geliebten; dieser erscheint als König und als Hirt. Das Beisammensein der Liebenden scheint sich zu verzögern, Irritationen deuten sich an. Das Motiv der Suche klingt an. Am Ende scheint sich die Sehnsucht der Frau erstmals zu erfüllen, ob als Traum oder als gelebte Wirklichkeit, lässt der Text offen (2,6f). Durchgehend finden sich in der Einleitung Anklänge an die Liebesgeschichte JHWHs mit seinem Volk, wie sie uns aus anderen Texten des Alten Testaments bekannt ist. Offenkundig wird hier in Bildern gesprochen, die zu erschließen den besonderen Reiz dieses wunderbaren Kunstwerkes ausmacht.
Er küsse mich mit Küssen seines Mundes! (1,2–4) 1,2 3 4
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Er küsse mich mit Küssen seines Mundes! Ja, deine Liebkosungen sind süßer als Wein. Der Duft deiner Salben ist süß, ausgegossenes Salböl ist dein Name, darum lieben dich die jungen Frauen. Zieh mich hinter dir her, lasst uns eilen! Der König hat mich in seine Gemächer gebracht.
Jubeln wollen wir und deiner uns freuen. Rühmen wollen wir deine Liebkosungen mehr als Wein. Zu Recht lieben sie dich.
Das Hohelied wird eröffnet mit einem Ausdruck der Sehnsucht. Ausgesprochen wird sie von einer weiblichen Stimme. Sie spricht zunächst über ihren Geliebten in der 3. Person („er küsse mich“), um dann sogleich unvermittelt in die Anrede der 2. Person zu wechseln („deine Liebkosungen“). Auch in der 2. Strophe (Vers 4) findet ein solcher Übergang statt. Der auffallende Wechsel der Sprechrichtung deutet auf eine traumhafte Verfassung der Sprecherin hin: Sie wähnt ihren Geliebten anwesend und abwesend zugleich. Im hebräischen Text liegen Wort- und Klangspiele vor, die in der deutschen Übersetzung kaum nachzuahmen sind. Eröffnet wird das Lied mit dem Wort: „Er küsse mich“. Die nähere Umschreibung „mit Küssen seines Mundes“ verdeutlicht, dass es um den Mundkuss geht und nicht etwa um den Nasenkuss, wie er in einigen Kulturen üblich ist. Bei der Aussprache des hebräischen Wortes pihu („seines Mundes“) formt sich der Mund wie bei einem Kuss. Jüdische mittelalterliche Exegeten äußerten die Vermutung, dass Zungenküsse gemeint seien. „Liebkosungen“ wird oft auch mit „Liebe“ übersetzt (Hld 5,1). Es handelt sich um den Abstraktplural von dod „Geliebter“. Gemeint sind Zärtlichkeiten, Liebkosungen, das erotische Spiel unter Liebenden (Spr 7,18). In Ez 16,8 spricht Gott von der „Zeit der Liebe“, da die Brüste der jungen Frau fest und ihr Haar dicht geworden sind (vgl. Hld 7,9; 8,10). Der Wein, „der das Herz des Menschen erfreut“ (Ps 104,14), begegnet im Alten Testament wie im Alten Orient häufig im Zusammenhang mit der Liebe. Die ihn trinken, werden in eine heitere und gelöste Stimmung versetzt (Ri 9,13), die bis zum Verlust des Bewusstseins führen kann. Doch die Liebe, so sagt unser Text, ist besser als Wein (vgl. Sir 40,20). In der Liebe spielt die sinnliche Wahrnehmung eine bedeutende Rolle. In unserem Text werden der Geschmacks- und der Geruchssinn angesprochen. Beide Sinne hängen eng miteinander zusammen. Vom Geschmack der Küsse geht die Sprecherin zum Duft der wohlriechenden Öle über. Der Geruchssinn spielt bei der emotional 31
geprägten Zu- und Abneigung von Menschen eine entscheidende Rolle (vgl. Ijob 19,17). Im Hohelied ist siebenmal vom Duft die Rede: vom Duft deiner Salben (4,10), deiner Kleider (4,11), deines Atems (7,9). Viele Duftstoffe üben eine erotisierende Wirkung aus. Sie werden in der Bibel gerne im Zusammenhang mit Liebe und festlichem Beisammensein erwähnt (Spr 7,17; 21,17) und sowohl von Männern wie von Frauen aufgetragen (Hld 4,10; Est 2,12). Kohelet ermuntert den jungen Mann, frohen Herzens seinen Wein zu trinken, sein Haupt mit Öl zu salben und mit der geliebten Frau alle Tage seines Lebens zu genießen (Koh 9,7–9). Auch Kult und Meditation machen sich die starke Wirkung, die Duftstoffe auf die Wahrnehmung und das Bewusstsein ausüben, zu Nutze (Ex 30,34–38; Ps 133,2). Das Wort „Duft“ (reach) kommt im Alten Testament sonst fast ausschließlich in kultischen Zusammenhängen vor, beim Opfer „zum beruhigenden Duft für den Herrn“ (Lev 2,2).
Dein Name Dass der Name einer geliebten Person eine magische Wirkung auf Verliebte ausübt, ist allgemein bekannt. Beim Namen des Geliebten im Hohelied ist das nicht anders. Von ihm bekennt die Frau: „Ausgegossenes Salböl ist dein Name“. Im Hebräischen liegt ein Wortspiel vor (vgl. Koh 7,1): Schemen bezeichnet das Öl, das bei der Körperpflege und der Salbung gewöhnlich mit wertvollen Duftstoffen angereichert wurde. Schem heißt „Name“. Die Gleichsetzung des Namens des königlichen Geliebten mit „ausgegossenem Salböl“ könnte als Anspielung auf den Gottesnamen verstanden werden. Es fällt auf, dass die Faszination des Namens im Hohelied nur vom (nicht genannten) Namen des Mannes und nicht vom (genannten) Namen der Frau (vgl. Hld 7,1: „Schulammit“) ausgeht. Mit dem Namen des Gottes Israels hat es eine besondere Bewandtnis. In vielen Texten des Alten Testaments wird das bezeugt. In einem feierlichen Akt teilt Gott dem Mose die Bedeutung seines Namens mit, ohne jedoch dessen Geheimnis preiszugeben (Ex 3,13–15). Im Dekalog wird das Aussprechen des Gottesnamens in besonderer Weise geschützt (Ex 20,7). Archäologische Funde deuten darauf hin, dass dem Gottesnamen eine beschützende und Gefahren abwehrende („apotropäi32
sche“) Wirkung zugesprochen wurde. Die Liebe zu Gott kann sich in der Liebe zu seinem Namen bekunden (vgl. Ps 5,12; 119,132). Die Anerkennung JHWHs zeigt sich in der Ehrerbietung gegenüber seinem Namen (Mal 1,11). „An Jesus glauben“ kann im Neuen Testament heißen: „an seinen Namen glauben“ (Joh 2,23; 3,18). Wer den Namen Gottes verachtet, verachtet Gott selbst (Mal 1,6). In der so genannten „Jesaja-Apokalypse“ (Jes 24–27), einem Text, der etwa in der gleichen Zeit entstanden sein dürfte wie das Hohelied, drückt sich die Sehnsucht nach JHWH und seinem Namen aus: „Deinen Namen anzurufen und an dich zu denken ist unser Verlangen. Meine Seele sehnt sich nach dir in der Nacht (vgl. Hld 3,1; 5,2), auch mein Geist ist voll Sehnsucht nach dir“ (Jes 26,8f). In späterer Zeit wurde der Name JHWH in der jüdischen Tradition nicht mehr ausgesprochen. Die griechische Übersetzung des Alten Testaments (Septuaginta) übersetzt ihn als nomen appelativum mit kyrios („Herr“). Im Hohelied kommt der Gottesname nicht vor. Eine Anspielung darauf findet sich jedoch im programmatischen Vers Hld 8,6. Hier wird die Liebe als eine „Flamme Jahs“ besungen, die stärker ist als der Tod. Interessant ist, dass das hebräische Wort dodi („mein Geliebter“) im Hohelied genau 26-mal vorkommt. Die Zahl 26 ist der Zahlenwert des Gottesnamens JHWH. Das dürfte kein Zufall sein. So stellt sich mit der Aussage „ausgegossenes Salböl ist dein Name“ dem mit der Heiligen Schrift vertrauten Leser sofort die Frage: Wessen Name ist hier gemeint (vgl. Ex 3,13; Spr 30,4)? Wer ist dieser außergewöhnliche Geliebte, nach dem sich die Frau so sehr sehnt, dessen Name „ausgegossenem Salböl“ gleicht? Bei der Inthronisation des Königs wie auch im Kult (Ex 30,22–33) spielt die Salbung eine Schlüsselrolle. Deshalb wird der König im Alten Testament oft einfach „der Gesalbte“ genannt, auf Hebräisch: „Messias“ (maschiach), auf Griechisch: „Christus“ (2 Sam 22,51; Ps 2,2; 18,51). Im folgenden Vers 4 spricht die Frau tatsächlich von einem König. In der Überschrift ist von Salomo die Rede. In Ps 45 sind Königstöchter unter den Geliebten des Königs, den Gott „mit dem Öl der Freude“ gesalbt hat; dessen Gewänder duften von Myrrhe, Aloë und Kassia. In Hld 1,2–4 ist die Sprecherin nicht die einzige, die den König liebt. Weitere junge Frauen lieben ihn. Konkurrenz und Eifersucht scheinen keine Rolle zu spielen. Dass auch andere 33
Frauen den König lieben, scheint die Gefühle der Frau nicht zu verletzen, sondern zu bestätigen: „Zu Recht lieben sie dich.“ Die erste Strophe endet mit dem Themawort des Buches: Lieben (Vers 3).
Zieh mich hinter dir her / Trahe me post te Bisher hatte die Geliebte ihr sehnsüchtiges Verlangen ihrem Geliebten nicht direkt eingestanden. Was sie ihm in direkter Anrede sagte, sind Komplimente. Sie rühmt seine Liebe, seinen Wohlgeruch, seinen Namen. Mit der zweiten Strophe ändert sich das. Jetzt spricht sie ihren Geliebten direkt an: „Zieh mich hinter dir her.“ Die lateinische Übersetzung lautet: „Trahe me post te“. Sie ist vielen aus dem W eihnachtslied „In dulci jubilo“ bekannt. Dort wird das Wort am Ende der zweiten Strophe Jesus zugerufen. Das dem mittelalterlichen Mystiker Heinrich Seuse zugeschriebene Lied ist eines von vielen Beispielen, in denen mit Worten des Hoheliedes die innige Liebe zu Jesus besungen wird. Das hebräische Wort maschak („ziehen“) kommt in Verbindung mit dem Wort „Liebe“ noch zweimal im Alten Testament vor. In Hos 11,4 geht es um die Herausführung Israels aus der Knechtschaft Ägyptens als Ausdruck der Liebe Gottes zu seinem Volk: „Mit menschlichen Fesseln zog ich sie (maschak), mit den Banden der Liebe.“ In Jer 31,3 kündigt Gott die Heimführung Israels aus dem Exil an als Ausdruck seiner „ewigen Liebe und Treue“. Bemerkenswert ist, dass Gott Israel in Jer 31,3 in der 2. Person Femininum Singular als Frau anspricht: „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir so lange die Treue bewahrt (maschak; Jer.LXX 38,3: elkein).“ In Jer 31 geht es um den Neuen Bund, um ein „neues Leben nach dem Ende“. Darin bietet Gott von sich aus „frei die persönliche, unmittelbare Beziehung zu ihm wieder an, ihn selber aus eigener Erfahrung zu kennen“ (Georg Fischer, Jeremia 26–52, HThK, Freiburg i. Br. 2005, 174). Im weiteren Verlauf der Auslegung werden wir sehen, dass das Hohelied mehrfach auf Jer 30–33 und auf das Motiv vom Neuen Bund anspielt. Wahrscheinlich hat auch das Johannesevangelium diese Stellen vor Augen, wenn Jesus dort sagt: „Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zieht (elkein)“ (Joh 6,44; vgl. 12,32). 34
In der Fortsetzung spricht die Frau in der 1. Person Plural: „Lasst uns eilen!“ Taucht sie dabei in die schützende Gruppe der jungen Frauen ein oder liegt hier schon ein erster Ausdruck der Gemeinschaft mit ihrem Geliebten vor? Wahrscheinlicher dürfte die erste Verständnismöglichkeit sein. Der Plural ist als kollektiver Plural zu verstehen. Demnach repräsentiert die Frau hier ein Kollektiv, bestehend aus vielen einzelnen Personen. Als Personifikation dieses Kollektivs kann die Frau von sich sowohl im Singular als auch im Plural sprechen. Im weiteren Verlauf der Auslegung wird sich zeigen, dass in der weiblichen Stimme die Sehnsucht des Gottesvolkes erklingt. Im Folgenden bekundet die Frau, bereits am Ziel ihrer Wünsche angelangt zu sein: „Der König hat mich in seine Gemächer gebracht.“ Jetzt wird erstmals deutlich, dass ihre Liebessehnsucht einem König gilt. Erneut spricht sie über ihn, nicht zu ihm. Die Gemächer bzw. die „Kammer“ (Hebräisch: hadar), in die der König die Frau gebracht hat, ist der innere Bereich des Hauses. Oft ist mit dem Wort das „Braut-“ oder „Ehegemach“ gemeint (vgl. Ri 15,1; 1 Kön 1,15; Ps 19,6; Joël 2,16). In 1 Chr 28,11, einem Text, der etwa zur gleichen Zeit entstanden sein dürfte wie das Hohelied, bezeichnet das Wort die Innenräume des Tempels. Der Tempel ist der Ort, an dem JHWH, der König Israels, Wohnung genommen hat (vgl. Ex 40,34; 1 Kön 6–9; Ps 24; 27; 46; 132). Einem allzu grob-sinnlichen Verständnis begegnen jene Texte, die davon sprechen, dass JHWH (lediglich) seinen Namen (vgl. Dtn 12,5; 14,23; 1 Kön 8,27–30; 9,3) oder seine Herrlichkeit (vgl. Ex 40,34; Ez 10,18f; 43,1–5) im Heiligtum hat wohnen lassen. Neben dem Thronsitz im Himmel (Ps 2,4) hat JHWH einen irdischen Wohnsitz im Tempel. Von dort strahlt seine Präsenz in die ganze Welt aus. Da Israel und seine Repräsentanten ihrem Gott jedoch den Rücken zugekehrt (vgl. Ez 8,16) und seinen heiligen Namen entweiht haben, hat dieser seinen Tempel verlassen und ihn dem Verderben preisgegeben (vgl. Jer 7,1–15; Ez 8–11; Mi 3,12; 1 Kön 9,6–9; 2 Kön 25,8–17). In der Folgezeit sind der Wiederauf bau des Tempels, die Rückkehr JHWHs in sein Heiligtum und die Heimkehr des Volkes zum Zion die großen Themen der exilischen und nachexilischen Literatur. Besonders in den Visionen der Propheten haben sie einen lebendigen Ausdruck gefunden (vgl. Ez 43,1–9; Jes 52,8; Sach 1,16; 8,3; Hag; Ps 118; 127). 35
Im folgenden Vers 4b spricht die Frau erneut im Plural: „Jubeln wollen wir und deiner uns freuen.“ Die Vorstellung ist eigenartig. Yair Zakovitch fragt verwundert: „Wie kann man sich eine Situation vorstellen, in der die Geliebte scheinbar gleichzeitig zu ihren Gefährtinnen und zu ihrem Geliebten spricht, als sei sie mit ihm zusammen und zugleich mit den Frauen – sind diese etwa hinter einer spanischen Wand anwesend zu denken?“ (Das Hohelied, HThK, Freiburg i. Br. 2004, 110) Offensichtlich deutet sich hier bereits an, dass die Aussage nicht in einem allzu realistisch-wörtlichen Sinn zu verstehen ist. Der Geliebte wird anscheinend nicht nur von einer, sondern von vielen jungen Frauen geliebt. Unser Text scheint darin kein grundsätzliches Problem zu sehen, im Gegenteil: Einzigartigkeit und Attraktivität des Geliebten werden durch die Liebe der vielen „jungen Frauen“ noch gesteigert. Versteht man nun die erotisch-sinnliche Freude, die mit ihrem königlichen Geliebten zu erleben sich die jungen Frauen anschicken, in einem wörtlichen Sinn, dann entstünde eine Spannung zur mehrfach im Hohelied bezeugten Exklusivität der Liebesbeziehung zwischen dem Geliebten und seiner Geliebten. Yair Zakovitch hat die Spannung angesprochen. Wir stünden vor dem Bild eines intimen Beisammenseins des Geliebten mit mehreren Frauen, die ihn gleichzeitig lieben. Demnach stellt sich die Frage, ob die hier entworfene Personenkonstellation nicht darauf hinweist, dass das beschriebene Geschehen über eine konkret-wörtliche Bedeutung hinausgeht. Im Alten Testament ist es üblich, dass Städte, Nationen und Völker im Bild einer Frau dargestellt werden. Jes 23,10 spricht von der „Tochter Tarschisch“, Jes 23,12 bezeichnet die „Tochter Sidon“ als eine „vergewaltigte Jungfrau“. In Jes 47,1–15 wird in einem Gerichtswort der „Tochter Babel“ das göttliche Gericht angekündigt. Sie wird als eine Jungfrau, als Tochter Chaldäas, als Herrin, als üppiges Weib und als Witwe personifiziert. Ähnlich kann Gott sein eigenes Volk als Tochter und Jungfrau ansprechen: „Großes Verderben brach herein über die Jungfrau, die Tochter, mein Volk“ (Jer 14,17). Vor diesem Hintergrund bieten sich zwei Verständnismöglichkeiten an. Zum einen können mit den jungen Frauen jene Frauen gemeint sein, die zu der Gruppe gehören, die die Sprecherin repräsentiert. Zum anderen könnten die jungen Frauen aber auch eine 36
Gruppe repräsentieren, die der Frau und der von ihr repräsentierten Gruppe gegenübersteht. In einer so verstandenen Personenkonstellation dürfte hier das Thema „Israel und die Völker“ anklingen. Das Motiv begegnet vor allem in späten nachexilischen Texten des Alten Testaments. Sein zentraler Gedanke ist: Die einzigartige Liebe zwischen JHWH und seinem Volk Israel entfaltet eine Dynamik, die über Israel hinausgeht und in die Welt der Völker ausstrahlt. Das Motiv der Völkerwallfahrt zum Zion ist eine Form, in der sich diese universalistische Sicht konkretisiert und veranschaulicht. Die Völker werden in die Liebe Gottes zu seinem Volk mit hineingenommen. Dies geschieht aber nicht durch Zwang, sondern aufgrund von Einsicht. Die Völker und ihre Repräsentanten selbst kommen zu der Erkenntnis, dass der Gott Israels der eine und wahre Gott der ganzen Welt ist und dass sich die Verwirrungen und die Gewalt, in die sie verstrickt sind und unter der sie leiden, lösen werden, wenn sie ihren Weg im Lichte dieses Gottes gehen. Als eine Art Lesehilfe steht diese Vision am Anfang der Prophetenbücher: „In künftigen Tagen wird es geschehen: Der Berg mit dem Haus des Herrn steht fest als höchster der Berge; er überragt alle Hügel. Zu ihm strömen alle Völker. Viele Nationen machen sich auf den Weg. Sie sagen: Kommt, wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn und zum Haus des Gottes Jakobs. Er zeige uns seine Wege, auf seinen Pfaden wollen wir gehen“ (Jes 2,2f; vgl. Mi 4,1–3). Im Gebet zur Einweihung des Tempels kündigt Salomo an, dass auch Fremde, die nicht zum Volk Israel gehören, wegen des Namens Gottes zum Tempel kommen werden, um dort zu beten. In Psalm 100,4 werden die Länder der Erde aufgefordert, den Namen JHWHs zu preisen. Die erste Strophe des Hoheliedes scheint an diese Vision anzuknüpfen und die Konstellation „Gott, Israel und die Völker“ in der Sprache der Liebe ganz neu auszusagen. Als eine erste Möglichkeit des Verstehens, eine Art von Vorverständnis, bietet sich dem mit der Heiligen Schrift vertrauten Leser demnach folgende Konstellation an: Der König, zu dem die Liebe der Frau entbrannt ist, ist entweder der Messias, der gottkönigliche Gesalbte (vgl. Ps 45; Joh 1,49) oder Gott selbst, der „König Israels“ (Jes 44,6; Zef 3,15; vgl. Jes 43,15). Die Frau repräsentiert das Gottesvolk, das sich in seiner Liebe nach einer intimen Begegnung mit diesem König sehnt. Mit den jungen Frauen ist entweder die Gruppe derer 37
gemeint, zu der die Sprecherin gehört und die sie repräsentiert, also das Gottesvolk, oder aber es sind die Völker gemeint, die nun auch in Liebe zu diesem einzigartigen König entbrannt sind. Im Kontext der Heiligen Schrift weckt der hochpoetische Text ein vielfältiges Geflecht an Assoziationen. Er präsentiert sich dem Leser als ein faszinierendes Rätsel, das sein Geheimnis offenbar nur nach und nach preisgibt. Nicht unmittelbar verständlich scheint auch die folgende Selbstaufforderung zu sein. Fordert die Frau sich und ihre Gefährtinnen auf, sich mit oder über den König zu freuen? Einige Kommentatoren übersetzen: „Ausgelassen wollen wir sein, uns mit dir vergnügen.“ Die hebräische Wortverbindung legt aber eine andere Vorstellung nahe, und zwar die, dass sich die Frau und ihre Gefährtinnen über den König freuen. Hebräisch samach be heißt: „sich freuen über“, nicht: „sich vergnügen mit“. In Psalm 70,5 wird allen, die Gott suchen, der Wunsch zugesprochen: „Frohlocken sollen und deiner sich freuen / alle, die dich suchen“ (vgl. Ps 40,17; Spr 23,24). Die Abfolge der Verben „jubeln“ und „sich freuen“ in der 1. Person Plural findet sich noch an zwei weiteren Stellen im Alten Testament. Im Anschluss an die Verheißung vom endzeitlichen Festmahl auf dem Zion „mit feinsten Speisen und erlesenen Weinen“ heißt es in Jes 25,9 über die göttliche Rettung: „Wir wollen jubeln und uns freuen über seine Rettung“ (vgl. Ps 31,8). Psalm 118,24 spricht von Jubel und Freude angesichts der Rettung eines Verworfenen („der Stein, den die Bauleute verwarfen“). Ähnlich wie in Hld 1,4 heißt es in Joël 2,23: „Ihr Söhne Zions, jubelt und freut euch über den Herrn, euren Gott!“ (vgl. Sach 10,7) In umgekehrter Reihenfolge begegnen die Verben in der messianischen Weissagung Jes 9,2: „Sie freuen sich vor deinem Angesicht, wie man sich freut bei der Ernte, wie man jubelt, wenn Beute verteilt wird.“ Der „ideale Leser“, der die Heilige Schrift im Wortlaut kennt, stellt Verbindungen zwischen diesen Texten her. Biblische Bücher und Texte, die in der Zeit nach dem Exil entstanden sind, weisen gewöhnlich einen hohen Grad an Intertextualität auf. Darunter versteht man sprachliche und motivische Verknüpfungen zwischen den biblischen Schriften. Die Autoren dieser Zeit haben gezielt auf andere Texte angespielt, um Zusammenhänge herzustellen und neue Ver38
ständnismöglichkeiten zu eröffnen. Schriftkundige Leser konnten die Anspielungen entdecken und dabei zu neuen und tieferen Einsichten gelangen. Diese Beobachtungen sprechen dafür, dass markante Formulierungen des Hoheliedes auf ein geistiges Verständnis verweisen oder zumindest für ein geistiges Verständnis offen sind. Die hier besungene Liebe konnte als ein Bild für die Sehnsucht Israels nach einer intimen Begegnung mit seinem Gott verstanden werden. Möglicherweise war ein solches Verständnis sogar von Anfang an angezielt.
Der königliche Bräutigam In der Eröffnungsszene des Hoheliedes hören wir die Stimme einer Frau, die sich nach der liebenden Begegnung mit einem König sehnt. Mit Ausdrücken sinnlichen Begehrens und sinnlicher Wahrnehmung („küssen“, „Wein“, „Duft der Salben“, „ausgegossenes Salböl“, „lieben“) wird eine erotisch-intime Stimmung erzeugt. Anklänge an diese Motive finden sich an zentralen Stellen des Neuen Testaments. Vor seinem Tod wird Jesus von einer Frau mit kostbarem, echtem Nardenöl gesalbt (Mk 14,3–9; Mt 26,6–13; Joh 12,1–11). Die Erzählung von der Salbung Jesu weist eine verwickelte Überlieferungsgeschichte auf (vgl. Lk 7,36–50). Vor allem in der Gestalt, die sie im Johannesevangelium gefunden hat, zeigen sich einige markante Entsprechungen zur Eröffnungsstrophe und zu weiteren Passagen des Hoheliedes: die Salbung, das wohlriechende Öl, von dessen Duft das Haus erfüllt wird (Joh 12,3), die Worte „lieben“, „küssen“, „Name“ (Joh 12,13), das Motiv des Königs, der „an der Tafel liegt“ (Hld 1,12) und bald darauf in seine Stadt einzieht (Joh 12,13), das Motiv des Mahles, bei dem der Wein eine bedeutende Rolle spielt (vgl. Hld 5,1). Viele Exegeten rechnen damit, dass der Evangelist Johannes gezielt auf das Hohelied anspielt. In der Erzählung von der Hochzeit zu Kana tut Jesus, was der Bräutigam hätte tun sollen: den guten Wein (zuerst) vorsetzen (Joh 2,9f). Ein wenig später deutet Johannes der Täufer das Kommen Jesu mit Hilfe des biblischen Bildes von Braut und Bräutigam, wenn er sagt: „Ich bin nicht der Messias (Christus; der Gesalbte), sondern nur ein Gesandter, der ihm vorausgeht. Wer die Braut hat, ist der Bräutigam; 39
der Freund des Bräutigams aber, der dabei steht und ihn hört, freut sich über die Stimme des Bräutigams. Diese meine Freude hat sich erfüllt“ (Joh 3,28f). Die Aussage leitet über zur Erzählung von der Begegnung Jesu mit der Samaritanerin am Jakobsbrunnen. Zweimal bekräftigt Jesus, dass die Frau noch gar keinen Mann habe (Joh 4,17f). Das dürfte wohl so zu verstehen sein, „dass die Frau ihren eigentlichen, sie wahrhaft liebenden Ehegatten noch gar nicht gefunden hat“. Somit scheint die Erzählung die Annahme nahezulegen, dass Jesus der wahre messianische Bräutigam ist und „Samaria – repräsentiert durch die Frau – seine messianische ‚Braut‘“ (Michael Theobald, Das Evangelium nach Johannes, RNT, Regensburg 2009, 318). In ihr wird eine Sehnsucht entfacht, die ihr die Kraft gibt, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen und neu aufzubrechen – zu dem, den ihre Seele liebt. Die Erzählung von der Erscheinung des Auferstandenen vor Maria von Magdala (Joh 20,11–18) spielt auf die Gartenmetaphorik des Hoheliedes an (vgl. Joh 19,41). In Jesus begegnet eine Liebe, die sich hingibt und die letztlich stärker ist als der Tod. Das erinnert an die Spitzenaussage von Hld 8,6: „Stark wie der Tod ist die Liebe“, die im Sinne von: „Stärker als der Tod ist die Liebe“ zu verstehen ist. Das Haus des Lazarus, das vom Gestank des Todes erfüllt war (Joh 11,39), verwandelt sich mit dem Kommen Jesu in ein Haus des Lebens und der Auferstehung, das vom Duft des wohlriechenden Salböls erfüllt ist (Joh 12,3; vgl. 2 Kor 2,15; 11,2). Solche und weitere Stellen aus dem Neuen Testament zeigen, dass die Worte und Bilder des Hoheliedes für ein vielfältiges Verständnis offen waren. Grundgelegt ist diese Möglichkeit des Verstehens bereits im Alten Testament selbst. Wahrscheinlich ist sie vom Autor des Hoheliedes intendiert. Bei einer derartigen Lektüre, welche die mehrschichtige Metaphorik des hochpoetischen Textes berücksichtigt, geht es nicht um eine Abwertung der Sinnlichkeit und der Erotik, wie oft behauptet wird, sondern um die Veranschaulichung und affektive Durchdringung einer geistigen Erfahrung und einer theologischen Einsicht. Dadurch wird die erotische Liebe zwischen Mann und Frau nicht abgewertet, sondern aufgewertet. Sie wird für würdig befunden, die Sehnsucht und Liebe zwischen Gott und seinem Volk, zwischen Gott und dem Menschen zu veranschaulichen, 40
zu verstehen und auszudrücken. Damit wird zugleich ein Weg beschrieben, den zu gehen jeder Leser eingeladen ist, der bereit ist, sich auf die faszinierende Welt des Textes einzulassen.
Schwarz, aber doch schön (1,5–6) 1,5 6
Schwarz bin ich, aber doch schön, Töchter Jerusalems, wie die Zelte Kedars, wie die Zeltplanen Salomos. Schaut mich nicht so an, weil ich so schwärzlich bin, weil mich die Sonne erspäht hat. Die Söhne meiner Mutter zürnten mir, setzten mich ein zur Hüterin der Weinberge. Meinen eigenen Weinberg habe ich nicht gehütet.
Im Eröffnungslied (1,2–4) wurden wir in eine luxuriös-königliche Lebenswelt geführt. Nun hat sich die Atmosphäre verändert. Bilder aus dem nomadisch-ländlichen Leben prägen die Szene: Vom Hüten der Weinberge ist die Rede, von der Sonne, der die Frau ihre dunkle Haut verdankt, und vom Konflikt mit den Brüdern. In diesem Lied spricht die Frau zu den Töchtern Jerusalems. Sie spricht ausschließlich über sich. Eröffnet wird die Texteinheit mit dem betont an erster Stelle stehenden Wort „schwarz“ (Vers 5). Es begegnet in abgewandelter Form („schwärzlich“) noch einmal in Vers 6. Wie ist es zu verstehen? Einige Exegeten denken an die Faszination einer afrikanischen Schönheit und übersetzen: „Schwarz bin ich und schön.“ In Verbindung mit der Hautfarbe sind Schönheitsideale stark kultur- und zeitabhängig. Im Europa des 19. Jahrhunderts galt die weiße Hautfarbe von Frauen als vornehm und attraktiv, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schien der Sexappeal mit einer (im Urlaub) braun gebrannten Haut zu steigen. Unter dunkelhäutigen afrikanischen Frauen gibt es angeblich Tendenzen, die dunkle Hautfarbe aufzuhellen. In antiken Kulturen finden sich für beide Schönheitsideale Belege. Der hebräische Text lässt zwei Übersetzungsmöglichkeiten zu: (1) „Schwarz bin ich und schön“ oder (2) „Schwarz bin ich, aber doch schön.“ Die Schwärze der Frau zieht die Blicke der Töchter Jerusalems auf sich (Vers 6). Sind es Blicke der Faszination und Bewunderung oder Blicke der Verachtung? In Hld 41
6,10 beschreibt der Mann seine Geliebte als „schön wie die Weiße (gemeint ist der helle Schein des Mondes) und rein wie die Glut (der Sonne)“. In Hld 5,10 preist die Frau ihren Geliebten in einem Beschreibungslied als „glänzend-weiß und rot“. Schwarz sind nur seine (lockigen) Haare (Hld 5,11). Demnach scheint eine hell-glänzende Hautfarbe dem Schönheitsideal des Hoheliedes zu entsprechen. Der mit schwerem Aussatz geschlagene Ijob klagt: „Die Haut an mir ist schwarz geworden, von Fieberglut brennen meine Knochen“ (Ijob 30,30). Ein Blick auf Klagelieder 4,6–8 bestärkt unsere Vermutung. Dort werden weiße und schwarze Haut in einem metaphorischen Sinn gebraucht. Die schwarze Haut ist hier ein Bild für die Schuld „der Tochter meines Volkes“. In herzzerreißenden Bildern wird die Zerstörung Jerusalems im Jahre 586 v. Chr. beklagt. Eingeleitet wird das vierte Klagelied mit dem Bild vom „glanzlos gewordenen Gold und verdunkelten Feingold“ (Klgl 4,1). Weiter heißt es dort: „Größer ist die Schuld der Tochter meines Volkes als die Sünde Sodoms … Reiner waren ihre Vornehmen als Schnee, weißer als Milch, rötlicher der Leib als Korallen, ein Lapislazuli ihre Gestalt. Schwärzer als Ruß ist ihr Aussehen, man erkennt sie nicht wieder in den Gassen. Geschrumpft ist ihre Haut auf ihrem Leib, ausgetrocknet wie (dürres) Holz.“ Hier geht es „um mehr als nur um die Beschreibung des unansehnlich gewordenen Aussehens“ (Ulrich Berges, Klagelieder, HThK, Freiburg i. Br. 2002, 247). Es geht um die Sünde des Volkes, „die größer war als die Sünde Sodoms“. Vor diesem Hintergrund dürfte der Aussage in Vers 5 das Schönheitsideal einer hellen Hautfarbe zugrunde liegen. Die Töchter Jerusalems schauen auf die Sprecherin ob ihrer dunklen Haut verächtlich herab. Die Frau setzt sich gegen diesen Blick der Verachtung zur Wehr. Sie weist darauf hin, dass sie nicht von Natur aus schwarz ist, sondern dass sie schwarz geworden ist, da sie von ihren Brüdern zur Bewachung der Weingärten eingesetzt wurde und dabei den Strahlen der Sonne ausgesetzt war. Ist es die Strafe dafür, dass sie ihren eigenen Weinberg nicht gehütet hat? Zweimal ist in Hld 1,5f von Weinbergen die Rede, und zwar in einem deutlich erkennbaren Gegensatz. Auf der einen Seite sagt die Frau: „Die Söhne meiner Mutter zürnten mir, setzten mich ein zur 42
Hüterin der Weinberge.“ Dem stellt sie unmittelbar anschließend die Aussage entgegen: „Meinen eigenen Weinberg habe ich nicht gehütet.“ Weitgehend unumstritten ist, dass in der zweiten Aussage der Weinberg eine Metapher ist. Die Frage ist: eine Metapher wofür? Einige verstehen den Weinberg als Metapher für die Frau, insbesondere für ihren Leib. „Meinen eigenen Weinberg habe ich nicht gehütet“ hieße dann: „Meine Jungfräulichkeit habe ich nicht bewahrt.“ Die Frau, so eine verbreitete Deutung, bekenne sich dazu mit einem gewissen Stolz. Unklar bleibt bei diesem Verständnis, weshalb die Brüder sie ausgerechnet zur Hüterin der Weinberge eingesetzt haben. Um sie von Männern fernzuhalten, scheinen Weinberge ein denkbar ungeeigneter Ort zu sein (vgl. Ri 9,27; 21,20f). Denn in den Weinbergen konnten sich die jungen Leute am ehesten ungestört treffen. Will ein Vater die Jungfräulichkeit seiner Tochter bewahren, empfiehlt ihm Jesus Sirach, sie in einen Raum einzuquartieren, der kein Fenster zur Straße hat (Sir 42,11). Demnach bietet sich eine andere Erklärung an, bei der die Kohärenz des Textes und seiner Bilder gewahrt bleiben. In der folgenden Texteinheit (Hld 1,7f) sucht die Frau voller Verzweiflung und Sehnsucht ihren Geliebten. Dieser wird hier nicht als König, sondern als Hirte vorgestellt. Sie ruft ihn an mit den Worten: „Du, den meine Seele liebt, sag mir: Wo weidest du die Herde? Wo lagerst du am Mittag?“ Psalm 80 beginnt mit den Worten: „Hirte Israels, höre, der du Josef weidest wie eine Herde!“ Der Psalm beklagt den Zorn JHWHs über sein untreu gewordenes Volk. Der Blick geht zurück in die Anfangsgeschichte des Gottesvolkes. Israel wird hier mit einem Weinstock verglichen: „Du hobst in Ägypten einen Weinstock aus, du hast Völker vertrieben, ihn aber eingepflanzt“ (Ps 80,9). Dieser Weinstock hat das ganze Land erfüllt. Jetzt aber liegt er verlassen da, seine Mauern sind eingerissen, „die Tiere des Feldes fressen ihn ab“ (Ps 80,14; vgl. Hld 2,15). Weinstock und Weinberg werden in der Bibel einige Male als Bild für das Gottesvolk und sein Land verwendet (vgl. Jes 27,2–6; Jer 12,10; Mt 21,33–44). Bekannt ist das Weinberglied aus Jesaja 5. Das Lied ist eine Allegorie. Der Weinberg ist hier eine Metapher für das Gottesvolk (Jes 5,7). Der Freund, der den Weinberg angelegt hat, 43
steht für Gott. Er ist enttäuscht über seinen Weinberg, da dieser keine süßen Trauben gebracht hat. Deshalb gibt er ihn der Verwüstung preis (Jes 5,5f; 1,8). Als Allegorie begegnet der Weinstock auch in Ez 19,10–14: „Deine Mutter war wie ein Weinstock im Garten.“ Der zu Beginn kräftige und fruchtbare Weinstock wird „im Zorn“ ausgerissen und ein Fraß des Feuers, womit auf das Ende des judäischen Königtums und das Exil angespielt wird (vgl. Ez 17,6). In Hos 1–3 wird die Treulosigkeit Israels mit der Treulosigkeit einer Ehefrau verglichen, die anderen Liebhabern folgt (Hos 2,7). Gott, ihr „erster Mann“ (Hos 2,9), bestraft sie für ihre Untreue. Er verwüstet ihren Weinstock (Hos 2,14). Doch er gibt seine Geliebte nicht auf. Erneut will er „sie verlocken und neu um sie werben und ihre Weinberge zurückerstatten“ (Hos 2,16f; vgl. Ez 28,26). Aufgrund der engen Beziehung zwischen Israel und seinem Land kann die Bibel sowohl von der Treulosigkeit Israels als auch von der Treulosigkeit des Landes sprechen, wenn das Volk anderen Göttern nachläuft (vgl. Hos 1,2). Vor diesem Hintergrund ergibt sich für Hld 1,5f folgende Deutung: Der Weinberg am Ende von Vers 6 kann sowohl als Metapher für die Frau als auch für das Land verstanden werden. Dass die Frau ihn nicht gehütet hat, ist Eingeständnis ihrer Treulosigkeit. Die Aussage: „Meinen eigenen Weinberg habe ich nicht gehütet“ wäre demnach nicht stolzer Ausdruck eines selbstbestimmten Sexualverhaltens, sondern Eingeständnis eines Fehlverhaltens. Dazu passt das schwarze Aussehen der Frau, weshalb sie von den Töchtern Jerusalems verächtlich angeschaut wird (vgl. Klgl 4,6–8; Ez 16,57). Wer aber sind die „Söhne meiner Mutter“? In Hld 1,5 ist erstmals von den Brüdern der Frau die Rede. Sie nennt sie hier „die Söhne meiner Mutter“. Am Ende des Hoheliedes begegnen die Brüder noch einmal (8,8–10). Neben den Brüdern wird an wenigen Stellen auch die Mutter genannt. In Hld 3,4 und 8,2 spricht die junge Frau vom „Haus meiner Mutter“. Es fällt auf, dass nirgends der Vater vorkommt. Die Frau des Hoheliedes bewegt sich offensichtlich in einer „vaterlosen Gesellschaft“. Den Grund dafür werden wir noch kennenlernen (siehe dazu die Auslegung von Hld 8,1–4). Zwischen der jungen Frau und ihren Brüdern scheint es Spannungen zu geben. Das geht eindeutig aus Hld 1,5 hervor: „Die Söh44
ne meiner Mutter zürnten mir, setzten mich ein zur Hüterin der Weinberge.“ Dem stellt die Frau die Aussage entgegen: „Meinen eigenen Weinberg habe ich nicht gehütet.“ In dieser zuletzt angeführten Aussage ist der Weinberg eine Metapher für die Frau. Als profanes Liebeslied gelesen würde das bedeuten, dass die Frau ihre Jungfräulichkeit nicht bewahrt hat. Nun haben wir gesehen, dass der Weinberg an signifikanten Stellen der Bibel als Bild für das Gottesvolk und sein Land verwendet wird. Dort begegnet das Bild vor allem in Zusammenhängen, in denen Israel wegen seiner Treulosigkeit gegenüber JHWH angeklagt wird. Die Liebesgeschichte zwischen Gott und seinem Volk wird einige Male im Bild einer Ehegeschichte erzählt. Die Frau hat JHWH, „ihren Mann“, verlassen und ist anderen Liebhabern gefolgt (vgl. Hos 2,7.18). Die Tochter Zion hat den verlassen, der sie liebt (vgl. Ez 16,8), und steht nun selbst verlassen da „wie eine Hütte im Weinberg“ (vgl. Jes 1,4.8). Vor dem Hintergrund dieser Texte ergibt sich für das Verständnis von Hld 1,6 folgende Deutung: Die Frau, die ihren eigenen Weinberg nicht gehütet hat, wird von den Söhnen ihrer Mutter dazu verurteilt, die Weinberge anderer zu hüten (vgl. 2 Kön 18,31f). Sie bekommt den Zorn ihrer Brüder zu spüren. Das dürfte als eine Anspielung auf das Exil zu verstehen sein, da das Gottesvolk in fremden Ländern für andere arbeiten musste wie einst in Ägypten (vgl. Hos 8,13; 9,1–6; 10). Es war dazu verurteilt, „anderen Göttern zu dienen“ (vgl. Dtn 4,28; 28,64; 29,1–28). „Die Söhne meiner Mutter“ dürften auf die Bewohner Babylons verweisen (vgl. Gen 11,27–32; 22,20–24; 25,20; 28,1–9; Ez 16,3.45), aber auch auf die mit Israel verwandten Brudervölker wie die Edomiter, die die Babylonier bei der Eroberung Jerusalems unterstützten und grausam mit den Bewohnern der Stadt verfuhren (vgl. Klgl 4,21; Obd 1,1–15; Ps 137,7; Ez 25,12–14; Joël 4,2–3.9). Esau, der Zwillingsbruder Jakobs, gilt als Stammvater der Edomiter (Am 1,11). Ebenso verweist der Vergleich „wie die Zelte Kedars“ auf ferne Länder. Kedar gilt als Nachkomme Ismaels (Gen 25,13). Kedar ist das Land, das der babylonische König Nebukadnezzar erobert hat. Dort wohnen „die Söhne des Ostens“ (Jer 49,28). Interessant ist in diesem Zusammenhang Psalm 120,5. Nur dort begegnet noch einmal der Ausdruck „Zelte Kedars“. In diesem Psalm klagt der Beter, dass er in der Fremde weilen muss, „in Meschech und bei den Zelten Ke45
dars“, weit entfernt vom Tempel in Jerusalem. Im folgenden Psalm 121 bricht er auf zur Wallfahrt nach Jerusalem. Ihm ist die Zusage gegeben, dass JHWH, der „Hüter Israels“, ihn auf dem gefahrvollen Weg beschützen werde und dass Sonne (vgl. Hld 1,6) und Mond ihm nicht schaden werden. Im folgenden Psalm 122 erreicht er die heilige Stadt. In Psalm 124 schaut die Gruppe der Pilger, die die heilige Stadt wohlbehalten erreicht hat, zurück auf die Zeit, da sich Menschen „gegen uns erhoben und ihr Zorn gegen uns entbrannte“ (Ps 124,2f). Doch da JHWH sich für sie eingesetzt hat, konnten sie der vollkommenen Vernichtung entkommen. Vor diesem Hintergrund lässt sich der rätselhafte Text Hld 1,5f gut verstehen: Trotz ihrer Schuld, die sich in ihrer schwarzen, von der Sonne verbrannten Haut zeigt, bleibt die Frau dennoch schön: „Schwarz bin ich, aber doch schön.“ Gemäß dem Zeugnis der geschichtlichen und prophetischen Bücher des Alten Testaments „hat die Jungfrau Israel Abscheuliches getan“ (Jer 18,13). Ihr einst strahlendes Aussehen hat sich verdunkelt (Klgl 4,8). Im Exil hat sie die Strafe für ihre Sünden erlitten. Dort musste sie anderen Völkern und deren Göttern dienen. Dort wird sie aber auch zur Erkenntnis und zum Bekenntnis ihrer Schuld geführt. Ihre dunkle Seite, die sie nicht verleugnet, hat ihre Schönheit (vgl. Ez 16,14) jedoch nicht gänzlich zerstört. Dieses Wissen verleiht ihr den Mut und das Selbstbewusstsein, sich ihrem wahren Geliebten erneut zuzuwenden. Jetzt, da sie dazu verstoßen wurde, die Weinberge anderer zu hüten, entbrennt sie in leidenschaftlicher Liebe zu ihrem Geliebten (vgl. Dtn 4,29; 30,1–10). Im Folgenden begibt sie sich auf die Suche nach ihm (Hld 1,7). Die Aussage: „Schwarz bin ich, aber doch schön“ hat eine reiche Auslegungsgeschichte erfahren. Die ekklesiologische Interpretation, die an dieser Stelle angemessen ist, sieht in der Braut das Gottesvolk, in christlicher Deutung: die Kirche. Diese ist heilig und sündig zugleich, sie ist „casta meretrix“, „keusche Hure“. Eine Kirche, die ausschließlich „schön“ ist, „ohne Makel und Falten“ (Eph 5,27), ist eine eschatologische Größe – ein tröstlicher Gedanke.
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Zieh hinaus (1,7–8) 1,7 8
Sag mir, den meine Seele liebt, wo weidest du, wo lässt du lagern am Mittag? Warum soll ich wie eine Umherirrende sein bei den Herden deiner Gefährten? Wenn du es selbst nicht weißt, du Schönste unter den Frauen, zieh hinaus auf den Spuren der Schafe und weide deine Lämmer bei den Wohnstätten der Hirten.
Erstmals begegnen wir einem kleinen Dialog, bestehend aus Frage (Vers 7) und Antwort (Vers 8). Die Frau eröffnet das Gespräch mit einer an ihren Geliebten gerichteten Frage. Sie spricht ihn mit den Worten an: „den meine Seele liebt“. Diese Bezeichnung für den Geliebten findet sich nur hier und viermal in Hld 3,1–4. Sie wird ausschließlich von der Frau als Bezeichnung ihres Geliebten verwendet, nicht umgekehrt. In Dtn 6,5 wird Israel aufgefordert, seinen Gott „mit ganzer Seele“ zu lieben. In der Eingangsperikope ist der Geliebte ein König (1,4). Jetzt sucht ihn die Frau unter den Hirten. Sie möchte in Erfahrung bringen, wo er zur Mittagszeit lagern lässt. Hier liegt eine feinsinnige Anspielung auf Psalm 23,2 vor: „JHWH ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen.“ Psalm 23 spielt auf die Ursprungsgeschichte Israels mit Exodus, Wüstenwanderung und Landnahme an und zugleich „auf die prophetische Verheißung von der Erneuerung Israels durch den zweiten Exodus aus dem Exil“ (Erich Zenger, [Frank-Lothar Hossfeld], Die Psalmen. Psalm 1–50, NEB, Würzburg 1993, 154). König und Hirte sind zwei der am häufigsten verwendeten Bilder für Gott in der Bibel (vgl. Ps 93,1; Ez 34). Die Hirtenmetapher findet sich vor allem in jenen Texten, die von der Heimführung Israels aus dem Exil sprechen. Mit dem Bild von JHWH als dem guten Hirten, der sein Volk heimführt zum Zion, wird der zweite Teil des Jesajabuches programmatisch eröffnet: „Wie ein Hirt führt er seine Herde zur Weide, er sammelt sie mit starker Hand“ (Jes 40,11; vgl. Jer 23,3; 31,10). Die Mittagszeit, da die Sonne in voller Kraft am Himmel steht, ist 47
die Zeit, da Gott demjenigen, der ihm die Treue hält, gibt, „was sein Herz begehrt“ (Ps 37,4–6). Ihr gegenüber gestellt wird die finstere Nacht als die äußerste Gottesferne (Jes 5,30; 59,10; Am 5,18–20; 8,9). Die Frau begründet ihren Wunsch mit einer rhetorischen Frage: „Warum soll ich wie eine Umherirrende sein bei den Herden deiner Gefährten?“ Die Herden der Gefährten dürften auf die Völker mit ihren Königen verweisen, unter denen Israel im Exil lebt (vgl. Jer 6,3). Die altorientalischen Könige verstanden sich als Hirten ihrer Völker. So gesehen sind sie „Gefährten“ JHWHs, des „Hirten Israels“ (Ps 80,2). Dennoch sind sie mit ihm und seinem Gesalbten nicht wirklich zu vergleichen. Ps 45,8 hebt den göttlichen Gesalbten als unvergleichlich unter seinen Gefährten hervor: „Darum hat dich, o Gott, dein Gott gesalbt mit dem Öl der Freude wie keinen deiner Gefährten“. In Hld 1,3 war vom Duft des Salböls die Rede, das vom königlichen Geliebten ausströmt. Der Sinn von Vers 7 wäre dann: Die in der Fremde lebende Tochter Zion sucht den, den „ihre Seele liebt“ (Dtn 6,5). Sie fragt: Warum soll ich weiterhin unter den Völkern („Herden“) fremder Könige („Gefährten“) umherirren? Wo kann ich meinen Geliebten finden? Wahrscheinlich sind es die Töchter Jerusalems aus der unmittelbar vorangehenden Strophe (Hld 1,5), die im folgenden Vers 8 eine Antwort geben. Die Frau, die ihren Geliebten so sehr liebt, wird aufgefordert: „Zieh hinaus!“ Mit dem hebräischen Verbum jasa wird gewöhnlich der Auszug Israels aus der Knechtschaft Ägyptens umschrieben (Ex 20,1). Das Wort bezeichnet aber auch den zweiten Exodus, den Auszug aus dem Babylonischen Exil. In Jes 48,20 werden die Exilanten aufgefordert: „Zieht hinaus aus Babel, flieht aus Chaldäa!“ Ähnlich in Jes 52,11: „Fort, fort! Zieht von dort weg! Fasst nichts Unreines an! Zieht von dort weg!“ (vgl. Jes 49,9) Die Geliebte wird aufgefordert, auszuziehen „auf den Spuren der Schafe“. Wahrscheinlich ist damit jener Weg gemeint, den Israel gekommen ist. Dem Sinn nach dürfte eine Anspielung auf Jer 31,21f vorliegen: „Stell dir Wegweiser auf, setz dir Wegmarken, achte genau auf die Straße, auf den Weg, den du gegangen bist. Kehr zurück, Jungfrau Israel, kehr zurück (vgl. Hld 7,1) in diese deine Städte! Wie lange noch willst du dich hin und her wenden, du abtrünnige Tochter? Denn etwas Neues erschafft der Herr im Land: Die Frau wird 48
den Mann umfangen.“ Die Jungfrau Israel wird aufgefordert, in ihr Land und zu ihrem Gemahl zurückzukehren. Auch danach sehnt sich die Frau des Hoheliedes. Sie möchte mit dem zusammen sein, den „ihre Seele liebt“. Sie sucht, wo er lagern lässt „zur Mittagszeit“ (vgl. Joh 6,10), wo er ihr Verlangen stillt (Ps 23,3; vgl. Mk 6,30–44). Ihre Sehnsucht kann nur in Erfüllung gehen, wenn sie auf bricht – wie einst beim Exodus.
Einer Stute gleich bei Pharaos Streitwagen (1,9–11) 1,9 10 11
Einer Stute bei Pharaos Streitwagen vergleiche ich dich, meine Freundin. Schön sind deine Wangen in den Bändern, dein Hals in den Perlenschnüren. Bänder aus Gold wollen wir dir machen samt Perlen aus Silber.
Erstmals spricht der Mann seine Geliebte direkt an. Er nennt sie „meine Freundin“ und vergleicht sie mit „einer Stute bei Pharaos Streitwagen“ (Vers 9). Worauf zielt der Vergleich? Die Streitwagen Pharaos wurden von Hengsten und nicht von Stuten gezogen. Was macht demnach eine Stute bei den Streitwagen Pharaos? In einem Bericht des ägyptischen Offiziers Amenemheb über die Schlacht von Kadesch aus dem Jahre 1458 v. Chr. erzählt dieser, wie der Prinz von Kadesch eine Stute unter die Hengste des ägyptischen Streitwagenkorps jagte, um sie in Verwirrung zu stürzen. Amenemheb setzte der Stute nach, tötete sie mit dem Schwert und bewahrte so die ägyptische Armee vor einer Niederlage. Vor diesem Hintergrund würde der Vergleich auf die erotische Ausstrahlung der Freundin abzielen: Mit ihrer Attraktivität verwirrt sie alle Männer. Es stellt sich allerdings die Frage, warum an dieser Stelle unvermittelt der Pharao mit seinen Streitwagen auftaucht. Greift der Autor lediglich ein Bild aus der damaligen Kultur auf, um Schönheit und Attraktivität seiner Freundin hervorzuheben? Dem kundigen Bibelleser fällt auf, dass Streitwagen, Pharao und Pferde zusammen genommen ausschließlich im Kontext des Exodus begegnen. Traditionsbildend wurde vor allem das Siegeslied am Schilfmeer mit 49
seinem Schlussakkord: „Singt JHWH, denn hoch erhaben ist er; Pferd und Streitwagen warf er ins Meer“ (Ex 15,21). Dass sich eine Assoziation zum Exodus aufdrängt, zeigt nicht zuletzt der jüdische Kommentar Canticum rabba zur Stelle: „Die Israeliten waren sozusagen die weiblichen Pferde, und die Pferde der bösen Ägypter waren brünstige Hengste, die hinter ihnen herrannten, bis sie im Meer versanken“ (zitiert nach Zakovitch, a. a. O. 128). Das fügt sich gut zur unmittelbar vorangehenden Strophe. Dort wurde die „Schönste unter den Frauen“ aufgefordert, auszuziehen – aus dem Exil und in das Land der Verheißung zurückzukehren. In Texten der nachexilischen Zeit wird der Auszug aus Babylon häufig mit dem Auszug aus Ägypten in Beziehung gesetzt. Die Entsprechungen werden bisweilen nur angedeutet (Ps 114; Jes 48,20f; 50,2; 51,9–11; 52,4.12). Einige Texte verstehen den zweiten Exodus als eine Überbietung des ersten (Jes 43,14–21). Ebenso konnte die Sammlung Israels aus der Zerstreuung im Lichte des Exodus verstanden werden (Jes 11,10–16; Sach 10,10–12). Gewöhnlich sieht man in Vers 10 einen Hinweis auf den Schmuck der Geliebten. Die „Bänder“ und „Perlenschnüre“ können in diesem Sinn verstanden werden, obwohl es weitere Belege dafür im Alten Testament nicht gibt. Wie altorientalische Abbildungen zeigen, konnten Pferde mit kostbarem Zaumzeug und Halsketten geschmückt werden. Vor dem Hintergrund der Anspielung auf den Aufenthalt der Geliebten in Ägypten bietet sich jedoch ein zweites Verständnis an. Die „Bänder“ und „Perlenschnüre“ könnten auf die Gefangenschaft der Geliebten verweisen. Ein entsprechendes Bild findet sich in Jes 52,2: „Löse die Fesseln von deinem Hals, gefangene Tochter Zion“ (vgl. Mi 2,3). Der „Hals“ begegnet im Alten Testament häufig im Zusammenhang mit Knechtschaft und Unfreiheit: „An jenem Tag wird es geschehen – Spruch des Herrn der Heere –, da zerbreche ich das Joch auf seinem Nacken; ich zerreiße seine Stricke und Fremde sollen ihn nicht mehr knechten“ (Jer 30,8). Die Aussage von Vers 10 läge auf einer Linie mit der Aussage der Geliebten von Vers 5: „Schwarz bin ich, aber doch schön“. Der Geliebte bestätigt die Aussage seiner Freundin mit anderen Worten: „Schön sind deine Wangen in den Bändern, dein Hals in den Perlenschnüren.“ Auch im Exil hat die Geliebte ihre Schönheit nicht verloren. Ihre Attrak50
tivität ist trotz ihres Lebens in der Fremde nicht erloschen. Der Geliebte sieht die Schönheit seiner Geliebten durch ihre Verstrickung hindurch und bekennt sich zu ihr. Bei diesem Verständnis ist Vers 11 nicht als Steigerung, sondern als Kontrast zu Vers 10 zu verstehen: „Bänder aus Gold und Perlen aus Silber wollen wir dir machen“ (Vers 11) hieße dann: Die Schönheit der ersten Liebe soll wieder hergestellt und sichtbar werden (vgl. Ez 16,10–14). Zur Vermählung mit dem messianischen König erscheint die Tochter Zion in reichem Schmuck (vgl. Ps 45,14f; Off b 19,8).
Mein Geliebter (1,12–14) 1,12 13 14
Bis dorthin, wo der König bei seiner Tafelrunde ist, gibt meine Narde ihren Duft. Ein Beutel Myrrhe ist mir mein Geliebter, der zwischen meinen Brüsten ruht. Eine Traube Henna ist mir mein Geliebter, aus (in) den Weinbergen von En Gedi.
Nun spricht die Frau über ihren Geliebten, der jetzt wieder als König in Erscheinung tritt (vgl. 1,4). Er scheint bei einer Tafelrunde zu liegen. Das Bild eines Gastmahls drängt sich auf. Die Narde der Frau verströmt ihren Duft bis dorthin, wo sich der König befindet. Die Liebenden scheinen also noch getrennt zu sein. Narde ist ein äußerst wertvoller, aus dem Himalaya-Gebirge stammender Duftstoff (vgl. Mk 14,3; Joh 12,3). Er wird hier von der Geliebten verströmt. Die Aussage erinnert an Hld 1,3. Dort ging der Duft des kostbaren Salböls vom König aus. Im folgenden Vers 13 vergleicht die Frau ihren Geliebten mit einem Beutel Myrrhe, der zwischen ihren Brüsten ruht. Als „heiliges Salböl“ wurde Myrrhe bei der Salbung der Priester und der heiligen Geräte im Offenbarungszelt gebraucht (Ex 30,23). Der Myrrhe wurde eine erotisierende Wirkung zugesprochen. Mit ihr besprengt die Frau ihr Liebeslager (Spr 7,17), mit ihr werden Hochzeitskleider (Ps 45,9) und Haremsfrauen vor ihrem ersten Gang zum König parfümiert (Est 2,12f). 51
Daneben war der Beutel mit Myrrhe zwischen den Brüsten auch eine Art Amulett. Ein Amulett soll vor bösen Mächten schützen, letztlich vor dem Tod (vgl. Hld 8,6). Der Geliebte ist für die Frau wie ein heiliger und erotisierender Duft, wie ein Amulett, das vor den Mächten des Todes schützt. In Vers 14 vergleicht die Frau ihren Geliebten mit einer Traube Henna. Als dessen Herkunft werden die Weinberge von En Gedi genannt. Der Ort westlich des Toten Meeres war berühmt für seine Fruchtbarkeit und seine Duftstoffe, eine Oase des Lebens inmitten der Wüste. In Vers 13 und 14 verwendet die Frau erstmals die Bezeichnung „mein Geliebter“ (dodi). Der Begriff konnte einen nahestehenden Verwandten wie den Onkel oder Cousin bezeichnen, zu denen ein Mädchen in der damaligen Gesellschaft in einer emotional und rechtlich engen Beziehung stand. Im Hohelied ist es der übliche Begriff für den Geliebten. Das Wort wurde wahrscheinlich auch gebraucht, „weil ihm die Erinnerung an etwas Göttliches anhaftete“ (Othmar Keel, Das Hohelied, ZB AT 18, Zürich 21992, 19). In der Inschrift auf einer Stele des Moabiterkönigs Mescha aus der Mitte des 9. Jahrhunderts v. Chr. wird JHWH mit diesem Wort bezeichnet (vgl. auch Am 8,14). Im Weinberglied Jesaja 5 singt der Prophet „ein Lied vom Weinberg meines Geliebten“. Mit dem Geliebten ist hier JHWH gemeint. Es wurde bereits darauf hingewiesen (bei der Auslegung von Hld 1,2–4), dass sich die Bezeichnung „mein Geliebter“ (dodi) im Munde der Frau insgesamt 26-mal findet. Die Zahl sechsundzwanzig ist der Zahlenwert des Gottesnamens JHWH. Damit bestätigt sich die Vermutung: In der Gestalt des Geliebten begegnet der Gott Israels. Hier wie auch an anderen Stellen des Hoheliedes wird der exklusive Charakter der Liebesbeziehung betont. Die Frau des Hoheliedes unterscheidet sich von der untreuen Frau aus Hos 2,4. Diese trägt „zwischen ihren Brüsten“ die Zeichen des Ehebruchs. Damit sind wahrscheinlich Amulette gemeint, die auf andere Götter verweisen. Damals sagte die Frau: „Ich will meinen Liebhabern nachlaufen“ (Hos 2,7). Von ihr bekennt JHWH: „Sie ist nicht meine Frau, und ich bin nicht ihr Mann“ (Hos 2,4). Das Gleichnis von den beiden untreuen Schwestern in Ez 23 verweist auf Samaria und Jerusalem. Die beiden Schwestern trieben Unzucht mit den Ägyptern, Assyrern 52
und Babyloniern. Schon in Ägypten „griff man nach ihren Brüsten“ (Ez 23,3). Die Zeit der Untreue scheint nun vorbei zu sein. Die Frau bekennt sich zu ihrem Geliebten. Er und kein anderer ist für sie ein Beutel Myrrhe zwischen ihren Brüsten. Das in Vers 12 mit „Tafelrunde“ übersetzte hebräische Wort mesab begegnet sonst nur noch in 2 Kön 23,5. Dort bezeichnet es die Umgebung Jerusalems. Die Erzählung handelt von der Kultreform des Königs Joschija, der „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all seinen Kräften zum Herrn umkehrte“ (2 Kön 23,25). Er „setzte die Götzenpriester ab, die von den Königen von Juda bestellt worden waren und die auf den Kulthöhen, in den Städten Judas und in der Umgebung (mesab) Jerusalems Opfer verbrannten, sowie dem Baal, der Sonne, dem Mond, den Bildern des Tierkreises und dem ganzen Heer des Himmels geopfert hatten.“ Der Dienst anderer Götter in der Umgebung Jerusalems scheint nun vorbei zu sein. Der wahre Geliebte ist dort wieder zugegen.
Bildliches Wissen Die bisherigen Auslegungen haben deutlich gemacht: Das Hohelied spricht von der Liebe zwischen Mann und Frau. Es meint damit aber die Liebe zwischen Gott und seinem Volk. Eine derartige literarische Redeform bezeichnen wir als Allegorie oder auch als Metapher. Oft werden biblische Aussagen wörtlich verstanden, obwohl sie bildlich gemeint sind. Augustinus (354–430) hat sich in seiner biblischen Hermeneutik und Methodenlehre „De doctrina Christiana“ („Die christliche Bildung“) intensiv mit der Frage befasst. Er schreibt: „Zuallererst muss man sich davor hüten, eine bildliche Redeweise wörtlich (ad litteram) aufzufassen.“ Er verweist auf Paulus: „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2 Kor 3,6). Bei einem wörtlichen Verständnis einer geistig gemeinten Aussage droht nach Augustinus sogar der „Tod der Seele“. Allerdings verlangt es „überdurchschnittlich viel Sorgfalt und Fleiß“, die „Doppeldeutigkeiten übertragener Wörter“ zu erkennen (De doctrina christiana, 3. Buch, V, 9). Wie neuere Diskussionen zeigen, ist die Frage, ob das Hohelied in einem wörtlichen oder metaphorischen Sinn gemeint ist, nicht leicht zu entscheiden. 53
Warum bedienen sich Menschen metaphorischer Rede? Im „Wörterbuch der philosophischen Metaphern“ gibt der Philosoph Ralf Konersmann darauf folgende Antwort: „Metaphorisches Wissen ist Orientierungswissen, es gibt vor, wie wir uns fremde, unzugängliche, überkomplexe oder anderweitig der Evidenz entzogene Sachverhalte denken“ (Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt 32011, 15). Die Philosophie spricht von einem „figurativen Wissen“. Diese Erkenntnisse lassen sich auch auf das Hohelied anwenden. Bei der allegorischen Deutung des Hoheliedes geht es um die Veranschaulichung einer geistigen Erfahrung und einer theologischen Einsicht. Dadurch wird die erotische Liebe zwischen Mann und Frau nicht abgewertet, sondern aufgewertet. Sie wird für würdig befunden, die Sehnsucht und Liebe zwischen Gott und seinem Volk zu veranschaulichen und zu verstehen. Vorausgesetzt wird, dass die Leserinnen und Leser eine gewisse Vorstellung oder eine gewisse Erfahrung von erotischer Liebe, von Sehnsucht und Verlangen, von Liebe und liebender Vereinigung haben. Das dürfte bei vielen Menschen der Fall sein. Nicht jeder muss alles erlebt haben, um diese Bilder zu verstehen, genauso wenig wie jemand selbst aufs Feld gehen und die Saat auswerfen muss, um das Sämannsgleichnis Jesu zu verstehen. Gregor der Große (540–604), der erste Exeget auf dem Stuhle Petri, weist darauf hin, dass der Mensch seit dem Sündenfall nicht mehr in der Lage ist, „geistige Dinge“ ungetrübt wahrzunehmen. Deshalb greift der Heilige Geist auf Bereiche der Erfahrung zurück, die dem Menschen mit Hilfe der körperlichen Sinne noch relativ leicht zugänglich sind. Die Allegorie des Hoheliedes ist nach Gregor eine Art von Werkzeug, um die Seele, die geistigen Wahrnehmungen gegenüber taub geworden ist, wieder zu Gott zu erheben (Kommentar zum Hohelied, 2). Seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts ist viel über Sexualunterdrückung in der bürgerlichen Gesellschaft und insbesondere in der Katholischen Kirche gesprochen worden. Dass es Leibfeindlichkeit im Christentum gegeben hat, wird auch von Papst Benedikt XVI. nicht bestritten. In seiner viel beachteten Enzyklika „Deus caritas est“ („Gott ist die Liebe“) schreibt er: „Heute wird dem Christen54
tum der Vergangenheit vielfach Leibfeindlichkeit vorgeworfen, und Tendenzen in dieser Richtung hat es auch immer gegeben. Aber die Art von Verherrlichung des Leibes, die wir heute erleben, ist trügerisch“ (Kap. 5). Neben der Leibfeindlichkeit gibt auch so etwas wie eine Unterdrückung der im Menschen angelegten Sehnsucht nach Gott. So wie die Leibfeindlichkeit zu einer „eingefleischten“ Haltung werden kann, die einem Menschen gar nicht mehr bewusst ist, die ihn aber gleichwohl krank und verdrießlich werden lässt, so gibt es auch eine Verdrängung religiöser Sehnsucht, die einen Menschen leiden lässt. Ganze Kulturen können davon betroffen sein. Vor diesem Hintergrund vermag das allegorische Verständnis des Hoheliedes zu einem sensitiven Erwachen führen: In und hinter einem vertrauten Verlangen wird eine Sehnsucht wahrgenommen, die auf eine intime Gemeinschaft mit einer Wirklichkeit zielt, die in der Heiligen Schrift mit dem Wort Gott bezeichnet wird.
Metaphorische Rede Unsere bisherigen Auslegungen haben deutlich gemacht, dass das Hohelied in hohem Grade metaphorische Sprache verwendet. Das ist unter allen Kommentatoren unbestritten. Umstritten ist, ob es sich um eine ein- oder zweistufige Metaphorik handelt. In der neueren Metaphern-Forschung werden unterschiedliche Theorien vertreten. Zwei dieser Theorien sollen im Folgenden kurz vorgestellt und im Hinblick auf das Verständnis des Hoheliedes erschlossen werden. Geht man von der so genannten Sub stitutionstheorie aus, dann wird bei einer Metapher gewöhnlich die Bedeutung eines Wortes von einem Bereich („Herkunftsbereich“) in einen anderen Bereich („Zielbereich“) übertragen. In dem Satz: „Der Herr ist mein Hirt“ (Ps 23,1) ist das Wort „Hirt“ eine Metapher. Der Herkunftsbereich des Wortes gilt gewöhnlich als sein natürlicher, „eigentlicher“, ursprünglicher Ort. In unserem Beispiel wäre das der Hirt, der in der Steppe Schafe und Ziegen hütet. Einen solchen physischen Vorgang kann man mit den körperlichen Sinnen beobachten. Der Zielbereich, in den das Wort übertragen wird, ist gewöhnlich eine abstrakte Vorstellung, die sich einer physisch-sinn55
lichen Wahrnehmung entzieht. Eine Funktion der Metapher besteht darin, abstrakte und schwer zugängliche Vorstellungen durch Rückführung auf anschauliche, leicht verständliche Sachverhalte zu erschließen. Unser alltäglicher Sprachgebrauch ist voller Metaphern. „Sprache ist von Grund auf immer metaphorisch“, schreibt der Bibelwissenschaftler Otto Schwankl (Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften, HBS 5, Freiburg i. Br. 1995, 18). Auch die Wissenschaft kann sich ohne Metaphern nicht verständlich machen. Viele Metaphern sind verblasst, sie werden nicht mehr als Metaphern wahrgenommen. Wir sprechen von „verblassten“ oder „konventionellen Metaphern“ (Beispiel: „Glühbirne“). Hinsichtlich des Konventionalitätsgrades gibt es unter den Metaphern eine große Bandbreite: Auf der einen Seite des Spektrums stehen die konventionellen Metaphern, auf der anderen Seite die innovativen, „kühnen“ Metaphern. Ein Beispiel für eine kühne Metapher: „Der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis“ (Georg Heym). Die Besonderheit des Hoheliedes besteht darin, dass der Konventionalitätsgrad metaphorischer Rede breit ausgeschöpft wird. Mit der vor dem biblischen Hintergrund konventionellen Metaphorik wird der Leser des Hoheliedes zunächst in den Raum geführt, innerhalb dessen der Text zu verstehen ist. Dazu sind die biblisch breit belegten „konventionellen“ Metaphern von JHWH als König und als Hirt zu rechnen, mit denen das Hohelied eröffnet wird (Hld 1,2–4.7f). Innerhalb dieses Rahmens verwendet das Hohelied im weiteren Verlauf in hohem Maße innovative, kühne Metaphern. Diese sind für einen ungeübten Leser nicht leicht zu erkennen. Im Grunde verfährt jedes Gedicht mit einem gewissen Anspruch ähnlich. Das Hohelied steht in einer Bildungstradition, die im Vorwort des Buches der Sprichwörter zur Sprache kommt. Dort wird gesagt, dass König Salomo einerseits so verständlich geschrieben habe, dass die von ihm verfassten Sprichwörter für die Unterrichtung junger, noch unerfahrener Schüler bestens geeignet seien. Zugleich aber enthalte das Buch auch „Rätsel“ und literarisch anspruchsvolle Texte, so dass auch die „Weisen“ aus ihm noch etwas lernen können. Mit einer ähnlichen Einstellung scheint das Hohelied verfasst worden zu sein. In diesem hat allerdings die Zahl der literarisch anspruchsvollen Texte 56
und der Anspielungen auf andere biblische Texte (die so genannte „Intertextualität“) stark zugenommen. So dürfte die Tradition recht haben, wenn sie das Buch der Sprichwörter den Anfängern, das Buch Kohelet den Fortgeschrittenen und das Hohelied den „Vollkommenen“ zum Studium ans Herz legt. Metaphern haben aber nicht nur die Funktion, etwas Erkanntes zu veranschaulichen. Sie sind nicht nur „Redeschmuck“. Vielmehr kommt ihnen auch eine Erkenntnis ermöglichende und leitende, eine so genannte kognitive Funktion zu. Ohne Metaphern könnten wir Vieles nicht erkennen, nicht verstehen und nicht kommunizieren. Diese Einsicht ist für das Verständnis der Bibel und insbesondere des Hoheliedes von kaum zu überschätzender Bedeutung. Vor allem in der Erfahrung deutenden und ermöglichenden, in der im weitesten Sinne kognitiven Funktion liegt die theologische Bedeutung der metaphorischen Rede des Hoheliedes. Die Beziehung des Menschen zu Gott ist schwer zu „fassen“. Das Hohelied greift auf Erfahrungen, Vorstellungen und Bilder erotisch-sexuell gelebter und auf Ausschließlichkeit gerichteter Liebe zwischen Mann und Frau zurück, um mit ihrer Hilfe die schwer zu fassende Gottesliebe zu erschließen. In diesem Sinne ist das Wort Rabbi Akibas gemeint: „Sind alle Schriften heilig, so ist das Hohelied hochheilig.“ Dies sei an einem Beispiel erläutert. Der heiligen Therese von Lisieux (1873–1897) wurde bei ihrer Ersten Heiligen Kommunion eine so genannte Einheitserfahrung zuteil. Sie deutet diese Erfahrung mit Worten aus dem Hohelied. In ihrer autobiographischen Schrift „Die Geschichte einer Seele“ schreibt sie: „Oh! Wie wohltuend war der erste Kuss Jesu in meiner Seele! … Es war ein Kuss der Liebe, ich fühlte mich geliebt, und auch ich sprach: ‚Ich liebe dich und schenke mich dir für immer.‘ Es gab keine Forderungen, keine Kämpfe, Opfer; seit langem hatten sich Jesus und die arme kleine Therese angeblickt und verstanden … An diesem Tag aber war es nicht mehr ein Blick, sondern eine Vereinigung (fusion), sie waren nicht mehr zwei, Therese war verschwunden, wie der Wassertropfen im weiten Meer sich verliert. Jesus allein blieb, er war der Herr, der König“ (Selbstbiographische Schriften, Einsiedeln 162009, 73; die kursiv abgedruckten Worte sind in ihrem Manuskript unterstrichen; Ms A 35r°). Die Anklänge an das Hohelied, insbesondere an seine Eingangsverse, 57
sind unverkennbar. Therese spricht von einer Verschmelzung beziehungsweise Vereinigung („fusion“) zwischen dem Geliebten und der Geliebten. „Sie waren nicht mehr zwei, Therese war verschwunden.“ Sie versteht und lebt ihren Glauben als eine Begegnung in der Liebe zwischen Braut und Bräutigam. Diese Begegnung führt zu einer Verwandlung. Sie ist der Weg des Zu-Grunde-Gehens und der Auferstehung. Es ist kein Zufall, dass sie zur weiteren Deutung ihrer Erfahrung das berühmte Wort des Apostels Paulus aus dem Galaterbrief zitiert: „Ich lebe, doch nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20; Selbstbiographische Schriften, Einsiedeln 162009, 75; Ms A 36r°). Bei den Forschungen zur metaphorischen Rede geht die so genannte Interaktionstheorie davon aus, dass die Beziehung zwischen dem Herkunfts- und dem Zielbereich metaphorischer Rede keine einseitige, sondern eine wechselseitige ist. In Bezug auf das Hohelied und seine Rezeption bedeutet das, dass nicht nur die Gottesliebe nach dem Modell menschlicher Liebe, sondern in gewisser Weise auch die menschliche Liebe nach dem Modell göttlicher Liebe zu verstehen ist. So wird verständlich, dass die christliche Konzeption der Ehe als eines Bundes der Liebe zwischen Mann und Frau ein biblisch-theologisches Fundament aufweist (vgl. Eph 5,21–33). Die Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen enthält einen spirituellen Kern, der häufig unbeachtet bleibt. Gegenüber einer romantischen Verharmlosung göttlicher wie auch menschlicher Liebe kommen in der Bibel auch deren dunkle Seite zur Sprache: „Ich suchte ihn und fand ihn nicht“ (Hld 3,1).
Sehnsucht nach höchster Lust? Das Hohelied führt uns in das Geheimnis der Liebe ein. Die Liebe zwischen Gott und dem Menschen kann mit denselben Worten umschrieben werden, mit denen auch das Geheimnis der Liebe zwischen Mann und Frau erschlossen wird. Eine wichtige Frage ist in diesem Zusammenhang die nach der Bedeutung der Lust. Das Hohelied beginnt mit einem Ausdruck der Sehnsucht und des Begehrens: „Er küsse mich mit Küssen seines Mundes!“ Worauf richtet sich die Sehnsucht der Frau? In einigen Kommentaren wird 58
der Text Hld 1,2–4 unter die Überschrift gestellt: „Voller Sehnsucht nach höchster Lust“. Eine solche Charakterisierung ist missverständlich. Die Sehnsucht der Frau richtet sich auf den Geliebten. Mit ihm möchte sie in Kontakt kommen. Die Lust ist eine Begleiterscheinung. Sie wird dankbar angenommen und verkostet, aber sie wird nicht direkt angestrebt. Damit ist etwas sehr Wesentliches über die Liebe gesagt. Die Liebesvereinigung vermag Menschen in Ekstase zu versetzen und ihnen höchste Lust zu verschaffen. Weil diese Erfahrung so wunderbar und schön ist, geht es vielen Menschen um diese Erfahrung. Sie sehnen sich nach höchster Lust. Damit aber findet eine problematische und anfänglich oft kaum bemerkte Akzentverschiebung statt, die zu einer Zerstörung der Liebe und letztlich auch der sexuellen Lust führt. Richten sich Sehnsucht und Wahrnehmung auf die Lust, gerät der Partner aus dem Blick. Was in Wahrheit interessiert, ist das wunderbare Gefühl, die umwerfende Erfahrung. Der Partner wird als ein Mittel angesehen, lustvolle Erfahrungen zu erzielen. Dies kann durchaus „in gegenseitigem Einverständnis“ geschehen. Man wählt Partner, mit denen die ekstatische Erfahrung am besten und am ehesten zu bewerkstelligen ist. Damit ist jedoch ein Keim der Selbstzerstörung in die Liebesbeziehung eingedrungen. Eine solche „Liebe“ war von Anfang an falsch angelegt. Auch im Glauben kann man Ähnliches beobachten. Viele Menschen sind „gläubig“, weil eine religiöse Praxis zu schönen religiösen Gefühlen führen kann. Das Interesse richtet sich auf die wunderbaren Gefühle „religiös-spiritueller Erfahrung“. Gott selbst wirkt da eher störend. Wer einmal auf diesen Weg gelangt ist, dem werden über kurz oder lang auch die schönen religiösen Gefühle abhandenkommen. Glaube und Spiritualität werden gleichsam entkernt, es bleibt nur ein hohler Nachgeschmack. Wahre Liebe richtet sich immer auf den Anderen, nicht auf die damit verbundenen Glücksgefühle. Hier besteht eine innere Verwandtschaft zwischen der Liebe zu Gott und den Menschen. Liebe ist letztlich immer Hingabe. Das gilt auch für die erotisch-sexuelle Liebe. Die damit einhergehende Lust ist wie das Salz in der Suppe, nicht die Suppe selbst. Vom Salz allein kann niemand leben. Wer nur das Salz will, bleibt hungrig. Er wird verbittert, mag er auch noch so viele 59
sexuelle Erfahrungen gemacht haben und über alle Techniken der Luststeigerung bestens informiert sein. Pointiert formuliert der Paartherapeut Hans Jellouschek: „Es geht in der sexuellen Beziehung also nicht um Lust, sondern um Hingabe. Wenn ich mich auf diese Bewegung der Hingabe mit Leib und Seele einlasse, stellt sich auch die Lust ein, nicht aber, wenn ich die Lust als solche haben will. Damit vertreibe ich sie eher. Dies scheint mir der Kern fast aller sexuellen Probleme zu sein, mit denen Therapeuten es zu tun bekommen … Wird die bloße Lust angestrebt, verkehrt sich Sexualität zur gemeinsamen oder einseitigen Selbstbefriedigung, wird Egoismus zu zweit und damit leer und letztlich auch noch lust-los“ (Die Kunst als Paar zu leben, Stuttgart 2005, 106f). Die Liebe der Frau im Hohelied richtet sich nicht auf die Lust, sondern auf den Geliebten. Mit ihm möchte sie zusammen sein. Er ist es, den ihre Seele liebt (Hld 1,7).
Wie schön bist du! (1,15–17) 1,15 16 17
Wie schön bist du, meine Freundin, wie schön bist du! Deine Augen sind Tauben. Wie schön bist du, mein Geliebter, gar lieblich! Ja, unser Bett sei frisches Grün, die Balken unseres Hauses seien Zedern, unsere Bretter Zypressen.
Erstmals kommt es zu einem Dialog wechselseitiger Bewunderung zwischen den Liebenden. Der Mann eröffnet das Gespräch. Hat er zuvor die Wangen seiner Geliebten als lieblich beschrieben und sich von ihrem Schmuck beeindrucken lassen (Hld 1,10), so nimmt er sie nun als Ganze in den Blick: „Wie schön bist Du, meine Freundin!“ Der zweite Versteil wiederholt und bekräftigt die Aussage: „Wie schön bist du!“ Das Kompliment fährt fort mit einer für unser Empfinden ungewöhnlichen Metapher: „Deine Augen sind Tauben“. Einige Exegeten meinen, die Augen der Frau hätten die Form einer Taube. Aufgrund der Untersuchungen von Othmar Keel hat sich jedoch eine andere Deutung durchgesetzt: Die Taube war in der altorientalischen wie in der griechisch-römischen Welt das Symboltier 60
der Liebesgöttin. Zugleich kamen Tauben wie auch andere Vögel als Überbringer von Botschaften zum Einsatz (Gen 8,6–12; Ps 68,12–14; Koh 10,20; vgl. unsere „Brieftauben“). In der Verbindung dieser beiden Traditionen besagt die Metapher: Die Augen der Frau senden Botschaften der Liebe aus. „Der Freund sagt also: Du bist schön, und deine Blicke künden von Liebe und Bereitschaft zur Liebe. – Deine Blicke sind Liebesboten!“ (Othmar Keel, Das Hohelied, Zürcher Bibelkommentare AT 18, Zürich 1986, 21992, 74) Die Geschichte von Lea und Rachel zeigt, dass die Ausstrahlung oder fehlende Ausstrahlung der Augen über eine Liebesgeschichte entscheiden kann (Gen 29,17). Vom jungen David wird gesagt, dass er gut aussah und schöne Augen hatte (1 Sam 16,12). In ihrer Antwort gibt die Frau das Kompliment ihrem Geliebten zurück: „Wie schön bist du, mein Geliebter, gar lieblich!“ Es ist die einzige Stelle, an der die Frau ihren Geliebten als „schön“ bezeichnet. Sie dagegen wird mehrfach von ihm und von anderen als „schön“ oder gar als „Schönste unter den Frauen“ bewundert (1,8; 2,10.13; 4,1.7; 5,9; 6,1. 4. 10; 7,2.7). Das Wort „lieblich“ (na´im), mit dem die Frau den Mann darüber hinaus auszeichnet, weist einen mythologischen Bedeutungsaspekt auf: In Ugarit konnte das Wort als ein Prädikat des Gottes Baal verwendet werden. In Jes 17,10 verweist es auf den Vegetationsgott Adonis. Dort wird beklagt, dass Israel seinen Gott vergessen und sich in Adonisgärten einem fremden Vegetationsritus verschrieben habe: „Ja, du hast vergessen den Gott deines Heils und an den Felsen deiner Zuflucht nicht gedacht. Darum magst du Pflanzungen des ‚Lieblichen‘ pflanzen und Triebe des Fremden säen“ (Übersetzung nach Willem A. M. Beuken, Jesaja 13–27, HThK, Freiburg i. Br. 2007, 145). Als „lieblich“ kann aber auch JHWH, der Gott Israels, bezeichnet werden: „Lobt JH, denn gut ist JHWH, spielt seinem Namen, denn er ist lieblich“ (Ps 135,3; vgl. Ps 27,4; 90,17; 147,1; 2 Sam 23,1). Die Zuschreibung „schön“ (jafäh) wird hingegen nie auf JHWH angewendet. Möglicherweise erklärt sich vor diesem Hintergrund, dass im Hohelied der Mann nur einmal, und zwar an unserer Stelle, „schön“ genannt wird. Sonst können Männer wie Joseph (Gen 39,6), der junge David (1 Sam 17,42), Abschalom (2 Sam 14,25) und der König von Tyrus (Ez 28,12.17) durchaus als „schön“ bezeichnet werden. Im Rahmen der Geschlechterge61
rechtigkeit hätte sich das für den Mann im Hohelied also durchaus angeboten. Versteht man das Hohelied jedoch als Allegorie, dann erklärt sich die Zurückhaltung in der Anwendung des Prädikates „schön“ auf die männliche Figur. Die Frau greift das ihr zugesprochene Kompliment, schön zu sein, auf, gibt es ihrem Geliebten zurück und führt es mit dem Wort „lieblich“, das als Gottesprädikation gebräuchlich war, fort.
Ein Bett im Kornfeld? Eine vornehme Frau aus Schunem stellte dem Propheten Elischa in ihrem Haus ein kleines möbliertes Zimmer im Obergemach zur Verfügung. Dorthin konnte sich der „heilige Gottesmann“ zurückziehen, wenn er die Frau besuchte. In dem Zimmer standen ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl und ein Leuchter (2 Kön 4,8–10). Das Bett als hölzernes Gestell mit Rahmenbespannung für Polster und Decken war im Vorderen Orient ein Luxusgegenstand. Der einfache Mann schlief gewöhnlich auf Decken auf dem Boden und hüllte sich in seinen Mantel (vgl. Ex 22,26f; Ri 4,18). Ein drohender Wärmeverlust konnte dadurch ausgeglichen werden, dass man sich zusammentat: „Wenn zwei zusammen schlafen, wärmt einer den andern“, weiß Kohelet zu berichten (4,11; vgl. 1 Kön 1,1–4). Auch die Frau, die den „jungen Mann ohne Verstand“ zu einer Liebesnacht einlädt, scheint reich zu sein. Sie packt und küsst den Jüngling und lädt ihn mit folgenden Worten in ihr Haus ein: „Komm, wir wollen bis zum Morgen in Liebe schwelgen, wir wollen die Liebeslust kosten. Denn mein Mann ist nicht zu Hause, er ist auf Reisen, weit fort.“ Die Frau hat alles bestens vorbereitet: „Ich habe Decken über mein Bett gebreitet, bunte Tücher aus ägyptischem Leinen. Ich habe mein Lager besprengt, mit Myrrhe, Aloë und Zimt“ (Spr 7,16–19). Die Frau des Hoheliedes scheint ein Bett im Freien zu bevorzugen: „Ja, unser Bett sei frisches Grün“ (1,16). Das verwundert. Nun mag es sein, dass das Liebesspiel in der freien Natur einen besonderen Reiz ausübt. Der Archetyp einer freien, kulturell noch nicht verformten Sexualität sind Adam und Eva im „Adamskostüm“ (Gen 2,25). Auch sie halten sich im Freien auf, im Garten Eden, im „Garten der Wonne“. 62
Auffallend sind die Belege des hebräischen Wortes ra`anan, das wir hier mit „frisches Grün“ übersetzt haben. Fast ausschließlich wird damit jener Ort beschrieben, an dem Israel mit anderen Göttern „Unzucht trieb“. Die Redewendung „unter jedem grünen Baum“ ist in diesem Zusammenhang zu einem Stereotyp geworden und jedem Bibelleser vertraut (Dtn 12,2; 1 Kön 14,23; 2 Kön 16,4; 17,10; Jer 2,20; 3,6; 17,2; Ez 6,13). Will sich die Geliebte mit ihrem Geliebten genau an jenem Ort treffen, wo Israel in der Vergangenheit mit anderen Göttern Unzucht trieb, wenn sie in ihrer Rede fortfährt: „Die Balken unseres Hauses seien Zedern, unsere Bretter Zypressen“? Die Zeder ist der Baum des Libanon. Nach der Eroberung Jerusalems baut David sich als erstes einen Palast, bei dem wertvolles Zedernholz zur Anwendung kommt (2 Sam 5,11). Er wohnt in einem „Haus aus Zedernholz“ (2 Sam 7,2). Mit Zedernholz lässt Salomo Tempel und Palast ausstatten (1 Kön 6,9; 7,2). Die im Haus des Herrn wachsenden Zedern des Libanon „tragen Frucht noch im Alter und bleiben voll Saft und Frische (ra`ananim)“, heißt es im Loblied auf die Treue Gottes (Ps 92,11–15). Wir haben gesehen, dass die Bezeichnung des Geliebten mit „lieblich“ einen mythologischen Hintergrund aufweist, zugleich aber auch auf JHWH angewandt werden konnte (vgl. Ps 135,3). Wichtig ist in diesem Zusammenhang Psalm 16,6: „Die Stricke fielen mir auf Liebliches, ja, mein Erbe gefällt mir sehr.“ Hier wird die Landmetaphorik auf Gott übertragen: „Liebliches“ meint hier das Land ebenso wie JHWH selbst. Wenn von der erneuerten Liebe zwischen Gott und seiner Braut die Rede ist, dann geht es immer auch um die Heimkehr in das Land der Verheißung (Ez 36,24–31; 47–48; Am 9,11–15; Dtn 30,1–10). Das durch Kriege zerstörte und durch die Untreue Israels entstellte Land, dessen Zedern umgehauen und ins Feuer geworfen wurden (Jer 22,7), wird (wieder) „wie der Garten Eden“ sein (Ez 36,35; vgl. Jer 31,12; Ez 34,29). Dann kann man sogar in den Wäldern schlafen (Ez 34,25). Der Tempel und die Stadt Jerusalem werden in neuem Glanz erstrahlen. Dann tritt die Verheißung in Kraft, mit der das Buch des Propheten Hosea endet: „Ich will ihre Untreue heilen und sie aus lauter Großmut wieder lieben. Denn mein Zorn hat sich von Israel abgewandt. Ich werde für Israel da sein wie der Tau, damit es 63
auf blüht wie eine Lilie und Wurzeln schlägt wie der Libanon. Seine Zweige sollen sich ausbreiten, seine Pracht soll der Pracht des Ölbaums gleichen und sein Duft dem Duft des Libanon. Sie werden wieder in meinem Schatten wohnen … Ich bin wie ein grünender (ra’anan) Wacholder, an mir findest du reiche Frucht“ (Hos 14,5–9).
Die Lilie des Scharon (2,1–3) 2,1 2 3
Ich bin die Lilie des Scharon, die Lotusblume der Täler. Wie die Lotusblume unter den Dornsträuchern, so ist meine Freundin unter den Töchtern. Wie ein Apfelbaum unter den Bäumen des Waldes, so ist mein Geliebter unter den Söhnen. Nach seinem Schatten verlangt mich, dort habe ich mich hingesetzt, und seine Frucht ist süß meinem Gaumen.
Jetzt sprechen die Liebenden nicht mehr zueinander, sondern übereinander. Die Frau eröffnet das Zwiegespräch mit einer Aussage über sich (Vers 1), der Geliebte greift ihr Wort auf und antwortet mit einer Beschreibung seiner Freundin (Vers 2), und die Frau fährt fort mit einer Beschreibung ihres Geliebten und dem Ausdruck ihres Verlangens, in seinem Schatten zu sitzen (Vers 3). Mit der Nennung von Pflanzen (Lilie, Lotusblume, Apfelbaum, Bäume des Waldes) und Landschaften (Scharon, Täler) schließt unser Gedicht an das Ende der vorangehenden Strophe an (frisches Grün, Zedern, Wacholder). Der Bezug zum Land Israel wird jetzt noch deutlicher. Die Strophe beginnt mit einem an betont erster Stelle stehenden „Ich“, das im Hohelied nur im Munde der Frau begegnet. Sie stellt sich selbstbewusst vor als „die Lilie des Scharon“ und „die Lotusblume der Täler“. Es ist nicht immer leicht, die Pflanzen, die im Hohelied genannt werden, botanisch genau zu bestimmen. Mit der ersten Bezeichnung dürfte wahrscheinlich die Lilie gemeint sein. Sie kommt im Alten Testament nur noch einmal vor, und zwar bezeichnenderweise in Jes 35,1. Hier wird die wunderbare Heilszeit beschrieben, die Gott nach dem Gericht heraufführen wird. Angekündigt wird die Verwandlung der Wüste in eine blühende 64
Landschaft. Sie ist ein Bild für die Rückkehr der Verbannten zum Zion. Der Text leitet bereits zur Frohen Botschaft des so genannten „Zweiten Jesaja“ (Deuterojesaja: Jes 40–55) über. Sehr wahrscheinlich wurde das Kapitel Jes 35 von demjenigen verfasst, der den ersten Teil des Jesajabuches, in dem Israel und den Völkern das Gericht Gottes angekündigt wird, mit dem zweiten Teil des Buches, in dem die kommende Zeit des Heils verkündet wird, verbindet. Alle zen tralen Worte und Motive dieses Textes finden sich auch im Hohelied: „Frohlocken werden die Wüste und das dürre Land, jauchzen wird die Steppe und auf blühen wie eine Lilie. Sie wird in voller Blüte stehen und jauchzen, ja, jauchzend und jubelnd. Die Herrlichkeit des Libanon wird ihr gegeben, die Pracht des Karmel und des Scharon. Sie werden die Herrlichkeit des Herrn sehen, die Pracht unseres Gottes“ (Jes 35,1f). Der Scharon ist die fruchtbare Küstenebene zwischen dem heutigen Tel Aviv („Hügel des Frühlings“) und dem Karmel-Gebirge. Wenn sie verödet und zur Steppe wird, ist das ein besonders drastisches Bild für das Gericht über Israel: „Das Land welkt in Trauer dahin, der Libanon ist beschämt, seine Bäume verdorren. Der Scharon ist zur Steppe geworden, entlaubt sind Baschan und Karmel“ (Jes 33,9). Doch die Zeit der Untreue und des Gerichts ist nun vorbei: „Der Winter ist vorüber, der Regen ist fort, hat sich davongemacht“ (Hld 2,11). Ein neuer Frühling zieht ins Land. Besonders deutlich verweist die Lotusblume auf den Prozess der Verwandlung. Siebenmal wird sie im Hohelied genannt. Auch hier ist die botanische Identifikation nicht ganz sicher. Wahrscheinlich bezeichnet das Lehnwort aus dem Ägyptischen schoschana den Lotus, die Seerose. In der ägyptischen Mythologie ist der Lotus ein Symbol für die Erneuerung des Lebens. Der weibliche Vorname Susanna ist davon abgeleitet. Entscheidend sind aber auch hier die Bezüge zu anderen Texten des Alten Testaments. Hos 14,6 schaut in eine Zeit, da Israel aufgrund der liebenden Zuwendung seines Gottes als Lotusblume neu auf blüht. Zugleich wird in demselben Zusammenhang vom bergenden Schatten JHWHs gesprochen (vgl. Hld 2,3), in dem diejenigen, die zu ihm umkehren, wieder wohnen werden: „Ich will wie Tau für Israel sein, dass es auf blüht wie eine Lotusblume, seine Wurzeln 65
schlägt wie der Libanon. Seine Triebe sollen sich ausbreiten, dass seine Pracht dem Ölbaum gleiche und sein Duft dem Libanon. Die in seinem Schatten wohnen (vgl. Hld 2,3), werden wieder aufleben wie ein Garten, werden sprießen wie ein Weinstock, dessen Ruhm wie der Wein des Libanon ist.“ Die Bezüge sind offenkundig. Vor diesem Hintergrund wird deutlich: Das Hohelied besingt die Liebe zwischen Gott und seinem Volk, eine Liebe, die verwandelt und neues Leben schenkt. Der Mann bestätigt die Selbstbeschreibung der Frau und steigert sie noch: „Wie die Lotusblume unter den Dornsträuchern, so ist meine Freundin unter den Töchtern.“ Mit den Töchtern dürften nicht nur die „Töchter Jerusalems“ (vgl. Hld 1,5), sondern alle Frauen gemeint sein (vgl. Gen 30,13; Jes 32,9; Spr 31,29). Der Dornstrauch ist ein unfruchtbares und wertloses Gewächs (2 Kön 14,9). Er breitet sich aus, wenn eine Kulturlandschaft verfällt (Jes 34,13; Hos 9,6). Möglicherweise könnten auch Disteln gemeint sein. Das hier verwendete hebräische Wort für „Dornstrauch“ ist ein anderes als jenes, mit dem der „brennende Dornbusch“ bezeichnet wird, in dem Gott dem Mose erschienen ist (Ex 3,1–6). Wiederum ein anderes Wort verwendet die Jotam-Fabel. In ihr werden Ölbaum, Feigenbaum und Weinstock dem unfruchtbaren Dornenstrauch gegenübergestellt. Und ausgerechnet dieser will König werden (Ri 9,7–15)! Die Frau antwortet mit einem entsprechenden Kompliment: „Wie ein Apfelbaum unter den Bäumen des Waldes, so ist mein Geliebter unter den Söhnen“ (Vers 3). Die streng parallele Aussage unterstreicht die Gegenseitigkeit der Empfindungen. Der Apfelbaum gehört in Palästina zu den kostbaren Fruchtbäumen. In Joël 1,12 wird er zusammen mit Feigenbaum, Granatbaum und Dattelpalme erwähnt. Dem Apfel wird eine belebende und erfrischende Wirkung zugeschrieben (Hld 2,5; 7,9). Gegen Ende des Hoheliedes findet der Liebesakt unter dem Apfelbaum statt (Hld 8,5). Bei den Bäumen des Waldes dürfen wir nicht an den Deutschen Wald denken, den die Dichter der Romantik als einen Ort der Sehnsucht in ihren Werken besingen. Ein Ort der Erholung und Erfrischung ist in der Lebenswelt des Alten Testaments der Garten. Deshalb wird das Paradies im hebräischen Text von Gen 2 einfach als „Garten“ bezeichnet. Auch im Hohelied spielt der Garten eine be66
sondere Rolle. Der Wald ist wie die Wüste ein Ort, an dem man sich gewöhnlich nicht aufhält. Er entspricht den Dornsträuchern. Wenn Reben, Feigenbäume und Weingärten zerstört werden, dann werden sie wieder zum Wald, in dem wilde Tiere hausen (vgl. Hos 2,14). Der Prophet Micha kündigt die Zerstörung Jerusalems und seines Tempels an. Der Berg, auf dem das Haus des Herrn steht, wird dabei zu einer „bewaldeten Höhe“ (Mi 3,12). Erst in der von Gott herbeigeführten Heilszeit kann man in der „Wüste sicher wohnen und in den Wäldern schlafen“ (Ez 34,25). Der Apfelbaum bietet Schatten und Frucht. Wie in der vorangehenden Strophe (Hld 1,7) ist es erneut die Frau, die von der Theorie zur Praxis, vom Schauen und Bewundern zum Handeln übergehen will: „Nach seinem Schatten habe ich Verlangen“ (Vers 3). „Schatten“ bedeutet im Alten Testament vor allem „Schutz und Geborgenheit“. Oft ist vom Schatten Gottes die Rede. Der Beter der Psalmen bittet Gott: „Birg mich im Schatten deiner Flügel“ (Ps 27,8; vgl. Ps 36,8; 57,2; 63,8; 91,1; 121,5). „Seine Frucht ist süß meinem Gaumen“ ist eine Anspielung auf den Liebesgenuss. In der Mitte des Hoheliedes werden die Freunde aufgerufen: „Esst, Freunde, trinkt, berauscht euch, meine Lieben!“ (Hld 5,1) Auf einer Hochzeit gibt Simson den Gästen ein Rätsel auf: „Vom Esser kommt Essen, und vom Starken kommt Süßes“ (Ri 14,14). Damit dürfte das männliche Geschlecht oder der männliche Same gemeint sein. Auf den Liebesgenuss verweist ein zweites Rätsel: „Was ist süßer als Honig, und was ist stärker als ein Löwe?“ (Ri 14,18) Die Worte „Frucht“ und „verlangen, begehren“ begegnen auch in der Erzählung vom Garten Eden (Gen 2,9; 3,3.6). Dort nimmt das Begehren einen unguten Verlauf. Anders im Hohelied. Hier deutet sich an, dass die Liebe nicht unerfüllt bleibt.
Krank vor Liebe (2,4–5) 2,4 5
Er hat mich ins Weinhaus gebracht, und sein Zeichen über mir ist Liebe. Stärkt mich mit Weinbeerkuchen, erquickt mich mit Äpfeln, denn ich bin krank vor Liebe.
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Jetzt spricht allein die Frau wie in den ersten beiden Strophen (1,2– 6). In Vers 4 spricht sie über ihren Geliebten, in Vers 5 richtet sie eine Bitte an eine Gruppe. Damit dürften die Töchter Jerusalems gemeint sein, die in der folgenden Strophe genannt werden (2,7). Die Sehnsucht der Frau scheint sich nun zu erfüllen. Sie sehnte sich danach, mit ihrem Geliebten ungestört in „seinen Gemächern“ zusammen zu sein (1,4). Jetzt hat er sie ins Weinhaus gebracht und sein Zeichen über ihr ist Liebe. Wenn die Geliebte mit ihrem Geliebten ungestört zusammen sein möchte (vgl. 2,7), dürfte mit dem Weinhaus keine öffentliche Schenke gemeint sein. Viele denken an jenen Raum eines (königlichen) Palastes, in dem Festmähler abgehalten wurden (vgl. Est 7,8; Dan 5,10; Jer 16,8; Koh 7,2). Dort konnten Frauen und Männer beisammen sein. Bei einem Festmahl darf der Wein nicht fehlen (vgl. Dan 5,1–4; Joh 2,1–10). Vom Wein sprach die Frau bereits zu Beginn des Hoheliedes: „Deine Liebkosungen sind süßer als Wein“ (1,2). Das hebräische Wort dägäl („Zeichen“) begegnet sonst im Alten Testament vor allem im Zusammenhang mit Krieg und Heeresordnung (Num 1,52; 2,2f.10 und öfter). Einige Exegeten übersetzen deshalb mit „Feldzeichen“: „Sein Feldzeichen über mir ist Liebe“ (Vers 4). Was hat der Krieg mit der Liebe zu tun? Zugrunde liegt möglicherweise die Vorstellung, dass der Geliebte seine Geliebte „erobert“ hat. Auch heute noch verwenden wir ein solches Bild: „Er hat ihr Herz erobert.“ Für die Antike kommt hinzu, dass eine Stadt, die man erobern konnte, metaphorisch als Frau bzw. als (Stadt-)Göttin dargestellt werden konnte. Auch im Hohelied klingt diese Metapher einige Male an (vgl. 4,4; 6,4; 8,10). In einigen altorientalischen Religionen ist die Göttin der Liebe zugleich die Göttin des Krieges. Erotischsexuelle Liebe wird in vielen Kulturen mit Metaphern umschrieben, die der Welt des Krieges und des Kampfes entstammen. Wie dem auch sei, die Frau ist jedenfalls nicht durch Gewalt, sondern durch Liebe erobert worden. Jetzt gesteht sie ein: „Ich bin krank vor Liebe“. Liebeskrank sein ist ein Motiv, das häufig im Zusammenhang mit der Liebe anzutreffen ist. Dabei können unterschiedliche Aspekte im Vordergrund stehen. Jemand kann krank werden aufgrund einer unerfüllten Liebe. Das scheint bei Amnon der Fall gewesen zu sein (2 Sam 13,2). 68
Die Geschichte nimmt keinen guten Verlauf. Jemand kann aber auch krank und erschöpft sein, weil er vom Pfeil der Liebe getroffen wurde. Das scheint in unserem Text gemeint zu sein. Das hier verwendete hebräische Wort heißt eigentlich „schwach, erschöpft“ (vgl. Ri 16,7. 11. 17; Hld 5,8). Die Sehnsucht der Frau scheint in Erfüllung zu gehen. Jetzt ist sie erschöpft und verlangt nach Stärkung. Was sich hier zwischen zwei liebenden Menschen abspielt, kann sich in ähnlicher Weise auch zwischen Gott und dem Menschen ereignen. Die Liebesmystik gibt uns vielfältige Zeugnisse derartiger Erfahrungen. Teresa von Ávila (1515–1582) beschreibt in ihren „Meditationen zum Hohelied“ die mystische Erfahrung als einen Freudentaumel, bei dem die Seele „so versunken und aufgesogen ist, dass sie meint, nicht mehr bei sich, sondern in einer Art von Gott-Trunkenheit“ (borrachez divina) zu sein, wo sie nicht mehr weiß, was sie möchte, sagt oder erbittet“ (IV, 3). Hld 2,4f kann als Ausdruck der liebenden Begegnung zweier Menschen verstanden werden. Ein Blick in die jüngere Forschung zeigt allerdings, dass auch bei der so genannten „natürlichen“ Interpretation die Deutungen oft weit auseinander gehen. Es ist also keineswegs so, dass sich nur die Vertreter einer allegorischen Lektüre nicht auf eine einzige Bedeutung des Textes einigen können. Auch bei den Verfechtern eines „wörtlichen“ Verständnisses scheint die Pluralität der Deutungen unhintergehbar zu sein. Auch bei der „natürlichen“ Deutung wird mehrfach mit metaphorischer Rede gerechnet. Der Alttestamentler Gianni Barbiero meint, das Weinhaus verweise in metaphorischer Weise auf den „Ort der Liebe“ (Song of Songs. A Close Reading, SVT 144, Leiden 2011, 89). Lässt sich der Ort näher bestimmen? Der Text enthält einige Begriffe, die bei einem rein wörtlichen Verständnis keinen rechten Sinn ergeben. Nicht leicht zu verstehen ist das „Zeichen“ über der Geliebten, das auf die Liebe verweist. Natürlich gibt es Exegeten, die hier alles wörtlich verstehen wollen: Die beiden Liebenden befänden sich in einer Schenke oder einer Gartenlaube, und darüber hinge eine Fahne mit der Aufschrift „Liebe“, so wie der Buschen in einem Wiener Buschenschank auf den Ausschank des Heurigen verweist. Der französische Alttestamentler André Robert ist einen anderen Weg gegangen. Er versucht, das Hohelied allein aus der Bibel heraus 69
zu verstehen. Das Hohelied wie auch andere spät zu datierende Bücher des Alten Testaments seien nach der anthologischen Methode (procédé anthologique) entstanden, das heißt: es habe sein Thema in gezielter sprachlicher Anknüpfung an bereits existierende und bekannte Texte der Bibel entfaltet (Le Cantique des Cantiques, Études Bibliques, Paris 1963). Aufgabe der Exegese sei es, diese Bezüge aufzudecken und von dort her den Sinn des oft rätselhaften Textes zu erschließen. Unter dem Begriff „Intertextualität“ ist diese Methode in jüngster Zeit neu in das Bewusstsein der Bibelwissenschaft gerückt. Wendet man diese Methode auf unseren Text an, dann ergibt sich folgender Sinn: Das „Haus des Weines“ verweist auf das verheißene Land. Sehr häufig wird in der Bibel der Wein als eine der vorzüglichen göttlichen Gaben des Landes genannt (vgl. Dtn 7,13), vor allem im Zusammenhang mit der Heimführung Israels in das Land der Verheißung (Jer 31,12). Wenn sich das Land wieder mit JHWH vermählt, wenn sich der Bräutigam über die Braut freut, wenn sich Zion mit seinem Erbauer vermählt (Jes 62,4f), dann werden „nie mehr Fremde deinen Wein trinken“ (Jes 62,8). Das „(Feld-)Zeichen“ (Vers 4), das der Exegese soviel Kopfzerbrechen bereitet, findet sich an einigen markanten Stellen der Bibel im Zusammenhang mit der Sammlung und Heimführung Israels. Dort heißt es: Der Herr „stellt für die Völker ein (Feld-)Zeichen (nes) auf, um die Versprengten Israels wieder zu sammeln, um die Zerstreuten Judas zusammenzuführen von den vier Enden der Erde“ (Jes 11,12). „So spricht Gott, der Herr: Sieh her, ich hebe die Hand in Richtung der Völker, ich errichte für die Nationen ein Feldzeichen (nes), und sie bringen auf ihren Armen deine Söhne herbei und tragen deine Töchter auf ihren Schultern“ (Jes 49,22; vgl. 62,10). Das Wort dägäl begegnet sonst nur noch im Buch Numeri. Jede Großfamilie des Volkes soll sich um ein eigenes Feldzeichen scharen, damit der Auf bruch vom Sinai in das Land der Verheißung in geordneten Bahnen verläuft (Num 2; 10,14–25). Der mit dem biblischen Text vertraute Leser verbindet also mit dem Wort dägäl („Feldzeichen“) den Auf bruch des Volkes in das Land der Verheißung. Warum wünscht sich die Geliebte zur Stärkung Weinbeerkuchen? In der Zeit ihrer Untreue hat sich die Frau den Kuchen aus getrockneten Weinbeeren von anderen Göttern schenken lassen, wie wir 70
beim Propheten Hosea lesen: „Der Herr sagte zu mir: Geh noch einmal hin und liebe diese Frau, die einen Liebhaber hat und Ehebruch treibt. Liebe sie so, wie der Herr die Israeliten liebt, obwohl sie sich anderen Göttern zuwenden und Weinbeerkuchen lieben“ (Hos 3,1; vgl. Jer 7,18; 44,19). Jetzt findet einer Umkehrung ihrer früheren Geschichte statt. Jetzt, da die Frau in leidenschaftlicher Liebe zu ihrem wahren Geliebten entbrannt ist, rücken die alten Zeichen der Untreue in ein neues Licht. Jetzt erkennt sie, dass „Korn, Wein und Öl“ des Landes Gaben des einen und einzigen Gottes sind (vgl. Hos 2) – ihr zur Stärkung gegeben, angesichts einer überwältigenden Liebeserfahrung. Beachtet man verstärkt die Bezüge des Hoheliedes zu anderen Texten der Bibel, dann kann man es „als eine Art Rätsel betrachten, das sich allmählich löst“, wie Yair Zakovitch schreibt (Das Hohelied, HThK, Freiburg i. Br. 2004, 140).
Ordnung der Liebe Nicht wenige Einsichten der Kirchenväter tauchen nach einer Zeit des Vergessens in unserer modernen Zeit wieder auf. „Wenn Frauen zu sehr lieben“ lautet der Titel eines Bestsellers der amerikanischen Ehetherapeutin Robin Norwood aus dem Jahre 1985. Darin zeigt sie, wie Menschen ihre selbstlose Hingabe als Liebe verstehen, es sich in Wirklichkeit aber um eine Form von Beziehungssucht handelt, die sie in den Ruin treibt. Nach Ansicht der Therapeutin seien besonders Frauen dieser Gefahr ausgesetzt. Vor den Gefahren einer maßlosen Liebe warnte bereits vor fast 1800 Jahren der große Theologe und Exeget Origenes (185–ca. 254). In einer seiner Predigten zum Lukasevangelium sagt er: „Selbst Liebe ist nicht ohne Gefahr: sie kann maßlos werden. Wer jemanden liebt, darf die Natur und die Motive der Liebe nicht aus den Augen verlieren und sollte den Partner nicht mehr lieben, als er es verdient … Man muss auch der Liebe Zügel anlegen und darf ihr nicht erlauben, so frei auszuschweifen, dass sie schließlich in einen jähen Abgrund stürzt“ (Homilien zum Lukasevangelium, 25,1 und 6; FC 4/1, 269; 273). Wir begegnen hier dem Gedanken der „geordneten Liebe“ (caritas ordinata / regula dilectionis / ordo amoris). Er gehört zu den zentralen 71
Einsichten einer christlichen Lebensführung und hat nichts von seiner Aktualität verloren. Der Text, den man gewöhnlich zum Anlass nahm, um über die rechte Ordnung der Liebe nachzudenken, war ein Vers aus dem Hohelied: „Er ordnete in mir die Liebe“ (Hld 2,4: „ordinavit in me caritatem“). So lautet die lateinische Übersetzung jenes Verses, der im hebräischen Original sehr wahrscheinlich so zu übersetzen ist: „Sein Zeichen über mir ist Liebe.“ Im vorangehenden Abschnitt haben wir versucht, die vermutlich ursprüngliche Bedeutung des Verses herauszufinden. Das in der Tat nicht leicht verständliche hebräische Wort dägäl, das wir heute gewöhnlich mit „(Feld-) Zeichen“ übersetzen, wurde von der Septuaginta in unpunktierter Form als Verb verstanden und im Griechischen mit tasso „befestigen, einrichten, anordnen“ und von der Vulgata im Lateinischen mit ordinare „ordnen“ wiedergegeben. Ausführlich geht Origenes der Frage nach, wie die Liebe geordnet sein muss, wenn es denn wahre Liebe sein soll. Orientieren können wir uns dabei an der göttlichen Liebe. Gott liebt alles, was ist, er verabscheut nichts von dem, was er geschaffen hat (vgl. Weish 11,24), doch er liebt auf unterschiedliche Weise. Den Pharao liebt er nicht in der gleichen Art und Weise (similiter) wie Mose und Aaron. Beim Menschen sind grundsätzlich zwei Formen der Liebe zu unterscheiden: die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten. Die Liebe zu Gott ist ohne Maß: „Denn in Christus Jesus ist Gott zu lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit allen Kräften“ (in cant. III,4; vgl. Dtn 6,5; Lk 10,27). Die Liebe zum Nächsten aber hat ein Maß: „Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst“ (ebd.). Und bei der Liebe zum Feind wird ohne nähere Angabe gesagt: „Liebet eure Feinde“ (Mt 5,44). Gott verlangt vom Menschen nichts Unmögliches. Bei vielen Menschen ist die Liebe ungeordnet (in cant. II,8). Daraus erwachsen viele Probleme. Wer Vater und Mutter mehr liebt als Christus, dessen Liebe ist ungeordnet (vgl. Mt 10,37). Und auch bei der Liebe zum Nächsten gibt es eine natürliche Ordnung. „Wir sind als Glieder miteinander verbunden“ heißt es im Epheserbrief (4,25). Wir lieben alle Glieder unseres Leibes, aber auf unterschiedliche Weise. Geordnet ist die Liebe dann, wenn sie dem Rang und der Funktion eines jeweiligen Gliedes entspricht. In die rechte Ordnung 72
der Liebe findet der Mensch, wenn er seine Handlungen und Affekte auf vernünftige Weise (rationabiliter) gemäß dem Wort Gottes in das rechte, „wohltemperierte“ Maß bringt (temperare proponit) (in cant. III,8).
Nüchterne Trunkenheit Die Predigten zum Hohelied sind das umfangreichste und inhaltlich bedeutendste Werk des heiligen Bernhard von Clairvaux (1090–1153), urteilt der österreichische Kirchenhistoriker Gerhard B. Winkler (Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke V, Innsbruck 1994, 37). Auf der Grundlage des Hoheliedes entfaltet der berühmte Zisterzienser seine Lehre vom geistlichen Leben. Auch er findet in Hld 2,4 den Gedanken der geordneten Liebe. In der 49. Predigt zum „Lied der Lieder“ legt er den Vers aus und zeigt, wie der Mensch zur Ordnung der Liebe gelangen kann (ebd. Bd. VI, 161–171). „Er hat mich ins Weinhaus gebracht.“ – Im geistigen Sinn bedeutet die Aussage, dass die Braut in das Geheimnis Gottes entrückt wurde. Bernhard spricht von einer „Entrückung“. Solche Erfahrungen gibt es, damals wie heute. Sie sind eine Quelle des Glaubens und des religiösen Lebens. Sie dürfen nicht zugeschüttet (vgl. Gen 26,18f; Jer 2,13) oder geleugnet werden. Eine Gefahr derartiger Entrückungen besteht jedoch darin, dass diejenigen, denen sie zuteilwurden, im Übereifer sich und anderen schaden. Wenn sie aus dem „Arkanum Gottes“ zurückkehren und wenn ihre außergewöhnliche Erfahrung nicht mit Erkenntnis (scientia) und Diskretion verbunden wird, erweist sie sich bisweilen sogar als sehr gefährlich. Solche Menschen werden oft überheblich und für andere unerträglich. Deshalb zeugt es von großer Einsicht, dass die ekstatische Erfahrung, von der Hld 2,4a spricht („Er hat mich ins Weinhaus gebracht“), sogleich mit der „Ordnung der Liebe“ in Vers 4b verbunden wird: „Wo es daher eine heftige Erregung gibt, gerade dort ist die Besonnenheit (discretio) ganz unentbehrlich, die in der Ordnung der Liebe (ordinatio caritatis) besteht. Immer erweist sich ja Eifer ohne klare Erkenntnis als weniger wirksam, als weniger nützlich; meist erfährt man ihn sogar als sehr gefährlich. Je glühender daher der Eifer, je heftiger der Geist erregt ist und je reichlicher die Liebe strömt, desto 73
mehr braucht man wachsame Erkenntnis, die den Eifer mäßigt, den Geist zügelt und die Liebe ordnet. Um daher nicht im Überschwang des Geistes, den die Braut offensichtlich aus dem Weinkeller zurückgebracht hat, besonders von den Mädchen als maßlos und unerträglich gefürchtet zu werden, fügt sie hinzu, sie habe auch in gleicher Weise empfangen, was zur Besonnenheit gehört, nämlich die Ordnung der Liebe (ordo caritatis).“ Bernhard steht hier in der Tradition des Motivs von der nüchternen Trunkenheit (sobria ebrietas), das ein Markenzeichen christlicher Spiritualität darstellt. Die Ordnung der Liebe gilt nicht nur für den Leib und die Seele des Einzelnen, sondern auch für die Kirche, den „Leib Christi“ (vgl. Eph 4,11–13): „Denn wenn sich ein jeder von seinem Ungestüm hinreißen lässt, je nach dem Geist, den er empfangen hat, und ohne Unterscheidung überall dorthin geht, wohin es ihn zieht, und nicht nach dem Urteil der Vernunft vorgeht, wenn niemand mit dem ihm zugewiesenen Amt zufrieden sein will, sondern alle in unbesonnener Tätigkeit alles versuchen wollen, dann wird freilich keine Einheit herrschen, sondern vielmehr Verwirrung (confusio).“ Genau besehen kann der Mensch seine Liebe nicht selbst ordnen. Er ist aufgerufen, sie ordnen zu lassen und sich dem nicht zu widersetzen. Deshalb sagt die Braut: „Er hat in mir die Liebe geordnet.“ So kommt es nach Bernhard darauf an, dass wir um Einlass in den göttlichen Weinkeller bitten, dass wir „die Pforte des Himmels mit der Hand der heiligen Sehnsucht berühren“. Wer das redlichen Herzens tut, dem gilt die Verheißung Jesu: „Wer anklopft, dem wird geöffnet“ (Mt 7,7) und: „Bittet und ihr werdet empfangen“ (Joh 16,24). Der Eintritt in den göttlichen Weinkeller und die Ordnung der Liebe sind zwei Aspekte ein und derselben Erfahrung. Christus ist derjenige, der die Liebe ordnet. So bittet Bernhard: „Würde doch Jesus, der Herr, auch in mir ein wenig Ordnung in die Liebe bringen, die er geschenkt hat, so dass mir zwar alles, was sein ist, am Herzen liegt, ich mich jedoch vor allem um das sorge, was er mir als Aufgabe oder Dienst zugewiesen hat.“
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Bei den Hinden des Feldes (2,6–7) 2,6 7
Seine Linke unter meinem Kopf, und seine Rechte umfängt mich. Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, bei den Gazellen und den Hinden des Feldes, dass ihr nicht erwecket, dass ihr nicht erreget die Liebe, bis es ihr selbst gefällt.
Die Liebenden scheinen nun zusammen zu sein. Der Mann umarmt seine Geliebte. Sein linker Arm unter ihrem Kopf deutet auf eine liegende Haltung. Mit dem rechten Arm umfängt er sie. Das Verbum „umarmen, umfangen“ (hbq) begegnet auch sonst als Ausdruck des liebenden Beisammenseins von Mann und Frau (vgl. Spr 5,20; Sir 30,12). Zusammen mit dem Küssen finden wir das Wort auch bei der Begrüßung, der Versöhnung und dem Abschied miteinander verwandter männlicher Personen: zwischen Laban und seinem Neffen Jakob (Gen 29,13), zwischen Jakob und Esau (Gen 33,4) und zwischen Jakob (Israel) und den Söhnen Josefs, Ephraim und Manasse (Gen 48,10). Auch die Liebkosungen des Kleinkindes von Seiten der Mutter können mit diesem Wort bezeichnet werden (2 Kön 4,16). Das Wort wird auch in einem übertragenen Sinn gebraucht: Der Weisheitslehrer ermuntert seinen Schüler, Frau Weisheit wie eine Geliebte zu umarmen (Spr 4,1–9). Die Sehnsucht der Frau (vgl. 1,2–4) scheint nun in Erfüllung gegangen zu sein. Nachdem sie in den vorangehenden Liedern ihrem Geliebten so viele Andeutungen gemacht hat, dass sie sich nach ihm und seiner intimen Nähe sehnt, wird der Mann nun endlich aktiv: Er hat seine Geliebte ins Weinhaus gebracht (2,4) und sich mit ihr unter dem Zeichen der Liebe (2,4) hingelegt. Warum schwört die Frau „bei den Gazellen und den Hinden des Feldes“? Diese Tiere kommen einige Male in der Liebesdichtung vor. In Spr 5,19 vergleicht der Dichter die Geliebte der Jugendtage mit „einer Hinde der Liebe und einer anmutigen Gämse“. Im Hohelied begegnen Gazelle und Hirsch mehrmals als Metapher für den Geliebten (2,9.16; 8,14). Die Brüste der Frau werden mit zwei Zwillingsjungen einer Gazelle verglichen (Hld 4,5; 7,4). Vor dem altorientalischen Hintergrund sind Gazelle und Hinde Symboltiere von 75
Liebesgöttinnen. Einige Exegeten sehen darin einen Hinweis, dass das Hohelied in einer Zeit, da die tragenden Säulen des JHWH-Glaubens in eine Krise geraten seien und ihre Geltung verloren hätten, auf Traditionen eines halbvergessenen Heidentums zurückgegriffen habe. Andere Exegeten jedoch weisen darauf hin, dass die hebräischen Worte an dieser Stelle auf JHWH, den Gott Israels, anspielen. Das hebräische Wort für „Gazelle“, das hier im Plural vorliegt (zebaoth), klingt wie das Wort „Zebaoth“. „JHWH Zebaoth“ („Herr der Heerscharen“) ist eine geläufige Bezeichnung für den Gott Israels. Nicht ganz so deutlich, aber auch nicht völlig von der Hand zu weisen ist der von einigen Exegeten behauptete Anklang der Worte „Hinden des Feldes“ (ajeloth hassadä) an die Gottesbezeichnung „El Schadai“, die gewöhnlich mit „Gott der Allmächtige“ übersetzt wird (vgl. Ex 6,3). Selbst wenn also Gazellen und Hinden als Symboltiere der Liebesgöttinnen auf Restbestände eines polytheistischen Symbolsystems verweisen, scheinen sie im vorliegenden Kontext doch in den JHWH-Glauben integriert worden zu sein. JHWH, der Gott Israels, hätte dann gleichsam ihre Aufgabe übernommen. Dass das Hohelied mit derartigen Anspielungen spielt, zeigt sich auch in der programmatischen Aussage von Hld 8,6. Dort wird die Liebe mit einer mächtigen Flamme verglichen. Das hebräische Wort schalhäbät-jah kann auch übersetzt werden mit: „eine Flamme Jahs“, das heißt: eine Flamme JHWHs. Dann würde die Liebe hier am Ende des Hoheliedes als eine göttliche Flamme bezeichnet: „Denn stark wie der Tod ist die Liebe … Ihre Gluten sind Feuergluten, Gottesflamme“ (8,6). Johannes vom Kreuz (1542–1591) hat diese Erfahrung in seinem letzten und reifsten Werk „Die lebendige Liebesflamme“ unübertrefflich zum Ausdruck gebracht (vgl. Hld 2,5): „O Flamme von Liebe lebendig (Oh llama de amor viva), die du zärtlich verwundest meine Seele in tiefster Mitte!“
Weckt die Liebe nicht auf! Unterschiedlich wird der Inhalt der Beschwörung gedeutet. Umstritten ist auch die Frage, wer den Satz spricht: „Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, bei den Gazellen und den Hinden des Feldes, 76
dass ihr nicht erwecket, dass ihr nicht erreget die Liebe, bis es ihr selbst gefällt“ (2,7). Gewöhnlich wird die Aussage so gedeutet, dass die Liebenden in ihrem intimen Beisammensein nicht (vorzeitig) „geweckt“ werden sollen. Die Liebe hat ihren eigenen zeitlichen Rhythmus, und dieser ist zu respektieren. Er darf nicht von außen, von den Töchtern Jerusalems, gestört werden. Diese Auslegung sieht sich jedoch vor die Schwierigkeit gestellt, dass die Übersetzung des entsprechenden hebräischen Wortes mit „stören“ ansonsten nicht belegt ist. Deshalb wird eine zweite Deutung in Erwägung gezogen. Sie geht davon aus, dass im vorangehenden Vers 6 eine traumhafte Szenerie geschildert wird, da die Beschwörungsformel an den anderen Stellen des Hoheliedes im Zusammenhang mit einer Traumdarstellung begegnet (3,5; 8,4). Demnach würde die Frau träumen, mit ihrem Geliebten zusammen zu sein: „Seine Linke unter meinem Kopf, und seine Rechte umfängt mich.“ In der Beschwörung würde dann gesagt, sie aus diesem wunderbaren Traum nicht zu wecken. „Weckt die Liebe nicht!“ hieße dann: „Weckt die Geliebte nicht“! Denn das Wort „Liebe“ kann als abstractum pro concreto auch die Geliebte bezeichnen, wie Hld 7,7 belegt; entsprechend übersetzt die Vulgata an dieser Stelle mit dilecta. Diese Deutung kann mit Blick auf Jes 51,17 und 52,1f weiter vertieft werden. In Jes 51,17 wird Jerusalem aufgefordert, aufzustehen und sich nach dem erlittenen Zorngericht der Liebe JHWHs zuzuwenden: „Wach auf, wach auf, steh auf, Jerusalem! Du hast aus dem Becher des Zorns getrunken, den der Herr in der Hand hielt. Du hast aus dem betäubenden Becher getrunken und ihn geleert.“ Ebenso findet sich der einschlägige Begriff in Jes 52,1f: „Wach auf, wach auf, zieh an deine Macht, Zion, zieh an die Kleider deines Glanzes, Jerusalem, du heilige Stadt! … Schüttle den Staub von dir ab, steh auf, du gefangenes Jerusalem! Löse die Fesseln von deinem Hals, gefangene Tochter Zion!“ In diesen und vergleichbaren Texten gibt es eine Spannung zwischen einem „Schon“ und einem „Noch nicht“. In den prophetischen Texten der Zeit nach dem Exil wird diese Spannung immer wieder angesprochen. Die Tochter Zion hat die ihr zuteilgewordene neue Zuwendung JHWHs noch nicht voll und ganz angenommen. Sie meint, Gott würde schlafen, und sie fordert ihn auf: „Wach auf, wach 77
auf, zieh an die Macht, du Arm des Herrn!“ (Jes 51,9) In Wirklichkeit jedoch schläft nicht JHWH, sondern Zion. Deshalb gibt Gott die an ihn gerichtete Aufforderung mit denselben Worten an Zion zurück: „Wach auf, wach auf, zieh an deine Macht, Zion!“ (Jes 52,1) Als poetische Umsetzung und Verdichtung von Jes 51,17 und 52,1 stellt Hld 2,7 die Geliebte als eine Schlafende dar. Das Besondere an der Beschwörung in Hld 2,7 scheint nun zu sein, dass die Geliebte hier gerade nicht geweckt werden soll. Aufwachen soll sie nur, „wenn es ihr selbst gefällt“. Bei dieser Deutung wäre der Sprecher der Beschwörung der Mann, bei einem metaphorischen Verständnis also Gott. Der Satz würde dann ein Grundgesetz der Liebe ins Wort fassen: Jede Liebe hat ihre eigene Zeit und ihre eigene Geschichte. Mag die Geliebte das Beisammensein mit ihrem Geliebten bereits in einem Traum vorwegnehmen, so bedarf es doch eines Erwachens, damit das, was sie ersehnt und im Traum erlebt, Wirklichkeit wird. Dieses Erwachen jedoch soll nicht von außen künstlich erzeugt werden. Die Liebe kann nur in Freiheit und in einem wachen Bewusstsein gelebt und angenommen werden, das aus der Person selbst erwacht. Gott will seine Geliebte nicht überrumpeln. Er kann warten. Er beschwört die Töchter Jerusalems, die Geliebte nicht zu wecken, bis es ihr selbst gefällt.
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I. Teil: Der Geliebte kommt (2,8–5,1)
Mit Hld 2,8 beginnt nach dem Prolog der I. Teil des Hoheliedes. Dieser reicht bis Hld 5,1. Er lässt sich noch einmal in drei Abschnitte unterteilen. Im ersten Abschnitt (2,8–3,5) spricht durchgehend die Frau, im dritten Abschnitt (4,1–5,1) spricht zunächst der Mann (4,1–11), während in der letzten Einheit dieses Abschnitts (4,12–16) der Monolog in einen Dialog gegenseitiger Werbung übergeht und in 5,1 mit einem Aufruf an die Liebenden, sich ihrer Liebe zu erfreuen, endet. Zwischen den beiden Abschnitten steht in der Mitte die Beschreibung eines Hochzeitszuges, der aus der Wüste heraufzieht (3,6–11). 2,8 –3,5: Lieder der Frau 3,6–11: Hochzeitszug 4,1–16: Lieder des Mannes, die am Ende in einen Dialog der Liebenden übergehen 5,1:
Abschluss: Aufforderung an die Liebenden, sich ihrer Liebe zu erfreuen
Der erste Abschnitt 2,8–3,5 lässt sich noch einmal in die beiden Unterabschnitte 2,8–17 und 3,1–5 unterteilen. Beide stehen in Entsprechung und Spannung zueinander. Hld 2,8–17 beginnt am Morgen und endet am Abend. Hld 3,1–5 setzt eine nächtliche Szenerie voraus: „Auf meinem Lager in den Nächten suchte ich, den meine Seele liebt“ (3,1). Im ersten Unterabschnitt sucht der Geliebte seine Geliebte und er fordert sie auf: „Steh auf, du, meine Freundin, meine Schöne, und geh!“ (2,10) Dieser Teil ist von einer lieblichen und heiteren Stimmung durchzogen: der Winter ist vorüber, das Frühjahr hat begonnen, die Natur blüht auf. Es ist eine Zeit des Auf bruchs und des Neubeginns: „Die Zeit des Singens ist da, und die Stimme der Turteltaube ist zu hören in unserem Land“ (2,12). Zusammen mit der Natur erwacht die Liebessehnsucht, die Frau hört die Stim79
me ihres Geliebten: „Meine Taube in den Felsklüften, im Versteck der Klippe, lass mich deinen Anblick sehen, lass mich deine Stimme hören“ (2,14). Am Ende dieses Teils deutet sich an, dass die Liebenden zusammengefunden haben: „Mein Geliebter gehört mir, und ich gehöre meinem Geliebten“ (2,16). Nun neigt sich der Tag (2,17) und es entsteht die Erwartung, dass die beiden die Nacht gemeinsam miteinander verbringen. Doch dann findet ein jäher Umbruch statt. Die Geliebte liegt auf ihrem Lager und sucht ihren Geliebten, doch sie findet ihn nicht. Sie steht auf und begibt sich auf die Suche nach ihm. Sie durchstreift des Nachts die Straßen der Stadt und wird von Wächtern gefunden. Schließlich findet sie „den ihre Seele liebt“ und sie bringt ihn in das Haus ihrer Mutter. Die Einheit endet wie die vorangehende mit einer Beschwörung: „Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, bei den Gazellen und den Hinden des Feldes, dass ihr nicht erwecket, dass ihr nicht erreget die Liebe, bis es ihr selbst gefällt“ (3,5). Wie die Natur so kennt auch die Liebe unterschiedliche Rhythmen. Sie hat eine Tag- und eine Nachtseite. Die beiden Abschnitte fassen beide Seiten in poetischer Form ins Wort. In seiner Liebesgeschichte mit Gott hat Israel beide Seiten erfahren. Man gewinnt den Eindruck, als läge in Hld 2,8–3,5 eine Entsprechung zum zweiten und dritten Teil des Jesajabuches vor. Eine Reihe von Motiven legt das nahe. Jes 40–55 ist über weite Strecken geprägt von einer Stimmung des Auf bruchs und des Jubels. In Jes 56–66 ist das Volk im verheißenen Land angekommen. Doch jetzt setzt Ernüchterung ein. Die anfängliche Verheißung: „Seht: euer Gott!“ (Jes 40,9) setzt offensichtlich ein Sehen voraus, das erst aus der Mühe eines erneuten und vertieften Suchens erwächst. Mit der äußeren Ankunft im Land der Verheißung allein ist es nicht getan. Es bedarf noch einer anderen Ankunft. Die Frau liegt auf ihrem Lager, doch jetzt ist ihr Geliebter nicht mehr da. Erneut muss sie auf brechen und ihn suchen. Die Nachtseite der Liebe, die Zeit, da der Geliebte nicht da ist, ist im Hohelied nicht das Ende der Liebe, sondern der Anfang eines Auf bruchs zu einem neuen und tieferen Suchen: „Suchen will ich, den meine Seele liebt“ (3,2).
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Mein Geliebter kommt (2,8–9) 2,8 9
Horch, mein Geliebter! Siehe, da kommt er! Springend über die Berge, hüpfend über die Hügel. Mein Geliebter gleicht einer Gazelle oder einem jungen Hirsch. Siehe, da steht er, hinter unserer Mauer, schaut durch die Fenster, späht durch die Gitter.
Mit einer Erlebnisschilderung der Geliebten beginnt nach dem Prolog der erste Teil unseres Buches (2,8–5,1). Plötzlich hört die Frau Geräusche. Ihr Geliebter kommt! Das klingt überraschend, war sie doch in der unmittelbar vorangehenden Strophe mit ihm zusammen (2,6). Versteht man das Hohelied als eine Sammlung ursprünglich selbständiger Liebeslieder, die mehr oder weniger nach dem Zufallsprinzip zusammengestellt wurden, dann lässt sich der plötzliche Umschwung so erklären, dass unterschiedliche Aspekte, Phasen und Stimmungen der Liebe besungen und nebeneinander gestellt werden. Sieht man in der Abfolge der Lieder jedoch eine gewisse Logik, eine Liebes-Geschichte, dann bietet sich folgende Deutung an: Das vorangehende Beisammensein der Liebenden, so haben wir gesehen, weist traumhafte Züge auf. Jetzt scheint die Frau plötzlich aus ihrem Traum zu erwachen. Was sie erträumte, scheint nun Wirklichkeit zu werden: Ihr Geliebter kommt! Oder wird in ihrem Traum ein weiteres Bild aufgerufen? Das Kommen des Geliebten weist imaginäre Züge auf: Er springt über die Berge und hüpft über die Hügel. Anmut und Schnelligkeit seines Laufes werden mit dem einer Gazelle oder eines jungen Hirsches verglichen (vgl. 2 Sam 2,18). So schnell der Lauf des Geliebten, so plötzlich kommt seine Bewegung zur Ruhe: „Siehe, da steht er hinter unserer Mauer.“ Die beiden sind durch eine Mauer getrennt. Doch diese hat Fenster. Der Geliebte „schaut durch die Fenster, späht durch die Gitter“. Nähe und Distanz kommen gleichermaßen zum Ausdruck. Im Folgenden hört die 81
Frau die Stimme ihres Geliebten. So kann im Rückblick der Eingang der Strophe auch anders übersetzt werden: Qol dodi kann heißen: „Horch, mein Geliebter!“, oder: „Die Stimme meines Geliebten“. Die Doppeldeutigkeit dürfte beabsichtigt sein. Denn in den folgenden Versen (2,10–14) zitiert die Geliebte tatsächlich die Stimme ihres Geliebten. Erneut findet sich in unserer Perikope eine Reihe von Bezügen zu prophetischen Texten. Auffallend sind die Anspielungen auf Jes 40. Die ersten Worte: „Stimme meines Freundes“ lassen Jes 40,3 anklingen: „Stimme eines Rufers“. Die Berge und Hügel, über die der Geliebte eilt, rufen Berg und Hügel von Jes 40,4 in Erinnerung, die sich senken sollen, damit die Herrlichkeit JHWHs offenbar werde. Die deutlichste Parallele zwischen beiden Texten aber dürfte das Kommen des Geliebten und das Kommen JHWHs sein: „Siehe, euer Gott! Siehe, der Herr JHWH, als Starker kommt er“ (Jes 40,9f). Deutliche Anspielungen finden sich auch auf Jes 52,7–9. In einer hymnischen Vision werden die Trümmer Jerusalems aufgefordert, in Jubel auszubrechen, da JHWH als siegreicher König zum Zion zurückkehrt: „Wie lieblich (vgl. Hld 1,5) sind auf den Bergen die Schritte des Freudenboten, der Frieden (schalom vgl. Hld 8,10) ankündigt, der eine gute Botschaft bringt, der Rettung ankündigt, der zu Zion sagt: Dein Gott ist König (Hld 1,4). Horch (qol), deine Wächter erheben die Stimme (qol), gemeinsam jubeln sie. Denn sie sehen mit eigenen Augen, wie JHWH zum Zion zurückkehrt.“ Auffallende Parallelen bietet auch die messianische Ankündigung von Jes 35,6: „Dann springt der Lahme wie ein Hirsch, es jubelt die Zunge des Stummen.“ In Psalm 18,34 sagt der (messianische) König, dass Gott ihn „springen ließ schnell wie Hirsche, ihn auf hohem Wege gehen ließ“ (vgl. Ps 18,30; 72,3). Diese und weitere Texte zeigen deutlich (vgl. Sir 14,20–27; Off b 3,20): Das von der Frau im Traum erlebte Geschehen wird in eine messianisch-eschatologische Aura getaucht. Der Geliebte ist der gott-königliche Gesalbte, der Messias.
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Erhebe dich, meine Freundin! (2,10–13) 2,10 11 12 13
Mein Geliebter hebt an und spricht zu mir: Erhebe dich, meine Freundin, meine Schöne, und geh doch! Denn siehe, der Winter ist vorüber, der Regen ist fort, hat sich davongemacht. Die Blüten sind zu sehen im Lande, die Zeit des Singens ist da, die Stimme der Turteltaube ist zu hören in unserem Land. Der Feigenbaum setzt seine Frühfeigen an, und die Weinstöcke stehen in Blüte, verströmen Duft. Erhebe dich, meine Freundin, meine Schöne, und geh doch!
Der Geliebte, der schnell wie eine Gazelle über die Berge geeilt und am Haus seiner Freundin angelangt ist und durch die Gitterfenster späht, hebt nun an und spricht. Er will seine Freundin ins Freie locken. Das Erwachen der Liebe findet eine Entsprechung im Wiedererwachen der Natur im Frühling. Erneut spielt die sinnliche Wahrnehmung eine besondere Rolle. Im Vordergrund stehen Sehen und Hören. Hinzu kommt der Geruchssinn, dessen Bedeutung wir bereits an anderer Stelle hervorgehoben haben. Die Liebe wird eingebettet in die Natur und die Liebenden nehmen sie mit all ihren Sinnen in sich auf. Die kunstvolle Anordnung der Worte unterstreicht diesen Zusammenhang. Die Aufforderung, die der Freund an seine Freundin richtet, ergeht in einem chiastischen synonymen Parallelismus: (a) Erhebe dich, (b’) meine Schöne,
(b) meine Freundin, (a’) und geh doch!
Chiastisch angeordnet ist auch die Abfolge der sinnlichen Wahrnehmung von Sehen und Hören. Eine Coda bildet das Riechen: (a) Sehen (Vers 12a) (b) Hören (Vers 12b) (b’) Hören (Vers 12c) (a’) Sehen (Vers 13a) (c) Riechen (Vers 13b)
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Der Winter ist in Palästina vor allem die Zeit des Regens, in der man sich in ein schützendes Haus zurückzieht. Diese Zeit ist nun vorbei. Bäume und Sträucher treiben aus. Die Zeit ist gekommen, da man wieder hinaus in die freie Natur, in die Gärten und Weinberge geht und Lieder singt (vgl. Ri 21,21). Zu dieser Zeit, Anfang April, trifft gewöhnlich auch die Turteltaube wieder in Palästina ein. Sie gehört zu den Zugvögeln (Jer 8,7). Einige Wochen später beginnt der Täuberich zu gurren, wenn er eine Täubin erspäht. Das Gurren ist Teil des ritualisierten Balzverhaltens. Interessant sind erneut die innerbiblischen Bezüge. In Jes 51,17 und 52,2 fordert Gott Jerusalem / Zion auf, sich zu erheben, da die Zeit des göttlichen Zornes vorüber ist. Die Verbindung von halak („gehen“) mit dem dativus commodi, wie sie in Hld 2,10 vorliegt, findet sich noch an drei markanten Stellen in der Bibel. An allen drei Stellen geht es um das Land Israel. In Gen 12,1 fordert Gott Abraham auf, in das Land zu gehen, das er ihm zeigen werde. In der Erzählung von der Bindung Isaaks, in Gen 22,2, fordert er ihn auf, in das Land Morija zu gehen, um dort auf einem der Berge seinen Sohn Isaak darzubringen. Damit wird auf jenen Ort angespielt, auf dem später Salomo den Tempel erbauen ließ (2 Chr 3,1). In dem Wort Morija steckt das Wort „sehen“ (vgl. Gen 22,14), das auch in unserem Text Hld 2,12 (vgl. 2,14) vorkommt. In Jos 22,4 schließlich wird erzählt, wie Israel Ruhe im verheißenen Land gefunden hat und nun die Stämme der Rubeniter, der Gaditer und der halbe Stamm Manasse aufgefordert werden, in ihre Zelte zu gehen. Auch in unserem Text ist zweimal vom Land die Rede, in Vers 12c sogar von „unserem Land“. Feigenbaum und Weinstock gehören zusammen mit dem Ölbaum zu den für Israel typischen Fruchtbäumen, die häufig in den Beschreibungen des Landes erwähnt werden (vgl. Dtn 8,8; Ri 9,8–13). Unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum zu sitzen, ist sprichwörtlich für die salomonische und die zukünftige Friedenszeit (1 Kön 5,5; Mi 4,4; Sach 3,10). Im Gegenzug sind die Zerstörung und das Verdorren von Weinstock und Feigenbaum Folgen kriegerischer Verwüstung und Zeichen des göttlichen Gerichts (Jer 5,17; 8,13; Hos 2,14; vgl. Hab 3,17; Mk 11,12–14.20–22). In dieser Zeit verstummen in den Städten Judas und auf den Straßen Jerusalems Jubelruf und 84
Freudenruf, der Ruf des Bräutigams und der Ruf der Braut, denn das Land ist zur Wüste geworden (vgl. Jer 7,34; 25,10). Doch diese Zeit ist nun vorüber. Das Land blüht wieder auf (vgl. Hos 14,6–8). Die Zeit der Liebe ist da.
Meine Taube in den Felsklüften (2,14) 2,14
Meine Taube in den Felsklüften, im Versteck der Klippe, lass mich deinen Anblick sehen, lass mich deine Stimme hören, denn deine Stimme ist süß und dein Anblick ist lieblich.
Vor dem Hintergrund der vorangehenden Verse fällt das Spiel mit unterschiedlichen Formen von Nähe und Distanz auf. Wenige Verse zuvor steht der Mann vor einer Mauer und späht durch die Fenster (2,9). Es scheint, als könne er seine Geliebte erblicken. Sie hört seine Stimme. Die beiden sind durch eine Mauer getrennt und doch stehen sie miteinander in Verbindung. Sie befinden sich in unterschiedlichen Räumen, doch diese liegen unmittelbar nebeneinander. In unserem Vers 2,14 hat sich die Raumkonstellation verwandelt. Die Liebenden scheinen sich nun in der freien Natur aufzuhalten. Sie bewohnen den Raum, den der Freund im Bild des Frühlings besungen und in den zu kommen er seine Freundin aufgefordert hat: „Erhebe dich, meine Freundin, meine Schöne, und geh doch!“ (2,10.13) Nun ist sie dort angelangt, doch in diesem gemeinsamen Raum sind die beiden weit voneinander entfernt. Die Freundin erscheint wie eine scheue Taube im Versteck der Felsklüfte. Für ihren Freund ist sie kaum zu sehen und zu hören. Dieser ruft ihr nun zu und äußert den Wunsch, mit ihr in Kontakt zu kommen. Er möchte ihre Gestalt sehen und ihre Stimme hören. Das Wort „Stimme“ (qol) kommt in der Texteinheit (2,8–17) insgesamt viermal vor. Zu Beginn hört die Frau die Stimme ihres Geliebten (2,8). Dieser spricht von der Stimme der Turteltaube, die im Lande zu hören ist, die das Frühjahr und das Erwachen der Liebe ankündigt (2,12). Jetzt wird die Geliebte selbst im Bild einer Taube 85
in die Natur versetzt und der Freund sehnt sich danach, ihre Stimme zu hören (2,14). Yair Zakovitch schreibt dazu: „Der Täuberich wartet auf seine Taube“ (Das Hohelied, HThK, Freiburg i. Br. 2004, 156). In unserem Vers kommen bedeutende Aspekte der Liebe zur Sprache. Die Frau kennt nicht nur das heiße Verlangen, mit ihrem Geliebten zusammen zu sein und mit ihm eins zu werden (1,2– 4; 2,4–6), sondern auch das Bedürfnis, sich zurückzuziehen und unerreichbar zu sein (vgl. 4,4.12). In ihrem Traum sieht sich die Geliebte im Bild einer Felsentaube. In den hohen Klippen hat sie einen sicheren Zufluchtsort gefunden. Auch dort ist sie zu Hause. Dort ist sie geschützt vor zudringlichen Blicken und vor jedem unerwünschten Zugriff (vgl. Jer 48,28; 49,16; Ps 11,1; Obd 3). Sie selbst kann aus sicherer Entfernung entscheiden, ob sie dem Lockruf ihres Freundes folgen will oder nicht. Dort oben muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Der Vergleich der Geliebten mit einer Taube dürfte mehrere Gründe haben. Zum einen ist die Taube Symboltier der Liebesgöttin. Ihr in der Natur sichtbares Liebesspiel wird dazu eine Anregung gegeben haben (vgl. die Auslegung zu Hld 1,15). Die Taube ist aber auch ein Bild für Israel. In einer Klage über die Verwüstung des Jerusalemer Tempels, in der JHWH aufgefordert wird, auf seinen Bund zu achten, bittet der Beter JHWH: „Gib nicht den wilden Tieren das Leben deiner Turteltaube (tor) preis“ (Ps 74,19; vgl. Jes 38,14; 59,11). Damit ist eindeutig das von Feinden bedrohte Gottesvolk gemeint. In Ez 7,16 werden diejenigen, die dem Gericht über Israel entkommen sind, mit Tauben verglichen, die im Gebirge Zuflucht gefunden haben (vgl. Hos 7,11; 11,11). Auch der Prophet Jona – der Name heißt übersetzt: „Taube“ – repräsentiert sowohl in seinem Ungehorsam als auch in seinem Gehorsam gegenüber dem göttlichen Auftrag das Volk Israel. Das in unserem Text erzählte Geschehen wird in eine sakrale Aura gerückt. Aspekte der Theophanie klingen mit an. Das Hören und das Nicht-Hören einer Stimme, das Sehen und das Nicht-Sehen einer Gestalt sind Motive, die in den biblischen Texten vor allem im Zusammenhang mit der Erscheinung JHWHs am Sinai begegnen (vgl. Ex 3,3; 24,17; 33,18; Dtn 4,12). Die Stimme der Braut und des Bräutigams zu hören oder nicht mehr zu hören, sind ein Zeichen 86
des Heils oder des Unheils (Jer 7,34; 16,9; 25,10; Bar 2,23; Joh 3,29; Mt 25,1–13).
Weinberg-Verwüster (2,15) 2,15
Fangt uns die Füchse, die kleinen Füchse, die Weinberg-Verwüster, denn unsere Weinberge stehen in Blüte.
Das Verständnis des sprachlich kunstvoll geformten Verses gibt Rätsel auf. Viele Exegeten halten ihn für ein versprengtes Fragment. Der abrupte Wechsel zu den vorangehenden Versen deutet auf einen Sprecherwechsel hin. In den Versen 10–14 hat die Frau Worte ihres Freundes zitiert. Diese schließen mit der Aufforderung: „Lass mich deine Stimme hören!“ (2,14) Genau dem scheint die Frau nun zu entsprechen. Dabei greift sie ein Stichwort aus der zitierten Rede ihres Freundes auf. Dieser hat gesagt: „Die Weinstöcke stehen in Blüte“ (2,13). Die Freundin bestätigt dies. Doch sie weist auf ein Problem hin. Kleine Füchse stehen im Begriff, die Weinberge zu verwüsten. Sie müssen erst einmal gefangen werden, bevor die beiden ungestört zusammen sein können, wovon der folgende Vers spricht. Wer sind die kleinen Füchse? Darüber haben sich viele Exegeten den Kopf zerbrochen. Entsprechend zahlreich sind die Deutungen. In der Liebesgeschichte Simsons, die eine Reihe sexueller Anspielungen enthält (vgl. Ri 14,14), richten Füchse einen erheblichen Flurschaden an. Simson wird um seine Frau betrogen. Daraufhin fängt er zornentbrannt dreihundert Füchse, bindet je zwei Füchse an den Schwänzen zusammen, befestigt eine brennende Fackel in der Mitte zwischen den Schwänzen und jagt die Füchse in die Getreidefelder und Weingärten der Philister, deren ganze Ernte daraufhin vernichtet wird (Ri 15,4f). Auch jenseits dieser grotesken Geschichte wird in antiken Fabeln erzählt, dass Füchse gerne in die Weinberge eindringen und die reifen Trauben fressen. In unserem Text Hld 2,15 jedoch tragen die Weinberge noch keine Früchte; sie stehen erst in Blüte. Die Füchse kämen zu früh. Schwierigkeiten bereitet auch die Deutung, die 87
Weinberge hier als Bild für die Frau und die Füchse als mit ihrem Freund konkurrierende Liebhaber zu verstehen, die der Frau nachstellen. Denn hier wird von „unseren Weinbergen“ im Plural gesprochen. Dass damit der Mann in die Metapher mit einbezogen wird, wie einige vermuten, ist schwer nachvollziehbar. All diese Bedeutungsaspekte mögen im Hintergrund mit anklingen. Klarer wird das Bild jedoch, wenn wir uns die Bezüge zu anderen Texten der Schrift vor Augen führen. In den Klageliedern werden die Zerstörung Jerusalems und des Tempels, die Verwüstung des Landes und die Not, die über das ganze Volk hereingebrochen ist, beklagt. Die Klagelieder enden mit einem Bild der Zerstörung: „Darum ist krank unser Herz, darum sind trüb unsere Augen über den Berg Zion, der verwüstet daliegt, Füchse laufen dort umher“ (Klgl 5,18). Die Drohungen der Propheten sind wahr geworden: Die Weinberge sind zur Wildnis geworden und werden von wilden Tieren kahlgefressen (vgl. Hos 2,14). Dabei können die Tiere des Feldes, die „Gottes Weinberg verwüsten“, Bilder für die Völker sein, die das Land erobert, ausgebeutet und zur Wüste gemacht haben (vgl. Jer 12,2–17; Jes 56,9). Mit der erneuten Zuwendung Gottes nach dem Exil ist zwar das Schlimmste vorüber, doch nach wie vor gibt es Störenfriede. Von den Störungen durch böse Nachbarn beim Wiederauf bau Jerusalems und bei der Neubesiedlung des Landes erzählen einige Bücher der nachexilischen Zeit (vgl. Neh 4). Ein gewisser Tobija von Ammon spottet über den Wiederauf bau der Jerusalemer Stadtmauer mit den Worten: „Lasst sie nur bauen! Springt ein Fuchs hinauf, dann reißt er ihre Steinmauer nieder“ (Neh 3,35). Worauf auch immer unser Vers anspielen mag, in jedem Fall kommt hier der Aspekt der Bedrohung in den Blick. Die Liebe der beiden ist bedroht, von außen, durch Störenfriede, durch Neider, die in den geschützten und zu schützenden Raum der Liebe eindringen wollen, die von den Früchten der Liebe naschen, aber selbst zum Auf bau des Raumes, in dem sie gelebt werden kann, nichts beizutragen haben. Äußerlich gesehen sind es keine großen Feinde, nicht zu vergleichen mit denen, die das ganze Land zerstört und die Bevölkerung vertrieben haben. Und doch sind sie nicht ungefährlich, die kleinen Füchse, denn auch sie können den Weinbergen, die in 88
Blüte stehen, empfindlichen Schaden zufügen. Da hilft nur eines: Sie müssen gefangen werden. Wenn dann Gott selbst, wie der Prophet verheißt, seinen prächtigen Weinberg „bei Tag und bei Nacht bewachen wird“, dann wird Israel wieder auf blühen und gedeihen und der Erdkreis sich mit Früchten füllen (Jes 27,2–6).
Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein (2,16–17) 2,16 17
Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein, der unter Lotusblumen weidet. Bis der Tag verweht und die Schatten weichen, wende dich, gleiche, mein Geliebter, der Gazelle oder dem jungen Hirsch auf den Betar-Bergen.
Mit dem Ausdruck gegenseitiger Zugehörigkeit kommt der erste Abschnitt (2,8–17) des ersten Teils (2,8–5,1) zum Abschluss. Nach der Aufforderung, die Störenfriede der Liebe, die „kleinen Füchse“ (2,15), zu fangen, steht der intimen Gemeinschaft der beiden Liebenden nichts mehr im Wege: „Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein.“ In Hld 6,3 begegnet die Formel noch einmal, dort jedoch in umgekehrter Reihenfolge: „Ich gehöre meinem Geliebten, und mein Geliebter gehört mir.“ In beiden Fällen wie auch in Hld 7,11 spricht die Frau. Die Formel drückt Gleichrangigkeit aus. Es entsteht der Eindruck, als würde die Beziehung zwischen den Liebenden in den herrschaftsfreien Zustand vor dem Sündenfall zurückkehren (vgl. Gen 2,22–24), in deutlicher Umkehrung der durch die Sünde gestörten Ordnung der Herrschaft des Mannes über die Frau (Gen 3,16). Nicht unmittelbar verständlich ist der Nebensatz: „der unter Lotusblumen weidet“. Das Verbum „weiden“ wird im Hohelied sowohl transitiv (1,7: Der Hirt weidet die Schafe) als auch intransitiv (4,5: Gazellen weiden unter Lotusblumen) gebraucht. Im Zusammenhang mit der Gazelle, der sich der Geliebte angleichen soll (Vers 17), dürfte hier wohl die intransitive Bedeutung vorliegen. Einige meinen, mit den Lotusblumen seien junge Frauen gemeint, unter denen sich der Mann umschaut, welche von ihnen er „pflücken“ möchte (vgl. Weish 2,7). Im Hohelied ist allerdings nicht erkennbar, dass der 89
Mann Interesse an anderen Frauen hat. Da der Geliebte seine Freundin in Hld 2,2 mit einer Lotusblume vergleicht, dürfte das „Weiden unter Lotusblumen“ den Genuss der Liebesfreuden bezeichnen (vgl. 4,5f; 6,2). In Vers 17 spricht die Frau ihren Geliebten an. Sie fordert ihn auf, sich zu wenden. Offen ist, ob er sich ihr zuwenden oder sich von ihr abwenden soll. Zu Beginn der Texteinheit kam der Geliebte von weit her, von den Bergen (2,8). Er gelangte bis vor die Mauer, hinter der seine Geliebte war (2,9). Jetzt wird die Feststellung von Vers 9a in eine Aufforderung umgewandelt: „Wende dich, gleiche, mein Geliebter, der Gazelle oder dem jungen Hirsch auf den Betar-Bergen.“ Weist sie ihn damit ab? Oder sagt sie das Gegenteil von dem, was sie meint? (vgl. 8,14) Bei der Zeitangabe: „bis der Tag verweht und die Schatten weichen“ stehen sich zwei Deutungen gegenüber. Die eine besagt, mit den Schatten sei die Nacht gemeint und mit dem Wehen des Tages die leichte Brise am Morgen. Die andere besagt, mit dem Fliehen der Schatten sei das Längerwerden der Schatten beim Untergang der Sonne gemeint und somit die Zeit, da der Tag sich neigt und die Nacht heraufzieht (vgl. 3,1). Sehr unterschiedliche Deutungen haben die „Betar-Berge“ hervorgerufen. Einige denken an einen Ort in Palästina. Das Wort btr bedeutet „in zwei Hälften teilen“. Mit den „Bergen der Teilung“, so meinen einige, könnten die Brüste der Geliebten gemeint sein. Die Berge in Palästina wie etwa der Tabor erinnern mit ihrer runden Form an weibliche Brüste. Lotusblume und Betar-Berge wären dann ein Bild für den Körper und die Brüste der Frau. In bildhafter Sprache würde sie ihren Geliebten einladen, zu ihr zu kommen und sie und die gemeinsame Liebe zu genießen. Es gibt aber auch einen theologisch bedeutsamen Text im Alten Testament, in dem das Wort btr („teilen“) eine auffallende Rolle spielt: die Erzählung vom Bundesschluss Gottes mit Abraham „beim Untergang der Sonne“ in Genesis 15. Die Erzählung ist geprägt von einem archaisch anmutenden Ritus, in dessen Mittelpunkt das Zerteilen (btr) von Tieren steht (Gen 15,10). Da die Zugehörigkeitsformel: „Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein“ an die Bundesformel erinnert (Hos 2,4.25; Jer 7,23; 11,4; 31,33; Ez 36,28; 37,27; Ps 95,7; Dtn 90
26,17f), dürfte für den bibelkundigen Leser das von der Frau ersehnte Kommen ihres Geliebten ein Bild sein, das auf die Zusage Gottes verweist, die er Abraham in einer Situation der Hoffnungslosigkeit gegeben und die er in Form eines Bundes besiegelt hat. Der Bund Gottes mit Abraham ist letztlich ein Bund der Freundschaft und der Liebe. Abraham wird in nachexilischen Texten als Freund Gottes bezeichnet (Jes 41,8; 2 Chr 20,7). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Jakobusbrief die Benennung Abrahams als Freund Gottes mit dem in Gen 15 erzählten Bundesschluss in Verbindung bringt (Jak 2,23). Erneut zeigt sich die tief in der Schrift in vielfältiger Weise intonierte Entsprechung des Bundes Gottes mit seinem Volk und der Liebe zwischen der Braut und dem Bräutigam des Hoheliedes. Die reziproken Immanenzaussagen des Johannesevangeliums, die von der wechselseitigen Immanenz von Vater, Sohn und Jüngern sprechen (Joh 14,8–21: „Ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir, und ich bin in euch“), und die Verbindung mit Jesus in Freundschaft (Joh 15,15–24: „Ich habe euch Freunde genannt“) und Liebe (Joh 15,9–17: „Liebt einander“) sind ebenfalls vor diesem Hintergrund, der Verheißung des Neuen Bundes (Jer 31,31–34), zu verstehen.
Auf meinem Lager in den Nächten (3,1–5) 3,1 2 3 4 5
Auf meinem Lager in den Nächten suchte ich, den meine Seele liebt. Ich suchte ihn und fand ihn nicht. Aufstehen will ich und die Stadt durchstreifen, die Straßen und Plätze. Suchen will ich, den meine Seele liebt. Ich suchte ihn und fand ihn nicht. Es fanden mich die Wächter, die die Stadt durchstreifen: „Den meine Seele liebt, habt ihr ihn gesehen?“ Kaum war ich an ihnen vorüber, da fand ich, den meine Seele liebt. Ich packte ihn und ließ ihn nicht mehr los, bis ich ihn gebracht in das Haus meiner Mutter, in die Kammer derer, die mich gebar. Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems,
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bei den Gazellen und den Hinden des Feldes, dass ihr nicht erwecket, dass ihr nicht erreget die Liebe, bis es ihr selbst gefällt.
Es handelt sich hier um einen der ganz großen Texte des Hoheliedes, ja um einen der ganz großen Texte der Bibel und der Weltliteratur überhaupt. Die Worte haben eine enorme Wirkungs- und Auslegungsgeschichte freigesetzt. In ihnen ist eine Erfahrung ver-dichtet, die wohl jeder Mensch in der ein oder anderen Form kennt und die als eine existenzielle Erfahrung zu bezeichnen ist, da sie den Menschen im Kern seiner Existenz berührt und erschüttert: die Erfahrung von Einsamkeit und Verlassenheit und die Sehnsucht nach dem (einem) Geliebten, den er finden und nicht mehr „los-lassen“ (3,4), mit dem er eins werden möchte (vgl. 2,16; 6,3). Der gesuchte Geliebte oder auch die gesuchte Geliebte tritt dabei oft und zunächst als eine menschliche Person in die Vorstellungswelt ein. Das ist auch im Hohelied der Fall. Gleichwohl enthält die Liebessehnsucht eine Dynamik, die über das rein Menschliche hinausweist. Vielen ist das nicht bewusst. In der Liebeslyrik der Romantik wird die göttlich-erlösende Dimension der Liebe gern auf die geliebte Person übertragen, vor allem auf die Frau. Wie die bisherigen Auslegungen gezeigt haben, weist das Hohelied von Anfang an einen auf das Göttliche hin geöffneten Horizont auf. Die religiöse Liebesdichtung im eigentlichen Sinn hat keine Probleme, Gott oder Christus als das letzte Ziel menschlicher Sehnsucht zu benennen. Die menschliche Liebe findet im Raum göttlicher Liebe ihren letzten Sinn; in diesem nicht nur geglaubten, sondern erlebten Raum wird die menschliche Liebe vor Überforderungen und unerfüllbaren Projektionen bewahrt. Die Spannung von Suchen, Nicht-Finden und (schließlich) DochFinden gehört offensichtlich zur Geschichte einer jeden (Gottes-) Liebe. Der Mensch sucht Gott, er sehnt sich nach ihm und macht zugleich die Erfahrung, dass dieser sich nicht (so leicht) finden lässt. Gelingt es ihm jedoch nach Nächten der Verzweiflung, Gott zu finden, dann erfährt er dieses Finden gewöhnlich als ein Gefunden-Werden. Der Mensch, der sich vor Gott versteckt hat (vgl. Gen 3,9), wird von Gott gesucht und, wenn er ihm nicht davonläuft, auch 92
wirklich gefunden. Als von Gott Gefundener findet er den, den seine Seele liebt, und zugleich sich selbst. Und nun möchte er den, den er gefunden hat, nicht mehr loslassen. Tatsächlich prägt sich eine solche Erfahrung unauslöschbar in das Gedächtnis ein. Der Barockdichter Angelus Silesius (1624–1677) hat die hier angesprochene Struktur von Suchen und Finden in seinen von der Jesus-Mystik geprägten Liedern verdichtet. In der 4. Strophe des Christus-Liedes „Ich will dich lieben, meine Stärke“ (Gotteslob, 2013, Nr. 358) heißt es: „Ich lief verirrt und war verblendet, ich suchte dich und fand dich nicht; ich hatte mich von dir gewendet und liebte das geschaffne Licht. Nun aber ist’s durch dich geschehn, dass ich dich hab ersehn.“
Ich suchte ihn In der vorangehenden Texteinheit hatte die Frau ihren Geliebten scheinbar weggeschickt. Ihre Worte waren uneindeutig: „Bis der Tag verweht und die Schatten weichen, wende dich, gleiche, mein Geliebter, der Gazelle oder dem jungen Hirsch auf den Betar-Bergen“ (2,17). Soll das heißen, dass der Geliebte fortgehen und am anderen Tag wiederkommen soll? Oder lädt sie ihren Geliebten indirekt ein, zu ihr zu kommen und die Nacht mit ihr zu verbringen? Das in der folgenden Texteinheit (3,1–5) erzählte Geschehen jedenfalls ereignet sich bei Nacht. Die Frau selbst spricht jetzt nicht mehr zu, sondern über ihren Geliebten. Dieser ist offensichtlich verschwunden. Die Frau liegt auf ihrem Bett und sucht ihn, doch sie findet ihn nicht. Eindringliche Wiederholungen verleihen dem Geschehen eine gewisse Dramatik: je viermal begegnen die Verben „suchen“ und „finden“ und der Ausdruck „den meine Seele liebt“; zweimal findet sich die Wendung „die Stadt durchstreifen“. Das Lager, auf dem die Geliebte liegt, begegnet auch sonst in einem erotischen Kontext. Im Buch der Sprichwörter lädt eine Frau, deren Mann gerade auf Reisen ist, einen jungen Mann mit folgenden Worten zu einer Liebesnacht ein: „Ich habe mein Lager besprengt mit Myrrhe, Aloë und Zimt. Komm, wir wollen bis zum Morgen in Liebe schwelgen, wir wollen die Liebeslust kosten. Denn mein Mann ist nicht zu Hause, er ist auf Reisen, weit fort“ (Spr 7,17–19). 93
Das Motiv kann auch bildlich auf die Treulosigkeit Israels übertragen werden. Der Prophet Jesaja beklagt, dass Israel – hier als untreue Frau vorgeführt – durch ständiges Fremdgehen in einen Zustand der Erschöpfung geraten ist, eine Symptomatik, die auch in unserer Zeit nach Auskunft von Paartherapeuten vermehrt anzutreffen ist: „Du hast dich von mir freigemacht … und dir ein breites Lager zurechtgemacht. Dann kauftest du dir Leute, deren Beilager du liebtest; du hast ihre Kraft bestaunt … Auf dem langen Weg bist du müde geworden.“ Doch letztlich, so der Prophet, wird die Frau bei allen ihren Liebhabern keine wirkliche Unterstützung finden. Nur wer den geraden Weg geht, findet Ruhe auf seinem Lager (Jes 57,1–13). In Hos 7,14 klagt Gott sein treuloses Volk an: „Sie schreien ja nicht zu mir in ihrem Herzen, wenn sie auf ihren Lagerstätten heulen.“ Die dem Herrn untreu gewordene Frau sagt: „Ich will meinen Liebhabern nachlaufen, sie geben mir Brot und Wasser, Wolle und Leinen, Öl und Getränke … Sie sucht nach ihnen, findet sie aber nicht. Dann wird sie sagen: Ich kehre um und gehe wieder zu meinem ersten Mann, denn damals ging es mir besser als jetzt“ (Hos 2,7–9). Vor dem Hintergrund der sprachlichen und motivischen Anklänge liest sich Hld 3,1–5 wie eine Umkehrung der früheren Geschichte: Erneut liegt die Frau auf ihrem Lager. Doch jetzt läuft sie nicht ihren Liebhabern nach, die ihr viele Geschenke versprechen. Ihre Suche richtet sich auf den, „den ihre Seele liebt“ (vgl. Dtn 6,5). Doch so leicht lässt sich dieser Liebhaber nicht finden: „Ich suchte ihn und fand ihn nicht“ (3,1). Der von Liebessehnsucht Entbrannten wird klar, dass sie aufstehen, ihr Haus verlassen und sich auf die Suche nach ihrem Geliebten begeben muss, wenn sie ihn finden will: „Aufstehen will ich und die Stadt durchstreifen, die Straßen und Plätze. Suchen will ich, den meine Seele liebt“ (3,2).
Und fand ihn nicht Je viermal kommen in unserem Text die Worte „suchen“ und „finden“ vor. Die Geliebte liegt des Nachts auf ihrem Lager und sucht, den ihre Seele liebt. Doch sie findet ihn nicht. Verlieren, Suchen und Finden gehören offensichtlich zur Geschichte einer jeden Liebe. Das lässt sich schon bei der Liebe zwischen Eltern und Kindern beob94
achten. Ein Kind kann in panische Angst verfallen, wenn es seine Mutter nicht mehr findet. Auch Eltern machen nicht selten die Erfahrung, dass sie ihr Kind suchen und nicht finden (vgl. Lk 2,44–46). Verliebte empfinden die Abwesenheit ihres geliebten Partners oft als irritierend und schmerzhaft. Im altorientalischen Mythos werden solche Erfahrungen auch den Göttern zugeschrieben. Nach dem Verschwinden des Gottes Baal heißt es von seiner Schwester-Gemahlin Anat: „Wie das Herz der Kuh nach ihrem Kalbe ist, wie das Herz des Mutterschafes nach seinem Lamme ist, war das Herz der Anat nach Baal.“ Die ägyptische Göttin Isis sucht ihren verschwundenen Bruder-Gemahl Osiris in ganz Ägypten: „Isis, die Mächtige, die Schützerin ihres Bruders, die ihn suchte, ohne zu ermüden, die dieses Land durchlief in Trauer und nicht ruhte, bis sie ihn gefunden hatte.“ Auch in der Bibel begegnet das Leitwort unserer Texteinheit im Zusammenhang mit Gott. „Wüsste ich doch, wie ich ihn finden könnte, gelangen könnte zu seiner Stätte“, klagt Ijob in seiner Not (Ijob 23,3). Sein „Freund“ Elihu antwortet ihm: „Den Allmächtigen finden wir nicht“ (Ijob 37,23). Die Suche nach Gott ist eines der zentralen Themen der Heiligen Schrift. Gegenüber den rosigen Versprechungen mancher oberflächlichen religiösen Schwärmerei sagt uns die realistische Sicht der Bibel: Es ist keineswegs sicher, dass jemand, der Gott sucht, ihn auch sogleich findet. Zum Gott-Suchen gehört nach Auskunft der Bibel auch die Erfahrung des Nicht-Findens. Beim Propheten Hosea lesen wir: „Sie werden ausziehen mit ihren Schafen und Rindern, um JHWH zu suchen, doch sie werden ihn nicht finden; er zieht sich vor ihnen zurück“ (Hos 5,6). In diesem Fall ist der Grund für den göttlichen Rückzug die Treulosigkeit Israels. Genau besehen verhält es sich hier so, dass die Priester, die Verantwortlichen des Hauses Israel und des Königshauses „JHWH die Treue gebrochen haben. Ihre Taten verhindern, dass sie zu Gott umkehren. Denn der Geist der Unzucht steckt in ihnen“ (Hos 5,1– 4). Haben sie schließlich die Sinnlosigkeit ihres Verhaltens erkannt und begeben sie sich auf die Suche nach ihrem Gott (Hos 3,5), dann werden sie ihn zunächst einmal nicht finden. Sie begegnen ihrer eigenen Gottvergessenheit. Gott hat sich nicht versteckt. Er ist da und hätte gefunden werden 95
können: „Ich wäre zu erreichen gewesen für die, die nicht nach mir fragten, ich wäre zu finden gewesen für die, die nicht nach mir suchten. Ich sagte zu einem Volk, das meinen Namen nicht anrief: Hier bin ich, hier bin ich“ (Jes 65,1). Dass Menschen Gott suchen, ihn aber nicht finden, ist eine Realität, die auch in der Bibel zur Sprache kommt. Was auch immer die Gründe dafür sein mögen: Eine Liebe ohne Suche scheint es nicht zu geben. So ist es kein Zufall, dass auch die Frau des Hoheliedes von ihrem Geliebten sagt: „Ich suchte ihn und fand ihn nicht.“ Selbst nachdem sie sich vom nächtlichen Lager erhoben und sich auf die Suche nach ihrem Geliebten begeben hat, muss sie zunächst einmal feststellen: „Ich suchte ihn und fand ihn nicht.“ Es zeichnet die Größe ihrer Liebe aus, dass sie nicht aufgibt und ihre Suche fortsetzt, auch wenn sich Hindernisse in den Weg stellen und sie von „Wächtern“ abgewiesen wird (3,3; 5,7; vgl. Lk 7,36–49). Offensichtlich kennt sie die Verheißung der Schrift: Du wirst den Herrn, deinen Gott, finden, „wenn du dich mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele um ihn bemühst“ (Dtn 4,28f). Auch Jesus scheint dem nicht zu widersprechen: „Suchet, dann werdet ihr finden“ (Mt 7,7).
Die Wächter der Stadt Bei ihrer nächtlichen Suche nach dem Geliebten in den Straßen und auf den Plätzen der Stadt wird die Frau von Wächtern gefunden, „die in der Stadt umherstreifen“ (3,3). Unvermittelt fragt die Frau: „Den meine Seele liebt, habt ihr ihn gesehen?“ Sie bekommt jedoch keine Antwort und zieht an den Wächtern vorbei. Wer sind die Wächter? Diejenigen, die das Hohelied ausschließlich in einem wörtlichen Sinn verstehen, sehen in den Wächtern eine „patrouillierende Stadtwache“, die eine in der Nacht durch die Stadt streifende Frau als Ehebrecherin oder als Hure ansieht und entsprechend behandelt. In unserem Text geht die Begegnung zwischen der Frau und den Wächtern noch relativ glimpflich ab. In Hld 5,2–8 jedoch wird die Frau von den Wächtern geschlagen und misshandelt. Die Wächter, so sagen einige Exegeten, repräsentieren hier die Ansprüche einer patriarchalischen Gesellschaft, die sich der Liebe, insbesondere der selbstbestimmten Liebe von Frauen, mit Gewalt 96
entgegenstellt. Die Schwächen dieser Auslegung bestehen darin, dass es keine Entsprechungen zu dieser Deutung in jener Textwelt gibt, in der das Hohelied entstanden und überliefert ist. Deshalb scheint mir eine andere Deutung näherliegend zu sein. Sie fragt, wo denn Wächter einer Stadt innerhalb des Alten Testaments vorkommen und welche Aufgabe sie haben. Die Schlüsselstelle ist Jesaja 52,8: „Horch, deine Wächter erheben die Stimme, sie beginnen alle zu jubeln. Denn sie sehen mit eigenen Augen, wie JHWH nach Zion zurückkehrt.“ Angesprochen ist in diesem Kapitel Jerusalem, die heilige Stadt, die Tochter Zion. Der Zorn Gottes hat sich gelegt (Jes 51,17–23) und sie wird aufgefordert, sich für das Kommen ihres göttlichen Bräutigams zu bereiten: „Wach auf, Zion, wach auf, zieh das Gewand deiner Macht an! Zieh deine Festkleider an, Jerusalem, du heilige Stadt! … Schüttle den Staub von dir ab, steh auf, du gefangenes Jerusalem! Löse die Fesseln von deinem Hals, gefangene Tochter Zion!“ Der Einzug JHWHs in seine Stadt kommt in Jes 62 zum Abschluss. Hier wird das Motiv der Wächter wieder aufgenommen: „Auf deine Mauern, Jerusalem, stellte ich Wächter. Weder bei Tag noch bei Nacht dürfen sie schweigen. Ihr, die ihr an JHWH denken sollt, verstummt nicht“ (Jes 62,6). Unmittelbar voran geht der Vers: „Wie der junge Mann sich mit der Jungfrau vermählt, so vermählt sich mit dir dein Erbauer. Wie der Bräutigam sich freut über die Braut, so freut sich dein Gott über dich“ (Jes 62,5). Die Wächter auf den Mauern haben Ausschau zu halten nach dem göttlichen Bräutigam, der sein Kommen angekündigt hat. Zugleich haben sie diesen Bräutigam ständig in ihrem Bewusstsein gegenwärtig zu halten und zu bezeugen, bei Tag und bei Nacht (Jes 62,6). Ja, sie sollen ihm keine Ruhe lassen, „bis er Jerusalem wieder aufbaut“ (Jes 62,7). Vor dem Hintergrund dieser Texte sind Hld 3,1–5 und auch Hld 5,2–8 zu verstehen. Es geht um eine neue und letztlich bleibende, intime Beziehung zwischen Gott und seiner Braut. Das Hohelied ist die dichterische Gestaltung und Entfaltung dieses zentralen biblischen Themas. In der christlichen Liebesmystik ist es aufgegriffen und vertieft worden. Das Hohelied gehört also nicht, wie oft behauptet wird, an den Rand des biblischen Kanons, sondern bildet die Herzmitte der Schrift. 97
Die Frau von Hld 3,1–5 tut, was in Jes 52 angekündigt wird. Sie steht auf und sucht ihren Geliebten. Sie fragt die Wächter der Stadt, ob sie ihn gesehen haben. Doch diese schweigen. Sie können ihr offensichtlich keine Auskunft geben. In Hld 5,2–8 schlagen und misshandeln sie die Frau sogar. Unser Gedicht enthält eine unüberhörbare Kritik an den Wächtern der Stadt. Es ist aber keine Kritik an der Leib- und Sexualfeindschaft einer patriarchalischen Gesellschaft, sondern eine Kritik an der Gottvergessenheit und am Machtmissbrauch derer, die von Gott beauftragt worden sind, Ausschau zu halten nach dem, der sein Kommen angekündigt hat. Der Frau, die voller Sehnsucht nach ihrem Geliebten sucht und die noch in der Nacht aufsteht, um ihn zu finden, vermögen sie keine Auskunft zu geben. Schlimmer noch, sie schlagen und misshandeln sie. „Die Wächter des Volkes sind blind, sie merken allesamt nichts“, klagt der Prophet Jesaja (56,10; vgl. Jer 6,17). Doch die Verliebte verlässt sich auf die Stimme ihrer Sehnsucht. Sie geht an den Wächtern vorbei. Ihre Suche wird nicht vergeblich sein (Hld 3,4).
Im Haus meiner Mutter Die Frau geht an den Wächtern der Stadt vorüber. Diese konnten ihr bei der Suche nach ihrem Geliebten keine Auskunft erteilen. Kaum dass sie an ihnen vorüber ist, findet sie ihren Geliebten. Sie packt ihn, lässt ihn nicht mehr los und bringt ihn in das Haus ihrer Mutter, „in die Kammer derer, die mich gebar“ (Hld 3,4). Ein wenig ratlos steht die Exegese vor dem „Haus meiner Mutter“. Am Ende des Hoheliedes kommt es noch einmal vor (8,2). Dort bekundet die Frau den Wunsch, ihr Geliebter wäre ihr Bruder. Dann könnte sie ihn küssen, ohne ein öffentliches Ärgernis zu erregen; sie würde ihn in das Haus ihrer Mutter führen und ungestört mit ihm zusammen sein. Gegen diese wörtliche Deutung wird angeführt, dass gewöhnlich der Bräutigam seine Braut in das Haus seiner Familie führt und nicht er in das Haus der Braut gebracht wird (vgl. Ps 45,11; Hld 1,4; 2,4). In der folgenden Texteinheit wird ein Hochzeitszug geschildert, bei dem genau diese Bewegung in Gang zu kommen scheint. In ähnlicher Weise führt Isaak Rebekka in das Zelt seiner Mutter Sara. Mit ihr „tröstete er sich über den Verlust seiner 98
Mutter“ (Gen 24,67). Auf der anderen Seite vollzieht Tobias die Ehe mit seiner Frau Sara im Hause ihrer Eltern in Ekbatana (Tob 8,1–9). Doch nach den Hochzeitsfeierlichkeiten zieht er mit seiner Frau in das Haus seiner alt gewordenen Eltern nach Ninive, wo noch einmal Hochzeit gefeiert wird (Tob 10–11). So wird man im Rahmen eines wörtlichen Verständnisses für das „Haus meiner Mutter“ in Hld 3,4 vielleicht doch keine allzu strengen institutionellen Regelungen voraussetzen dürfen. Es geht wohl einfach um die elementare Macht der Liebe, welche einerseits „die stärksten leiblichen und seelischen Bande“ zu den Eltern auflöst (Benno Jacob, Das Buch Genesis, Berlin 1934, Stuttgart 2000, 100; vgl. Gen 2,24), andererseits aber doch auch neue familiäre Bindungen entstehen lässt und sich somit in die Kette der Generationen einreiht. Der Ausdruck „in die Kammer derer, die mich gebar“ erinnert an die Weitergabe des Lebens. Ihr geht gewöhnlich die intime sexuelle Gemeinschaft von Mann und Frau voraus. Genau danach sehnt sich die Frau. Im Hause ihrer Mutter möchte sie genau das tun, was auch diese einst getan hat. Die französischen Bibelwissenschaftler André Robert und André Feuillet sehen im „Haus der Mutter“ jedoch auch eine Anspielung auf den Tempel. Vorausgesetzt wird dabei das durchgehend metaphorische Verständnis des Textes. Die Mutter wäre in diesem Fall Jerusalem beziehungsweise die Nation. Im folgenden Vers Hld 3,5 werden die „Töchter Jerusalems“ beschworen. Von den Kammern des Königs war bereits in Hld 1,4 die Rede. Der Tempel wäre dann das Haus, das sowohl vom göttlichen König wie vom Volk erbaut wurde (vgl. Ps 127,1). In der Tat ist der Wiederauf bau des Tempels in Texten der nachexilischen Zeit ein häufig anzutreffendes Thema (vgl. Ez 40–44; Haggai, Esra). Über die Rolle des Jerusalemer Tempels für Israel und die Völker wird in dieser Zeit in vielfältiger Weise nachgedacht (vgl. Jes 2,1–5; 56,7). Auseinandersetzungen um den Tempel bezeugt auch das Neue Testament (vgl. Mk 11,15–19 par.; 14,58; Joh 2,13–22). In bestimmten Zusammenhängen kann das Wort „Haus“ einfach den Tempel bezeichnen. In Sach 1,16 sagt JHWH: „Voll Erbarmen werde ich nach Jerusalem zurückkehren. Mein Haus wird dort gebaut werden“ (vgl. Ez 43,4; Ps 127,1). So führt die Suche nach dem Geliebten trotz anfänglicher Misserfolge schließlich doch zum Erfolg. Die Sehnsucht der Frau bleibt 99
nicht ungestillt. Die prophetische Verheißung, JHWH werde sich von denen, die umkehren und ihn mit ganzem Herzen und ganzer Seele suchen, tatsächlich finden lassen, wird von der Geliebten des Hoheliedes bestätigt. Im Exil, so die Verheißung des Deuteronomiums, wird das Volk seinen Gott wieder suchen. „Du wirst ihn auch finden, wenn du dich mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele um ihn bemühst“ (Dtn 4,28f). Die Verheißung wird begründet mit Verweis auf „den Bund mit den Vätern“ (Dtn 4,31). Damit ist der Bundesschluss mit Abraham in Gen 15 gemeint. Genau dieser Bezug wird mit dem letzten Wort der unmittelbar vorangehenden Texteinheit hergestellt (Hld 2,17): „Wende dich, gleiche, mein Geliebter, der Gazelle oder dem jungen Hirsch auf den Betar-Bergen“ (vgl. die Auslegung zu dieser Stelle). Die Frau kann nun bezeugen, dass die Verheißung wahr geworden ist – ob im Traum als Wahrheit geschaut (vgl. Ps 126,1) oder außerhalb des Traumes in Wahrheit vollzogen.
Ein Hochzeitszug (3,6–11) 3,6 7 8 9 10 11
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Wer ist diese, die da heraufzieht aus der Wüste wie Säulen aus Rauch, umräuchert von Myrrhe und Weihrauch, von jeglichem Duftstaub des Händlers? Siehe, die Sänfte Salomos! Sechzig Helden umgeben sie von den Helden Israels, allesamt schwertbewehrt, erfahren im Kampf, ein jeder mit seinem Schwert an seiner Hüfte vor dem Schrecken der Nacht. Einen Tragsessel hat sich gemacht König Salomo aus Hölzern vom Libanon. Seine Säulen hat er aus Silber gemacht, seine Lehnen aus Gold, seinen Sitz aus Purpur, sein Inneres ausgekleidet mit Liebe von den Töchtern Jerusalems. Kommt heraus und schaut, ihr Töchter Zions, den König Salomo mit der Krone,
mit der ihn gekrönt hat seine Mutter, am Tage seiner Hochzeit, am Tage seiner Herzensfreude.
Die Texteinheit steht in der Mitte des ersten Teils (2,7–5,1) zwischen den vorangehenden Liedern der Frau (2,7–3,5) und den folgenden Liedern des Mannes (4,1–5,1). Man kann sich vorstellen, die Worte würden von einem Chor vorgetragen, wie es aus der griechischen Tragödie bekannt ist. Jetzt sprechen nicht mehr Braut und Bräutigam zueinander und übereinander, sondern es wird von einem Geschehen erzählt, das am Ende offensichtlich in einer Hochzeit mündet (5,1). Dem ersten Eindruck nach wird ein Hochzeitszug geschildert. Gerne wird daher der Text als Hochzeitslied (Epithalamium) qualifiziert. Unklar ist, wer hier eigentlich die Hochzeit vollzieht. Einer der Partner dürfte König Salomo sein. Von ihm und vom „Tag seiner Hochzeit“ wird in Vers 11 eindeutig gesprochen. Doch wer ist die Braut? Vers 6 fragt nach einer weiblichen Person: „Wer ist diese, die da heraufzieht aus der Wüste?“ Beantwortet wird die Frage im folgenden Vers 7: „Siehe, die Sänfte Salomos!“ Vers 6 fragt nach einer Person, Vers 7 antwortet mit einer Sache. Diese Irritation hat einige Exegeten dazu veranlasst, Vers 6 als einen später hinzugefügten Vers anzusehen. Doch das hebräische Wort für „Sänfte“ ist grammatikalisch ein Femininum. So gesehen fügen sich Frage und Antwort gut zueinander. Dass eine (rhetorische) Frage im folgenden Satz beantwortet wird, kommt in der Bibel einige Male vor (vgl. Jes 60,8; 63,1; Jer 46,7f). Auch das Hohelied bedient sich dieser Stilfigur (vgl. 6,10; 8,5). Die Art der Antwort löst hier allerdings Irritationen aus. Sie fällt anders aus als erwartet. Das in den folgenden Versen beschriebene Schauspiel wird aus der Perspektive Jerusalems wahrgenommen: Von dort, besonders vom Ölberg aus, hat man einen wunderbaren Blick in die judäische Wüste. Der Betrachter sieht in der Ferne aufgewirbelte Staubwolken – ein sicherer Hinweis darauf, dass sich eine Gruppe der Stadt nähert. Aus der Wüste zieht man hinauf nach Jerusalem. Die Beschreibung des wahrgenommenen Geschehens wird immer detaillierter. Die Gruppe nähert sich offensichtlich dem Betrachter. Zunächst sieht dieser nur Staubwolken, schließlich erkennt er: es ist die Sänfte Salomos. 101
Sie wird von sechzig Helden begleitet, diese tragen Schwerter an ihren Hüften. Anschließend wird die Beschaffenheit des Tragsessels eingehender beschrieben und schließlich sogar dessen innere Ausgestaltung. Die Texteinheit endet mit der an die Töchter Zions gerichteten Aufforderung, sich diese außergewöhnliche Erscheinung näher anzusehen. Dabei wird das Geschehen noch eingehender beschrieben und gedeutet: König Salomo mit der Krone, die ihm seine Mutter verliehen hat am Tag seiner Hochzeit. Die Beschreibung des Zuges erinnert an den Besuch, den die sagenumwobene Königin von Saba König Salomo in Jerusalem ab stattete. Sie stellte ihn mit vielen Rätselfragen auf die Probe. 1 Kön 10,1–13 erzählt von ihrem Zug durch die Wüste nach Jerusalem. Sie wird von einem großen Gefolge begleitet. Mehrfach ist, wie in unserem Text, von Gewürzen, von Gold und Edelsteinen die Rede: „Sie kam nach Jerusalem mit sehr großem Gefolge, mit Kamelen, die Balsam, eine gewaltige Menge Gold und Edelsteine trugen, trat bei Salomo ein und redete mit ihm über alles, was sie sich vorgenommen hatte.“ Am Ende der Begegnung entsteht eine gewisse Zweideutigkeit, die den Rabbinen Kopfzerbrechen bereitete. Hat sich der Besuch der Königin bei Salomo vielleicht doch nicht nur auf den Austausch von Geschenken und Worten beschränkt, wenn es heißt: „König Salomo gewährte der Königin von Saba alles, was sie wünschte und begehrte“ (1 Kön 10,13)? Im folgenden Kapitel jedenfalls wird erzählt, dass Salomo viele ausländische Frauen hatte (1 Kön 11,1–8). Auch in Hld 6,8 ist von Königinnen und Konkubinen, von „jungen Frauen ohne Zahl“ die Rede. Unser Text beginnt mit einer Frage nach einer weiblichen Person: „Wer ist diese, die da heraufzieht aus der Wüste wie Säulen aus Rauch, umräuchert von Myrrhe und Weihrauch, von jeglichem Duftstaub des Händlers?“ – „Vielleicht die Königin von Saba?“, wird sich der bibelkundige Leser fragen. Die aufgebaute Erwartung wird mit der Antwort im folgenden Vers jedoch enttäuscht. Da ist keine Königin zu sehen, sondern die Sänfte Salomos! Doch wer sitzt in der Sänfte? Die Frage bleibt bis zum Schluss offen. Nach dieser enttäuschten Lesererwartung stellen sich andere Assoziationen ein. Die „Säulen aus Rauch“ in Vers 6 erinnern an die Erscheinung Gottes am Sinai. Bei der Herabkunft JHWHs auf den 102
Berg heißt es: „Der ganze Sinai war in Rauch gehüllt, denn JHWH war im Feuer auf ihn herabgestiegen. Der Rauch stieg vom Berg auf wie Rauch aus einem Schmelzofen“ (Ex 19,18). In einer Wolken- und Feuersäule begleitet JHWH sein Volk bei Tag und bei Nacht auf dem Zug durch die Wüste (Ex 13,21f). Auch beim zweiten Exodus begleitet der Herr sein aus dem Exil heimkehrendes Volk: „JHWH geht vor euch her, und er, Israels Gott, beschließt auch euren Zug“ (Jes 52,12). Der Ausdruck „Säulen aus Rauch“ begegnet in genau dieser Form nur noch im Buch des Propheten Joël (3,3). Dort geht es um die endzeitliche Ausgießung des Geistes. Sie geht einher mit wunderbaren Zeichen „am Himmel und auf der Erde: Blut und Feuer und Säulen aus Rauch“. Auf dem Zion und in Jerusalem gibt es Rettung. Dass sich die erotischen und prophetisch-endzeitlichen Anspielungen nicht grundsätzlich ausschließen müssen, zeigt Psalm 45. Auch hier befindet sich der König im Kreis ausländischer Frauen und Königstöchter. Diese begleiten den göttlichen König mit seiner Braut in den Königspalast. Es wird heute angenommen, dass es sich bei Psalm 45 um die Hochzeit des messianischen Königs mit der Tochter Zion handelt, „die ihre Sündengeschichte hinter sich lässt und sich vorbehaltlos ihrem königlichen Herrn und Gemahl verbindet. Und mit ihr kommen die Völker zur Huldigung und zur Anerkennung dieser messianischen Liebe. So feiert der Psalm in seiner Endfassung zugleich das Ende jener Katastrophe, in der die ‚Frau Zion‘ verachtet, verlassen und kinderlos war; die vordem von den Völkern Verspottete und Vergewaltigte wird nun sogar zur Königin über die Völkerwelt“ (Erich Zenger [Frank-Lothar Hossfeld], Die Psalmen. Psalm 1–50, NEB, Würzburg 1993, 279).
Der Friedenskönig Von seiner literarischen Gattung her weist das Hohelied Merkmale eines Rätselgedichtes auf. Auslegung und Auflösung eines Rätselgedichtes lassen sich mit dem Zusammensetzen eines Puzzles vergleichen. Die einzelnen Teile ergeben dann ein sinnvolles Bild, wenn sie in rechter Weise einander zugeordnet werden. Erleichtert wird eine solche Zuordnung durch das richtige Vorverständnis. Als Verständnis des Hoheliedes hat sich bisher ergeben, dass in den Bildern 103
der Liebe die Hoffnung auf eine intime Gemeinschaft zwischen Gott und seinem Volk besungen wird. Hld 3,6–11 fügt diesem Bild einen messianischen Mosaikstein hinzu. Vor allem in der Zeit nach dem Exil, etwa ab dem 6. und 5. Jahrhundert v. Chr., entstanden in Israel unterschiedlich ausgerichtete Zukunftserwartungen. Die Rückführung aus dem Exil, die Sammlung der in der Diaspora Zerstreuten, die Einigung des gespaltenen Gottesvolkes, die Gabe eines neuen Herzens und eines neuen Geistes und die dadurch ermöglichte Umkehr, die Schaffung einer Gesellschaft, in der Gerechtigkeit herrscht, und die Ausbreitung eines universalen Friedens sind Aspekte und Elemente biblischer Zukunftserwartung. Kern all dieser Erwartungen ist die Erneuerung des Verhältnisses von Gott und Israel. Dabei wurde die Frage erörtert, welche Rolle einem Mittler bei der Herbeiführung dieser „neuen“ Wirklichkeit zukommt. Eine aus der Geschichte des Gottesvolkes bekannte Mittlergestalt war der König. Der König hat als ein von Gott Beauftragter dafür Sorge zu tragen, dass Recht, Gerechtigkeit und Friede im Gottesvolk herrschen. Dieser Welt eines umfassenden Friedens („Schalom“), so die Hoffnung, werden sich auf Dauer die übrigen Völker der Welt nicht verschließen. In Psalm 72 wird diese Vision in beeindruckender Weise mit König Salomo in Verbindung gebracht. Neben Psalm 127 ist Psalm 72 der einzige Psalm, der die Überschrift lischlomo trägt. Diese ist hier nicht, wie es die Einheitsübersetzung tut, mit „von Salomo“, sondern mit „für Salomo“ zu übersetzen. Denn am Ende des Psalms heißt es: „Ende der Gebete Davids, des Sohnes Isaïs“. Es handelt sich bei Psalm 72 um das Bittgebet des alten Königs David für seinen Sohn und Nachfolger Salomo. Nach dem hier entworfenen Modell soll Salomo sein Amt als König ausführen: „Er regiere dein Volk in Gerechtigkeit und deine Armen durch rechtes Urteil … Die Gerechtigkeit blühe auf in seinen Tagen und großer Friede, bis der Mond nicht mehr da ist … Alle Könige sollen ihm huldigen, alle Völker ihm dienen … Wie der Libanon blühe seine Frucht!“ Der von vielen Exegeten als rätselhaft angesehene Text Hld 3,6–11, der bei einem wörtlichen Verständnis keinen rechten Sinn ergibt, lüftet sein Geheimnis, wenn wir ihn im Lichte der hier genannten Erwartungen und insbesondere seiner Anspielungen auf Psalm 72 104
und Psalm 45 lesen. Die zahlreichen sprachlichen und motivischen Verbindungen können hier nicht in allen Einzelheiten angeführt werden. Sie sind umso einschlägiger, da die Überschrift von Psalm 72 „für Salomo“ und sein messianisches Verständnis aus jener Zeit stammen dürften, da auch das Hohelied entstanden ist. Bemerkenswert sind zudem seine engen Bezüge zur Salomo-Überlieferung von 1 Kön 3–10. Auffallend an unserem Text ist zunächst das Verbum „heraufziehen“: „Wer ist diese, die da heraufzieht aus der Wüste?“ Das Verbum „heraufziehen“ ist der Begriff schlechthin für die Heimkehr Israels in das Land der Verheißung (Esra 1,3). In Bar 5,6 werden die „Kinder Jerusalems“ in einer königlichen Sänfte aus dem Exil durch die Wüste heim zu ihrer Mutter geführt: „Denn zu Fuß zogen sie fort von dir, weggetrieben von Feinden; Gott aber bringt sie heim zu dir, ehrenvoll getragen wie in einer königlichen Sänfte (thronon basileias).“ Die „Säulen aus Rauch“ vergegenwärtigen die geheimnisvolle Gegenwart Gottes bei seinem Volk, wie sie beim Exodus erfahren und für den zweiten Exodus angekündigt wurde (Jes 52,12). Der aus Saba stammende Weihrauch (Jer 6,20) gehört zusammen mit der Myrrhe zu den begehrtesten Aromata der Antike, er war wesentlicher Bestandteil des Tempelkultes (Ex 30,34) und durfte nicht zu profanen Zwecken verwendet werden (Ex 30,38). Wallfahrer konnten ihn zum Tempel mitbringen (Jer 17,26; 41,5). Weihrauch, Gold und Silber sind die Gaben, die die Völker nach Jerusalem bringen, wenn über der Stadt die Herrlichkeit des Herrn aufgeht (Jes 60,1–6). Mit dem Namen Salomo verbindet sich schon vom Klang des Wortes her die Vorstellung eines umfassenden Friedens („Schalom“), das Kennzeichen der zukünftigen Welt (Jes 9,5f; 60,17). In Hld 8,10 bezeichnet sich die Frau als eine, die in den Augen ihres Geliebten einen solchen Frieden gefunden hat, und in 7,1 trägt sie den sprechenden Namen Schulammit – die „Befriedete“.
Vor dem Schrecken der Nacht Wer in der Schilderung von Hld 3,6–10 einen Hochzeitszug sieht, stellt sich die Szene gewöhnlich so vor: In der Sänfte Salomos sitzt die Braut. Davon ist im Text zwar nicht ausdrücklich die Rede, es 105
wird aber meist stillschweigend vorausgesetzt. Diese wird in einem Festzug abgeholt. Könige und andere hochgestellte Herren holten ihre zukünftigen Frauen gewöhnlich nicht persönlich ab, sondern schickten ein Geleit, das die Braut in einem feierlichen Festzug zu ihnen brachte (vgl. 1 Makk 9,37; Gen 24). Die sechzig kampferprobten Helden, die die Sänfte Salomos begleiten, bilden ein solches Ehren- und Schutzgeleit (vgl. Ri 14,11). Sie sollen die Braut beschützen „vor dem Schrecken der Nacht“. Damit dürften Dämonen und andere böse Mächte gemeint sein, die der Braut oder dem Bräutigam schaden könnten. Das Buch Tobit erzählt, wie Sara, die Tochter Reguëls, in der Hochzeitsnacht nacheinander sieben Männer verliert. Ein Dämon, der die schöne Frau liebte, brachte jeden um, der ihr zu nahe kam (Tob 6,15). Erst dem jungen Tobias gelang es, mit einem Räucherwerk aus der Leber und dem Herz eines Fisches den Dämon in der Hochzeitsnacht zu vertreiben. Nach einem gemeinsamen Gebet schliefen die beiden miteinander. Alles ging gut, und der Vater der Braut konnte das Grab, das er vorsorglich bereits ausgehoben hatte, am anderen Tag wieder zuschütten (Tob 8). Der Vorstellung vieler Kulturen nach werden Braut und Bräutigam in der Hochzeitsnacht von allerlei Gefahren bedroht. In der Sexualität liegen Leben und Tod eng beieinander, vertraute Formen der Vernunft werden erschüttert, der Mensch wird über sich hinausgerissen in ein Land, das er noch nicht kennt. So ist es verständlich, dass Ängste auf brechen und Kulturen vielfältige Bräuche entwickelt haben, um junge Menschen vor dem „Schrecken der Nacht“ zu schützen (vgl. auch Ex 4,24–26). Recht ausführlich wird das Aussehen des Tragsessels beschrieben: „Seine Säulen hat er aus Silber gemacht, seine Lehnen aus Gold, seinen Sitz aus Purpur.“ Der Weg der Beschreibung verläuft von Außen nach Innen, wobei der Wert der beschriebenen Materialien zunimmt: Silber, Gold, Purpur. An vierter Stelle und damit als das Wertvollste von allem wird nun aber etwas benannt, das die Ebene der materiellen Dinge verlässt: „Sein Inneres ist ausgekleidet mit Liebe“. Damit ist das Thema des Hoheliedes benannt: Liebe. Die Aufzählung kann folglich auch so gelesen werden: Wertvoller als Silber, Gold und Purpur ist die Liebe. Die Beschreibung nimmt damit indirekt die emphatische Schlussaussage von Hld 8,7 vorweg: „Wenn 106
jemand die ganze Habe seines Hauses für die Liebe gäbe, man würde ihn nur verachten“ (vgl. Hld 8,7). Mit dem letzten Vers kommt die Öffentlichkeit in den Blick. Die Töchter Zions werden aufgefordert herauszukommen und „König Salomo mit der Krone zu sehen, mit der ihn seine Mutter gekrönt hat am Tage seiner Hochzeit, am Tage seiner Herzensfreude“. Offensichtlich wird der Hochzeitszug von den Töchtern der Stadt voll Bewunderung angeschaut. Die hier vorgestellte Deutung wäre eine Deutung „dem Wortsinne nach“ (secundum litteram). Allerdings enthält der Text einige Spannungen, die darauf hindeuten, dass gezielt eine zweite Bedeutungsebene mit eingespielt wird. Auch Vertreter des so genannten „natürlichen“ Verständnisses gestehen ein, dass sich auf der Ebene eines wörtlichen Verständnisses nicht alle Probleme des Textes lösen lassen. So gibt es im Alten Testament keinen Beleg dafür, dass eine Mutter ihren Sohn krönt. Auffallend ist zudem, dass die Hochzeit mit der Krönung des Königs zusammenfällt. Soll hier vielleicht doch noch etwas anderes mitgemeint sein?
Die königliche Hochzeit Das Hohelied spielt in vielfältiger Weise vor allem auf jene prophetischen Texte des Alten Testaments an, die von einer endzeitlichen Hochzeit zwischen Gott und seinem Volk künden. Hld 3,6–11 nimmt in diesem Zusammenhang insofern eine Sonderrolle ein, als nun der gottkönigliche Bräutigam durch Salomo repräsentiert wird. Der Text spiegelt somit innerhalb des Hoheliedes eine Spannung, die in den eschatologischen Texten des Alten Testaments selbst angelegt ist. Zwar ist Gott selbst derjenige, der die kommende Heilszeit herbeiführt, doch kann er dabei durch den von ihm erwählten König vertreten werden. Der König handelt an Gottes statt. Da schließlich Gott selbst als König (Ps 99) und der König als Sohn Gottes (Ps 2,7; 89,2; 110,3) oder sogar als Gott (Ps 45,7) bezeichnet werden, konnten hier die Bilder ineinander übergehen. Werden nun weitere Motive wie Hochzeit und Krönung eingespielt, dann wird der Text zu einem Rätsel- oder Vexierbild, von dem der Dichter Franz Kafka einmal gesagt hat: Es ist deutlich und unsichtbar zugleich. Deutlich für den, der ge107
funden hat, wonach zu schauen er aufgefordert war, unsichtbar für den, der gar nicht weiß, dass es da etwas zu suchen gibt. Solche Doppeldeutigkeiten begegnen im Alten Testament sehr häufig. Psalm 45 weist mit unserem Text viele Gemeinsamkeiten auf. Auch dort wird ein Hochzeitszug geschildert, der „in den Palast des Königs einzieht“ (Ps 45,16). Mit dem Palast des Königs kann sowohl der Königspalast als auch der JHWH-Tempel gemeint sein, je nachdem, was der Leser zuvor im Text gefunden hat. Zu Recht schreibt Erich Zenger: Falls es in Ps 45 um die Vermählung Zions mit dem messianischen König geht, wofür Vers 3 spricht, ist mit dem Palast der Königspalast gemeint. Falls aber, wofür ebenfalls einiges spricht, an die Vermählung Zions mit JHWH selbst zu denken ist, dann bezeichnet „Palast des Königs“ den JHWH-Tempel (vgl. Erich Zenger [Frank-Lothar Hossfeld], Die Psalmen. Psalm 1–50, NEB, Würzburg 1993, 283). Alfons Deissler weist ausdrücklich auf die Verbindungen zwischen Psalm 45 und dem Hohelied hin: „Ps 45 ist theologisch höchst bedeutsam. Wird in ihm doch nicht nur wie in anderen messianischen Texten das Königtum Jahwes auf den Heilbringer übertragen, sondern er erhält auch die Funktion, Jahwe als endzeitlichen Gemahl des Gottesvolkes zu vertreten, also die Verheißung von Os 2,21: ‚Auf ewig traue ich dich mir an!‘ in ihre messianische Erfüllung zu bringen. Hier ist aus dem Bräutigam des Hohenliedes unzweideutig der Messiasbräutigam geworden … Die altkirchliche Deutung von Ps 45 auf Jesus den Christus und seine Kirche – sie beruht auf Hebr 1,8f – ist also keine ‚anpassende‘, sondern eine authentische Auslegung. Ohne Bruch verlängert sich die Linie des Psalms in die Bräutigam-Braut-Texte des NT hinein: Mt 9,15; Jo 3,29; Eph 5,22ff; Apk 21,2; 22,17“ (Alfons Deissler, Die Psalmen, Düsseldorf 1964, 21979, 187). Ziehen wir nun für den, „der gefunden hat“, ein Resümee, so ergibt sich für Hld 3,6–11 folgendes Bild: Der in Vers 6 beschriebene Zug durch die Wüste erinnert an die Heimkehr der Verbannten zum Zion. Die Säulen aus Rauch rufen zugleich den Exodus in Erinnerung, bei dem die Lade JHWHs mitgeführt wurde. So scheint in diesem von Weihrauch und Myrrhe umräucherten Zug Gott selbst gegenwärtig zu sein und zum Zion zurückzukehren: „Wie willkommen sind auf den Bergen die Schritte des Freudenboten, der Frieden (Schalom) verkündet, der eine frohe Botschaft bringt und Rettung 108
verheißt, der zu Zion sagt: Dein Gott ist König. Horch, deine Wächter erheben die Stimme, sie beginnen alle zu jubeln. Denn sie sehen mit eigenen Augen, wie JHWH nach Zion zurückkehrt“ (Jes 52,7f). In den Versen 7 und 8 kommt Salomo in den Blick, begleitet von einem Ehren- und Schutzgeleit. Auffallend ist, dass in Vers 9 ein anderes Wort für die Sänfte gebraucht wird als in Vers 7. Ihre ausführliche Beschreibung erinnert an den Thron Salomos, den sich dieser aus Elfenbein und Gold anfertigen ließ (1 Kön 10,18–20). In Vers 11 besteigt der König seinen Thron und die Töchter Zions huldigen ihm. Dieser Tag ist zugleich der Tag seiner Hochzeit, der „Tag seiner Herzensfreude“. Damit nimmt Salomo als der endzeitliche König des Friedens (Schalom; vgl. Ps 72) die Rolle des göttlichen Bräutigams ein. In 1 Chr 29,23 setzt sich Salomo „als König auf den Thron JHWHs“. „Wie der junge Mann sich mit der Jungfrau vermählt, so vermählt sich mit dir dein Erbauer. Wie der Bräutigam sich freut über die Braut, so freut sich dein Gott über dich“ (Jes 62,5; vgl. 61,10).
Schön bist du, meine Freundin (4,1–7) 4,1 2 3 4
Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist schön! Deine Augen sind Tauben, durch deinen Schleier hindurch. Dein Haar ist wie eine Herde von Ziegen, die herabgleiten vom Gebirge Gilead. Deine Zähne sind wie eine Herde von Schafen, die aus der Schwemme heraufsteigen, die alle Zwillinge haben, der Kinder beraubt ist keines von ihnen. Wie eine scharlachrote Kordel sind deine Lippen, und dein Mund ist reizend. Wie ein Spalt im Granatapfel sind deine Wangen, durch deinen Schleier hindurch. Wie der Turm Davids ist dein Hals, gebaut in Schichten, tausend Schilde sind daran aufgehängt, alle Köcher der Helden.
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Deine beiden Brüste sind wie zwei Kitze, Zwillinge einer Gazelle, die unter Lotusblumen weiden. Bis der Tag verweht und die Schatten weichen, gehe ich zum Myrrhenberg und zum Weihrauchhügel. Ganz schön bist du, meine Freundin, kein Makel ist an Dir.
Das vorangehende Lied Hld 3,6–11 erweckte den Eindruck, dass sich Braut und Bräutigam aufeinander zubewegen. Nun scheint der Mann seiner Freundin ansichtig zu werden. Im zweiten Unterabschnitt (4,1–5,1) des ersten Teils (2,8–5,1) spricht vor allem der Mann. Er ist von der Schönheit seiner Freundin überwältigt. Die Aussage „schön bist du, meine Freundin“ rahmt das kunstvoll gestaltete Gedicht in Vers 1 und Vers 7. Lieder, in denen die Schönheit und die körperlichen Vorzüge von Braut und Bräutigam beschrieben werden, finden sich auch in der altorientalischen, der altägyptischen und der griechisch-hellenistischen Dichtung. In Mesopotamien wird die Gattung der Beschreibungslieder vor allem zur Schilderung von Göttinnen eingesetzt. Im Alten Testament gehört die Beschreibung des Standbildes des („Gott“-)Königs Nebukadnezzar (Dan 2,31–33) und des Mannes in leinenen Kleidern im Buch Daniel (10,5f) ebenso zu dieser Gattung wie die Beschreibung der allegorisch verstandenen Figur Jerusalem im Buch Ezechiel (16,10–12). Mit der Schilderung des Geliebten in 5,10–16 und der Frau in 6,4–7 und 7,2–7 finden sich im Hohelied weitere Beschreibungslieder. In einer jüdischen mystischen Schrift aus dem ersten Jahrhundert nach Christus wird die Gestalt Gottes mit Worten aus dem Hld 5,10–16 beschrieben. Es handelt sich dabei um eine sehr frühe mystisch-allegorische Auslegung der Verse. Die Beschreibungslieder sind reich an Metaphern. Vergleicht man die Beschreibungen des Mannes mit denjenigen der Frau, so fällt auf, dass die männlichen Körperteile mit Metallen, Stein und Holz verglichen werden. Die Frau hingegen wird hauptsächlich mit Bildern aus der Tier- und Pflanzenwelt (Tauben, Ziegen, Schafe, Ga110
zellen, Granatapfel, Lilien) beschrieben. Eine Ausnahme bildet in unserem Lied nur der Hals der Geliebten, der hier mit Turm und Schild verglichen wird. Die Aufzählung der Körperteile erfolgt von oben nach unten, vom Kopf bis zu den Brüsten: Augen, Haar, Zähne, Lippen, Wangen, Hals und Brüste der Geliebten werden genannt. Die Beschreibung wirkt durch die Vergleiche mit Tieren und Pflanzen und die gezeichneten Bewegungen sehr lebendig: „Eine Herde Ziegen gleitet vom Gebirge Gilead herab und eine Schafherde steigt aus der Schwemme empor.“ Die anmutigen Bilder zielen nicht in erster Linie auf die äußere Form der Körperteile, sondern auf die Wirkung, die von ihnen ausgeht. Tatsächlich verfehlen sie ihre Wirkung nicht. Im Angesichte dieser Schönheit bekundet der Geliebte: „Bis der Tag verweht und die Schatten weichen, gehe ich zum Myrrhenberg und zum Weihrauchhügel.“ Die Lippen und die Wangen der Geliebten erblickt der Mann „durch ihren Schleier hindurch“ (4,1.3). Es handelt sich hierbei sehr wahrscheinlich um einen Gesichtsschleier. In vielen antiken Kulturen – und nicht nur in ihnen – wahrt der Schleier die Würde und das Ansehen der Frau (vgl. Gen 24,65). Mit der gewaltsamen Entschleierung einer Frau wird diese bloßgestellt und entehrt. Im Gerichtswort über die Tochter Babel heißt es: „Steig herab, Tochter Babel. Jungfrau, setz dich in den Staub! … Weg mit dem Schleier! … Deine Scham wird entblößt, man sieht deine Schande“ (Jes 47,1–5). Der Entehrung der Tochter Babel wird im Buch Jesaja die Erhebung der Tochter Zion zur Braut des göttlichen Bräutigams entgegenngestellt (Jes 52,1–12). So ist der Gesichtsschleier in unserem Text ein Zeichen der Ehre. Zur erotischen Begegnung in der Liebe gehört gewöhnlich das Spiel von Verhüllung und Enthüllung. Es erregt die Aufmerksamkeit und steigert das Verlangen. Eine krasse, „unverhüllte“ Darbietung des menschlichen Körpers wird in vielen Kulturen als abstoßend erachtet. Das lateinische Wort für „Offenbarung“ ist re-velatio. Darin steckt das Wort velum beziehungsweise velamen, das mit „Umhang, Schleier“ zu übersetzen ist. Re-velatio heißt wörtlich übersetzt: „Entschleierung“. Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes ist nach biblischem Verständnis Ausdruck der Liebe. Sie zielt auf die liebende Vereinigung von Braut und Bräutigam (unio mystica). Wie in der lie111
benden Begegnung von Mann und Frau teilt Gott sich selbst – und nicht nur etwas über sich – mit. Aus den Augen der Geliebten spricht das Verlangen nach Liebe. Das meint die Aussage, die bereits in Hld 1,15 vorkam: „Deine Augen sind Tauben.“ Die Haare der Geliebten werden mit einer Herde von Ziegen verglichen, die vom Gebirge Gilead herabsteigen. Hier ist sicherlich an schwarze Ziegen gedacht. Ihre Bewegungen am Berghang gleichen dem Spiel schwarzer Locken bei jeder anmutigen Bewegung des Kopfes. Einen Kontrast zu den schwarzen, wallenden Haaren, bilden die weißen Zähne der Geliebten. Sie werden mit einer Herde von Schafen verglichen, die aus dem reinigenden Bad heraufsteigen. Vor der Schur wurden die Schafe gewaschen, so dass die Wolle möglichst rein wird (vgl. Jes 1,18). Der Gegensatz von „herabsteigen“ und „heraufsteigen“, von schwarz und weiß macht den poetischen Reiz der beiden Verse aus. Die Zähne der Geliebten sind weiß und symmetrisch angeordnet. Das ist mit der Aussage gemeint: „Deine Zähne sind wie eine Herde von Schafen, die aus der Schwemme heraufsteigen, die alle Zwillinge haben, der Kinder beraubt ist keines von ihnen.“ Eine lückenlose, strahlend-weiße Zahnreihe ist von Natur aus alles andere als selbstverständlich (vgl. Gen 49,12). In modernen Kulturen, in denen beinahe jedes Kind eine Zahnspange bekommt, wenn sich auch nur kleine Unregelmäßigkeiten in der Entwicklung des Gebisses andeuten, in denen Kinder schon im Kindergarten lernen, täglich ihre Zähne zu putzen und in der Erwachsene durch Zahnaufhellungen (Bleaching) ihren Zähnen einen strahlenden Glanz verleihen, geht die Empfänglichkeit für die seltene Schönheit eines von Natur aus vollständigen Gebisses mit strahlend-weißen und symmetrisch angeordneten Zähnen weitgehend verloren. Auf den ersten Blick wird hier in einem durchaus konkret zu verstehenden Sinn die Schönheit der Geliebten gepriesen. Die Bilder und Vergleiche entstammen der Lebenswelt Israels. Schaut man genauer hin und achtet man auf einige selten gebrauchte Worte, so fällt erneut auf, dass mit diesem Text offensichtlich gezielt auf markante Szenen aus der Ursprungsgeschichte Israels angespielt wird. Das Gebirge Gilead und die eigenartige auf eine Schafherde bezogene Aussage: „der Kinder beraubt ist keines von ihnen“ erinnern an die Flucht Jakobs vor seinem Schwiegervater Laban (Gen 31). Nach112
dem Jakob zwanzig Jahre seinem Schwiegervater gedient hat, fasst er den heimlichen Entschluss, aus dem Osten aufzubrechen und in das Land der Verheißung zurückzukehren. Im Gebirge Gilead wird er auf der Flucht von Laban eingeholt. Nach einem längeren Konfliktgespräch kommt es schließlich zu einer Einigung. Jakob zieht vom Gebirge Gilead aus weiter in das Land der Verheißung. Ihm steht die Begegnung und Aussöhnung mit seinem Zwillingsbruder Esau bevor. Nach den schwarzen Haaren und den weißen Zähnen kommen nun die roten Lippen der Geliebten in den Blick. Sie werden mit einer purpurroten Schnur verglichen (Vers 3). Die erotische Ausstrahlung roter Lippen ist ein kulturübergreifendes Phänomen. Schon bei den Sumerern und im Alten Ägypten haben Frauen ihre Lippen rot geschminkt. Zweimal begegnet im Alten Testament eine purpurrote Schnur in einem erotisch-sexuellen Zusammenhang (vgl. auch Ri 16,12; Koh 4,12): Die Hure Rahab in Jericho soll auf den Rat der beiden Kundschafter hin eine purpurrote Schnur an ihr Fenster binden, um ihr Haus bei der Einnahme der Stadt vor der Zerstörung zu verschonen (Jos 2,18). Im Buch Genesis wird erzählt, dass Tamar, als Hure verkleidet, von ihrem Schwiegervater Juda schwanger wird. Sie gebiert die Zwillinge Perez und Serach: „Bei der Geburt streckte einer die Hand heraus. Die Hebamme griff zu, band eine purpurrote (Schnur – so ist wohl zu ergänzen) um die Hand und sagte: Er ist zuerst herausgekommen. Er zog aber seine Hand wieder zurück und heraus kam sein Bruder“ (38,28f). Die purpurrote Farbe findet sich auch auf dem Vorhang vor dem Allerheiligsten und auf den Gewändern der Priester (Ex 28,5–8). Von einer Schnur ist auch im Zusammenhang mit den zwei bronzenen Säulen am Eingang des salomonischen Tempels die Rede (1 Kön 7,15; Jer 52,21). Nach den Lippen wird der Mund der Geliebten gepriesen. Das dabei verwendete Wort midbar kommt im Alten Testament in dieser Bedeutung nur hier vor. Es hängt mit dabar in der Bedeutung „Wort, Rede“ zusammen. Einige übersetzen deshalb auch: „Deine Rede ist reizend“. Demnach scheinen nicht nur das Aussehen der Geliebten, sondern auch ihre anmutigen Worte den Geliebten tief zu beeindrucken. Erneut regt die eigenartige Wortwahl zu weiterem Nachdenken an. Denn das Wort midbar ist im Alten Testament die gewöhnliche Bezeichnung für „Wüste“. In den Überschriften einiger Bücher 113
des Pentateuch, die von der Liebesgeschichte Gottes mit seinem Volk erzählen (vgl. Hos 2,16), wird mit den Begriffen „Wüste“ und „Worte“ gespielt. So zum Beispiel in Dtn 1,1: „Das sind die Worte (debarim), die Mose sprach (dibär) vor ganz Israel jenseits des Jordan in der Wüste (midbar).“ Ähnlich heißt es im Buch Numeri (1,1): „Und JHWH sprach (wajedaber) zu Mose in der Wüste (midbar).“ Der Granatapfel ist eine der am häufigsten genannten Früchte im Hohelied (4,13; 6,11; 7,13; 8,2). Er ist eine typische Frucht des Landes, die neben Trauben und Feigen bereits von den Kundschaftern mitgebracht wird (Num 13,23; Dtn 8,8). Ihm sprach man im Alten Orient eine die Liebesempfindungen und die Fruchtbarkeit steigernde Wirkung zu. Ob an unserer Stelle die Wangen der Geliebten oder ihr Gaumen beziehungsweise ihr offener Mund mit dem „Spalt im Granatapfel“ verglichen werden, ist umstritten. Einer der Vergleichspunkte dürfte erneut Rot, die Farbe der Liebe sein. Der Granatapfel findet sich als Schmuck auch an den Gewändern der Priester und an den Kapitellen der zwei bronzenen Säulen am Jerusalemer Tempel (vgl. Ex 28,33f; 1 Kön 7,18–20). Die Vergleichsspender in unserem Beschreibungslied sind typisch für das Land Israel. Sie sind aber auch im Zusammenhang mit dem Tempel und dem Kult anzutreffen. Die Schönheit der Geliebten gleicht der Schönheit, der Fruchtbarkeit und der Vitalität des Landes, seiner Flora und Fauna. Mit ihm will sich JHWH vermählen, so die Zusage, die im Buch des Propheten Jesaja gegeben wird: „Nicht länger nennt man dich ‚Die Verlassene‘, und dein Land nicht mehr ‚Das Ödland‘, sondern man nennt dich ‚Mein Wonne‘ und dein Land ‚Die Vermählte‘. Denn JHWH hat an dir seine Freude, und dein Land wird mit ihm vermählt“ (Jes 62,4). Rückten die bisherigen Vergleiche aus der Natur vor allem die anziehende Wirkung der Geliebten in den Vordergrund (4,1–3), so hebt der nun folgende Vergleich aus der Kultur und der Welt des Militärs die Wehrhaftigkeit und das stolze Selbstbewusstsein der Geliebten hervor: „Wie der Turm Davids ist dein Hals, befestigt mit einer Mauerkrone, tausend Schilde sind daran aufgehängt, alle Köcher der Helden“ (4,4). Erneut ist der Vergleichspunkt nicht die äußere Form, sondern die Wirkung und Funktion, die mit einem Turm in der Lebenswelt Israels in Verbindung gebracht werden. Türme und 114
Mauern verleihen einer Stadt Sicherheit und schützen sie vor unerwünschten Eindringlingen (vgl. Ez 27,11). Mit diesem Vergleich wird etwas Wesentliches über die Geliebte und die Liebe gesagt. Zum Wesen der Liebe gehört die Selbsthingabe. Vor allem dieser Aspekt kommt im Hohelied in vielen Bildern zum Ausdruck. Doch wenn das Selbst nicht ausgebildet, wenn es sich seiner nicht bewusst ist und sich nicht abgrenzen kann, dann kann es sich auch nicht hingeben. Sehr oft wird unter dem Deckmantel der Liebe eine Hingabe vorgetäuscht, die in Wahrheit ein nicht vorhandenes oder nur schwach ausgebildetes Selbstbewusstsein überspielt. Diese Vorgänge sind den Betroffenen gewöhnlich nicht bewusst. Sie werden sogar in vielen sich modern gebärdenden Kulturen unter dem verlockenden Schlagwort einer „selbstbestimmten Liebe“ medial verstärkt, wo doch dieses Selbst, das sich bestimmen könnte, mehr Wunsch als Wirklichkeit ist. Eine solche Liebe hat auf Dauer keinen Bestand. Und gewöhnlich kommt es nach einer Zeit neurotisch geprägter Zweisamkeit zu einem bösen Erwachen, das wiederum sein Gutes hat, wenn die Schleier der Täuschungen fallen und ein Weg der Umkehr eingeschlagen wird. Wenn der Hals der Geliebten hier mit einem wehrhaften Turm verglichen wird, dann wird damit genau dieser oft übersehene Aspekt der Liebe in ein anschauliches Bild gefasst. Die Geliebte ist bereit und in der Lage, jeden, den sie nicht hereinlassen möchte, abzuwehren. Sie ist eine Frau, die sich gegenüber unerwünschten Eindringlingen verteidigen kann. Die tausend Schilde an der Mauerkrone und die „Köcher der Helden“ sind weithin sichtbare Zeichen ihres Selbstbewusstseins und sprechen eine Sprache, die nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig lässt. Mit anderen Worten: Die Geliebte kann nur erobert werden, wenn sie sich erobern lassen will. Ihre Hingabe an den Geliebten ist nicht Folge einer Ich-Schwäche, sondern Ausdruck einer bewussten und freien Entscheidung. In der Beschreibung wandert der Blick nun vom Hals zu den Brüsten der Geliebten (4,5). Sie werden mit zwei Kitzen, den Zwillingen einer Gazelle verglichen, die unter Lotusblumen weiden. In der altorientalischen Lebenswelt wecken weibliche Brüste neben ihrer erotischen Ausstrahlung (Ez 16,7; 23,3; Spr 5,18f) vor allem Vorstellungen von Fruchtbarkeit, Nahrung und Geborgenheit. Vor seinem Tod 115
spricht Jakob seinem Sohn und dessen Nachkommenschaft den „Segen von Brust und Schoß“ zu (Gen 49,25). Die Frau erscheint hier dem Geliebten wie das verheißene Land, in das er nun einziehen möchte. Wie viele vorangehende Lieder so wird auch unser Text durchsichtig hin auf die Geschichte und das Land Israel. Der Turm Davids, mit dem der Hals der Geliebten verglichen wird, lässt an Jerusalem, die Stadt Davids denken, die für die Feinde uneinnehmbar ist (Ps 46; 48; 122). Städte konnten in der altorientalischen Bildwelt als Frauen mit einer Mauerkrone dargestellt werden. Die Köcher der Helden erinnern an die Elitetruppe Davids (2 Sam 23,8). Die Bezeichnung „Myrrhenberg“ dürfte eine Anspielung auf den Tempelberg, den Berg Morija sein, wo Gott dem Abraham einst erschienen ist und wo dieser ihm ein Opfer dargebracht hat (Gen 22; 2 Chr 3,1). Dort, wo Gott sich hat sehen lassen, möchte er nun erneut seiner Geliebten begegnen. Unser Text schließt mit dem Satz: „Ganz schön bist du, meine Freundin, kein Makel ist an Dir.“ Der Ausdruck „kein Makel“ begegnet vor allem im Zusammenhang mit dem Kult. Die Priester, die sich Gott nähern, und das Opfer, das sie der Gottheit darbringen, müssen „ohne Makel“ sein (vgl. Lev 21,16–23; Dtn 15,21). Gott nimmt nur ein makelloses Opfer an. Die Mystikerinnen und Mystiker aller Zeiten wussten um den Weg der Reinigung (via purgativa), der zur liebenden Vereinigung mit dem göttlichen Bräutigam führt. Gott selbst hat Verlangen danach: „Bis der Tag verweht und die Schatten weichen, gehe ich zum Myrrhenberg und zum Weihrauchhügel.“
Der Blick (4,8–9) 4,8 9
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Mit mir vom Libanon, Braut, mit mir vom Libanon komm! Schau herab vom Gipfel des Amana, vom Gipfel des Senir und des Hermon, von den Lagerstätten der Löwen, von den Bergen der Panther. Du machst mich verrückt, meine Schwester Braut, du machst mich verrückt mit einem deiner Blicke, mit einer Perle deiner Halskette.
Den zwei Liedern der Frau in Hld 2,8–17 und Hld 3,1–5 entsprechen die zwei Lieder des Mannes in Hld 4,1–7 und 4,8–5,1. Mit dem zweiten Lied des Mannes gelangen wir in die Mitte des Hoheliedes (5,1). Der Weg führt von der Trennung zur Vereinigung der Liebenden. An dieser Stelle wendet sich der Dichter direkt an sein Publikum und an die Liebenden (5,1): „Esst, Freunde, trinkt, berauscht euch, ihr Liebenden!“ Mit Hld 5,2 beginnt der zweite Teil des Buches. Er beschreibt erneut eine Bewegung von der Trennung zur Vereinigung. Der Treppenparallelismus des Liedes ahmt sprachlich das ersehnte Herabsteigen der Braut vom Gebirge des Libanon nach. Doch wie hat man sich die Szene vorzustellen? Ist der Mann bereits bei ihr, wenn sie mit ihm vom Libanon herabsteigen soll? Die Geliebte jedenfalls befindet sich im schwer zugänglichen Hochgebirge des Libanon. Ihr Aufenthaltsort wird als eine unwirtliche Gegend gezeichnet, wo Löwen und Panther zu Hause sind. Mehrfach wird im Hohelied mit unterschiedlichen Bildern die Unerreichbarkeit der Geliebten beschrieben: Sie ist wie eine Taube „in den Felsklüften, im Versteck der Klippe“ (2,14), sie steigt herauf aus der Wüste (3,6–11), ihr Hals ist wie der Turm Davids (4,4). An unserer Stelle kommt das Motiv der dea prospiciens hinzu: das Bild der Göttin, die liebevoll aus der Höhe auf die Erdenkinder herabschaut (vgl. 6,10). Das Motiv fand Eingang in die christliche Marienfrömmigkeit. Berge sind im Alten wie im Neuen Testament Orte der Theophanie (Ex 19; 1 Kön 19; Mt 17). Dort kommt die Gottheit dem Menschen nahe, wenn er den Niederungen des Irdischen entsteigt. Das Buch des Propheten Ezechiel greift den Mythos vom Libanon als dem Wohnsitz der Götter auf (Ez 31). So wird die Frau hier in eine mythisch-göttliche Aura getaucht. Löwen und Panther symbolisieren die wilde und bisweilen auch gefährliche Seite der Liebe. Angesichts einer derart numinosen Erscheinung wird der Mann verrückt. In dem Verb lebab steckt das Wort für „Herz“ (leb). Das Herz ist im Alten Testament nicht in erster Linie der Ort des Fühlens, sondern des Denkens. Die Geliebte raubt ihrem Geliebten das Herz, das heißt den Verstand. Sinngemäß entspricht die Aussage dem, was die Frau an früherer Stelle von sich gesagt hat: „Ich bin krank vor Liebe“ (2,5). In Hld 3,11 wurde der Tag der Hochzeit als der „Tag der Herzensfreude“ bezeichnet. Hier nun bewirkt die Frau, 117
dass der Mann sein Herz verliert. Beides gehört offensichtlich zur Liebe: das Aus-sich-Herausgehen, der Exodus, die Trennung und das Ankommen, das Einswerden (vgl. Gen 2,24). Diese Spannung findet sich auch in der paradox klingenden Anrede: „meine Schwester Braut“. Als Braut gehört die Frau nicht zur Familie des Mannes. Doch wird sie durch die Liebe auf das Engste mit ihm verbunden, wie Geschwister miteinander verbunden sind: „Bein von meinem Bein, Fleisch von meinem Fleisch“ (Gen 2,23). So kann die Braut, die zur Ehefrau wird, auch „Schwester“ genannt werden (vgl. Tob 7,12.15; Gen 12,13). Verrückt gemacht wird der Mann nicht nur durch den Blick der Geliebten, sondern auch durch eine „Perle deiner Halskette“. Der Schmuck einer Frau übt in vielen Kulturen eine starke erotische Wirkung aus (vgl. Hld 1,10; 4,4). Auf dem im Alten Orient häufig anzutreffenden Bild der nackten Göttin wird diese gewöhnlich mit Schmuck dargestellt. Auch in unserem Text klingt eine weitere Bedeutungsebene mit an. Die Feinde, die das Land Israel verwüstet und das Volk ins Exil geführt haben, werden oft als Raubtiere wie Löwen, Panther, Leoparden und Bären bezeichnet (Jer 4,7; 5,6; 50,17; 51,38; Nah 2,12– 14). Hos 13,7 spricht sogar davon, dass JHWH selbst für Israel zu einem Löwen und zu einem Panther geworden ist, der am Weg lauert (hier steht bezeichnenderweise das gleiche Verb wie in Hld 4,8). Doch jetzt hat sich die Situation vollständig gewandelt. Zwar weilt die Braut noch im Gebiet der Löwen und Panther, doch sie schaut schon vom Gipfel des Libanon herab auf das Land der Verheißung wie einst Mose vom Berg Nebo aus (Dtn 32,49; 34,1–4). Sie jedoch wird – im Unterschied zu Mose – von ihrem Geliebten eingeladen und aufgefordert, mit ihm herabzukommen. Er, der in gewisser Weise schon bei ihr ist und sie liebt (vgl. Jes 41,10; 43,4f; Ez 11,16), will sie nun heimführen wie ein Bräutigam seine festlich geschmückte Braut (Hos 2,21f; Jes 49,18; 61,10; 62,5).
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Sinnliche Wahrnehmung (4,10–11) 4,10 11
Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester Braut, wie viel besser ist deine Liebe als Wein und der Duft deiner Salben als alle Balsamdüfte. Honigseim tropft von deinen Lippen, Braut, Honig und Milch sind unter deiner Zunge, und der Duft deiner Kleider ist wie der Duft des Libanon.
Ging es in den vorangehenden Versen um das Sehen (4,8f), so werden in dem hier auszulegenden Text der Geschmacks- und der Geruchssinn angesprochen. Beide Sinne hängen eng miteinander zusammen. Die Verse spielen auf die Eingangsworte des Hoheliedes an: „Er küsse mich mit Küssen seines Mundes! Ja, deine Liebkosungen sind süßer als Wein.“ Zwar kommt das Wort „Kuss“ in unserem Text nicht vor. Doch es ist deutlich: Lippen und Zunge, das Tropfen von Honig, der Geschmack von Wein und Milch verweisen auf das intensive Verkosten des Küssens. Zu Beginn des Hoheliedes sehnte sich die Frau nach dem Kuss ihres königlichen Geliebten. In unserem Text antwortet der Mann, der vom Kuss seiner Geliebten überwältigt ist. Erneut zeigt sich: Die Liebe der Liebenden ist eine wechselseitige Liebe. Beim Fließen von Milch und Honig denkt jeder, der die Bibel kennt, an das verheißene Land, „in dem Milch und Honig fließen“ (Ex 3,8; Lev 20,24; Dtn 6,3). So legt auch dieser Text nahe, dass mit der Geliebten und ihren geradezu paradiesischen Vorzügen auf das verheißene Land angespielt wird. Mit dem Motiv des Gartens, von dem das folgende Lied spricht (4,12–15), wird dieser Bezug weiter entfaltet. Auch mit dem „Duft deiner Kleider“ wird auf feinsinnige Weise an das verheißene Land und an den Segen erinnert, unter dem Jakob / Israel steht. In der Erzählung, in der Jakob sich den Segen seines Vaters Isaak erschleicht, heißt es: „Nun sagte sein Vater Isaak zu ihm: Komm näher, und küss mich, mein Sohn! Er trat näher und küsste ihn. Isaak roch den Duft seiner Kleidung, er segnete ihn und sprach: Siehe, der Duft meines Sohnes ist wie der Duft des Feldes, das JHWH gesegnet hat. Gott gebe dir vom Tau des Himmels und vom Tau der Erde / des Landes“ (Gen 27,26–28). 119
Ähnlich verweist der „Duft des Libanon“ am Ende von Vers 11 auf das verheißene Land und die Wiederherstellung Israels. In unserem Text finden sich auffallende Anspielungen auf das Buch des Propheten Hosea. Dort geht es um die Erneuerung der Liebe Gottes zu seinem Volk. Sie zeigt sich im Wiederauf blühen des Landes. Am Ende des Buches Hosea sagt Gott: „Ich will ihre Untreue heilen und sie aus lauter Großmut wieder lieben. Denn mein Zorn hat sich von Israel abgewandt. Ich werde für Israel da sein wie der Tau, damit es auf blüht wie eine Lilie und Wurzeln schlägt wie der Libanon. Seine Zweige sollen sich ausbreiten, seine Pracht soll der Pracht des Ölbaums gleichen und sein Duft dem Duft des Libanon. Sie werden wieder in meinem Schatten wohnen, sie bauen Getreide an und gedeihen wie die Reben, deren Wein so berühmt ist wie der Wein des Libanon“ (Hos 14,5–8). Im Hohelied spielen sinnliche Wahrnehmungen eine bedeutende Rolle. Die christliche Tradition kennt körperliche und geistige Sinne. Den zwei Seiten der Sinnlichkeit entsprechen die zwei Schriftsinne. Dem inneren Raum des Wortes entspricht der innere Raum der Wahrnehmung. Beide sind wechselseitig aufeinander bezogen. So geht es der geistigen Auslegung des Hoheliedes nicht um eine Verachtung der Sinnlichkeit, sondern um ihre Reinigung und Vertiefung. Nun lautet ein bekannter und verbreiteter Vorwurf, dass das allegorisch-geistige Verständnis des Hoheliedes genau diese Einsicht unterlaufe. Die im Hintergrund stehende Anthropologie der Kirchenväter sei sinnenfeindlich und letztlich menschenfeindlich. Dass dieser Vorwurf nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, soll hier nicht bestritten werden. Es scheint mir allerdings an der Zeit zu sein, einmal genauer hinzuschauen und zu fragen, wie die Verwerfung der Sinnlichkeit bei den Kirchenvätern und insbesondere in der christlichen Mystik eigentlich gemeint ist. Bei der Verwerfung der Sinnlichkeit, von der wir in den Texten vieler Kirchenlehrer und Mystiker lesen, geht es nicht um die Verwerfung der Sinnlichkeit an sich, sondern um die Verwerfung einer oberflächlichen Form der Sinnlichkeit. Im Hintergrund steht die Lehre von der Ur-Sünde. Durch die Abwendung von Gott ist die Wahrnehmung des Menschen verschattet. Sie ist zwar nicht vollkommen zerstört, 120
aber doch abgestumpft. Wenn die Transparenz sinnlicher Erfahrung auf das Göttliche hin verlorengeht, wenn die Sinnlichkeit zu einer in sich verschlossenen Welt wird, bleibt das Verlangen der Seele ungestillt. Ein solcher Mensch benötigt immer mehr und wird doch nie wirklich satt. Nicht selten verfällt er der Ausschweifung und der Sucht, die sehr unterschiedliche Formen annehmen kann. Deshalb bringt die Bibel zu Recht sinnliche Ausschweifungen mit Gottlosigkeit in Verbindung. Im Epheserbrief (Eph 4,17–19) und an vielen anderen Stellen der Bibel wird dieser Prozess anschaulich beschrieben Diese Form der Sinnlichkeit ist zu verwerfen. Sie muss „gelassen“ werden. Das ist der Sinn der Askese. Sinnliche Genüsse wie Essen und Sexualität werden reduziert oder (vorübergehend) ganz eingestellt, um zu einer tieferen Form der Wahrnehmung zu gelangen. Vor den großen Festen wird gefastet, um die Sinne zu reinigen und aufnahmebereit zu machen für das, was an diesen Tagen geschieht. Der Mensch besitzt nicht nur körperliche, sondern auch geistige Sinne. Wie die körperlichen Sinne so können auch die geistigen Sinne abstumpfen und absterben. Deshalb bedarf der Mensch einer regelmäßigen und methodisch angelegten Übung („Askese“ heißt „Übung“), um seine geistigen Sinne zu schulen. Der bedeutende Theologe des frühen Christentums Origenes (185–ca. 254) hat in der Lehre von den geistigen Sinnen diese Zusammenhänge entfaltet. Eine bedeutende Rolle spielen dabei die Ausdrücke sinnlicher Wahrnehmung aus dem Hohelied. Der junge Karl Rahner hat die Thematik in einem seiner frühen Aufsätze für unsere Zeit neu erschlossen (Le début d’une doctrine des cinq sens spirituels chez Origène, in: Revue d’Ascétique et de Mystique 13, 1932, 113–145). Die christliche Tradition versucht also, das Problem an der Wurzel zu packen. Das gestörte Verhältnis des Menschen zu Gott soll wieder in die rechte Ordnung gebracht werden. Dazu gehört auch die sinnliche Wahrnehmung. Das geistige Verständnis des Hoheliedes hat also nichts mit einer Verachtung der Sinnlichkeit zu tun. Im Gegenteil. Es geht darum, die sinnliche Wahrnehmung zu vertiefen, sie auf das Göttliche hin zu öffnen, sie aus ihrer Selbstbezogenheit zu lösen. Auf diese Weise wird sie davor bewahrt, sich in einer verschlossenen Welt selbst zugrunde zu richten. Der heilige Ignatius von Loyola (1491–1556) 121
schreibt in seinen geistlichen Übungen: „Denn nicht das Vielwissen sättigt und befriedigt die Seele, sondern das Verspüren (sentire) und Verkosten (gustar) der Dinge von innen her (internamente).“
Ein verschlossener Garten (4,12–15) 4,12 13 14 15
Ein verschlossener Garten (bist du,) meine Schwester Braut, ein verschlossener Teich, ein versiegelter Quell. Deine Triebe sind ein Park von Granatbäumen mit köstlichen Früchten, Henna und Narden, Narde und Kurkuma, Ingwergras und Zimt samt allerlei Weihrauchhölzer, Myrrhe und Adlerholz samt allerlei bester Balsamsträucher. Eine Quelle der Gärten, ein Brunnen lebendigen Wassers, das vom Libanon fließt.
In den Versen 13–15 preist der Mann seine Geliebte als einen paradiesischen Garten voll exotischer Früchte und Gewürze. Mit dem Bild des Gartens wird ein in der altorientalischen und biblischen Kultur tief verankertes Motiv aufgegriffen. Der Garten ist ein Ort der Wonne, der Ruhe und des Friedens. Zu jedem Wohnhaus gehörte ein kleiner, gewöhnlich durch Mauern abgegrenzter Garten mit Fruchtbäumen, mit Weinstock und Feigenbaum (vgl. 1 Kön 5,5; Jer 29,5; Am 9,14; Mi 4,4). Könige besaßen große Parkanlagen, die künstlich bewässert wurden (Koh 2,5f; Jer 39,4). Ebenso gehörte zum Tempel ein „Garten Gottes“ (vgl. Ps 92,13–16; Gen 13,10; Ez 47). Das Paradies wird im Buch Genesis als ein Garten beschrieben mit köstlichen Fruchtbäumen, „verlockend anzusehen“ (Gen 2,8–14). In Hld 4,12–15 wie auch in der folgenden Texteinheit finden sich zahlreiche Anspielungen auf die Paradieserzählung. Dabei werden Motive aufgegriffen, die über die Erzählung von Genesis 2–3 hinausgehen, die aber bereits zur Zeit der Entstehung des Hoheliedes mit dem Paradies in Verbindung gebracht wurden. Dazu gehört die Überlieferung, dass unter den Bäumen, die Gott im Paradies pflanzte, wunderbare Duftbäume waren. 122
Paradiesische Züge weist auch das verheißene Land in einigen biblischen Beschreibungen auf. Wenn Gott sein Volk von allen Sünden reinigen, ihm ein „neues Herz und einen neuen Geist“ geben und die verödeten Städte wieder bewohnbar machen wird, dann wird man sagen: „Dieses verödete Land ist wie der Garten Eden geworden“ (Ez 36,24–36; vgl. Dtn 8,7–9). Sogar das Gottesvolk selbst, das sich aus den Fesseln des Unrechts befreit, kann mit einem Paradiesgarten verglichen werden: „Du gleichst einem bewässerten Garten, einer Quelle, deren Wasser niemals versiegt“ (Jes 58,11; vgl. Jer 31,12). In unserem Text ist die Geliebte für den Mann ein solch paradiesischer Garten. In diesem befinden sich – so die Aufzählung – zwölf Pflanzen (vgl. Off b 22,2). In der Geliebten scheint das aus zwölf Stämmen bestehende Gottesvolk auf. Ferner werden zehn exotische Duftstoffe aufgezählt. Ähnlich ausführliche Aufzählungen finden sich an anderen Stellen des Alten Testaments bei den Themen Erotik (Spr 7,17), Hochzeit (Ps 45,9), Heiligkeit (Ex 30,23f) und Weisheit (Sir 24). Dieser so wunderbare Garten ist dem Mann jedoch verschlossen (Vers 12). Die Szene erinnert an den Schluss der Paradieserzählung aus dem Buch Genesis. Geht es dort jedoch um die Vertreibung aus dem Paradies, so deutet sich im Hohelied die Möglichkeit einer Rückkehr in das Paradies an. Diese Möglichkeit scheint im letzten Vers auf. Jetzt kommt Bewegung ins Bild. Es entsteht der Eindruck, als sei der Garten nicht mehr verschlossen. Die Frau ist jetzt „eine Quelle der Gärten, ein Brunnen lebendigen Wassers, das vom Libanon fließt“. Auch im Buch der Sprichwörter wird die Frau mit einem Brunnen verglichen und das Trinken des Wassers mit dem Liebesgenuss. So wie Israel keinen fremden Göttern nachlaufen soll, so wird der junge Mann aufgefordert, sich mit seiner eigenen und nicht mit anderen Frauen zu vergnügen (Spr 5,15–20): „Trink Wasser aus deiner eigenen Zisterne, Wasser, das aus deinem Brunnen quillt. Sollen deine Quellen auf die Straße fließen, auf die freien Plätze deine Bäche? Dir allein sollen sie gehören, kein Fremder soll teilen mit dir. Dein Brunnen sei gesegnet, freu dich der Frau deiner Jugendtage, der lieblichen Gazelle, der anmutigen Gämse! Ihre Liebkosung mache dich immerfort trunken, an ihrer Liebe berausche dich alle Zeit! Warum solltest du dich an einer Fremden berauschen, den Busen einer andern umfangen?“ 123
Die Rückkehr ins Paradies (4,16–5,1) 4,16 Erwache, Nordwind, und komme, Südwind! Durchwehe meinen Garten, so dass sich seine Balsamdüfte verströmen. Mein Geliebter komme in seinen Garten, und er esse von seinen köstlichen Früchten! 5,1 Ich komme in meinen Garten, meine Schwester Braut, ich pflücke meine Myrrhe samt meinem Balsam, ich esse meine Wabe samt meinem Honig, ich trinke meinen Wein samt meiner Milch. Esst, Freunde, trinkt, berauscht euch, meine Lieben!
Der Geliebte wendet sich an Nordwind und Südwind und bittet sie eindringlich, seinen Garten zu durchwehen, auf dass sich seine Balsamdüfte verströmen. Daraufhin lädt die Frau ihren Geliebten ein, „in seinen Garten zu kommen und von seinen Früchten zu essen“ (Vers 16). Der verschlossene Garten öffnet sich von innen. Der Geliebte greift die Bitte seiner Geliebten zustimmend auf (5,1): „Ich komme in meinen Garten, meine Schwester Braut, ich pflücke meine Myrrhe samt meinem Balsam, ich esse meine Wabe samt meinem Honig, ich trinke meinen Wein samt meiner Milch.“ Essen und Trinken sind hier ein Bild für den Liebesgenuss (vgl. Spr 30,20). Ebenso meint das Wort „kommen“ hier wie auch an anderen Stellen der Bibel den Vollzug des Geschlechtsaktes (vgl. Gen 16,4; 30,4). Das Essen des Honigs ist ebenso ein Bild für den Liebesgenuss (vgl. Ri 14,5–19) wie das Trinken von Wein (vgl. 1,2; 2,4; 7,3). Die Früchte des Gartens gehören jetzt dem Geliebten. Sie sind sein Eigentum. Aber nicht, weil er sie von sich aus (mit Gewalt) ergriffen hat, sondern weil sie ihm (aus freier Entscheidung) von der Geliebten selbst gegeben wurden: „Mein Geliebter komme in seinen Garten, und er esse von seinen köstlichen Früchten.“ Liebe wird hier verstanden als ein Akt gegenseitiger Hingabe: „Ich gehöre meinem Geliebten, und mein Geliebter gehört mir“ (6,3). In umgekehrter Reihenfolge heißt es in 2,16: „Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein“ (vgl. Gen 2,23f). Mit dem folgenden Vers findet ein plötzlicher Wechsel statt. Es entsteht der Eindruck, der Bräutigam rede die Gäste einer Hoch124
zeitsfeier an: „Esst, Freunde, trinkt, berauscht euch, meine Lieben!“ Essen und Trinken wären dann in einem wörtlichen Sinn zu verstehen. Es gibt aber auch noch eine zweite, näherliegende Deutung. Ihr zufolge spricht der Dichter die beiden Liebenden an und fordert sie auf, sich und ihre Liebe zu genießen. Der Genuss von Milch, Honig und Wein lässt auch hier wieder an das verheißene Land und an den ewigen Bund denken, der im Buch des Propheten Jesaja angekündigt wird (Jes 55,1–11; vgl. Joh 6,27–71; 7,37). Vor allem aber klingt in unserem Text das Motiv des Paradieses an, allerdings in einer verwandelten Form. In der Genesis-Erzählung isst der Mensch von der verbotenen Frucht und wird aus dem Garten vertrieben. In unserem Text öffnet sich der zunächst verschlossene Garten und der Mann wird aufgefordert, ihn zu betreten und seine Früchte zu genießen. Unser Lied entwirft somit das Bild einer Rückkehr in das Paradies. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Erzählungen besteht darin, dass der Mensch in der Erzählung der Genesis eine Grenze überschreitet, während er im Hohelied einer Einladung folgt. In der Geschichte vom Sündenfall in Gen 3 wird der Mensch – im wahrsten Sinne des Wortes – „übergriffig“. Er missachtet die ihm gesetzte Grenze, um sich etwas anzueignen, was ihm nicht zugedacht ist. Er handelt aus Lieblosigkeit. Dieser Weg führt in den Tod (vgl. Gen 2,17). Ganz anders im Hohelied. Der Geliebte umwirbt seine Geliebte, aber er bricht nicht in ihren Garten ein. Er kann warten. Erst auf ihre Einladung hin kommt er zu ihr. Der Weg, der zurück ins Paradies führt, ist der Weg der Liebe. Dieser Weg überwindet den Tod (Hld 8,6; vgl. Joh 6,48–51). Vor dem Hintergrund eines geistigen Verständnisses sagt das Gedicht etwas sehr Wesentliches über Gott, wie ihn die Bibel sieht. Gott liebt den Menschen und er möchte zu ihm kommen, aber er vergewaltigt ihn nicht. Ohne die Bereitschaft, sich ihm zu öffnen, kann Gott nicht in das Innere des Menschen gelangen. Es wäre ein Widerspruch in Gott selbst und eine Verkehrung seiner Liebe in ihr Gegenteil, würde er die freie Entscheidung seiner Braut nicht akzeptieren. Das Werben des göttlichen Liebhabers will die Bereitschaft seiner Geliebten, ihm zu öffnen, hervorlocken; erzwingen kann er sie jedoch nicht. Im Hohelied bleibt Gottes Werben nicht vergeblich. Der verschlossene Garten öffnet sich und die Braut lädt ihren Gelieb125
ten ein, zu ihr zu kommen: „Mein Geliebter komme in seinen Garten, und er esse von seinen köstlichen Früchten!“ (Vers 16) Die Allmacht Gottes findet an der Freiheit des Menschen ihre Grenze. Viele Mystiker haben das sehr klar gesehen. Johannes Tauler (1300–1361) drückt diesen Gedanken wie folgt aus: „Gott begehrt und bedarf in aller Welt nur eines Dinges; das begehrt er aber so sehr, als ob er seinen ganzen Fleiß darauf verwendete, dies einzige nämlich, dass er den edlen Grund, den er in dem edlen Geist des Menschen gelegt hat, ledig und bereit finde, sein göttliches Werk darin zu vollbringen; denn Gott hat alle Gewalt im Himmel und auf Erden; daran aber allein fehlt es ihm, dass er sein liebreichstes Werk in dem Menschen ohne des Menschen Willen nicht zu wirken vermag“ (Predigt 5, nach der Ausgabe: Johannes Tauler, Predigten. Bd. I, hg. von Georg Hofmann, Johannes Verlag Einsiedeln, Freiburg i. Br. 42007, 35).
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II. Teil: Getrennt und wieder vereint (5,2–8,4)
Waren die Liebenden am Ende des I. Teils (2,8–5,1) im Garten beisammen, so sind sie zu Beginn des II. Teils (5,2–8,4) wieder getrennt. Die Geliebte liegt allein des Nachts auf ihrem Lager. Ihr Geliebter kommt, doch die beiden verpassen einander. Der II. Teil weist eine konzentrische Struktur auf: 5,2–6,3: Lieder der Frau 6,4–7,11: Lieder des Mannes 7,12–8,4: Lieder der Frau Am Ende des zweiten Abschnitts geht die Rede des Mannes fließend in die Rede der Frau über (7,10f). Die Bewegung der Liebenden verläuft erneut – wie im I. Teil – von der Trennung (5,2–8) zur Vereinigung der beiden (8,3f). Im ersten Abschnitt (5,2–6,3) sind die Liebenden getrennt und suchen einander. Die Frau sehnt sich nach ihrem Geliebten, sie „ist krank vor Liebe“ (5,8). Sie beschreibt ihren Geliebten als einzigartig, als „herausragend unter Tausenden“ (5,10). Am Ende dieses Abschnitts bringt sie erneut die wechselseitige Zugehörigkeit der beiden zum Ausdruck: „Ich gehöre meinem Geliebten, und mein Geliebter gehört mir“ (6,3). Im zweiten Abschnitt (6,4–7,11) kommt es zur Begegnung der beiden. Sie stehen einander gegenüber (6,5). Jetzt bringt der Mann seine Bewunderung für seine Geliebte zum Ausdruck. Auch sie ist einzigartig unter den Frauen (6,8–10). Die zum Ausdruck gebrachte Bewunderung steigert das Verlangen nach Vereinigung. Es wird zu einem gegenseitigen Verlangen (7,11). Im dritten Abschnitt spricht die Frau offen den Wunsch aus, sich mit ihrem Geliebten zu vereinigen: „Auf, mein Geliebter …!“ Erneut geht die Initiative von ihr aus. Am Ende kommt es zur Vereinigung der beiden, zunächst in der Natur (7,12–14), dann in der Stadt, im „Hause der Mutter“ (8,1–4).
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Der Kairos der Liebe (5,2–8) 5,2 3 4 5 6 7 8
Ich schlief, doch mein Herz war wach. Horch (qol)! Mein Geliebter klopft: „Öffne mir, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Reine, denn mein Haupt ist voll von Tau, meine Locken von den Tropfen der Nacht.“ „Ich habe mein Gewand abgelegt, wie sollte ich es wieder anziehen? Ich habe meine Füße gewaschen, wie sollte ich sie wieder beschmutzen?“ Mein Geliebter streckte seine Hand durch das Loch, und mein Inneres ward erregt über ihn. Ich stand auf, um meinem Geliebten zu öffnen. Meine Hände troffen von Myrrhe und meine Finger von fließender Myrrhe auf die Griffe des Riegels. Ich öffnete meinem Geliebten, doch mein Geliebter war auf und davon. Meine Seele war außer sich ob seines Rückzugs. Ich suchte ihn, doch ich fand ihn nicht, ich rief ihn, doch er antwortete nicht. Mich fanden die Wächter, die die Stadt durchstreifen, sie schlugen mich, sie verwundeten mich, sie nahmen mir meinen Umhang weg, die Wächter der Mauern. Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, wenn ihr meinen Geliebten findet, was sollt ihr ihm sagen? Dass ich krank bin vor Liebe.
Die Geliebte hat sich zu Bett begeben, doch sie scheint noch wach zu sein. Im Traum und im Halbschlaf, wenn sich die körperlichen Sinne des Tagesbewusstseins zurückgezogen haben, werden oft tiefere Schichten der Seele angesprochen. Mit ihrem wachen Herzen hört 128
die Frau die Stimme ihres Geliebten. Diese bittet um Einlass. Doch die Frau zögert. Zu mühsam ist es ihr aufzustehen, um ihrem Geliebten zu öffnen. Dieser scheint ungeduldig zu werden und greift mit der Hand durch ein Loch in der Tür. Die Frau ist erregt und steht nun doch auf, um ihrem Geliebten zu öffnen. Nun aber ist es zu spät. Der Geliebte ist auf und davon. Darüber ist sie erschrocken. Sie sucht ihn, doch sie findet ihn nicht. Sie ruft ihn, doch er gibt keine Antwort. In der traumartigen Szene werden unterschiedliche Ebenen angesprochen. Auf der räumlichen Ebene liegt eine Umkehrung zu dem in Hld 2,8–14 erzählten Geschehen vor. Dort lädt der Mann seine Geliebte ein aufzustehen und herauszukommen. In unserem Text bittet er seine Freundin um Einlass. Es wird aber auch eine körperlich-seelische Ebene angesprochen mit deutlichen sexuellerotischen Anspielungen. In Jes 57,8 wird das Wort „Hand“ als Umschreibung für den Phallus verwendet. Das „Loch“, durch das die Hand des Geliebten greift, wäre dann die Vagina der Frau. Dabei wird ihr „Inneres“ erregt. Mit dem Wort „Inneres“ wird im Alten Testament einige Male der „Mutterleib“ bezeichnet (Jes 49,1; Ps 71,6; Rut 1,11). Neben der körperlich-sexuellen scheint aber auch eine spirituell-religiöse Ebene anzuklingen: Das Verbum „weggehen, davonlaufen“ (chamaq) in Vers 6 begegnet im Alten Testament nur noch einmal, und zwar in Jer 31,22. Dort klagt Gott die Jungfrau Israel an mit den Worten: „Wie lang willst du noch davonlaufen (chamaq), du abtrünnige Tochter? Denn etwas Neues erschafft der Herr im Land: Die Frau wird den Mann umgeben.“ Die Frau hat den Kairos der Liebe verpasst. Sie hat zu lange gezögert, ihr Gewand anzuziehen und aufzustehen, um ihrem Geliebten zu öffnen. Sie wollte ihre Füße nicht beschmutzen. Doch jetzt irrt sie des Nachts durch die Straßen der Stadt, wird von Wächtern geschlagen und ihres Gewandes beraubt (zu den Wächtern vgl. die Auslegung von Hld 3,3). In der griechischen Mythologie ist Kairos ein scheuer und flüchtiger Gott mit einem Haarschopf auf der Stirn und einem kahlen Hinterkopf. Der flüchtige Augenblick muss also beim Schopf gepackt werden, denn wenn er vorüber ist, von hinten, lässt er sich nicht mehr fassen. Auch Jesus wird von einer „Stimme“ (qol) angekün129
digt (Mk 1,3). Er verkündet einen Kairos, da Gott kommt (Mk 1,15). Doch auch ihm bleibt die Klage nicht erspart, dass die Stadt Jerusalem den Kairos ihrer Heimsuchung nicht erkannt hat (Lk 19,44; vgl. Mt 25,1–13). Das Motiv, dass Gott vor der Tür steht und anklopft und um Einlass bittet, findet sich auch in der Offenbarung des Johannes. Auch hier ist Gott der Liebhaber, der um Einlass bittet: „Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten, und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir“ (Off b 3,20).
Eine Gottesstatue (5,9–16) 5,9 Was (unterscheidet) deinen Geliebten von irgendeinem Geliebten, du Schönste unter den Frauen? Was (unterscheidet) deinen Geliebten von irgendeinem Geliebten, dass du uns so beschwörst? 10 Mein Geliebter ist glänzend und rot (adom), herausragend unter Tausenden. 11 Sein Haupt ist reines Gold, seine Locken sind Palmwedel, rabenschwarz. 12 Seine Augen sind wie Tauben an Bächen von Wasser, badend in Milch, sitzend an Füllung. 13 Seine Wangen sind wie ein Balsambeet, Türme von Gewürzkräutern. Seine Lippen sind Lotusblumen, triefend von ausfließender Myrrhe. 14 Seine Hände sind Rollen aus Gold, eingelegt mit Chrysolith. Sein Leib ist eine Platte aus Elfenbein, bedeckt mit Saphirsteinen. 15 Seine Schenkel sind Säulen aus Alabaster, gestellt auf Basen von Feingold. Seine Erscheinung ist wie der Libanon, ein auserlesener Jüngling wie Zedern.
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Sein Gaumen ist Süßigkeit, alles an ihm ist Lustbarkeit. Das ist mein Geliebter, das ist mein Freund, ihr Töchter Jerusalems!
Nachdem sie zu lange gezögert hat und ihr Geliebter entschwunden ist, irrt die Frau des Nachts in den Straßen der Stadt umher, um ihren Geliebten zu suchen. Sie trifft auf die Töchter Jerusalems und bittet sie um Hilfe. Diese erkundigen sich nach dem Aussehen ihres Geliebten und nach dem, was ihn von „irgendeinem Geliebten“ unterscheidet. Ausführlich beschreibt die Frau nun das Aussehen ihres Geliebten „vom Kopf bis zu den Füßen“. Der Gattung nach handelt es sich um ein so genanntes Beschreibungslied. Der Beschreibung des Mannes entspricht in Hld 4,1–7 die Beschreibung der Frau. Die Bilder, die bei der Beschreibung der Frau verwendet werden, sind weitgehend der Pflanzen- und Tierwelt Palästinas entnommen; es sind vor allem Bilder der Bewegung, die einen lebendigen Eindruck von der Landschaft vermitteln: Ziegen, die vom Gebirge Gilead herabgleiten, Schafe, die aus der Schwemme emporsteigen. Bei der Beschreibung des Mannes in unserem Gedicht hingegen kommt kein einziges Verb der Bewegung vor. Als Vergleich dienen vor allem kostbare Materialien wie Gold, Elfenbein und Edelsteine. Die Farben und die wertvollen Materialien zeigen sehr deutlich: Hier wird eine Statue beschrieben, und zwar eine Gottesstatue (vgl. Jer 10,9; Dan 2,31–33). Haupt, Hände und Füße sind aus reinem Gold, der Farbe der Götter. Für das Verständnis des Hoheliedes ist diese Beobachtung von grundlegender Bedeutung. Der Mann erscheint wie eine Gottesstatue. Für die Geliebte ist er von göttlicher Gestalt. Die erste Aussage, die sie in diesem Beschreibungslied von ihrem Geliebten macht, lautet: „Mein Geliebter ist glänzend und rot (adom), herausragend unter Tausenden.“ Das hebräische Wort für „rot“ (adom) ist verwandt mit dem Wort „Adam“ („Mensch“). Damit dürfte eine Anspielung auf Gen 1,26f vorliegen, wo der Mensch als Gottesstatue bezeichnet wird (im Griechischen steht dafür das Wort eikon „Bild“). Damit wird die bereits mehrfach geäußerte Vermutung bekräftigt, dass die Geliebte auf das Land und das Volk Israel, der Geliebte auf Gott ver131
weist. So wie die Geliebte die Schönste unter allen Frauen ist (5,9), so der Geliebte der Schönste unter den Männern (vgl. Ps 45,3). Es ist also keineswegs an den Haaren herbeigezogen, wenn die christliche Lektüre des Hoheliedes in dem Geliebten Christus sieht, das „Bild (eikon) des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15), und in der Geliebten seine Braut, das Gottesvolk und jede einzelne Seele in ihm. Es ist theologisch und spirituell von nicht zu überschätzender Bedeutung, dass im Hohelied selbst wie in seiner mystischen Rezeption die Liebe zu Gott und zu Christus mit Bildern menschlicher Liebe erschlossen und veranschaulicht wird (vgl. dazu das Schlusskapitel: Gott ist die Liebe).
Wohin ist dein Geliebter gegangen? (6,1–3) 6,1 2 3
Wohin ist dein Geliebter gegangen, du Schönste unter den Frauen? Wohin hat sich dein Geliebter gewandt, so dass wir ihn mit dir suchen könnten? Mein Geliebter ist hinabgestiegen in seinen Garten, zu den Balsambeeten, um zu weiden in den Gärten, um zu pflücken Lotusblumen. Ich gehöre meinem Geliebten und mein Geliebter gehört mir, der unter Lotusblumen weidet.
Ausführlich hat die Frau die Schönheit und die Vorzüge ihres Geliebten geschildert. Das hat offensichtlich bei den Töchtern Jerusalems die Bereitschaft geweckt, ihr bei der Suche nach ihrem Geliebten zu helfen. Es mag bei ihnen auch Neugierde und Konkurrenz mit im Spiel sein, einen so außergewöhnlichen Liebhaber zu Gesicht zu bekommen. So fragen sie die Frau, wohin denn ihr Geliebter gegangen sei, welche Richtung er eingeschlagen habe (Vers 1). Die Antwort der Frau irritiert. In der vorangehenden Texteinheit hatte sie beklagt, dass ihr Geliebter sie verlassen habe und dass sie nicht wisse, wohin er gegangen sei. Jetzt scheint sie sehr wohl zu wissen, wohin er sich gewandt hat: „Mein Geliebter ist hinabgestiegen in seinen Garten, zu den Balsambeeten, um zu weiden in den 132
Gärten, um zu pflücken Lotusblumen.“ Aus vorangehenden Liedern weiß der Leser, dass der Garten ein Bild für die Geliebte ist (vgl. Hld 4,12–5,1). In verschlüsselter Weise gibt sie somit kund, dass ihr Geliebter hinabgestiegen ist, um zu ihr zu kommen. Damit entsteht ein Paradox: Der Geliebte hat sie verlassen, um zu ihr zu kommen (Vers 2) und eins mit ihr zu werden (Vers 3). Wie ist das zu verstehen? Offensichtlich kommt hier eine Dynamik in den Blick, die sowohl der menschlichen als auch der göttlichen Liebe zu eigen ist. In vielfältiger Weise bezeugt die Heilige Schrift, dass Menschen die Gegenwart Gottes wahrnehmen. Zugleich aber weiß die Bibel auch um die Abwesenheit Gottes. Wie sind diese scheinbar einander widersprechenden Erfahrungen zu verstehen? Die Erfahrung der Abwesenheit Gottes wird häufig so gedeutet, dass Gott sich zurückgezogen, dass er einen Menschen verlassen hat (vgl. Ps 22,1–3). Sie kann aber auch so verstanden werden, dass Gott sehr wohl da ist, der Mensch jedoch nicht in der Lage ist, seine Gegenwart wahrzunehmen (vgl. Hos 11,3). Des Menschen Wahrnehmungsorgane sind getrübt, so dass sie die verborgene Gegenwart Gottes nicht erkennen können. Auf die Erfahrung der Abwesenheit Gottes kann der Mensch unterschiedlich reagieren. Eine mögliche Reaktion verfährt nach dem Muster: „aus den Augen, aus dem Sinn“. Wenn sich Gott der Wahrnehmung entzieht, wird er bald vergessen und es wird nicht lange dauern, bis seine Existenz geleugnet wird. Ein erfahrungsbasierter Glaube ist gefährdet, wenn ihm die Erfahrung als Basis des Glaubens entschwindet. Es gibt aber auch noch eine zweite mögliche Reaktion auf die Erfahrung der Abwesenheit Gottes: der „reine Glaube“. Es ist ein Glaube, der keine Stütze in irgendeiner Form der Erfahrung mehr findet, der sich zu einem vorbehaltlosen und reinen Vertrauen wandelt. Ein solches Vertrauen gibt die Suche nach dem vermissten Geliebten nicht auf. Die auf den ersten Blick verwirrenden und widersprüchlichen Aussagen zur An- und Abwesenheit des Geliebten lassen sich als Veranschaulichungen einer komplexen Erfahrung deuten. In Hld 5,6 erfährt die Frau ihren Geliebten als abwesend. Sie hatte zu lange gezögert, ihm zu öffnen; nun ist er auf und davon. Sie sucht ihn, doch sie findet ihn nicht. Die Töchter Jerusalems wollen ihr bei der Suche helfen und fragen, wohin denn ihr Geliebter gegangen sei. 133
Die überraschende Antwort, die ihnen die Frau gibt, lässt sich als Ausdruck eines reinen Glaubens verstehen. In ihrem Innersten weiß sie, dass ihr Geliebter bereits auf dem Weg zu ihr ist, auch wenn dieses Wissen von der Erfahrung seines Verschwindens überlagert ist: „Mein Geliebter ist hinabgestiegen in seinen Garten, zu den Balsambeeten, um zu weiden in den Gärten, um zu pflücken Lotusblumen.“ Ihr Geliebter hat sie verlassen, um zu einer neuen und vertieften Gemeinschaft mit ihr zu gelangen. Dieses Wissen um das Kommen des Geliebten nährt sich aus dem Bewusstsein ihres Einsseins: „Ich gehöre meinem Geliebten, und mein Geliebter gehört mir“ – auch wenn diese Einheit hier nicht vollzogen wird. Wenn Verliebte ständig aneinanderkleben, ist das nicht unbedingt Zeichen einer großen, sondern eher Zeichen einer ängstlichen und noch ungefestigten Liebe. Eine Liebe, die Angst hat zu reifen, versucht, diese Formen der Vergewisserung krampfhaft zu konservieren. Auf Dauer wird das nicht gelingen. Wenn Gott einem Menschen religiöse Wohlgefühle vermittelt, ist das nicht unbedingt ein Zeichen dafür, dass er ihn in besonderer Weise liebt, sondern – wie der heilige Johannes vom Kreuz (1542–1591) zu bedenken gibt – wohl eher ein Zeichen dafür, dass er diese Gefühle noch nötig hat. Wie eine Mutter nach einiger Zeit ihr Kind abstillt, so wird auch Gott irgendwann dem Frommen die Wohlgefühle seiner Gegenwart entziehen. Auf diese Weise wird der Mensch (im Glauben) erwachsen. Der reine Glaube ist nach Johannes vom Kreuz der sicherste Weg, der zur Einheit mit Gott führt. Er hilft, die Gaben nicht mit dem Geber der Gaben zu verwechseln.
Einzig ist meine Taube (6,4–9) 6,4 5 6
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Schön bist du, meine Freundin, wie Tirza, lieblich wie Jerusalem, furchterregend wie die um ein Feldzeichen Gescharten. Wende deine Augen von mir ab, denn sie verwirren mich. Dein Haar ist wie eine Herde von Ziegen, die herabgleiten vom Gilead. Deine Zähne sind wie eine Herde von Mutterschafen,
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die aus der Schwemme heraufsteigen, die alle Zwillinge haben, der Kinder beraubt ist keines von ihnen. Wie ein Spalt im Granatapfel sind deine Wangen, durch deinen Schleier hindurch. Sechzig Königinnen sind es und achtzig Konkubinen und junge Frauen ohne Zahl. Einzig ist meine Taube, meine Makellose, einzig ist sie für ihre Mutter, rein ist sie für jene, die sie gebar. Töchter sehen sie und preisen sie glücklich, Königinnen und Konkubinen rühmen sie.
Die Einheit besteht aus drei Strophen, die kunstvoll aufgebaut und durch Zahlensymbolik aufeinander bezogen sind. Die 1. Strophe (Vers 4) besteht aus drei Verseinheiten und drei Vergleichen. Die 2. Strophe (Vers 5–7) nennt vier Körperteile der Frau (Augen, Haar, Zähne, Wangen). Die 3. Strophe nennt zwei Zahlen: 60 und 80. Die Zahlen sind ein Drei- beziehungsweise Vierfaches der Zahl 20 (60 = 3 x 20; 80 = 4 x 20). Ihre Summe ergibt 140 und setzt sich zusammen aus 7 (3 + 4) mal 20. Die 3. Strophe ist also die Summe aus der 1. und der 2. Strophe (3 + 4 = 7). Hier zeigt sich erneut: Das Hohelied ist keine auf Bauernhochzeiten entstandene Gelegenheitsdichtung, sondern Kunstdichtung mit einem hohen symbolischen Gehalt. Im vorangehenden Lied hatte die Frau ihren Geliebten als „he rausragend unter Tausenden“ gerühmt (5,9–16). Hier nun preist der Geliebte die Schönheit seiner Geliebten und bezeichnet sie als einzigartig. In der ersten Strophe vergleicht er sie mit zwei Städten. Tirza war die Hauptstadt des Nordreiches Israel, bevor König Omri die Residenz nach Samaria verlegte. Das Wort „Tirza“ ist außerdem ein Frauenname und bedeutet übersetzt: „Sie ist lieblich, sie gefällt“. Mit Jerusalem und Tirza sind also die ehemaligen Hauptstädte des Nord- und des Südreichs, Israel und Juda, genannt. In der Geliebten verbindet sich die Schönheit beider Städte. Möglicherweise liegt in diesem doppelten Vergleich eine Anspielung auf die Wiedervereinigung des Gottesvolkes vor. Wenn die Propheten von der Erneuerung des Bundes zwischen Gott und seinem Volk sprechen, kommt ge135
wöhnlich auch die Wiederherstellung der Einheit des geteilten Gottesvolkes in den Blick: „Seht, es werden Tage kommen, Spruch des Herrn, in denen ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schließen werde“ (Jer 31,31). „Ich mache sie in meinem Land, auf den Bergen Israels, zu einem einzigen Volk. Sie sollen alle einen einzigen König haben. Sie werden nicht länger zwei Völker sein und sich nie mehr in zwei Reiche teilen“ (Ez 37,22). In der dritten Strophe wird auf einen königlichen Harem angespielt. Salomo hatte „siebenhundert fürstliche Frauen und dreihundert Nebenfrauen, die sein Herz abtrünnig machten“, heißt es in 1 Kön 11,3. Mit den Königinnen sind aber gewöhnlich die Königinnen anderer Völker gemeint. So kommen auch diese hier in den Blick. Von den vielen und letztlich unzähligen anderen Frauen hebt sich die Geliebte als einzigartig ab (Vers 9). Damit kommt der Kerngedanke des Hoheliedes zur Sprache: die Personalität der Liebe. Diese Ebene entzieht sich einem quantifizierenden Vergleich. Auf sie zu gelangen, ist in der Dynamik der Liebe selbst angelegt. Dem entspricht das biblische Gottesbild. Norbert Lohfink hat da rauf hingewiesen, dass das hebräische Wort ächad („einzig“) aus Dtn 6,4 vor dem Hintergrund der Liebespoesie zu verstehen ist: „Höre Israel! JHWH, unser Gott, JHWH ist einzig (ächad). Darum sollst du JHWH, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft.“ Das Wort „einzig“ begegnet auch in unserem Text zweimal (Vers 9). Hier bezeichnet der Geliebte seine Geliebte als „einzig“. Offensichtlich gibt es eine Entsprechung zwischen der Monogamie und der Monolatrie, der „Ein-Gott-Verehrung“ (vgl. Dtn 7,7f). In jeder Liebesbeziehung gibt es einen Raum der Intimität, der nicht beliebig mit anderen geteilt werden kann. Das gilt auch für die Beziehung zu Gott, die bei jedem Menschen ein Geheimnis ist, das nur im Herzen bewahrt werden kann (vgl. Lk 2,19.51). Die „Töchter, Königinnen und Konkubinen“ scheinen das verstanden zu haben. Sie preisen die auf einzigartige Weise geliebte Frau glücklich (vgl. Lk 1,42).
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Wie die Morgenröte (6,9–10) 6,9 10
Töchter sehen sie und preisen sie glücklich, Königinnen und Konkubinen rühmen sie: Wer ist sie, die herabblickt wie die Morgenröte, schön wie die Weiße, rein wie die Glut, Angst erregend wie die um ein Feldzeichen Gescharten?
Bisher wurde die Geliebte mit Bildern aus Natur und Kultur gepriesen. Jetzt wird sie in eine himmlische Aura gerückt. Sie blickt von oben herab „wie die Morgenröte“. Wer von oben herabblickt, nimmt eine höhere Stellung ein als diejenigen, auf die jemand herabblickt. Königinnen blicken aus dem Fenster ihres Palastes herab (vgl. Ri 5,28; 2 Sam 6,16; 2 Kön 9,30f). Und vor allem schaut Gott vom Himmel herab auf die Erde (Ps 14,2; 85,12; 102,20; Dtn 26,15; Klgl 3,50). Die griechische und lateinische Übersetzung unterstreichen das bereits im hebräischen Text anklingende Motiv der aus dem Fenster schauenden Liebesgöttin, der Aphrodite parakyptousa beziehungsweise der Venus prospiciens. Das Motiv klang bereits in Hld 2,14 und 4,8 an. Die Nacht war die Zeit, da die Geliebte ihren Geliebten suchte und nicht fand (Hld 5,2–6,3). Jetzt ist die Nacht vorüber, die Morgenröte erscheint und taucht die Berge in ein warmes Licht. Der Weg der Liebe ist ein Weg von der Nacht zum Tag, von der Dunkelheit ans Licht (vgl. Joh 13,30; 20,1–18; Mk 16,2; Mt 28,1). Die Morgenröte wurde im Alten Orient als eine Göttin verehrt. Auch im Alten Testament gibt es noch Spuren, die darauf hindeuten. Das Buch Ijob spricht von den „Wimpern der Morgenröte“ (Ijob 3,9; 41,10). In Psalm 57,9 fordert der Beter nach einer Nacht der Bedrängnis seine Seele auf: „Wach auf, meine Seele! Wacht auf, Harfe und Saitenspiel! Ich will die Morgenröte wecken“ (vgl. Ps 108,3). Neben der Morgenröte wird die Frau mit den beiden „großen Himmelsleuchten“ (Gen 1,16) verglichen: „Die Weiße“ meint den Mond und „die Glut“ meint die Sonne. Auch diese beiden Gestirne wurden im Alten Orient als Götter verehrt. Das Alte Testament weiß noch da rum. Ijob bekennt ausdrücklich, dass er Sonne und Mond nicht als 137
Götter verehrt und somit nicht gegen das erste Gebot verstoßen habe (Ijob 31,26–28; vgl. Ez 8,16). Die seltene Verbindung von „die Weiße und die Glut“ im Sinne von Mond und Sonne findet sich im Buch des Propheten Jesaja. Darin kündigt Gott an, dass er die Leiden seines Volkes heilen und seine Wunden verbinden werde: „Dann wird das Licht der Weißen (das heißt: des Mondes) wie das Licht der Glut (das heißt: der Sonne) sein“ (Jes 30,26). Möglicherweise spielt unser Text auf die hier angekündigte endgültige Heilung des Gottesvolkes an. Der folgende, aus der Welt des Krieges stammende Vergleich widerspricht den vorangehenden Bildern nicht. Der Ausdruck „die um ein Feldzeichen Gescharten“ meint die Sterne. Sie werden im Alten Testament häufig mit einem geordneten Heer verglichen. Die Bibel spricht vom Himmelsheer (vgl. Dtn 17,3; Jer 8,2). Gott ist auch der Herr über diese himmlischen Heerscharen. Das meint der Ausdruck „JHWH Zebaoth“, „Herr der (himmlischen) Heerscharen“. Das Schöne und das Heilige sind faszinierend und erschreckend zugleich, sie sind ein mysterium tremendum et fascinosum. So wird hier die Geliebte deutlich über die Erde erhoben und in eine himmlisch-göttliche Aura getaucht. Sie steht über den irdischen Frauen, über den „Töchtern, Königinnen und Konkubinen“ (Vers 9). Sie ist eine wahre Himmelskönigin (regina caeli). Die katholische Marienfrömmigkeit greift diese Motive auf. Das Marienlied: „Sagt an, wer ist doch diese“ (Gotteslob, 2013, Nr. 531) kombiniert den Hochzeitszug von Hld 3,6–11 mit der Himmelskönigin aus Hld 6,10 und liest beide Texte im Lichte von Off b 12,1: „Sagt an, wer ist doch diese, die auf am Himmel geht, die überm Paradiese als Morgenröte steht? Sie kommt hervor von ferne, es schmückt sie Mond und Sterne, die Braut von Nazareth (im alten Gotteslob heißt es entsprechend Hld 6,10: „… im Sonnenglanz erhöht“). Sie ist die edle Rose, ganz schön und auserwählt, die Magd, die makellose, die sich der Herr vermählt.“ Die Morgenröte strahlt nicht aus sich heraus, sie empfängt ihren Glanz von der Sonne, die sie ankündigt. Entsprechend heißt es in der dritten Strophe (nach dem alten Gotteslob): „Du strahlst im Glanz der Sonne, Maria, hell und rein; von deinem lieben Sohne kommt all das Leuchten dein.“
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Absteigende und aufsteigende Liebe (6,11–12) 6,11 12
Zum Nussgarten bin ich hinabgestiegen, um zu sehen die Triebe am Bach, um zu sehen, ob der Weinstock Knospen treibt, ob die Granatäpfel blühen. Ohne mein Wissen hat mein Verlangen mich versetzt auf die (Streit-)Wagen meines edlen Volkes (Ammi-Nadibs).
In Hld 6,2 hatte die Frau gesagt: „Mein Geliebter ist hinabgestiegen in seinen Garten.“ Der Mann scheint dies nun zu bestätigen: „Zum Nussgarten bin ich hinabgestiegen.“ Mit dem Garten dürfte in beiden Fällen die Frau gemeint sein. Die Walnuss galt in der Antike als eine die Liebeslust und die Fruchtbarkeit steigernde Frucht. In der jüdischen Tradition gibt es den Brauch, einem Brautpaar bei der Hochzeit geröstete Ähren und Nüsse zu überreichen. „Um zu sehen die Triebe am Bach“ lässt an das Frühjahr denken, wenn die Wadis vom Winterregen noch Wasser führen und die Vegetation neu erwacht. Das Frühjahr weckt bekanntlich Liebesgefühle. Bereits in Hld 2,10–13 forderte der Geliebte seine Geliebte auf, mit ihr ins Freie zu gehen, „denn der Winter ist vorüber und die Weinstöcke stehen in Blüte“. Die antike Mythologie hat das Wiedererwachen der Natur im Frühjahr in Bilder gefasst, die vom Sieg des Lebens über den Tod erzählen. Zum unmittelbar vorangehenden Vers Hld 6,10 besteht ein auffallender Kontrast. Dort wurde die Frau wie eine vom Himmel herabschauende Königin gepriesen. Sie scheint für den Geliebten unerreichbar zu sein (vgl. 2,14). Ihm bleibt nichts anderes übrig als hinabzusteigen in den irdischen Nussgarten. Doch nun geschieht etwas Überraschendes, das sich seiner Kontrolle entzieht: „Ohne mein Wissen hat mein Verlangen (oder: meine Seele) mich versetzt auf die (Streit-)Wagen meines edlen Volkes (Ammi-Nadibs).“ Der Vers gehört zu den schwierigsten des Hoheliedes. Viele verstehen die Worte als Rede der Frau und deuten die Wortverbindung „Ammi-Nadib“ als Name eines Mannes, in dessen Nähe sich die Frau versetzt fühlt. Der Alttestamentler Gianni Barbiero schlägt eine andere Deutung vor (Song of Songs. A Close Reading, Leiden 2011, 350–361). Ihr zufolge 139
ist Vers 12 als Rede des Mannes zu verstehen. Dieser steigt zunächst hinab in den Nussgarten, das heißt: zu seiner Geliebten. Er will – schauen. Dabei widerfährt ihm etwas Außergewöhnliches. Er wird „versetzt“. Wohin? „Zu den (oder: auf die) Streitwagen meines edlen Volkes.“ „Ammi-Nadib“ ist hier nicht als Eigenname eines Mannes, sondern als Begriff zu verstehen mit der Bedeutung: „meines edlen Volkes“. Damit ist Israel gemeint. Zu Beginn des Abschnitts wurde bereits mit den beiden Städten Tirza und Jerusalem auf das Nordund Südreich angespielt (6,4). Welche Vorstellung verbindet sich hier mit den (Streit-)Wagen? Es dürften die Streitwagen Israels gemeint sein. Am wahrscheinlichsten scheint zu sein, dass hierbei an den Streitwagen zu denken ist, auf dem Elija im Feuer zum Himmel emporgehoben wurde (2 Kön 2,12; vgl. 13,14). Damit schließt sich der Kreis und die Verbindung zum vorangehenden Vers wird verständlich. Dort war die Geliebte gleichsam unerreichbar am Himmel wie eine Himmelskönigin. Der Geliebte steigt hinab in den Nussgarten, das heißt: er lässt sich auf die absteigende Bewegung der Liebe ein. Er will schauen. Zweimal kommt hier das Verbum „schauen, sehen“ vor. Und dabei geschieht etwas Überraschendes, das sich seinem Wissen entzieht: Er wird hinaufgerissen auf Streitwagen, wie einst Elija auf einem feurigen Wagen zum Himmel emporgehoben wurde. Das passt zu dem wunderbaren Schlusswort, in dem die Liebe als eine Flamme JHWHs gepriesen wird (8,6). In kühnen Metaphern wird hier die absteigende und aufsteigende Bewegung der Liebe ins dichterische Wort gefasst. Die irdischen (6,4) und die himmlischen (6,10) Heerscharen verbinden sich in der Liebe. Dass die Seele in der Begegnung mit dem Schönen (vgl. 6,4: „Schön bist du, meine Freundin“) innerlich ergriffen wird und in Ekstase gerät, ist auch das Leitmotiv im „Symposion“, dem platonischen Dialog über die Liebe. In jeder wahren menschlichen und göttlichen Liebe gibt es einen Bereich, der sich dem Wissen entzieht. Liebende werden in einer bestimmten Phase in die „Wolke des Nichtwissens“ versetzt. Sie werden emporgehoben, wenn sie sich zuvor eingelassen haben. Gianni Barbiero verweist in diesem Zusammenhang auf ein Relief im Erfurter Dom, das die Verkündigungsszene darstellt. In ihr trägt ein Engel eine Schriftrolle mit der Aufschrift: „Zum Nussgarten bin ich 140
hinabgestiegen.“ Unser Text, so Barbiero, sei offen für eine solche Lesart: „This is allegorical interpretation indeed: but the text is open to such a reading“ (ebd. 352, Anm. 124).
Die Aufhebung des Fluches (7,1–11) 7,1 Wende dich, wende dich, Schulammit wende dich, wende dich, dass wir dich schauen! Was wollt ihr an Schulammit schauen? Den Reigentanz der beiden Lager! 2 Wie schön sind deine Füße in den Sandalen, Tochter des Edlen (bat-nadid)! Die Rundungen deiner Hüften sind wie ein Geschmeide, ein Werk von Künstlerhänden. 3 Dein Nabel ist eine runde Schale – nicht fehle der Mischtrank! Dein Bauch ein Weizenhaufen, umgeben von Lotusblumen. 4 Deine zwei Brüste sind wie zwei Kitze, Zwillinge einer Gazelle. 5 Dein Hals ist wie der Elfenbeinturm. Deine Augen sind wie die Teiche von Heschbon am Tor von Bat-Rabbim („Tochter der Vielen“). Deine Nase ist wie der Libanonturm, der gen Damaskus späht. 6 Dein Haupt auf dir ist wie der Karmel und das Haar deines Hauptes wie Purpur. Ein König liegt gefangen in den Flechten. 7 Wie schön bist du und wie freundlich, Liebste, in den Wonnen! 8 Ja, dein Wuchs gleicht einer Palme und deine Brüste den Dattelpalmen. 9 Ich sagte mir: Ich will die Palme erklettern, will ihre Rispen ergreifen. Mögen deine Brüste wie Weintrauben sein und der Atem deiner Nase wie Äpfel
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und dein Gaumen wie der beste Wein …, … der auf meinen Geliebten fließt und die Lippen der Schlafenden benetzt. Ich gehöre meinem Geliebten, und auf mich (richtet sich) sein Verlangen.
Der Abschnitt wird von zwei Dialogen gerahmt: in Vers 1 vom Dialog zwischen einem Chor und dem Mann, in Vers 10b–11 vom Dialog der beiden Liebenden. In Vers 1 findet sich zweimal das Wort „Schulammit“; dem entspricht das zweimalige Vorkommen des Wortes „mein Geliebter“ in Vers 10b–11. In der Mitte (Vers 2–10a) spricht der Geliebte. Seine Rede lässt sich in zwei Abschnitte gliedern: Der erste Teil (Vers 2–6) ist ein klassisches Beschreibungslied, im zweiten Teil geht der Mann von der Theorie zur Praxis über (Vers 7–10a). Der Abschnitt endet mit der Vereinigung der beiden Liebenden (Vers 10b–11). Der Text ist ein schönes Beispiel für die Bedeutung der Achtsamkeit in der Liebe. Der Mann stürzt sich nicht als ein Getriebener seiner Leidenschaften auf seine Geliebte, er „überfällt“ sie nicht, sondern er ist zunächst ein Schauender: Jemand, der seine Geliebte in ihrer Schönheit als Gegenüber wahrnimmt, „von den Füßen (Vers 2) bis zu den Haaren (Vers 6)“. Seine Haltung ist geprägt von wohlwollender und liebender Aufmerksamkeit, die mit dem staunenden Ausruf beginnt: „Wie schön!“ Diese Form der Achtsamkeit ist die Voraussetzung der Liebe ebenso wie die des religiösen Lebens. „Ubi amor, ibi oculus“, sagt der heilige Thomas von Aquin und greift damit ein Wort Richard von Sankt Viktors auf: „Wo die Liebe, dort ist das Auge“. Es dürfte kein Zufall sein, dass für das Schauen hier zweimal ein Wort (hazah) verwendet wird, das vor allem im religiösen Kontext gebräuchlich ist. Es ist ein Begriff, der insbesondere die prophetische Form der Wahrnehmung bezeichnet: ein Schauen, das im äußerlich Sichtbaren etwas Göttliches vernimmt. Wahre Liebe macht nicht blind, sondern sehend. Alles sofort an sich reißen zu wollen, ist der sicherste Weg zum Nicht-Verstehen. Im ersten Vers begegnen wir zahlreichen Anspielungen auf andere biblische Texte. Vermutlich wird Vers 1a–b von einem Chor gesungen, in Vers 1c spricht der Mann, in Vers 1d wiederum der Chor. 142
Viermal kommt in Vers 1 das hebräische Wort schubi vor, das hier mit „wende dich“ übersetzt ist: „Wende dich, wende dich, Schulammit, wende dich, wende dich, dass wir dich schauen!“ In diesem Ausruf klingt mehr an als eine Aufforderung zum Tanz. In den meisten Fällen bedeutet das hebräische Wort schub „umkehren, zurückkehren“. Es findet sich in zentralen Texten des Alten Testaments, und zwar sowohl im Sinne der inneren Umkehr als auch im Sinne der Rückkehr aus dem Exil in das Land der Verheißung. Im Buch des Propheten Jeremia heißt es (31,21f): „Kehr um, Jungfrau Israel, kehr um in diese deine Städte! Wie lange willst du dich noch im Kreis drehen, du abtrünnige Tochter? Denn etwas Neues erschafft der Herr im Land: Die Frau wird den Mann umgeben.“ Nur an diesen beiden Stellen und in Hld 5,6 findet sich das hebräische Wort hamaq, das einmal mit „sich im Kreis drehen“ und einmal mit „Rundungen deiner Hüften“ zu übersetzen ist. Das Wort „Kehr um“ erinnert zudem an die Rückkehr Jakobs aus dem Zweistromland in das Land der Verheißung. „Der Herr sagte zu Jakob: Kehr um in das Land deiner Väter!“ (Gen 31,3) Vor dem Hintergrund der Rückkehr Jakobs erklärt sich auch das eigenartige Vorkommen der beiden Lager. In Vers 1 heißt es: „Was wollt ihr an Schulammit schauen? Den Reigentanz der beiden Lager!“ Exegeten rätseln, was das zu bedeuten habe. Bei der Rückkehr in das Land der Verheißung gelangt Jakob an einen Ort namens „Mahanajim“. Das heißt übersetzt: „Doppellager“. Dort erblickt er seinen Bruder Esau. Jakob teilt seine Leute in zwei Lager auf (Gen 32,8). Anschließend kommt es zur nächtlichen Begegnung mit Gott. Aus ihr geht Jakob als ein an der Hüfte Getroffener hervor (Gen 32,23–33; vgl. Hld 7,2). Die beiden Lager könnten auf die beiden Teile des Gottesvolkes verweisen, die wieder vereint werden, wenn Gott sein Volk heimführt. Das passt wunderbar zu den beiden Hauptstädten des Nord- und des Südreiches, Tirza und Jerusalem, die in Hld 6,4 genannt wurden. Wenn das Gottesvolk aus der Zerstreuung gesammelt wird und der Herr aufgrund seiner ewigen Liebe Jakob erlösen wird (Jer 31,3.11), „dann freut sich das Mädchen beim Reigentanz“ (Jer 31,13). In den Versen 2–6 beschreibt der Mann die Schönheit seiner Geliebten. Das Hohelied enthält insgesamt vier Beschreibungslieder. Drei davon gelten der Frau (4,1–7; 6,4–7), nur eines dem Mann (5,10–16). 143
Da die Frau tanzt, richtet sich in unserem Beispiel die Aufmerksamkeit zunächst auf die Füße der Tänzerin. Sandalen trugen normalerweise nur höhergestellte Personen. Das Buch Judit erzählt, wie Judits Sandalen den Feldherrn Holofernes bezauberten (Jdt 16,9). Die Frau wird in Vers 2 bezeichnet als „Tochter eines Edlen“. Das Wort weist zurück auf Hld 6,12, wo von den „Wagen meines edlen Volkes“ die Rede war. Erneut scheinen in der Frau Volk und Land Israel durch. Das fügt sich gut zu den geographischen Vergleichen, mit denen im Folgenden der Körper der Frau beschrieben wird. Die zunächst aufgezählten vier Teile ihres Körpers finden eine Gemeinsamkeit in der Form des Runden: Hüfte, Nabel, Bauch, Brüste (Vers 1–4). Einige sehen darin eine archetypische Form des Weiblichen. Mit der Bezeichnung „ein Werk von Künstlerhänden“ wird angedeutet, dass die Frau in ihrer strahlenden Schönheit ein Werk des Schöpfergottes ist (vgl. Gen 2,22; Ps 8,7). Im ersten Teil des Beschreibungsliedes tritt unter dem Gesichtspunkt der Form die Rundung hervor (Hld 7,2–4). In den Vergleichen des zweiten Teils wird nun die vertikale Linie betont (Verse 5–6). Die Frau ist eine stattliche, aristokratische Erscheinung: „Dein Hals ist wie der Elfenbeinturm …, deine Nase ist wie der Libanonturm …, dein Haupt auf dir ist wie der Karmel.“ In der äußeren Erscheinung und in der Art ihrer Präsenz finden Rezeptivität und Aktivität, Yin und Yang zu einer harmonischen Synthese. Nach der Beschreibung „von den Füßen bis zu den Haaren“ mündet die Bewunderung des Mannes für seine Geliebte in dem Ausruf: „Wie schön bist du und wie freundlich, Liebste in den Wonnen!“ (Vers 7) Jetzt kommt ihre Erscheinung als ganze in den Blick. Die beiden genannten Formen finden zusammen: „Ja, dein Wuchs gleicht einer Palme und deine Brüste den Dattelpalmen!“ (Vers 8) In der altorientalischen Bildkunst repräsentiert die stilisierte Dattelpalme gewöhnlich eine Göttin, die den Menschen, Lebenden wie Toten, ihre Gaben reicht. Sie ist in einem ganz elementaren Sinn ein „Baum des Lebens“. In der Ausstattung des Jerusalemer Tempels finden sich Palmenmotive (vgl. 1 Kön 6,29; Ez 40,16). Ps 92,13 vergleicht den Gerechten mit einer Palme, „gepflanzt im Hause des Herrn“. „Tamar“, das hebräische Wort für Palme, war und ist in Israel ein beliebter Mädchenname (vgl. Gen 38; 2 Sam 13; 14,27). 144
In Vers 9 wechselt die Sprechrichtung in der Rede des Mannes von einem Sprechen über die Geliebte („Ich will die Palme erklettern, will ihre Rispen ergreifen“) zu einem Sprechen zu ihr („Mögen deine Brüste wie Weintrauben sein und der Atem deiner Nase wie Äpfel“). Damit werden die nun folgenden Worte der Frau vorbereitet. Sie stimmt in Vers 10 in die Rede des Mannes ein, indem sie den von ihm begonnenen Satz zu Ende führt: „(Mann) … und dein Gaumen wie der beste Weizen …, (Frau) … der auf meinen Geliebten fließt und die Lippen der Schlafenden benetzt.“ Die Liebe der beiden wird zu einem wechselseitigen Gespräch. Sie ist ein echter Austausch. Die Frau liest ihrem Geliebten die Wünsche von seinen Lippen ab und stimmt in sein Verlangen ein. Dem schließt sich in Vers 11 der Ausdruck wechselseitiger Zugehörigkeit an: „Ich gehöre meinem Geliebten und auf mich (richtet sich) sein Verlangen.“ Der Ausdruck wechselseitiger Zugehörigkeit begegnete bereits in 2,16 und 6,3. An unserer Stelle findet sich eine bemerkenswerte Erweiterung. Die Frau sagt hier: „Und auf mich richtet sich sein Verlangen.“ Das Wort „Verlangen“ (teschuqa) begegnet nur noch an zwei weiteren Stellen des Alten Testaments (Gen 3,16 und 4,7). Dies und die Tatsache, dass das Hohelied spät zu datieren ist, deuten darauf hin, dass hier eine beabsichtigte Bezugnahme, eine so genannte intendierte Intertextualität vorliegt. In Gen 3,16 richtet sich das Verlangen der Frau auf den Mann. Dieses ihr Verlangen führt zu einer Abhängigkeit, die in der Herrschaft des Mannes über die Frau ihren Ausdruck findet. Nach dem Sündenfall sagt Gott zur Frau: „Du hast Verlangen nach deinem Mann, er aber wird über dich herrschen.“ Die Herrschaft des Mannes über die Frau ist demnach eine Folge der Sünde, von der im dritten Kapitel der Genesis erzählt wird. Sie gehört nicht zur ursprünglichen Schöpfung, wie sie von Gott gemeint ist. Ursprünglich ist die Frau nach Sicht der Bibel ein dem Mann „entsprechendes Gegenüber“ (Gen 2,18; vgl. Gen 2,23). Durch den Ungehorsam gegenüber Gott wurde diese Beziehung verzerrt. Das Hohelied stellt nun einen Weg vor Augen, der zur Wiederherstellung dieses ursprünglichen Zustandes führt: den Weg der Liebe. Richtete sich in Gen 3,16 das Verlangen der Frau auf den Mann und führte dies zur Herrschaft des Mannes über die Frau, so richtet sich in Hld 7,11 nun umgekehrt das Verlangen des Mannes auf die Frau: „Auf 145
mich richtet sich sein Verlangen.“ Durch die Umkehrung wird die ursprüngliche Ebenbürtigkeit wiederhergestellt. In der Liebe wird der Fluch über die gefallene Schöpfung aufgehoben. Schon mehrfach konnten wir sehen, dass das Hohelied Motive aus der Paradieserzählung aufgreift. Diese Deutung lässt sich auch in einem übertragenen Sinn verstehen. Dem biblischen Menschen- und Gottesbild zufolge hat nicht nur der Mensch Verlangen nach Gott (Ps 42,2f), sondern auch Gott hat Verlangen nach dem Menschen. Gott sucht den Menschen bereits unmittelbar nach dem Sündenfall in seinem Versteck auf (vgl. Gen 3,9). „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt“ sagt JHWH zu seinem Volk, das hier, im Buch des Propheten Jeremia (31,3), in der 2. Person Singular als Frau angesprochen wird (vgl. Lk 22,15).
Für dich aufbewahrt (7,12–14) 7,12 13 14
Auf, mein Geliebter, lass uns aufs Feld hinausgehen! Lass uns die Nacht unter den Hennasträuchern verbringen! In der Frühe werden wir zu den Weinbergen aufbrechen, wir wollen sehen, ob der Weinstock Sprossen trägt, ob die Knospen sich öffnen (patach), ob die Bäume des Granatapfels blühen. Dort will ich dir meine Liebkosungen schenken. Die Liebesäpfel verströmen Duft, und an unseren Türen (patach) sind allerlei Köstlichkeiten, neue wie alte: Für dich, meinen Geliebten, habe ich sie aufbewahrt.
Die kleine Texteinheit wird gerahmt durch die Anrede „mein Geliebter“ in Vers 12 und Vers 14. In der Abfolge der sinnlichen Eindrücke findet eine Entwicklung statt vom Sehen über das Riechen zum Essen. Die erste Strophe spricht von den Blüten, die zweite von den Früchten. Die zeitliche Abfolge geht vom Frühjahr über den Sommer zum Herbst und von der Nacht zum frühen Morgen. In Hld 2,10–13 hat der Geliebte seine Geliebte aufgefordert, herauszukommen und ins Freie zu gehen. Jetzt ist es umgekehrt: Sie 146
fordert ihn auf, zusammen mit ihr aufs Feld hinauszugehen. Sie spricht in der 1. Person Plural. Ich und Du sind jetzt zu einem gemeinsamen Wir geworden. Auf dem Feld, außerhalb der Siedlung, können die beiden ungestört ihre Liebe genießen (vgl. Dtn 22,25–27; 2 Sam 14,6). Auch Kain geht mit seinem Bruder Abel aufs Feld hinaus. Wird bei den beiden Brüdern das Feld jedoch zum Ort des Todes, so wird es hier zum Ort der Liebe, die stärker ist als der Tod (vgl. Hld 8,6). Zwischen diesen beiden Texten eine Verbindung herzustellen, ist keineswegs willkürlich. Denn im vorangehenden Vers begegnet das Wort „Verlangen“ (teschuqa). Die Frau bekennt: „Ich gehöre meinem Geliebten, und auf mich (richtet sich) sein Verlangen“ (Hld 7,11). Das Verlangen ist hier Ausdruck der Liebe. Das Wort kommt nur noch an zwei weiteren Stellen des Alten Testaments vor, in Gen 3,16 (siehe dazu die vorangehende Auslegung zu Hld 7,11) und in Gen 4,7. In Gen 4,7 geht es um das Verlangen der Sünde. Sie lauert wie ein Dämon „am Eingang (pätach)“. Das Wort patach („Tür“ bzw. „öffnen“) kommt in unserem Text zweimal vor (Vers 13 und 14). Gott macht Kain auf die Gefahr aufmerksam und warnt ihn: „Auf dich ist sein Verlangen gerichtet, du aber herrsche über ihn.“ Doch Kain gelingt es nicht, das Verlangen des Dämons zu beherrschen. Er fällt ihm zum Opfer und wird selbst zum Täter. Er tötet seinen Bruder Abel. In Hld 7,12–14 hat sich die Situation vollkommen verwandelt. Hier führt das Verlangen nicht zum Tod, sondern zum Leben. Dieses Verlangen ist Ausdruck der Liebe und darf nicht unterdrückt werden. Auf diesem Weg wird die paradiesische Ebenbürtigkeit wiederhergestellt. Entsprechend beginnt die folgende Texteinheit mit dem an ihren Geliebten gerichteten Wunsch der Frau: „Ach, wärest du doch mein Bruder, gesäugt an der Brust meiner Mutter“ (8,1). Die Atmosphäre des kleinen Liedes ist geprägt von der Entsprechung zwischen dem Auf blühen und Reifen der Natur und der Frau. Wenn sie sagt: „Dort will ich dir meine Liebkosungen schenken“, dann ist damit zum einen das Feld gemeint. Das hebräische Wort scham kann aber auch heißen: „dann“. Gemeint wäre dann: Wenn der Weinstock Sprossen trägt, wenn die Knospen sich öffnen und die Granatapfelbäume blühen, wenn die Liebe der Frau zur Reife gelangt ist, dann will sie ihre Früchte verschenken. Sie tut dies aber 147
nicht wahllos. Sie hat ihre Früchte für ihren Geliebten auf bewahrt, für den einen, der unter Tausenden hervorsticht (vgl. 5,10; 6,9): „Für dich, meinen Geliebten, habe ich sie auf bewahrt.“ Erneut wird die Geliebte durchsichtig hin auf das verheißene Land. Das hebräische Wort megadim („Köstlichkeiten“) findet sich sonst nur noch im Segen des Mose, der die Köstlichkeiten des verheißenen Landes preist (Dtn 33,13–16). Die Geliebte will ihrem Geliebten neue wie alte Früchte schenken. Im Zusammenhang mit dem Segen und der überreichen Fruchtbarkeit des Landes findet sich der Ausdruck „neue und alte“ in Lev 26,10: „Ihr werdet noch von der alten Ernte zu essen haben und das Alte hinausschaffen müssen, um Platz für das Neue zu haben.“ Auch die Schönheit Gottes ist, wie der heilige Augustinus weiß, tam antiqua et tam nova – „alt und neu zugleich“ (Bekenntnisse 10,27).
Wärest du doch mein Bruder! (8,1–4) 8,1 2 3 4
Ach, wärest du doch mein Bruder, gesäugt an der Brust meiner Mutter! Fände ich dich draußen, dürfte ich dich küssen, und man könnte mich nicht verachten. Ich würde dich führen, dich bringen in das Haus meiner Mutter, du würdest mich belehren. Ich gäbe dir zu trinken vom Würzwein, vom Saft meines Granatapfels. Seine Linke unter meinem Kopf, und seine Rechte umfängt mich. Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, was erweckt ihr, was erregt ihr die Liebe, bis es ihr selbst gefällt.
Auf dem Feld in der freien Natur konnten die Liebenden ihre Liebe ungestört genießen (7,12–14). In der Stadt ist das am helllichten Tag nicht so leicht möglich (vgl. Spr 7,6–13). Deshalb äußert die Frau den Wunsch: „Ach, wärest du doch mein Bruder! … Fände ich dich draußen, dürfte ich dich küssen, und man könnte mich nicht verachten.“ Nur zu gern würde sie ihn dann in das Haus ihrer Mutter 148
bringen, um dort geschützt vor einer zudringlichen Öffentlichkeit mit ihm zusammen zu sein (vgl. 3,4). Die ersehnte Intimität wird durch das Bild der stillenden Mutter unterstrichen. Hier werden mehrere Ebenen angesprochen. Zunächst geht es um die geschwisterliche Gemeinschaft, um das innige Miteinander-vertraut-sein, wie es unter Geschwistern, die an der Brust derselben Mutter gestillt wurden, möglich ist. Zugleich aber rückt die Geliebte hier selbst in die Rolle einer Mutter. Von den Brüsten der Geliebten war in der vorangehenden Texteinheit die Rede. Dort sagte der Mann: „Dein Wuchs gleicht einer Palme und deine Brüste den Dattelpalmen“ (Hld 7,8). Der Mann äußerte das Verlangen, die „Palmen-Frau“ zu besteigen und von ihren „TraubenBrüsten“ zu essen und zu trinken. Jetzt greift die Frau den Wunsch ihres Freundes auf und lädt ihn ein, von ihrem Würzwein und vom Saft ihres Granatapfels zu trinken (Vers 2). In gewisser Weise wird die Geliebte für ihren Geliebten zu einer Mutter, die sein Verlangen stillt. In der Liebe zwischen Mann und Frau findet immer auch so etwas wie eine Rückkehr in eine frühkindliche Einheit statt. Die Psychologie lehrt und die Erfahrung zeigt, dass die Geliebte für den Mann archetypisch gewöhnlich zu einer (idealen und ersehnten) Mutter wird – eine Realität, mit der sich jede Liebe auseinanderzusetzen hat. Die Liebe der beiden reiht sich ein in die Kette der Generationen. Die Frau äußert die Erwartung, ihr Geliebter werde sie im Hause ihrer Mutter „belehren“. Bei einem wörtlichen Verständnis kann damit eigentlich nur gemeint sein, dass er sie in Sachen der Liebe belehren möge. Doch für eine derartige Belehrung gibt es im Alten Testament so gut wie keine Belege. Wohl jedoch findet sich dort mehrfach der Hinweis, dass Gott in der anbrechenden Heilszeit sein Volk belehren werde. Am Ende des 48. Kapitels des Jesajabuches, unmittelbar vor dem Aufruf, aus Babel auszuziehen, findet sich die Zusage: „Ich bin JHWH, dein Gott, der dich lehrt, was Nutzen bringt“ (Jes 48,17). Im neuen, aus kostbaren Edelsteinen erbauten Jerusalem werden alle „Jünger des Herrn“ sein (wörtlich: „von JHWH Belehrte sein“; vgl. Jes 55,1–5; Jer 31,33f). Das Haus der Mutter wäre im Horizont dieser Deutung dann der Tempel (vgl. Hld 1,4; 3,4; Ez 43,1–9; Sach 1,16f; 6,9–15; 8,3). 149
Damit löst sich auch das Rätsel der Mutter und die auffallende Tatsache, dass der Vater im Hohelied gar nicht vorkommt. In der metaphorischen Sprache der Bibel können in familiären Konstellationen einzelne Rollen fließend ineinander übergehen und unterschiedlich besetzt werden. Dies gilt besonders für jene Bildkonstellationen, in denen Gott und Mensch in eine familiäre Beziehung gestellt werden. Das Buch Baruch gibt uns dazu ein anschauliches Beispiel (Bar 4,5–5,9): Die Stadt Jerusalem wird hier als eine von vielen verlassene Witwe vorgestellt. Sie ist zugleich Mutter vieler Kinder. Ihre Kinder bilden zusammen das Volk Israel. Diese wurden verkauft an die Völker, weil sie ihren Schöpfer zum Zorn gereizt haben. Ihr Schöpfer ist zugleich ihr Ernährer, und dieser ist Gott: „Euren Ernährer habt ihr vergessen, den ewigen Gott. Ihr habt auch Jerusalem betrübt, die euch aufzog“ (Bar 4,8). Dieser Konstellation zufolge nimmt Gott gegenüber Jerusalem die Rolle des Ehemannes ein. Er ist somit auch der Vater ihrer Kinder. Deren Ungehorsam hat nicht nur ihn, sondern auch Jerusalem, ihre Mutter, betrübt. Durch dieses Unglück ist sie zur Witwe geworden: „Denn ich musste sehen, dass meine Söhne und Töchter verschleppt wurden, wie es der Ewige über sie verhängt hat. Mit Freude habe ich sie großgezogen, mit Weinen und Klagen musste ich sie ziehen lassen. Keiner juble, dass ich Witwe bin und von so vielen verlassen; der Sünden meiner Kinder wegen bin ich vereinsamt“ (Bar 4,10–12; vgl. Jes 51,17–23; Klgl 1,1ff). Am Ende des Buches wird Jerusalem aufgefordert, das Kleid ihrer Trauer und ihres Elends abzulegen (Bar 5,1): „Steh auf, Jerusalem, und steig auf die Höhe! Schau nach Osten, und sieh deine Kinder: Vom Untergang der Sonne bis zum Aufgang hat das Wort des Heiligen sie gesammelt. Sie freuen sich, dass Gott an sie gedacht hat. Denn zu Fuß zogen sie fort von dir, weggetrieben von Feinden; Gott aber bringt sie heim zu dir, ehrenvoll getragen wie in einer königlichen Sänfte“ (Bar 5,5f; vgl. Jes 52,1–12; 61,10). Unverkennbar besteht hier eine Verbindung zu dem in Hld 3,6–11 beschriebenen königlichen Hochzeitszug. Der folgende Vers ruft diese Szene in Erinnerung (Hld 8,5). Vor dem Hintergrund dieser und weiterer bereits angeführter Texte oszilliert die Beziehung zwischen der Braut und dem Bräutigam des Hoheliedes im Horizont des metaphorischen Verständnisses zwischen zwei Ebenen, einer göttlichen und einer menschlichen: 150
Einerseits ist der Geliebte Gott selbst. In ihrer tiefen Sehnsucht, mit diesem Geliebten in eine intime Gemeinschaft der Liebe zu finden, äußert die Frau den Wunsch: „Ach, wärest du doch mein Bruder, gesäugt an der Brust meiner Mutter! Fände ich dich draußen, dürfte ich dich küssen, und man könnte mich nicht verachten“ (8,1; vgl. Lk 7,36–50). Die Braut möchte ihren Bräutigam gleichsam vom Himmel herab in die vertraute Gemeinschaft ihrer Familie holen. Damit rückt die messianisch-menschliche Dimension des göttlichen Bräutigams in den Vordergrund (vgl. die Auslegung zu Hld 3,6–11). Vor diesem Hintergrund löst sich das Rätsel der Mutter wie folgt auf: Ihre Mutter (3,4; 8,2) und seine Mutter (8,5) sind ein und dieselbe Mutter: das personifizierte Gottesvolk, die junge Frau, die den Messias zur Welt bringt (vgl. Jes 7,14): „Die Frau, die kinderlos war, lässt er im Hause wohnen; sie wird Mutter und freut sich an ihren Kindern“ (Ps 113,9; vgl. Ps 127; 128; Jes 54,1–10). Der Geliebte ist dann nicht nur König und Hirte, sondern auch Bruder. Und sie ist seine Schwester-Braut (4,9–5,1). Die Erzählung von der Begegnung zwischen Jesus und der samaritanischen Frau am Jakobsbrunnen weist einige Parallelen zu unserem Text auf (Joh 4,1–26). Jesus bittet die Frau: „Gib mir zu trinken!“ Er belehrt sie. In Jesus begegnet der samaritanischen Frau, die jetzt keinen Mann mehr hat, der messianische Bräutigam (Joh 3,29; Mt 9,15; Mk 2,19; Lk 7,34). Mit seinem Kommen beginnt die Hochzeit (Joh 2,1–12), deren Stunde in der liebenden Hingabe am Kreuz ihre Vollendung findet (Joh 12,23; 13,31f). Ohne das Hohelied des Alten Testaments bleiben diese Zusammenhänge unverständlich. In der mariologischen Interpretation sind diese Aspekte weiter entfaltet und vertieft worden (vgl. Klaus W. Hälbig, Die Krönung der Braut. Gottes Vermählung mit der Welt in Maria, Sankt Ottilien 2014).
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Epilog: Stärker als der Tod ist die Liebe (8,5–8,14)
Mit Hld 8,5 beginnt der Schlussteil (Epilog) des Buches. Viele der vorangehenden Themen und Motive werden noch einmal kurz eingespielt. Alles bisher Gesagte findet in eine Synthese und gipfelt in der großen, programmatischen Aussage der Frau: „Leg mich als ein Siegel auf dein Herz, als ein Siegel auf deinen Arm, denn stark wie der Tod ist die Liebe, hart wie die Unterwelt die Leidenschaft. Ihre Funken sind Funken von Feuer, eine Flamme Jahs“ (8,6). Formales Kennzeichen des Epilogs ist die stakkatoartige Kürze seiner Strophen. Die ersten drei Strophen bestehen aus einem Wechselgesang zwischen einer Gruppe (Chor) und einer/m der beiden Liebenden. Nicht immer ist klar, wer sich hinter der Gruppe verbirgt. Zweimal antwortet darauf die Frau, einmal der Mann. Am Ende (8,13f) kommt es noch einmal zu einem Dialog zwischen den beiden Liebenden. Das letzte Wort gehört dabei der Frau. Mit ihren Worten hat das Hohelied begonnen, mit ihren Worten endet es: 8,5ab Chor (Töchter Jerusalems) 8,5c–7 Frau 8,8–9 Chor (Brüder) 8,10 Frau 8,11 Chor (Wächter?) 8,12 Mann 8,13 Mann 8,14 Frau
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Wer ist sie? (8,5) 8,5
Wer ist sie, die da heraufsteigt aus der Wüste, gestützt auf ihren Geliebten? Unter dem Apfelbaum habe ich dich geweckt, wo deine Mutter dich empfing, wo sie dich empfing und gebar.
Der erste Teil unseres Verses erinnert an die ausführliche Schilderung des Hochzeitszuges aus Hld 3,6–11. Im unmittelbar vorangehenden Vers 4 wurden die Töchter Jerusalems erwähnt. Sie dürften diejenigen sein, die nun die Frage stellen: „Wer ist sie, die da heraufsteigt aus der Wüste, gestützt auf ihren Geliebten?“ Die Frage wird nicht beantwortet. Jetzt, gegen Ende des Buches, muss und kann der Leser sie selbst beantworten: Es ist die Tochter Zion, die gestützt auf ihren Geliebten aus der Wüste heraufzieht nach Jerusalem. Deutlich sind die Anspielungen auf Worte des Propheten Hosea. Dort spricht JHWH davon, wie er seine Geliebte in der Wüste umwirbt und sie von dort in das neu auf blühende Land hinaufführt (Hos 2,16–25): „Darum will ich sie selbst verlocken. Ich will sie in die Wüste führen und ihr zu Herzen reden. Dann gebe ich ihr von dorther ihre Weinberge zurück … Sie wird dorthin bereitwillig folgen wie in den Tagen ihrer Jugend, wie damals, als sie aus Ägypten heraufzog … Ich traue mich dir an auf ewig, ich traue dich mir an um den Brautpreis von Gerechtigkeit und Recht, von Liebe und Erbarmen, ich traue dich mir an um den Brautpreis meiner Treue: Dann wirst Du den Herrn erkennen.“ Die zweite Hälfte des Verses wird in der Exegese sehr kontrovers diskutiert. Die hebräische Punktation setzt voraus, dass die Frau den Mann „weckt“ beziehungsweise „erregt“. Sie ist die Sprecherin, die ihren Geliebten anspricht: „Unter dem Apfelbaum habe ich dich geweckt.“ Dass die Initiative von der Frau ausgeht, konnten sich einige Exegeten nur schwer vorstellen – trotz der im Buch Rut geschilderten nächtlichen Szene auf der Tenne des Boas (Rut 3,8). So änderte man die Punktation des hebräischen Textes und machte aus der Ini tiative der Frau eine solche des Mannes. Eine derartige Vorgehensweise widerspricht jedoch den anerkannten Regeln der Textkritik. 153
Es bleibt dabei: Hier weckt (beziehungsweise: erregt) die Frau den Mann. Hin und wieder findet sich der Hinweis, dass dieser Vers ein eindeutiger Beleg dafür sei, dass das Hohelied nicht allegorisch verstanden werden könne. Denn dass der Mensch Gott wecke, sei eine der Bibel fremde Vorstellung. Um ein allegorisches Verständnis zu ermöglichen, habe die syrische Übersetzung Subjekt und Objekt des Satzes vertauscht: Der Mann, jetzt Bild für Gott, weckt die Frau, das heißt: sein Volk. Die Argumente überzeugen nicht. Die masoretische Punktation des hebräischen Textes kann und muss beibehalten werden. Gleichwohl ist ein metaphorisches Verständnis ohne Bedenken möglich. Die Bibel kennt das Motiv der schlafenden Gottheit (vgl. 1 Kön 18,27). Natürlich ist JHWH ein Gott, der „nicht schläft und nicht schlummert“, so dass er geweckt werden müsste (vgl. Ps 121,4). Gleichwohl kann die Bibel in anthropomorpher Redeweise davon sprechen, dass das Volk sich in seiner Sehnsucht und Not an Gott wendet, um ihn aufzuwecken und zum Handeln zu bewegen: „Wach auf! Warum schläfst du, Herr? Erwache, verstoße nicht für immer!“ (Ps 44,24; vgl. 80,3) Im Psalm ist vom Bund Gottes mit Israel die Rede. Der eindringlich geäußerten Bitte von Psalm 44 folgt in Psalm 45 das wunderbare Bild von der Hochzeit zwischen dem König und seiner Braut, der Tochter Zion. Das Hohelied kann als die Veranschaulichung und Versinnbildlichung dieser Theologie gelesen werden: der Erneuerung des (Liebes-)Bundes zwischen Gott und seiner Braut. Erich Zenger schreibt, dass die Psalmen 45–48 als Antwort auf den Schrei nach Gott von Psalm 44 zu lesen sind. Auch im Neuen Testament kommt es vor, dass der schlafende Messias geweckt werden muss, um seine Jünger aus ihrer Not zu retten (Mt 8,25; Mk 4,38; Lk 8,24). Dass dies im Hohelied „unter dem Apfelbaum“ geschieht, dürfte ebenfalls in einem symbolischen Sinn gemeint sein. In Hld 2,3 wird der Geliebte mit einem Apfelbaum verglichen. Dasselbe Bild kann im Hohelied einmal für einen der beiden Partner, ein anderes Mal für den Ort ihrer Liebesbegegnung stehen. Weinberg und Apfelbaum stehen für die Frau und den Mann und zugleich für den Ort der Liebe, das Land, das zum Garten Eden geworden ist (vgl. Ez 34,23–31; 36,35; Jer 31,12).
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Stark wie der Tod ist die Liebe (8,6) 8,6
Leg mich als ein Siegel auf dein Herz, als ein Siegel auf deinen Arm, denn stark wie der Tod ist die Liebe, hart wie die Unterwelt die Leidenschaft. Ihre Funken sind Funken von Feuer, eine Flamme Jahs.
Siegel kannte man in Israel wie im Alten Orient entweder als Stempel- oder als Rollsiegel. Es handelt sich dabei gewöhnlich um etwa 10 bis 25 mm lange, aus Stein stereometrisch oder figurativ gestaltete Objekte. Man trug sie an einer Schnur am Hals (vgl. Gen 38,18) oder am Handgelenk. Stempelsiegel konnten auch als Siegelring am Finger getragen werden (vgl. Jer 22,24). Sie waren mit Eingravierungen versehen, die Gestirne, Pflanzen, Tiere, Menschen, Gottheiten und Inschriften darstellen konnten. Mit ihnen wurden Abdrücke auf weichem, noch ungebranntem Ton vorgenommen. Der so besiegelte Gegenstand rückte damit in eine enge rechtliche oder persönliche Beziehung zu seinem Besitzer. Neben der Funktion, einen Gegenstand zu besiegeln, wird den Siegeln auch die Funktion zugesprochen, ihren Träger zu beschützen. Aufgrund dieser so genannten apotropäischen Funktion werden sie deshalb auch „Siegelamulette“ genannt. Wie ist vor diesem Hintergrund unser Text zu verstehen? Vom hebräischen Wortlaut her ist klar, dass die Frau spricht. Es bieten sich zwei Verständnismöglichkeiten an. Die eine betont den Aspekt des Schutzes und der Abwehr von Gefahren, die andere den der engen und bleibenden Zusammengehörigkeit. Vom vorangehenden Text her gesehen dürfte zunächst der Gesichtspunkt der engen und bleibenden Zusammengehörigkeit im Vordergrund stehen. In Vers 4 haben die beiden Liebenden zusammengefunden. Die Töchter Jerusalems werden beschworen, diese Liebe nicht zu stören. Wenn die Frau nun wünscht, dass ihr Geliebter sie als ein Siegel auf seinem Herzen und an seinem Handgelenk tragen möge, dann heißt das: er möge sie immer bei sich tragen, sie nie vergessen. So wie ein Siegelring ein beinahe unveräußerliches, „typisches“ Merkmal seines Trägers ist, 155
den dieser immer eng an seinem Körper bei sich trägt, so möchte die Geliebte für ihren Geliebten in enger und bleibender Zugehörigkeit Teil seines Lebens sein. In der zweiten Vershälfte ist nun von einer Gefahr die Rede: Tod und Unterwelt scheinen der Liebe ein baldiges Ende zu bereiten. Dem hält nun die Geliebte das Vertrauen entgegen: Es gibt eine Wirklichkeit, die dem Tod ebenbürtig ist: die Liebe. Die altorientalische Mythologie weiß viel vom Kampf zwischen den Mächten des Todes und des Lebens zu erzählen. Christen mag die Ostersequenz Victimae paschali laudes („Singt das Lob dem Osterlamm“) in den Sinn kommen, in der von einem dramatischen Duell zwischen Tod und Leben gesungen wird: Mors et vita duello conflixere mirando („Tod und Leben rangen in wundersamer Weise miteinander“). Wie dieser Kampf an unserer Stelle ausgeht, sagt der Text nicht. Deutlich ist jedoch, dass die Frau darauf vertraut, ihrem Geliebten im Tod nicht entrissen zu werden. Archäologische Funde bezeugen, dass Siegelamulette häufig den Toten mit ins Grab gegeben wurden. Betont man im vorliegenden Kontext die apotropäische Funktion des Siegels, dann wäre die Frau für den Mann wie eine Art Göttin, die ihn vor den Gefahren des Todes bewahrt. Das scheint mir, zumal bei einem naturalistischen Verständnis, schwierig zu sein. Denn schließlich ist sie es, die hier die Bitte ausspricht, von deren Erfüllung sie erwartet, gegenüber dem Tod gewappnet zu sein. Jedem mit der Bibel vertrauten Leser kommt bei unserem Vers das berühmte Schema Israel („Höre Israel“) aus Dtn 6,4–6 in den Sinn. Die deutlichen Anklänge an das täglich zu rezitierende jüdische Bekenntnis deuten darauf hin, dass unser Autor gezielt darauf angespielt hat: „Höre Israel: JHWH, unser Gott, JHWH ist einzig. Darum sollst du JHWH, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte … sollen auf deinem Herzen sein … Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden.“ So wie Israel hier aufgefordert wird, JHWH und seine Worte nie aus den Augen zu verlieren, so spricht in Hld 8,6 die Frau den Wunsch aus, ihr Geliebter möge sie wie ein Siegel auf seinem Herzen und auf seinem Arm bei sich tragen. Diese Liebe ist stark wie der Tod. Sie vermag ihm standzuhalten.
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Eine Flamme Jahs Es wird oft gesagt, das Wort „Gott“ komme im Hohelied nicht vor. Das ist richtig. Richtig ist aber auch, dass im letzten Wort von Hld 8,6 eine Anspielung auf den Gottesnamen JHWH vorliegt. Das entspricht der Gattung des Buches. Wir haben zu Beginn der Auslegung gesagt, dass mit der Zuschreibung des Büchleins an Salomo in der Überschrift angedeutet sein soll, dass der Leser mit einem literarisch anspruchsvollen Werk zu rechnen hat, das eine vielschichtige Bedeutung aufweist und über weite Strecken hin den Charakter eines Rätselgedichtes an sich trägt. Wer bis hierher genau gelesen hat, wer die Bibel kennt und die zahlreichen Anspielungen entdeckt, dem ist aufgegangen, dass das Hohelied zwar nicht von Gott und seiner Liebe spricht, diese jedoch sehr wohl meint. Gegen Ende des Buches tritt dieses verborgene Sprechen von göttlicher und menschlicher Liebe noch einmal in besonderen Anspielungen hervor. Der Vers Hld 8,6 ist der Schlüsselvers des Buches. In ihm läuft alles bisher Gesagte zusammen: Die Liebe ist eine Flamme Jahs. Das Wort schalhebet bedeutet „Flamme“. An dieses Wort hat der Dichter die Kurzform des Gottesnamens -jah angehängt. Das kann man leicht überlesen, und die antiken Übersetzungen haben es auch getan. Die angehängte Silbe -jah lediglich als Bedeutungsverstärker im Sinne von: „eine gewaltige Flamme“ zu verstehen, wird dem Befund jedoch nicht gerecht. In den letzten Abschnitten des Hoheliedes ist das Wort „Liebe“ ein Leitwort. Es kommt hier insgesamt viermal vor (8,4–7). Hier wird Grundsätzliches über die Liebe gesagt. Dabei kommt die geheimnisvolle Beziehung zwischen der Liebe und dem Tod in den Blick: „Stark wie der Tod ist die Liebe“. Das heißt zum einen: Wer von der Liebe ergriffen wird, stirbt. Wer wirklich liebt, geht zugrunde. Das zeigt sich in allen Ausdrucksformen der Liebe. In der sexuellen Ek stase ebenso wie in der Erfahrung der mystischen Vereinigung. Therese von Lisieux (1873–1897) beschreibt diese Erfahrung in ihrer Autobiographie so: „An diesem Tag aber war es nicht mehr ein Blick, sondern eine Fusion, sie waren nicht mehr zwei, Therese war verschwunden, wie der Wassertropfen im weiten Meer sich verliert“ (SB 73; Ms A 35r°). Wahre Liebe zeigt sich darin, dass jemand sein Leben hingibt für die, die er liebt (Joh 15,13). 157
In dieser Liebe jedoch findet eine geheimnisvolle Verwandlung statt. Wer liebt, wer sich hingibt und zu-Grunde geht, der entkommt dem Tod und lebt. Wer sich dem jedoch verschließt, wer sein Leben vor diesem Tod retten will, der stirbt. So ist das Sterben einerseits der Weg der Liebe und zugleich ist die Liebe die Überwindung des Todes. Das meint der Satz: „Stark wie der Tod ist die Liebe“. Das Neue Testament sagt nichts anderes: „Wer sein Leben zu bewahren sucht, wird es verlieren; wer es dagegen verliert, wird es gewinnen“ (Lk 17,33; vgl. Mt 10,39; Joh 12,24f). Dieses Geheimnis ist letztlich nicht ohne Gott zu verstehen. Es ist die Erfahrung von Tod und Auferstehung. Unser Text drückt es im Symbol der Flamme und des Feuers aus: Die Liebe ist eine Flamme Jahs, eine Flamme Gottes, ihre Funken sind Feuerfunken. Feuer und Flamme sind im Alten Testament ein Symbol für die geheimnisvolle Gegenwart Gottes. An zentralen Wegmarken der Geschichte Gottes mit seinem Volk erscheint JHWH in einem Feuer: im brennenden Dornbusch (Ex 3,2), beim nächtlichen Auszug aus Ägypten (Ex 13,21f), in der Theophanie am Sinai (Ex 19,18) und beim Zug durch die Wüste (Num 14,14). So wie Tod und Liebe innerlich miteinander verbunden sind und zu neuem Leben führen, so ist JHWH „ein verzehrendes Feuer, ein leidenschaftlicher Gott“ (Dtn 4,24). Das ist im Tiefsten mit dem Auszug gemeint, zu dem der Geliebte seine Geliebte einlädt: „Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, so komm doch!“ (Hld 2,10; vgl. 1,8)
Weder Tod noch Leben (8,7) 8,7
Gewaltige Wasser vermögen es nicht, die Liebe zu löschen, und Ströme nicht, sie zu überfluten. Gäbe jemand die ganze Habe seines Hauses für die Liebe, man würde ihn nur verachten.
Die Liebe wird in diesem Vers zwei großen Mächten entgegengestellt: den gewaltigen Wassern und dem reichen Besitz. Doch beide Mächte sind der Liebe unterlegen. Bei den gewaltigen Wassern ist an die Chaoswasser zu denken, die Gott mit der Schöpfung zurück158
gedrängt und auf diese Weise gebändigt hat (vgl. Gen 1,2–10; Ijob 38,8–11; Ps 18,5; 77,17–21). Sie repräsentieren die Mächte des Todes, die in der Lage sind, allem Leben auf der Erde ein Ende zu bereiten. In der Sintflut brechen sie in die Schöpfung ein. Selbst diese gewaltigen Wasser können das Feuer der Liebe nicht löschen. Warum nicht? Weil die Liebe eine „Flamme Jahs“ ist, wie im vorangehenden Vers gesagt wurde: eine Flamme Gottes. Die gewaltigen Wasser, die den Tod repräsentieren, können die Liebe nicht löschen, weil diese einer anderen Ordnung angehört. Ähnlich ist es mit der „ganzen Habe seines Hauses“. Jetzt geht es nicht um die Vernichtung, sondern um den „Erwerb“ der Liebe. Bei dem großen Vermögen ist an ein sehr großes Vermögen zu denken, wie es gewöhnlich einem König zur Verfügung steht. Hier dürfte an Salomo gedacht sein, mit dessen Besitz an zahlreichen Frauen sich eine der folgenden Texteinheiten kritisch auseinandersetzt (8,11f). Selbst mit einem unglaublich großen Vermögen kann jemand die Liebe nicht kaufen. Liebe ist nicht käuflich. Sie gehört einer anderen Ordnung an als der des Tausches – ein Wort, das nichts von seiner Aktualität verloren hat. Im Alten Testament gibt es eine weitere Gestalt, die nicht käuflich ist. Es ist die Weisheit. Auch sie gehört einer anderen Ordnung an als die Dinge dieser Welt. Sie ist „Beisitzerin (paredros) auf Gottes Thron“ (Weish 9,4). Sie ist zwar in der Welt, aber nicht von der Welt (Weish 9). Nur in rechter Gesinnung, in der Lauterkeit des Herzens kann der Mensch sie empfangen (Weish 1,4). Er kann sie nicht kaufen: „Sie übertrifft die Perlen an Wert, keine kostbaren Steine kommen ihr gleich“ (Spr 3,15; vgl. Ijob 28,12–19). Von ihr bekennt König Salomo: „Ich liebte sie mehr als Gesundheit und Schönheit und zog ihren Besitz dem Lichte vor; denn niemals erlischt der Glanz, der von ihr ausstrahlt“ (Weish 7,10). Die chaotischen Wasser werden in den antiken Mythologien gewöhnlich als Götter vorgestellt. Diese sind der Liebe unterlegen, weil sie letztlich dem wahren Gott unterlegen sind, denn die Liebe ist eine Flamme Jahs (8,6). So wird noch einmal deutlich: Die Aussage „Stark wie der Tod ist die Liebe“ (8,6) ist im Sinne von „Stärker als der Tod ist die Liebe“ zu verstehen. Die Mächte des Todes können die Liebe nicht vernichten. 159
Im Buch des Propheten Jesaja (43,2) gibt Gott Jakob-Israel eine Zusage, in der einige der in unserem Vers genannten Worte und Motive erneut begegnen: „Wenn du durch Wasser schreitest, bin ich bei dir, wenn durch Ströme, dann werden sie dich nicht überfluten. Wenn du durchs Feuer gehst, wirst du nicht versengt, keine Flamme wird dich verbrennen.“ Die Liebe Gottes zu seinem Erwählten wird alle Mächte des Todes überwinden. Das Neue Testament bezeugt, dass dies tatsächlich geschehen ist. Wer sich der Liebe Gottes gegenüber öffnet, der kann sagen: „Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“ (Röm 8,38).
Schalom gefunden (8,8–10) 8,8 9 10
Wir haben eine kleine Schwester, die noch keine Brüste hat. Was sollen wir für unsere Schwester tun, an dem Tag, da man um sie wirbt? Wenn sie eine Mauer ist, bauen wir darauf eine Zinne aus Silber. Wenn sie eine Tür ist, verriegeln wir sie mit einem Zedernbrett. Ich bin eine Mauer, und meine Brüste sind wie Türme, doch in seinen Augen bin ich geworden wie eine, die Frieden / Glück (Schalom) gefunden hat.
Bei dieser Strophe handelt es sich um einen kleinen „Dialog“ zwischen den Brüdern und ihrer Schwester. Allerdings sprechen sie nicht miteinander, sondern übereinander. Die Brüder überlegen, was sie mit ihrer „kleinen Schwester“ machen sollen. In ihren Überlegungen kommt der ambivalente Charakter einer patriarchalischen Familienstruktur zum Vorschein. Die älteren Brüder „kümmern“ sich um ihre jüngere Schwester. Dieser scheint das gar nicht recht zu sein. 160
Dass ältere Brüder sich um ihre jüngere Schwester sorgen und dabei vor allem an der Entscheidung beteiligt sind, unter welchen Bedingungen und mit wem sie verheiratet wird, war in der damaligen Gesellschaft üblich (vgl. Gen 24; 34). In ihren Überlegungen geht es dabei vor allem um die Bewahrung der Jungfräulichkeit. Die beiden Bilder in Vers 9 meinen ein und dasselbe. „Wenn sie eine Mauer ist, bauen wir ihr eine Zinne aus Silber“ (Vers 9). Eine Stadt wird mit einer Mauer vor unerwünschten Eindringlingen und Eroberern geschützt. Die Brüder beabsichtigen, diesen Schutz durch den Bau einer silbernen Zinne zu verstärken (vgl. 4,4; 6,4). Ebenso soll die Tür, durch die jemand eindringen oder einbrechen könnte, durch ein wertvolles Zedernholz versperrt werden (vgl. 5,4–6). Die Brüder beabsichtigen also, Maßnahmen zur Bewahrung der Jungfräulichkeit ihrer Schwester zu ergreifen. Das liegt durchaus in ihrem eigenen Interesse. Ein jungfräuliches Mädchen war in der damaligen Gesellschaft mehr wert als eine junge Frau, die ihre Jungfräulichkeit vor der Ehe nicht bewahrt hatte. Das Ansehen einer Familie hing in hohem Maße davon ab (vgl. Dtn 22,13–29). Die Schwester hat offensichtlich das Gespräch ihrer Brüder mitbekommen. Sie sieht einiges ein wenig anders. Mit der Aussage: „Ich bin eine Mauer“ scheint sie zu betonen, dass sie selbst in der Lage ist, ihre Jungfräulichkeit zu bewahren. Was ihre körperliche Reife anbetrifft, so widerspricht sie den Äußerungen ihrer Brüder ausdrücklich: „Meine Brüste sind wie Türme.“ Sie ist kein kleines Mädchen mehr, sondern eine reife, junge Frau (vgl. Ez 16,7). Als eine zur Liebe bereite und reife Frau wird sie durchgehend im Hohelied dargestellt (vgl. 6,11; 7,13f). So sieht sie sich selbst und so wird sie auch von ihrem Freund gesehen. Ihre Brüder scheinen das nicht mitbekommen zu haben. Der Vergleich ihrer Brüste mit Türmen ist wahrscheinlich doppeldeutig. Bei den Türmen ist an Wachtürme zu denken (vgl. Ez 26,9; 27,11). Neben ihrer körperlichen Reife wird damit erneut ihre Bereitschaft und Fähigkeit betont, unerwünschte Eindringlinge abzuwehren. In der zweiten Hälfte von Vers 10 scheint es dann aber doch zu einer Kapitulation zu kommen. Diese aber dürfte ganz im Sinne der Frau und Ausdruck ihrer eigenen Entscheidung sein, denn sie hat damit „Frieden“ (Schalom) gefunden. Der Ausdruck lässt an 161
eine Stadt denken, die ihren „Angreifern“ die Tore öffnet und so zu einer „friedlichen Einigung“ gelangt (vgl. Dtn 20,10f). Zum anderen klingt aber auch die bekannte Wendung: „Ruhe finden“ an. Noomi wünscht ihrer verwitweten Schwiegertochter Rut, sie möge „Ruhe finden“ im Hause eines neuen Ehemannes (Rut 1,9; 3,1). Im Wort „Schalom“ hört der Leser zudem das Wort „Salomo“ („Schelomo“) heraus. Derjenige, in dessen Augen die junge Frau als eine erkannt wurde, die Frieden gefunden hat, kann nur ihr Geliebter sein. Könnte damit Salomo, der König des Friedens, gemeint sein (vgl. 1 Kön 5,4; Sir 47,13)?
Die Eine und die Vielen (8,11–12) 8,11 12
Einen Weinberg besaß Salomo in Baal-Hamon, er gab den Weinberg Hütern. Jeder bringt für seine Frucht tausend Silberstücke. Meinen eigenen Weinberg habe ich vor mir. Die Tausend lasse ich dir, Salomo, und zweihundert denen, die seine Frucht hüten.
Das kleine Gedicht spielt mit der Mehrdeutigkeit der inzwischen vertrauten Metaphern des Hoheliedes. Erneut handelt es sich um ein Rätselgedicht. Mit dem Weinberg Salomos kann zunächst ein konkreter Weinberg gemeint sein (vgl. Koh 2,4). Dieser ist so groß, dass Salomo ihn selbst nicht betreuen kann. Er muss ihn zur Bewirtschaftung Hütern übergeben. Jeder von ihnen erwirtschaftet regelmäßig einen außerordentlich hohen Betrag („tausend Silberstücke“). Vom Weinberg Salomos hebt sich „mein eigener Weinberg“ in der zweiten Strophe des Gedichtes ab (Vers 12). Auch dieser Weinberg kann zunächst in einem konkreten Sinn verstanden werden. Nabot aus Jesreël besaß einen Weinberg, der ihm als ein von den Vätern überlassenes Erbe so lieb und teuer war, dass er ihn trotz eines verlockenden Angebots dem König Ahab nicht verkaufen wollte (1 Kön 21). Nabot fällt einem Justizmord zum Opfer und König Ahab reißt dessen herrenlos gewordenen Weinberg an sich. Die königskritische Erzählung macht deutlich, dass es Dinge und Werte gibt, die einem Menschen so ans Herz gewachsen sind, dass sie einem berechnen162
den Denken entzogen und letztlich unverkäuflich sind. Dieser Gedanke wird in unserem kleinen Gedicht aufgegriffen und vertieft. Es geht um die Frage, was eine personale Liebesbeziehung wert ist. Vom bisherigen Textverlauf dürfte deutlich sein, dass der Weinberg in Vers 12 als Metapher für die Frau steht. Mit dieser Metaphorik ist der Leser bereits vertraut (vgl. 1,6; 2,15; 7,9). Zwischen ihr und dem Geliebten besteht eine persönliche, unmittelbare Beziehung. Sprecher von Vers 12 ist der Mann. Er spricht über seine Geliebte: „Meinen eigenen Weinberg habe ich vor mir.“ Vor diesem Hintergrund eines metaphorischen Verständnisses öffnet sich für Vers 11 eine zweite Bedeutungsebene. Auf dieser ist mit dem Weinberg Salomos der königliche Harem gemeint. In 1 Kön 11,3 wird erzählt, dass Salomo siebenhundert fürstliche Frauen und dreihundert Nebenfrauen besaß, also insgesamt tausend. Die Angabe wird mit der gleichen Wendung eingeleitet wie die Aussage in Vers 11: „Einen Weinberg besaß Salomo.“ Auf die vielen Frauen Salomos deutet auch die Ortsangabe: „in Baal-Hamon“; sie heißt übersetzt: „Herr des Getümmels“. Im Harem Salomos tummeln sich viele Frauen. „Hamon“ kann auch „Vermögen“ bedeuten. Salomo ist in der Tat Herr eines Getümmels vieler Frauen und eines großen Vermögens. Bei den Hütern dürfte es sich um Haremswächter handeln (vgl. Est 2,3). Das Ziel des Gedichtes besteht in der Herausstellung eines Kon trastes. Salomo ist der Herr eines großen Getümmels an Frauen. Bei den Frauen im königlichen Harem dürfte es sich um absolute „Spitzen-Frauen“ handeln. Aus anderen Texten des Alten Testaments wissen wir, dass sich die königlichen Frauen einer aufwendigen Schönheitspflege und einer erlesenen Diät zu unterziehen hatten, bevor sie zum ersten Mal vor dem König erscheinen durften (vgl. Est 2,3–14). Bei einer so hohen Investition erwartet der König „reichen Ertrag“. Doch diese höchst attraktiven Frauen sind für den Freund des Hoheliedes nicht der Rede wert. Für eine solche Form der „Massen-Beziehung“ hat der Geliebte nur Hohn und Spott übrig. Seine Geliebte ist einzigartig (vgl. 6,8f). Auf die tausend Frauen Salomos will der Sprecher gerne verzichten: „Die tausend lasse ich dir, Salomo“. Und auch die Wächter sollen noch einige davon mitbekommen: „Und zweihundert denen, die seine Frucht hüten.“ 163
Hier, im vorletzten Gedicht des Hoheliedes wird erneut Grundsätzliches über die Liebe gesagt. Sie wird als eine personale Beziehung zwischen zwei Menschen verstanden, die in ihrer Einmaligkeit durch nichts anderes ersetzt werden kann. Sie entzieht sich der Ebene des Tausches, des Konsums und des Vergleichs. Mit ähnlichen Worten wird im 1. Buch der Könige vom Weinberg Nabots gesprochen. Auch er hat eine enge, gefühlsmäßige Beziehung zu seinem Weinberg, die nicht durch Geld aufgehoben werden kann (1 Kön 21,1–7). Unser Text weist deutliche Entsprechungen zum Weinberglied aus dem Buch des Propheten Jesaja auf (Jes 5,1–7). Beide Text werden mit ähnlichen Worten eingeleitet: „Einen Weinberg besaß mein Geliebter (Jedidi). „Jedidja“ ist ein anderer Name für Salomo. Er erhielt den Namen, weil Gott ihn liebte (2 Sam 12,24f; vgl. Sir 47,18). Der Weinberg ist hier ein Bild für das „Haus Israel“ (Jes 5,6). Der Kontrast zwischen beiden Strophen könnte deutlicher kaum sein. In der zweiten Strophe spricht der Geliebte des Hoheliedes. An einigen Stellen rückt dieser in eine salomonisch-messianische Aura (vgl. 3,6–11; 8,1–4). Liest man die beiden Strophen unter diesem Gesichtspunkt, so besagt ihre Abfolge: Der Freund des Hoheliedes distanziert sich von jenem Salomo, der sich den Frauen hingab und sie herrschen ließ über seinen Leib (Sir 47,19f). Der Freund der Geliebten ist ein anderer Salomo, der wahre Salomo, der Geliebte Gottes. Wenn der Mann des Hoheliedes an einigen Stellen in eine salomonische Aura gerückt wird, dann ist damit jener ideale Salomo gemeint, der den messianischen König des Friedens repräsentiert, wie er in Psalm 72 anschaulich zur Sprache kommt. Unser Gedicht steht in der Tradition jener alttestamentlichen Bücher, die sich kritisch mit dem Salomo der geschichtlichen Überlieferung auseinandersetzen (vgl. u. a. Koh 1–3). Die Liebe des wahren Salomo gilt der Weisheit: „Sie habe ich geliebt und gesucht von Jugend auf, ich suchte sie als Braut heimzuführen und fand Gefallen an ihrer Schönheit“ (Weish 8,2).
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Die Liebe bleibt (8,13–14) 8,13 14
Bewohnerin der Gärten, Gefährten lauschen deiner Stimme. Lass mich hören! Flieh, mein Geliebter, und gleiche dabei der Gazelle oder dem jungen Hirsch auf den Balsambergen!
Mit diesem rätselhaften Gedicht endet das Hohelied. Sein Verständnis hat den Exegeten viel Kopfzerbrechen bereitet. Häufig wird der hebräische Text als verderbt angesehen und „korrigiert“. Ruft die Geliebte ihren Geliebten am Ende zur Flucht auf? Das Gedicht umfasst zwei Strophen. Die erste Strophe besteht aus drei Versen (Vers 13), die zweite aus vier Versen (Vers 14). Zusammen genommen ergibt das sieben (!) Verse. Soll hier vielleicht doch so etwas wie eine Summe des Ganzen gegeben werden? Beide Strophen sind wie Wort und Antwort aufeinander bezogen. In Vers 13 spricht der Mann. Er spricht eine Bitte aus: „Lass mich (deine Stimme) hören!“ In Vers 14 antwortet die Frau. Sie fordert ihren Geliebten auf zu fliehen. Wie ist das zu verstehen? Der Aufruf zur Flucht könnte bedeuten, dass der Geliebte die Gruppe der Gefährten verlassen möge, um mit ihr allein und ungestört zusammen zu sein. Denn die Balsamberge, zu denen er fliehen soll, sind ein Bild für die Geliebte (vgl. 2,17; 4,6). Ihr Aufruf zur Flucht wäre demnach eine verkappte Bitte, zu ihr zu kommen. Das intime Beisammensein der Liebenden duldet keine Öffentlichkeit. Sie bewohnen einen Ort der Abgeschiedenheit, der ihnen allein gehört. Im letzten Vers des Hoheliedes finden wir erneut einen verborgenen Hinweis darauf, dass hier mehr gemeint ist als nur die Liebe zwischen zwei Menschen. Die Bezeichnung „mein Geliebter“ (dodi), die hier zum letzten Mal begegnet, findet sich im Munde der Frau insgesamt 26-mal. Die Zahl sechsundzwanzig ist der Zahlenwert des Gottesnamens JHWH. Damit bestätigt sich die Vermutung: In der Gestalt des Geliebten begegnet der Gott Israels. Wie aber kann die Braut ihren Geliebten, wie kann Israel seinen Gott zur Flucht aufrufen? 165
Wir berühren damit ein weiteres Geheimnis der Liebe. Das Verkosten der göttlichen Gegenwart ist ein zentrales Motiv christlicher Liebesmystik. Nicht weniger bedeutsam jedoch ist die Erfahrung, dass sich Gott verbirgt. Alle bedeutenden Lehrerinnen und Lehrer des geistigen Lebens bezeugen diese Erfahrung. Sie haben darüber nachgedacht, wie diese oft so schmerzliche Situation zu verstehen und was in ihr zu tun ist. Bei Johannes vom Kreuz (1542–1591) beginnt der Weg der Gottesliebe im Grunde erst mit dieser Erfahrung. Dass sich Gott zurückzieht, dass er gleichsam flieht und die geliebte Seele allein lässt, ist kein Zeichen seiner Untreue, sondern ein Weg, der zu einer reifen Liebe führt. Johannes vom Kreuz vergleicht diese Erfahrung mit dem Abstillen eines Kindes. Das Kind mag dies als Zurückweisung empfinden und in Verwirrung geraten. In Wirklichkeit jedoch ist es Ausdruck einer Liebe, die aus kindlicher Abhängigkeit hinausführt. Der bedeutende Lehrer des geistigen Lebens Meister Eckhart (1260–1328) weist immer wieder darauf hin, dass das Bewusstsein von der Gegenwart Gottes nicht zu verwechseln ist mit den „Empfindungen des Gemütes“. Er gelangt zu der Feststellung, dass das Empfinden des Gemütes bisweilen Gott vermisst und meint, „Gott sei fortgegangen“. Und er stellt die Frage: „Was sollst du dann tun?“ Seine Antwort lautet: „Genau dasselbe, was du tätest, wenn du im größten Trost wärest“ (Reden der Unterweisung, 11 / W II, 365–367). Eine reife Liebe ist nicht abhängig von den Empfindungen, die mit ihr zuweilen einhergehen, so wichtig diese auch sein mögen. Die Frau, durch die schmerzlichen Erfahrungen von Suchen und Finden gereift (vgl. 3,1–5), hat am Ende des Hoheliedes zu einer reifen Liebe gefunden. Sie kann ihrem Geliebten zurufen: „Flieh, mein Geliebter!“ Dieser Ruf ist nun von der tiefen Gewissheit geprägt, dass ihr Geliebter erneut zu ihr kommen wird. Wir begegnen dem Wechselspiel von Nähe und Distanz, ohne das keine Liebe lebendig bleiben kann. Die Spannung von Gehen und (Wieder-)Kommen begegnet auch am Ende des Johannesevangeliums. In den Abschiedsreden ruft Jesus seine Jünger zur Liebe auf: „Bleibt in meiner Liebe!“ (Joh 15,9) Er bereitet sie darauf vor, dass er bald von ihnen gehen wird. Diese Ankündigung erfüllt das Herz seiner Jünger mit Trauer. „Doch ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich fortgehe“ (Joh 16,7). 166
Eine wahre Liebe muss durch den Schmerz der Trennung hindurch. Die Trennung eröffnet den Raum für ein erneutes Kommen und eine neue Form der Gemeinschaft (vgl. Joh 16,22). Auch wenn der Geliebte geht – die Liebe bleibt.
Gott ist die Liebe (1 Joh 4,8) In das Hohelied mündet eine lange Geschichte religiöser Erfahrung und theologischer Reflexion. Die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk wird im Alten wie im Neuen Testament mit dem Begriff der Liebe umschrieben. Weil Gott sein Volk liebt, hat er es aus der Knechtschaft Ägyptens befreit (Dtn 7,8). Die angemessene Antwort Israels darauf lautet: „Darum sollst du JHWH, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (Dtn 6,5). Das Neue Testament sagt nichts anderes: „Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe … Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe“ (Joh 15,9.12; vgl. Mk 12,28–34). Die Liebe zwischen Gott und seinem Volk konnte nach unterschiedlichen Modellen gedacht werden. Vertragliche Verpflichtungen zwischen nicht gleichrangigen Staaten wurden im Alten Orient gewöhnlich als Liebesbeziehung stilisiert und konnten mit dem Begriff des Bundes auf das Verhältnis zwischen Israel und seinem Gott übertragen werden. Im Vordergrund stehen dabei Loyalität, Treue und Gehorsam (vgl. Ex 34,10–26). Die Liebe Gottes zu seinem Volk konnte auch nach dem Muster der elterlichen Liebe gedacht werden. Dabei rücken Aspekte der Versorgung und Erziehung in den Vordergrund (vgl. Dtn 8,5; Ps 27,10; 103,8–14). Das Besondere des Hoheliedes besteht nun darin, dass hier die Liebe zwischen Gott und seinem Volk nach dem Modell der Liebe zwischen Mann und Frau erschlossen wird. Dabei fällt auf, dass die damals geläufigen Muster patriarchaler Bevormundung weitgehend unterlaufen werden. Es geht um eine Liebe „von Angesicht zu Angesicht“. Die Deutung der Gottesliebe nach dem Modell der menschlichen Liebe hat das Hohelied nicht erfunden, sondern bei den Propheten vorgefunden. Vor allem in den jüngeren Texten der Propheten Hosea, Jesaja, Jeremia und Ezechiel wird die dramatische Beziehungs167
geschichte zwischen Gott und seinem Volk nach dem Modell einer ebenso dramatischen Geschichte zwischen zwei Ehegatten erzählt und gedeutet. Nicht alle Details dieser bildreichen Sprache können von uns heute unbedacht übernommen werden. Dennoch erschließen diese Texte den Kern der biblischen Botschaft: Es gibt so etwas wie eine anfängliche Liebe Gottes zu seinem Volk (vgl. Hos 11,1). Doch die Antwort des Volkes darauf war letztlich enttäuschend: Es ist seinem Gott davongelaufen und hat sich damit selbst ins Verderben gestürzt. Gottes Liebe jedoch bleibt: „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir so lange die Treue bewahrt“ (Jer 31,3; vgl. Hos 2,16). Hier nun setzt das Hohelied ein. Es bringt in einer wunderbaren, hochpoetischen Sprache die Dynamik dieser Liebesgeschichte zur Sprache. Sie wird verstanden als eine Geschichte der Sehnsucht, des Suchens und des Findens, als eine Geschichte der Trennung und der Vereinigung. Mit dieser Ver-Dichtung werden Erfahrungen gedeutet und erschlossen, die viele Menschen bewegen, die oft jedoch nicht wirklich verstanden werden. Die Entfaltung und Ver-Dichtung derartiger Erfahrungen eröffnet einen Raum der Gestaltung. Daran konnten bedeutende Lehrer des geistlichen Lebens anknüpfen. Im Rückgriff auf das Hohelied konnten sie Menschen auf ihrem spirituellen Weg verstehen und begleiten. Es wird für die Zukunft des Christentums von großer Bedeutung sein, diese Einsichten und Kompetenzen zu bewahren und wiederzugewinnen. Das Hohelied greift auf Erfahrungen menschlicher Liebe zurück. Es ist durchaus möglich, dass der ursprüngliche Sitz im Leben einzelner Lieder ein rein weltlicher war. Im vorliegenden Kontext jedoch dürften die Lieder von Anfang an die Liebesbeziehung zwischen Gott und seiner geliebten Braut, dem Gottesvolk, im Blick haben. Dafür sprechen vor allem die zahlreichen Bezüge zu anderen einschlägigen Texten des Alten Testaments. Sowohl die jüdische als auch die christliche Tradition haben diese Zusammenhänge richtig erfasst. Der göttliche Liebhaber nimmt an einigen Stellen messianische Züge an. Hieran konnte das Neue Testament, insbesondere das Johannesevangelium, anknüpfen (vgl. Mt 9,15; Mk 2,19; Lk 7,34; Joh 3,29). Mit der Übertragung auf Gott findet keine Entwertung der ehelichen Liebe statt. Im Gegenteil: Sie wird dadurch geadelt. Sie wird in 168
den größeren Zusammenhang der Gottesliebe gestellt und dadurch vor unerfüllbaren Erwartungen geschützt. Sie behält ihr menschliches Maß und ihre Würde, sie wird zu einem Weg der Reifung und kann im Vertrauen auf die Liebe Gottes durch alle Krisen hindurch in Freude und heiterer Gelassenheit gelebt werden (vgl. Koh 9,9). Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass einige Lieder aus einem ursprünglich polytheistischen Symbolsystem herausgewachsen sind. In den polytheistischen Religionen gehen Götter und Göttinnen vielfältige Liebesbeziehungen miteinander ein. Ob JHWH, der Gott Israels, ursprünglich in solchen polytheistischen Konstellationen beheimatet war, ist in der Forschung sehr umstritten und dürfte meines Erachtens eher unwahrscheinlich sein. Wohl jedoch bezeugt das Alte Testament, dass Israel in seiner Geschichte neben JHWH immer wieder andere Götter verehrt hat. Archäologische Forschungen haben Inschriften entdeckt, in denen von „JHWH von Teman und seiner Aschera“ die Rede ist. Es ist umstritten, ob diese Bezeichnung im Sinne einer sexuell determinierten Paar-Relation zu verstehen ist, dergestalt, dass JHWH hier die Göttin Aschera als seine Partnerin an die Seite gestellt wurde (vgl. dazu die Diskussion bei Othmar Keel / Christoph Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen, QD 134, Freiburg i. Br. 41998, § 129–147). Die im Alten Testament bezeugte „offizielle Religion“ Israels jedenfalls kennt solche Kon stellationen nicht. Dennoch kann vor dem hier skizzierten religionsgeschichtlichen Hintergrund das besondere Profil des Hoheliedes weiter erhellt werden. Die Rolle, die in altorientalischen Religionen die Göttin als Partnerin eines Gottes einnimmt, wird im Hohelied von einer menschlichen Figur, nämlich der Frau, eingenommen. Diese Frau steht für das Gottesvolk Israel und – vermittelt durch das Gottesvolk – für die ganz Menschheit und somit für jeden einzelnen Menschen. Damit findet eine Revolution im Gottesbild statt. Der menschliche Partner, repräsentiert durch die Frau, wird geadelt und in gewisser Weise vergöttlicht, der göttliche Partner, repräsentiert durch den Mann, wird vermenschlicht. Gott und Mensch finden zu einer wahrhaft menschlich-göttlichen Begegnung. „Wenn der Seele ein Kuss widerfährt von der Gottheit, so steht sie in ganzer Vollkom169
menheit und in Seligkeit; da wird sie umfangen von der Einheit. Im ersten Berühren, in dem Gott die Seele als ungeschaffen und unerschaffen berührt hat und berührt, da ist die Seele der Berührung Gottes nach ebenso edel wie Gott selbst. Gott berührt sie nach sich selbst“ (Meister Eckhart, Predigt 10, DW I, 172,4–173,1 / W I, 131). Vor dem Hintergrund dieser Dynamik wird verständlich, weshalb die christliche Tradition das Hohelied als das für den spirituellen Weg wichtigste Buch der Heiligen Schrift erachtet hat, sind doch in ihr die Vergöttlichung des Menschen (Theopoiesis) und die Menschwerdung Gottes die beiden Brennpunkte ihrer Theologie. Die Hochschätzung des Buches verdankt die christliche Theologie der jüdischen Tradition. Sie bestätigt und konkretisiert damit das Urteil Rabbi Akibas: „Sind alle Schriften heilig, so ist das Hohelied hochheilig“ (Mischna Jadajim III,5).
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Der Autor
Ludger Schwienhorst-Schönberger, von 1993 bis 2007 Professor für Alttestamentliche Exegese und Hebräische Sprache an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Passau, seit 2007 Professor für Alttestamentliche Bibelwissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Herder zuletzt: Ein Weg durch das Leid. Das Buch Ijob (2007), Kohelet (2. Aufl. 2011).