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German Pages 360 [362] Year 2020
Das Böse in den Weltreligionen
Das Böse in den Weltreligionen Herausgegeben von Johannes Laube
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn.
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2003 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de
ISBN 3-534-14985-8
Inhalt Einleitung
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Daniel Krochmalnik I. Das Böse in der jüdischen Tradition Jüdische Interpretationen zu Genesis 1–11 1. Der Mensch . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Weib . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Schlange . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hermann Häring II. Das Böse in der christlichen Tradition . . . . 1. Einleitung: ein komplexes Problem . . . . a) Inhalt und Aufbau . . . . . . . . . . . . b) Terminologische Klärung . . . . . . . . . . 2. Die Ursprünge . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Scheitern des Jesus von Nazaret . b) Zwischen Hass und Versöhnung . . . . c) Missverstandene Lösungen . . . . . . . d) Drei Perspektiven . . . . . . . . . . . . 3. Antikes Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Misstrauen gegen die Welt . . . . . . . b) Gottes- und Teufelsstaat . . . . . . . . c) Ererbte Ursünde . . . . . . . . . . . . . d) Von der Würde des Menschen . . . . . 4. Zwischen Verinnerlichung und Imagination a) Mystik und Volksfrömmigkeit . . . . . b) Ketzer, Hexen und Dämonen . . . . . c) Das Böse erfahren und ernst nehmen . 5. Die Widersprüche der Neuzeit . . . . . . . a) Verinnerlichung der Sünde . . . . . . . b) Rationalisierungen des Problems . . . c) „… dasjenige, das schadet“ . . . . . . . d) Wie das Böse eingeordnet wird . . . . e) Geschichte von Schuld und Verlust . . f) Geschichte der Selbstinfektion? . . . .
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Inhalt
6. Paradigmenwechsel der Gegenwart . . . . . . . . . a) Der Schock von Auschwitz . . . . . . . . . . . . b) Paradigmenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . c) Hinwendung zur Praxis . . . . . . . . . . . . . . d) Ursprünge neu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Das Böse und Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Welcher Gott? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Klage und Protest . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Aushalten der Verzweiflung – Authentizität . . d) Theodizee in praktischer Absicht – Weltlichkeit e) Das Böse als Offenbarung Gottes? . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Reinhard Schulze III. Das Böse in der islamischen Tradition . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Mythen des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Iblis, der Teufel, und das Böse . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Böse als Attribut menschlicher Handlungen . . . . . . 5. Koran 4:78–79 oder die Wahlfreiheit des Menschen . . . . 6. Das Böse und die theologische Spekulation um die Handlungsfreiheit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Abwendung von der Spekulation über das Böse . . . . 8. Ens et bonum convertuntur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die Relativierung des Bösen in der islamischen Mystik . . 10. Die Zeit und das Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Ein Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Axel Michaels IV. Das Böse in der hinduistischen Tradition . . 1. Zur Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Wortfeld . . . . . . . . . . . . . . . b) Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Forschungsüberblick . . . . . . . . . . 2. Die Rede vom Bösen im Hinduismus . . . a) Ursprung des Bösen . . . . . . . . . . . b) Formen und Folgen des Bösen . . . . . c) Befreiung vom Bösen . . . . . . . . . . 3. Analytische Fragen . . . . . . . . . . . . . a) Die hinduistische Lösung der Theodizee
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Inhalt
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b) Die Substanzhaftigkeit des Bösen . . . . . . . . . . . . . . 250 c) Schuld und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Johannes Laube V. Das Böse in der buddhistischen Tradition . . . . . . . . . . . . . 1. Zum Verständnis buddhistischer Texte: das Problem der Umstellung der Perspektive und andere Probleme des Verstehens der Texte des Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Gegenstand der Untersuchung: der Mahayana-Buddhismus (Materialobjekt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wie versteht der Mahayana-Buddhismus „das Böse“? (Formalobjekt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die methodischen und redaktionellen Regeln . . . . . . . 2. Das Böse nach dem Verständnis des Mahayana-Buddhismus . a) Zur Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Böse nach einflussreichen Quellentexten . . . . . . . 3. Systematische Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der enge und weite Begriff des Bösen im Mahayana-Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Selbst als das Böse (als das Erleuchtungshindernis schlechthin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zur philosophischen Begründung der buddhistischen Ethik des Nicht-Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zur religiösen Begründung der buddhistischen Ethik des Nicht-Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zur Problematik der Rehabilitation der Rede vom „Selbst“ in modernen buddhistischen Texten . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges hieß es, Adolf Hitler sei der eschatologische Antichrist oder die Inkarnation des Bösen schlechthin. Danach wurden diese Personifikationen auf Josef Stalin oder auf Mao Tse-tung übertragen. Mit der Entspannung der Beziehungen zwischen West und Ost verklang auch die Rede von den Inkarnationen des Bösen allmählich. Das öffentliche Interesse am „Bösen“ ist in den neunziger Jahren des 20.Jahrhunderts aber wieder angewachsen und hat seit dem 11. September 2001 einen neuen weltweit registrierten Höhepunkt erreicht. Nicht nur im Sprachgebrauch der Politiker und Journalisten, sondern auch der Analytiker der Gesellschaft in Soziologie, Philosophie, Theologie gewann „das Böse“ erneut eine Spitzenposition. Das Böse beschränkt sich jedoch nicht auf eine „Achse des Bösen“ bestimmter „Schurkenstaaten“, wie der amerikanische Präsident George W. Bush erklärte, sondern wir alle sind stets daran beteiligt. Weil der Herausgeber während der Vorbereitungsphase dieses Werkes mehrmals hierzu gefragt worden ist, sei gleich zu Anfang einem möglichen Missverständnis des Titels dieses Werkes vorgebeugt. Es geht in ihm nicht um das faktische Böse in den Weltreligionen, also nicht um ihre „Verbrechensgeschichte“, sondern um ihr mehr oder weniger reflektiertes Verständnis vom Bösen. Es geht um ihre Idee vom Bösen, vor deren Hintergrund sie sich als Wege zum Heil anbieten. Der vorliegende kontrastive Sammelband über „Das Böse in den Weltreligionen“ verdankt seine Existenz nicht einer momentanen Tagesaktualität wie der des 11. September 2001, sondern der weitsichtigen Planung des Verlags und den langjährigen gründlichen Forschungen der Autoren. Zwar entfaltet jeder der Autoren das gemeinsame Thema „das Böse“ im Rahmen seiner jeweiligen Wissenschaft und Forschungsgeschichte auf eigene Weise. Aber ihre Ergebnisse können die Grundlage für weiterführende und übergreifende allgemeinere Fragestellungen bilden, die sich jedem denkenden Leser aufdrängen, wie z. B. für die Fragen nach der perspektivischen „Relativität“ des Bösen, nach seiner bedingten „Notwendigkeit“, nach dem epochalen, kollektiven, strukturellen, institutionellen Bösen, nach der „Dialektik“ des Bösen als felix culpa usw. Von welchen Weltreligionen handelt das Werk? Vom Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus. Es gibt mindestens zwei Begriffe
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Einleitung
von „Weltreligion“: einen normativen Begriff „Weltreligion“ und einen faktischen Begriff „Weltreligion“. Der normative Begriff „Weltreligion“ bezieht sich auf diejenigen Religionen, die sich an alle Menschen wenden, ohne Rücksicht auf Rasse, Kultur, Nation, Staat, Alter, Geschlecht, Stand usw. Sie sprechen den Einzelnen als solchen an. Weltweite Missionstätigkeit kann hinzukommen, muss aber nicht. Weltreligionen im normativen Sinn müssen nicht tatsächlich in der ganzen Welt Gemeinden haben. Gerade heutzutage, nach dem Eintritt ins Zeitalter des Internets, ist auch eine globale Net-Gemeinde möglich geworden, die sich aus isolierten individuellen Usern aufbaut, ohne dass lokale und regionale Missionsgemeinden geschaffen werden müssen. Der faktische Begriff „Weltreligion“ hingegen bezieht sich auf tatsächlich in der ganzen Welt oder wenigstens in vielen Teilen der Welt verbreitete Religionen, mögen sie sich an den Einzelnen als solchen wenden oder sich als Religion einer bestimmten weltweit verstreuten Gemeinschaft (Rasse, Volk, aber auch Interessengemeinschaft usw.) verstehen. Das vorliegende Werk hat Weltreligionen im faktischen Sinn zum Gegenstand, von denen einige auch Weltreligionen im normativen Sinn sein wollen (Christentum, Islam, Buddhismus, neuere Richtungen des Hinduismus), aber nicht alle (nicht Judentum). Es ist übrigens durchaus möglich und wahrscheinlich, dass die Religionswissenschaft im Jahre 2050 neben den oben genannten Weltreligionen noch andere Religionen zu den normativen bzw. zu den faktischen Weltreligionen rechnen wird, z. B. auch den Taoismus und manche so genannte „Neureligion“. Selbstverständlich gibt es immer wieder Religionen, die das Böse substantialisieren, sogar personifizieren und als den Menschen bedrohende selbständige gegengöttliche, zweite kosmische Macht vorstellen. Aber je gründlicher eine Religion über das Böse nachdenkt, desto klarer kommt ihr zu Bewusstsein, dass das Böse letztlich mit dem Geheimnis des Seins, Tuns und Sichdeutens des Menschen selbst verbunden ist. Allein schon deswegen dürfen wir „das Böse“ nie nur vergegenständlicht und getrennt von uns selber betrachten, sondern müssen uns mit ihm auch als mit „unserem Bösen“ auseinander setzen, d.h., wir müssen uns mit uns selber auseinander setzen. Wir nehmen dann „das Böse“ nicht als von uns getrennte und selbständig wirkende Ursache, sondern als eine Wirkweise unseres selbstwidersprüchlichen Selbst, d.h. unseres unendlich-endlichen und universal-individuellen Wesens wahr. Das heißt nicht, dass der Bedeutungsumfang des „Bösen“ auf den Bereich des moralischen Handelns eingeschränkt wäre. Im Gegenteil: Die ganze menschliche Existenz mit allen ihren diachronischen und synchronischen Weltperspektiven steht zur Debatte. „Das Böse“ kann darum in diesem Band je nach dem Verständnis der
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betreffenden Religion viele verschiedene Bedeutungen annehmen: z. B. das Böse als malum metaphysicum (traditionell als „die Endlichkeit bzw. Vergänglichkeit des Menschen“ verstanden), malum physicum („die naturgegebenen Übel, die Naturkatastrophen, die natürlichen Gebrechen“, die somatischen und psychischen „Krankheiten“, der „natürliche Tod“), malum cosmicum („eine zweite kosmische Macht gegen die Macht des Guten bzw. gegen die Macht einer Gottheit“), malum morale (die „Schuld“, das individuelle „böse Handeln“, die „Laster“ als böse Gewohnheiten, die „Bosheit“ als Haltung oder Gesinnung sowie auch das „radikale Böse“ im Sinne Kants als „intelligible Tat“ bzw. als in einem bedingten Sinn „apriorischer“ Hang zum moralischen Bösen), malum sociale (die überindividuellen, institutionellen „gesellschaftlichen Übel“), malum theologicum („die Sünde“ als unmittelbar gegen einen personal verstandenen Gott gerichtete Handlung oder Gesinnung), malum protologicum („die Ursünde“, das „Urböse“ bzw. das „Urübel“) oder malum eschatologicum (das „endgültige Unheil“, die „endlose Hölle“, die „ewige Verdammnis“) usw. Wenn man alle diese und weitere denkbaren Bedeutungsnuancen zu einem malum religiosum im weiten Sinn rechnet, kann man vorläufig aus ihnen ein malum religiosum im engen Sinn herausheben, das bei theistischen Religionen mit dem malum theologicum („Sünde als unmittelbar gegen Gott gerichtete Gesinnung oder Handlung“ oder als „Selbstverabsolutierung des geschaffen-schaffenden Selbst gegenüber dem ungeschaffen-schaffenden Du“) identisch zu sein scheint, bei nicht-theistischen Religionen aber wohl als malum religiosum im Sinn der „Selbstverabsolutierung des sich missverstehenden Selbst gegenüber dem wahren Selbst“ gedeutet werden kann. Die Reihenfolge der Beiträge (Teil 1: Judentum, Teil 2: Christentum, Teil 3: Islam, Teil 4: Hinduismus, Teil 5: Buddhismus) enthält keine Werthierarchie (z. B. nach dem Kriterium „theistische Religionen“: Judentum, Christentum, Islam zuerst). Auch die Gegenüberstellung von so genannten „Offenbarungsreligionen“ (Judentum, Christentum, Islam) gegen „Weisheitsreligionen“ (Hinduismus, Buddhismus) hat bei der Einteilung des Werkes keine Rolle gespielt. Die Reihenfolge im Sammelband folgt einfach der in Europa heute üblichen Aufzählungsweise. Sie passt sich nur der Erwartung des europäischen Lesers an, der zurzeit noch gewohnt ist, die Weltreligionen in dieser Reihenfolge aufzuzählen. Das muss nicht immer so bleiben. Es ist denkbar, dass spätere Generationen auch in Europa die Reihenfolge umkehren oder alle Glieder der Reihenfolge umstellen. Man denke nur an die wachsende Bedeutung des Taoismus im Bewusstsein der Europäer, von dem wachsenden Einfluss des Buddhismus ganz zu schweigen.
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Einleitung
Die Einzelbeiträge wurden vom Herausgeber nur in bezug auf Formalia (Zitationsweise usw.) vereinheitlicht. Ihr Inhalt und ihre Gesamtgestalt sind Leistung und Eigentum ihrer Autoren. Die Einzelbeiträge können für sich selbst sprechen. Die lange Vorbereitungsgeschichte dieses Werkes hat Herr Lektor Bruno Frisch von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt vorbildlich betreut. Dass dieses wissenschaftlich außerordentlich mühevoll zu erarbeitende Werk überhaupt zustande kam, ist seiner ersten Anregung und seinem unermüdlichen Drängen zu verdanken. Herr Lektor Dr. Bruno Kern übernahm und vollendete die Aufgabe mit gleichem Engagement. München, Frühjahr 2003
Johannes Laube
Daniel Krochmalnik
I. Das Böse in der jüdischen Tradition Jüdische Interpretationen zu Genesis 1–111 1. Der Mensch Die Erzählung vom „Sündenfall“2 im 3. Kapitel der Genesis folgt unmittelbar auf den Bericht der Erschaffung des Menschen im 2. Kapitel und muss in Zusammenhang mit dem Bericht der Erschaffung der Welt im 1. Kapitel gestellt werden. Zwar sagt uns die moderne Bibelkritik, dass diese Kapitel ursprünglich gar nichts miteinander zu tun hatten. Sie stammten von zwei verschiedenen Verfassern, aus weit auseinander liegenden Epochen und spiegelten ganz andere religiöse Bewusstseinsstufen. Sie seien erst von einer späteren Hand verbunden worden. Mit dieser Quellenscheidung beginnt eigentlich die moderne historisch-kritische Bibelexegese. Auch wenn wir dieser Hypothese folgen, so müssen wir doch dem Endredaktor, der letzte Hand an das Buch der Bücher gelegt hat, Respekt zollen. Denn die Art, wie er die Geschichte vom Aufstieg und Fall des Menschen, wie er sie vielleicht auf zwei losen Blättern vorfand, zu einem Ganzen verband, verrät tiefe anthropologische Kenntnis. Seine Einsicht entsprang wohl dem schlechten Gewissen, dass der Mensch die vollendete Schöpfung so übel zugerichtet hat.3 In der Tat, Gott stellt im so genannten ersten Schöpfungsbericht immer 1 In der Regel zitieren wir den Pentateuch nach der zweisprachigen Ausgabe von Wohlgemuth, J., Bleichrode, I., Pentateuch mit deutscher Übersetzung, Berlin 1899, Neudruck, Basel 1969 u. ö. Bei der Zitierung der rabbinischen Literatur folgen wir in der Regel dem Abkürzungsverzeichnis der FJB = Frankfurter Judaistische Beiträge 1 (1974). Ich verzichte hier darauf, eine Einführung in die jüdische Traditionsliteratur und Hermeneutik zu geben, und verweise auf die Einleitungen zu meinen Büchern: Schriftauslegung – Das Buch Genesis im Judentum (Christoph Dohmen [Hrsg.], Neuer Stuttgarter Kommentar. Altes Testament, Bd. 33.1), Stuttgart 2001, S. 9–20 u. Schriftauslegung – Das Buch Exodus im Judentum (Christoph Dohmen [Hrsg.], Neuer Stuttgarter Kommentar. Altes Testament, Bd. 33.3), Stuttgart 2000, S. 11–32. Dort ist weitere Literatur angegeben. 2 P. Ricœur hat gezeigt, dass dieser Titel dem biblischen Mythos nicht angemessen ist: Finitude et culpabilité II, La symbolique du mal, Paris 1960, Bd. II, S. 219. 3 Zur Deutung des Schöpfungs- und Sündenfallberichts als Sündenbekenntnis vgl. P. Ricœur, ebd., S. 226ff.
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wieder fest, wie „gut“ (Tow) seine Werke seien (Gen 1,4.10.12.18.21.26), und am Ende stellt er rückblickend sogar selbstzufrieden fest, dass ihm alles „sehr gut“ (Tow Me‘od) gelungen sei (Gen 1,31). Wenn aber alles so gut war, wer hat dann die Welt so gründlich verdorben? Im so genannten zweiten Schöpfungsbericht bessert Gott die verbliebenen Mängel aus. Gott, der Herr, setzte Adam in einen Garten mit schönen und „guten“ Fruchtbäumen (Gen 2,9) und warnte ihn vor dem Genuss der schlechten Früchte (Gen 2,17). Er sah ein, dass es „nicht gut“ (Lo Tow, 2,18) wäre, wenn Adam allein bliebe (Gen 2,19), und gab ihm die Tiere als Gefährten. Doch als er feststellte, dass der Mann immer noch unzufrieden war (Gen 2,20), da machte er ihm eine Frau. In den ersten Worten, die er überhaupt sprach, signalisierte Adam seine leidenschaftliche Zustimmung: „Diesmal“ sei das Werk gelungen (Gen 2,23), und er freute sich auf ein erfülltes Eheleben (Gen 2,24). Schließlich machte er dem nackten Urpaar auch noch Kleider (Gen 3,21). Dieser Gott ist wie ein fürsorglicher Vater. Er hat seinem Kind eine luxuriöse Wohnung, lauter Delikatessen und eine hübsche Frau gegeben. Er hat ihn aber nicht nur mit Luxus verwöhnt, er hat ihn auch seinen Fähigkeiten gemäß gefordert und gefördert (Gen 2,15.19). Insgesamt hätte es dem jungen Paar kaum besser gehen können, doch das reichte ihnen nicht, und sie missachteten die einzige göttliche Einschränkung: Sie aßen vom „Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen“ (Äz HaDa‘at Tow WaRa). Um noch schlimmere Übergriffe zu verhüten, musste Gott der Herr sie aus ihrer schönen Wohnung hinauswerfen. Was haben sie eigentlich verbrochen? War es Neugier, Lüsternheit, Fresssucht oder Hochmut, der sie zu Fall brachte? In Adam erkennen wir auf den ersten Blick Nimmersatt und Möchtegern. Die Bibel blendet nach der ersten Erwähnung der einzigen verbotenen Bäume sehr geschickt die Schilderung von den vier Flüssen ein, die das Paradies bewässern (2,10–15). Das ist kein unpassender Geographieunterricht, kein missglückter Gelehrteneinschub, wie trockene Philologen behaupten, die diese Texte lieber verbessern als verstehen, sondern ein überaus geschickter Kunstgriff. Er soll noch einmal den unerschöpflichen Überfluss vor Augen führen, von dem der Mensch uneingeschränkt genießen durfte, ehe das einzige Gut erwähnt wird, das ihm versagt ist (2,17). Das Verbotene stand hier in gar keinem Verhältnis zum Erlaubten. Doch obwohl alle Paradiesbäume „schön anzusehen und gut zum essen waren“ (2,9), schien ihm ausgerechnet der verbotene Baum „gut zum essen, eine Lust anzusehen und schön zu betrachten“ (3,6) – also noch etwas besser als alle anderen Bäume. Das Drama des verwöhnten Kindes ist keine griechische Tragödie, denn seine Schuld ist nicht notwendig, sein Vergehen kein Mundraub, und seine Strafe erregt auch kein Mitleid. Die schlaue Schlange erinnert zwar an Prometheus in der griechischen Tragödie, der den neidischen Göttern raubt, was sie den armen Menschen vorenthalten. Aber zwischen dem dar-
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benden Menschengeschlecht, dessen sich der „Menschenfreund“ Prometheus erbarmt, und dem ersten Menschenpaar, das im göttlichen Schlaraffia großzügig mit allen Luxusgütern versorgt ist, gibt es doch einen himmelweiten Unterschied. Hier handelt es sich nicht um einen notwendigen Frevel, sondern um die uns wohl bekannte Sünde aus Übersättigung und Langeweile. Aber Nimmersatt will nicht nur ausgerechnet das haben, was ihm vorenthalten ist, sondern Möchtegern will auch ausgerechnet das werden, was er nicht sein kann – Gott. Denn der verbotene Baum besaß nach der von Gott bestätigten Auskunft der Schlange (3,5.22) die Fähigkeit, dem Menschen das Gefühl der Göttlichkeit zu geben (WiHjitem KElohim). Die Unersättlichkeit des Menschen wird Maß für Maß mit Mangel bestraft (3,16–20) und seine Großmannssucht mit Erniedrigung (3,15.7.9). Viele jüdische und christliche Ausleger haben weniger in der Situation des Menschen im Garten als im Baumsymbol den Schlüssel zu Gen 3 gesucht. Einige behaupten, der Sündenfall sei der Geschlechtsakt gewesen. Abgesehen von den offensichtlichen sexuellen Anspielungen in der Geschichte ergibt sich diese Erklärung aus dem Namen des Baumes der Erkenntnis, denn vom „Erkennen“ (Jada, 4,1) spricht die Bibel auch, wenn sie sittsam den Geschlechtsverkehr umschreibt. Ein alter Mann, der dieses Genusses nicht mehr fähig ist, sagt von sich an anderer Stelle: „Kann ich denn noch erkennen zwischen Gut und Schlecht?“ (HaEda Bein Tow LeRa, 2Sam 19,36). Die Schwierigkeit bei dieser Erklärung ergibt sich aus dem Rest der Geschichte. Denn der Mensch wurde nach den biblischen Schöpfungsberichten bereits geschlechtsreif erschaffen und zur Fortpflanzung ermuntert (Gen 1,29; 2,24). Es ist also kaum anzunehmen, dass die Bibel den Geschlechtsverkehr als Sünde verurteilen wollte. Andere Erklärer haben im verzweigten Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen ein Symbol des moralischen Unterscheidungsvermögens gesehen. Dagegen sträubt sich aber die Geschichte selber. Wenn Gott Adam nämlich dieses Unterscheidungsvermögen nicht schon zuvor gegeben hätte, wäre die Geschichte vom Sündenfall ein Teufelskreis, denn Adam hätte die Verwerflichkeit seiner Tat erst nach dem Genuss der Frucht einsehen können und für sie billigerweise gar nicht bestraft werden dürfen. Unsere erste Deutung aus dem narrativen Zusammenhang bestätigt sich vielmehr auch bei der Auslegung des Baumsymbols, wenn wir eine weitere biblische Parallele zum Namen des Baumes heranziehen. Im 5. Buch Mose (Deuteronomium) heißt es von Kindern und Jugendlichen, dass sie noch „nicht wissen, was gut und böse ist“ (Lo Jadu Tow WaRa, Deut 1,39). Demnach wäre der supralapsarische Urzustand das Stadium kindlicher Unschuld. Der Mensch war schon zur Erkenntnis (Gen 2,20), zur Arbeit (Gen 2,16) und zur Fortpflanzung (Gen 1,28.; 2,15) fähig, sein
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Daniel Krochmalnik
Vater bestimmte aber noch über ihn. Erst mit der Übertretung seines Verbots befreite er sich aus der Bevormundung. Der „Sündenfall“ würde nach dieser Erklärung eine verspätete Pubertätskrise schildern. Die Ungehorsamen verlassen das idyllische Wunschland Zuhause und gehen, auch wenn sie dafür büßen müssen, ihre eigenen Wege. Die Erzählung würde insgesamt der Nostalgie des verlorenen Paradieses entspringen. Wenn aber der Sündenfall eine notwendige Wachstumskrise ist, dann stellt sich die Frage, warum ihn die Bibel missbilligt. Hätte der Mensch lieber ein unselbständiges Kind bleiben sollen? Sind der ackernde Adam, die kreißende Eva, die heroische Menschheit nicht besser als die Symbionten aus Eden? Ist der Wunsch nach dem verlorenen Paradies nicht Ausdruck einer Regression und somit der Sündenfall eine glückliche Schuld (felix culpa)? Allerdings passt auch die Deutung der verbotenen Frucht als Freiheit nicht nahtlos in den Kontext. Denn immerhin geht die Bibel davon aus, dass der Mensch bereits zuvor frei war (Gen 2,20), z. B. zwischen den Früchten des Gartens zu wählen. Was ihm abging, war die Freiheit, willkürlich zu entscheiden, was gut und was böse ist. Im Gegensatz zu Gott war er also nicht absolut, sondern nur relativ, innerhalb der von Gott vorgegebenen Wertungen, frei. Seine Sünde wäre in diesem Fall der Griff nach der absoluten Freiheit, der Wunsch, selber Maß aller Dinge zu sein. Will uns die Bibel also die Hybris und die Misere des Menschen ohne Gott schildern? Freilich steht diese Deutung des dritten Kapitels der Genesis in einem nur schwer zu vermittelnden Widerspruch zum ersten Kapitel der Genesis. Im ersten Kapitel hatte Gott gesagt: „Wir wollen Menschen machen nach unserem Bilde (BeZalmänu), nach unserem Gleichnis (KiDmutänu), und sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das sich auf der Erde regt. Und Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes (BeZäläm Elôhîm) schuf er ihn, männlich und weiblich schuf er sie“ (Gen 1,26–27). Demnach werden die Menschen bereits gottgleich geschaffen. Im dritten Kapitel hingegen lockt die Schlange die Menschen mit der Aussicht, „wie Gott (zu) werden“ (WiHjitem K’Elohim, Gen 3,5). Gott bestätigt diese Worte der Schlange, nachdem er die Menschen auf frischer Tat ertappt hatte: „siehe, der Mensch ist wie einer von uns geworden“ (K‘Achad Mimenu, 3,22), und bestraft sie. Aber hat er sie nicht selber sich gleich geschaffen? Warum sollte es dann eine Sünde sein, „wie Gott zu werden“ – also zu werden, was man nach Gottes Wille eigentlich schon von Anfang ist? Die Bibelkritiker haben, wie gesagt, ein probates Mittel, mit solchen Widersprüchen fertig zu werden. Sie behaupten einfach, dass hier gar nicht die gleiche Stimme spreche – sie sich also auch nicht widerspreche. Vielmehr prallten hier unvermittelt zwei ganz ver-
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schiedene Menschenbilder aufeinander. Nach dem ersten Kapitel erscheint der Mensch als „Krone der Schöpfung“, nach dem dritten Kapitel als missratenes Geschöpf, dort soll er über alle Tiere herrschen, insbesondere über alles „Gewürm, das sich auf der Erde regt“, hier beherrscht ihn ein Wurm; dort ist er der „Stellvertreter“ Gottes (so bezeichnet ihn S. R. Hirsch in seiner Übersetzung von Gen 1,27), hier ist er sein gefährlicher Rivale. Ja, nicht einmal die Götter der beiden Texte scheinen dieselben zu sein. Dort ist einfach von „Gott“ (Elohim) die Rede, hier von einem bestimmten Gott, dessen Namen die Christen „Jehowa“ oder so ähnlich aussprechen. Auch wenn diese Beobachtungen stimmen, dann fragt sich nicht nur nach der jüdischen Hermeneutik immer noch, welche Absicht der Komponist mit der Apposition so verschiedener Stimmen verfolgte. Oder sollen wir etwa annehmen, dass er daran gar keinen Gedanken verschwendet habe und an dieser prominenten Stelle zwei überlieferte Stücke unvermittelt nebeneinander stehen ließ, so dass unentschieden bleiben muss, ob der Mensch nach der Bibel im wörtlichen und übertragenen Sinn das erste oder das letzte Geschöpf ist? Der scheinbare Widerspruch in der Komposition reflektiert vielmehr einen realen Widerspruch in der Sache selbst: Der Mensch kann in der Tat das höchste und das niedrigste Geschöpf sein. Die wohlgefügte Komposition führt somit drastisch den tiefen Sturz des Menschen von der Spitze aller Kreaturen bis zum „Wurm“, von der Deität und Humanität zur Bestialität vor Augen. Damit veranschaulicht er zugleich die subtile Dialektik von Hoheit und Hochmut, von Würde und Überheblichkeit, von Freiheit und Willkür, denn „wie Gott sein“ ist ja in der Tat genau das Gegenteil davon, „wie Gott sein zu wollen“, wie z. B. „ein Engel sein zu wollen“ genau das Gegenteil davon ist, ein „Engel zu sein“. Wir brauchen uns aber nicht auf die ersten drei Kapitel der Genesis zu beschränken, um die Natur der Sünde des Menschen nach der Bibel zu beschreiben. Denn obschon die Erzählung vom „Sündenfall“ zweifellos eine paradigmatische Bedeutung hat, so ist dieser „Sündenfall“ doch nur der erste einer ganzen Reihe von „Sündenfällen“ in der biblischen Urgeschichte der Menschheit (Gen 1–11), und diese werfen ein bezeichnendes Licht auf jene zurück. Nach einer jüdischen Tradition stand die Urgeschichte insgesamt im Zeichen des göttlichen „Langmuts“ (Erech Apajim), und das heißt auf der menschlichen Seite: zunehmender Bosheit (mAw V,2). Bereits im ersten Abschnitt der Tora wird klar, dass Gott mit dem Unternehmen Schöpfung Pleite geht (Gen 1,1–6,8). Am Schluss des ersten Kapitels der Bibel hatte Gott noch selbstzufrieden festgestellt, dass seine Schöpfung insgesamt „sehr gut“ (Tow Me‘od,) gelungen sei (1,31). Das zweite Kapitel erzählt dann, wie Gott noch die letzten Mängel (Lo Tow, 2,18) ausbesserte, so dass schließlich sogar der notorische Nimmersatt ausrief, „diesmal“ (Gen 2,23)
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sei alles bestens. Vom dritten Kapitel an verschlimmert sich die Situation aber immer mehr, und am Ende des ersten Abschnitts steht die pessimistische Einsicht Gottes: „dass die Bosheit der Menschen groß war auf Erden, und alle Vorstellungen ihres Herzens immer nur böse waren. Da bereute der Ewige, dass er die Menschen auf Erden geschaffen, und war bis ins Innerste betrübt. Und der Ewige sprach: Ich will den Menschen, den ich erschaffen, von dem Erdboden vertilgen, vom Menschen bis zum Vieh, bis zum Gewürm und den Vögeln des Himmels; denn ich bereue, dass ich sie geschaffen“ (Gen 6,5–7). Der stolzen Ouvertüre der Schöpfung folgt nach nur vier Kapiteln dieses jämmerliche Finale, und der Untergang kündigt sich an. Davor macht die Bibel einige dunkle Andeutungen, die offenbar den Tiefpunkt der Entwicklung darstellen sollen: „Als nun die Menschen anfingen, sich auf Erden zu vermehren, und ihnen Töchter geboren wurden, da sahen die Söhne Gottes (Bnei-Elohim), dass die Menschentöchter des gemeinen Mannes schön waren, und nahmen sich zu Frauen alle, die ihnen gefielen. Da sprach der Ewige: ‚Mein Geist soll nicht ewig im Menschen walten, da auch er Fleisch ist; so sollen denn seine Tage hundertundzwanzig Jahre sein.‘ In jenen Tagen und auch später noch waren die Riesen (Nephilim) auf Erden, als die Söhne Gottes sich zu den Menschentöchtern gesellten, und diese Kinder gebaren – das sind die Helden, die in grauer Vorzeit die ruhmreichen Männer waren“ (Gen 6,1–4). Hier spricht die Bibel ganz ungeniert vom Verkehr zwischen Unsterblichen und Sterblichen. Späteren Erklärern erschien diese mythologische Redeweise unpassend, und sie entschärften die Stelle, indem sie die „Gottessöhne“ (Bnei-Elohim) mit gefallenen Engeln (LXX, Petr 2,4), mit übermenschlichen Helden (Flavius Josephus), mit vornehmen Mächtigen (Targumim) oder mit den frommen Nachkommen Sets (Augustinus, Vom Gottesstaat XV.16–17) identifizierten. Die biblischen Parallelen (Hiob 1,6; 2,1; 38,4–7 u. Ps 82,7) und vor allem die Konsequenz, die menschliche Lebensdauer zu begrenzen, zeigen aber, dass es sich ursprünglich um Unsterbliche gehandelt haben muss und dass das Ganze eine mythologische Genealogie der Giganten und ruhmreichen Heroen war (Flavius Josephus, Jüdische Altertümer I,3). Doch was in der Mythologie als Höhepunkt gepriesen wird: die Geburt von Halbgöttern und Helden aus der Verbindung von Himmlischen und Irdischen, ist für den biblischen Erzähler der Tiefpunkt. Die Grenzüberschreitung, die sich zuvor einzelne Menschen zu Schulden kommen ließen, wird hier sozusagen zum genetischen Merkmal der Art, die Maßlosigkeit zur Natur des Menschen. Demnach wäre die Anfangssünde Hybris gewesen. Das lässt sich aber noch näher bestimmen, wenn wir berücksichtigen, wie sich von Anfang bis Ende dieses Abschnitts der Umschlag von Extrem zu Extrem, vom ursprünglich Guten zum radikal Bösen, von der Schöpfung zum Untergang abspielt.
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Die oben erwähnte jüdische Tradition sagt: „Zehn Geschlechter sind von Adam bis Noach, um kund zu tun, wie viel Langmut vor ihm waltet, denn alle Geschlechter erzürnten ihn fortwährend, ehe er über sie die Wasser der Sintflut brachte“ (mAw V,2). Die zweite Generation nach Adam bestand nach der biblischen Erzählung aus den Brüdern Kain und Abel. Ihre Namen sind wie alle Namen der Genesis Programm. „Kain“ heißt „Erwerb“ – nach einer anderen Parallele (2 Sam 2,16) auch „Waffe“ – und „Abel“ (Häwäl) „Hauch“. In diesen Namen sind ihre zukünftigen Schicksale eingeschrieben: Kain war Bauer, Abel Hirte. Der Bauer gab nur ungern von seinem Ertrag ab, den er mit schweißtreibender Ackerei erworben hatte, und Gott verschmähte seine dürftige Gabe; der Hirte spendete dagegen großzügig die ersten und besten Tiere seiner Herde, und Gott wandte sich seiner reichen Gabe zu (Gen 4,4). Der Ältere konnte diese Zurücksetzung dem Jüngeren gegenüber nicht ertragen und erschlug ihn (Gen 4, 8). Der Blutvergießer wird von seiner heimatlichen Scholle vertrieben (Gen 12 u. 14) und gründet als Prototyp aller Vertriebenen jenseits von Eden die erste Stadt (Ir), die er wie seinen Sohn stolz Chanoch (Einweihung) nennt (4,17). Dessen Sohn Irad scheint, wie sein Name möglicherweise sagt, schon ein typischer Vertreter der vertriebenen (Arad) Bewohner der Stadt (Ir) gewesen zu sein. Unter den übrigen Nachkommen Kains sind etliche Erfinder und Kulturstifter (Gen 4,17 ff.) – während Abel, wie sein Namen sagt, spurlos verschwand. René Girard hat gezeigt, dass solche Bruderkämpfe und Gründungslegenden in der Mythologie aller Völker vorkommen. Die biblische Geschichte nimmt aber einen ungewöhnlichen Verlauf. Vergleichen wir sie z. B. mit der bekannten Gründungslegende von Rom. Romulus und Remus gerieten in Streit darüber, wer von beiden der Erbauer der Ewigen Stadt am Tiber sein sollte. Das Flugorakel entschied zugunsten von Romulus, und er begann mit der Errichtung einer Stadtmauer. Als Remus sich über sein halb fertiges Werk lustig machte, griff er zum Spaten, erschlug seinen Bruder und verkündete, dass es künftig jedem Feind Roms so ergehen werde. Wir hören nichts davon, dass Romulus wie Kain als Mörder geächtet, dass die Römer wie die Kainiter untergegangen wären. Ganz im Gegenteil, der vom Marsfeld entrückte Stadtgründer verkündet den weltgeschichtlichen Siegeszug seiner Stadt, während die Bibel unnachsichtig den Finger auf den mörderischen Grund der urbanen und technischen Zivilisation legt. Gewiss ist auch der supralapsarische Adam kein Wildemann und Eden kein unberührtes Naturparadies gewesen. Ja man kann das 2. Kapitel der Genesis auch als Bericht über die kulturstiftenden Taten des homo faber lesen. Nach diesem Bericht war der Urzustand nicht durch Überschwemmung (Gen 1,3), sondern durch Dürre gekennzeichnet (Gen 2,5). Es herrschte Regenmangel, und es gab noch keine Menschen, um das
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Land zu bewässern und zu beackern (Gen 2,6 u. 7)4. In der unkultivierten Steppe (Sadeh) konnten weder Pflanzen gedeihen, noch konnte Wild überleben. Als Voraussetzung allen Lebens erscheint daher die menschliche Kultur, und darum beginnt diese Entstehungsgeschichte von Himmel und Erde im Gegensatz zum ersten Kapitel der Genesis mit der Erschaffung des Menschen. Er wird in eine Oase (Gen 2,8–10) oder einen Park inmitten eines durch vier Hauptkanäle bewässerten (Gen 2,8–15) Kulturlandes versetzt, das er bewachen und bearbeiten soll (Gen 2,16). Wie man sieht, ist Adam nicht der Prototyp des Natur-, sondern des Kulturmenschen. Aber die supralapsarische Kultur Adams ist die eines behutsamen Gärtners, wohingegen die infralapsarische Kultur Kains die des gewaltsamen Gründers ist (Gen 4,12); jener ist von Gott eingesetzt, dieser hat sich fern von Gott selbst ermächtigt. Sehen wir uns einmal die Genealogie der Kainiten näher an: „Also, heißt es nach der Vertreibung des Brudermörders, ging Kain hinweg von dem Antlitz des Ewigen und ließ sich nieder im Lande Nod östlich von Eden. Und Kain wohnte seiner Frau bei; sie fühlte sich Mutter und gebar Chanoch: Dem Chanoch wurde Irad geboren, Irad zeugte Mechujael, Mechujael zeugte Metuschael und Metuschael zeugte Lamäch. Lamäch nahm sich zwei Frauen, der Namen der einen war Ada, und der Namen der anderen Zilla. Ada gebar Jawal; dieser wurde Stammvater der Zeltbewohner und Viehzüchter. Der Name seines Bruders war Juwal, dieser wurde der Stammvater aller Harfen- und Flötenspieler. Auch Zilla hatte einen Sohn Tuwal-Kain, der allerlei Werkzeug von Kupfer und Eisen zu hämmern verstand, und die Schwester Tuwal-Kains, die Na’ama“ (Gen 4,16–23). Ein Blick auf altorientalische Parallelen erlaubt eine erste allgemeine Schlussfolgerung aus diesem dürren Stammbaum. Auch in den sumerischen Königslisten oder phönizischen Götterlisten werden der erste Schmied, der erste Viehzüchter usw. aufgezählt, dabei handelt es sich aber immer um Götter oder vergötterte Kulturstifter, deren Erfindungen ausnahmslos positiv eingeschätzt werden, während die Kainiten nicht nur Menschen sind, sondern darüber hinaus auch noch ein verfluchter Zweig der Menschheit. Die Zivilisation ist gleichsam vom Kainsmal gezeichnet. Wir können vielleicht noch mehr aus dem dürren Stammbaum der Kainiten herauspressen, wenn wir, mit den jüdischen Auslegern, die aufgezählten Personennamen nicht als willkürliche Eigennamen, sondern als programmatische Signaturen ganzer Epochen und Kulturen auffassen. Die Bibel arbeitet übrigens selbst mit solchen Mitteln. So heißt etwa das Land jenseits von Eden, in das Kain flieht, nach dem kurz zuvor von Kain ausgesprochenen Eigenschaftswort „Nad“, „flüchtig“ (4,12), lautmalerisch 4 Entgegen der üblichen Interpunktion „Ed“ in 2,7 nach dem sumerischen Begriff „Id“ für Kanalwasser.
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„Nod“, also etwa „Fluchtland“. Dort begann der entwurzelte Flüchtling mit dem Bau einer Stadt (Ir) für seine Nachkommen und nannte sie wie seinen ersten Sohn sinnigerweise „Chanoch“, was Einweihung bedeutet. Auf Hebräisch meint das Wort „Ir“ einfach nur eine städtische Siedlung, aber in den griechischen und lateinischen Bibelübersetzungen wird es mit „polis“ und „civitas“ (statt „urbs“), also mit „Staat“, wiedergegeben. Somit wird Kain zum Prototyp des Politikers. Wir brauchen gar nicht auszuführen, welche phantastischen Möglichkeiten der Politikerschelte sich hier für jüdische und christliche Kommentatoren boten. Bei den folgenden Namen der Nachkommen Kains: Irad, Mechujael, Metuschael, Lamäch ist eine sichere Deutung schwieriger, weil ihre Tätigkeit nicht angegeben ist. Aber eine rabbinische Überlieferung sagt uns, dass in allen diesen Namen die göttliche Strafe eingeschrieben ist und herausgelesen werden kann: „‚Irad‘ bedeutet ‚ich vertreibe (Ordan)‘ sie aus der Welt; Mechujael bedeutet: ‚Ich (Gott) lösche sie aus (Mochan) aus der Welt‘; Metuschael: ‚Ich reiße sie (Matischan) aus der Welt‘; Lamäch bedeutet: ‚Was habe ich (Ma Li) mit Lamäch und seinen Nachkommen zu schaffen?“ (BerR 23,2). Die Nachkommen Lamächs, von denen Gott nach dieser Überlieferung wie der Prinz in Shakespeares Hamlet sagen könnte: „Was ist uns Jawal, Juwal und Tuwalkain?“, sind nach der Bibel eben die erwähnten Erfinder der Viehzucht, der Metallverarbeitung und der musischen Kunst. Für kulturkritische christliche und jüdische Kommentatoren bot sich hier die Möglichkeit, diese Kultur- und Kunstprodukte als widernatürliche und widergöttliche Schöpfungen zu entlarven. Jizchak Abrawanel (1437–1508) zum Beispiel, der zu Beginn der Neuzeit in Italien die großen technischen und künstlerischen Revolutionen sah, schrieb in seinem Genesis-Kommentar, in einem Ton, der an die Bußpredigten Savonarolas erinnert: „Kains Nachkommen begingen also allesamt, indem sie überflüssigem Luxus nachjagten, viele Gewalttätigkeiten und Räubereien in ihrem Volk, bis dass sie deswegen durch die Wasser der Sintflut bestraft und hinweggetilgt wurden“ (Kom. z. 1 M 11).5 Aber diese kulturkritische Absicht scheint schon in der Bibel selbst zu liegen. Nach der moralischen Hybris Adams folgt die politische und technische Hybris Kains. Der Mensch ohne Gott schließt sich in uneinnehmbaren waffenstarrenden und vergnügungssüchtigen Städten ein. Adam hat es übrigens noch einmal versucht, und Eva gebar Set. Diese 5 Vgl. H.-G. v. Mutius, Der Kainiterstammbaum Genesis 4/17–24 in der jüdischen und christlichen Exegese. Von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters nach dem Zeugnis des Don Isaak Ben Jehuda Abravanel. Gleichzeitig ein Beitrag zur Erforschung des Josephustextes (Johann Maier [Hrsg.], Judaistische Texte und Studien, Bd. 7), Hildesheim u.a. 1978.
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Linie schien etwas besser geraten. Von Sets Sohn, Enosch (Gen 4,26) – was sowohl „Mensch“ wie „Schwächling“ bedeutet und der griechischen Bezeichnung der Menschen als ephemérioi, Eintagsgeschöpfen, entspricht – heißt es, dass er das rechte Ebenbild seines Vaters (Gen 5,3), somit Gottes war (Gen 1,27) und dass man in seiner Generation anfing, den Namen Gottes anzurufen. Obwohl von seinen Nachkommen gesagt wird, dass sie mit Gott wandelten (5,22–24), und aus ihnen schließlich auch Noach, der einzige „gerechte, tadellose Mann“ (6,9) seiner Generation hervorging, gleichen sich die Namen und wohl auch das Wesen der Kainiter und der Setiter immer mehr an. Die Nachkommen Kains heißen: Chanoch, Irad, Metuschael, Lamäch – die, wie wir sahen, nach der jüdischen Auslegung Zeichen des Fluchs und Untergangs in ihren Namen tragen –; die Nachkommen Sets heißen: Kenan, Chenoch, Jered, Metuschelach, Lemech (5,2–29). Am Anfang des zweiten Abschnitts über Noach (Gen 6,9–11,32) heißt es jedenfalls, dass die ganze Welt in „Gewalt“ (Chamass) versunken war (Gen 6,14). Aber auch die Sintflut bringt die Erziehung des Menschengeschlechts nicht voran. Gleich danach urteilt Gott kaum günstiger über den Menschen: „das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“ (8,21). Gewiss, nach der Sintflut beginnt nach jüdischer Auffassung ein ganz neuer Abschnitt der Menschheitsgeschichte. Um die hemmungslose Gewalt einzudämmen, schloss Gott einen Bund mit den Noachiden: „Wer Menschenblut vergießt, lautet einer seiner Artikel, durch Menschen soll sein Blut vergossen werden; denn im Ebenbilde Gottes hat Er den Menschen geschaffen“ (9,5). Als Zeichen des Bundes hing er seinen Kriegsbogen in die stürmischen Wolken (Gen 9,12 ff.) und versprach: „Niemals mehr will ich den Erdboden verfluchen um des Menschen willen; (…) niemals mehr will ich alles Leben töten, wie ich es getan“ (Gen 8,21). Die noachidische Menschheit bedeutet also im Vergleich mit der adamitischen oder kainitischen Menschheit weniger einen qualitativen Sprung nach vorne als eine Kapitulation Gottes vor der unausrottbaren Schlechtigkeit des Menschen. Die schon mehrfach angeführte rabbinische Tradition beschreibt denn auch das postdiluvianische Zeitalter nicht anders als das antediluvianische: „Zehn Generationen, heißt es in dem Spruch weiter, waren es von Noach bis Awraham, um zu bekunden, wie viel Langmut Gott währen ließ, da alle diese Generationen den Ewigen erzürnten (…)“ (mAw V,2). Und in der Tat, wie schon im ersten, Bereschit genannten Abschnitt der Tora, die mit der Schöpfung beginnt und mit dem Untergang Chanochias endet, so beginnt der zweite, Noach genannte Abschnitt mit der Errettung der Menschheit (Gen 6) und endet mit dem Ruin von Babel (Gen 11). Flavius Josephus meint sogar, dass Babel eine genaue Replik auf den Untergang von Chanochia war. Dessen Gründer wollte einer neuen Flut vor-
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bauen und „einen Turm errichten, so hoch, dass die Wasserflut ihn nicht übersteigen könne“ (Jüdische Altertümer I,4,1). So gesehen, wäre das Unternehmen ein Hinweis auf weiter angestiegene Überheblichkeit. Der Turm von Babel (Bawel) galt in der Tat als Wahrzeichen der Megalopolis und als Ausdruck ihrer Megalomanie. Was sich in der Ursprache „Babilli“, Gottestor schimpfte, erscheint in der biblischen Perspektive, die den provinziellen Eindruck vom polyglotten Schmelztiegel wiedergibt, als große „Verwirrung“ (von Balal, Gen 11,9) und wird schon in der Bibel zur Metapher des Sündenpfuhls, zur „Hure Babylon“ (Offenbarung Johannis 17,5; 18,2). Wenn die biblische Urgeschichte auch nicht als Dekadenz beschrieben werden kann, so gilt doch auch für den zweiten Versuch Gottes: Nicht lange, so war auch dieser glänzende Zirkel durchlaufen, und die Sachen kamen wieder nicht weit von der Tiefe zurück, von welcher sie ausgegangen waren (M. Mendelssohn). Was hat sich, so können wir wieder fragen, im Laufe dieses zweiten Abschnitts von der Errettung aus der Sintflut bis zum Untergang Babels zugetragen? Der nachsintflutliche Mensch gleicht dem vorsintflutlichen. Adam war der erste Ackerbauer (Gen 3,18), Noach der erste Weinbauer (Gen 9,20). Darauf spielen wieder ihre Namen an. Der Name Adam wird in der Bibel zwar nicht damit erklärt, dass er Bauer (Isch HaAdama, Gen 9,20) war, sondern damit, dass ihn Gott, gleichsam als Menschenbauer, „aus der Erde“ (Min HaAdama) gemacht hat. Adam war vor seinem fatalen Fehlgriff vielmehr ein glücklicher Sammler (Gen 2,16), ehe er zum beschwerlichen Feldbau verdammt wurde (Gen 3,17–20). Von Noach erzählt die Bibel, dass er als „Mann des Ackers (Isch HaAdama, Gen 9,20) einen Weinberg zu pflanzen begann“, und im Stammbaum Adams wird der Name „Noach“ folgendermaßen erklärt: „dieser wird uns trösten (Se Jenachmenu) von unserer Arbeit, von der Beschwernis (Beizwon) unserer Hände an dem Erdboden, den der Ewige verflucht hat (Gen 5,29)“. Dieser Noach-Spruch ist das genaue Gegenstück zu jenem Adam-Spruch: „so sei die Erde um deinetwillen verflucht, mit Beschwernis (Beizawon) sollst du dich ernähren, alle Tage deines Lebens“ (Gen 3,17). Brot und Wein verhalten sich also zueinander wie Leid und Trost, wie Übel und Arznei (bBBa 58b). Sie symbolisieren den im Schöpfungsbericht verankerten Wechsel von Werk- und Feiertag (Gen 2,2–4), und deshalb wird zu Beginn des Schabbats der Segen über Brot und Wein gesprochen. Aber Noach war nicht nur der erste Weinbauer, sondern auch der erste Weintrinker: „er trank, heißt es, von dem Wein, war berauscht und entblößte sich in seinem Zelte“ (Gen 9,21). Vielleicht wollte sich der Bauer bloß von der anstrengenden Ackerei erholen, vielleicht wollte der Überlebende seine Erinnerungen ertränken. Jedenfalls löst seine Trunkenheit sogleich eine folgenschwere Familientragödie aus: „Da sah, erzählt die Bibel, Cham, der Vater
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Kanaans, die Blöße (Erwa) seines Vaters und sagte es seinen beiden Brüdern draußen. Da nahmen Schem und Japhet das Gewand, legten es auf ihre Schulter, gingen rückwärts und bedeckten ihres Vaters Blöße. Ihr Gesicht aber war rückwärts gekehrt, so dass sie ihres Vaters Blöße nicht sahen. Als Noach von seinem Rausch erwacht war, erfuhr er, was ihm sein jüngster Sohn angetan hatte. Da sprach er: Verflucht sei Kanaan! Ein Knecht der Knechte sei er seinen Brüdern! Und er sprach: Gelobt sei der Ewige, der Gott Schem, und Kanaan sei ihnen Knecht! Gott breite Japhet aus und wohne in den Hütten Schems, und Kanaan sei ihnen Knecht!“ (Gen 9,22–27). Es ist unwahrscheinlich, dass Noach nur deshalb so wütend war, weil sein jüngster Sohn oder Enkel ihn nackt gesehen hatte – und daraufhin in Katerstimmung fluchte. Die jüdischen Ausleger haben angenommen, dass die Bibel hier scheu einen Akt schwer wiegender Unzucht andeutet, weil auch sonst die Bibel „Unzucht“ mit der Wendung „die Blöße aufdecken“ (LeGalot Erwa, 3 Mose 18,3) umschreibt. Manche behaupten sogar, Cham oder dessen Enkel Kanaan hätten Noach entmannt (BerR 36,7; PRE 23; bSan 72a–b, bPes 113b). Die Verbindung von Untergang, Weinrausch und Unzucht kommt in der Genesis noch ein weiteres Mal vor. Nach der Zerstörung Sodoms – nach Chanochia, Ninive und Babel ein weiteres Symbol für die gottlose Stadt – flüchtete Lot mit seinen beiden Töchtern als einzige Überlebende der Katastrophe in die Berge und lebte mit ihnen in einer Höhle (19,30–38). Seine Töchter dachten, dass kein Mann ihnen „beiwohnen könnte nach der Sitte aller Welt. Komm, sagten sie, geben wir unserm Vater Wein zu trinken und legen uns zu ihm“ (Gen 19,31–2). Aus dieser Blutschande sollen zwei unbeliebte Nachbarn Israels entstanden sein: Moaw von „Meiaw“, „Wasser-“ bzw. „Samen des Vaters“ und Ammon von „Ben-Ammi“, „Sohn meines (nächsten) Verwandten“. Nach einer jüdischen Überlieferung ist der Alkohol die Quelle aller Übel. Die Bibel sagt uns ja nicht, was für eine Sorte von Früchten im Paradies verboten war – insbesondere sagt sie nichts von Äpfeln (Gen 3,3). Die jüdischen Ausleger haben darüber spekuliert. Nach einem Midrasch waren es Trauben. Die Schlange hätte Adam und Eva animiert, von ihnen zu trinken, nach dem Fluchwort des Mose: „Ihre Trauben Gifttrauben, bittere Reben ihnen, Natterngift ihr Wein, grausames Otterngift“ (Dtn 32,33, BerR 15,7). Das würde zum Beispiel den Namen des Baumes „der Erkenntnis des Guten und Bösen“ erklären, weil der Rausch die Unterschiede zwischen Gut und Böse verwischt, sowie die versprochene Wirkung (Gen 3,4–5), denn der Rausch gibt Allmachtsgefühle. So gesehen erscheint das Verbot Gottes als eine Warnung vor den fatalen Folgen der Droge (Gen 2,17), doch der Mensch konnte nicht widerstehen. Eine rabbinische Parabel erzählt, der Teufel habe unter dem Rebstock ein Lamm, einen Löwen, ein Schwein und einen Affen vergraben, so dass die Rebe das Blut dieser
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vier Tiere in sich aufnahm. Wenn nun ein Mann vor dem Weingenuss weniger Mut hat als ein Lamm, wird er sich nach einem Schluck zu viel wie ein Löwe fühlen, nach einem weiteren Schluck zu viel wird er sich wie ein Schwein benehmen und beschmutzen und schließlich torkeln und lästern wie ein Affe (TanNoach 13). Der vorige Midrasch fährt fort, dass zuerst die Frau von dem ältesten Tropfen der Welt kostete, dann ihrem Mann davon gab (Gen 3,6) und schließlich den Tieren (BerR 19,5), von denen manche Arten ja tatsächlich gigantische Besäufnisse mit gärenden Früchten mögen. Auch in den mythischen Wonnegärten anderer Kulturen hängen verbotene Rauschmittel, und hinter den Äpfeln der Hesperiden, dem Nektar und Ambrosia der Götter und dem Somatrank verbergen sich mehr oder weniger deutlich potenzsteigernde und bewusstseinserweiternde Drogen. Aus Eden, sagt uns jener Midrasch weiter, sei auch eine Weinrebe zu Noach angeschwemmt worden und habe zum Unglück geführt. „Wie die Schlange, sagt ein Rabbi zum biblischen Enthaltsamkeitsgelübde (Num 6,3), Eva verleitet hat, Wein zu trinken, die Verfluchung des Ackers verschuldet hat (3,17), so wurde auch durch den Wein der dritte Sohn Noachs verflucht“ (BamR 10, vgl. auch bSan 70a–b; bBer 40a). Somit wird die ominöse Frucht des Paradieses entmythologisiert und die Ursünde banalisiert. Die Urväter haben zu viel getrunken. Auch hier ist der Kontrast zur griechischen Mythologie lehrreich. Dort war ein unehelicher Sohn des Zeus, Dionysos, der Bacchus der Römer, der Erfinder der Weinkultur. Mit seinem wüsten Gefolge aus lüsternen bockbeinigen Satyrn und rasenden Bakchantinnen stürmte er von Land zu Land, von Stadt zu Stadt und strafte grausam alle, die sich im Namen von Brauch und Sitte seinem rauschhaften Treiben in den Weg stellten. Schließlich eroberte er sich einen Platz an der olympischen Tafel und wurde als Kulturstifter anerkannt. Dem bakchantischen Taumel und den orgiastischen Gelagen verdanken sich die höchsten Blüten der griechischen Kultur: die griechische Tragödie – was ja nichts anderes als „Bocksgesang“ bedeutet –, die an den Dionysien zu Ehren des Weingottes aufgeführt wurde, und das Symposion, der Ort der schöngeistigen und philosophischen Geselligkeit. Doch der größte griechische Tragiker, Euripides, hat in seiner letzten, größten Tragödie, den Bakchen (nach 406), auch die tödliche Schattenseite der dionysischen Kultur gezeigt. Er erzählt, wie die rasenden Bakchantinnen König Pentheus von Theben, der sich ihrem wilden Treiben widersetzt hatte, ermordeten und zerfleischten. Der entfesselte Haufe, allen voran seine eigene, verblendete Mutter, stürzt sich auf ihn. Der verkleidete Pentheus gibt sich seiner Mutter zu erkennen: „Sie aber, Schaum ergießend, und die Augen graus verdrehend, nicht mehr denkend, was sie denken soll, von Bakchos hingerissen, hört nicht auf ihn; nein, mit den Armen fassend seine linke Hand, und ohne Erbarmen tretend auf die
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Rippen ihm, reißt ab seine Schulter, nicht durch eigene Kraft, nein, solche Leichtigkeit kam den Händen von dem Gott. (…) Pentheus’ Glieder aber warf der blutbefleckte Haufe sich wie Bälle zu“ (dt. v. G. Ludwig, 1110– 1125). Friedrich Hölderlin wünschte sich in seiner Elegie Brod und Wein (1800) den Weingott Dionysos, den „kommenden Gott“ zurück (v. 49–54), und der Prophet des Übermenschen, Friedrich Nietzsche, rief den Gott „Dionysos gegen den Gekreuzigten“ an (Ecce homo, letzte Zeile). Gewiss, die Religion der Propheten predigt nicht Enthaltsamkeit (Micha 4,4 u. Sach 3,10), aber sie verurteilt den Exzess: „Wehe denen, so ruft der Prophet Jesaja, die schon am frühen Morgen dem Rauschtrank nachjagen und am Abend verweilen, vom Weine erhitzt! Zither und Harfe, Pauke und Flöte und Wein vereinen sie zum Gelage, das Walten des Ewigen aber kümmert sie nicht, und was seine Hände tun, sehen sie nicht. Darum zieht mein Volk in die Verbannung (…). Seine Vornehmen leiden Hunger und die Masse verschmachtet vor Durst“ (Jes 5,11–13). Insbesondere verträgt sich die prosaische Nüchternheit der mosaischen Religion nicht mit orgiastischer Religiosität. Andererseits ist die noachidische Menschheit bereits auf dem Weg zur abrahamitischen, und nicht alle Söhne Noachs reagieren in gleicher Weise auf den Rausch ihres Vaters. Nach der biblischen Völkertafel (Gen 10) war Schem der Vater der Hebräer (von Ewer, Gen 10,21.25), Japhet der Vater der Griechen (von Jawan, d. i. Ionien, Gen 10,2) und Cham Vater Kanaans und Großvater des „gewaltigen Jägers“ und Städtegründers Nimrod (Gen 10,12). Die Bibel und die jüdische Tradition betrachteten, wie schon öfter gesagt, solche Eigennamen als Programme. So wurde das nomen proprium des Urvaters der Juden, Schem, vom nomen commune Name, namentlich vom Namen schlechthin, nämlich dem Gottesnamen, HaSchem abgleitet, der Eigenname Japhet, des Urvaters der Griechen, vom hebräischen Wort „Schönheit“, Japhjut (bMeg 9b u. BerR 36) und der Eigenname Cham von Chom, Hitze. Bruder „Hitzkopf“, könnte man sagen, der sich schamlos am Anblick seines betrunkenen Vaters Noach weidet, wird hier von den beiden Brüdern: „Schöngeist“ und „Gottlob“ zurechtgewiesen, die schamhaft ihren bewusstlosen Vater bedecken. Ein überaus bezeichnender kleiner rabbinischer Midrasch sagt, dass Schem und Japhet deshalb würdig waren, den Gebetsmantel (Tallit) und den Philosophenmantel (Pallium) zu tragen (BerR 36,6), dass sie m. a. W. zur religiösen und philosophischen Sittlichkeit berufen waren, weil sie die wilde Ausschweifung überwanden. Im 19. Jahrhundert hat Rabbiner Samson Raphael Hirsch in seinem Kommentar zu dieser Bibelstelle frei nach dem erwähnten rabbinischen Midrasch und Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1793/94) sein gesamtes Kulturjudentum begründet. Der klassischen und humanistischen Bildung weist er
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dabei die Aufgabe zu, durch Schönheit die rohe chamitische Sinnlichkeit in semitische Geistigkeit überzuführen.6 Die rund siebzig Namen umfassende Liste der Nachkommen der Söhne Noachs wird in der Bibelwissenschaft Völkertafel genannt. Wenn wir Verse wie: „Die Söhne des Japhet, Gomer, Magog, Madai, Jawan, Tubal, Meschech und Tiras“ (Gen 10,2) lesen, wollen wir mit Prinz Hamlet verzweifelt ausrufen (II,2): „Was ist uns Gomer, was Magog?“ Gewiss, die Wissenschaftler sind voller Lob über diese Tafel und betonen einstimmig, dass sie ein „ethnographisches Dokument“ ohnegleichen im ganzen Altertum sei. Ohne ethnozentrische Verzerrung des Blickwinkels breitet sie die Völkervielfalt der drei Erdteile Europas, Afrikas und Asiens aus, wie sie sich damals einem Beobachter darbot. Aber man kann sich fragen, was die Tora, was die Weisung dieser Tafel ist. Man hat in ihr ein „messianisches Dokument“ gesehen, weil sie die faktische Pluralität der Menschen auf die ursprüngliche Einheit des Menschengeschlechts zurückführt und trotz ihrer aktuellen Verschiedenheit auf ihre zukünftige Wiedervereinigung hoffen lässt (Sacharja 14,9). Allerdings lehrt dann gleich das nächste Kapitel über Babel, welche Art von Einheit offenbar nicht erwünscht ist – es ist die zwanghafte Einheit des Imperiums, mit seiner alles einverleibenden Politik, seiner einstimmigen Reichs- und Amtssprache, seinen einzigartigen Monumentalbauten. Dieser Versuch ist nach der Bibel, die den Standpunkt einer „kleinen Literatur“ am Rande der altorientalischen Weltreiche einnimmt, zum Scheitern verurteilt. Allerdings wird Babel – wie Gott nach der Sintflut versprochen hatte – nicht zerstört, sondern löst sich, wie so viele Weltreiche seither, im Sprachenstreit auf. Worin bestand aber das spezifische Übel dieser letzten großen Episode der biblischen Urgeschichte des Bösen? Sehen wir uns den Text genauer an: Die Schrift erzählt von den Menschen, die sich sagten: „lasst uns eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitze bis zum Himmel reicht, damit wir uns einen Namen machen und nicht über die ganze Erde hin zerstreut werden. Da stieg der Ewige herab, um die Stadt und den Turm zu sehen, den die Menschenkinder bauten. Und er sprach: Jetzt sind sie e i n Volk und e i n e Sprache und dies ist nur der Anfang ihres Tuns; fortan wird ihnen nichts fehlschlagen, was sie auch ersinnen mögen. Wohlan, lasst uns hinabsteigen und ihre Sprache dort verwirren, dass einer die Sprache des anderen nicht verstehe. Und der Ewige zerstreute sie von dort über die ganze Erde hin, und sie hörten auf, die Stadt zu bauen“ (Gen 11,4–10). Es ist hier nicht von einen großstädtischen Sündenpfuhl die Rede. Im Gegenteil, die Erbauer der Stadt waren perfekt organisiert, und ihre Arbeitsdisziplin wird ausdrück6 Kom. zu 1 Mose 9,27. S. R. Hirsch, Der Pentateuch, Bd. 1, Frankfurt a. M., 4. Aufl. 1903, 156–159.
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lich hervorgehoben. So wird vergleichsweise ausführlich berichtet, wie sie sich in der steinarmen Gegend die erforderlichen Ersatzbaustoffe besorgen (Gen 11,3). Außerdem stören Gott keineswegs der Turm und die Stadt an sich. In diesem Punkt ist der Bibeltext sogar ziemlich ironisch: Gott muss weit herabsteigen, um den angeblich himmelstürmenden Turm überhaupt zu sehen. Was ihn stört, ist nicht das Bauwerk, sondern die Absicht dahinter: Die Menschen wollten sich damit einen „Namen machen“, sagt die Bibel, wollten berühmt und gerühmt werden. Die Sünde der „Generation der Zerstreuung“ (Dor Haflaga), so unterstreicht auch eine Tradition im Talmud (bSan 109a), war der Götzendienst. Damit ist vermutlich nicht der Gottesdienst gemeint, der an der Spitze der alten mesopotamischen Zikkurat abgehalten zu werden pflegte, sondern wohl die hybride Selbstvergötzung. Wie der Talmud an anderer Stelle sagt: „Wenn einem Menschen Hochmut innewohnt, so ist es ebenso, als würde er Götzendienst treiben (Kol Adam ScheJäsch Bo Gassut Ruach – KeIlu Owed Awoda Sara). (…) Wenn einem Menschen Hochmut innewohnt, so spricht der Heilige, gepriesen sei er: ‚Ich und er können nicht zusammen auf der Welt wohnen. Es heißt nämlich (im Psalm 101,5): ‚wer seinen Nächsten heimlich verleumdet, den vernichte ich, wer stolzen Blickes und aufgeblasenen Sinnes ist, den mag ich nicht‘, – man lese nicht: ‚den (Oto) mag ich nicht‘, sondern, ‚mit dem (Ito) mag ich nicht‘ (bSota 4b–5a). Gott hielt es mit diesen Angebern nicht im gleichen Raum aus: Er vertrieb Adam aus dem Paradies (WaJegaresch Et HaAdam, Gen 3,24), Kain vom Lande (Geraschta Oti […] MeAl Pnei HaAdama, Gen 5,14), die „Generation der Sintflut“ (Dor HaMabul) von der Oberfläche der Erde (Emche Et-HaAdam […] MeAl Pnei HaAdama, Gen 6,7), und die Generation des Turmbaus aus ihrer Stadt (Gen 11,9). Wenn wir jetzt die biblische Urgeschichte insgesamt mit den Augen der Rabbinen überblicken, dann zeigt sich, dass die Menschen in diesen zwei mal zehn Generationen von Adam bis Noach und von Noach bis Abraham immer wieder derselben Versuchung erliegen wie der Urmensch, und ihr langes Sündenregister wirft umgekehrt auch ein Licht auf die berühmte Ursünde zurück. Nichts Menschliches aus den ersten 11 Kapiteln der Genesis ist uns fremd. Überall erkennen wir den Menschen wieder, wie er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln das ihm gebotene Maß moralisch, politisch, technisch, biologisch, kulturell überschreitet. Dabei leidet er nicht etwa an einer unheilbaren Erbkrankheit, an einer von Generation zu Generation übertragbaren Geschlechtskrankheit oder dgl. mehr, sondern er ist schlicht ein unbelehrbarer Wiederholungstäter. Ja, die Bibel ist so weit entfernt, ihn aus seiner Verantwortung zu entlassen, dass sie alle metaphysischen und physischen Übel dieser Welt auf sein moralisches Übel zurückführt. Allerdings lässt der auf frischer Tat ertappte „Übermensch“ selber jeglichen Heroismus vermissen und schiebt die Schuld auf
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seine Frau, ja auf Gott, der sie ihm gegeben hat (Gen 3,12), und die Frau wälzt sie weiter auf die Schlange ab (Gen 3,13). Nietzsche stellt in seiner Geburt der Tragödie (Kap. 9) diesen weibischen „semitischen Sündenfallmythus“ dem männlichen arischen Mythos vom stolzen Frevel des Prometheus gegenüber. Doch auch Gott lässt die feigen Ausreden des Menschen nicht durchgehen. Trotzdem sind die meisten theologischen Hamartiologien nichts als Neuauflagen dieser Ausreden. Auch die jüdische Tradition war gegen die Versuchung nicht gefeit, die größere Nähe der Frau zur Sünde in der biblischen Erzählung in eine besondere Verwandtschaft von Weiblichkeit und Bosheit umzumünzen und dem Weib die Schuld an allem Übel dieser Welt zuzuschieben.
2. Das Weib Es kann eigentlich gar keine Rede davon sein, dass Genesis 2 die Urfrau als Übel wertet, denn sie ist dort ganz im Gegenteil die eigentliche Vollendung einer zuvor unvollendeten Schöpfung. Biblische Hamartiologien, die der Frau eine besondere Disposition zur Sünde zusprechen, knüpfen dennoch in der Regel an dieses Kapitel an und leiten aus ihrem späteren Erscheinen im Schöpfungsplan und aus den näheren Umständen ihrer Geburt ihre moralische Minderwertigkeit ab. Die wertmäßige Herabsetzung ist in der Regel eine Konsequenz ihrer seinsmäßigen Einstufung. In dieser Hinsicht ist die Auskunft der Bibel aber widersprüchlich. Von der Erschaffung der Frau wird in den beiden ersten Kapiteln der Genesis zweimal hintereinander berichtet, und beide Berichte sind, was Natur und Stellung der Frau anbelangt, miteinander unvereinbar. Aus dem ersten Bericht folgt die Ebenbürtigkeit der Geschlechter: „Und Gott schuf den Menschen in seinem Ebenbilde, im Ebenbilde Gottes schuf er ihn; Mann und Weib schuf er sie“ (Gen 1,27). Dieser Satz wird später noch einmal bestätigt: „Am Tage, da Gott Adam erschuf, machte er ihn in der Ähnlichkeit Gottes, Mann und Weib schuf er sie, segnete sie und nannte ihren Namen ‚Mensch‘ (…)“ (Gen 5,1f.). Der Herrschaftsauftrag: „füllet die Erde und bezwinget sie, und herrschet über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und alle Tiere, die sich auf der Erde regen“ (Gen 1,28), geht ohne Ansehen des Geschlechts an beide Partner. Im zweiten Bericht ist der Mann hingegen das erste Geschöpf (Gen 2,7) und die Frau das letzte Geschöpf (2,21). Die merkwürdige Geschichte ihrer Erschaffung aus der Rippe des Mannes hat die vorige Version von der Ebenbürtigkeit der Geschlechter beinahe aus dem kulturellen Gedächtnis verdrängt: „Da versenkte Gott, der Ewige, den Menschen in einen tiefen Schlaf, so dass er einschlief, nahm dann eine von seinen Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. Und Gott, der
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Ewige baute die Rippe, die er von dem Menschen genommen hatte, zu einem Weibe, und brachte es dem Menschen. Da sprach der Mensch: ‚Dieses Mal ist es Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleische. Diese soll Männin (Ischa) genannt werden, denn diese ist vom Manne (Isch) genommen worden.‘ Darum verlässt der Mann seinen Vater und seine Mutter und hängt an seinem Weibe, und sie werden zu einem Fleische“ (Gen, 2,21b–25). Der zweite Bericht widerspricht also der Ebenbürtigkeit der Geschlechter. In genauer Umkehrung des natürlichen Geburtsvorgangs kommt die Frau aus dem Körper des Mannes zur Welt und hat von vornherein eine bestimmte, nämlich eine dienende Rolle (Gen 2,18–21). Damit soll nicht die Unterdrückung der Frau festgeschrieben, sondern die Ehe als leibliche Einswerdung begründet werden (Gen 2,24–25). Das ursprünglich harmonisch intendierte Geschlechterverhältnis wird erst infolge des Sündenfalls (Gen 3), für den die Frau, nach diesem Bericht, als verführte Verführerin eine Hauptschuld trifft, zum Kampf der Geschlechter. Die Konsequenz ihres Fehlers sind Frustration und Unterdrückung: „nach deinem Mann, sagt Gott zu ihr, sei dein Verlangen und er beherrsche dich“ (Gen 3,16b). Diese Konsequenz betrachtet die Bibel aber als Fluch und verankert sie nicht in der Natur. Damit eröffnet sie immerhin die Aussicht auf eine Wiederherstellung der ursprünglichen Harmonie. Misogyne Hamartiologien suchen ihre biblischen Anhaltspunkte trotzdem im zweiten Bericht von der Erschaffung der Frau. Die Frage ist dann, wie sie es mit dem ersten Bericht halten, der für sie ja auch verbindlich ist. Wir fragen deshalb zunächst, wie sich beide Berichte nach der klassischen jüdischen Bibelauslegung verhalten. Der wichtigste mittelalterliche jüdische Bibelerklärer, Rabbi Schlomo ben Jizchak, Abk.: Raschi (1040–1105 n.), geht in seinem Kommentar zu Genesis 1,27 auf das Verhältnis der beiden Berichte ein: „‚Männlich und weiblich erschuf er sie‘, weiter aber heißt es: ‚Er nahm eine von seinen Rippen‘ (Gen 2,21). Der buchstäbliche Sinn des ersten Verses (Gen 1,27) ist: hier teilt er dir mit, dass beide am sechsten Tag erschaffen wurden, und erklärt dir noch nicht, wie sie erschaffen wurden, das erklärt er dir an der anderen Stelle (Gen 2,21).“ Nach ihm verhält sich also der erste zum zweiten Bericht wie ein Inhaltsverzeichnis zum entsprechenden Buchkapitel. Das hat zur Folge, dass für ihn die egalitäre Version der Geschlechtsdifferenz durch die hierarchische expliziert wird, ja, er liest die Unterdrückung der Frau, die nach der Bibel eigentlich erst eine Folge des Sündenfalls ist (Gen 3,16), in den Herrschaftsauftrag des Urpaares (Gen 1,28) hinein (Kom zur St.). Ganz ähnlich sieht die Verhältnisbestimmung beim wichtigsten mittelalterlichen jüdischen Religionsphilosophen, Moses Maimonides (1138– 1204 n.), aus. Er fasst Genesis 2,21, wie er in seinem Führer der Verirrten sagt, als „Pforte“ zu einem tieferen, wie wir noch sehen werden, miso-
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gynen Verständnis von Genesis 1,27 auf (II, 30). Sowohl Raschi als auch Maimonides lesen also den egalitären Bericht im Licht des zweiten hierarchischen Berichts. Es gibt aber auch die umgekehrte Auslegungstradition, die Raschi in seinem Kommentar zu Gen 1,27 und 2,21 übrigens auch anführt. Diese Auslegungstradition hat die erste Stelle: „Und Gott schuf den Menschen (…) Mann und Weib schuf er sie“ (Gen 1,27) im Sinne des Mythos vom androgynen Urmenschen gedeutet, wie ihn Aristophanes im Symposion Platons erzählt. Danach bestand der Urzwitter aus zwei Gesichtern, vier Beinen, vier Armen usw. und wurde infolge seines Hochmutes in zwei Hälften geteilt. Der Eros sei die Heilkraft, die die beiden unglücklichen Hälften wieder zusammenführe. Wie in diesem Mythos heißt es in einer rabbinischen Auslegung zu Gen 1,27 unter Verwendung des griechischen Lehnwortes: „Rabbi Jeremia ben Elasar sagte: Gott bildete in der Stunde der Menschenschöpfung den Menschen als Androgynos, wie es heißt: ‚Mann und Weib schuf er sie.‘ Nach R. Samuel bar Nachmani hat der erste Mensch bei seiner Erschaffung zwei Gesichter, Gott durchsägte ihn in zwei Hälften und bildete zwei Rücken aus ihm, den einen nach dieser Seite und den anderen nach jener Seite hin.“ Darauf wird eingewandt, dass die Geschichte mit der Rippe in der Bibel doch einen ganz anderen Operationsverlauf schildere. R. Schmuel bar Nachmani verweist aber darauf, dass das hebräische Wort für „Rippe“, „Zela“ auch „Seite“ bedeuten könne (wie in Ex 26,20: „Die andere Seite, Zela, der Wohnung nach der Nordrichtung“) und die Urfrau demnach nicht die Rippe, sondern die andere Seite des Mannes gewesen sei (GenR 8,1). Hier wird also die hierarchische Version (Gen 2,21) im Licht der egalitären Version (Gen 1,27) der Erschaffung des Urpaares gelesen. Ferner wird im Gegensatz zum zweiten Schöpfungsbericht, in dem der Mensch zunächst Mann und alleine ist, im Anschluss an Gen 5,1–2: „Männlich und weiblich erschuf er sie (…) und rief ihren Namen Mensch“ kühn geschlossen, dass vom ganzen Menschen nur dann die Rede sein kann, wenn seine beiden Seiten vereint sind. Darauf stützt Rabbi Eleasar seinen lakonischen Ausspruch: „Jeder Mann, der keine Frau hat, ist kein Mensch“ (GenR 17,2; bJeb 63a). Es gibt also in der jüdischen Bibelauslegung, die Divergenzen nicht durch Quellenscheidung ausräumt, beide Harmonisierungen: Für die eine Richtung der Ausleger ist der erste Bericht maßgeblich und der zweite untergeordnet, für die andere der zweite Bericht maßgeblich und der erste untergeordnet. Die Vertreter einer misogynen Anthropologie gehören eher der letzteren Richtung an. Im Talmud stoßen beide Gruppen aufeinander, und die Vertreter der egalitären und der hierarchischen Harmonisierung der biblischen Stellen müssen ihre jeweilige Stellungnahme gegenseitig exegetisch bzw. anthropologisch begründen. Wie so oft in der rabbinischen Literatur knüpft die grundsätzliche Erörterung an einer ganz unscheinbaren, orthographischen
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Eigentümlichkeit des biblischen Textes an. Das Verb, das im zweiten Schöpfungsbericht die Bildung des Menschen beschreibt (Gen 2,7), wird im Vers über die Bildung der Tiere (2,19) ohne ersichtlichen Grund anders geschrieben. Der Ausdruck: „Und er bildete“, WaJizer wird im ersten Vers mit zwei Jud (WaJJizer) und im zweiten nur mit einem Jud (WaJizer) geschrieben. Die Erklärer fragen sich, was die Bibel damit andeuten wolle. Die nachfolgende talmudische Diskussion zieht daraus zunächst Schlussfolgerungen über den Unterschied von Mensch und Tier: „Rabbi Nachman ben Rabbi Chisda trug vor: Weshalb steht im Vers: ‚und der Herr, Gott bildete den Menschen‘; (das Wort WaJJizer) mit zwei Jud? – weil der Heilige, gepriesen sei er, (im Menschen) zwei Triebe schuf, einen guten Trieb (Jezer HaTow) und einen bösen Trieb (Jezer HaRa). R. Nachman ben R. Jizchak wandte ein: Demnach hat das Vieh, bei dem (das Wort) WaJJizer nicht geschrieben steht, keinen (bösen) Trieb, und wir sehen ja aber, dass es Schaden anrichtet, beißt und ausschlägt? Dies ist vielmehr nach R. Schimon ben Pasi zu erklären, denn R. Schimon ben Pasi sagte: Wehe mir vor meinem Bildner (Jozri) und wehe mir vor meiner Triebhaftigkeit (Jizri). Oder aber auch nach R. Jeremia ben Elasar, denn er sagte: Zwei Gesichter hatte der Heilige, gepriesen sei er, Adam dem Urmenschen erschaffen, wie es heißt: ‚hinten und vorne engst du mich gebildet ein‘ (Achor WaKedem Zartani, Ps 139,5)“ (GenR 8,1; bBer 61a). Der erste Ausspruch fasst die beiden Jud als Hinweise auf die beiden Triebe im Menschen, den guten (Jezer HaTow) und den bösen Trieb (Jezer HaRa) auf. Der Mensch hat demnach im Gegensatz zu den instinktgeleiteten Tieren die Möglichkeit, seinen guten oder bösen Trieben zu folgen. Der zweite Ausspruch weist dagegen darauf hin, dass dies kein Privileg des Menschen sei, sondern dass auch Tiere gutmütig oder aggressiv sein können, was gleichfalls auf zwei gegensätzliche Triebe schließen lässt. Dennoch wird das Verb bei der Tierschöpfung (Gen 2,19) nur mit einem Jud geschrieben. Folglich müssen die beiden Jud im Vers über die Menschenschöpfung (Gen 2,7) eine andere Bedeutung haben und auf einen anderen artspezifischen Unterschied hinweisen. Dieser Ansicht zufolge machen also die guten und schlechten Triebe allein noch nicht das Wesen des Menschen aus – und für die Annahme eines freien Willens reichen sie in der Tat nicht hin. Deshalb wird ein weiterer Deutungsvorschlag für die beiden Jud unterbreitet. Das hebräische Wort WaJjizer wird aus den Wörtern „Waj“, „O Weh!“ und „Jozri“, „mein Bildner“ bzw. „Jizri“, „mein Trieb“ zusammengesetzt und soll die Seufzer ausdrücken: „O Weh mir vor meinem Schöpfer, wenn ich meinen Trieben folge!“ und: „O Weh mir vor meinen Trieben, wenn ich meinem Schöpfer folge!“. Nach dieser Ansicht schwankt der Mensch nicht nur zwischen zwei Trieben, sondern zwischen zwei Instanzen: Pflicht und Neigung, Über-Ich und Es, Gott und Teufel. Diese tragische Zerrissenheit begründet erst sein
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Gewissen und zeichnet ihn vor den Tieren aus. Bei diesen Ansichten der moralischen Natur des Menschen spielt die Geschlechterdifferenz überhaupt keine Rolle. Die letzte Erklärung bringt erst wieder den Mythos vom Urzwitter ins Spiel. Das Doppel-Jud des Verbs WaJJizer, bilden, das hier mit dem Verb Zarar, zusammenbinden identifiziert wird, symbolisiert sinnfällig das Urpaar. Der Mensch bestünde demnach von Anfang an aus männlichen und weiblichen Anteilen. Damit wird also die egalitäre Version der Erschaffung der Frau im ersten Kapitel der Genesis in die hierarchische Version des zweiten hineinprojiziert. Im Talmud wird nun die Frage aufgeworfen, wie sich der Mythos des Androgyns, nach dem die Frau die gleichrangige andere Hälfte des Mannes ist, mit der Geschichte von der Rippe vertrage, nach der die Frau ja eine Art Abfallprodukt des Mannes ist: „‚Und der Herr, Gott, baute die Rippe!‘ Raw und Schmuel streiten hierüber: (Raw) sagt, es war ein Gesicht (Parzuf), (Schmuel) sagt, es war ein Schwanz (Sanaw). (…) Einleuchtend ist es nach demjenigen, welcher sagt, es war ein Gesicht, da (das Wort) WaJJizer mit zwei Jud geschrieben ist, warum aber heißt es WaJJizer nach demjenigen, welcher sagt, dass es ein Schwanz war? Dies nach Rabbi Schimon ben Pasi, denn R. Schimon ben Pasi sagte: Wehe mir vor meinem Bildner (Jozri) und wehe mir vor meiner Triebhaftigkeit (Jizri). Einleuchtend ist es nach demjenigen, welcher sagt, es war ein Gesicht, da es heißt: ‚Mann und Weib schuf er sie‘ (Gen 1,27), wieso aber heißt es: ‚Mann und Weib schuf er sie‘ (Gen 1,27) nach demjenigen, welcher sagt, es war ein Schwanz? Dies nach Rabbi Abahu, denn R. Abahu wies auf einen Widerspruch hin. Es heißt: ‚Mann und Weib schuf er sie‘, dagegen heißt es: ‚im Ebenbild Gottes erschuf er den Menschen‘ (Gen 1,27. 5,1.9,6). Wie ist dies (in Übereinstimmung zu bringen?). Dies ist wie folgt zu erklären: Zuerst war es sein Wille, zwei zu erschaffen, schließlich aber wurde nur einer erschaffen (…)“ (bBer 61a). Der erste Kontrahent (Raw) versteht „Rippe“ (Gen 2,21) wohl aufgrund der möglichen Wortbedeutung: „Seite“ als „Gesicht“ eines Januskopfes (Diprósapos) und setzt somit die ursprüngliche Gleichrangigkeit der Geschlechter voraus. Nach seinem Vertändnis bestätigt die Geschichte mit der Rippe die egalitären Implikationen der Graphie in Gen 2,7. Der zweite Kontrahent (Schmuel) versteht „Rippe“ dagegen als „Schwanz“. Es ist möglich, dass er auf den Midrasch von der dreizehnten überflüssigen Rippe Adams oder vom animalischen Schwanzstumpf des Urmenschen anspielt, aber zur Ehrenrettung des Weisen wird man annehmen dürfen, dass er damit nicht verächtlich über die Frauen (wie in Dtn 28,13.44) sprechen, sondern den sekundären Charakter der Geschlechtsdifferenz ausdrücken wollte. Nun will der Talmud aber wissen, wie sich der Vertreter einer solchen entschieden hierarchischen Auffassung des Geschlechterverhältnisses die beiden fraglichen Jud im Verb WaJJizer (Gen 2,7) erklären kann, die schon graphisch auf ein eben-
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bürtiges Urpaar anzuspielen scheinen. Sie greifen auf die vorige Erklärung dieser Buchstaben zurück und entziffern sie als Hinweise auf die zwiespältige moralische Natur des Menschen und bestätigen damit, dass sie nicht etwa das weibliche Geschlecht, sondern die Geschlechterdifferenz für die Bestimmung des Menschen niedrig einschätzen. Wie erklären sie sich dann, so fragt der Talmud weiter, die explizit egalitäre Formulierung im ersten Schöpfungsbericht (Gen 1,27)? Sie verweisen auf die Mehrzahl im Vers: „Mann und Weib erschuf er sie“ (Gen 1,27) und auf die Einzahl im Vers: „Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde“ (Gen 9,6). Daraus schließen sie, dass Gott zwar ursprünglich zwei gleichberechtigte Urmenschen schaffen wollte, aber schließlich, wohl in weiser Voraussicht unlösbarer Konflikte, lieber nur einen Menschen machte. Hier bestätigt sich weiter die moralische Natur des Arguments Schmuels, der die Einheit des Menschengeschlechts der Gleichheit der Geschlechter vorzieht. Die „hierarchische“ Richtung ist jedenfalls der „egalitären“ Richtung keine Erklärung schuldig geblieben. Umgekehrt zeigt die Fortsetzung der Diskussion, dass die „hierarchische“ Richtung mit ihren Gegenargumenten auch der „egalitären“ Richtung nichts anhaben kann. Und der Talmud entscheidet sich, wie stets bei solchen Debatten, für keine der beiden Richtungen. Die meisten mittelalterlichen jüdischen Religionsphilosophen beziehen die Position Schmuels und ziehen daraus weitreichende Konsequenzen für die natürliche Bosheit der Frau. Dabei ist allerdings auch der starke Einfluss der platonischen und der aristotelischen Philosophie zu berücksichtigen. Die hierarchische Tendenz tritt besonders deutlich im platonischen Gegenstück zur biblischen Genesis hervor, dem überaus einflussreichen Schöpfungsmythos des Timaios. Hier überträgt der göttliche Werkmeister (Demiourgós) den Unsterblichen die Aufgabe, die Sterblichen hervorzubringen; wenn er es nämlich selbst machen würde, sagt er bezeichnenderweise, „würden sie den Göttern gleich“ (41c). Genau genommen gehen der Demiurg und die Unsterblichen bei der Erschaffung des Menschen arbeitsteilig vor: Ersterer zeugt die göttliche Seele, Letztere erzeugen den sterblichen Körper (41c–d). Der Urmensch stellt sich demnach als ein Mischwesen aus göttlichen und sterblichen, geistigen und materiellen Teilen dar. Die Frau ist in diesem Schöpfungsmythos nicht nur ein physisches, sondern ein moralisches „Abfallprodukt“ des Mannes: „Da die menschliche Natur, sagt Timaios, eine zwiespältige sei, so solle das überlegenere von beiden Geschlechtern dasjenige sein, welches in der Folge den Namen ‚Mann‘ führen werde“ (41e–42a). Und wie kommt die Frau zur Welt? „Wer aber die ihm zukommende Zeit wohl verlebte, so Timaios weiter, der werde (…) ein glückseliges (…) Leben führen; sei er aber in diesen Dingen gescheitert, dann werde er bei seiner zweiten Geburt in die Natur eines Weibes übergehen“ (42b–c). „Lasse er jedoch auch dann von seiner Schlechtigkeit
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nicht ab, dann werde er, seiner Verschlechterung entsprechend, sich jeweils nach der Ähnlichkeit seiner Charakterentwicklung in eine entsprechende tierische Natur verwandeln“ (42c). Die Frau ist sozusagen die Durchgangsstufe des gefallenen Mannes zum Tier, und die Geschlechtsorgane erscheinen als tierische Glieder des Menschen (91b). Wir brauchen also gar nicht den griechischen Mythos der Pandora zu bemühen, jener eisernen Urfrau, aus deren Büchse alle Übel dieser Welt entschlüpften, auch im beinahe vollständig entmythologisierten Schöpfungsmythos des Timaios ist die Frau die Strafe des Mannes. Diese Mythen spiegeln die Inegalität der Geschlechter wider, die Aristoteles in seiner Politik metaphysisch formuliert: „das Verhältnis des Männlichen zum Weiblichen (ist) von Natur so, dass das Eine besser, das Andere geringer ist, und das Eine regiert und das Andere regiert wird“ (1254 b10–15). Hier zeigt sich der wichtigste Unterschied zur biblischen Genesis. Die Unterordnung der Frau ist in der Natur festgeschrieben, und eine Gleichstellung der Geschlechter wäre demnach widernatürlich. Nicht einmal eine utopische Perspektive auf eine zukünftige Wiederherstellung der paradiesischen Harmonie zwischen Mann und Frau bleibt als Möglichkeit bestehen. Die biblische und philosophische Anthropologie vermischen sich erstmals in der hellenistisch-jüdischen Exegese, deren wichtigster Vertreter Philon von Alexandrien (20 v.–50 n.) war. Er las die griechische Philosophie einschließlich ihrer frauenfeindlichen Tendenzen in die Bibel hinein. Das Problem des biblischen Doppelberichts der Menschenschöpfung löst er in seinen allegorischen Kommentaren zur Genesis ganz im Sinne des Timaios durch die Annahme einer Doppelschöpfung. Der erste Bericht gebe die Erschaffung des geistigen und der zweite die Bildung des sinnlichen Menschen wieder (Legum Allegoria I, § 31; Werke, ed. L. Cohn, Bd. III, S. 26). Die auffällige Mehrzahl im biblischen Schöpfungsbeschluss: „Lasset uns Menschen machen“ (Gen 1,26) deutet er auf „Mitarbeiter“ Gottes, die für die schlechten Seiten des Menschen zuständig waren (Über die Weltschöpfung, § 75, Werke, ed. L. Cohn, Bd. I, 1909, S. 53). Die Ebenbildlichkeit kann sich nur auf den Geist des Menschen beziehen, „denn weder hat Gott menschliche Gestalt noch ist der menschliche Körper gottähnlich (Über die Weltschöpfung, § 69, Werke, ed. L. Cohn, Bd. I, 1909, S. 50 ff.; gl. auch § 134; ebd. S. 174). Die Ebenbildlichkeit geht insbesondere der Geschlechtlichkeit des Menschen voraus, wie ja die Reihenfolge im biblischen Vers lehre: „Und Gott schuf den Menschen in seinem Ebenbilde, im Ebenbilde Gottes schuf er i h n ; männlich und weiblich schuf er s i e “ (Gen 1,27; ebd. § 76; S. 53). Aber auch unter solchen Voraussetzungen hätte Philon an einem egalitären Begriff des Menschengeschlechts festhalten können, zumal er die biblische Geschichte mit der Rippe als „durchaus mythenhaft(e)“ Allegorie für die Entstehung der Sinnlichkeit betrachtete
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(Legum Allegoria I, § 19; Werke, ebd. Bd. III, S. 60). Er identifiziert aber andererseits Sinnlichkeit und Weiblichkeit, „denn der Geist in uns ist das männliche Prinzip, die Sinnlichkeit das weibliche“ (Über die Weltschöpfung, § 165, ebd. Bd. I, S. 86 ff.; Legum Allegoria II, § 44; ebd. Bd. III, S. 66) – und somit ist die Frau die bevorzugte Angriffsfläche für Wollust und Sünde. Dieser Dualismus ist das metaphysische Fundament der Misogynie Philons, der Rest ist exegetische Fassade. Wie für Platon, so ist die Frau auch für Philon bloß ein moralisches „Abfallprodukt“ des Mannes, das ihm schließlich zum Verhängnis wird und ihn in die Niederungen der Lust hinabzieht: „Solange (der Mensch bzw. Mann) – nämlich allein war, glich er in seinem Alleinsein der Welt und Gott (…). Als aber auch das Weib gebildet war (…) trat die Liebe hinzu, die sie wie zwei getrennte Hälften eines Wesens vereinigte (…). Dieses Verlangen aber erzeugt auch jene Wollust des Körpers (…) um deren Willen die Menschen das sterbliche und unglückliche Leben für ein unsterbliches und glückliches eintauschen“ (Über die Weltschöpfung § 152, ebd. Bd. I, S. 81 f.). Die Schlange ist fast schon überflüssig, das Weib ist bereits die Schlange des Mannes – im aramäischen Sprachraum gab es das Wortspiel „Chawa“, „Eva“; „Chiwja“, „Schlange“. Kein Wunder, dass Philon auch sonst ein ziemlich negatives Frauenbild hat. So beschreibt er die Frauen als selbstsüchtig, eifersüchtig und verführerisch (Hypothetica 11, 14; engl. Ed. F. H. Colson, Bd. 9, Repr. 1967, S. 443).7 Aus der Allegorie der Rippe leitet Philo einen Frauenspiegel ab. Sie stehe von Natur aus auf einer tieferen Stufe als der Mann, sie müsse jünger sein als er, ihm gehorchen wie eine Tochter und ihm dienen wie ein Körperglied (Quaestiones et Solutiones in Genesim I, § 27 zu Gen 2,21; ed. F. H. Colson, Bd. 9, Repr. 1971, S. 16). Die verhängnisvolle Fortsetzung dieser misogynen Bibelauslegung bei den christlichen Kirchenvätern kann man bei Elaine Pagels Adam, Eva und die Schlange. Die Theologie der Sünde (engl. 1988, dt. 1991) nachlesen. Man könnte zusammenfassend sagen, Philons Interpretation des Sündenfalls – und die aller seiner Nachfolger – gleicht der Adams. Als Gott ihn zur Rede stellte, erwiderte er: „Das Weib, das du mir gegeben hast, sie gab mir von dem Baum, und ich aß“ (Gen 3,12). Diese Tendenz tritt auch in Maimonides’ Führer der Verirrten hervor. Im 1. Kapitel sagt er über die Gottesebenbildlichkeit des Menschen dasselbe wie Philon: „Wegen (der) Vernunfterkenntnis wird vom Menschen gesagt: ‚Im Ebenbilde Gottes schuf er ihn‘ (Gen 1,27)“ – nicht aber wegen der „Gestalt und Figur“ (I, 1). Wie hält Maimonides es aber mit der Fortset7 Zit. in: I. Heinemann, Philons griechische und jüdische Bildung. Kulturvergleichende Untersuchungen zu Philons Darstellung der jüdischen Gesetze, 1929–1932, Nachdruck, Hildesheim 1962, S. 232.
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zung dieses Verses: „Mann und Weib erschuf er sie“ (Gen 1,27)? Die zustimmende Erwähnung des Mythos des Androgyn (II, 30) lässt eine egalitäre Interpretation möglich erscheinen. Maimonides deutet aber an – und seine Kommentatoren sprechen es offen aus –, dass diese Doppelgeschlechtlichkeit allegorisch auf die Doppelnatur des Menschen hinweise, der aus Form und Materie, Vernunft und Sinnlichkeit bestehe. Anderswo versucht er diese Deutung lexikalisch zu untermauern und führt aus, dass die Wörter „Mann“ (Isch) und „Weib“ (Ischah, Gen 2,23) auf Hebräisch im Allgemeinen auch Zusammengehöriges bezeichnen können und „Weib“ insbesondere „in übertragener Bedeutung auf jeden Gegenstand angewandt (wird), der dazu bereitet und bestimmt ist, sich mit einem anderen Gegenstand zu verbinden“ (I, 6). Ferner beruft er sich auch auf den Timaios, der die Form „Mann“ und die Materie „Weib“ genannt habe (eigentlich „Vater“ und „Mutter“, Timaios 50d, I, 17). So wird die egalitäre Version des Schöpfungsberichts konsequent hierarchisch umgedeutet. Denn obschon Form und Materie in jedem körperlichen Wesen wie Mann und Weib in der Ehe verbunden sind (III, 8) und gleichsam „ein Fleisch“ (Gen 2,24) bilden, so gibt es nach Maimonides doch einen abgrundtiefen Wertunterschied zwischen diesen metaphysischen Bestandteilen: Die Form ist vollkommen und die Materie „aus dem hässlichen und dunklen Staub“ die Quelle aller Übel. Jedes Lebewesen, schreibt Maimonides, „stirbt und erkrankt (…) nur infolge seiner Materie und nicht infolge seiner Form, und alle Vergehungen und Sünden eines Menschen sind nur von seiner Materie und nicht von seiner Form verursacht, während hingegen alle seine Vorzüge nur von seiner Form bedingt sind“ (III, 8). Die Form, von der nach Maimonides allein die Ebenbildlichkeit ausgesagt werden kann, hat zwar „Macht, Herrschaft und Verfügungsgewalt über die Materie (…) so dass sie sie bezwingen, ihr ihre Begierden versagen und diese auf das möglichst richtige und gleiche Maß zurückführen kann“. Aber die widerspenstige Materie lässt sich kaum bändigen: „Obgleich sie aber das Weib eines Mannes ist, sucht sie immer einen anderen Mann, mit dem sie ihren Gatten vertauschen kann, den sie verführt und in jeder Weise an sich zieht, bis er von ihr erreicht, was ihr Gatte von ihr erreicht hat. Dies ist also der Zustand der Materie. Er besteht darin (…), dass sie sich unaufhörlich bewegt, jede Form, die bei ihr ist, abzulegen und eine andere Form anzunehmen, und dass sie sich unaufhörlich bewegt, jede Form, die bei ihr ist, abzulegen und eine andere herbeizuschaffen, und genau in derselben Weise verfährt sie, nachdem die andere Form in sie gelangt ist.“ Nicht zufällig vergleicht Maimonides deshalb eingangs die Materie mit der Hure aus dem Buch der Sprüche (7,6–23) und stellt ihr das untergebene Weib aus dem gleichen biblischen Buch (31) entgegen, „das nicht buhlt, sondern sich mit der Instandhaltung des Hauses und der Pflege der Interessen seines Gatten be-
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gnügt“ (Führer, Einl.). Bei alledem handelt es sich zwar zunächst nur um Allegorien. Doch die metaphysische Degradierung der Weiblichkeit bildet die ideologische Legitimierung für die soziale Degradierung. Wie bei Philon, so werden auch bei Maimonides die zunächst aus dem realen Eheleben abstrahierten Metaphern wieder auf das reale Eheleben zurückprojiziert.8 Wie die Form die widerspenstige Materie dominieren soll, so der Mann die geistig minderbemittelte Frau (vgl. die Epistel über die Zwangskonversion 1). Maimonides nimmt sogar das ominöse Nietzsche-Wort: „Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“ (Also sprach Zarathustra I, Von alten und jungen Weiblein) vorweg und verlangt, dass der Ehemann eine pflichtvergessene Ehefrau mit der Peitsche züchtigen solle (Hilchot Ischut 21,10) – eine Entscheidung, die bei den damaligen französischen Rabbinen Verwunderung hervorrief (vgl. die kritische Glosse von R. David aus Posquieres). Wenn man diese religionsphilosophischen Positionen zur Stellung der Frau in der Schöpfung in den Rahmen der talmudischen Diskussion einordnen möchte, dann könnte man sagen, dass die mittelalterlichen jüdischen Philosophen eher der Position Schmuels zuneigen.9 Was in Bibel und Talmud allerdings fehlt, ist die „Ontologisierung von Gut und Böse“. Danach ist das weibliche nämlich nicht physisch oder moralisch, sondern metaphysisch das schwache Geschlecht. Zu den beschwerlichen Flüchen der Bibel wird hier der beschwerlichste hinzugefügt, die Personifikation des Bösen. Die jüdische Mystik hat sich als wahre „Tradition“ (Kabbala) im Gegensatz zur jüdischen Philososphie verstanden. Doch in ihren klassischen Werken findet sich zu unserem Punkt nicht nur eine misogyne Ontologisierung, sondern geradezu eine misogyne Remythisierung von Gut und Böse. So etwa in folgender, viel zitierter Auslegung zu den beiden Versionen der Genesis im ersten kanonischen Werk der Kabbala, dem Sefer HaBahir (Buch des Leuchtens, ca. 1185 n.): „‚Und Gott schuf sie (zugleich männlich und weiblich), denn es heißt: ‚Männlich und weiblich schuf er sie‘ (Gen 1,27). Kann man denn das sagen? Es heißt doch (an der gleichen Stelle): ‚Gott schuf den Menschen in seinem Bilde‘ und danach: ‚Ich will ihm eine Gehilfin machen‘ (Gen 2,18)‚ ‚Und er nahm eine von seinen Seiten, und schloss Fleisch daran?‘ (Gen 2,21). Verstehe dies vielmehr so: Es stehen hier (die beiden verschiedenen Verben) ‚bilden‘ (Jazar) und ‚schaffen‘ (Bara). Schaffen von der Zeit, als er die Seele machte – er schuf sie als 8 Vgl. Charles Mopsik, Lettre sur la Sainteté. Le secret de la relation entre l’homme et la femme dans la cabbale, Étude préliminaire, Lagrasse 1986, S. 169– 186. 9 Vgl. Saadia Gaon, Sefer Emunot WeDeot X, Jehuda ibn Tibbon, Leipzig 1864, S. 150; J. Guttmann, Die Religionsphilosophie des Saadia, Göttingen 1882, S. 270f.
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etwas aus Männlichem und Weiblichem gemachtes; ‚bilden‘ steht von der Zeit, als er die Seele mit dem Körper vereinigte und alles zusammenbrachte. Und woher, dass ‚bilden‘ (Jazar) ein Ausdruck für ‚zusammenbringen‘ ist? Aus dem Vers: ‚Und Gott der Herr hatte alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels zusammengebracht (WaJizer) und führte sie zum Menschen‘ (Gen 2,19). Und das bedeutet der Vers: ‚Männlich und weiblich schuf er sie und segnete sie‘ (Gen 5,2) – die Seele des Weibes aus dem Weiblichen und die Seele des Mannes aus dem Männlichen. Und darum ging die Schlange der Eva nach; sie sagte: Da ihre Seele von der Seite des Nordens stammt, werde ich sie bald verführen. Und worin bestand die Verführung? Sie wohnte ihr bei“ (Ed. G. Scholem § 140, Ed. Maraglioth § 199). Danach schildern die beiden Versionen der Genesis zwei aufeinander folgende Phasen des Schöpfungsprozesses: Der erste bezieht sich auf die „Erschaffung“ (Berija) der Seelen und der zweite auf ihre „Verbindung“ (WaJizer wird hier von den Wurzeln „Azar“, „ansammeln“ oder „Zarar“, „zusammenbinden“ abgeleitet10) mit den Leibern. Hieraus hätte auch der Schluss gezogen werden können, dass die menschliche Seele aus männlichen und weiblichen Anteilen besteht und dass die Geschlechtsdifferenz erst in den Leibern eingezeichnet wird; stattdessen wird der Schluss gezogen, dass die männlichen und die weiblichen Seelen völlig verschiedenen Ursprungs seien und da, wo die weibliche Seele herkomme, das Böse zu Hause sei (nach Jerm 1,14: „Vom Norden her öffnet sich das Böse über alle Bewohner der Erde“). Auf das sexuelle Verhältnis Evas zur Schlange kommen wir noch einmal im nächsten Abschnitt zurück. Im Allgemeinen neigte die jüdische Mystik aber eher der Position Raws zu, die übrigens auch an der angeführten Stelle im Sefer HaBahir anklingt. Die aus Genesis 1,27 hervorgehende Ebenbildlichkeit und Ebenbürtigkeit von Mann und Weib empfinden die Kabbalisten nicht wie die Philosophen als Gottes unwürdig, sondern als Bestätigung des kabbalistischen Gottesbildes. Der spanische Kabbalist Todros Abulafia (1222–1298) behauptet in seinem Kommentar zu unserer Talmudstelle (bBer 61a), dass Gen 1,27 die Grundlage der ganzen Kabbala sei: „Wisse, dass wir eine Überlieferung in unseren Händen halten, dass der erste Mensch zwei Gesichter (Parzufim) hatte, wie R. Jeremia lehrt (…) und beachte, dass die gesamte wahre Überlieferung (Kabbala) im Allgemeinen und im Besonderen, auf diesem Fundament aufbaut (…). Nach der Meinung der in der Wahrheit Eingeweihten (…) widersprechen sich die beiden in Frage stehenden Verse nicht, denn der Versteil: ‚Mann und Frau schuf er sie‘ (Gen 1,27) und der Versteil: ‚Im Bilde Gottes schuf er ihn‘ (ebd.) bilden eine Einheit. Wer das Geheimnis des Bil10 Vgl. zu dieser Etymologie Adolph Jellinek, Kleine Schriften zur Geschichte der Kabbala, 1. Heft, Leipzig 1852, S. 72–74.
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des kennt, von dem es heißt: ‚in unserem Abbild nach unserer Ähnlichkeit‘ (1,26), wird verstehen. Ich darf es nicht weiter erklären, denn es ist verboten, es auch nur andeutungsweise aufzuschreiben, es darf nur sittsamen Menschen von Mund zu Mund überliefert werden“ (Ozar HaKawod, ca. 1280, Warschau 1879, 9b11). Mit der geheimnisvollen Andeutung am Schluss spielt der Kabbalist auf das Mysterium des göttlichen Androgyns an. Die Kabbalisten beschreiben Gott als System von zehn Attributen (Sfirot), die den konträren und komplementären Seiten der Gottheit, der „milden“ oder „strengen“, der „rechten“ oder der „linken“ oder eben der „männlichen“ oder „weiblichen“ Seite angehören. So ist also auch das göttliche Urbild gleichsam androgyn, und die Ebenbildlichkeit des Urmenschen schließt daher nicht die Zweigeschlechtlichkeit aus. Nach dem heiligen Buch der Kabbala, dem Buch Sohar, ist die sexuelle Polarität das Grundgesetz des göttlichen Lebens: „Als der heilige Alte (Attika Kaddischa), der Verborgenste der Verborgenen sich eine Struktur geben wollte, strukturierte er das Ganze männlich und weiblich (Dechar WeNukba) (…). Durch sie existiert alles als männlich und weiblich und ohne sie würde nichts existieren“ (Sohar, Idra Suta, III, 290a12). Deshalb beschreiben die Kabbalisten inner- wie außergöttliche Vorgänge bevorzugt als sexuelle Beziehungen und sprechen von Verlobung, Hochzeit, Beischlaf, Zeugung, Scheidung und Versöhnung der göttlichen Attribute. Diese kabbalistische Theosophie wirkt sich natürlich auch auf die Exegese unserer Bibelstellen aus. Rabbi Schimon bar Jochai, der Held des Buches Sohar, betrachtet die Verse Gen 1,27 und 5,2 als Grundformel: „Höhere Geheimnisse sind in diesen Versen offenbart worden. (Es heißt) ‚Männlich und weiblich schuf er sie‘, um die himmlische Herrlichkeit zu erkennen zu geben, nämlich das Geheimnis des Zusammenhangs, denn in diesem Geheimnis wurde der Mensch erschaffen. (…) Darum ist ein Bild, in dem nicht Männlich und Weiblich vereinigt sind, nicht himmlischer Art. (…) Komm und sieh: Überall, wo sich nicht ein Männliches und Weibliches vereinigt finden, schlägt der Heilige, gesegnet sei er, nicht seinen Wohnsitz auf. Der Segen findet sich nur dort, wo Männlich und Weiblich vereinigt sind, wie es heißt: ‚Und er segnete sie und nannte ihren Namen, am Tage, da sie geschaffen wurden, Mensch‘ (Gen 5,2) und nicht: ‚Er segnete ihn und nannte seinen Namen Mensch.‘ Denn sogar ‚Mensch‘ wird nur männlich und weiblich zusammen genannt“ (Sohar I 55b zu 1 Mose 5,213). Das Ideal des Menschen ist also nicht wie bei den Zit. bei Ch. Mopsik, op. cit., S. 27, Anm 32. Zit. bei Ch. Mopsik, op. cit., S. 90 u. Georges Vajda, L’ Amour dans la théologie juive du moyen âge, Paris 1957, S. 216; F. Lachower, I. Tishby, The Wisdom of the Zohar, engl. v. D. Goldstein, Oxford u.a. 1989, Bd. I, S. 341. 13 Wir legen so weit wie möglich die deutsche Übersetzung von Ernst Müller o. J., o. O., S. 120 zugrunde. 11
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platonischen Philosophen der einsame Mann, der erfolgreich seine weibliche, sinnliche Seite unterdrückt, sondern nur Mann und Frau zusammen; der einsame Mann ist, wie schon der Talmud sagte, ein halber Mensch – und kein Gottesbild. Vorzüglich im Geschlechtsakt wird die zerrissene Ebenbildlichkeit wiederhergestellt: „Und wann wird der Mensch eins genannt? In der Stunde, wenn Mann und Weib sich finden in höherer Heiligkeit und ihr Sinn auf Heiligung gerichtet ist (Kawwana). Und merke, dass in der Stunde, wenn der Mann sich mit dem Weib in der Liebesvereinigung (Siwug) befindet, in rechter Weise auf Heiligung gerichtet, dann wird der Mensch vollkommen und kann eins genannt werden, ohne Makel. Darum wolle der Mensch sich in dieser Stunde mit seinem Weib erfreuen, in Freundschaft mit ihr, beide wie eines auf jenes Ziel gerichtet. Wenn beide so vereinigt sind, ist es eine volle Einheit der Seele und des Leibes. Der Seele – einer mit dem anderen in Freundschaft verbunden. Des Leibes – wie uns gelehrt wurde, dass ein Mensch, der nicht heiratet, wie ein abgespaltenes Wesen ist. Nur wenn sich Mann und Weib vereinigen und sie eine Seele und ein Leib werden, wird der Mensch eins genannt“ (Sohar II, 81 a–b zu 3 Mose 19,2; ebd., S. 124 f.; ferner I 49b–50a u. III, 296a, a. a. O., S. 121). Anders als die Philosophen, die den Geschlechtsverkehr beinahe als Sünde betrachten und auf den Zweck der Fortpflanzung und Körperhygiene beschränken wollten, sehen die Kabbalisten im Geschlechts- und nicht im Vernunftakt den höchsten menschlichen Akt, in dem der Mensch wahrhaft Mensch und Gott ähnlich wird. Alles deutet also darauf hin, dass die Kabbalisten die Geschichte mit der Rippe in Genesis 2,21 ff. im Sinne von Gen 1,27 lesen. Das Buch Sohar harmonisiert die beiden Schöpfungsberichte folgendermaßen: Er ist zunächst darüber verwundert, wie es in Genesis 2,18 heißen kann: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“, wo es doch bereits in Genesis 1,27 geheißen hatte: „Mann und Weib erschuf er sie.“ Dazu gibt er im Sinne des Mythos vom Androgyn folgende Erklärung: „(Adam) bemühte sich nicht um seinen weiblichen Teil und hatte keine Stütze an ihm, da dieser nur seine Seite bildete und sie rückwärts wie eines waren – so war denn doch der Mensch allein. ‚Ich will ihm einen Gehilfen schaffen ihm gegenüber‘ (so wörtlich Gen 2,18, D. K.). Das heißt: seinem Antlitz gegenüber, dass eines am anderen hafte, Angesicht zu Angesicht. Was tat der Heilige, gepriesen sei er? Er sägte ihn entzwei und nahm das Weibliche von ihm. Wie es heißt: ‚Und nahm eine seiner Seiten.‘ Was bedeutet ‚eine‘: Seine weibliche Seite, wie es heißt: ‚Eine einzige ist meine Taube, meine Reine‘ (Tamati, was man auch Zwillingsschwester, Teomati vokalisieren kann, HL 9, 6), ‚Und er brachte sie zu Adam‘ (Gen 1,22). Er bereitete sie wie eine Braut und ließ sie vor sein Angesicht kommen, beide leuchten von Angesicht zu Angesicht“ (III, 44b, ebd. S. 126). Gen 1,27 berichtet demnach von einem Androgyn, der wie siamesische Zwillinge verschiedenen
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Geschlechts Rücken an Rücken zusammengewachsen war, und Gen 2,22 von dem chirurgischen Eingriff Gottes, der die Zwillinge trennt und als Partner zusammenführt. Ähnlich wie das Urpaar waren, nach den Kabbalisten, alle glücklichen Ehepaare ursprünglich Zwillingsseelen, und jeder Mensch hat ein für ihn vorherbestimmtes „Gattenwesen“ (Ben- oder Bat-Sug, Sohar II, 102b–103a, ebd. S. 161). In der Seelenwanderungslehre des Isaac Luria (1534–1572) wird u. a. folgender Grund für die Reinkarnation angeführt: „Manchmal kehrt die Seele zurück, um sein Gattenwesen (Bat Sugo) zu empfangen; denn er war in seinem früheren Dasein nicht würdig, sie zu empfangen“ (Scha’ar HaGilgulim, Hadama 8; Kirjat Arba 1981, S. 32). Diese egalitäre Harmonisierung der biblischen Stellen darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Sohar gerade mit ihr die Dämonisierung des Weiblichen anlegt, die in den späteren kabbalistischen und chassidischen Schriften immer wieder durchbricht. Denn die Frau, als die „andere Seite“ des Mannes, korrespondiert eben mit dem Bösen, das nach den Kabbalisten die „andere Seite“ (Sitra Achra) Gottes ist. Das Urweib hatte diese Schuld, mit der sie philosophische und mystische „Männer“ beluden, freilich weiter auf die Schlange geschoben: „Die Schlange, sagt sie, hat mich verführt, und ich aß“ (3,14). Und ihrer zwielichtigen ophitischen und naassenischen Lobby gelang es bis heute nicht, das arme Tier von diesem Odium zu befreien.
3. Die Schlange Welche Rolle spielte eigentlich die Schlange im Sündenfall? Es ist zunächst einmal bemerkenswert, welche Rolle sie nicht spielte. Sie war kein Teufel, sondern ausdrücklich ein Geschöpf (Gen 3,1), das dem Menschen untergeordnet worden war (Gen 1,28; 2,19; 4,7). Sie wirkte, ferner, nicht durch ihren Biss und ihr Gift, sondern durch ihre Sprache. Der Mensch wird von der Schlange also nicht besessen und wider Willen beeinflusst, sondern in einer ihm gemäßen Weise angesprochen. Beides, das Göttliche wie das Widergöttliche, erscheinen dem biblischen Menschen nicht als fremde Mächte, sondern in menschlicher Weise. Ja, die Schlange spricht nur die intimsten Wünsche des Menschen aus und konnte so zum Sinnbild seines bösen Triebes (Jezer HaRa) werden. Die Sünde überfällt und überwältigt den Menschen also nicht wie ein wehrloses Opfer, sondern überzeugt ihn mit vernünftigen Argumenten und findet seine bereitwillige Zustimmung. Er war keineswegs gezwungen, ihren Lockungen nachzugeben, sondern hätte ihr ebenso gut widerstehen können. Wie der Talmud sagt: Nicht die Schlange, sondern die Sünde tötete (bBer 33a). Das bestätigt sich, wenn wir die Geschichte des nächsten großen Sünders der biblischen
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Urgeschichte, Kain, heranziehen. Gott sagt ihm, sowie allen späteren Erbsündelehrern: „Vor der Tür lagert die Sünde (LaPetach Chatat Rowez), nach dir ist ihr Verlangen, aber du kannst über sie herrschen“ (Gen 4,7). Obwohl die Sünde sozusagen „fast bei uns drin ist“, bleiben wir ihr gegenüber doch frei und könnten uns beherrschen: posse non peccare! Wenn die Schlange auch keine Gewalt gegen die Menschen anwendet, so ist sie doch eine außerordentlich gewandte, beinahe unwiderstehliche Rednerin. John Milton stellt sie in seinem Verlorenen Paradies nicht umsonst in der Pose des antiken Rhetors dar. Wie sie sich schon bei der Ahnfrau einführt! Ihre captatio benevolentiae bleibt ein echtes Meisterstück doppeldeutiger Rede, voller, mit Heinrich Heine zu sprechen, „Fußangeln und Selbstschüsse“ (Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland Vorr., 2. Aufl.). Gott hatte zu Adam gesagt: „Von jedem Baum (MiKol Ez) des Gartens darfst du essen. Aber (We) vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, von diesem sollst du nicht essen (Lo Tochal)“ (Gen 2,16–17). In Anbetracht des Überangebots an wohlschmeckenden Früchten (Gen 2,9) hatte Adam diesen Baum sicher gleich wieder vergessen. Die Schlange brachte ihn nicht direkt in Erinnerung, sondern ließ die Frau von selbst wieder darauf kommen. Schon die mehrteilige Konjunktion „Af Ki“, mit der ihre Rede anhebt, hat nicht nur Eva, sondern alle Übersetzer bis heute in Verlegenheit gebracht. Leitet sie bloß interrogativ eine rhetorische Frage ein: „Wie, Gott hat gesagt, ihr sollt nicht von allen Bäumen des Gartens essen?“ (Tur-Sinai, B. Jacob, Genesis, 1934, S. 103, u. ähnlich M. Luther), oder konzessiv bereits einen Gegensatz: „Wenn gleich Gott es gesagt, solltet ihr von all den Bäumen des Gartens nicht essen?“ (S. R. Hirsch, J. Wohlgemuth u. J. Bleichrode, M. Buber u. F. Rosenzweig)? Darüber hinaus verwandelte die Schlange durch die Verknüpfung der beiden Aussagen Gottes, Gen 2,16 und 2,17: „Von jedem Baum (MiKol Ez) des Gartens darfst du essen“ und „von diesem sollst du nicht essen (Lo Tochal)“ zu: „ihr sollt nicht von jedem Baum (MiKol Ez) des Gartens essen (Lo Tochlu)?“ die großzügige göttliche Erlaubnis in ein missgünstiges Verbot. Schließlich ließ die logisch schwierige Verknüpfung der Allaussage „MiKol …“ und der Negation „Lo“ in der Frage: „Ihr sollt nicht von jedem Baum des Gartens essen?“ unentschieden, ob sie meint, die Menschen dürften nicht von allen Bäumen essen oder von allen Bäumen nicht essen. Die Fangfrage erzwang die Richtigstellung der Frau, dass sie von allen Bäumen des Gartens wohl essen dürften, außer von jenem einen Baum – womit die Schlange am Ziel wäre und das Gespräch ganz von selbst auf den verbotenen Baum gelenkt hätte. Die Antwort der Frau zeigt, wie stark die Anziehung des Verbotenen zu wirken beginnt. Zunächst meint die Frau entgegen dem göttlichen Verbot (Gen 2,17) übertrieben, sie dürften jenen Baum unter Todesstrafe nicht einmal berühren
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(Gen 3,3). Die Schlange, die sich vielleicht gerade munter auf einem seiner Äste ringelte, hatte nun leichtes Spiel, und die Ahnfrau wurde zum Paradebeispiel für die Sünde aus übertriebener Sündenscheu (so Raschi z. St.). Die Schlange, die vielleicht selber gerade von der verbotenen Frucht gegessen hatte und sich nun mit Gut und Böse auskannte, klärte die Menschheit über die wahren Absichten Gottes auf und entlarvte hinter all dem Guten, womit sich der Schöpfer gerühmt hatte, die böse Absicht: All der Überfluss, wollte sie insinuieren, sollte nämlich nur den wesentlichen Mangel verschleiern. Gott hat dem Menschen aus niederen Beweggründen das wichtigste aller Güter vorenthalten und wollte ihn mit Scheingütern in kindlicher Unmündigkeit halten. Die Menschen sollten nur einmal von der verbotenen Frucht kosten, dann würden ihnen schon, wie ihr, dem lidlosen Wesen, „die Augen aufgehen“ und sie würden gleich göttlichen Wesen (KeElohim) dieses wahre Gut erkennen (Gen 3,5). Die hegelianische „Privatdozentin“, wie H. Heine den „Blaustrumpf´“ spöttisch nennt (ebd.), demonstriert hier, dass aus dem „Zustande der ursprünglichen Natürlichkeit muss herausgegangen werden“14, und zwar vermittels Nietzsches „aktiver Sünde“. Die Schlange ist jene große Umwerterin aller Werte, die das Gute in der Schöpfung ins Böse und das Böse ins Gute verkehrte. Mit ihrer bösen Zunge erzeugte sie den scheelen Blick und erregte den nie befriedigten Neid. Das soll aber, wie schon gesagt, nicht heißen, dass die Schlange alle Schuld am Fall des Menschen hätte. Denn nichts Schlangenhaftes ist dem Menschen fremd, und der „Geist, der stets verneint“, ist authentisch menschlicher Geist. In der Bibel selber (Ps 140,4) wie in der jüdischen und christlichen Tradition ist die Schlange – diese lose Zunge – Sinnnbild der Laster der Verleumdung und des Neides. Die überaus anschauliche göttliche Strafe für verleumderische Reden besteht nach den Rabbinen darin, „dass sich die Zunge bis über den Nabel dehnt und Würmer aus der Zunge in den Nabel und aus dem Nabel in die Zunge kriechen“ (bSot 35a u. Raschi zu Num 14,37). Die christliche Kunst hat die Todsünde des Neides als Ekel erregende Figur mit Mauseohren und einer aus dem Mund züngelnden Schlange gemalt (vgl. z. B. Giottos Invidia in der Kapelle Scrovegni, Padua). Nach der rabbinischen Anthropologie sind diese Laster allerdings angeborene Neigungen des Menschen. Im zweiten Schöpfungsbericht 14 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Werke, Ed. E. Moldenhauer, K. M. Michel, Bd. 17, S. 76. Vgl. dazu Wolfgang Trillhaas, Felix Culpa. Zur Deutung der Geschichte vom Sündenfall bei Hegel, in: H. W. Wolff (Hrsg.), Probleme biblischer Theologie. Gerhard von Rad zum 70. Geburtstag, München 1971, S. 589–602. Joachim Kopper, Hegels Auslegung des Sündenfalls, in: Annales Universitatis Saraviensis 1 (1965), S. 241–250.
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heißt es: „Gott, der Ewige, bildete den Menschen (Adam) aus Staub von der Erde (Adama) und blies in seine Nase den Hauch des Lebens; so ward der Mensch zu einem lebenden Wesen (Nefesch Chaja)“ (Gen 2,7). Nach der Beatmung durch ihren Bildner atmet und lebt die leblose Lehmfigur auf und wird zum Menschen, und wenn er zum letzten Mal ausatmet, dann wird er wieder zu Staub (Gen 3,19). Man kann den hebräischen Ausdruck: „lebendes Wesen (Nefesch Chaja)“ auch mit: „lebendiger Atem“ oder, wenn wir den Atem als das setzen, was den leblosen Körper zu einem Lebewesen macht, wie Luther mit: „lebendiger Seele“ wiedergeben. Das Atmen unterscheidet den Menschen aber noch nicht von jedem anderen Lebewesen (Nefesch Chaja, Gen 1,20.24). Im Menschen wird der Atem jedoch im Unterschied zu allem, was sonst noch auf der Erde atmet, zur artikulierten Rede, zu Geist. Darum gibt die aramäische Standardübersetzung der Bibel (Targum Onkelos) den Ausdruck: „lebendes Wesen“ in unserem Vers mit „sprechender Geist“ (Ruach Memalela) wieder, und die mittelalterliche jüdische Standardglosse von Raschi erläutert zur Stelle: „auch die zahmen und die wilden Tiere werden ‚lebendige Seele‘ genannt, doch die Seele des Menschen ist lebendiger als die aller anderen, denn sie hat zusätzlich Erkenntnis und Sprache“. Mit seiner Fähigkeit gleicht das sprechende Tier („Chaja“) auf der einen Seite Gott, der durch seine Worte eine Welt erschuf, die gut war, und auf der anderen Seite der Schlange, die durch ihre Worte die Welt wieder schlecht machte. Der Weise Jesus Sirach sieht darum in der Zunge die Quelle allen menschlichen Unglücks: „Ehre und Schande liegen in der Sprache, und des Menschen Zunge bewirkt seinen Untergang“ (5,13). Die Rabbinen sagen, der Schöpfer habe dieses zweideutige, gefährliche Organ vielfach gesichert: „Alle Glieder des Menschen stehen, lässt der Talmud Gott zur gefährlichen Zunge sprechen, du aber liegst, alle Glieder des Menschen befinden sich außen, du aber innen; und noch mehr, ich habe dich mit zwei Mauern umgeben, einer aus Knochen (d. i. der Kiefer) und einer aus Fleisch (d. i. der Mund)“ (bAr 15b) – ohne Erfolg! Der Psalmist (120,4) und der Prophet (Jer 9,7) vergleichen die böse Zunge mit einem geschärften Pfeil. Die spitze Zunge, die scharfzüngigen Worte verletzen, mit Shakespeare zu sprechen, „wie Dolche“ (Hamlet III,4). Doch der Vergleich mit dem Pfeil ist noch besser, weil er seine unumkehrbare Fernwirkung ausdrückt: „Der Schlag durchs Schwert kann nur töten, sagen die Rabbinen, wenn der Gegner nahe ist, der Schlag durch den Pfeil aber trifft ihn und schlägt ihn an jedem Ort“ (MidrTeh zu Ps 12, 3). „Wenn der Mensch das Schwert, das in seiner Hand ist, zieht“, sagen sie ferner, „um seinen Genossen zu töten und dieser ihn um Gnade bittet und um Erbarmen anfleht, so reut es den Mörder und er steckt es wieder in die Scheide, aber der Pfeil, sobald er abgeschossen ist, geht fort und kehrt, selbst wenn er es wünscht, nicht wieder zurück“ (MidrTeh 120,4). Ein in die Welt
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gesetztes Gerücht entfaltet unaufhaltsam seine zerstörerische Wirkung. Einst fragte ein Mann einen Rabbi, wie er eine üble Nachrede wieder gutmachen könne. Der Rabbi ließ ihn ein Kissen holen und die Federn im Wind verstreuen; dann hieß er ihn, sie wieder einzusammeln. Der Mann erwiderte, das sei unmöglich. Da sagte der Rabbi, ebenso unmöglich sei es, ausgesprochene und verbreitete Worte wieder zurückzurufen – für Verleumdung gebe es daher keine Entschuldigung (bBaKa 36b). Ebenso ist die Verleumdung der Schöpfung unwiderruflich und in diesem Sinne radikal. Ist nämlich erst einmal der Verdacht in die Welt gesetzt, dass die Idylle nichts als Blendwerk ist und als Tarnung für repressive Machtinteressen dient, dann ist das Paradies für immer verloren. Die rabbinische Auslegungstradition hat daher nicht die Schlange, sondern die menschlichen Laster, für die sie sinnbildlich steht, für den Verlust des Paradieses verantwortlich gemacht, und es stimmt keineswegs, wie Hegel meinte, „dass diese Geschichte im jüdischen Volke geschlafen“ habe (ebd., S. 78).15 Auch wenn gelegentlich rebellische Engel und böse Dämonen bemüht werden, geht es doch auch hier menschlich, allzu menschlich zu. Einer der einflussreichsten „historischen“ Midraschim, die den biblischen Stoff frei nacherzählen, die pseudoepigraphen Lehren des Rabbi Elieser (Pirke DeRabbi Elieser) aus dem 9. Jh., stellen der Sündenfallerzählung im 13. Kapitel den rabbinischen Spruch: „Die E i f e r s u c h t (Kina), die B e g i e rd e (Ta’awa) und der E h r g e i z (Kawod) bringen den Menschen aus der Welt“ (mAw 4,28) als Motto voran. Es fing damit an, dass die Engel erstens eifersüchtig auf den noch gar nicht erschaffenen Menschen waren. Der Mensch wäre doch nichts, sagten sie mit dem Psalmisten zum Schöpfer, als ein vergänglicher Hauch (Häwäl) (Ps 144,4). Doch Gott erwiderte, dass der Mensch mit dem Hauch seines Mundes auf Erden, wie die Engel im Himmel, die Einheit Gottes verkünden und die Tiere benennen und beherrschen werde (Gen 2,20). Nachdem Gott den Menschen also gegen den Protest der Engel erschaffen hatte, verschworen sie sich gegen ihren irdischen Rivalen – und brachten ihn mit seinen gezähmten Tieren und seiner schwachen Frau zu Fall. Der mächtigste Engel, der Zwölfflügler Samael16, flog mit seiner Bande zur Erde herab, sah sich alle Tiere an und fand keines, das sich so gut für das Böse eignete (ChaDas trifft allenfalls für die biblische Literatur zu, die Hegel freilich ausschließlich im Blick hat, vgl. Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, S. 118. 16 Über diesen Teufel und seinen allmählichen Aufstieg zum Oberteufel in der jüdischen Dämonologie vgl. Joseph Dan, Samael and the Problem of Jewish Gnosticism, in Alfred L. Ivry, Elliot R. Wolfson, Allan Arkush (Hrsg.), Perspectives on Jewish Thought and Mysticism, Amsterdam 1998, S. 257–276. 15
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cham LeHara) wie die Schlange. Damals, bevor Gott sie zum Kriechen verdammt hatte (3,14; PRE 14), glich sie noch einem Kamel. Der böse Engel bestieg sie, bemächtigte sich ihrer und hetzte sie wider Willen auf das Urpaar. Der Midrasch betont, dass die Schlange selber unschuldig und vom bösen Dämon besessen war. Das Gespann wandte sich daraufhin an das schwache Geschlecht und weckte zweitens ihre Begierde. „Stimmt es, dass euch die Frucht des Baumes der Erkenntnis verboten ist?“ Eva erwidert entgegen dem göttlichen Speiseverbot (2,17) übereifrig, dass es ihnen nicht nur verboten sei, von der Frucht zu essen, sondern sogar sie zu berühren, weil sie sonst des Todes wären (3,3). Diese fromme Übertreibung wurde der Urfrau zum Verhängnis, weil sie der Schlange eine Bresche zum Angriff bot (LeHichanes Bo). Die Schlange entlarvte daraufhin die göttliche Missgunst (Ajin HaRa) als das wahre Motiv des göttlichen Verbots und reizte drittens den Ehrgeiz der Frau: Gott habe dem Menschen diese Frucht nur deshalb vorenthalten, weil sie ihm sonst gleichen würden (3,5 u. 22) und, wie er, Welten erschaffen und vernichten, töten und wieder beleben könnten. Zum augenfälligen Beweis der Unschädlichkeit des Baumes berührt ihn die Schlange und zeigt der Urfrau, dass ihr gar nichts passiert sei. Die Urfrau greift nun ebenfalls nach dem Baum. Dabei überkommt sie Todesangst. Sie denkt sich: „jetzt werde ich sterben und Gott wird Adam an meiner Stelle eine andere Frau machen, ich muss auch Adam von der Frucht geben, damit wir, wenn es denn sein muss, beide zusammen sterben (…)“. Nach diesem Midrasch, der, ohne die Erzählebene zu verlassen, die allzu menschlichen Motive des Paradiesdramas aufzudecken versucht17, herrschte im Paradies nichts weniger als Friede und Freude, sondern von Anfang an Konkurrenz zwischen Engeln und Menschen, zwischen Mensch und Tier, zwischen Mensch und Gott, zwischen Mann und Frau. Die Sünde des Menschen ist nach diesem Midrasch nicht Folge einer zufälligen Fehlleistung, sondern notwendiger Ausdruck der Verhältnisse in der Schöpfung, der Ungleichheit der Geschöpfe. Die Paradiesgeschichte ist sozusagen schon eine Geschichte von Klassenkämpfen. Noch dramatischer schildert Raschi diesen Fall in seinem Kommentar. Er versucht mit Hilfe des eben angeführten Midraschs die angedeuteten oder verschwiegenen Motive der Akteure der Erzählung zu ermitteln. Dabei deckt er eine regelrechte Dreiecksgeschichte zwischen Adam, Eva und der Schlange auf. Raschi fragt zunächst, warum die Erzählung vom Sündenfall im 3. Kapitel der Genesis an den Vers: „Und sie waren beide nackt, der Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht“ (2,25) anknüpft, und bringt die Erklärung: Der Text will „dich lehren, mit welchem Plan die 17 Der Midrasch enthält aber auch eine Allegorie zur Sündenfallerzählung, auf die wir hier aber nicht näher eingehen können.
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Schlange sie überfiel. Sie sah sie nackt und vor dem Auge aller dem Geschlechtsverkehr hingegeben, da erwachte ihre Begierde auf Eva“ (vgl. GenR 18,6). Die Schlange, gleichsam ein verselbständigtes männliches Glied,18 hatte es auf Eva abgesehen und beabsichtigt, Adam zu beseitigen (vgl. auch Raschi zu 3,15). So wie die Schlange aus Neid handelt, so unterstellt sie auch Gott, aus Neid zu handeln. In der biblischen Begründung der Schlange für das Verbot des Genusses vom Baum der Erkenntnis: „Denn Gott weiß, dass ihr am Tage, da ihr davon esset (…) Gott gleich werdet (Wihjitem KElohim)“ (3,5) identifiziert Raschi erstens das von der Schlange Gott unterstellte Motiv des Kollegenneides: „Jeder Handwerker, kommentiert er, hasst seine Zunftgenossen, (denn) vom Baum der Erkenntnis hat (Gott) gegessen und die Welt erschaffen“ und zweitens den von der Schlange im Menschen erregten Karrieristenwunsch, selber „Schöpfer von Welten“ (Jozre Olamot) zu werden. So wie die Schlange, könnte man sagen, die die Artgrenze vom Tier zum Menschen durchbrechen will, so treibt sie auch den Menschen, die Gattungsgrenze von Mensch zu Gott zu überspringen – um ihn dadurch zu Fall zu bringen. Der nächste Vers: „Als nun das Weib sah, dass der Baum gut sei zum Essen (…)“ (3,6) zeigt nach Raschi, wie erfolgreich die Schlange mit ihrer niederträchtigen Rede gewesen ist. Das Sehen des Weibes, das die Bibel beschreibt, ist nun kein unschuldiges Hinschauen mehr, sondern ein begehrlicher Blick, der nach Raschi verrät, dass sie sich die Sichtweise der Schlange angeeignet hat und „die Worte der Schlange billigte, (dass) sie ihr gefielen, und (dass) sie ihr glaubte“. Wenn Eva nach der biblischen Aussage daraufhin feststellt, „dass der Baum gut sei“, dann meint sie, nach Raschi, nicht mehr nur, dass er ihr schmackhaft vorkam, sondern dass er in ihren Augen auch gut für den in Aussicht gestellten Zweck war, nämlich „wie Gott zu werden“. Das Gift der Schlange hat gewirkt, die Güte Gottes wird zum Schlechten ausgelegt, „gleich“, um mit Teresa von Ávila zu sprechen, „wie in den giftigen Tieren sich alles, was sie essen, in Gift verkehrt“ (Traktat von der Liebe Gottes 1). Raschi kommt es offenbar nicht auf die Sünde selber an, auf die Übertretung irgendeines unverständlichen Speiseverbots, sondern auf die Sünde vor der Sünde, auf die böse Gesinnung. Der Plan der Schlange, Eva zu vergewaltigen, scheitert zwar, denn Eva und nicht Adam isst zuerst von der Frucht und gibt dann erst ihrem Mann davon, damit sie, wie Raschi mit Pseudo-Rabbi-Elieser hinzufügt, „nicht sterbe und er am Leben bleibe und eine andere Frau nehme“, aber der scheele Blick und die böse Zunge der Schlange vergiften von nun an unwiderruflich das paradiesische Verhältnis von Gott und Mensch, von 18 Nach einer verbreiteten Aggada, z. B. Jebamot 103b, hatte die Schlange Geschlechtsverkehr mit Eva, vgl. Sefer HaBahir, Ed. Scholem § 140.
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Mensch und Tier (Gen 3,15 u. Raschi ad loc.), von Mann und Weib, von Mutter und Kind (Gen 3,16), von Bauer und Acker ( Gen 3,17–19) usw. Im rabbinischen Midrasch bleibt die Schlange trotz des offenkundigen Interesses an der Moral der Fabel eine Person der Handlung, in der religionsphilosophischen Allegorese wird sie zu einer Abstraktion. Philo von Alexandrien gibt die Sündenfallgeschichte folgendermaßen wieder: Die Schlange habe sich einst Eva genähert und „habe sie wegen ihres Zauderns und ihrer allzu großen Scheu geschmäht, weil sie Bedenken trage und zögere, eine Frucht zu pflücken, die überaus schön anzuschauen ist und angenehm zu essen war, dazu aber auch von größtem Nutzen, weil sie dadurch Gutes und Böses würde erkennen können“. Philo versichert, dass diese biblische Erzählung „nicht mythische Erfindungen (sei), wie die, an denen sich das Dichter- und Sophistenvolk erfreut, sondern Beispiele von zeichenhaften Bildworten, die zur übertragenen Deutung und Aufdeckung des verborgenen Sinnes auffordern“ – was er mit einer witzigen Allegorie der Schlange sogleich unter Beweis stellt. „Die erwähnte Schlange, sagt er, ist Sinnbild der Lust, weil sie erstens ein Wesen ohne Füße ist und vornüber auf dem Bauch liegt, zweitens weil sie Erdklumpen als Nahrung benutzt, drittens, weil sie das Gift in ihren Zähnen herumträgt, mit dem sie die Gebissenen zu töten vermag. Nichts von dem Angeführten fehlt dem Lustdiener. Nur mit Mühe hebt er den Kopf, von schwerer Last hinunter gezogen, und wird von der Unmäßigkeit vornüber gestürzt und zu Fall gebracht; er nährt sich nicht von himmlischer Speise, welche die Weisheit den die Schau Liebenden durch Wort und Lehren darreicht, sondern von der, welche in den Jahreszeiten von der Erde hervorgebracht wird, welche Trunkenheit, Gefräßigkeit und Schlemmsucht hervorruft, die die Begierden des Bauches fortreißen und erregen zu gieriger Völlerei und auch die Wildheit der Unterleibsbegierden steigern und aufwühlen. Von Gier gequält beschnüffelt er das Erzeugnis der Kochkünstler und reckt den Kopf ringsumher aus, um den Duft der Leckerbissen einzuatmen; und sobald er eine reich besetzte Tafel erblickt, wirft er sich ganz auf das Aufgetragene und stürzt darauf los voll Eifer, sich alles auf einmal einzufüllen, nicht zur Sättigung, sondern um ja nichts von dem Aufgetragenen übrig zu lassen. Daher trägt er nicht weniger als die Schlange das Gift in den Zähnen. Diese nämlich sind die Diener und Handlanger der Unmäßigkeit, denn alles, was zur Nahrung dient, zerkleinern und zermalmen sie und übergeben es erst der Zunge, die über den Geschmack entscheidet, zur Beurteilung, sodann dem Schlund. Ein Übermaß von Speisen ist aber natürlich tödlich und giftig, da sie eine Verdauung nicht zulassen, dadurch, dass die Zufuhr des Hinzukommenden geschieht, bevor das Frühere fertig verdaut ist. Es heißt aber, die Schlange habe menschliche Laute hervorgebracht, weil die Lust unzählige Vorkämpfer und Verteidiger hat, welche die Besorgung und Vertretung ihrer Sache übernommen haben,
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die sich erdreisten, zu lehren, sie habe die Herrschaft über alle, Große und Kleine, ohne dass irgendjemand ausgenommen wäre“ (De opificio mundi 156a, 157–60).19 Für Philo war die Ursünde ganz wörtlich die Gefräßigkeit. Seine beredte Schlange verkörpert bei ihm die Laster der luxuria und gula und sie, nicht das Schwein, ist die Personifikation des Epikur, der sich über die fromme Frau mokiert und sie drängt, das paradiesische Büfett ganz abzuräumen – auch wenn sie die Fresssucht umbringt. Neben diesem lehrhaften Moralsinn finden wir bei Philo auch noch eine allgemeinere psychologische Allegorie der Schlange als Lustprinzip (Philo, legum allegoriae II, 71–85). Bei den mittelalterlichen jüdischen Religionsphilosophen sind solche entmythologisierenden Allegorien der Paradiesschlange gang und gäbe. Der wichtigste mittelalterliche jüdische Literalist, R. Abraham ibn Esra, betont zwar, dass er die Paradieserzählung, mitsamt der sprechenden Schlange, buchstäblich verstanden wissen will (Kom. zu Gen 3,120), er unterlegt ihr aber dennoch einen tieferen Sinn (Sod) (Kom. zu Gen 3,24). Seine kryptischen Andeutungen in seinem gängigen kurzen Genesis-Kommentar verraten allerdings nur, dass er die Paradieserzählung als Entstehung des Menschen als solchen auffasst: „Der Verständige, sagt er ganz typisch, wird verstehen (HaMaskil Jawin), dass dies alle Menschen (betrifft).“21 In seinem langen Genesis-Kommentar führt er eine Allegorese der Erzählung vom neuplatonischen Philosophen und Synagogendichter Salomon ibn Gabirol (1020–1057/58) an, die seiner eigenen Auffassung entspricht: „Ich werde dir jetzt das Geheimnis (Sod) des Gartens, der Flüsse und der Gewänder offenbaren, und ich habe dieses Geheimnis bei keinem der Großen gefunden, außer bei R. Salomon ben Gabirol, denn er war sehr bewandert in der Erkenntnis der Seele (Chacham Gadol BeSod HaNefesch): „Eden ist die höhere Welt (mundus intelligibilis), und der Garten ist die Fülle (der Geister), die wie Pflanzen sind, und der Fluss ist wie eine Mutter, das ist die Materie für alle Körper (materia prima); die vier Arme des Flusses sind die Wurzeln (vier Elemente); und Adam ist die Weisheit (Nefesch HaMedaberet, anima rationalis), der (den Tieren) Namen gibt; Eva ist, wie schon ihr Name sagt (Chawa, Chaja), der Lebensgeist, das ist das Prinzip der Bewegung (Nefesch HaBahamit oder Chijunit, anima aniWir zitieren die Stelle aus De opificio mundi 156a.157–160 nach der Übersetzung von Harald Hegermann, Das hellenistische Judentum in: Johannes Leipoldt, Walter Grundmann, Umwelt des Urchristentums, Bd. II, Text Nr. 295, Berlin 1967, S. 283ff. 20 Komm. zu Gen 3,1, S. 99 u. zu Gen 3,24, ebd. S. 120. 21 Wir fassen diesen Text wie Rottzoll auf, und nicht wie H. N. Strickmann u. a. M. Silver 1988, S. 78. 19
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malis oder vitalis); und die Schlange ist die Begierde (Nefesch HaZomachat, anima vegetalis), wie schon ihr (hebräischer) Name ‚Nachasch‘ beweist, der von der gleichen Form ist wie im Vers: ‚Nachesch Jenachesch‘ („wahrsagen“, Gen 44,5 und 15); und der Baum der Erkenntnis ist die Fortpflanzung (Mischgal), die ihre Kraft aus dem Garten zieht – die Pflanzen sind aber im Staub; und die Weibsgeborenen sollen den sich erhebenden Kopf (der Schlange) zertreten, und das Ende des Lebendigen ist der Beginn des Pflanzlichen; die Lederkleider sind der Körper; er wurde aus dem Paradiesgarten vertrieben, um die Erde zu bearbeiten, aus der er stammt, denn das ist der ganze Mensch; der Baum des Lebens ist die Erkenntnis der höheren Welt, wie geschrieben steht (Spr 3,18): ‚Sie ist der Lebensbaum für alle, die sich an ihr halten‘ und die Cheruben sind die Engel und die flammende Klinge des Schwertes symbolisiert (Nimschal) die Sonne.“22 Nach dieser Aufschlüsselung ist die Paradieserzählung eine narrative Anthropologie. Der „ganze Mensch“ erweist sich als ein Mischwesen aus spirituellen und materiellen Anteilen. Seine Seele besteht genau genommen aus drei Teilen: einem rationalen Vermögen (= Adam), einem animalischen (= Eva) und einem vegetativen (= Schlange).23 Die anthropologische Botschaft der Bibel wäre demnach, dass der unbewusste vegetative Seelenteil (= Schlange) wegen des Geschlechtstriebes (= Baum der Erkenntnis) Macht über den animalischen Seelenteil (= Eva) bekommt, somit gegen die Ordnung der Natur eine Vermischung des rationalen Seelenteils (= Adam) mit dem Körper (= Staub, Lederkleider) verschuldet und den Menschen fortan zur Befriedigung der materiellen Bedürfnisse verdammt hat. Die Rückkehr von der vita activa zur ursprünglich reinen vita contemplativa ist dem Hyliker verwehrt, weil ihn das reine Licht des Geistes blendet. Eine ähnliche allegorische Erklärung bietet auch der größte mittelalterliche jüdische Religionsphilosoph, Moses Maimonides, der sich dabei ausgerechnet auf den oben angeführten dämonologischen Midrasch, Pirke de Rabbi Elieser stützt, den Raschi für seine so ganz anders geartete „tautegorische“ Erklärung herangezogen hatte. Obschon Maimonides einige Zweifel über dieses Midraschwerk hatte (Führer der Verirrten II,26), hielt er R. Elieser ben Hyrkanos, 1./2. Jh. für den Verfasser, und sein Glauben 22 Hebr. Text bei Adolph Jellinek, Kleine Schriften zur Geschichte der Kabbala, Leipzig 1852, Neudruck Hildesheim 1988, S. 29–31 mit den Korrekturen von Salomon Munk, Mélanges de philosophie juive et arabe, Paris 1859, S. 166 Anm. franz. J. Schlanger, La Philosophie de Salomon Ibn Gabirol, Leiden 1968, S. 13–15 u. engl. Übersetzung bei Raphael Loewe, The influence of Solomon ibn Gabirol on Abraham ibn Ezra, in: Fernando Díaz Esteban (Hrsg.), Abraham ibn Esra y su tiempo, Madrid 1990, S. 202–3. Anscheinend hat Rottzoll diesen Text nicht berücksichtigt. 23 Vgl. Salomon Ibn Gabirol, Fons Vitae III, 48.
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an die Weisheit der Weisen verbot ihm die Annahme, dass der Midrasch einfach fabuliere. Er war vielmehr fest davon überzeugt, dass er in der ihm eigenen narrativen Weise den begrifflichen Gehalt der biblischen Erzählung vorsichtig andeuten wollte und, da er selber nicht als „Verräter von Geheimnissen“ (Megale Sod) dastehen mochte, begnügte auch er sich wiederum nur mit rätselhaften Andeutungen von Andeutungen, die er dem kundigen Leser aufgibt (II, 30). Der Midrasch hatte erzählt, dass die vom Oberteufel Samael gerittene Kamelschlange Eva zur Sünde überredet hätte; der Herr der Welt aber, so hatte es im Midrasch weiter geheißen, „lachte über das Reittier und über seinen Reiter“. Maimonides deutet diese Chimäre ähnlich wie Sokrates den Mythos vom gefiederten Seelengespann in Platons Phaidros (246a 6 f.). Sokrates ordnet in diesem Dialog den Wagenlenker und die beiden Flügelrosse dieses Gespanns respektive den drei Seelenteilen: dem „Überlegenden“ (logistikón), dem „Begehrenden“ (epithymetikón) und dem „Mutigen“ (thymoeides) zu.24 Der geile Hengst, „gebeugt, plump und schlecht gebaut, von dickem Nacken, kurzem Hals, stumpfer Nase, schwarzer Farbe, blauäugig mit Blut unterlaufen, ein Freund von Trotz und Anmaßung, um die Ohren zottig, taub, kaum der Peitsche und dem Stachel gehorsam“ (ebd. 254), droht dem Lenker dauernd durchzugehen. Es komme darauf an, so Platon, dass er das widerspenstige Pferd zähme: Er „zerrt den Zaum des trotzigen Rosses mit noch stärkerer Gewalt an dem Gebiss nach hinten, strengt ihn die schmähsüchtige Zunge und die Backen an bis aufs Blut und bereitet ihm Schmerzen, indem er ihm Schenkel und Hüften zur Erde niederzwingt. Wenn aber das schlimme Ross dieselbe Behandlung erfährt und von seiner trotzigen Wildheit lässt, so folgt es gedemütigt schon der vernünftigen Leitung des Wagenlenkers“ (254e). Dem unbewussten Seelenteil, den Platon im Unterleib ansiedelt, rechnet er an anderer Stelle übrigens auch die Vorstellungen der Wahr- oder, wie er auch sagt, der Wahnsager zu (Timaios 71d–72b, Phaidros 244). Nach Maimonides, so jedenfalls die übereinstimmende Meinung seiner Kommentatoren (Schem Tow ben Josef ibn Falaquera [1225–ca. 1295], More HaMore z. St., Profiat Duran Efodi [14.–15. Jh.] z. St.; Chasdai Crescas [1340–1410] z. St.), hätte nun Pseudo-Rabbi-Elieser die Sündenfallerzählung ganz ähnlich verstanden und dies durch die Wahl der mythiZur Trichotomie der Seele vgl. Platon, Politeia 436–441, Phaidros 246a 6 ff., Timaios 69 ff., Aristoteles, De Anima II, 2 f., 413b, Nikomachische Ethik I, 13, 1002 b, Saadia Gaon, Emunot-WeDeot VI, 11: Nefesch (Begehrungsvermögen, epithymetikón, Dtn 12,20, Taawe Nafschecha LeEchol), Ruach (Verabscheuungsvermögen, thymoeidés Koh 7,9, Ruach LiChos), Neschama (logistikón, Ijob, 32,8: Nischmat Schadai Tewinem), Ders., Hiob-Kommentar 1; Jehuda HaLevi, Kusari V, § 12, Maimonides, Acht Kapitel I. 24
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schen Bilder und programmatischen Namen auch vorsichtig zu verstehen geben wollen. Samael sei Satan.25 Die tiefere Bedeutung dieser Figur erschließe sich ebenso wie die der Schlange aus der Etymologie ihrer Namen: „Sama“ komme von „blind sein“,26 „Satan“ von „anfeinden“ und „Nachasch“ (Schlange) von „wahrsagen“. Die vom Teufel gerittene Schlange, die sich für ein Kamel hält, symbolisiere also die blinde Widersetzlichkeit und den triebgesteuerten Wahn oder, gemäß der Allegorie Platons, das ungezügelte Begehrungsvermögen (= Satan) und das entfesselte Vorstellungsvermögen (= Schlange). Gewiss, in den Augen Gottes (= reine Vernunft) ist ein solches Schauspiel lächerlich, für Adam (= menschliche Vernunft) und mehr noch für Eva (= Sinnlichkeit) ist es jedoch verhängnisvoll. Dass der Sündenfallmythos nur die Kämpfe der Seelen in unserer Brust meinen kann, liest Maimonides weiterhin aus der biblischen Geschichte selbst ab. Die verselbständigten Begehrungs- und Vorstellungsvermögen (= Satan und Schlange) richten sich bezeichnenderweise nicht an Adam (= Vernunft), dem sie an und für sich nichts anhaben können, sondern an Eva (= Sinnlichkeit), die Adam zum Verhängnis wird. Diese Deutung bestätigt die Bibel ferner, wenn sie die Feindschaft nur zwischen der Schlange und ihrer Nachkommenschaft und dem Weib und ihrer Nachkommenschaft setzt und dabei nicht auch, wie eigentlich zu erwarten gewesen wäre, Adam nennt (Gen 3,15). Quod erat demonstrandum! Im Grunde deutet Maimonides die Mythen aus Bibel und Midrasch wie platonische Kunstmythen. Für ihn erklärt sich der Schlangenmythos genau so wie die Allegorie des Flügelrossmythos, nämlich als genaue Übersetzung des ewigen Kampfes zwischen Vernunft und Sinnlichkeit.27 Aber Maimonides beschränkt sich nicht nur auf eine philosophische Entmythologisierung der biblischen und midraschischen Fallerzählungen, sondern betreibt geradezu ihre Entmythisierung. Er erklärt den infralapsarischen Zustand des Menschen ganz ohne Hilfe des Teufels und seiner paradiesischen Agentin: die Schlange. Wir führen seine Erklärungen, die prominent in den ersten beiden Kapiteln seines philosophischen Hauptwerkes Führer der Verirrten stehen, gleichwohl sub titulo „Schlange“ an, weil auch ihr Verschwinden zu ihrer Geschichte dazugehört. Maimonides knüpft an ein Textproblem an, auf das wir bereits oben im 1. Abschnitt Zu dieser Identifikation vgl. J. Dan, op. cit., S. 260. Zur Etymologie des Namens Samael vgl. Gershom Scholem, Ursprung und Anfänge der Kabbala, Berlin 1962, S. 260, Anm. 168. 27 Die platonische Methode der Kunstmythen hatte Alfarabi, Kitab AlDjam Bajn Ra’jaj AlCHikimajin Aflatun AlIlahi Wa Aristutalis (Harmonie der Meinungen zwischen den Meinungen der beiden Weisen, des göttlichen Platon und Aristoteles), 7 ausgeführt. Maimonides schätzte Alfarabi als „hervorragenden Wissenschaftler“. 25
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hingewiesen haben, nämlich den Widerspruch zwischen der Gottgleichheit des Menschen nach dem ersten Kapitel der Genesis und der Bestrafung des Wunsches nach Gottgleichheit im dritten Kapitel der Genesis – ein Widerspruch, der heute mit der Quellenscheidung erledigt zu werden pflegt. Im ersten Kapitel seines Werkes fragt Maimonides zunächst, was die Ausdrücke „nach unserem Bilde“ (BeZalmenu) und „nach unserem Gleichnis“ (KiDmutenu) im Vers über die Erschaffung des Menschen: „Wir wollen Menschen machen nach unserem Bilde (BeZalmenu), nach unserem Gleichnis“ (Gen 1,26) bedeuten. Auf den ersten Blick widersprechen sie ja der Unvergleichlichkeit Gottes, die die Propheten und die Psalmisten unablässig predigen: „Wem, fragt Jesaja im Namen Gottes, wem wollt ihr mich vergleichen (LeMi Tedamjuni) und angleichen und gleichen, dass wir uns glichen (Nidmeh)?“ (Jes 46,5; 40,5.18; Jerm 10,6), „wer, fragt der Psalmist, gleicht dem Ewigen?“ (Mi Jidmeh … L’Haschem, Ps. 89,7). Es war gerade Maimonides, der diese biblischen Aussagen von Gottes Unvergleichlichkeit zu einer streng negativen Theologie umformuliert hat, wonach nur „die verneinenden Aussagen von Gott wahre Aussagen“ seien (Führer I, 56 u. 58). Wie soll man aber dann jene Gottebenbildlichkeit verstehen? Sie besagt doch, dass der Mensch zumindest in irgendeiner Hinsicht Gott gleiche! Und folgt aus diesem theomorphen Menschenbild im Rückschluss nicht ein anthropomorphes Gottesbild? Ja, ist darin nicht schon jene religionskritische Umkehrung des Verhältnisses angelegt, wie sie Ludwig Feuerbach formuliert hat? „Erst, sagt er, schafft der Mensch (…) den Gott nach seinem Bilde, und dann erst schafft wieder dieser Gott (…) den Menschen nach seinem Bilde“ (Das Wesen des Christentums I,12). Um solche fatalen Konsequenzen zu vermeiden, haben manche jüdische Ausleger den Ausdruck „nach unserem Bilde“ so verstanden, dass hier gar nicht vom Bild Gottes, sondern vom Bild des Menschen bei Gott die Rede sei, so dass der Satz: „Wir wollen Menschen machen nach unserem Bilde …“ durch den unausgesprochenen Zusatz: „… nach unserem Bilde vom Menschen“ ergänzt werden muss (z. B. R. Eleasar von Worms). Von diesem Menschenbild Gottes kann dann in keiner Hinsicht mehr auf Gott selbst zurückgeschlossen werden. Wenn aber der Mensch nichts mit Gott zu tun hätte, wie kann dann Gott etwas mit dem Menschen zu tun haben? Wenn Gott mit ihm spricht, dann muss es zwischen ihnen auch eine Entsprechung geben – und eine solche Entsprechung will gerade der fragliche Vers feststellen. Maimonides schließt zunächst aus, dass die Gottebenbildlichkeit sprachlich im Sinne einer sichtbaren Spiegelbildlichkeit verstanden werden muss. Er belehrt uns, dass auf Hebräisch die Wörter „Zelem“, „Bild“ und „Demut“, „Gleichnis“ nicht notwendig eine äußere Gestalt, sondern auch innere Eigenschaften meinen können. Er stellt ferner fest, dass sie im Kontext der Erschaffung aller Lebewesen die artspezi-
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fische Eigenschaft des Menschen meinen müssen, nämlich sein rationales Erkenntnisvermögen, und schließt, dass es trotz des himmelweiten Unterschiedes zwischen der endlichen Vernunft des Menschen und der unendlichen Vernunft Gottes jene Entsprechung zwischen Gott und Mensch begründe (Führer I,1). Aber dann wird das aufgeworfene Problem noch dringender. Gesetzt, der homo sapiens gleiche vermöge seiner Vernunft Gott: Weshalb verbietet dieser ihm dann ausgerechnet den Baum der Erkenntnis? Gibt das nicht jenen Dunkelmännern Recht, die in ihm den Baum der verbotenen Wissenschaften sahen und die Philosophie als Ursünde der Menschheit betrachteten? Maimonides zitiert dieses wohl viel erörterte Problem am Anfang des zweiten Kapitels seines Werkes: „Aus dem einfachen Wortlaut der Schrift scheint hervorzugehen, dass die ursprüngliche Absicht des Schöpfers hinsichtlich des Menschen die gewesen sei, dass er wie alle anderen Lebewesen sei, ohne Vernunft und Denkvermögen, und nicht zwischen Gutem und Bösem unterscheide. Als er aber ungehorsam war, brachte ihm dieser Ungehorsam diese große, dem Menschen ausschließlich zukommende Vollkommenheit als Lohn, nämlich, dass ihm die in uns vorhandene Erkenntnis zuteil wurde, welche das vornehmste der in uns existierenden Dinge ist und die unser Wesen ausmacht. Es wundert mich nun, dass die Strafe für seinen Ungehorsam darin bestand, dass ihm eine Vollkommenheit verliehen wurde, die er früher nicht besaß, nämlich die Vernunft. Dies ist aber nicht anders, als wenn jemand sagte, dass irgendein Mensch, weil er gesündigt und besonders schwere Frevel begangen hat, in ein besseres Geschöpf verwandelt, nämlich als Stern in den Himmel versetzt wurde“ (Führer I,2). Für Maimonides gibt es nur eine mögliche Lösung dieses Problems: Es kann sich in den beiden ersten Kapiteln der Genesis nicht um die gleiche Art von Erkenntnis handeln. Die Erkenntnis, derentwegen der Mensch nach dem ersten Kapitel der Genesis Gott gleich genannt wird, ist die Erkenntnis des Wahren und Falschen, die Erkenntnis aber, die ihm nach dem dritten Kapitel untersagt und derentwegen er aus dem Paradies vertrieben wird, ist hingegen die Erkenntnis des Guten und Schlechten. Die erste dieser Erkenntnisarten ist objektiv und begreift die Sachen interesselos, wie sie an sich sind, die zweite ist hingegen subjektiv und beurteilt die Sachen parteiisch danach, ob sie nutzen oder schaden, ob sie gefallen oder missfallen. Diese zweite Art der Erkenntnis ist fraglos minderwertig, weil sie eher unsere Vorurteile bestätigt und weniger etwas über die Sachen selber aussagt. Der Sündenfall des homo sapiens besteht nach Maimonides also darin, dass er seine objektive Erkenntnis bedenkenlos darangibt und sich von seinen subjektiven Eindrücken verleiten lässt, wie es in der Bibel heißt: „Als die Frau sah, dass der Baum gut sei zum Essen, eine Lust für die Augen und lieblich zu betrachten, da nahm sie von seiner Frucht und aß und gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und er
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aß“ (Gen 3,6). Damit steigt der homo sapiens vom Paradies der wertfreien Begriffe (Muskalot) in die platonische Höhle der allgemeinen Vorurteile (Mefursamot) hinab. Es ist ja, wie Maimonides bemerkt, bezeichnend, was nach der Schrift die unmittelbare Folge des Genusses vom „Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen“ war: „Da gingen (den Menschen) die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren“ (Gen 3,7). Die Menschen waren ja auch schon vorher nackt gewesen, das war ihnen aber nicht weiter aufgefallen. Nun aber sahen sie sich buchstäblich mit anderen Augen bzw. mit den Augen der anderen, und prompt fingen sie an – sich zu verkleiden, zu verbergen, zu verstellen, zu verleugnen (Gen 3,7–13). Gott wollte dem Menschen dieses unglückliche Leben unter dem Diktat der öffentlichen Meinung ersparen, er hat ihnen ein beschauliches Leben jenseits von Gut und Böse ermöglicht. Doch der Mensch ließ sich vom Augenschein blenden. Gewiss, jetzt waren die Menschen wie Götter – das Maß aller Dinge geworden. Aber diese Gottebenbildlichkeit war nur noch ein Zerrbild jener anfänglichen Gottebenbildlichkeit, die sie befähigte, die Dinge objektiv zu sehen. In diesem Sündenfall vom Wissen (epistéme) in die Meinung (dóxa), von der eigentlichen philosophischen in die uneigentliche gesellschaftliche Existenz, spielt die Schlange überhaupt keine Rolle mehr. Die jüdische Mystik nun hat die radikale Entmythologisierung und Entmythisierung von Bibel und Midrasch bei Maimonides und seinen Anhängern scharf abgelehnt und eine umfassende Remythisierung des Bösen eingeleitet. Dabei knüpfen die Kabbalisten wie Raschi und Maimonides auch an die Nacherzählung von Genesis 3 in den Pirke DeRabbi Elieser an. So zitiert das bereits erwähnte Buch Bahir im Anschluss an seine angeführte Auslegung des Schöpfungsberichts wortwörtlich die beiden einschlägigen Kapitel des Midraschs (Ed. Scholem § 141, Ed. Maraglioth § 200).28 Aber im Unterschied zur Tautegorese Raschis und zur Allegorese des Maimonides geht es den Kabbalisten weniger um das moralische Drama des Menschen als um seine kosmische und innergöttliche Entsprechung. Wir erinnern daran, dass die von Sammael verführte Schlange nach dem Buch Bahir ihrerseits Eva verführte, weil „sie (sich) sagte: da ihre Seele von der Seite des Nordens stammt, werde ich sie bald verführen“ können (Ed. Scholem § 140). Das Böse bildet also eine besondere Seinsregion. Die mit den bösen Kräften: Schlange, Sammael, Satan seelenverwandte, gleichsam genordete Eva neigt also von Natur aus dem Pol der Sünde zu. Das Böse ist nach dem Buch Bahir allerdings kein dualistischer Antipode zu Gott, sondern ein Gegenpol in Gott selbst: „Und was ist diese (Eigenschaft)? Der Satan. 28 Das Buch Bahir, kritische Neuausgabe und Übersetzung von Gershom Scholem, 3. Aufl., Darmstadt 1970.
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Das lehrt, dass es bei Gott eine Eigenschaft (Midah) gibt, die ‚böse‘ heißt, und es liegt im Norden Gottes, denn es heißt (Jer 1,14): ‚Von Norden her öffnet sich das‘, das heißt: alles Böse, das über alle Bewohner der Erde kommt, kommt von Norden. Und welches Prinzip ist dies? Es ist die Form der Hand, und sie hat viele Boten, und alle heißen ‚böse‘, ‚böse‘ jedoch gibt es größere und kleinere darunter. Und sie sind es, die die Welt in Schuld stürzen, denn das ‚Tohu‘ (vgl. ebd. § 9) ist von Norden, und ‚Tohu‘ bedeutet eben das Böse, das die Menschen verwirrt, bis sie sündigen, und der ganze böse Trieb des Menschen stammt von dort. Und warum ist er an die linke Seite gestellt? Weil nirgends in der Welt sein Gebiet ist außer im Norden (…). Darum ist er stets zur Linken und das bedeutet der Vers (Gen 8, 21): ‚Denn der Trieb des Menschenherzen ist böse von Jugend an‘ (Jezer Lew HaAdam Ra MiNeuraw)“ (Ed. Scholem § 109). Das Buch Bahir verwandelt also das moralische Übel in ein unvermeidliches metaphysisches Übel. Ein Kabbalist wie Isaak ben Jakob HaCohen aus Soria (zweite Hälfte des 13. Jh.s), der das Buch Bahir für „kostbarer als Gold“ hielt,29 hat an dessen Substanzialisierung des Bösen anknüpfend in seinem Traktat über die linke Emanation (Amud HaSmali) dann eine regelrechte höllische Hierarchie mit dem Oberteufelspaar, Sammael und Lilith an der Spitze entworfen. Diese kabbalistische Remythologisierung des Bösen kommt etwa im exoterischen Bibel-Kommentar des Rabbi Moses Nachmanides aus Gerona (1194–1270) ans Tageslicht, etwa wenn er bei der Erklärung zum biblischen Versöhnungsritus (Lev 16,8) im Anschluss an den Pirke DeRabbi Elieser (Kap. 46) Sammael als den Adressaten des Sündenbocks identifiziert und als blutigen „Fürsten dieser Welt“ beschreibt. Aber bemerkenswert bleibt dabei, dass die Kabbalisten bei aller dualistischen Tendenz die eigentliche moralische Problematik der biblischen Erzählung niemals ganz aus den Augen verlieren. Sehr bezeichnend ist hierfür eine Schrift des gleichfalls aus Gerona stammenden Kabbalisten R. Esra ben Salomo (erste Hälfte des 13. Jh.s), Geheimnis des Baumes der Erkenntnis (Sod Ez HaDaat), die Gershom Scholem fast vollständig übersetzt hat. R. Esra versetzt die biblische Erzählung vom irdischen ins himmlische Paradies bzw. vom mundus sensibilis in den mundus intelligibilis; die eigentliche Strafe des Menschen ist für ihn, ähnlich wie für die platonischen und neuplatonischen Philosophen, die Inkarnation der menschlichen Seele. Mitten im himmlischen Paradies standen die beiden Bäume des Lebens (Ez HaChajim) und der Erkenntnis des Guten und Bösen (Gen 2,9), die zwar eine Einheit bildeten, aber ursprünglich von zwei verschiedenen Wurzeln herstammten. Der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen wurzelte im Norden, also nach der Topographie des Buches Bahir, die 29
Vgl. G. Scholem, Ursprünge …, op. cit., S. 35.
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R. Esra zitiert, auf der Seite des Bösen, und der Baum des Lebens im Osten, auf der Seite des aufgehenden Lichts, auf der Seite des Guten. Die eigentliche Sünde Adams bestand nach R. Esra darin, dass er durch das Abtrennen der Frucht die beiden Stämme der Erkenntnis und des Lebens auseinander gerissen, oder mit einem talmudischen Ausdruck für Apostasie, dass er die „Pflanzungen abgehauen“ (Kizez Bantijot, bChag 14b) habe: „Es verhält sich nämlich so: Solange der Baum des Lebens, der von der Seite des Ostens herstammt und der gute Trieb und die Eigenschaft des Friedens ist, mit dem Baum der Erkenntnis, der von der Seite des Nordens, von der Seite des Satans und des Bösen herstammt, verbunden ist, kann der Satan nichts ausrichten, denn der Baum des Lebens, welcher die Eigenschaft der Harmonie ist, hat Übermacht über ihn. Sobald er aber von ihm getrennt ist, bleibt ihm seine Kraft, und er vermag zu wirken. (…) Und das ist der Sachverhalt, der als ‚Abhauung der Pflanzungen‘ bekannt ist, denn wäre er noch in Verbindung gewesen, so hätte er nichts ausrichten können. Wenn aber Adam nicht zuerst die Frucht abgetrennt hätte, hätte Satan nicht die Macht gehabt, sich vom Baum des Lebens zu trennen.“30 Abgesehen von der erstaunlichen Identifikation des Baums der Erkenntnis des Guten und Bösen mit dem Bösen (die aber schon in der oben angeführten Exegese des Maimonides impliziert ist) sagt der Text jedoch in aller Deutlichkeit, dass dieses Böse nur Macht gewinnen konnte, weil der Mensch sie ihm gab. Anders als im Buch Bahir und in den Pirke de Rabbi Elieser wird kein Verblendungs- und Verführungszusammenhang (Nordseite Gottes – Satan – Sammael – Schlange – Eva) konstruiert, ja Eva wird ausdrücklich verschont und die Schlange gar nicht erst erwähnt, vielmehr erwählt der himmlische Adam sein Schicksal selbst und besiegelt damit das Schicksal der Welt. Ganz anders scheinen die Dinge zunächst im Sohar, dem heiligen Buch der Kabbala zu liegen. Er schildert in ausufernder mythologischer Bildlichkeit die dem Sündenfall vorangehenden und begleitenden höheren und inneren Vorgänge. Die Schlange ist hier ein Feuer speiender Drachen, ja ein Schrecken erregendes Schlachtschiff des Reichs des Bösen, und wenn sie das Reich des Guten angreift, verfinstert sich alles und erstarrt. Zunächst scheint die böse Schlange allmächtig und das Gute auf verlorenem Posten zu sein, doch dann taucht eine gute Schlange auf. Hören wir den Sohar selber, in einer Übersetzung von Peter Schäfer: „Ein Ungeheuer unten, auf der linken Seite (Star Smala), schwimmt in all diesen Flüssen. Es kommt mit seinen mächtigen Flossen, eine jede so stark wie Eisen, und erreicht (das Meer der rechten Seite), um Wasser zu trinken und 30 G. Scholem, Sitra achra; Gut und Böse in der Kabbala, in: Von der mystischen Gestalt der Gottheit, Studien zu Grundbegriffen der Kabbala, Frankfurt a. M. 1977, S. 57–62.
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die (rechte) Seite (dadurch) zu verunreinigen. Alle Lichter werden vor ihm verdunkelt. Sein Mund und seine Zunge sind loderndes Feuer; seine Zunge ist so scharf wie ein mächtiges Schwert, bis es dahin gelangt, in das Heiligtum innerhalb des Meeres einzudringen. Dann verunreinigt es das Heiligtum, die Lichter sind verdunkelt, und die oberen Lichter verschwinden aus dem Meer. Dann teilen sich die Wasser des Meeres auf der linken Seite, und das Meer friert ein und seine Wasser fließen nicht. Und über das Mysterium dieser Sache steht geschrieben: Die Schlange war listiger als alles Getier des Feldes, das Gott, der Herr gemacht hatte (Gen 3,1) – (das ist) das Geheimnis der bösen Schlange, die von oben nach unten kommt, die durch die bitteren Wasser (Majin Meriran) schwimmt und hinabkommt, um unten (die Menschen) zu verführen, bis sie in ihr Netz fallen. Diese Schlange ist ewiger Tod und sie begibt sich in die innersten Eingeweide des Menschen (BeMejoi), und sie ist auf der linken Seite. Und es gibt eine andere Schlange des Lebens auf der rechten Seite. Beide (Schlangen) begleiten den Menschen, wie sie erklärt haben (…). Wehe dem Menschen, der zu ihr hingezogen wird, denn sie bringt den Tod über ihn und über alle, die ihm folgen“ (Sohar I, 52a).31 Trotz der apokalyptischen Farbgebung handelt es sich bei den Schlangen, nach diesem Text aus dem Sohar ausdrücklich, um die inneren Triebe des Menschen. Auch wenn das Böse im Vergleich zu den biblischen und midraschischen Erzählungen hier Schrecken erregende Züge annimmt, bleibt die Seele des Menschen, selbst in ihren laokoonhaften Verstrickungen, der Schauplatz des Kampfes von Gut und Böse. Mitten in der Remythologisierung erhält sich so die Entmythologisierung. Der gleichermaßen in den rabbinischen, religionsphilosophischen und kabbalistischen Traditionen des Judentums wie in den neukantianischen und existenzialistischen Strömungen der Philosophie bewanderte modernorthodoxe Denker R. Josef Bär Soloweitschik (1903–1993), mit dem wir unseren kleinen Überblick beschließen, hat die grundlegende Wahl, vor der der Mensch steht, aus den beiden biblischen Schöpfungserzählungen herausgelesen. In seinem zweiten Hauptwerk Der einsame Mensch des Glaubens (1965) charakterisiert er den Menschentypus des ersten Schöpfungsberichts als Adam I. Er wurde als Gottes Ebenbild sogleich als geselliges Wesen aus dem Nichts erschaffen und war mit seiner Frau dazu berufen, die Erde zu beherrschen. Adam I ist der Typus des homo sapiens, der die Welt im Denken entwirft, und zugleich des homo faber, der sie sich im Handeln unterwirft – er entspricht dem gründerzeitlichen Menschenbild Hermann Cohens, über den Soloweitschik in Berlin promoviert hat. Der 31 Übersetzt im Beitrag v. Peter Schäfer, Das Böse in der mittelalterlichen jüdischen Mystik, in: Carsten Colpe; Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hrsg.), Das Böse. Eine historische Phänomenologie des Unerklärlichen, Frankfurt a. M. 1993, S. 98 f.
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zweite Schöpfungsbericht schildere dagegen Adam II. Er wurde aus Erde gebildet und von Gott beatmet. Er lebte zunächst einsam in einem göttlichen Reservat, das er lediglich behüten sollte. Die anderen Wesen sind ihm fremd, und eine Partnerin muss der göttliche Heiratsvermittler für ihn erst finden. Die Geselligkeit von Adam I sei pragmatisch auf Eroberung, die des zweiten existenziell auf Begegnung ausgerichtet. Adam II ist der Typus des weltfremden homo religiosus – er erinnert an den einsamen Mensch des Glaubens Kierkegaards. Die Pointe Soloweitschiks ist nun, dass die beiden gegensätzlichen Typen, Adam I und II: der weltbezogene und -verfallene Stifter der Kultur und der weltfremde und gottbezogene Mensch des Glaubens, zwei Aspekte des einen Menschen sein sollen. Die Sünde besteht nach Soloweitschik darin, dass Adam II auf Adam I, dass die Transzendenz auf die Immanenz verkürzt und damit die menschlichen Werke der göttlichen Legitimation beraubt werden. Das verwandelt den von Gott gewollten herrlichen Kulturmenschen in einen überheblichen „Übermenschen“. Der ideale Mensch, der beide Seiten Adams vereinigt, ist nach Soloweitschik der „halachische Mensch“ (Isch Halacha). Die Halacha ist gott- und weltbezogen zugleich, sie bindet Adam I einerseits in den Bund mit Gott ein und zwingt Adam II in den Bund mit Menschen. Der halachische Mensch ist gleichsam Resultante der horizontalen und vertikalen Dimension des Menschen. Diesen „halachischen Menschen“ beschreibt Soloweitschik in seinem Hauptwerk Der halachische Mensch (1944). Er sei einerseits eine Art neukantianischer Wissenschaftler, der wie der Mathematiker und theoretische Physiker a priori eine ideale Theorie der Realität entwirft und sich dabei nicht um die Realisierung der theoretischen Norm kümmert; auf der anderen Seite habe der halachische Mensch aber nicht nur ein theoretisches Erkenntnisinteresse, er habe auch das praktische Interesse, die ideale Norm in der Realität um- und durchzusetzen. Daher ist der halachische Mensch nicht nur Kreatur, sondern Kreator, ein „Partner des Schöpfers“ (Schutaf LeBoro). Soloweitschik erkennt die Parallelen seiner Beschreibung des halachischen Menschen zur Lehre des Menschen und Übermenschen bei Nietzsche und seinen Nachfolgern. Er beschuldigt diese modernen Denker jedoch, das biblische Ideal des Menschen als Kreator oder Kokreator pervertiert zu haben. An die Stelle der durch die Halacha erleuchteten Macht zum Willen haben sie den blinden, zerstörerischen Willen zur Macht gesetzt, der sich – man schreibt das Jahr 1944 – austobe. Diese Gestalt des Bösen scheint aber schon die gleiche zu sein, die auch die biblische Urgeschichte vor Augen hatte, nämlich den Übermenschen!
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II. Das Böse in der christlichen Tradition 1. Einleitung: ein komplexes Problem Wie andere Religionen ist das Christentum ein komplexes, nicht unbedingt rationales, aber ein ungemein lebensfähiges Phänomen, das sich im Laufe der Geschichte und in der Interaktion mit ihr ständig geändert hat. Das gilt besonders vom Verständnis des Bösen und vom Umgang mit ihm. Zudem stößt dessen Darstellung in der christlichen Religion auf drei besondere Schwierigkeiten. Die erste hat unmittelbar mit der Identität des Christentums zu tun; nichts nämlich ist schwieriger, als sie auf direktem Wege zu bestimmen. Vorgängig zu den spezifisch christlichen Schriften kennt es ja die jüdischen Schriften der Bibel. Jesus war Jude und wollte bis zu seinem bitteren Ende wohl Jude bleiben. So spricht alles dafür, dass auch die Geschichte des Bösen im Christentum zunächst als Geschichte des Umgangs mit ihm im Judentum beginnen muss. Die zweite Schwierigkeit hängt mit dem hohen philosophischen Reflexionsgrad zusammen, den das Böse in der Geschichte des westlichen Christentums – schon in den ersten Jahrhunderten, vor allem aber in der Neuzeit – erfahren hat. Schon ein oberflächlicher Vergleich mit anderen Religionen lässt deutlich werden, wie immens die philosophischen Anteile in der Geschichte des Bösen sind, die teilweise als deutliche Kritik an christlichen Überzeugungen entwickelt und später von der christlichen Theologie übernommen wurden. Die dritte Schwierigkeit hängt mit der Tatsache zusammen, dass das Böse in der westlichen Gesellschaft trotz wachsender Säkularisierung und Rationalisierung zu einem Leitbegriff, genauer: zu einem leitenden Problembegriff geworden ist. Man rückte dem Bösen naturwissenschaftlich, psychologisch, kultur- und ideologiekritisch sowie auf viele andere Weisen zu Leibe und musste sich zugleich die Frage stellen lassen, ob ein wissenschaftlich-analytischer Zugang zum Bösen die wahre Problematik des Bösen nicht prinzipiell verkennt, das Böse zumindest domestiziert und ihm seine Schrecken nimmt. Muss es nicht wieder beim Namen, genauer: mit seinen ungezählten konkreten Namen genannt werden? Hinzu kommt für unsere Frage nach Verständnis und Gegenwart des Bösen in einer Religion als vierte Schwierigkeit die Tatsache, dass religiöstheologische, kulturelle, philosophische und andere Stränge nie streng voneinander zu unterscheiden sind. Philosophische Überlegungen reagier-
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ten immer auf religiös-theologische und umgekehrt. In das dichte Netz kultureller Interaktionen sind neben dem Christentum immer schon Literatur und bildende Kunst, die Welt des Films und des Sports, der Jugendund der Alterskultur aufgenommen. Klare Unterscheidungen sind deshalb unmöglich. Die genannten Schwierigkeiten raten zu inhaltlicher Vorsicht, methodischer Sorgfalt und thematischer Beschränkung. So setze ich etwa den jüdischen Beitrag vielmehr voraus, um Verdoppelungen zu vermeiden, und stelle nur die Frage: Welche spezifischen Akzente hat die christliche Interpretation des Bösen erarbeitet? Angesichts der starken philosophischen Inanspruchnahme des Problems werde ich philosophische Entwicklungen zwar benennen, weil sie auf das christliche Verständnis ihre Rückwirkungen hatten und manches „Christliche“ ohne diese unverständlich ist. Doch werden es Randüberlegungen bleiben. Angesichts der neuen Orientierungsproblematik gegenüber den Bosheitserfahrungen in unserer Gesellschaft werde ich schließlich versuchen, ein diskursfähiges christlich-religiöses Profil herauszuarbeiten. Angesichts der gesamtkulturellen Einbettung des Christentums kann dieser Beitrag schließlich nur den kleinen Diskursausschnitt „Theologie“ und „ausdrückliche Religion“ präsentieren, wohl wissend, dass eine literatur- oder medienwissenschaftliche Untersuchung vielleicht wichtigere Erkenntnisse über unsere Gegenwart bieten kann (Bataille; Jacob; Zwick). Bleibt schließlich die Frage nach dem methodischen Ansatz. Einige Bemerkungen müssen genügen. Dem Ziel dieser Veröffentlichung gemäß werde ich in erster Linie beschreiben, ohne meine eigenen Auffassungen zu verbergen. Das ist mit einem partizipierend hermeneutischen Zugang möglich. Ich nenne meine Methode „hermeneutisch“ im strengen und selbstkritischen Sinn. Ich werde keine neuen Wahrheiten entdecken, sondern vorliegende Quellen interpretieren, in ihrer Wirkungsgeschichte darlegen und bisweilen kritisch beurteilen. Es gibt keinen Anspruch auf definitive Wahrheit; das wussten wir schon vor dem Siegeszug postmodernistischer Theorien. Dazu gehört das stets präsente Bewusstsein, dass jeder Interpretation, dass auch jeder religiösen Wahrheit Konflikte, Widersprüche und Aporien innewohnen. Das tut der Qualität einer Religion keinen Abbruch, verbietet aber auch die Illusion einer perfekten und somit absoluten und zeitüberhobenen Wahrheit. Ich arbeite also nicht im Sinne einer konservativen Hermeneutik, die alles zu verstehen und miteinander zu verschmelzen beansprucht. Ich denke vielmehr an ein konfliktfähiges Weiterdenken, wie das – zur großen Verunsicherung vieler Theologen – schon von R. Bultmann (1884–1976) vorgetragen wurde. Der katholische Theologe E. Schille-
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beeckx spricht später von einer „kritisch erweiterten“ Hermeneutik, und Cl. Boff entwirft ein hermeneutisches Programm in Sinne emanzipatorischer Theologien. Hätten die großen französischen Postmodernisten diese hermeneutischen Ansätze sowie die Denkarbeit der Kritischen Theorie ernsthaft zur Kenntnis genommen, sie hätten sich manche Attacke ersparen können. Gerade bei der vorliegenden Thematik verbietet es sich, eine „große“ Erzählung oder eine universale Theorie anzustreben. Die auf der Grenze von Theorie und Praxis angesiedelte Hinterhältigkeit des Bösen wird erst seit einigen Jahrzehnten ernst und als Hauptgefahr des Christentums wahrgenommen. Wie ich zeigen werde, befindet sich das (westliche) Christentum in dieser Angelegenheit in einem tief greifenden Paradigmenwechsel. a) Inhalt und Aufbau Die differenzierte Gesamtthematik des Bösen in einer Weltreligion auf so kurzem Raum darzulegen ist nur mit vielen Abstrichen möglich. In Inhalt und Aufbau werde ich mich auf einige Linien beschränken. Zunächst geht es um terminologische Klärungen (Einleitung). Dann gehe ich auf einige Gesichtspunkte ein, die sich aus der biblischen Grundorientierung sowie aus der christlichen Erinnerung an Jesus von Nazaret ergeben. Dass dabei mit Reduktionen gearbeitet wird, ist nahezu selbstverständlich (Kapitel 1). Dann werden einige Grundlinien aufgezeigt, die das christliche Verständnis des Bösen seit den ersten Jahrhunderten bestimmen; es geht um das antike Erbe, das heute noch gegenwärtig ist (Kapitel 2). Darauf zeige ich einige spezifisch religiöse Verarbeitungen und Wirkungen von Bosheit und Bosheitserfahrung auf, die dem Mittelalter zugeschrieben oder gar angelastet werden (Kapitel 3). Die in Kapitel 4 besprochenen Problemknoten der Neuzeit machen deutlich, dass wir die Frage des Bösen nicht auf dessen theoretische Bewältigung beschränken können; es geht auch um den konkret gelebten und ererbten Anteil selbst. Von großer Bedeutung für die Gegenwart ist Kapitel 5 mit seiner These, dass mit dem Jahr 1945 ein Paradigmenwechsel großen Ausmaßes begann, der bis heute noch nicht ausbuchstabiert ist. Kapitel 6 schließt mit der Frage nach Gott den Beitrag ab. Zum Schluss mögen mehr Fragen übrig bleiben als Antworten gegeben wurden. Dies liegt, wie mir scheint, durchaus in der Sache begründet.
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b) Terminologische Klärung Das Böse gehört zu jenen Begriffen, die niemandem unbekannt sind; gerade deshalb wird es je nach religiösen oder philosophisch-weltanschaulichen Akzentuierungen oder Ausgangspunkten verschieden definiert, etwa als das, was nicht sein soll, was zerstört, als Mangel an Sein oder als Nichts, als Endlichkeit oder als gegengöttliche Wirklichkeit, als Schein oder als Schmerz, als Geschick oder frei gewollte Verfehlung, als von Gott verfügtes Menschheitsverhängnis oder als frei gewollte Sünde; es wird ontologisiert oder fatalisiert, moralisiert oder dämonisiert. Auch innerhalb der christlichen Religion gibt es keine eindeutige Definition. Wir werden – jedenfalls zum Einstieg in die Thematik – der Breite des Phänomens am besten gerecht, wenn wir es zunächst nicht als Wesen, sondern von seiner Wirkung her beschreiben. So verstehe ich unter dem Bösen zunächst alles, was bestehenden Dingen oder lebenden Wesen schadet, ihnen Unheil zufügt, auf die Dauer ihre Zerstörung bedeutet und von Betroffenen deshalb abgelehnt und zurückgewiesen, eventuell verflucht wird. Böses ist kein Wesen an sich, vielmehr verweist es immer auf bestimmte Normen oder auf ein bestimmtes Weltgefüge. Für vieles scheint es geradezu lebensnotwendig zu sein: Ohne Schmerz zum Beispiel kein vitaler Selbstschutz, ohne Enttäuschung keine Dankbarkeit, ohne Einsamkeitserfahrung keine Fähigkeit zur Gemeinschaft. Aber kein ursprüngliches Verständnis des Bösen kann von einem essentialistischen oder dualistischen Element ausgehen. Allerdings spaltet sich die Begriffsbildung sofort in drei Tendenzen auf, die in der christlichen Tradition einander beeinflussen und bedingen. Die erste Tendenz: Das Böse als allgemeine und höchst analoge Alltagsbestimmung, die sich in immer neuen Formen zeigt und stets neuer Interpretation bedarf. Schaden und Schädliches ist allgegenwärtig und unmittelbar in Gutes verwoben. So kann die faktische Erfahrung von Schädlichem zugleich alle Interpretationen in Zweifel ziehen, die Böses relativieren und als Mittel zum Guten rechtfertigen wollen. Gleichzeitig kann Böses dafür sorgen, dass bestimmte Wirklichkeitssektoren nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. In diesem Sinn hat es eine erinnernde, eine anamnetische Funktion. Die zweite Tendenz: Sofern alle Weltreligionen die Frage nach dem Heil nachdrücklich stellen (Koslowski 2001), betrifft das Böse zwar nicht immer letzte Dimensionen, kann aber immer auf eine letzte Dimension bezogen werden: auf Heil (Rettung, Erlösung) von Mensch und Menschheit oder Heilsverlust, Leben oder Tod, Versöhnung oder Zersplitterung. Dieser Perspektive eignet gleichermaßen ein starker Zug zu Relativierung wie zu Radikalisierung. Relativiert wurden oft höchste Werte, radikalisiert
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hingegen kleinste Unregelmäßigkeiten. Wenn eine Weltreligion mit diesen Extremen gut umzugehen weiß, wohnt ihr ein enormes Potential zur Entmythisierung und Nüchternheit inne. Die dritte Tendenz: Die monotheistischen Religionen führen an diesem Punkt ein Unterscheidungsmerkmal ein, das zu einer umfassenden Neuinterpretation des Bösen geführt hat. Es ist die Entdeckung der moralischen Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen. Vor dem Hintergrund freier Verantwortlichkeit macht es jetzt einen Unterschied, ob etwas faktisch schadet (etwa ein Erdbeben, eine Krankheit) oder ob jemand einen Schaden herbeiführen will oder bewusst zulässt. Neben das faktisch Böse (das in der deutschen Fachsprache „Übel“ genannt wird) tritt jetzt das moralisch Böse (das „Böse“ im strengen Wortsinn). Wenn dieses Böse dann in einen religiösen Bezugsrahmen aufgenommen oder gar ausdrücklich als Übertretung von Gottes Willen begriffen wird, handelt es sich, streng genommen, um „Sünde“. Vor diesem Hintergrund treffe ich für diesen Beitrag eine terminologische Entscheidung: In der Regel rede ich vom „Bösen“, auch wenn damit nicht immer ausdrücklich das moralisch Böse gemeint ist. Ebenso gebe ich dem Begriff des Bösen in der Regel auch dann den Vorzug, wenn die religiöse oder theologische Sprache eher zum Begriff der Sünde greift (S. Brandt). Dies dient, wie ich meine, dem allgemeinen Verständnisrahmen dieses Beitrags. Die Frage nach dem Bösen wird in der westlichen Tradition von Anfang an philosophischen Reflexionen unterworfen, und bis in die Gegenwart hinein versuchen Theologie und Philosophie, der Betroffenheit, die sich mit der Erfahrung des Bösen einstellt, durch rationale Analyse zu begegnen. Das ist in Ordnung und unabdingbar. Allerdings ist auch die Gegenseite zu bedenken. Die Rede vom Bösen enthält – zumal im Rahmen religiösen Redens – immer ein Element der Verurteilung, der moralischen Entrüstung oder der Verzweiflung. Auch die christliche Religion hat für die großen Welträtsel, etwa für die Grauen des 20. Jahrhunderts, keine rational schlüssige Lösung (Schandt). Wenn sich zeigen ließe, dass das Christentum den Gang der Welt und der Geschichte auch in diesen Abgründen ernst nimmt, dann wäre schon viel erreicht. Vielleicht kommt es nur darauf an, dass es sich neu auf seine Ursprünge, nämlich auf das Scheitern seines eigenen, als Gottessohn verehrten Messias besinnt.
2. Die Ursprünge Das Christentum versteht die Bibel als eine Sammlung von normativen, für seine Identität verbindlichen Texten, bestehend aus den kanonischen Texten der jüdischen Tradition (also der jüdischen Bibel) und einer Samm-
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lung spezifisch christlicher Dokumente. In der jüdischen Bibel spiegelt sich zunächst ein allgemeines und elementares Alltagsverständnis von Schlechtem, Schädlichem oder Ungesundem, das sich bei ändernden Menschen-, Welt- und Gottesbildern zuspitzt und profiliert. Mal geht es um machtpolitische Interessen oder Machtkritik, mal um lebensförderliche Verhaltensregeln und hohe ethische Normen, schließlich um Gottes Treue und um seinen Willen, der sich zumal im Dekalog und im Gebot der Liebe kundgetan hat. In wichtigen Textschichten spiegelt sich auch das Bild eines Gottes, dessen Schöpfermacht sich zunächst auf die rettende Bändigung des bedrohlichen Chaos bezieht und der dann angerufen wird, wenn die Not groß ist. Dies wird vom Christentum ebenso vorbehaltlos übernommen wie die nachexilische Konzentration auf die innere Hingabe und Ungeteiltheit der Intention (Dtn 6,5) und das Epoche machende, für Christentum und Islam unverzichtbare Projekt der Propheten, das die Menschen an ihrer Verantwortung behaftet und – mit höchst kritischen Konsequenzen für Politik und Gerechtigkeit – immer deutlicher eine messianische Zukunft erwartet (Hossfeld, Hossfeld/Gnilka, Zenger 1998, 371–381). Viel Interesse fand in den vergangenen Jahrzehnten in der christlichen Theologie die Debatte um die Weisheitsliteratur, in der die Entsprechung von Tun und Ergehen allmählich zerbricht (Hausmann, Koch). Auf die elementaren Äußerungen von Klage und Protest wird später noch eingegangen.
a) Das Scheitern des Jesus von Nazaret Um der spezifisch christlichen Interpretation des Bösen auf die Spur zu kommen, wird bei den neutestamtlichen Schriften einzusetzen sein, wohl wissend, dass diese von der hebräischen Bibel her zu entschlüsseln und zugleich als Niederschlag der Erfahrungen zu lesen sind, die eine kleine verschworene Gruppe von Männern und Frauen mit ihrem „Meister“ Jesus gemacht hat. Er kam aus Nazaret, offensichtlich verkündete Jesus von Nazaret in der Tradition jüdischer Prophetie die Botschaft von Gottes vorbehaltloser und gegenwärtiger Liebe, nahm sich ohne Vorbehalte der sozialen und religiösen Randgruppen an (Fiedler) und wurde schließlich als öffentlicher Unruhestifter hingerichtet. „Leben, Botschaft und Geschick“ lautet die klassische zusammenfassende Formel der christlichen Theologie.1 Einzelaussagen sind immer in diesem Gesamtzusammenhang zu sehen. 1 Die Literatur zu Person und Werk Jesu ist uferlos. Stellvertretend seien einige Bücher mit systematischer Zielsetzung genannt, die einen breiten Konsens widerspiegeln: Becker; Blank; Küng 1974, 167–400; Schillebeeckx 1975; Schweizer. Die neue Suche nach dem „historischen“ Jesus (the „Third Quest“) hat frühere Ergebnisse eher bestätigt (Crossan 1999a, Becker).
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Leben steht hier für eine Lebensführung in Gemeinschaft, die dem Bösen prinzipiell entgegentritt, ohne sich in Gegenreaktion ins Böse verstricken zu lassen. Dies wird symbolisiert in der Rede von Jesus, der mit Zöllnern und Sündern Gemeinschaft hält.2 Die Botschaft Jesu wird u. a. in der „Bergrede“ oder „Bergpredigt“ zusammengefasst (Mt 5,1–7,29). Dieser Text bietet im Blick auf das Böse ein reiches und komplexes Interpretationsfeld, denn äußerste moralische Ansprüche und äußerste Vergebungsbereitschaft kreuzen sich. Das Geschick Jesu erinnert an die große Katastrophe, in der Jesu Leben unter den Folterqualen am Kreuz und in einem Justizskandal endete. Nun gilt der Tod Jesu am Kreuz als historisch unbestritten. Ferner gelten heute einige Konturen und Erinnerungsfragmente als allgemein anerkannt. Jesu Leben ist von einer kompromisslosen Abkehr vom Bösen gekennzeichnet, nicht auf Grund einer heroisch-asketischen Lebensweise, sondern indem er sich Mitmenschen zuwendet. Das Wenige, das wir von ihm wissen, deutet eher auf den großen Charismatiker oder verheißenden Propheten hin als auf den Droher: „Seligpreisung“ statt Angst (Mt 5,3– 12), Mahlhalten statt Askese („… dieser Fresser und Säufer“, Mt 11,19), endlose Vergebung statt Bedingungen der Buße (Mt 6,15; 18,22), Gewaltfreiheit statt Widerstand (Mt 5,21–25); der Beginn des Reichs hängt gerade nicht von der Bestrafung der Bösen ab. Allerdings gelten die ethischen Regeln des jüdischen Erbes radikal, weil sie jetzt von einem engen Vertrauensverhältnis zu Jahwe getragen sind (Merklein 1983, 1984). Für die spätere christliche Lebenspraxis (die „Nachfolge“ Jesu) sollte die Bergpredigt eine zentrale Rolle spielen, auch wenn sie oft missverstanden wurde (Küng 1974, 135–138). Schließlich sollte sich das christliche Ethos, sofern es zu Selbstkritik und Erneuerung fähig war, immer wieder am Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe orientieren; diese doppelte Liebe ist als Maß alles Guten zu begreifen (Mt 22,34–40). Zum Maß alles Bösen wird deshalb neben dem Unglauben gegenüber Gott die Verletzung der Nächstenliebe; es erhält damit ein anthropologisches Kriterium. Die Gleichnisse zeigen zudem, dass für Jesus nicht die Verachtung des Bösen an sich, sondern das Finden der Verlorenen, das Gelingen von Gemeinschaft eine zentrale Rolle einnahm. Was also sollten Christen für den Umgang mit dem Bösen von Jesus lernen? Sie wurden auf jüdische Spuren geführt mit dem entscheidenden Zusatz, dass sich die ganze Tora im Gelingen von Gemeinschaft und Gerechtigkeit erfüllt; das größte Gebot ist die Liebe, und an ihrer Erfüllung „hängt die ganze Tora samt den Propheten“ (Mt 22,40). Aus diesem Grund spielt die Vergebung, die die zerbrochene Gemeinschaft wieder herstellt, 2
Mt 9,10f.; Mt 11,9; Lk 15,1.
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eine zentrale Rolle. Auch sie erklärt sich aus einem Überschuss an Güte, für die sich das Böse sozusagen von selbst auflöst. So gesehen gehört es zum tragischen Scheitern Jesu, dass die staatlichen Behörden diesem Lebensprojekt in der Sorge um buchstäbliche Wahrheit und öffentliche Ordnung ein vorzeitiges und – nach jüdischen Maßstäben – gottloses Ende setzten (Gal 3,13). Noch tragischer ist jedoch, dass diese Grundüberzeugung selbst zur Quelle häufigen Hasses wurde, der die Juden schließlich als „treulos“ und als Gottesmörder brandmarkte. Dieser für eine zeitgenössische christliche Selbsteinschätzung unerträgliche Widerspruch ist gruppenpsychologisch zwar verständlich, wurde aber nie ausgeräumt. b) Zwischen Hass und Versöhnung Deshalb ist es wichtig, sich den Gründen von Jesu Geschick genauer zuzuwenden. Die historische Rekonstruktion des Prozesses ergibt kein eindeutiges Bild.3 Vielleicht wollte man sich in einer politisch angespannten Situation eines unangenehmen Kritikers entledigen („Er wiegelt das Volk auf“; Lk 23,5); dann aber wäre auch seine Gefolgschaft verurteilt worden. Möglicherweise hat sich Jesus mit seinem ausdrücklichen Schweigen dem offiziellen Tribunal verweigert; das musste den Tod zur Folge haben (Dtn 17,12).4 Durfte Jesus diese Bestimmung missachten? Hier ist die für die Legitimität des Christentums entscheidende Frage anzusetzen. Letztlich kann die Stellungnahme für oder gegen Jesus von den gängigen jüdischen Kriterien her nicht entschieden werden. Viel wichtiger ist deshalb die unabweisbare Tatsache, dass Jesu Tod für seine Bewegung zum Siegel seines für die Verlorenen und Entrechteten solidarischen Lebens wird. Er wird zu dem, „der sich für unsere Sünden hingegeben hat“ (Gal 1,4). Aus diesem Grund verbietet es sich schon der Urgemeinde, die Generalverantwortung für den Tod Jesu einfach „den Juden“ aufzubürden (Apg 2,46). Zwar kennen wir das böse Matthäuswort, „sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ (27, 25), und den Versuch des Lukas, die römischen Behörden zu entlasten. Viel wichtiger aber ist der frühe Versuch, den Tod Jesu in Gottes Heilsplan selbst zu begründen. „Musste nicht der Messias all das erleiden … Er legte ihnen dar, … was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht“ (Lk 24,26f.). 3 Inzwischen wird gefragt, ob es in der Kürze der Zeit überhaupt einen Prozess gab. Aus Gründen politischer Ordnung wurde Jesus eben aufgegriffen (Berger 1998b, Crossan 1999b). 4 Zu Jesu Schweigen s. Mk 14,61 und Mt 26,63, vgl. ferner mit Lk 22,68 und Joh 18,37; s. Schillebeeckx 1975, 277–282, Kertelge 1989, Winter.
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Damit ist allerdings (anachronistisch ausgedrückt) von Anfang an das Theodizeeproblem ins Spiel gebracht. Es fragt sich nämlich, ob der Gott der Güte eine solche Katastrophe zulassen, gar herbeiführen kann. Diese Frage hat nicht nur das Vertrauen der ersten Anhänger auf eine extreme Belastungsprobe gestellt, sondern die christliche Theologie durch Jahrhunderte hindurch beschäftigt und deren Erlösungstheorien nachdrücklich bestimmt. Je mehr diese aber den Tod zum großen und objektiv verlaufenden Erlösungsgeschehen machten (Th. Schneider 1999; Körtner 1999), verfremdeten sie damit den ungelösten Kern dieser Bosheitserfahrung. Bis in die Gegenwart hinein spricht die römische Liturgie meist unkommentiert von einer „glücklichen Schuld“. Im 20. Jahrhundert hat sich die Verstehens- und Interpretationslage grundlegend geändert. Verstärkt wurde der Tod Jesu wieder historisch aus anthropologischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen heraus rekonstruiert. Zum Tragen kamen Elemente der Gesellschafts- und Ideologiekritik, der Gruppen- und der Religionspsychologie, der Macht- und Institutionenanalyse. Solche Rekonstruktionen wurden zur Kritik an institutionalisierter Religion, an macht- und traditionsbetonten Gesellschaften sowie am nackten Egoismus all derer, die durch den Appell an Gemeinschaft und Solidarität etwas zu verlieren haben. Das Kreuz wurde weltweit zum Kennzeichen mit einer doppelten Botschaft. Es gilt als Zeichen der Erlösung. An sich ist es aber ein durch und durch böses Ereignis, heute oft umschrieben als Zynismus und tiefste Demütigung, als Folter und Mord. Wahrscheinlich hat kein anderer Mord eine für Weltgeschichte und religiöses Bewusstsein so nachdrückliche Bedeutung erreicht. Dass und wie ausgerechnet dieses Unheilsereignis in der christlichen Tradition als Heilsereignis verstanden wurde, wird noch zu besprechen sein. Bei allen Heilsinterpretationen ist jedoch nicht zu vergessen, dass unterschwellig immer eine zweite Botschaft wirkt. Nach außen hin wurde Jesu Tod Anlass zu Versöhnung und Hass, nach innen blieb immer ein abgründiger Rest. Jesus wurde zum Gottessohn, der am Kreuz die Welt erlöste, blieb aber gemäß Matthäus (27,36) zugleich derjenige, der verzweifelt seine Gottverlassenheit hinausgeschrien hat. Er wurde gleichermaßen zum Dulder und zum Rebell vor Gott. Was von beiden war er wirklich? Historisch ist diese Frage nicht zu entscheiden, und beides liegt für biblische Glaubenserfahrung eng beieinander. An dieser grundlegenden und nie aufgelösten Doppelbödigkeit ist festzuhalten, wenn wir diesen Tod als paradoxes Zeichen des Heils weiter verfolgen.
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c) Missverstandene Lösungen Das schließt nicht aus, dass sich auch andere Interpretationen dieser Todeserfahrung bemächtigten. Es sind die Sühne- und die Opfer-, die Loskauf- und die Restitutionsinterpretation, die in der Alten Kirche beliebte dämonistische Interpretation sowie die Interpretationen, die sich auf die Ursündentheorie (Augustinus) und auf das Satisfaktionsmodell (Anselm von Canterbury) berufen. Sie alle verfingen sich (wenn vielleicht auch wider Willen) irgendwann in der Falle eines magischen Realismus mit den oft besprochenen sadistischen und masochistischen Folgen. Ihnen allen überlegen ist immer noch die Interpretation des Hebräerbriefs 4,14–10,18. Zwar schließt er sich völlig dem Opfermodell Israels an und lässt Jesus als den wahren Hohenpriester auftreten, zugleich aber ist mit Jesu Tod die Opferpraxis überwunden: „Wo die Sünden vergeben sind, da gibt es kein Sündopfer mehr“ (Hebr 10,18). Das heißt nicht, Jesus habe das zeitlich letzte Opfer aller Opfer dargebracht, wie man das oft interpretierte, sondern: Er hat dieses Denken, das Gewalt eben doch wieder mit Gewalt beantworten will (Girard, Schwager), in seiner Gefährlichkeit entlarvt und damit zu Ende gebracht. Von herausragender Bedeutung sind zwei weitere Interpretationen. Paulus gilt als der erste und grundlegende Theoretiker der Rechtfertigungsbotschaft schlechthin: Allein „durch Glauben, unabhängig von Werken des Gesetzes“ wird der Mensch gerechtfertigt (Röm 3,28). Ohne den Kontext einer sich dem Hellenismus öffnenden jüdischen Kultur wäre dieser Durchbruch nicht möglich gewesen. Was Paulus bei seiner dramatischen Bekehrungserfahrung aufgegangen sein muss, hat eine seiner Wurzeln in der religionskritischen und höchst beunruhigenden Erfahrung, dass auch auf das beste Glaubenssystem an sich, und stehe es moralisch, intellektuell oder spirituell noch so hoch, kein endgültiger Verlass sein kann; im Namen der Tora wurde selbst Gottes geliebter Sohn getötet. Genau dort, wo ein Glaubenssystem in die Enge getrieben wird, offenbart es ungewollt seine Schwächen. Das Gebot der Gottesliebe wird mit Gewalt erzwungen. Paulus reagiert mit radikaler Relativierung. Gott macht seine Zuwendung zum Menschen von keinen Versöhnungsleistungen abhängig. „Gott ist treu“ (1 Kor 1,9), und diese Treue kann durch keine Bosheit, nicht einmal durch die Perversion des Glaubens zu einem berechnend frommen Heilsegoismus zerstört werden. Die Erfahrung schlimmster Bosheit führt also zur Vertiefung des Glaubens an einen bedingungslos gütigen Gott (M. Theobald, Kertelge 1991). Auch an der Auferstehungsbotschaft interessiert in unserem Zusammenhang deren Reaktionspotential auf Jesu Tod. Diesem Tod eignet ja für damalige Wahrnehmung in erster Linie eine enorme, symbolisch ins Höchste
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verdichtete Bosheitsqualität, zumal der Tod im jüdischen Verständnis mit Gottferne und Identitätsverlust verbunden ist (Dohmen). Nun korrigiert Gott dieses Unrecht, indem er Jesus zum Leben erweckt, den Tod also in einer Neuschöpfung korrigiert. Das kann nur bedeuten: Gott behält Macht sogar über diesen verbrecherischen Tod; er bleibt also unbedingter Herr auch über das Böse (Kessler, Kremer). Wird damit das Böse verharmlost? Für die ursprünglichen biblischen Zeugnisse gilt das m. E. nicht; die Erinnerung an den Tod bleibt präsent. Bei späteren Auslegungen ist diese Gefahr aber nicht von der Hand zu weisen. Einerseits wird Gottes Macht zu einer Art abstrakt überzeitlichen All-Macht stilisiert, die alles Irdische, dessen Qualen eingeschlossen, verharmlost. Andererseits drohen Gottes Macht und Güte das Leid der Welt in einer Art Über-Welt zu überspielen. Oft wird das Böse zum Kennzeichen des irdisch vorläufigen Jammertals oder im Rahmen einer „soul making theodicy“ zum pädagogischen Mittel degradiert (Ammicht-Quinn, 229–231), der Tod Jesu zum reinen Heilsopfer instrumentalisiert oder zum reinen Heilsereignis spiritualisiert. Leiden wird masochistisch angeeignet und man dankt Gottes Güte, statt sich über Jesu Gottverlassenheit zu empören (Riess, Schenk). Für diese Fehlentwicklungen lassen sich drei Gründe anführen. Der erste Grund liegt in der antijüdischen Polemik, die schon das Neue Testament geprägt und sich später verschärft hat. Was Mose und das „Gesetz“, so die Polemik, nur vorbereiten konnten, wurde in Jesus Christus endgültig erfüllt (Joh 1,17). Dieser „Perfektionismus“, wie man diese Haltung nannte, führte zu einer unerwarteten Grundhaltung: Für die christliche Bewegung gilt die neue christliche Selbstidentifikation und Lebenspraxis jetzt nicht mehr als neue Herausforderung auf der Grundlage jüdischer Tradition, sondern der ganz andere, als endgültig jenseitige Heilsvollzug; das Neue Zeitalter hat begonnen (vgl. 1 Kor 2; Bakker). Der zweite Grund liegt im allmählichen Verlust des ursprünglichen Kontextes. Die Hellenisierung des Christentums und die damit verbundene Inkulturation in eine stark philosophisch und gnostisch geprägte Umwelt verliert jedes Gegengewicht. Ein dritter Grund liegt in der zunehmenden Einkleidung des Geschehens mit Metaphern, die antiken Opferreligionen entstammen. Man mag die Satisfaktionstheorie des Anselm von Canterbury aus vielen Gründen verteidigen, faktisch hat sie als die perfekte Rationalisierung dieses magischen Denkens gewirkt. Verdrängt wurde also die Tatsache, dass es im Kern christlicher Erinnerung um einen bleibenden Kampf zwischen Leben und Tod geht. Nicht ohne Grund wies E. Käsemann oft darauf hin, dass Paulus die Rechtfertigung nicht (wie Luther) als persönliches Beziehungsproblem, sondern als
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Machtfrage im Rahmen einer apokalyptischen Fragestellung begreift. In jedem Fall ist das die Kernfrage der christlichen Botschaft: Wer hat im Kräftespiel zwischen Leben und Tod letztlich die Macht? Leben wir im Machtbereich des Guten oder der Vernichtung, des Lebens oder des Todes? Christlich gesehen gibt es zur Hoffnung zwar allen Grund, aber erst am Ende der Zeiten ist die Frage ausgestanden.
d) Drei Perspektiven Das Christentum unterscheidet sich von anderen Religionen dadurch, dass am Beginn seiner Geschichte kein erfolgreicher, sondern ein scheiternder Prophet steht. Daraus ergeben sich für das Christentum drei Leitperspektiven, die die Bosheitsproblematik mit wechselnder Intensität integrieren. Die erste Perspektive lautet Personalisierung. Wie Jesus ein menschliches Individuum war, so trifft das Böse in erster Linie Personen. In seiner entscheidenden Mitte erweist es sich als Leiden und Tod. Letztlich ist die „Sünde“ nur von Interesse, sofern einzelnen Menschen oder Menschengruppen Schädliches, Erniedrigendes und Tödliches angetan wird. Es geht also um die Opfer und um die Täter; dabei wird Jesus zum Repräsentanten derer, die an Mitmenschen leiden. Die zweite Perspektive lautet: Macht als Versuchung zum Bösen. Die Liquidierung Jesu war zweifellos an Fragen von Macht und Ideologie, von religiöser und gesellschaftlicher Ordnung gekoppelt. Das Böse erscheint als die Tat von Menschen, die ihre Gewalt über Menschen als Träger politischer Macht und ideologischer Legitimation ausüben. Damit ist der christlichen Tradition ein bleibender gesellschaftskritischer Impuls eingegeben. Die dritte Perspektive lautet: Wenn Jesus am Kreuz sogar von Gott verlassen wurde (Mt 27,46), dann wird Jesu Tod, wie wir schon sahen, zur Anfrage an Gott. Mit dem Tod Jesu ist – modern ausgedrückt – die Theodizeefrage verbunden, wodurch in der christlichen Tradition jede Erfahrung des Bösen und des Leidens einen sehr ernsten Hintergrund erhält. Von Perspektiven ist die Rede, nicht von deren konkretem Inhalt. Die Erinnerung an Jesu Geschick weiß also von einem konkreten Lebensschicksal zu berichten, das für das Christentums eine universale symbolische Bedeutung erhielt. Doch ist noch einmal daran zu erinnern, dass sich die christliche Identität nicht von dem breiten Strom der jüdisch-kanonischen Schriften abkoppeln kann. Unverzichtbar bleiben deshalb auch für die christliche Religion die intensive Wahrnehmung von Krankheit und Vergänglichkeit, die Benennung von Not und Untergang, die Erfahrung
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von Leiden und Angst (Berger 1996, 1998). Es sind dies Fragen, die heute noch meist im Vorfeld von ausdrücklichen Sinnfragen verhandelt werden.
3. Antikes Erbe a) Misstrauen gegen die Welt Seit dem ersten Jahrhundert öffnet sich das Christentum der hellenistischen Kultur; kräftige Spuren sind schon in den neutestamentlichen Schriften zu finden. Später wuchs das Christentum in eine gnostisch bestimmte Welt hinein, die Heil und Erlösung in innerer Erleuchtung und auf Heilswegen suchte, die aus dieser Welt hinausführten (Jonas 1937). Heil erwartete man von Mittlern und Vermittlern; allgemein galt das sakrale Opfer noch immer als Heilsweg. Der Mensch leidet an seiner leiblichen Verfassung, wenn er den Leib nicht gar als böse wahrnimmt (Tarnas, 113–173). Das Christentum reagiert auf diese neue Situation mit einer intensiven spiritualisierenden Reflexion, mit einer sakramental orientierten Liturgie und mit der Ausbildung einer konsequenten Mönchstradition. Es waren die Theologen (in der Regel Bischöfe), die geistliche Erfahrung ausbuchstabierten. Es waren die Bischöfe und Priester, die im Gottesdienst den Glanz der himmlischen Herrlichkeit vorwegnahmen. Es waren die Einsiedler und später die Mönchsgemeinschaften, die ihre Heilszusagen ganz auf die Karte der Selbst- und Weltentsagung setzten. Gott näher zu sein, das hieß mit harter Verachtung das Leibliche zu züchtigen und Höchstleistungen der Askese zu vollbringen. Gott nahe zu sein, das bedeutete zugleich, sich den Verlockungen und den Angriffen der Dämonen (oder der bösen Geister) zu stellen und sich auf den heroischen Kampf mit ihnen einzulassen. Zwar ist das Christentum gegen allen platten Dualismus zu verteidigen; aber im Ost- wie im Weströmischen Reich wird Erlösung sehr intensiv als Befreiung von der Sphäre des Irdischen verstanden. Während zu Beginn der Epoche das gnostische Motiv vom Leib als dem Grab der Seele (das „sôma-sêma“-Motiv) im Mittelpunkt stand, setzt sich seit dem vierten Jahrhundert der Neuplatonismus durch, der konsequent die ontologisch unbedingte Überlegenheit des Geistigen über allem Materiellen propagiert. Zwar wird das Irdische nicht als das Böse identifiziert, aber es bleibt doch einem kontinuierlichen Anfangsverdacht ausgesetzt. An der Wende zum fünften Jahrhundert (vielleicht auf Grund wachsender politischer Instabilität) entsteht ein Weltpessimismus, der die Überwindung des Bösen zum Programm verschärfter Handlungsappelle macht. Dies war die Stun-
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de des Augustinus (354–430), der für die kommenden 1600 Jahre die Frage des Bösen im westlichen Christentum bestimmend prägen sollte.
b) Gottes- und Teufelsstaat Wie bekannt, war Augustinus einige Jahre Manichäer, also Anhänger einer ausgesprochen dualistischen Weltanschauung, die Materie und Welt als Gegenpol des Geistes ansieht und beides in einem (vermutlich) göttlichen Doppelprinzip begründet.5 In einem Prozess intensiven Suchens wendet sich Augustinus immer deutlicher gegen diese Theorie, erliegt nach Meinung vieler umso intensiver ihrem Geist. So hat sich auch in Augustinus, der 397 Bischof der nordafrikanischen Provinzstadt Hippo wird, ein höchst weltkritisches Daseinsgefühl herausgebildet6, das ihn zum vielfältigen Nachdenken über das Böse zwingt.7 Unter den Vorzeichen der hellenistischen Kultur entdeckt Augustinus ein Thema neu, das nach dem Abschied vom apokalyptischen Denken beinahe verloren gegangen war. Es ist die Geschichte, also eine sich zeitlich erstreckende Kontinuität von Ereignissen, die individuelle Lebenslängen überdauert. Augustinus entdeckt in ihr eine kontinuierliche Struktur von Mächten, die ihrerseits die freien Menschen bestimmen. Was hält diese Geschichte, die Erfahrung kontinuierlichen Leidens und der Unterdrückung (Körtner 1988) im Innersten zusammen? „Wie lange zögerst du noch, Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, Gericht zu halten und unser Blut an den Bewohnern der Erde zu rächen?“ (Offb 6,9). Diese Frage war zu beantworten. Bei Augustinus nun hat sich die Zeitperspektive entschärft. Zwar erreicht die Geschichte irgendwann ihr Ziel, aber die einzelnen Menschen werden ihr entgleiten und eingehen in Gottes Reich. Auch das Machtmotiv hat sich entspannt, denn jetzt rufen nicht mehr Getötete um Rache, sondern überblicken Wissende den Gesamtablauf. Nach Augustinus ist diese Geschichte ein ständig wogender Kampf zwischen zwei Gemeinschaften („Bürgerschaften“ oder „Städten“), der Gemeinschaft Gottes und derjenigen des Teufels (van Oort 1991). Konkreter Anlass zu diesen Zu Mani und Manichäismus: Merkelbach; Nagel; Widengren; zum Manichäismus Augustins: Geerlings 1971, Lee, van Oort 2001. 6 In Psalmos 121,1: „Wir ermahnen euch also nicht, dass ihr nichts liebt, sondern wir ermahnen euch, die Welt nicht zu lieben; damit ihr ihn, der die Welt geschaffen hat, in Freiheit liebt“ (CCL 40,1801). 7 Häring 1979, 1999, 94–100. Zu Augustinus’ Freiheitsverständnis: Dinkler; Evans; Flasch 104–111, Geerlings 2002; O’Connell. 5
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Überlegungen wurden für Augustinus die Erschütterungen des Reiches durch die Einfälle neuer Völkerschaften aus dem Norden sowie die altheidnische Überzeugung, nur die Rückkehr zur alten Religion könne Rettung bringen. Aber Augustins Antwort überschritt diese Fragestellung bei weitem. Seine Arbeit „Vom Gottesstaat“ (De civitate Dei) geriet mit seinen 22 Büchern zu seinem größten Werk (dessen jüngste deutsche Übersetzung gut 1700 Seiten umfasst; Thimme). In ihm verarbeitete er alles, was in das kollektive Gedächtnis seiner Zeit eingegangen war; er hat also alles Vergangenheitswissen, das biblische eingeschlossen, unter eine einheitliche Perspektive gestellt. Das Werk wurde zugleich zur glänzenden Verteidigung des christlichen Glaubens, dessen Anhänger dem „Teufelsstaat“ (civitas diaboli) Widerpart bieten (Kamlah). Damit ist ein weiteres Generalthema angedeutet, das späteres Denken des Christentums nachdrücklich prägen wird. Das Böse zeigt sich als der entscheidende Kampf- und Machtfaktor, zugleich als die entscheidende Triebfeder menschlicher Geschichte. Bis in die Gegenwart hinein ist diese Thematik nie mehr aus dem europäischen Geschichtsbild verschwunden. Es wird ins Mittelalter übernommen, dort von Joachim von Fiore (1135– 1202) auf seine Problemlage hin modifiziert und sorgt dort zum ersten Mal für erhebliche politische Unruhe. Über die klassische Lehre der Sieben Zeitalter des Danielbuchs hinaus fügt er nämlich einen Zeitindikator hinzu und verschärft damit wieder den apokalyptischen Akzent. Dem Zeitalter des Vaters (Altes Testament) und dem petrinischen Zeitalter des Sohnes (Kirche bis in seine Gegenwart) folgt jetzt das johanneische Zeitalter des Heiligen Geistes (West). Was sich hier abstrakt trinitarisch liest, bedeutet in Wirklichkeit eine Kampfansage an den damaligen Zustand der Kirche und einen flammenden Appell, mit dem Bösen in ihr endlich aufzuräumen; sogar Franziskus von Assisi (1181–1226) wird bald als Widerpart des Antichrist in das Gedankengebäude aufgenommen. Deshalb entfaltet sich ein hartnäckiger Streit um die wahre Franziskus-Nachfolge (Potestà), um die Ablehnung der „fleischlichen“ Kirche zu Gunsten der „Geistkirche“ (Feld). Die Revolution des charismatischen Cola di Rienzo (1347) in Rom gab für den Kampf um Gerechtigkeit und Frieden konkreten Anschauungsunterricht. Die Nachwirkungen dieses Konzepts wirken bis weit in die Neuzeit hinein (Congar, 118–128). Zwar bedeutete Augustins Werk auch einen Rückzug aus der Politik, aber unbestritten ist ebenso, dass seine universalgeschichtliche Utopie den Grundstein für die modernen universalgeschichtlichen Friedensutopien gelegt hat (Flasch, 400). Für unser Thema ist die Kehrseite dieser Medaille von Interesse, denn immer wieder versucht man, das Böse in der Geschichte zu denunzieren
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und zu vernichten. Man denke an die linken Reformatoren und an die Achse des Bösen. Man denke an den Aufruf zur Unterscheidung zwischen Gut und Böse in der berühmten „Betrachtung über die zwei Banner“ in den Exerzitien des Ignatius von Loyola (1491–1556; Sievernich-Switek), deren Wirkung auf den katholischen Klerus der Neuzeit kaum zu überschätzen ist. Bei Kant und Hegel gerät der Gedanke zur Fortschrittsidee; das Böse wird sozusagen von selbst überwunden, bei K. Marx zur gewaltsamen Revolution. Wie sehr sich im 20. Jahrhundert dann namentlich die katholische Kirche auf unerträgliche Kompromisse mit der politischen Rechten einließ, um nur den Kommunismus vernichten zu können, und wie selbstverständlich nach 1945 die Lagerbildung von Ost und West christlich und wiederum antikommunistisch legitimiert wurde, das zeigt etwas von der bleibenden Faszination der augustinischen Geschichtstheorie. Das alles war nicht im Sinne Augustins, aber zu dieser Entwicklung hat er entscheidend beigetragen. Am Schluss löst sich dann alles in jenseitiger Erfüllung auf. Fünf Weltalter sind nach ihm verflossen, ein jedes mit einer bestimmten Zahl von Generationen. Dem sechsten weist er (anders als Joachim von Fiore) keine Grenze mehr zu, „und es lässt sich nicht nach einer bestimmten Zahl von Geschlechterfolgen begrenzen“. Apokalyptische Ungeduld ist also der meditativen Schau ins Zeitlose gewichen. Das Siebte und ansonsten höchst dramatische endgültige Zeitalter führt deshalb ins Jenseits. Es ist der Sabbat, die große Ruhe. „Da werden wir feiern und schauen, schauen und lieben, lieben und preisen. Ja wahrhaftig, so wird es sein, am Endziel ohne Ende“ (Ende des Buches 22). Alles Böse wird dort überwunden sein. Wirklich? In gegenwärtiger Bezugnahme auf dieses Werk wird meistens vergessen, dass das vorletzte Buch vom weniger glücklichen Ende der Verdammten, also von der endlosen Feuerqual derer spricht, denen Gottes Barmherzigkeit nicht zuteil wird. Es muss am Ende, wie Augustinus andernorts sagt, um der kosmischen Ordnung willen (nur) so viele Gerettete geben wie Engel von Gott abgefallen sind. So hat sich ein dualistisches Gleichgewichtsdenken durchgehalten; die christliche Tradition muss sich fragen lassen, ob und wie konsequent sie die jesuanische Botschaft von Gottes vorbehaltloser Güte wirklich durchgedacht und durchgearbeitet hat. c) Ererbte Ursünde Streng genommen denkt Augustinus nicht in politischen oder gesellschaftlichen Größen. Sein zentrales Operationsmodell ist das Selbst, d. h. das Ich, wie er es vor Gott oder vor sich selbst erfährt. Zugleich ließ dieses
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Ich bei Augustinus eine tiefe Ohnmachtserfahrung zurück. P. Ricœur prägte für diese Paradoxie den Begriff der „gefangenen Freiheit“, Hinweis auf die innere Dialektik, die unser Wollen immer bindet (Ricœur 1971). Anthropologisch ist heute unumstritten, dass kein Mensch über seine Freiheit verfügen kann, wie ich über ein Objekt verfüge. Schließlich gibt es in meiner Geschichte immer Bindungen, soziale Prägungen und unheilvolle Zusammenhänge, denen ich mich auch in größter Freiheit nicht entziehen kann. Natürlich lassen sich für solche Erfahrungen immer auch biographische, psychologische oder spirituelle Gründe nennen (Minois). Ein jedes Menschenleben beginnt sozusagen mit dem Optimismus naiver Selbstvergessenheit und steuert auf den Punkt zu, an dem ich meine Freiheit (auswählend, nehmend und verzichtend) auf mich nehmen muss. Kierkegaard spricht von der damit verbundenen Angst, vom „Schwindel der Freiheit“, die mich in Distanz zu mir selbst bringt (Häring 1999, 115f.). Augustinus hat als erster abendländischer Denker versucht, die Grenze menschlicher Freiheit mit dem Postulat zurechenbarer Verantwortlichkeit zu vereinen (Minois). Kern der neuen Theorie ist (anders als im Traktat über den freien Willen) der Machtcharakter des Bösen, das den Einzelmenschen nicht von außen her in die Knie zwingt, sondern dessen Freiheit von innen her korrumpiert.8 Weil aber alle Menschen in freier Bejahung dieser Unfreiheit von innen her erliegen, ist die Menschheit insgesamt von Gott verdammt. Sie erscheint jetzt als „massa damnata“9, als ein Lehmklumpen, den der Töpfer formen oder verwerfen kann (Jer 18,6).10 Wie kann Augustinus zu dieser Lösung kommen? Mit unseren Geschichtserfahrungen lässt sich seine Verzweiflung an der Menschheit wohl nachvollziehen. In biblischer Symbolwelt heißt das: Adam hat der Menschheit die Zukunft verdorben. Sie hat aber auch etwas zutiefst Unchristliches, weil sie die Hoffnungsdynamik der jesuanischen Botschaft unterschlägt. Missverständnisse der Schrift tun ein Übriges: Die Römerbriefstelle 9,12, gemäß der Gott „Jakob liebt und Esau hasst“, wird von Augustinus falsch im Sinne eines reinen Willkürgottes ausgelegt (Kraus, 301–306). Und falsch ist die Rede von „Adam, in dem alle Menschen gesündigt haben“ (Röm 5,12d; Käsemann, 138–140). Adam also sei es geDie innere Verkehrtheit des Herzens verwirrt nicht nur das Begehren, sondern auch die Erkenntnis (Evans). Vgl. dazu die moderne Problematik von Ideologie und Ideologiekritik (Pannenberg, 111–116 zur Macht der Lüge). 9 Ad Simplicianum I, 2, 16 (CCL 44, 42); vgl. Häring 1979, 192–205. 10 Augustinus hat den Akzent von Röm 9,20 (wo Jeremia zitiert wird) zu Ungunsten menschlicher Freiheit verschoben. Ähnliches gilt für Jer 45,9 (Häring 1979, 192 f., 311f. 8
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wesen, der seine Freiheit vor Gott im Namen aller Menschen verloren hat11. Damit hält eine unglaublich unbarmherzige Theorie Einzug in das westliche Christentum. Die gesamte Menschheit wird recht- und heillos gegenüber Gott, bevor ihre Geschichte überhaupt beginnt. Wer in die ewigen Höllenqualen verdammt wird, kann Gott daraus keinen Vorwurf machen. Es ist die Theorie von der „Ursünde“ (peccatum originale), die man später gerne „Erbsünde“ nennt. Ob es eine wirkliche „Vererbung“ der Ursünde gibt, bleibt bei Augustinus immer unklar. Wichtig bleibt für ihn das Indiz, dass Zeugung immer mit Lust – und damit mit Sünde – verbunden ist (Häring 1979, 224; Wils, 268–271). Trotz vieler Milderungen (M. Müller, Weger, Pannenberg, 258–285) bleibt ein Stachel zurück (U. Baumann 1990). Augustinus ist von zwei gegenläufigen Erfahrungen bestimmt. Da ist, wie schon gesagt, seine eigene Ohnmachtserfahrung, die Betroffenheit durch das Böse mit all seinen Abgründen, das die Menschen bis in ihr Innerstes bestimmt (Eichinger). Aber dagegen steht für Augustinus auch die konkrete Erfahrung eines unergründlich guten Gottes, der sein Heil in grenzenloser Fülle anbietet. Es ist für ihn die Erfahrung einer Kirche, die dieses Heil in unerschöpflicher Weise vermittelt. Als Seelsorger lässt sich Augustinus auf ein höchst gefährliches Spiel ein, das sich später bei Luther wiederholen sollte. Es ist eine Dynamik des Gegensatzes, die sich in vielen Bekehrungsgeschichten wiederholt. Denn den von Gott verdammten Menschen steht in wunderbarer Entsprechung nun der neue Weg der Rettung offen. Man mag bei Augustinus die Dramatik dieser Gegensätze noch nachvollziehen. Später gerät sie zu einer nüchternen Doktrin. Dann ist es, als sprächen diejenigen vom Ertrinken, die das Wasser höchstens von ferne sahen.
d) Von der Würde des Menschen Wer ein Auge für die inneren und äußeren Abgründe der Menschen hat, versteht zumindest, warum sich diese Theorie bis in die Gegenwart hinein gehalten hat. Dieses Sündenverständnis hat das Christentum immer wieder zu differenzierter Introspektion, zur Suche nach den verborgenen Trieben, zur täglich vollzogenen „Unterscheidung der Geister“ geführt. Eine psychologische Entschlüsselung des von Augustinus Signalisierten legt sich heute nahe. Allerdings huldigte das Christentum keiner psychologischen, sondern einer theologischen Theorie; es ging ihr nicht um die Innenschau subjek11
Ad Simplicianum I, 2, 16 (CCL 44, 42); vgl. Häring 1979, 192–205.
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tiver Erfahrung, sondern um ein zerbrochenes Verhältnis zu Gott. So wehrt sich eine bleibende Kritik an der Erbsündenlehre dagegen, dass die innere Bosheitserfahrung seit Augustinus nicht als paradoxe Innenerfahrung formuliert, sondern zu einer Theorie entwickelt wird, die man später immer perfekter rationalisierte (Condreau). Zu Unrecht wurde die kollektive Unheilserfahrung zu einer göttlichen Verdammung objektiviert. Nicht ohne Grund wurde die Erbsünde an der Schwelle zur Neuzeit zum Stein des Anstoßes; an diesem Punkt trennte sich die Philosophie von ihrer natürlichen Schwester, der Theologie. Die Erfahrung der Bosheit wurde zu einer Art ständiger Selbstverdammung verdinglicht, die Kirche zum einzigen Schoß des Heils überhöht. Leider kann die Geschichte der neuzeitlichen Religionskritik auch als ein Kampf um die unveräußerliche Würde des Menschen gelesen werden. Dass man damit die reale Schuldund Unheilserfahrung oft verdrängte, ist der hohe Preis, den man für diesen Kampf in einem Prozess der Gegen-Verdrängung bezahlte. Mit unserer Darstellung stehen wir noch mitten in der Antike. Aber dieser Wandel zeigt exemplarisch, was mit der Erfahrung der Bosheit geschieht, wenn sich eine Heilsinstitution ihrer bemächtigt. Die Verhältnisse werden objektiviert und stabilisiert. Menschen werden zu Sündern ein für alle Mal, und die Kirche bietet in ihren Riten und in ihren Institutionen Rettungsmittel an. Jetzt endlich ist Zeit, darauf hinzuweisen, dass sich diese Darstellung vorrangig auf das westliche Christentum konzentriert. Die Stichworte der verantwortlichen Freiheit und des durch Adams Fehltritt bedingten Unheils („Erbsünde“) haben im Westen mehr Bedeutung als in der östlichen Reichshälfte erhalten. Dort bleibt das Böse vorrangig in einen kosmologischen und in den heilstheologischen Zusammenhang von Tod und Auferstehung eingebettet; in der Liturgie wird der Vorschein der himmlischen Herrlichkeit gefeiert. Umso erstaunlicher ist es, dass in dieser Frage zwischen Ost und West keine Spaltungen entstanden sind.
4. Zwischen Verinnerlichung und Imagination Im frühen Mittelalter zeichnen sich im Blick auf die Lehre vom Bösen keine Aufsehen erregenden Änderungen ab. Doch bedeuten das 12. und 13. Jahrhundert mit ihrer Wende zu einem der Welt zugewandten Denken für die Frage des Bösen eine unmerkliche Verschiebung. Man spricht von einer „steigenden Flut weltlichen Denkens“, was schließlich zu (modern gesagt) starken humanistischen Tendenzen führt. Thomas von Aquin (1225–1274) präsentiert eine traditionelle, ausgewogene und umfassende Analyse des Bosheitsproblems. Er verbleibt im magischen Dreieck von
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„Beraubung an Gutem“, individueller Freiheit und vererbter Schuld, doch unterzieht er die Thematik einem nüchternen analytischen Zugriff. Der geradezu mythische Schuldcharakter der „Ursünde“ wird jetzt nüchtern differenziert und von der persönlich verantworteten Schuld sorgsam unterschieden (Sertillanges, I, 195); die innerhalb der Ehe vollzogene Sexualität gilt jetzt definitiv nicht mehr als Sünde (M. Müller), und die Möglichkeiten der Hölle werden mit scharfen Bedingungen umstellt (Vorgrimler). Vielleicht muss sich der Schrecken vor dem Bösen deshalb nicht mehr so dramatisch auswirken, weil es in Liturgie und Brauchtum ständig bearbeitet wird und weil inzwischen auch die priesterliche Vollmacht zur Vergebung der Sünden eindeutig geregelt ist.
a) Mystik und Volksfrömmigkeit Doch wäre es Sache der Mentalitätsgeschichte, hier nun eine merkwürdige Aufspaltung zu verfolgen. Neben dem nüchternen theologischen Geschäft entwickeln sich – zumal gegen Ende des 13. Jahrhunderts und mit besonderer Breitenwirkung im Rheinland – eine intensive Frömmigkeit und eine Mystik, in denen von jetzt an auch die abgründige Erfahrung des Bösen zu Hause ist.12 Bei ihr ist vom Bösen in der klassischen Bedeutung des Wortes kaum die Rede. Vielmehr bleibt sie beim Konkreten, bei der Erfahrung der Nacht und des Dunkels, bei Zweifel und Verzweiflung, beim Ineinander von Wirklichkeit und Schein, von unerträglicher Einsamkeit und Qual, beim Selbstverlust als Voraussetzung zur Neugeburt sowie bei der Paradoxie dessen, der heilen sollte, aber zu zerstören scheint. Entgegen allen Vermutungen waren gerade die großen Mystikerinnen und Mystiker vom Leiden der Menschen getroffen und sozial engagiert (Sölle). Es ist die ganzheitliche, die praktisch unterbaute und die streng auf das Subjekt bezogene Wahrnehmung, die den distanziert analysierenden Ansatz der amtlichen Theologie überwindet (M. Schneider) und die machtverwöhnte Kirche von damals verunsichert. Nicht ohne Grund hat die scholastische Theologie diese Mystik immer wieder in eine Randposition gedrängt. Exemplarisch seien genannt: Mechthild von Magdeburg (1207–1282), Hadewijch (1. Hälfte des 13.Jahrhunderts) und Angela von Foligno (1248–1309), Meister Eckehart (1260–1328), Heinrich Seuse (1293–1366), Jan van Ruusbroek (1293– 1381), Johannes Tauler (1300–1361), Katharina von Siena (1347–1380); später dann Ignatius von Loyola (1491–1556), Teresa von Ávila (1515–1582), Johannes vom Kreuz (1542–1591), schließlich Marie Guyart (1631–1672). In der Regel wird die Perspektive des Bösen nicht verhandelt (Haas, Sudbrack, Ruh). 12
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Noch eine zweite Linie der Bosheitserfahrung verdient Erwähnung. Es ist die vielfältige Alltagsfrömmigkeit der Bevölkerung auf dem Land und in der beginnenden Stadtkultur. Sie beginnt wohl mit den prägenden Bestandteilen einer archaischen, einer naturverbundenen und vielleicht magisch geprägten Religiosität. Es sind fließende Begriffe, die hier beschreiben und nicht bewerten sollen. Immerhin geht es um einen Lebensalltag, in dem die Erfahrungen von Elend und Not, von Hunger und Armut, von Krieg, Naturkatastrophen und gesellschaftlicher Gewalt, von Krankheiten und Schicksalsschlägen noch ungeschmälert vorherrschen. So stabilisiert sich – neben und innerhalb christlich reflektierter Religiosität – ein neuer Kosmos der Bosheitserfahrung von destruktiver Sprengkraft; es ist für unsere Begriffe eine Welt des Irrationalen und der Magie. Dieses sich in Schutz- und Beschwörungshandlungen (in Segens- und in Fluchworten, in Vorsichtsmaßnahmen und unheilabweisenden Symbolen) chaotisch und vielfältig ausdrückende Denken ist anderen Religionen vergleichbar (Frazer, 783–839). Erst in der Zeit der Aufklärung wurde diese Kultur zurückgedrängt. Erst so entstand das Bild eines rational geregelten und entzauberten Glaubenssystems (Thomas 1971). Vorerst blieb auch die christliche Welt noch mit Kräften des Bösen und der Bosheitsabwehr bevölkert. Aber es waren – einer alten Tradition gemäß – nicht nur überirdische Teufel und Dämonen, deren Natur und Wesen genau definiert war (Böcher, Petersdorff, Winklhofer). Die Kräfte des Bösen wurden auch in menschlichen Personen, in Tieren und in Dingen verortet. Da gibt es neben den heiligen auch verfluchte Orte, Höhlen oder Haine, Orte böser Erinnerung, an denen sich geschehener Frevel fortsetzt. Da gibt es Handlungen, die zu meiden sind, wenn man nicht das Unglück auf sich herabrufen will, oder Handlungen, die das Böse bannen. Man heilte und machte krank, brachte sakramental-liturgische Handlungen (Hostie, Kreuz oder geweihtes Wasser) zu magischer Praxis oft in eine gefährliche Nähe (Burnett). Die Nacht der Jahreswende etwa war dicht besetzt mit Unheil vertreibenden Ritualen; so wurde das Böse des Alltags im Voraus schon gebannt. Da gibt es Tiere, die mit dem Bösen in besonderer Verbindung standen. Dazu gehörten Pferde oder Katzen, Kröten oder der nächtliche Ruf des Kauzes (Lurker). Solche magische Frömmigkeit hielt sich bis ins 17. Jahrhundert hinein (Thomas) durch und wurde im Laufe der Zeit eher durch einen höheren Bildungsstandard als durch einen gereinigten Glauben ersetzt (van Dülmen, 55–106). Dass die reformatorische Tradition zu einer sensibleren Unterscheidung beigetragen hat, ist unbestreitbar. Wie die Erfindung des Blitzableiters das Ende des Wettergottes bewirkte, so die Erfindung der Impfung das Ende ungezählter Zaubersprüche und
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des Bösen Blicks. Gleichwohl ist die Rückseite der Medaille nicht zu vergessen. Wie alle Religionen, so hatte auch das Christentum in seiner vorwissenschaftlichen Epoche eine breite Pragmatik konkreter Bosheitsbewältigung entwickelt. Sie schuf Gefühle der Sicherheit. Sie umgab die Lebenswirklichkeit der Menschen mit einem Mantel der Interpretationen, die als Puffer zwischen Gottesglaube und der harten Alltagswirklichkeit ihren Dienst taten. Es bleibt ohnehin die Frage: Sind solche Symbolisierungen ersatzlos verschwunden oder wurden sie nicht durch sublimere ersetzt? Was bedeuten heute, religionspsychologisch gesehen, Auschwitz und Archipel GULAG, die Zwillingstürme des World Trade Center in New York und der AIDS-Virus als Menschheitsgeißel schlechthin, Atomwaffen und all jene Personen, die als die großen Schurken ihrer Zeit in unsere Erinnerung eingegangen sind? b) Ketzer, Hexen und Dämonen Während Magie und Alltagsfrömmigkeit über die Normalität der christlichen Religion Auskunft geben, ruft der folgende Punkt zum Nachdenken auf, weil er eine der größten Gefahren des Christentums offen legt. Es ist zunächst der Umgang mit solchen Menschen, die man als Hexen oder als Besessene, als zu Bösem verdammte oder als von Gott verfluchte Missetäter gebrandmarkt hat. Das Problem ist, dass solche religiös motivierten Ausgrenzungen das Böse nicht aufarbeiteten, sondern durch neues Unrecht potenzierten. Zu nennen ist die Ketzerverfolgung durch das Rechtsinstitut der Inquisition, die sich spätestens seit 1231 ein ständiges Hausrecht erworben hat (Kieckhefer) und bis in die Gegenwart als Exponent eines ausgesprochen unbarmherzigen und menschenverachtenden Umgangs mit Dissidenten gilt. Zu nennen sind die regelmäßig wiederkehrenden Progrome gegen die Juden (Bein); zu nennen ist die Kreuzzugseuphorie, die das Europa des 11. und 12. Jahrhunderts überzog (Mayer), sowie die Begeisterung, mit der man seit Beginn des 16. Jahrhunderts Südamerika und später andere Kontinente „entdeckte“ und eroberte (Schmitt). Eine geradezu pathologische Sucht der Eroberung und Expansion hatte sich seitdem Europas bemächtigt (Gründer, Delgado). Dazu gehört auch die Geschichte der späteren Hexenverfolgung, deren Höhepunkt im 16. und 17. Jahrhundert anzusiedeln ist (Decker, Schormann). Die Angst vor irrationalen Kräften äußerte sich als Hass gegen Frauen und als deren systematische Verteufelung. Nach allgemeinen (und äußerst schwierigen) Schätzungen wurden zwischen 100000 und einer Million Opfer (davon bis 80% Frauen) gedemütigt, verflucht, gequält und getötet. Nicht minder grausam konnte der Besessenheitswahn sein, der heute noch (in Europa und sonst wo) anzutreffen ist.
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Dieser Besessenheitswahn beansprucht noch immer ein christliches Heimatrecht, denn noch heute lebt in vielen Kreisen der „Glaube“ an einen persönlichen Teufel und an Dämonen (Russell 1981; 2000). Nun lässt sich bei aller Kritik nicht leugnen, dass das Neue Testament den Teufel u. a. als Versucher Jesu in der Wüste nennt, auch wenn ihn Jesus, wie es an anderer Stelle heißt, „wie einen Blitz vom Himmel fallen“ sah, der Teufel also seine Rolle, wie auch immer, ausgespielt hat.13 Aber auch noch für M. Luther war die Welt voller Teufel (Obermann) und ein wirksames Mittel, die Erfahrungen des Bösen besprechbar zu machen (Ricœur 1971). Es konnte nicht ausbleiben, dass die Kirche auch hier als Heilsbringerin und mit dem Anspruch auftrat, Teufel verjagen zu können (Haag 1974). Noch heute gehört der Exorzismus (als Akt ausdrücklicher Teufelsaustreibung) zu den offiziellen Riten der katholischen Kirche und zur Praxis kleiner christlicher Gruppierungen, vom starken öffentlichen Echo auf Einzelereignisse oder filmische Präsentationen ganz zu schweigen. Noch heute wird diese Praxis zum Anlass entweder absurder Ablenkungsmanöver oder einer neuen Destruktivität, da die Opfer nicht von ihrer Rolle gelöst, sondern auf sie fixiert werden. Manches Opfer würde noch leben, hätte es stattdessen Zuwendung oder eine fachkundige Therapie erfahren; dieser Gesichtspunkt wird gerne bei neueren Überlegungen vergessen, die den Vorstoß von Haag unter Aufklärungsverdacht stellen (Claret).
c) Das Böse erfahren und ernst nehmen Die Rede vom Teufel ist in der christlichen Tradition ein typischer Fall der Interaktion zwischen Religion und Kultur. Viele christliche Theologen fürchten, ohne diese Redeweise ließe sich die Übermacht des Bösen nicht mehr in Vorstellungen und Worte fassen. Andere betonen zu Recht, dass dem Teufel keine reale Existenz zukommt. Diskriminierung und Außenseitertum, faszinierter Satanskult und destruktive Praktiken bis hin zur Folter und Tötung von Menschen sind möglich. Der teils unbefangene Umgang mittelalterlicher und frühneuzeitlicher 13 Die Debatte um Existenz und Wesen des Teufels wurde in den siebziger Jahren intensiv geführt (Haag 1974). Sicher besteht zur Benennung von übermenschlich Bösem Symbolisierungs- und Sprachbedarf. Das legitimiert weder die Zuschreibung von Besessenheit noch Teufelsaustreibungen mit deren fürchterlichen Inszenierungen. An diesem Streitpunkt einen vermeintlich größeren Glauben gegen nüchterne Kritik auszuspielen, ist theologische absurd (Claret; Baudler; Haag 1974, Haag 1978). Der Katholische Erwachsenenkatechismus (Kevelaer u. a. 1985) entspricht nicht einem wissenschaftlich verantwortbaren Diskussionsstand.
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Kunst mit Teufel und Dämonen zeugt eher von einem allgemeinen Weltbild als von spezifisch christlicher Identität. Oft treten die Teufel als MitAkteure in irdischen und in himmlischen Ereignissen auf. Aus guten Gründen fiel es der Theologie immer schwer, hier eine Grenze zwischen wahrer Frömmigkeit und Aberglauben zu ziehen. Während bei Paulus zu lesen ist, dass Christen von den Mächten der Unterdrückung endgültig befreit sind (Gal, Kol, vgl. Luther), zeigt sich später, dass die Angst vor diesen Mächten offensichtlich zur ambivalenten Grundausstattung religiöser Menschen gehört. So zeigt sich in der Bosheitsgeschichte des Christentums: Die Spannung zwischen ursprünglicher Bosheitsüberwindung (die durch die Todeserfahrung Jesu möglich wurde) und einer immer neu aufbrechenden Bosheitserfahrung wurde zwar immer wieder besprochen und begangen, konnte aber nie gelöst werden. Offensichtlich haben Theologie und Glaube gerade dann versagt, wenn sie das Böse für gelöst hielten oder glaubten, man könne es mit dem Einsatz von Macht oder Gewalt lösen. Problematisch ist also nicht die Tatsache, dass dem Bösen faktisch auch Christen immer wieder verfielen. Problematisch ist der gewalttätige (bisweilen naive, oft aber höchst arrogante) Anspruch, der sich in den besprochenen Phänomenen äußerte. Es ist die scharfe Diskrepanz zwischen Selbstbild und Wirklichkeit, die das Böse auf die Ebene der laufenden Selbstrechtfertigung potenziert.14 Wer die wahre Erfahrungsqualität des Dämonischen nämlich begreifen will, sollte nicht theologische Lehrbücher, sondern allenfalls Hieronymus Bosch, den Isenheimer Altar oder die Gedenkstätte eines Konzentrationslagers zu Rate ziehen. Dort wird man vielleicht begreifen, warum es sich auch heute noch rationaler Verfügbarkeit entzieht, geht es doch um die immer neue Interaktion von Menschen und verlockender Macht, von Menschen und Waffen, von Menschen und Manipulation. Sollte das Christentum allerdings in Bescheidenheit davon ausgehen, dass es Unheilserfahrungen zur Kenntnis zu nehmen und nicht selbst zu definieren hat, dann käme es seinem selbst gesetzten Ziel näher. Tut es das nicht, dann wird es weiterhin den Dualismus produzieren, zu dessen Überwindung es angetreten ist.
14 Aus diesem Grund wird dem Christentum immer wieder Dominanz, Unbarmherzigkeit und Gnadenlosigkeit vorgeworfen (Blumenberg; Amery; Richter; Schnädelbach).
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5. Die Widersprüche der Neuzeit a) Verinnerlichung der Sünde Mit dem Beginn der Neuzeit änderten sich zwar keine Einzelaussagen über das Böse, grundlegend aber ändern sich die Alltagserfahrungen und der Umgang mit ihm. So wird die Darstellung von hier an schwieriger. Das hat damit zu tun, dass es die westliche Kultur lernt, diese Welt immer mehr aus sich heraus zu begreifen (Blumenberg), aber auch damit, dass es jetzt zwischen philosophischem und spezifisch theologischem Denken zu einer grundsätzlichen Spaltung kommt (Häring 1979, 239–265). Es vollzieht sich ein elementarer Paradigmenwechsel, auf den Luther höchst sensibel reagierte (Pesch, 80–201; 176–188). Gleichzeitig blieb er den spätmittelalterlichen Voraussetzungen verhaftet. Das lässt sich an seinem Streit mit Erasmus von Rotterdam (1466–1536; Augustijn 1986) im Jahre 1525 zeigen. Luther entdeckte die Rechtfertigungslehre des Paulus – vermutlich 1518 – neu. Dies lief im Laufe der kommenden Jahre auf eine Kritik all jener Praktiken hinaus, mit der die Kirche Böses und Schuld handfest überwinden wollte. Der Christ musste jetzt seine Befreiung vom Bösen ebenso wenig an kirchliche Institutionen delegieren wie seine Vorsorge für das ewige Heil, die in der Ablasspraxis auf ärgerlichste Weise fiskalisiert war. Jetzt stand jedes Individuum in einer unmittelbaren Begegnung vor Gott; damit erhielten auch Böses und Schuld eine neue und explosive Bedeutung. Anders als Erasmus machte sich Luther nicht das Bild vom zuinnerst freien Menschen zu Eigen, der jetzt selbst über Heil oder Unheil bestimmen kann (Häring 1989; Kerlen; Kohls). Luthers und Calvins Lehre von der Vorherbestimmung zeigten es noch schärfer: Letztlich ist es immer noch Gott selbst, der souverän und ohne jede Einspruchsmöglichkeit über Unheil und Heil bestimmt. Es ist und bleibt allein Sache Gottes, den Einzelnen zu retten oder zu verdammen (Kraus). Die Lehre von der Vorherbestimmung („Prädestination“ genannt) erreicht bei Calvin noch eine Zuspitzung: Wenn jemand verdammt wird, dann eben deshalb, weil Gott ihn verdammen will (Baumann 1970). Ausgerechnet am Beginn der Neuzeit hat das Böse eine bislang unerhörte Härte erreicht, erscheint Gottes Heilswille vor einem Abgrund von erschreckend allmächtiger Willkür (Kraus). Eine ganze Kultur ist später von diesem Allmachtskomplex aber so geprägt, dass sie ihn nicht überwinden kann (Richter). Wie ist diese Engführung möglich? Vielleicht prallen die Widersprüche in Luthers genialer Konzentration noch dramatischer als im Mittelalter aufeinander. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (Adorno 1951), das gilt auch für Religionen. Immerhin hatte sich Luther
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im Jahre 1521 mit der großen Programmschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ weites Gehör verschafft, und mancher hört darin das Programm eines neuen emanzipierten Selbstbewusstseins. Als Erasmus aber mit einem Traktat „Vom freien Willen“ antwortet, da wehrt sich Luther vehement mit seiner Schrift „Vom versklavten Willen“ (Häring 1989). Den Menschen spricht er jetzt jede eigene Freiheit vor Gott zum Guten ab; angesichts der Erbsünde werde der menschliche Wille vom Teufel geritten: „So ist der menschliche Wille in der Mitte hingestellt, wie ein Lasttier; wenn Gott darauf sitzt, will er und geht, wohin Gott will … Wenn der Satan darauf sitzt, will er und geht, wohin Satan will. Und es liegt nicht in seiner freien Wahl, zu einem von beiden Reitern zu laufen und ihn zu suchen, sondern die Reiter selbst kämpfen darum, ihn festzuhalten und in Besitz zu nehmen“ (Pesch 183). Für die Neuzeit war damit ein nie gelöster Grundsatzstreit über das Verhältnis des Menschen zum Bösen vom Zaun gebrochen. Das Problem beginnt wohl damit, dass Luther jetzt die soziale Dimension des Bösen relativiert. Das Ausmaß des Bösen kann nur als Sünde vor Gott, also vom Glauben her ermessen werden. Es gerät damit zum „reinen“ Glaubenssatz und zur inneren Projektion. Es entfaltet eine Dynamik, die kaum mehr kontrollierbar wird. Nur wer an die Bosheit des Menschen auf Grund von Gottes Wort glaubt, kann vor Gott bestehen. Eine paradoxe Situation ist entstanden. Formal müssen Christen von der prinzipiellen Unheilssituation der Menschen überzeugt sein. Der Mensch sieht sich als Täter und als Opfer des Bösen, ohne dies empirisch überprüfen zu können. Luther überschreitet damit eine höchst gefährliche Grenze, denn wie bei Augustinus werden Opfersein und Schuldigsein identisch. Der Kampf gegen die Bosheit wird mit der Sorge um die eigene Rettung identisch. Im neuzeitlichen Christentum bleibt diese Verinnerlichung und Spiritualisierung der Bosheitsfrage bis in unsere Gegenwart hinein virulent. Lutheraner mühen sich um das rettende Vertrauen auf Gott; Katholiken hielten sich weiterhin an die Sakramente sowie an den Lohn ihrer Werke. Alle suchen im Grunde ihr innerlich-individuelles Heil. In jedem Fall hat die Erfahrung des Bösen ihre kreative Kraft nach außen eingebüßt. Es ist, als sei das Böse zum Beginn der Neuzeit derealisiert worden, als sei es implodiert und als habe es nur noch ein Schwarzes Loch hinterlassen, das jetzt alle religiöse Kraft absorbiert. Es gibt kaum eine zweite theologische Theorie in der Neuzeit, die die Menschen gegenüber Gott so verunsichert hat, statt ihnen Freiheit zuzusprechen. Natürlich ist auch dies ein globales Urteil, aber die Konzentration auf das eigene Seelenheil ist offenkundig (Delumeau). So kommen die Erfahrung des wirklichen Bösen und das Nachdenken
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darüber bis zu den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zum Stillstand. Es verwundert nicht, dass die philosophischen Grundfragen des Bösen allmählich an Bedeutung gewinnen.
b) Rationalisierungen des Problems Das war nur konsequent, denn allmählich zeigte sich wieder die Bedeutung der philosophischen Grundentscheidungen, die allem christlichen Reden vom Bösen vorausgingen. Schon im 4. Jahrhundert hatte die Philosophie der Theologie des Bösen einen wichtigen Dienst erwiesen, den Ambrosius von Mailand (339–397) und sein Schüler Augustinus als Erste übernehmen. Gemäß seiner ontologischen Qualität, so diese These, hat das Böse kein eigenes Sein; es geht vielmehr um Mangel an Güte, um dessen „Beraubung“ (privatio boni)15 (Häring 1979, 34 f.; 50–53). Um ihre Bedeutung zu verstehen, kann man einen ontologischen, einen konkret funktionalen und einen allgemeinen Ordnungsaspekt unterscheiden (Hermanni, Schönberger). Der ontologische Aspekt besagt, dass das „Böse“ an sich ein Nichts ist, also keinerlei positive Qualität hat. Dieser Aspekt spiegelt sehr genau die biblische Überzeugung, dass Gottes Schöpfung an sich gut und nichts als gut ist. Er schützt zudem Gottes Güte und Schöpfermacht, denn ein „Nichts“ kann von Gott nicht geschaffen sein. Zudem ist es ja eine spezifische Leistung des Schöpfungsglaubens, dass er die Nichtigkeit des Bösen aktiv durchschaut (und sich so mit einer buddhistischen Grundüberzeugung trifft). Die Definition konnte voll zur Geltung kommen, nachdem Plotin eine streng hierarchische Seinsordnung entwickelt hatte, die nur noch ein Oben und ein Unten kennt.16 Der funktionale Aspekt weist darauf hin, dass es nie um einen abstrakten Seinsmangel geht, also nicht um die banale Abwesenheit von etwas, das auch gegenwärtig sein könnte. Nein, es geht jeweils um das konkrete Fehlen von etwas „Gutem“, einer sinnvollen, gar wichtigen Möglichkeit und Funktion. Gemeint ist der schädigende und peinigende Mangel einer Qualität. Krankheit ist der Mangel an Gesundheit, Einsamkeit der Mangel an Liebe oder Gemeinschaft, Hunger bedeutet Nahrungsmangel, Tod das Ende des Lebens; Augustinus nennt die Blindheit die Beraubung des Augenlichts. Hinzu kommt schließlich der allgemeine Ordnungsaspekt. Er sieht das Böse als (begrenztes) Chaos, das zu bewältigen ist, oder als einen Funk15 16
Billicsich I, 221–286; Flasch; Hermanni; Krämer. Zur Auseinandersetzung mit Plotin s. Krämer; Puech; Schlette; Schubert.
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tionsmangel, der sich von einem höheren Standpunkt aus als sinnvoll erweisen kann.17 So kann Schmerz Lebensschutz und Krankheit Stärkung der Gesundheit bedeuten. Dieser Standpunktwechsel verflüssigt wertende Urteile und zeigt, wie unlösbar Gutes und Böses in einer endlichen Welt miteinander verquickt sind. Er leitet dazu an, das Böse vom Fluchtpunkt der vorgegebenen Bewegung, vom Guten her zu denken (Nordhofen). In den drei genannten Aspekten überkreuzen sich philosophisches Denken, Lebensweisheit und existentielle Alltagserfahrung. Das ist wohl der Grund für die ungeheure Stabilität dieser Definition und für die Sogwirkung, mit der sie die ursprüngliche, biblisch-prophetische Dynamik absorbierte. Die Definition behielt deshalb nicht lange ihr Monopol. Ich beschränke mich auf zwei Schwerpunkte, die Neuaufnahme der Theodizeefrage und die Abkehr von der Negativdefinition. Die Sache der Theodizee hat eine lange Geschichte. Der Begriff („Rechtfertigung Gottes“) wurde von G. W. Leibniz (1646–1716) eingeführt und meint den Versuch, Gottes Existenz und Güte mit Vernunftargumenten gegen die Einwände des Bösen und des Leidens zu rechtfertigen.18 Das Problem wurde schon in der Antike bei Epikur (341–279 v. Chr.) formuliert und beantwortet (Häring 1999, 128–131; Lactantius, 103). Leibniz versucht es 1710 mit einem breiten Arrangement von Argumenten zu lösen.19 Er führt den Begriff des „metaphysischen“ Übels ein, um klar zu machen, welche entscheidende Rolle Grenze und Endlichkeit für die Problematik spielen. Nach Leibniz leben wir in einer bestmöglichen Welt, in der wir Menschen frei handeln und doch in einer Art höheren Ordnung verbleiben. Es mögen vor allem die Gebildeten, weniger die Frommen gewesen sein, die sich von diesem optimistischen Entwurf überzeugen ließen. Mehr Eindruck hat auf sie 1755 das Erdbeben von Lissabon gemacht, dem 30 000 Menschen zum Opfer fielen. Es war die Stunde Voltaires (1694– 1778; Pomeau), der in einem Lehrgedicht daraufhin die Theodizee für gescheitert erklärt.20 Im „Candide“ hat die Sache ein Nachspiel. Nach allem Scheitern beginnt der Held, seinen Garten zu bestellen. Das ist eine Art 17 Auch die Ordnungsdiskussion wurde von Augustinus in die (westliche) christliche Theologie eingeführt: Häring 1979, 73–136; Häring 1999, 53–60. 18 Literatur zur Theodizee: Geyer; Hick; Hermanni; Hünermann; Janssen 1992; Küng 1967; Künzli; Nnamani; Oelmüller 1992; Schumacher; Sparn; Streminger; Swinburne; Urban/Walton. 19 Zur Diskussion zu Leibniz: Aiton; Enge; Gesang; Geyer; Günther; Hübener; Kreiner; Neuhaus; Sparn 19–41; Wiehart-Howalt. 20 Poëme sur le désastre de Lisbonne 1755 ou examen de cet axiome: TOUT EST BIEN, in: Voltaire, 183–204.
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praktischer Theodizee, die aus der Lage eben das Beste macht, indem sie die Situation mit eigener Arbeit verbessert. Optimismus war den Alltagserfahrungen nicht beizubringen und I. Kant (1724–1804) stellt dann 1791 das „Misslingen“ des Projekts fest.21 Kant macht auch deutlich, dass jeder Theodizeeversuch scheitern muss, und fordert mit dem Begriff der „authentischen Theodizee“ Akte intellektueller Redlichkeit statt blinden Glaubens ein. Darauf komme ich später zurück.
c) „… dasjenige, das schadet“ Damit waren auch die Möglichkeiten der klassischen Philosophie erschöpft, doch hatte sie ihre Möglichkeiten nicht ausgereizt. Allmählich kam sie nämlich zur Entdeckung, dass das Böse nicht einfach als negative Qualität, sondern von seinen Wirkungen her zu bestimmen ist, die sich positiv umschreiben lassen. Es geht um den Mut, das Bedrohliche und Schädliche zu entdecken, von dem unsere Wirklichkeit durchdrungen ist. Diese Entwicklung leitete definitiv den Abschied von einer plotinischen Metaphysik ein und verhalf der Religion, wieder näher zu sich selber zu kommen. Dazu einige Beispiele: Zu nennen sind Existentialismus (S. Kierkegaard) und Materialismus (K. Marx), Darwinismus (Ch. Darwin), Psychoanalyse und Tiefenpsychologie (S. Freud, C. G. Jung [Battke; Beck]), schließlich der Nihilismus von F. Nietzsche. Sie alle weisen dem Bösen je auf ihre Weise einen neuen Platz zu. Schon I. Kant sprach von einem „radikal“, einem angeborenen Bösen, das auf kein Nichts hin relativiert werden kann.22 Damit wurde der klassische Optimismus der philosophischen Anthropologie zum ersten Mal beschädigt. S. Kierkegaard (1813–1855) löst in seinem Werk Der Begriff Angst die Chiffre Adams als historische Figur auf.23 Er entdeckt die Unschuld des „träumenden Geistes“, gefolgt von Angst und innerer Zerrissenheit, nachdem sich das „Schwindelgefühl“ der ersten Freiheit einmal gemeldet hat. In entgegengesetzter Perspektive hat für K. Marx (1818–1883) das Böse mit der konkreten Situation und den materiellen Interessen der Men21
In Kant, Bd. 8; Lit.: Ammicht-Quinn; Geyer; Heintl/Nagl; Rommel; Sparn 42–
62. 22 I. Kant, Das erste Kapitel von „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (665–705) handelt „Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten: oder Über das radikale Böse in der menschlichen Natur“. Lit.: Gerhardt/ Kaulbach; Jaspers; Lötzsch. 23 Kierkegaard; Dietz; Disse; Fischer; Hansen; Schrey; Theunissen.
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schen zu tun. Es geht deshalb um Weltveränderung, also um Abschaffung von Leid, Unrecht, der gesellschaftlichen Widersprüche (Küng 1978, 251–298). Wie aber soll das geschehen? Ch. Darwin (1809–1882) hat dem westlichen Bewusstsein nachdrücklich eingeprägt, dass die Evolution des Lebens ohne Aggression, Kampf ums Dasein und ohne das Prinzip der ständigen Auslese gar nicht denkbar sei.24 S. Freud (1856–1939) lenkt den Blick wieder nach innen, jetzt aber aus der Perspektive des empirisch forschenden Arztes. Er entdeckt in anderer Weise die Abgründe der menschlichen Psyche sowie innerpsychische Konflikte, die für das Werden des Menschen geradezu lebensnotwendig sind. Seine Bedeutung für die spätere Entwicklung von Religion und Religiosität kann kaum überschätzt werden. Relevant sind nicht die konkreten Theorien (ähnlich wie bei Marx oder Darwin gelten heute viele als widerlegt), sondern die neue Qualität des Sehens. Ob hier Jung oder Adler, Anna Freud oder V. Frankl, C. R. Rogers oder E. Fromm, J. Lacan genannt werden, sie alle haben ihre Wege zum selbstfähigen Ich entwickelt und damit die Religion entweder korrigiert oder ergänzt, ihr zu größerer Nüchternheit oder einem neuen Selbstverständnis geholfen. Neues diagnostisches und heilendes Wissen ist in das Selbstverständnis der christlichen Religion eingegangen. F. Nietzsche (1844–1900) – Kritiker einer Kultur, die an ihrer inneren Aushöhlung zu Grunde geht – bringt diese Diagnose in der Metapher vom Tod Gottes zum Ausdruck (Biser, Küng 1978, 383–469). In seiner Christentumskritik bedient er sich einer provozierenden und verunsichernden Antikritik. Er stellt sich als ein Verteidiger von Unwerten dar, der den Tod Gottes als höchste Tat der Menschheit preist. Die Auseinandersetzung mit Nietzsche hat gezeigt, zu welch zerbrechlichen Folgerungen die Frage nach dem Lebenssinn führt. In säkularer Form hat Nietzsche die Fragen neu formuliert, mit denen sich schon Augustinus und Luther, Pascal und P. Bayle auseinander gesetzt haben und die inzwischen von postmodernistischen Denkern aufgenommen wurden. Bei diesem Philosophieren handelt es sich in der Regel um eine Kritik um einer besseren Religion willen. Sicher ist, dass Theologie und Kirche die gestellten Fragen nicht befriedigend aufgenommen, also die konkrete Vielfalt dessen, das abstrakt böse genannt wird, nicht integriert haben. Im Blick auf den heutigen Sprachverlust von Glaube und Theologie verhelfen die Neuorientierungen dazu, das Spiel von Bösem und Rettung konkreter, neu, gar als das Sprachspiel der Moderne zu verstehen (Bauman). So gibt die aktuelle Christentumskritik der christlichen Religion wieder die Fra24
Altner; Clark; Denker, 19–30; Heberer 1964; Hull.
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gen zurück, die sie durch eigene Perspektivverengung verharmlost oder vergessen hatte. Es geht um die Neuentdeckung, dass das Böse (wie Augustinus sagt) konkret eben dasjenige ist, das schadet. Es ist das Allgegenwärtigste, das in unseren Alltag verflochten ist.
d) Wie das Böse eingeordnet wird Die christliche Tradition hat das Böse in der Regel auf vier Ebenen behandelt. Es ist erstens ein Geschehen in größeren Zusammenhängen, es ist zweitens frei gewollte Tat, drittens geschichtliches Verhängnis und viertens Anlass zu Fragen an Gott. Die zweite und die dritte Ebene wurden ausführlich behandelt, weil sie in der christlichen Religion eine besondere Rolle spielen. Auf die vierte Ebene, die alle Religionen betrifft, werde ich noch eingehen. In diesem Abschnitt geht es um die Einordnung des Bösen in die je größere Ordnung; sie ist in der Neuzeit zu einer wichtigen Randbedingung der christlichen Auseinandersetzung geworden. Christliche Moraltheologen behandeln sie seit einigen Jahrzehnten mit besonderem Misstrauen: Wer das Böse in größere Zusammenhänge einordne, betreibe nur Verharmlosung. Nun ist in der christlichen Tradition unbestritten, dass frei gewollte Bosheit nicht zu rechtfertigen ist (Bexell, Fromm); der Zweck hat noch nie die Mittel geheiligt. Christlich gesehen wäre es blanker Zynismus, wollte man im Blick auf ein „höheres“ Gut das Opfer von Menschenleben in Kauf nehmen. Aber die Wirklichkeit ist komplizierter. Es gibt nicht nur Konfliktfälle, in denen Übel gegen Übel abzuwägen sind, sondern auch die Einsicht, dass der Übergang von einem Übel zum Guten gleitend sein kann. Er bemisst sich nach der Funktion, die ein Ereignis im größeren Zusammenhang hat. Auch in anderen Religionen hat diese Erkenntnis eine religiöse Bedeutung. Man denke an den ständigen Ausgleich von Gegensätzen in chinesischen Weisheitsreligionen (Küng 1988) und an die feste biblische Überzeugung, dass Gottes Schöpfungswerk im Ordnen des Chaos besteht, die Welt also durch Ordnungszusammenhänge lebbar wird: „Du hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“ (Weish 11,20). Wer das Böse nämlich an diesem Punkt realistisch betrachtet, leistet für das Gute einen wichtigen Beitrag. Es stärkt die Ordnungskräfte gegenüber der Destruktion, ruft dazu auf, sich die Gesetzmäßigkeiten der Welt zunutze zu machen. Dadurch wird das Böse in seiner Wirkung begrenzt. Nun hat in der Neuzeit der methodisch geschulte Blick auf die geordnete Welt zu ungeahnten Erfolgen geführt. Eine religiös motivierte Hoffnung auf eine bessere Welt prägt die Moderne. Zwar wäre ein naiver Fortschrittsglaube töricht, der die Vernetzung von vor- und nachteiligen
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Prozessen verkennt (Griffin; Oomen) und die Selbstbeschädigung des Menschen in seinen Verstrickungen übersieht, aber den Möglichkeiten gegenwärtiger Weltgestaltung können sich auch Christen nicht verschließen. In der biblisch-griechischen Tradition des Christentums hat sich eine besonders effektive Neigung zur Weltbeherrschung herauskristallisiert. Sie motiviert zur Bestreitung des physischen Übels, steigert aber auch die Verfügbarkeit über die Natur und führt dazu, dass die Entwicklung ethischer Regeln dem menschlichen Handeln immer deutlicher hinterherhinkt. Diese Diskrepanz hat sich in der Epoche beschleunigter Globalisierung nur noch verschärft (Küng 1993). Solch rationales Weltdenken hat sich dem Christentum früh eingeprägt (Schupp, 55–258). Augustinus schrieb schon in jungen Jahren einen Traktat „Über die Ordnung“, in dem sich die antike Idee vom universal geordneten Kosmos niederschlägt.25 Albert der Große (ca. 1200–1280) gilt als hervorragende und einflussreiche Größe für die Botanik und Zoologie seiner Zeit (Lohrum). Allerdings bricht diese Neugier an Welt und Natur seit dem 16. Jahrhundert aus ihrer religiösen Integration aus. F. Bacon (1561– 1626) etwa begreift Natur-Wissen nun ausdrücklich als Macht über die Natur und streift alle religiösen Rahmenbedingungen ab. Er entwirft die Utopie (das „Neue Atlantis“) einer wissenschaftlich-technisch gesteuerten Welt, die sich ethischer Regeln entledigen kann (Epstein, Krohn). Th. Hobbes (1588–1679) nimmt dieses rationale Denken auf, um es auf die Gestaltung des Staates zu übertragen.26 Es geht darum, auf dem höchst friedlosen Weg der Unterdrückung von Egoismus Frieden zu erzwingen. Unterwerfung unter Machtansprüche ist seitdem die entscheidende Kategorie neuzeitlicher Staatslehren geblieben (Pannenberg, 440). Das Böse wird als Herrschaft des Staates potenziert, Aggression und Gegenaggression in einen gefährlichen Kreislauf zusammengeschlossen. Es scheint, als wäre der Weg zur „Brutalisierung der modernen Welt“ (Hacker) vorgezeichnet. Diese Ausdifferenzierung nüchterner Ordnungszusammenhänge hat von Glaube und Theologie aus viel Widerstand geweckt, konnte aber nie befriedigend beantwortet werden. Denn so wie in einem chaotischen System letztlich das zählt, was sich als System im Chaos erweist, zählt beim Zerstörerischen der Natur letztlich nur das, was sich als deren positive Gestaltung kenntlich macht. In letzter Konsequenz muss auch das Böse in ein fundamentales Differenzdenken übernommen werden: Auch das Gute 25 Lit.: Allgemein: Brown; Flasch; zu Augustins Plotinismus: Boyer; Mühlenberg; zum Traktat über die Ordnung: Rief; Zuiderna. 26 Höffe; Koselleck/Schnur; Willms.
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lässt sich nur als „Kampf“ gegen das Böse, also nicht ohne dessen Bestreitung verstehen. Die utopisch-messianischen Modelle einer rundum versöhnten Welt, in der der Wolf beim Lamm wohnt (Jes 11,6), beschreiben den gegenwärtigen Zustand nicht, sondern schaffen Handlungsziele. Es ist zum Verständnis des Bösen in der christlichen Religion äußerst wichtig, dass diese konkrete und pragmatische Einordnung in das Weltganze nicht übersehen wird. Das neuzeitliche Christentum hat diesen konkreten Hintergrund in seiner wachsenden Fixierung auf weltdistanzierte Kategorien wie Übernatur, Rechtfertigung und Gnade gerne verdrängt. Umso destruktiver wirkte und wirkt sich konkretes, vom religiösen Bereich ausgeschlossenes Handeln aus. Damit zeigt sich noch einmal die prinzipielle Schwierigkeit, das Böse im Weltganzen ohne Widersprüche zu erfassen. Natürlich können die prophetischen Religionen das Böse (Gewalt, Unrecht, Lüge oder Untreue) nur als etwas erfahren, dem kompromisslose Ablehnung gilt; es kann und darf nicht funktionalisiert werden. Während aber die prophetische Tradition das Böse in seinen inneren Verästelungen aufspürt, vermittelt die Weisheitstradition eine andere Botschaft: Im Blick auf das Heil der Welt lässt sich die Wirklichkeit des Bösen immer neu relativieren, nie aber aufheben. Jesus selbst ist an dieser harten Wahrheit gescheitert, weil gerade seine Güte tödliche Destruktion provozierte. Was sich so als Spannung zwischen konkreter Unordnung und höherer Einordnung zeigt, macht eindeutige Handlungsmaximen schwer. Im (reagierenden) Alltagshandeln stehen Christen wie alle Menschen im Dauerkonflikt zwischen kompromissloser Ablehnung des Bösen und dessen gleichzeitiger Duldung. Allerdings ermöglicht der messianische Erwartungshorizont auch eine aktive Relativierung des jetzt Machbaren auf eine bessere Zukunft hin. Es geht darum, das Überleben von Mensch und Welt in langfristigen Prozessen zu sichern – etwa im Wachsenlassen von gerechteren Strukturen, in Spiralen der De-eskalation, in der allmählichen Hinführung zu Regeln der Demokratie und weltweiter Solidarität. Auf diesem Handlungssektor hat das Christentum zwar keine besonderen Handlungsregeln, aber Zielvorstellungen anzubieten, die seine Identität prägen. Zwar konnte sich die Bergpredigt nie als Normsystem für das Alltagshandeln durchsetzen, war aber immer als eine messianische Leitidee gegenwärtig. Monastische Lebensformen etwa hatten immer die Funktion eines kritischen Gewissens. So gehören auch große Figuren der Christentumsgeschichte zur Gesamtinspiration zur Überwindung des Bösen hinzu. Genannt seien stellvertretend für viele: Franz und Klara von Assisi, Thomas Morus und Maria Ward, Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz, F. Bodelschwingh, Sophie Scholl und Martin Luther King, Dietrich Bonhoeffer und Oscar Romero.
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e) Geschichte von Schuld und Verlust Es war schon immer der Stolz und die Gefahr des Christentums, dass es seine Botschaft nach außen bekannte und zugleich versuchte, dessen Kraft und Wahrheit mit eigener Leistung zu erweisen. Die neuzeitliche katholische Theologie hat dies sogar ausdrücklich legitimiert. In der Gegenwart versucht die katholische Kirche immer wieder, als die unübertreffliche Wahrheitsinstanz gegenüber der Welt aufzutreten. Ein solcher Versuch ist jedoch kontraproduktiv. Er schafft den Eindruck einer geistlichen Arroganz, die sensible Zeitgenossen als unerträglich empfinden. Auf unser Thema zugespitzt könnte man sagen: Wesentliche Teile dieses Christentums präsentieren sich gerne als Überwindung des Bösen. Sie übersehen dabei, dass genau dies ihre Wahrheit widerlegt. Es gehört ja zu den Stärken der christlichen Religion, dass sie keine unverbindliche Botschaft verbreiten, sondern Teil dieser Botschaft werden will. Christinnen und Christen haben für ihren Glauben Vorbild zu sein. Damit hat man vor allem in Epochen überzeugt, in denen sich das Christentum im Aufschwung befand; jeder Fehler konnte von verfügbaren Gegenbeispielen her korrigiert werden. Seit der Aufklärung begann sich die Lage zu verändern. Das Christentum wurde immer mehr von seinen Leistungen her beurteilt und geriet zur moralischen Anstalt. Seit dem Beginn der Moderne hat sich die Situation noch einmal zugespitzt. Zunächst wurde die christliche Religion auf ihre offiziellen Institutionen verengt, dann stellte sich in diesen Institutionen eine Haltung der Unbeweglichkeit und Selbstverteidigung ein. Jetzt zeigte sich bald: Die Kirchen haben neuzeitliche Probleme nicht gelöst, sondern institutionell verfestigt. Man hat im Umgang mit schwierigen Fragen keine Antworten mehr entwickelt, sondern Konflikte verfestigt. Sie sind Teil christlicher Schuldgeschichte, denn sie besagen zugleich Kommunikationsverweigerung und Zuweisung von Schuld. Ich werde vier solcher Differenzierungen nennen. Dabei interessiert mich weder die moralische Schuldfrage noch die Ursachenfrage, sondern die religionswissenschaftliche und theologische Frage: Wie zeigt sich in dieser Fehlentwicklung ein grundsätzliches Unvermögen von Kirchen christlicher Religion, mit einem bestimmten Problem umzugehen? Spaltung der Kirchen Seit der Reformation haben sich die Auffassungen über den Umgang mit dem Bösen geteilt. Zunächst bilden sich eine protestantische und eine katholische Lebensform heraus. Während sich die katholische Lebensform stärker auf die überkommenen vor-modernen Lösungen stützt, organisiert
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die protestantische Lebensform den Umgang mit dem Bösen aus der Perspektive der Rechtfertigungsproblematik. Der Blick der katholischen Tradition bleibt vorrangig auf die messbare und beherrschbare Seite des Bösen gerichtet; man denke an die Prachtentfaltung des Barock. Die Beurteilung des moralisch Bösen erhielt seine Maßstäbe vom messbaren Handeln her; im Visier standen die „Sünden“ als konkrete Einzeltaten, die korrigiert, vergeben, notfalls abgebüßt werden. Die protestantische Tradition hingegen konzentriert sich auf die „Sünde“ als eine menschliche Grundhaltung, also auf den Stolz gegenüber Gott und die Weigerung, Vergebung aus seiner Hand zu empfangen. Man blickt vorrangig auf die innere Dimension, die sich letztlich allen äußeren Maßstäben entzieht. Damit hängt die protestantische Überzeugung zusammen, dass der Mensch im Kern Sünder ist, wenn im besseren Fall auch „gerechtfertigt und Sünder zugleich“; seine „Natur“ ist durch Adams Sünde bleibend beschädigt. Dieses protestantische Verständnis des Bösen knüpft eng bei Augustinus an und hat, wie schon gesagt, zu dessen strenger Verinnerlichung geführt. Die katholische Seite belässt es hingegen bei der Rede von einer „Verwundung“, die durch die Gnadenmittel der Kirche hier und jetzt schon geheilt werden kann (Lohse). Um die innere Deutungsbreite des Christentums zu verstehen, sollte keiner der beiden Aspekte aufgegeben werden. Während die katholische Linie primär auf der nüchternen und effektiven Überwindung des Bösen besteht („… was nützt es, wenn einer sagt, er habe Glauben, aber es fehlten die Werke?“; Jak 2,14), deckt die reformatorische Linie die Missbräuche, Selbstgefälligkeiten und die kirchlichen Heilsberechnungen auf. Schließlich ist ja die Rechtfertigungslehre das Entlarvungsinstrument innerer Korruption schlechthin, sie legt alle Immunisierungsstrategien offen. Sie bürgt für das vorbehaltlose Vertrauen auf Gott (Gen 15,6), das alle destruktive Selbstrechtfertigung überholt (Brosseder, Greive). Zwei Erkenntnisse lassen sich daraus ziehen. Die erste zeigt, wo das Schwergewicht christlicher Bewältigung von Schuld liegt. Es liegt nicht im Begehen spezifischer Wege der Schuldbewältigung, sondern im Vertrauen darauf, dass sie in Gott möglich ist. Gleichzeitig sind wir auf konkret irdische Wege der Schuldaufarbeitung angewiesen. Doch hat die Sorge um diese Vergebung zu neuen Zerwürfnissen, zu hartnäckigen Religionskriegen und bleibender Spaltung geführt. Trotz intensiver theologischer Anstrengungen und breiter Formalkonsense (Echelmeyer; Lohse) und trotz des korrekt freundlichen Gesprächstons gelang es bislang den Kirchen nicht, ihren Status als Konfliktparteien zu überwinden (Communio Sanctorum). So lebt das westliche Christentum noch immer in einem tief reichenden Selbstwiderspruch. Wie anders könnte das Wissen um Konfliktüberwindung zu strukturellen Konflikten führen?
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Konflikt zwischen Philosophie und Theologie Faktisch gehen Philosophie und Theologie in der Neuzeit getrennte Wege. Im Blick auf die Bosheitsproblematik scheinen sie sich in sinnvoller Weise zu ergänzen. So wird die Theodizeefrage zunächst innerhalb der Philosophie entfaltet, die distanziert und so argumentieren kann, dass religiöse Antworten den rationalen Diskurs nicht vorschnell überrollen. Darin bestätigt sich die Vermutung, dass eine religiöse Tradition nicht alle Aufgaben selbst lösen muss. Umgekehrt greift die Theologie komplizierte anthropologische Grenzfragen auf, so etwa Freiheit und Verantwortung, das Verhältnis von persönlicher Moralität und Weltgestaltung, die kaum objektivierbare Verflechtung von Geschichte und Subjekt. Durch diese Interaktion erhielt die Frage des Bösen während der Neuzeit auch innerhalb der Theologie einen enormen Reflexionsschub. Allerdings hat christlicher Glaube in der Neuzeit oft als Katalysator, nicht als Problemlöser gewirkt. Toleranz- und Demokratiegedanken wurden entwickelt, um die Aggression genau jener Religion zu zähmen, die heute stolz darauf ist, dass solche Gedanken im Schoße „ihrer“ Kultur entstanden sind. Dass das Christentum in der Neuzeit selbst ein hohes Reflexionsvermögen erwies, ist unbestritten. Aber sein Preis war oft der Mangel an konkret humaner Handlungsfähigkeit. Dieses Problem wurde im 19. Jahrhundert virulent und kam im 20. Jahrhundert zum Austrag. Die Kirchen selbst wurden in ihrer Wahrheitsliebe zu Elendsfaktoren ersten Ranges. Offensichtlich gibt es in der christlichen Religion eine Diskrepanz zwischen Versöhnungswille und Versöhnungsfähigkeit. Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären? Trennung von Theorie und Praxis Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsteht für das klassische christliche Denken eine unerhörte Herausforderung. Die Stichworte lauten Praxis, Materialismus und Ideologiekritik. Das erste Stichwort besagt: Gott will eine bessere, eine veränderte, nicht eine schön interpretierte Welt. Das zweite Stichwort deutet darauf hin, dass – seit Plotin zum ersten Mal – der Materie endlich eine philosophische Würde zugestanden wird, die durchaus den biblischen Intentionen zur Überwindung der Bosheit entspricht. Bosheit und Güte realisieren sich ganz grundlegend in materiellen Verhältnissen. Während der Begriff des „Materialismus“ darauf hinweist, dass Menschen und Welt nicht in erster Linie als Geist, sondern als materielle Wesen zu begreifen sind, weist der Begriff der „Praxis“ darauf hin, dass alles Denken immer schon auf bestimmte konkrete Situationen zu beziehen ist. Das dritte Stichwort „Ideologiekritik“ macht schließlich deutlich, dass
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jedes, also auch das konkrete „christliche“ Denken von der aktuellen Lebenssituation, von den konkreten Interessen und Erfahrungen gesteuert wird. Selbst das göttlichste und zentralste Offenbarungswort kann auf diese Einbettung nicht verzichten. Es bedarf keiner ausführlichen Erklärung, warum diese Ideen auf die Dauer reinigend gewirkt haben. Möglicherweise nahm die Ideologiekritik unter veränderten Bedingungen genau dasjenige Kritikpotential auf, das Luther schon in seiner Rechtfertigungslehre formuliert hatte. Worin liegt die Sprengkraft dieses Ansatzes? Sie liegt in der Tatsache, dass Übel und Unrecht, dass die Unfertigkeit und Verletzlichkeit, die ständige Ausbeutung und Manipulation von Menschen, dass die ständige „Verdrehung“ des Erkennens durch Interessen jetzt ernst genommen und kritisch auf christliches Denken selbst angewendet werden. Langfristig musste diese neue Sicht explosiv wirken, denn es erhärtete sich ein schlimmer Verdacht: Durch den frühen Hellenisierungsprozess, durch die Partnerschaft mit dominierenden Kulturen hat der christliche Glaube – im Blick auf das Böse formuliert – seinen Biss, seine zentrale messianische Dynamik verloren. Gemeint sind die Parteilichkeit für die Opfer, die Bereitschaft zu einem solidarischen Leben sowie der entschiedene Wille zur realen Veränderung der Verhältnisse. Kurz, die ursprüngliche politische Dynamik dieser durch und durch prophetischen Religion ging verloren. Je mehr das Christentum diese Neuinterpretation akzeptiert, umso eindeutiger kann es die Frage nach dem Bösen wieder beantworten und seine Identität wieder aus dem Grau eines verwaschenen Gottesgedankens herausführen (Bloch, 9–11). Ergebnis: Christentumskritik In ihren kulturellen Umbrüchen bestritt die Moderne auch die Existenzberechtigung des Christentums. Das bedeutet: Die drei genannten Polarisierungen (Reformation, Philosophie und Materialismus) lassen sich als Herausforderungen an das institutionell verfasste Christentum insgesamt verstehen, sich seiner prophetischen Dimension endlich wieder zu stellen. In der vierten Differenzierung wird das Christentum selbst zum Objekt der Kritik, es sei unwillig oder unfähig geworden, den Kampf gegen das wirklich Böse durchzusetzen, statt ihm die Legitimation zu rauben. Die doppelsinnige Losung, Religion sei „Opium für das Volk“, fasst diesen Vorwurf in einer plastischen Metapher zusammen. Dem Christentum wird „Vertröstung“ und Täuschung vorgeworfen. Gegen die vertröstenden Interpretationen der Religion stehen eine ungerechte Welt, die Abwesenheit von Sinn sowie Absurdität menschlicher Existenz.27 Jede re27
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ligiöse Deutung lenkt so von der eigentlichen Wirklichkeit ab und will zu einem gesellschaftlich-kulturellen Wohlverhalten verführen. Faktisch wird der christliche Glaube so mit der Kritik konfrontiert, er leugne die Existenz oder die ausweglose Wirksamkeit des Bösen; er wolle oder könne die Bosheit der Welt nicht entlarven; er betreibe aus Gründen der Dummheit oder des Egoismus keine Auseinandersetzung mit dem in der Welt so offenkundigen Bösen. Viel Einzelkritik ist inzwischen zum banalen Klischee erstarrt. Dabei hat das Christentum des Westens den Preis dafür bezahlt, dass es (das einst als aufmüpfige Proletarierreligion begann) seit über eineinhalb Jahrtausenden auf Seiten der politisch Herrschenden stand. Hat man das Problem erkannt? Einer alten Tradition zufolge erkannte Johannes Paul II. zwar vielfältigste Schuldverstrickungen an, er weigert sich aber, die Kirche selbst „schuldig“ zu nennen. Das ist symptomatisch für ein Christentum, das die Dramatik von gut und böse noch immer spiritualisiert. Dagegen lautet die Frage ganz einfach: Wie sind Christen mit Gewalt, mit Rassismus und patriarchalischen Missständen umgegangen? Von diesem Gesichtspunkt aus ist das Christentum als eine Religion grandioser Schuldgeschichte zu begreifen, vielleicht gerade deshalb, weil die Überwindung des Bösen ein so zentraler Bestandteil seines Programms ist.
f) Geschichte der Selbstinfektion? An diesem Punkt siedelt sich das Grundparadox des neuzeitlichen Christentums an; es ist das Paradox eines Christentums, das sich wegen seines Eifers für die gute Sache mit Rechthaberei und Moralismus blockiert. Genau die leidenschaftliche Bekämpfung des Bösen hat das Böse immer neu provoziert. Es scheint eine Grundgefahr der religiösen Auseinandersetzung mit dem Bösen zu sein, dass sie sich immer wieder von dessen Logik infizieren lässt. Es wäre an der Zeit, für das Christentum die Geschichte dieser Selbstinfizierungen zu schreiben, die immer wieder bleibende Spuren hinterließen. Diese Geschichte müsste mit dem schwierigen Verhältnis zwischen Judentum und der jungen christlichen Bewegung beginnen, das sich schon in antijüdischen Äußerungen des Neuen Testaments niederschlägt. Sie wäre fortzusetzen mit untragbaren Äußerungen der paulinischen Briefe zum S. Freud und Fr. Nietzsche. Aus dem 20. Jahrhundert seien als „Klassiker“ nur J.-P. Sartre und B. Russell genannt. Ihr Verdienst ist nicht, dass sie Gott „widerlegt“, sondern dass sie den notwendigen und offenen Streit um die Wahrheit Gottes ermöglicht haben.
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„Fluch“ der Tora (Gal 3,13). Es wäre zu zeigen, wie die Leidenschaft für die Wahrheit zu endlosen Ausschlüssen und Verurteilungen, Verdammungen und Tötungen geführt hat, zu einer fanatisch intoleranten Haltung gegenüber allen, die anders denken. Ein Amalgam von kultureller Dominanz und weltweiten Machtapparaten führte zu Katastrophen, die später niemand mehr steuern konnte. Wenn man glaubte, das Jesuswort „widersteht nicht dem Bösen“, und sein Aufruf, man solle das Unkraut zwischen dem Weizen wachsen lassen, sei mehr utopischer Appell als direkte Handlungsanweisung, dann wäre doch wenigstens eine Spiritualität der Geduld und der Zurückhaltung nötig gewesen. Gewiss, die christliche Tradition war immer von einer leidenschaftlichen Abwehr des Bösen geprägt. Man legte sich jedoch auf intellektuelle und doktrinale Lösungswege fest, die den dramatischen und prozessualen, den nie festlegbaren Kern des Bösen unterschätzten. So hat in der christlichen Tradition das Böse alle Bosheitsabwehr mit seiner eigenen Zerstörungspotenz infiziert. So können wir drei Ebenen unterscheiden. Auf der semantisch-objektivierenden Ebene fragen wir, wie die christliche Tradition Erfahrung und Erscheinung des Bösen interpretiert und wie Gott selbst als Retter aus dem Bösen auftritt. Auf dieser Ebene hat das Christentum eine hohe Kontinuität bewiesen und unwiderlegbare Antworten entwickelt. Die zweite Ebene ist die Ebene des faktischen Handelns, natürlich eingeschlossen die unerwarteten Rückkoppelungskreise, die der Umgang mit dem Bösen in Gang setzt, eingeschlossen auch das Wechselspiel von entschiedenem Überwindungswillen und eigener Betroffenheit in der Frage, wie ich selbst dem Bösen entrinnen kann (Rechtfertigungsproblematik). Auf der ersten Ebene bleibt die ursprüngliche Beschreibung des Christentums uneingeschränkt erhalten: Es ist eine Religion der Überwindung des Bösen, der uneingeschränkten Gewaltlosigkeit und eines tröstenden Gottes. Dieser Anspruch wurde auch in Augenblicken höchster Anforderung nicht preisgegeben (Lohfink). Auf der zweiten Ebene setzen Schwierigkeiten ein, denn gerade wegen seines leidenschaftlichen Überwindungswillens kommt es zu unheilvollen, verkürzenden Interpretationen und Praktiken. Das Böse wurde entweder bagatellisiert, man wurde selbst zu dessen Opfer oder machte sich auf Fluchtwegen aus dem Staub: Man entwickelte eine a-politische Innerlichkeitskultur. So bleibt drittens, auf der sozial-kulturellen Ebene, eine wachsende Anpassung an gängige gesellschaftliche und politische Verhältnisse. Seit dem 4. Jahrhundert gewöhnt man sich an die Inanspruchnahme von Macht, an eine latente oder offene Gewaltbereitschaft von Gemeinschaften und Staaten, bis hin zur Rechtfertigung des „gerechten“ Kriegs. Dieses Kapitel der Schuldgeschichte steht hier nicht zur Verurteilung,
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sondern mit der Absicht der Beschreibung. Zum Schluss sei die Frage gestellt, ob der christlichen Religion nicht ihr hoher Organisationsgrad immer wieder zum Verhängnis wird. Vielleicht war es das inoffizielle, das nicht organisierte und das halb anonyme Christentum, das diese Religion dennoch zur wichtigsten Sinninstanz der westlichen Kultur werden ließ.
6. Paradigmenwechsel der Gegenwart Aus Gründen, die später noch deutlich werden, setze ich mit dem Jahr 1945 ein, das für Christentum und Kultur einen tiefen Einschnitt bedeutet. Die entscheidende Zäsur wird oft im Zusammenbruch des „Ostblocks“ und seiner marxistisch-leninistischen Ideologie gesehen (Huntington). Die neuen Gefahren, die mit dem 11. September 2001 ein symbolisches Datum erhielten, seien nicht geleugnet. Doch beginnt für christliches Denken und Handeln schon mit dem Zusammenbruch des Faschismus eine grundlegende Neuorientierung, für den Umgang mit dem Bösen ein Paradigmenwechsel von tief greifender Wirkung (Neiman).
a) Der Schock von Auschwitz Der Einschnitt war vom Schock einer kulturellen Katastrophe begleitet, Ergebnis zweier Weltkriege und eines Terrorregimes, das in der Moderne seinesgleichen sucht. Der politische Dauerkonflikt zwischen Ost und West wurde bald vom ökonomischen Gefälle zwischen Nord und Süd durchkreuzt. Die beginnende Selbständigkeit zuvor kolonialisierter Völker sowie unerhörte technische Entwicklungen lösten eine Dauerspannung von Fortschrittseuphorie und Enttäuschung aus. Zunächst aber herrschte lähmende Orientierungslosigkeit. Der Schock von Faschismus und Auschwitz, der millionenfache Tod Unschuldiger sowie die Aufspaltung des christlichen Kulturraumes selbst in Täter und Opfer, das vitale Verlangen nach einer ausgleichenden Gerechtigkeit, dies alles hat auch die christlich religiöse Erfahrung in eine Krise auf Leben und Tod gestürzt (AmmichtQuinn 195–208). Diese umfassende Menschheitskatastrophe nahm ihren Ausgang vom machtvollen und so selbstbewussten „christlichen“ Kulturkreis. Unbestritten ist, dass der Nationalsozialismus in keiner Weise eine christliche Identität beanspruchte. Doch unbestreitbar ist ebenso, dass dieser Ausbruch dämonischer Gewalt und millionenfacher Menschenvernichtung von einer „christlichen“ Bevölkerung weder eingedämmt noch verhindert wurde. Es fand zudem Legitimationen, die „christliches“ Denken voraus-
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setzten. Welche Affinitäten hat dieses christliche Denken eigentlich mit dem Bösen? K. Barth (1886–1968) war einer der wenigen Theologen, die beizeiten reagierten (Frey, Köckert). Schon Ende der zwanziger Jahre forderte er mit seiner Kritik am „Kulturprotestantismus“ (Hübinger) dazu auf, zwischen den biblischen Wurzeln und den späteren philosophisch-kulturellen Zugaben zu unterscheiden. Gottes geoffenbartes Wort sollte die einzige Quelle des Glaubens sein. In der Auseinandersetzung mit dem Bösen zeigte er, dass das Böse eben nicht denkbar ist; er sah es als das „Dritte“ zwischen dem Sein und dem Nichts, wohl wissend, dass eine solche Formulierung allen Regeln wohlverstandener Logik widerspricht.28 Zugleich hielt er unbeirrt an der christlichen Überzeugung fest, dass das Böse schon überwunden sei. Nach einer ersten konservativen Rezeption Barths steht die wirkliche Auseinandersetzung mit ihm noch aus. Zum wahren Menetekel für das westliche Christentum wurde die „Schoah“ (oder der „Holocaust“), also der weithin gelungene Versuch, im Zentrum des „christlichen“ Europa die Juden als die Menschheitsfeinde schlechthin zu brandmarken und sie in technisch perfektionierter Weise auszurotten (Hilberg, Longerich, Nozick, Yahil). Erst allmählich wurde das teuflische Ausmaß dieses Unternehmens deutlich, wodurch Auschwitz zum Symbol eines Zivilisationsbruchs überhaupt, zum Symbol des absoluten Bösen (Brocke) wurde (Fackenheim). Ich nenne vier Aspekte. (1) Die Frage, wie in einem christlichen Kulturraum so etwas geschehen konnte, zwang zur Selbstkorrektur. Bewusst wurde die Arroganz der „christlichen“ Völker, die sich als das überlegene Geschlecht verhielten. Klar wurde, dass sich dieses Verhalten im Grunde auch im Umgang mit Anderen vollzog: unmenschlich, gewaltbesetzt und destruktiv; eine Frage an die Christen, die dachten, sie seien vom Bösen erlöst (Küng 1991, 275–346). Es steht also keine allgemeine und distanzierende Frage zur Debatte. Zur Debatte steht die – von persönlichem Engagement nicht ablösbare – Frage nach unserem konkreten, politischen, sozialen Verhältnis zu anderen Menschen. Die Frage nach dem Bösen beginnt jetzt wieder gemäß der Geschichte vom barmherzigen Samariter mit der Frage nach meinem Nächsten (Lk 10, 25–37). Diese Beziehungsfrage rückt jetzt in den Rang der christlichen Identitätsbestimmung. Im Blick auf die dämonische Maschinerie der Judenvernichtung war damit eine neue religiöse Fragedimension erreicht. (2) Die systematische Vernichtung von Juden (darunter Frauen und Kinder, Kranke und wehrlose Alte) ließ sich nicht von den jahrhunderte28 Zur Thematik: KD III/327–425; Lit.: Frey; Häring 1999, 83–88; Krause; Krötke; Lüthi; Rodin.
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alten Argumenten abkoppeln, die im Christentum gegen das Judentum überliefert wurden (Bein, Rendtorff, Rengstorf); sie werden zur anklagenden Erinnerung (Langer). Man erinnert sich an die Judenpogrome der europäischen Geschichte, an die liturgisch unterstützten Anfeindungen (Baum), an die Vorwürfe von Brunnenvergiftung und Geldgier, von Kinder- und Gottesmord, von unbarmherziger Rachsucht („Aug’ um Auge, Zahn um Zahn“; Ex 21,24) und scheinheiligem Pharisäertum, an Weltverschwörung, an die konziliar verfügte Stigmatisierung mit Judenstern sowie an die Judensäuberungen etwa im Spanien der Katholischen Könige (Küng 1967 a, 160–180). Die von Juden entwickelte Theologie des Holocaust (Küng 1991, 703– 713) machte den religiösen Hintergrund des Geschehens deutlich. Zur Anklage an eine christliche Bevölkerung kam die Frage nach Gottes Treue. Die Theodizeefrage hat eine unabweisbare existentielle Dimension erreicht (Yahil). (3) Nicht zu vergessen ist die stellvertretende Funktion, die die ermordeten Jüdinnen und Juden jetzt für alle einnahmen, die aus Gründen ihres Anders-Seins geschunden sind. Damit trat eine Ökumene der Menschenverachtung ans Tageslicht, die in den faschistischen Konzentrationslagern begann und sich an anderen Orten des Grauens fortsetzt. Damit hat sich die Erfahrung verbunden, dass Gott gerade in diesen Opfern anwesend sein muss, zumal sich – aus christlicher Perspektive geurteilt – das Geheimnis von Jesu Leiden in ihnen allen wiederholt. (4) Hier liegt eine der Wurzeln zum späteren, jetzt christlich zu nennenden Umgang mit dem Bösen, der sich dann in Theorie und angestrebter Praxis der Befreiungstheologie durchgesetzt hat. Gott, so die durchaus biblische Erkenntnis, ist in den „Armen“ gegenwärtig. Gott steht nicht neutral über den Menschen, sondern parteilich auf der Seite der Opfer, unabhängig von deren religiöser Zugehörigkeit oder moralischer Haltung. Die universale Bedeutung des Christentums bemisst sich nach der Allgegenwart derer, die an den Rand gedrängt sind (L. Boff, 21–75, Gutiérrez). Dies kann als grundlegendes Erkenntnisprinzip des christlichen Glaubens gelten. Nur, so hatte man es bislang nicht gehört. Die Theologien „nach Auschwitz“ (des „Holocaust“ oder der „Schoah“) nehmen eine Schlüsselstellung ein, weil sie die genannten Dimensionen mit einer bis dahin nie da gewesenen Intensität zur Sprache bringen. Der Holocaust wurde zum Symbol nicht nur fürchterlichen Versagens (vgl. Erbsündenproblem), sondern auch des Protestes gegen Gott (Theodizeeproblem), schließlich zum Symbol jener anderen Erfahrung, dass Gott sich auf die Seite der Opfer stellt (Rettungsproblem) sowie zur Entdeckung der Opfer überall dort, wo Menschen zusammenleben (Universalitätsproblem). Mit der genannten Thematik steht eine Neuformulierung der ge-
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samten Menschheitsgeschichte zur Debatte. Es gibt deshalb guten Grund für die These, dass die Schoah, diese millionenfache Vernichtung des (auch nach christlicher Überzeugung) auserwählten Volkes, zur entscheidenden christlich-theologischen Erkenntnisquelle und Offenbarung am Ende der Neuzeit geworden ist. b) Paradigmenwechsel Diese Perspektive hat sich schrittweise erweitert: auf Archipel GULAG und die Opfer des ideologischen Staatsterrorismus, auf die Grauen anderer Kriege, auf die Ausrottung von Völkern sowie auf die wachsende Verelendung ganzer Kontinente, dies alles verbunden mit dem Wissen, dass dabei gerade die „christlichen“ Länder eine prominente Unheilsrolle spielen. Sollte ausgerechnet das Christentum, dieses Programm der reinen Liebe, zur Quelle solch unermesslichen Unheils geworden sein? Der Schock von Auschwitz führte zu einem Paradigmenwechsel, der traditionelle Theorien in Frage stellte. Zugleich stand dieses Ereignis am Beginn umwälzender politischer Entwicklungen. Die westliche Dominanz war von jetzt an umstritten. Die Ablösung des Kolonialismus (Gründer, Delgado) führte zur wachsenden Selbständigkeit der nichteuropäischen Völker (Küng 1994, 869–897). Die bislang Stummen, die Opfer selbst melden sich in weltweitem Maßstab zu Wort. Zu nennen ist die „Befreiungstheologie“ (Gutiérrez), der in der ersten Generation dann andere emanzipatorische Theologien folgen: die Schwarzen Theologien und die Feministische Theologie (Schüssler Fiorenza). Ihnen folgen die Kontextuellen Theologien der verschiedensten nichteuropäischen Länder (Collet). Schweife ich vom Thema des Bösen ab? Dieser Umweg zeigt, dass das Böse jetzt elementar und in konkreten Formen erfasst wird. Jetzt zeigt sich das Böse konkret (und doch in universaler Verbreitung) in der Situation der Opfer. Christlich gesehen hängt die Erfahrung des Bösen von dessen konkreten Erfahrungsweisen, also auch von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab. Die Opfer selbst müssen zu Worte kommen und ihrer ist zu gedenken. Auch hier ergibt sich eine unerwartete Parallele zum Kern der christlichen Botschaft, der „gefährlichen Erinnerung“ an Jesu Tod. Sie zeigt, welches Potential und welche Erneuerungskraft im Christentum stecken. Natürlich vollzieht sich ein solcher Wandel auch hier nicht plötzlich und nicht umfassend. Unbestreitbar sind die alten Codes und Verständnisweisen des Bösen noch überall gegenwärtig. An vielen Orten werden sie gar revitalisiert. Doch ist der Umschlag unübersehbar; er zeigt sich vor allem in Ländern der Dritten Welt.
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c) Hinwendung zur Praxis Als eine der prophetischen Religionen ist das Christentum auf die Praxis von Mensch und Gesellschaft hin orientiert. So wurde das Böse immer in seinem Bezug zur menschlichen Freiheit verstanden und zunehmend auf individuell-moralische Aspekte reduziert; die kosmologischen und die geschichtlichen Aspekte traten in den Hintergrund. Eine erste Wende bahnte sich im 19.Jahrhundert an. Zu nennen sind auf evangelischer Seite die Erneuerungsbewegung des Pietismus (TRE 26, 606–631), auf katholischer Seite die theoretische und praktische Entdeckung der Sozialen Frage (Möhring-Hesse). Nach dem Ersten Weltkrieg bildete sich ein früher ökumenischer Konsens zur angemessenen Neugestaltung des zeitgenössischen Lebens (Niederschlag). Diese Tradition bestimmt noch heute die Arbeit des Weltrats der Kirchen. Immer stärker bildet die Orthopraxis den vorrangigen Bezugsrahmen. Ein prominentes Zeugnis jüngster Ausprägung ist die Erklärung des Parlaments der Weltreligionen 1993 in Chicago (Küng 1993). Bestimmend ist die apokalyptische Möglichkeit der Weltzerstörung. Gegen sie werden religiös motivierte Handlungsmöglichkeiten gesetzt, die allein diese Zerstörung verhindern. Hinzu kommt ein theoretisch weiterführender Aspekt: der Praxisbegriff, den K. Marx in die gesellschaftskritische Debatte einführte und den Religion und Kirche lange Zeit ablehnten. Dabei sind zwei Gesichtspunkte entscheidend: Handeln ist nicht einfach die Schlussfolgerung aus „neutraler“ theoretischer Erkenntnis, sondern der primäre Bezugsrahmen allen Denkens. Es gibt nämlich keine große Theorie und keine Zukunftsvision, in der Interessen und Praxis keine Rolle spielen. Es kommt nach Marx nicht mehr darauf an, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern (Küng 1978, 251–298). Global gesprochen bedeutet dies die Neuentdeckung einer jüdisch-messianischen Grundorientierung, die vom Ideal griechisch-neutraler Rationalität verdrängt war. Deshalb geht es zweitens um die Erkenntnis, dass auch Erkennen und Reden durch und durch Praxis bedeuten (Mette). Es gibt kein a-politisches Christentum, denn alle Menschen bewegen sich in einem Geflecht gewollter und unterlassener Handlungen. Diese Überzeugungen hielten vor allem durch J. Moltmann (Moltmann 1965) und J. B. Metz (1997) Einzug in die christliche Theologie und fanden mit der Befreiungstheologie eine endgültige Verbreitung (Berges 1994). Natürlich haben sich die emanzipatorischen Theologien bald in wichtigen Grundpositionen von der westlichen Theologie unterschieden. Unrecht und falsche Praxis wurden jetzt überall aufgespürt und bestimmen die Systematik. Sie alle gehen von konkreten Situationen aus und entlarven, was lebenszerstörend ist. In der Tat ist für eine christliche Neudefinition des Bösen hier Erstaun-
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liches geschehen. Die Frage nach dem Subjekt sowie die Bedeutung konkreter Kritik sind ins Zentrum gerückt. Gesamtkonzepte wurden auf das Schicksal der Menschheit oder von Menschengruppen hin konzentriert. Formal tritt die Rede vom Bösen nicht von der Bühne ab. Wohl aber wird es jetzt konkret benannt. Natürlich ist auch bei dieser Beschreibung Nüchternheit geboten, denn diese Neuorientierung hat nicht nur zu kreativen Neuaufbrüchen, sondern auch zu Verunsicherung und Widerstand geführt. Aktuelle gravierende Spannungen innerhalb des Christentums haben unmittelbar damit zu tun.
d) Ursprünge neu Im westlichen Traditionskreis hat diese Situation zugleich zu einer Neuentdeckung der christlichen Ursprünge, d. h. der biblischen Schriften und ihres Umgangs mit dem Bösen geführt. So erschien in den vergangenen Jahrzehnten eine große Anzahl neu orientierter exegetischer Untersuchungen. Dafür seien drei eindrückliche Beispiele genannt. Ijob Durch die Jahrhunderte galt das Buch Ijob stets als das klassische biblische Buch zum Problem des Leidens, des Unrechts und somit des Bösen, und immer haben die Leser (je nach eigenem Standpunkt) sich widersprechende Antworten gefunden. Die wichtigste klassische Antwort lautete, hier plakativ formuliert: Ijob ist der fromme Dulder, der angesichts der Größe Gottes schließlich schweigt: „Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen; gelobt sei der Name des Herrn“ (1,21). Über Jahrhunderte galt dies als die christliche Antwort, bestätigt von einer intensiven Leidensfrömmigkeit, in deren Mitte der duldende, aber in Gottes Willen ergebene Christus stand. So wurde das Christentum zur Religion der Leidensbereitschaft und sündenbewussten Ergebenheit.29 Doch schon im 19. Jahrhundert bereitet sich ein Umschlag vor. S. Kierkegaard zeichnete Ijob als den Protestierenden, und bald stellte sich heraus, dass dieser protestierende Ijob den Fragenden mehr Trost geben konnte.30 Selbst Christus, der im Tode von Gott Verlassene (Mt 27,46), konnte jetzt von Ijob her verstanden werden. 29 Lit. zu Ijob: Berges (1994, 2000); Ebach; Fohrer; Häring 1999, 28–36; Jung; Keel; Kuschel (1996, 1997); H.-P. Müller 1970; 1978; Theobald. 30 Langenhost (1996) nennt als Autoren von Ijobromanen J. Roth, A. Polgar, G. Britting, E. Schaper, H. G. Wells, G. B. Shaw, A. Döblin, G. Hauptmann, G. Kunert und M. Spark. Seit 1914 sind mehr als 60 Ijobdramen erschienen (u. a. G. Wojtyla, R. J. Sorge, O. Kokoschka, E. Wiechert, A. MacLeish). S. Grimm/Beyerdörfer.
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Schließlich zeigen weitere Interpretationen, dass es dem Buch Ijob weder auf Belehrung noch auf Lösungen ankommt. Offensichtlich stellt es die fürchterliche Situation der Welt als Welttheater schlicht dar und bindet so die Leser in die Solidarität mit dieser Situation ein (G. Theobald). Das entspricht einer Interpretation des leidenden Christus, dessen Geschick ebenso wenig von einer perfekten Erlösungstheorie her erklärt werden, sondern nur ausgehalten werden kann (Metz 1995). Wie in der Passionsgeschichte wird das individuelle Schicksal zum öffentlichen; Politik wird als Geschichte des Individuums erkannt. Das Kreuzesgeschehen endet ebenso aporetisch wie das Leiden des Gerechten. Es bleibt ein unversöhntes Protestpotential, das die Leidenschaft für eine gerechte und versöhnte Welt mobilisiert. Apokalyptik Auch die apokalyptische Literatur wurde in der Geschichte des Christentums unterschiedlich interpretiert (Dormeyer, Körtner 1999), auch hier eine Interpretation voller Widersprüche. Obwohl das Christentum in einer Zeit apokalyptischer Hochstimmung entstand, tat man sich mit solcher Literatur bald schwer. An den apokalyptischen Passagen der Evangelien und der Briefe31 ist harte theologische Redaktionsarbeit zu spüren. Auch dauerte es ungewöhnlich lange, bis die „Offenbarung des Johannes“ in den Kanon christlicher Literatur aufgenommen war. Bald wird der Inhalt des Buches auf die Schrecken der Endzeit verschoben. Am Ende kommt Unheil, erreicht die Unterdrückung ihren Höhepunkt. Das Böse und die Zerstörung dieser Welt massieren sich als ein von Gott frei verfügtes Gericht, so dass aller irdische Kampf um das Gute ins Leere läuft. So zeigte sich das Christentum auch hier als Religion der Resignation. Aber auch dieses Buch erhält in dem Augenblick eine andere Interpretation, als die Menschen des 20. Jahrhunderts die apokalyptischen Schrecken wieder erkennen: Weltkriege, Konzentrationslager und Ausrottungen, katastrophale Migrationsströme und mit grausamer Technik geführte Bürgerkriege. Jetzt wurde wieder deutlich, dass Gott und der Messias in diesem Unheil nicht Verdammung und Untergang, sondern Rettung bedeuten. Es geht nicht um Bestrafung, sondern um Hilfe. Gemäß der Komposition des Buches hält Gott das Unglück immer wieder auf, um schließlich alle Tränen abzuwischen (Offb 7,17). So führt auch die Apokalypse zum Protest gegen Babel und Rom, gegen alle Plagen der Menschheit, die 31 Mt 24 u. 25; Mk 13; Lk 21; 1 Kor 15,20–28; 2 Kor 5,1–10; 1 Thess 4,15–17; 2 Thess 2,11f.; 2 Petr 3,10–13.
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sie sich selbst auferlegt. Ausgerechnet im Augenblick tiefster Krise fand auch hier ein epochaler Umschlag zur Leidenschaft für das Gute statt. Kreuz und Auferstehung Christen verstanden ihre Religion durch Jahrhunderte hin als die Erlösungsreligion schlechthin, die unmittelbar auf ein Leben im jenseitigen Äon vorbereitet. Mit dieser Überhöhung des Heils wurden alle Bosheitserfahrungen in eine jenseitige Perspektive gerückt. Umso dramatischer sind die Veränderungen, die sich mit einer biblisch neu verantworteten Wahrnehmung von Tod und Auferstehung einstellten (Kessler). Zunächst wurde der Tod Jesu neu in seine historischen Zusammenhänge eingeordnet und zum Leitbild derjenigen, die aus Solidarität mit anderen leiden, die aus politischen Motiven getötet werden und deren Lebensprojekt an der Destruktionswut anderer scheitert. An eine solche Rekonstruktion des Todes Jesu schließt sich die ernste Frage an: Warum steht Gott in seiner Macht dem Geschändeten nicht bei? Jesu Tod ist also kein wundersames Naturereignis, sondern ein schreckliches Geschehen, das nach Erklärungen ruft. Dadurch verschiebt sich auch die Aussagerichtung der Auferstehungsbotschaft. Sie wird zum Sieges-Symbol über genau die Bosheit, die Jesus widerfahren ist. Aber wie Gott diese Schrecken überwindet, das wird weder gesagt noch in einer Heilstheorie erklärt. Die biblische Erinnerung an Jesu Tod spiegelt die Abgründe der menschlichen Situation. Der Gott, den Jesus seinen Vater nennt (Mt 11,25), macht Tod und irdische Qualen nicht ungeschehen, sondern stellt die Frage, wie wir uns dazu verhalten. Tod und Bosheit bleiben also bedrohliche Gegenwart. Es geht um die gelebte Erinnerung an Jesus von Nazaret, dessen Todessituation sich täglich wiederholt. Die Erinnerung an Jesu Tod und die Bestätigung des getöteten Jesus durch Gott bieten keine neue Wortoffenbarung im Sinne der Propheten, vielmehr werden Gottes Botschaft und Wille in einem paradigmatischen Lebensschicksal, in Ablehnung und Scheitern konkretisiert. Im Zentrum steht also diese Herausforderung, nicht die Tröstung. Natürlich lässt sich die christliche Religion nicht auf diesen bitteren Kern reduzieren, in ihm ist sie aber bei sich. Diese Bosheitserfahrung ist der kritische und „gefährliche“ Punkt, von dem her die vielfältigen Lebensströme dieser Religion zu orientieren sind. Dass dies in einer neuen Epoche erkannt wurde, darin liegt für das Christentum eine neue Chance.
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7. Das Böse und Gott a) Welcher Gott? In den vergangenen Jahrzehnten wurde deutlich herausgestellt, was dieses Gedenken in religiösem Zusammenhang bedeutet (Arens, Lima 559– 561). Es geht zunächst um einen psychologischen Prozess, der eine intensive gesellschaftliche Bedeutung erreichen kann. Vergangenes wird in Wort und rituellem Begehen so gegenwärtig gesetzt, dass es neu durchgestanden und verwirklicht wird. Gemäß allgemeiner Überzeugung bildet die Erinnerung an Jesu Tod und Auferstehung das Kerngeschehen der christlichen Eucharistie und somit die Grunddynamik des christlichen Glaubens überhaupt. Damit wird christliches Gedenken immer neu auf jene Situation „zurückgeworfen“, in der Gottes Macht und Güte zu wanken beginnt. Aller Jubel fällt auf das Schreien jenes Tages zurück, an dem Jesus (so die alte liturgische Tradition) in die Abgründe der Hölle eingegangen ist. Solange es die Erde und ein menschliches Leben gibt, stellen Tod und Teufel Gottes Solidarität mit den Menschen immer neu zur Diskussion (Kremer-Kehl). Dieser Prozess kann in vielfacher Weise begriffen werden: als Aneignung von Leiden und Tod, als Schutz vor weltflüchtigem Triumphalismus, vor Sensibilitätsverlust gegenüber dem Schwachen und Verletzlichen, als Einübung zum angstfreien und kreativen Umgang mit den eigenen Ängsten sowie als Warnung davor, den eigenen Anteil am Bösen auszuscheiden und auf andere zu projizieren. Gerade die Psychologie des 20. Jahrhunderts hat dieses Problemfeld weit ausgeschritten.32 Warum kann man sich aber nicht des Eindrucks erwehren, in der Vergangenheit habe das Christentum davon nicht viel begriffen? Man sollte nicht unterschätzen, dass diese Erinnerung im religiösen Alltag von nahezu 2000 Jahren enorme Wirkungen gehabt hat. In Konflikt damit stand immer das auf Sieg und Überwindung programmierte messianische Erbe. Es will, wie wir sahen, Leiden und Tod hinter sich lassen, die Bosheit endlich überwinden, Gerechtigkeit und Versöhnung verwirklichen. 32 Die Theologie wurde von allen klassischen Richtungen der Psychologie tiefgreifend beeinflusst. Im deutschen Sprachraum hat E. Drewermann einiges Aufsehen erregt (Drewermann). Für die Thematik dieses Beitrags erlangten eine Schlüsselbedeutung Fragen nach Autorität, Identität und Integration, nach Schuld und Vergebung, Liebe und Beziehungsfragen, Sinn- und Orientierungsfragen, nach der Fähigkeit, sich anzunehmen und diesen Erfahrungshorizont zu transzendieren. Offensichtlich hängt die Entstehung von Bösem (Verweigerung, Aggressivität, Todesverlangen) eng mit der Unfähigkeit zusammen, mit unerwarteten Erfahrungen umzugehen. Zur allgemeinen Diskussionslage: Görres/Rahner.
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Dies hatte in der Auseinandersetzung mit dem Judentum zu einem unseligen messianischen Perfektionismus geführt, der alles Versagen, Jammern und Scheitern der jüdischen Botschaft für überwunden hält und deshalb verdrängt. Wer dem Gott Jesu Christi eine erzwingbare Macht gegenüber dem Bösen zuschreibt (Bakker), muss das Kreuz zum Zeichen des durchsetzbaren, aggressiven Sieges umdeuten und zu Strategien der Vertröstung greifen. Wer dagegen die Existenz des Bösen ohne Strategien der Vertröstung zur Kenntnis nimmt und sich auch nicht mit einem Rest an Unmenschlichkeit versöhnen will33, für den bleibt ein ungeklärter Rest, nämlich die Frage, warum Gott das zulassen kann: „Wahr ist nur, was nicht in diese Welt passt“, schrieb Adorno (Knapp). Warum also beherrschen Bosheit und Untergang immer noch das Geschehen der Welt? Wenn die Ausführungen über den Paradigmenwechsel in der Gegenwart richtig sind, dann liefert sich das Christentum erneut und mit ungekannter Schärfe dem Theodizeeproblem aus. Das aber ist nicht nur eine psychologische und nicht nur eine gesellschaftlich-kulturelle, sondern auch eine christlichtheologische Frage. Diese Frage wird im Folgenden unter dem schon bekannten Stichwort der Theodizee besprochen. Ich will zeigen, dass die christliche Religion (wenn sie ihre eigenen Erinnerungen ernst nimmt) das Böse nicht von Gottes Macht und Weisheit her zu lösen weiß. Vielmehr will sie gegenüber Gott Fragen stellen, Klagen und einen Protest wach halten, der sich aus einem menschenwürdigen Umgang mit der Wirklichkeit ergibt (Fuchs, Steins). Genau besehen verbieten sich für das Christentum harmonisierende Lösungen, solange es die Erinnerung an Jesu Tod wach halten will. Sollte es Trost bieten, dann nur einen solchen, der sich aus dieser Auseinandersetzung und den darin eingeschlossenen Erfahrungen ergibt. Der Begriff der Theodizee ist ein Kind der Aufklärung; die Sache reicht weit zurück.34 Die Auseinandersetzung mit dem Problem ist m.W. in allen Religionen gegenwärtig, wird aber in einem monotheistischen Rahmen scharf auf den Begriff gebracht. Religionen sind ja nicht unbedingt Lösungen, sondern die Folge des Theodizeeproblems. Sie trauen ihrem Gott (oder ihren Göttern) definitionsgemäß mehr zu, als er vermag. Die ursprüngliche religiöse Frage lautet offensichtlich nicht: Wie kann es an„Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein; und wer zu seinem Bruder sagt: Du Dummkopf!, soll dem Spruch des Hohen Rates verfallen sein; wer aber zu ihm sagt: Du Narr!, soll dem Feuer der Hölle verfallen sein“ (Mt 5,22). 34 Die Formel lautet: „Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er will es nicht und kann es nicht, oder er will es und kann es.“ Die Folge ist ein schwacher oder ein missgünstiger Gott. 33
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gesichts eines gütigen und allmächtigen Gottes Übel und Böses geben? Sie lautet ursprünglich: Wer kann uns aus diesem Elend und vor dem Bösen retten (Häring 1999, 19–23)? Insofern trifft die letzte Bitte des Vaterunsers den Kern der christlichen Motivation: „Errette uns vor dem Bösen.“ In der Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Theodizeefrage als vitales Problem in Glaube und Theologie zurückgekehrt. „Theodizee“ bedeutete in der Neuzeit die in logische Form gebrachte Frage nach der Vereinbarkeit eines gütigen und allmächtigen Gottes mit der Existenz des Bösen und umgekehrt. Die Klarheit der Argumentationsstruktur verbarg aber die Unklarheit der Begriffe im Rahmen religiöser Erfahrung: Was etwa bedeuten dort „Güte“ und „Allmacht“? Sie verbarg auch die hermeneutische Struktur der Gottesfrage: Wird Gottes Güte vorausgesetzt oder angerufen, ersehnt oder gefordert? Wider Willen geriet in der wachsenden Säkularisierung das Theodizeeargument zur Rationalisierung eines ohnehin gängigen Agnostizismus und bewirkte oft das Gegenteil seiner Ziele (Gesang; Hedinger; Neuhaus). Die Verteidiger der Glaubensargumentation hingegen übernahmen immer mehr die Aufgabe der „Rätsellöser“ im Dienste einer überholten Position (Kreiner). Wer dies durchschaute, zog sich entweder auf die absolute Geheimnishaftigkeit Gottes zurück, rekonstruierte das christliche trinitarische Gottesbild neu (Faber, Meessen, Moltmann 1980) oder versuchte, den wirklichen Problemhorizont der Frage zu rekonstruieren. I. Kant hatte damit begonnen. Hegel (1770–1831) erweiterte den Horizont zum „Gang der Weltgeschichte“ (Küng 1970). L. Feuerbach legte in seiner Projektionsthese die zirkuläre Struktur von Welterfahrung und Gottesbild offen. Wichtig sind ferner das existentialistische Konzept eines S. Kierkegaard und das nihilistische Konzept von F. Nietzsche; beide enthüllen die Entscheidungsstruktur von Sinnerfahrung und Glaube. Vor dem Hintergrund dieser Lehrstücke eröffnet sich zu dieser elementaren religiösen Frage ein neuer Zugang. Jetzt können keine wohldefinierten Gottesbegriffe mehr vorausgesetzt werden. In der Geschichte des Christentums ändern sie sich nach Maßgabe des Bösen, das jeweils erfahren wird. Nach dieser allmählichen Destruktion des klassischen Theodizeearguments ist nun etwas Erstaunliches geschehen, das mit dem Schock von Auschwitz voll ans Licht gekommen ist (Ammicht-Quinn). Es hat das zwiespältige Schattendasein eines (Gottes Existenz beweisenden) Hilfsarguments verlassen und ist ins Zentrum eines kreativen Sprechens von Gott zurückgekehrt. Jetzt wurde für viele Christinnen und Christen die Frage nach dem Handeln Gottes angesichts der Übermacht des Bösen zur zentralen Frage überhaupt.
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b) Klage und Protest Wie schon ausgeführt, lebt die Theodizeefrage in den biblischen Schriften als Schrei der Gottverlassenheit und Verzweiflung. Das gilt, wie wir sahen, für das Ijobbuch, die Klagelieder (Berges 2002) und für Psalmen, in denen die Klage zentral steht (W. Groß, 15–59). Dieses biblische Klagen hat einen theologischen Bezugsrahmen und eine liturgische Funktion: Jahwe wird angesprochen und an seinen Treueverpflichtungen gegenüber dem Volk behaftet. Theologen haben nichts mehr zu sagen. Jahwe hat sein Verhalten und damit sich selbst zu rechtfertigen. Dieses Klagen hat im gegenwärtigen Christentum wieder seine Heimat gefunden (Steins). Erinnert sei an erschütternde Beispiele von Auschwitz und den Kriegen; erinnert sei an literarische Zeugnisse, die von christlicher Spiritualität rezipiert wurden (W. Groß, 104–169); erinnert sei aber auch an Zeugnisse zeitgenössischer Theologie in Europa und in nichteuropäischen Ländern (Langenhorst 1995, 1996), in denen die Spiritualität der protestierenden Klage wieder erkannt und als christlich beurteilt wird.
c) Aushalten der Verzweiflung – Authentizität Kant hat in seiner Auseinandersetzung mit der Theodizee den Begriff der Authentizität eingeführt. Alles kommt also darauf an, dass die Frage glaubwürdig, d. h. ohne Vorbehalt, Selbstbetrug oder vollzogenen Selbstwiderspruch gestellt wird. Diese Authentizität wurde oft als persönliche Glaubwürdigkeit missverstanden. Eine psychologische Dimension ist gewiss enthalten, aber Kant zielt zunächst auf das, was wir wirklich erfahren; gemeint ist die Wahrheitsdimension des Bekennens. Diese Sprachform hat in der christlichen Tradition eine hohe Bedeutung. Sie meint keine Sachbeschreibung oder Argumentation, sondern eine Sprachhandlung, Kundgabe der eigenen Identität. Ich binde mich an das, was ich ausspreche.35 Mit dieser Sprachwirklichkeit verändert sich die Situation. AmmichtQuinn spricht deshalb von der „Tiefenstruktur“, die der Theodizeefrage eignen muss. Unbestreitbar muss jeder eine solche Authentizität einbringen, der angesichts des Bösen Gottes Treue zu den Menschen bejaht. Sie ist bereit, die Spannung zwischen zwei unerträglichen Gegensätzen auszuhalten und zur Sprache zu bringen. Sie hält eine unerträgliche Wirklichkeit aus, die 35 Nach J. Habermas muss eine Aussage wahr, richtig und wahrhaftig sein. Es kommt darauf an, „dass die manifeste Sprecherintention so gemeint ist, wie sie geäußert wird“ (I, 149).
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von Gott nicht mehr umfangen wird und zum bitteren Wort führt: „Ich bilde Licht und schaffe Finsternis, ich mache Heil und erschaffe [!] Schlechtes“ (45,7).36 Es ist genau die Situation, die in der unerträglichen Spannung zwischen dem faktischen Tod Jesu und dem Bekenntnis zu seiner Auferstehung vorgebildet ist. Und es ist genau die Sprachhandlung, die in dieser Spannung verhandelt wird. Das Theodizeeproblem wird von Christen nicht gelöst, sondern erlitten.
d) Theodizee in praktischer Absicht – Weltlichkeit Diese Authentizität des Bekennens wurde lange Zeit als moralische Frage verhandelt, als könnten nur moralisch gute Menschen glaubwürdig von der Todesüberwindung sprechen. Bei solcher Argumentation ist ebenso Vorsicht geboten wie bei der oberflächlichen Argumentation, das Leiden sei letztlich der „Preis der Liebe“ (Greshake)37 oder der Ruf nach einem paradoxen Glaubenssprung (Ammicht-Quinn 232). Klage und Protest verlangen keine „Moralische Aufrüstung“ (Spoerri). Der christliche Glaube ist daran zu messen, ob es ihm gelingt, Klage und Protest gegen Gott in einen neuen Motivations- und Handlungszusammenhang einzubringen. Er kann mit zwei Stichworten umschrieben werden: Solidarität und Veränderung: (1) Wo stehen die Klagenden und wessen Erfahrungen bringen sie zu Wort (Cl. Boff)? (2) Wie lassen sich Armut, Elend und andere Formen des Bösen bewältigen? Es sind dies keine Fragen nach Heroismus, sondern nach der eigenen Option, nicht nach zukunftsfähigen Programmen, sondern nach dem wirklichen Prozess. Neben die großen individuellen Vorbilder treten heute Netzwerke von Gruppen und Initiativen. Sie durchziehen unsere Gesellschaft mit Visionen und Projekten, sozialen Ideen und solidarischen Aktionen (Albus). Hier zeigt sich ein für religiöse Erfahrung wichtiger Zusammenhang. Wer die Theodizeeklage vollzieht, sie also aus der Welt schaffen möchte, erfährt selbst Orientierung und lenkt die Wirklichkeit, in die er sich begibt, in eine neue Richtung; er stellt sich faktisch auf die Seite der Opfer. Das ist die erste Option, und Gott wird nur noch indirekt verteidigt; im 36 In den Klageliedern lautet die furchtbare Anklage: „Es liegen am Boden der Gassen Jüngling und Greis. Meine Jungfrauen und meine Burschen sind gefallen durchs Schwert. Du hast getötet am Tag deines Zornes, hast geschlachtet, nicht verschont“ (Klgl 2,1,21; Berges 2002, 128). 37 Zur Instrumentalisierung solcher Argumentation: Geyer, 220–236; Janssen, 183; Wagner, 91.
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Mittelpunkt des Interesses stehen die Unterlegenen und die Todeslinien der Welt; die Theodizee wird zur „Anthropodizee“, d. h. zur Verteidigung der Menschen (Häring 1999, 139–142). Unbestreitbar deckt sich diese Haltung mit dem Gebot der Nächstenliebe, das gemäß christlicher Tradition mit dem Gebot der Gottesliebe gleichrangig ist. Diese Identifikation beider ist nicht problemlos, denn der Protest gegen das Böse wird zum Protest gegen Gott und kann die theoretische Geschlossenheit des Glaubens zerreißen. Das christliche Glaubenskonzept ist gegenüber solchen Kontrasterfahrungen nicht abgesichert, denn ein „Konflikt der Interpretationen“ ist in Augenblicken der Verzweiflung unausweichlich. Die Verdrängung dieser Tatsache ist ein wichtiger Grund für den Abschied vieler Menschen von der organisierten christlichen Religion. Die Leidenschaft für eine versöhnte und gerechte Welt stärkt im Christentum einen starken Zug zur Weltlichkeit. Christen werden von Anfang an dazu angeleitet, das Antlitz Christi in jedem Menschen zu erkennen, der mich braucht: „Ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben“ (Mt 25,36). „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,31–46). Diese Glaubenshaltung schaut nicht auf den Glauben der Mitmenschen. Diese Haltung ist zugleich einer unabweisbaren Erfahrung der Gottesferne ausgesetzt, weil sich die Demütigung und Vernichtung von Menschen nicht abschaffen lässt. So zeigt sich: Auch dieser „moderne“ Weg der christlichen Theodizee kann keine Probleme lösen, aber er zeigt Wege, sie ohne Verschleierung zu erkennen und auszuhalten. Daraus erwächst ein Prozess der Transzendenz, die der Philosoph Safranski folgendermaßen umschreibt: „Hiob hält an Gott fest, weil er sich selbst – seine Leidenschaft für Gott – nicht aufgeben will. Die Vorstellung einer gerechten Welt ist schon zerstört. Aber würde er sich von Gott abkehren, so würde er auch sich selbst zerstören, und zwar jenes ‚Selbst‘, zu dem es gehört, dass es sich nicht selbst gehört. Ein Selbst, das transzendieren kann und darin erst seinen Reichtum findet, das Menschenmögliche. Hiob weigert sich, es preiszugeben, er weigert sich, Transzendenzverrat zu begehen. Er hält damit an der Würde des Menschen fest. … Hiobs Frömmigkeit triumphiert über den Atheismus, der sich in der Religion selbst versteckt“ (Safranski, 315). Diese Beschreibung zeigt, wie die beschriebene christliche Dialektik zutiefst menschlich ist. e) Das Böse als Offenbarung Gottes? In der Frage nach dem Bösen laufen die zentralen Linien des christlichen Glaubens zusammen. Die christliche Tradition gibt der vielfältigen Wahrheit vom Bösen eine spezifische Tiefenstruktur, indem sie es auf die
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Erinnerung an Jesus von Nazaret bezieht. Eine jede Religion häuft ja eine Vielfalt von Erinnerungen und Erfahrungen auf, die im Laufe der Zeit oft ihre Bedeutungsschärfe verlieren können. So wurden die Gerichtsreden Jesu in verschiedenster Weise ausgelegt. Neben dem Bild vom allgütigen gibt es das Bild vom gerechten und strafenden Gott (Mt 25,31–46) (Dietrich), neben der Vision des Himmels die Schreckensprojektion der Hölle (Mt 8,12). Die ursprünglich humanisierende Funktion des Talionsrechts (Ex 21,24) wird heute zu Unrecht als „alttestamentarisches“ Vergeltungsprinzip gehandelt. Das Wort Jesu, dass durch das Schwert umkomme, wer zum Schwert greift (Mt 26,52), kann im Sinne ausgleichender Gerechtigkeit oder im Sinne der Gewaltlosigkeit interpretiert werden. Es ist also äußerst gewagt, die christliche Religion ohne Vorbehalt als Religion der reinen Liebe zu verstehen. Eindeutig bleibt jedoch die in den Evangelien niedergelegte Erinnerung an ein historisch datierbares Ereignis. Es ist zudem eine Erinnerung, die das breite Erbe aus früherer und späterer Zeit neu zu prägen weiß. Es war ja der Schock dieser Todeserfahrung, der die Jüngerinnen und die Jünger Jesu an Gottes Macht und Treue zweifeln ließ. Welche Offenbarung hat also die abgrundtiefe Bosheit dieser Stunde ans Licht gebracht? Vom Beginn des christlichen Glaubens an bedeutet die Erfahrung dieses Bösen ja die Nagelprobe eines Glaubens, in dem alle religiöse Erfahrung neu verschmolzen wird. So wird Gott selbst von diesem Problem des Bösen her definiert. Bis vor wenigen Jahrzehnten hätte kaum ein christlicher Theologe das christliche Gottesbild aus der Perspektive des letzten Kapitels umschrieben. Im Gefolge hellenistischer Tradition galt Gott als jene absolut transzendente Instanz, die keinen Einflüssen von außen her unterliegen kann. Die Fragen an dieses Gottesbild wurden immer massiver formuliert (Küng 1970, 1974). Inzwischen wird Gott wieder als ein Gott begriffen, der in die Geschichte des Bösen wirklich verwoben ist. Gott wäre nicht Gott, wenn er nicht vom Bösen betroffen wäre. Hier ist nicht etwa die Spezialistenfrage zu entscheiden, ob Gott „leiden“ kann, ob er „mit-leidet“, vielleicht „gekreuzigt“ oder „tot“ ist (Faber, Kitamori; Riedlinger; Streminger, Weinandy). Entscheidend ist die aus Jesu Leidens- und Todesgeschichte gewonnene Erkenntnis: Der Gott Jesu Christi steht in der Auseinandersetzung mit dem Bösen, also in Sieg und Niederlage, auf der Seite der Menschen. Er nimmt die Erfahrungen menschlicher Demütigung als seine eigenen Erfahrungen auf, wird vom menschlichen Tod mitberührt. Er setzt seine eigene Macht dieser Ohnmacht auf die Gefahr hin aus, dass er selbst ohnmächtig wird. Wieder sind es Person und Geschichte Jesu von Nazaret, in dem sich dieses Geschehen – exemplarisch für das Weltgeschehen – dramatisch zuspitzt.
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Mit solchen Aussagen wird Gott nicht seinem Geheimnis entrissen, aber doch menschlichen Erfahrungen angenähert. Wer den Tod Jesu als Geschichte mit Gott akzeptiert, lässt sich auf die oben besprochenen Widersprüche ein. So erscheint Gott als eine Instanz, die sich dem Bösen stellt (ohne letztlich Schaden zu erleiden?), sich auf den Tod einlässt (ohne selbst von ihm besiegt zu werden?), sich gegenüber den Menschen als treu erweist (ohne an ihnen zugrunde zu gehen?) und sich in einem menschlichen Schicksal identifizieren lässt, ohne das Gott-Sein aufzugeben. Auf die vielfältigen abstrakt-trinitarischen Lösungen des Problems gehe ich hier nicht ein. Schon W. Weischedel, der „Gott“ als das „Vonwoher der Fraglichkeit“ umschrieb (Weischedel II, 206–216), hat das verschärfende Problem des Bösen noch nicht mitbedacht. Offensichtlich lässt sich der Kampf mit Gott nicht besser umschreiben als Safranski es tat: „Hiobs Gott ist seine Frage als Gestalt. Er ist so unbekannt, wie es der Mensch sich selbst ist. Er reicht nicht in seinen Grund. Man lebt aus ihm, aber nur so lange, wie er unbekannt bleibt“ (Safranski, 315). Gleiches gilt für die Grauen der Welt. Auschwitz, Archipel GULAG und Nagasaki, die letzte Stunde der Zwillingstürme des World Trade Center, auch der Tod eines geliebten Menschen bleiben in ihren Schrecken letztlich unbekannt. Man kann nur aus ihnen, bestenfalls angesichts ihrer leben, dies in einem unauslotbaren Gegensatz zu dem anderen Urgrund, Gott genannt, der allem Erkennen vorangeht und der den Streit erst noch austragen muss (Wagner). So wurden zwar oft paradoxe Formulierungen versucht, aber nie konnten sie eine intellektuelle oder affektive Versöhnung erreichen. Sie holten Gott aus der endlosen Dialektik von Macht und Ohnmacht nicht heraus, auch die Schrecken des Todes Jesu führen nicht weiter. Offensichtlich gelingt dies nur in einer Erfahrung, die das Böse selbst erleidet und darin eine merkwürdige Versöhnung findet, die keiner weiteren Erklärung bedarf. Aus diesem Grund sind die so genannten Gottesknechtlieder des Jesajabuchs von hoher Bedeutung. Sie zeigen, was Gewaltlosigkeit als Weg zur Überwindung des Bösen bedeutet. Wer dieser „Gottesknecht“ oder „leidende Gerechte“ (Ruppert) ist, wissen wir nicht mehr; vielleicht symbolisiert er das leidende Israel, vielleicht den König, einen Propheten oder einen einzelnen Gerechten. Zugleich leuchtet ein, dass die Christen in diesem „Knecht“ Jesus von Nazaret sahen und noch immer sehen können. Diese Lieder erklären nichts, sondern stellen dar. Sie nennen ungelöste Fragen und veröffentlichen damit das Schicksal der Menschheit (Schillebeeckx 1977, 704–761).
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Im vierten Lied (52,13–53,12) heißt es: Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. (53,4) Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt … (53,5) Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf. (53,7)
Alle Ideologie von göttlicher Gerechtigkeit ist zerbrochen, dennoch steht sein Leiden im Zusammenhang mit der menschlichen Bosheit. Aber er reagiert nicht mit Gewalt. Genau das macht ihn schwach. Diese Gestalt ist die Figur unseres Elends. Im ersten Lied (Jes 42, 1–9) heißt es: Er schreit nicht und lärmt nicht und lässt seine Stimme nicht auf der Straße erschallen. Das geknickte Rohr zerbricht er nicht, und den glimmenden Docht löscht er nicht aus; ja, er bringt wirklich das Recht. Er wird nicht müde und bricht nicht zusammen, bis er auf der Erde das Recht begründet hat. Auf sein Gesetz warten die Inseln. (Jes 42, 2–4)
Diese Gestalt ist zugleich eine Hoffnungsfigur, die das Recht einer versöhnten Welt begründet. Die Hoffnung entspringt dem Willen, das geknickte Rohr nicht zu zerbrechen. Die Figur verstummt nicht deshalb, weil sie alles blind erduldet, sondern weil sie die Folgeketten des Bösen, von Angriff und Gegenwehr, konsequent unterbricht. Dem Protest gegen Gott wird die Frage des eigenen Verhaltens entgegengesetzt. Wir nähern uns hier einem paradoxen Erfahrungszusammenhang, der sich bei Mystikern (etwa bei Meister Eckhart) wieder findet. Von außen ist zwischen aktiver Annahme und passiver Resignation kaum mehr zu unterscheiden, aber aus der eigenen Erfahrung kann deutlich werden: Nur wer sich dem Grauen des Leidens vorbehaltlos aussetzt, bringt es fertig, ihm nicht zu erliegen, sondern sich ihm kompromisslos entgegenzustellen; die Theologin D. Sölle spricht von der „Wahrheit der Annahme“ (Sölle, 111–148). An diesem Punkt können wir auf einen Hinweis Feuerbachs zurückgreifen, dass sich in der religiösen Rede nämlich Subjekt und Prädikat vertauschen. Wenn Christen bekennen, dass Gott die Liebe sei, dann weisen sie darauf hin, dass die Liebe für sie göttlich ist. Dies gehört m. E. zu den fundamentalen Grundimpulsen der christlichen Religion, die aus dem Geden-
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ken an Jesu Tod erwachsen sind: Die einzige Möglichkeit, das Böse zu überwinden, sind die zum Leiden fähige Solidarität und die Bereitschaft, alle deren Folgen anzunehmen, ohne neu dem Kreislauf des Bösen zu verfallen. Weniger defensiv formuliert: Die zum Leiden fähige Liebe trägt in sich die göttliche Kraft, das Böse zu überwinden. Allerdings bedarf Feuerbach auch einer Differenzierung. Göttlich ist nicht etwa das vage Gefühl, sondern diejenige Liebe, die es in Handeln und Solidarität mit dem Bösen aufnimmt. So verstanden geht es um keine defensive Position, sondern um ein selbstbewusstes Wort, weil es mit der Liebe seine positiven Erfahrungen gemacht hat. Wenn solche Liebe aber göttlich ist, dann bleibt den Christen nur eine einzige, sehr weltliche Frage zu beantworten: Gibt es solche machtvolle, in sich gleichwohl gewaltfreie Liebe tatsächlich? Das ist keine spekulative, sondern eine radikal empirische Frage, deren Antwort nur im Verbund von Solidarität und Authentizität gelingen kann. Nach gegenwärtigem Verständnis erweist sich das Christentum in seiner Fähigkeit, diese radikale Liebe als mögliche Wirklichkeit von Menschen aufzuspüren oder zu schaffen. Wo aber lässt sie sich finden? Die Antwort kann nur lauten: Diese radikale und mächtige Liebe findet sich in menschlichem Handeln, genauerhin in der Parteilichkeit für die Verlorenen. Das ist sozusagen der allgemeine, der weltliche Teil dieser Antwort. Viele Erfahrungen und Ereignisse zeigen, dass es solche Liebe gibt, dass sie sich in besonderen Situationen wie selbstverständlich einstellen und dass sie „stärker als der Tod“ sein kann (Hld 8,6). Zugleich aber gibt es Gegenerfahrungen. Deshalb bleibt doch noch die Entscheidung zu treffen, ob ich dieser Liebe wirklich trauen und ihr das letzte Wort zugestehen will. An diesem Punkt zeigt sich die paradigmatische Bedeutung Jesu; in der christlichen Tradition nahm er die Gestalt des Auferweckten, also des Siegreichen an. Weil es ihm so gelang, seine eigene Vernichtung als Folge seiner vorbehaltlosen Solidarität zu thematisieren, gilt er als derjenige, der Gottes Wahrheit und Rettung definitiv offenbart hat. Er, der Gescheiterte, erhält die Rolle des Messias. Allerdings sind zwei Vorbehalte hinzuzufügen, da sich die bleibende Koexistenz von Gut und Böse nicht leugnen lässt (Trau). Der erste bezieht sich auf Jesus Christus. Mit der Auferstehungsbotschaft ist das Eingeständnis verbunden, dass er vorzeitig wegging (Lk 24, 50–52; Apg 1,9–11), um erst am Ende der Zeiten wiederzukommen. Darin zeigt sich ein ehrlicher Realismus, denn trotz aller Siegeszuversicht ist das Böse nicht überwunden. Wir können das Böse nur überwinden, indem wir ihm nicht mit gleicher Gewalt widerstehen. Der zweite Vorbehalt betriff das christliche Gottesbild (Häring 1999, 192–201). Die traditionelle Titulatur „allmächtiger Gott“ hat zu einem fa-
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talen Missverständnis geführt. Nirgendwo in biblischen Texten ist von Gottes Allmacht die Rede; das gibt zu denken. Im Anschluss an das byzantinische Hofzeremoniell spricht die Tradition später vom „Pantokrator“, das ist der, der für alles sorgt. Erst zu Beginn des Mittelalters schleicht sich das fatale scholastische Missverständnis von einem Gott ein, der in einem absoluten Sinn des Wortes all-mächtig sei (Häring 1999, 171–178; John). Ganz offensichtlich ist Gottes Macht aus christlicher Sicht keine Gewalt ausübende, keine politische und keine alles erzwingende Macht, sondern eine Macht, die mit Ohnmacht und Selbstbegrenzung durchaus zusammengedacht werden kann (Jonas 1987; Schieder). Gemeint ist vielmehr die Macht, die der Liebe, der Freiheit und der Kommunikation eignet. Christinnen und Christen sind also dazu aufgerufen, der Solidarität und der Liebe alles, wirklich alles zuzutrauen und ihr das letzte Wort zu überlassen. Das ist die entscheidende christliche Antwort auf die Macht des Bösen. Wie radikal diese Antwort scheitern kann, auch das lässt sich an der Geschichte des Christentums selbst ablesen. Von Anfang an ist die christliche Religion nämlich durch das Böse so tief verletzt, dass sie aus sich selbst mit ihm nie fertig werden kann. Andererseits wird von Anfang an alle Hoffnung, hier und jetzt lasse sich das Böse schon bewältigen, der Naivität überführt.
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III. Das Böse in der islamischen Tradition* 1. Einleitung In den islamischen Wissenstraditionen hat die Kategorie des Bösen deutlich weniger Aufmerksamkeit als in den entsprechenden europäischen, christlichen wie jüdischen Traditionen gefunden. Das bedeutet nicht, dass das Böse von islamischen Theologen, Philosophen, Juristen und Mystikern nur als ethisches Randproblem begriffen worden wäre. Im Gegenteil, gerade die theologischen Debatten der islamischen Scholastik (ca. 8.–13. Jahrhundert) beschäftigten sich immer wieder auch mit dem Bösen, wenn es um die Auseinandersetzung um die Willensfreiheit des Menschen ging. Der Grund für dieses – gemessen an den christlichen Diskussionen – geringe Interesse am Bösen ist sicherlich auch ein theologischer gewesen. In den wichtigsten islamischen Wissenskulturen (Theologie, Philosophie, Recht und Mystik) gab es keinen Raum für die Ausgestaltung eines autonomen Bösen, da das Böse nicht mit einem Seinsgrund des Menschen verknüpft wurde. Diese christliche Tradition, die engstens mit dem Problem des in Sünde geborenen, von der Erbsünde belasteten Menschen verbunden ist, ist kein islamisches Thema. Der Auszug von Adam und Eva aus dem Paradies ist nicht mit einer existentiellen, allen nachfolgenden Generationen vererbten Schuld verbunden. Die Sünde bleibt gemäß islamischer Dogmatik immer Tat eines Einzelnen. Adam und Eva haben auch der islamischen Tradition nach gesündigt, doch war es ihre individuelle Tat, und es blieb sie auch. Mithin tritt das Böse nicht als Kontinuum auf, das sich als Sünde in den Menschen prinzipiell manifestiert, sondern als kontingente Eigenschaft des einen einzelnen Menschen. Dessen ungeachtet kann, gerade bei den Mystikern, das Böse auch seinen Ort im Menschen haben, doch gerade dann ist es nicht autonom, sondern stets individuell gedacht. Damit waren andere Voraussetzungen für die Befassung mit dem Bösen gegeben als etwa im Christentum. Es ergab sich keine systemisch zwingende Notwendigkeit, das Problem des Bösen „zu lösen“, da es – im engeren * Aus Gründen der Lesefreundlichkeit wurde hier auf die wissenschaftliche Transliteration verzichtet und eine im angelsächsischen Sprachraum verbreitete Transkription verwendet.
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Sinne – kein „Problem des Bösen“ gibt. Die islamische Theologie beschreibt deshalb auch keine besondere Erlösung durch Gott im engeren Sinne, sei es aus Knechtschaft oder aus Schuld und Sünde. Daher entfiel die Voraussetzung für die separate Behandlung des Bösen als besonderes Problem der Philosophie wie der Theologie.1 Aus der Warte der islamischen Wissenstraditionen gesehen ist die Faszination, die dem Bösen eine fast magische Kraft zuspricht, nicht nachvollziehbar. Das Böse hat nichts Numinoses an sich, das mit dem Numinosen der Religion in Konkurrenz treten könnte.2 Dies anzunehmen würde auch der Grundauffassung der islamischen Dogmatik widersprechen, derzufolge dem „Bekennen der absoluten Einzigkeit des einen, transzendenten Gottes“ (tawhid) nichts beigesellt werden dürfe. Das Böse zu einer abstrakten Kategorie des Numinosen aufzuwerten würde bedeuten, dieses Grunddogma zu verletzen und Gott etwas „beizugesellen“ (shirk). Das Böse tritt in den früheren islamischen Literaturen nicht als abstraktes, tätiges Subjekt in Erscheinung. Die Figur des Teufels findet sich zwar in der klassisch-arabischen Dichtung und Prosa, doch tritt der Teufel fast ausschließlich als Verführer der Menschen oder als Widersacher Gottes auf. Er mag hier mit dem Bösen in Verbindung gebracht werden und das malum morale vertreten, das moralisch Böse wird aber nicht gesondert angesprochen. Zum literarischen Thema wird das Böse erst in der modernen arabischen Literatur,3 doch davon soll im Folgenden nicht die Rede sein. Mein Anliegen ist vielmehr, die wichtigsten Traditionslinien herauszu1 G. E. von Grunebaum, „Observations on the Muslim Concept of Evil“, in: Studia Islamica 31 (1972), S. 117–134. In der zeitgenössischen islamischen Apologetik findet sich allerdings immer wieder der Hinweis darauf, dass im Islam die Erlösung des Menschen durch die Befolgung des „schönen Beispiels“ Muhammad gegeben sei. Auch in der neueren schiitischen Theologie wird das Thema „Erlösung“ häufiger angesprochen und in Bezug zur Bitte um Fürsprache und zu Gottes Barmherzigkeit gesetzt, cf. Muhammad Husayn at-Tabatabai (1901–1980), al-mizan fi tafsir al-quran, I–XX, Teheran: as-sultani 21973, hier Bd. X (Exegese der Suren 10 [Yunis] und 11 [Hud]). Anzumerken ist zudem, dass in der (rituellen) Erinnerung der Ermordnung von Husayn, dem Sohn des Kalifen Ali 680, schiitische Gelehrte oft ein Element der Erlösungssuche sehen; siehe hierzu Mahmoud Ayoub, Redemptive Suffering in Islam: A Study of the Devotional Aspects of Ashura in Twelfer Shiism, The Hague: Mouton 1978. Außerdem Jonah Winters, Martyrdom in the Shii and Babi Religions, MA Thesis, University of Toronto 1997, S. 48ff. 2 Das Böse als Numinosum nahm noch Gustav Mensching in seinem Buch: Gut und Böse im Glauben der Völker, Leipzig: Hinrichs 1941, an. Das Buch hat für die Diskussion des Bösen in der islamischen Tradition keinerlei Nutzen. 3 Hierzu Khalil Shaikh, Der Teufel in der modernen arabischen Literatur, Berlin: Schwarz 1986.
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arbeiten, in denen islamische Autoren des Mittelalters über das Böse dachten und es zu verstehen versuchten. Ich werde mich dabei auf die Aussagen von Theologen, Philosophen und Mystikern beschränken. Unberücksichtigt bleibt die Frage, ob und wie islamische Juristen das Böse in ihren rechtsdogmatischen und kasuistischen Schriften als Kategorie aufnahmen.4 Ebenso muss ich auf eine gesonderte Erörterung des Bösen in islamischen häretischen, vor allem gnostischen Lehren (an erster Stelle ist die Ismailiya zu nennen) verzichten.5 Manichäiche Tendenzen, die sich auch und gerade in iranischen islamischen Traditionen finden, bleiben ebenso unberücksichtigt wie die gerade hier verbreitete Visualisierung des Bösen in der islamischen Kunst.6 Das Hauptaugenmerk soll dem Verstehen des Bösen innerhalb der islamischen Theologie, Philosophie und Mystik des 8.–16. Jahrhunderts gelten. Damit ist eine wichtige Einschränkung angesprochen. Solange muslimische Gelehrte, Philosophen oder Mystiker glaubten, ethische Werte allein durch eine wie immer intellektuell auch ausgestaltete Bezugnahme auf Gott definieren zu können, ist das Böse relational gedacht. Diese Relation beruhte auf der Überzeugung, dass der Mensch dialogisch zu Gott stehe und dass mithin ethische Werte stets theozentrisch gedacht werden müssten. Sicher, auch in der islamischen Tradition gab es Bestrebungen zu einer Negativen Theologie: So sah der irakische Theologe Muammar b. Abbad as-Sulami (gest. 830) alles endlich Seiende, also Kosmos, Natur und Mensch, als unvereinbar mit der Unendlichkeit Gottes, weshalb Gott mit den Kategorien der Welt nicht zu erfassen sei und zwischen Gott und Mensch eine absolute Erkenntnisgrenze gezogen werden müsse. Zudem sei die Natur in sich selbst begründet und begründe andere Umstände, so dass Gottes Bezugnahme auf die Erscheinungswelt vollkommen ausgeschaltet sei. Deshalb müssten alle ethi4 Der irakische Dogmatiker und Jurist Ibn Aqil (1039–1119) betonte, dass das Problem von Gut und Böse keinen Platz in der Jurisprudenz habe, zitiert bei George Makdisi, Ibn Aqil. Religion and Culture in Classical Islam, Edinburgh: Edinburgh University Press 1997, S. 127. 5 Der Begriff „Häresie“ ist in der islamischen Tradition nicht leicht zu fassen. Konventionell werden hierunter die islamischen Denktraditionen gefasst, die dem Umfeld der so genannten Batiniten zugeordnet werden können. Dieser Name dient als Sammelbegriff für islamische Traditionen, in denen neben dem exoterischen durch eine bestimmte Elite ein esoterisches Wissen überliefert wurde, das nicht der Allgemeinheit zur Verfügung steht. Viele Häresien dieser Art entstammen dem ismailitischen Milieu. Was als Häresie definiert wurde, hing natürlich von dem jeweiligen Gelehrtenkonsens ab. 6 R. Millstein, „The battle between good and evil in Islamic painting“, in: Jerusalem Studies in Arabic and Islam 18 (1994), S. 198–216.
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schen Werte entweder im Handeln des Menschen selbst oder begründet durch die Natur verstanden werden. Das Böse sei so entweder in der Natur oder in der absoluten Willensfreiheit des Menschen verursacht.7 Diese sich einem Deismus nähernde Negative Theologie hatte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss im 9. und 10. Jahrhundert, doch führte sie nicht zu einer anthropozentrischen Bestimmung ethischer Werte, da Gott weiterhin „mitgedacht“ wurde. Dieses Mitbedenken Gottes in irdischen Angelegenheiten definiert das islamische Religionsverständnis. Es aufzugeben bedeutet nicht zwangsläufig, den islamischen Symbolrahmen überwinden zu müssen, genauso wenig wie der christliche Säkularismus die Abschaffung des christlichen Symbolrahmens verlangte. Da es hier aber um die Position des Bösen in der islamischen Theologie geht, werden alle Versuche einer Säkularisierung ethischer Werte innerhalb der islamischen Tradition unberücksichtigt bleiben. Der Forschungsstand erlaubt es zur Zeit nicht, die Geschichte der islamischen Theologie über das 16./17. Jahrhundert hinaus verlässlich fortzuschreiben, was bedeutet, dass etwaige Versuche, innerhalb der islamischen Tradition ethische Werte und mithin das Böse zu säkularisieren, außer Betracht bleiben müssen.
2. Die Mythen des Bösen Paul Ricœur hat vorgeschlagen, drei Traditionen des mythischen Erzählens über das Böse zu unterscheiden. Die erste Tradition fasste er als mythes théogoniques auf, in denen das Prinzip des Bösen mit dem Chaos identifiziert wird, das vor der Herstellung der Ordnung (Kosmos) durch die Götter existierte. Chaos und Kosmos, Unordnung und Ordnung würden diesen Mythen zufolge beide in den menschlichen Handlungen als Böse und Gut tradiert, ohne dass die Menschen einen unmittelbaren Willensentscheid über die Entstehung von Gut und Böse hätten. Die zweite Tradition benannte Ricœur mit dem Begriff mythes tragiques, in denen die Bestimmung des Bösen mit der heroischen Bestimmung in einen unlösbaren Konflikt tritt, der sich im Handeln der Menschen, das selbst nur das Ergebnis eines „früheren Dramas“ sei, äußere. Die dritte Tradition sah er in den mythes adamiques gegeben, in denen der Ursprung des Bösen mit dem Ursprung der Menschen in Verbindung gebracht und das Böse auf den Menschen zurückgeworfen wird. Nur der adamitische Mythos sei „anthropologisch“: Er zeige sich erstens in einer ätiologischen Rückbindung des Bösen an einen menschlichen Ahnen der Menschheit, zweitens in 7 Hierzu Hans Daiber, Das theologisch-philosophische System des Muammar Ibn Abbad as-Sulami (gest. 830 n.Chr.), Beirut/Wiesbaden: Steiner 1975, S. 129ff.
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einer radikalen Aufspaltung des Ursprungs des Bösen und des Guten, wobei dem Guten ein zeitlicher Vorrang vor dem Bösen eingeräumt wird, und drittens in der Konfrontation des primordialen Menschen Adam mit einem Gegner (dem Teufel) und weiteren Personen (Eva), auf die das Böse „verteilt“ wird.8 Das Bild des „Falls“ aus dem Guten ins Böse, das vor allem die christliche Tradition kennt und das schon im Neuplatonismus ausgestaltet war, wird von Ricœur nicht als konstitutiv für diesen Mythos angesehen, da dieses Bild in der biblischen Tradition – wir können ergänzen: auch in der islamischen Tradition – nicht auftaucht. In der islamischen Religionsgeschichte tritt der adamitische Mythos des Bösen deutlich in den Vordergrund. Dies ist auch nicht weiter verwunderlich, da die koranische Offenbarung ab einem bestimmten Zeitpunkt mit den abrahamitischen Traditionen verknüpft wurde und damit den adamitischen Mythos integrierte. Dies bedeutet allerdings nicht, dass in der islamischen Religionsgeschichte „theogone“ oder „tragische“ Mythen über die Entstehung des Bösen verschwunden wären. Wie noch zu zeigen sein wird, ist gerade der tragische Mythos in sufischen Kreisen wichtig gewesen. Im Koran9 selbst überwiegt eindeutig der adamitische Mythos vom Bösen. Als Wort gewordener Gott10 lässt der Koran keinen Zweifel daran, dass das Böse als Kategorie der Widersetzlichkeit oder des Frevels (zulm) gegenüber Gott zu verstehen sei. Das Böse existiert dabei stets als Handlungsqualität und nicht als autonome Kategorie, die durch Handlungen oder Einstellungen geäußert werden kann. Konzeptionell ähnelt es daher der hebräischen Wendung ha-raah oder ha-ra, die ja in der Tora ursprünglich allein eine die Erkenntnis bestimmende Qualifizierung von menschlichen Handlungen im Lebensbezug bezeichnete. Handlungen können im Alten Testament eben tob („gut“) oder ra („böse/schlecht“) sein.11 Auch in der koranischen Offenbarung existieren Gut und Böse damit nicht außerhalb des Tuns von Gottes Geschöpfen. Präziser müssen wir sagen, dass das Böse nicht außerhalb des Tuns von allem und allen außer Gott stehe. Gottes Strafhandlungen sind nicht böse, sondern ein Äquivalent zu dem, was der Mensch Gott angetan hat, und damit „rechtens und 8 Paul Ricœur, Philosophie de la volonté, t. II. Le symbolisme du mal, Paris: Aubier 1960, hier S. 374–376. 9 Ich zitiere aus dem Koran, von kleinen Abweichungen abgesehen, nach der Übersetzung von Rudi Paret (Hrsg.), Der Koran, Stuttgart: Kohlhammer 21982; dazu Kommentar und Konkordanz, Stuttgart: Kohlhammer 1971, 1980, unter Nutzung der ägyptischen Standardausgabe. Die übrigen Übersetzungen stammen, soweit nicht anders vermerkt, von mir. 10 Stefan Wild, Mensch, Prophet und Gott im Koran, Münster: Rhema 2001, S. 6. 11 Hierzu ausführlich: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Bd. VII, S. 582–611 (Rick).
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nicht unrechtens“. Diese Deutung des Bösen wird ausschließlich in Form eines adamitischen Mythos erzählt. Damit gehört die Narration um die Entstehung des Bösen in die so genannte zweite mekkanische Periode der koranischen Offenbarung. Konventionell wird die Offenbarung in vier Perioden eingeteilt: Die ersten drei Perioden beziehen sich auf die koranische Offenbarung an den Propheten Muhammad, als dieser noch in Mekka beheimatet war, also ungefähr auf die Zeit von 610 bis 622.12 Die vierte Periode enthält alle Offenbarungen, die Muhammad nach der Auswanderung (hijra) nach Medina im Jahre 622 bis zu seinem Tod 632 erhalten hat. Die Einteilung in die drei mekkanischen Perioden der koranischen Offenbarung, die zunächst von Gustav Weil eingeführt und dann von Theodor Nöldeke, Friedrich Schwally und schließlich Régis Blachère unter besonderer Berücksichtigung stilistischer und sprachlicher Merkmale ausgearbeitet wurde und die sich nicht mit den thematisch geführten Historisierungsversuchen der islamischen Koran-Gelehrten deckt13, ist keineswegs in allen Einzelfällen als gesichert anzunehmen. Doch erscheint sie insofern plausibel, als offenbar erst in einer zweiten Offenbarungszeit (also in der „zweiten mekkanischen Periode“) der Koran explizit auf die abrahamitischen Traditionen Bezug nimmt. In der ersten mekkanischen Periode finden wir praktisch keinen Hinweis auf den adamitischen Mythos. Mithin wird hier auch das Böse nicht ätiologisch bestimmt oder gar in einen Bezug zum Handeln des Menschen gesetzt. In den frühen mekkanischen Offenbarungen, in denen noch keine genealogische Verkettung der koranischen Offenbarung mit den biblischen Traditionen deutlich wird, finden sich kaum Aussagen darüber, was in der Welt das Böse sei und wie es in die Welt gekommen sei; allenfalls lässt sich vermuten, dass das Böse im Sinne eines „schlechten Omens“ oder eines magischen Unheils, etwa in Sure 113, einer der beiden so genannten „(gegen das Unheil) feienden“ Suren, gedacht ist: „Sag: Ich suche beim Herrn des Frühlichts Zuflucht, vor dem Unheil (sharr), (das) von dem (ausgehen mag), was er (auf der Welt) geschaffen hat, vor dem Bösen der hereinbrechenden Finsternis, vor dem Bösen der Weiber, die (Zauber-)Knoten bespucken, und vor dem Bösen eines Neiders, wenn er neidisch ist.“
Hier ist das Böse auf die Welt selbst, auf ihre „dunkle Seite“, auf diejenigen, die mit Zauber in Beziehung stehen, und auf den „Neider“14 bezo12 Alle Jahresangaben beziehen sich der Einfachheit halber auf die christliche Ära. Muslimische Jahresangaben wurden daher grundsätzlich umgerechnet. 13 Einen Überblick gibt A. T. Welch, „al-Kuran“, in: Encyclopaedia of Islam, 2nd ed. [= EI2], V, Leiden: Brill 1986, S. 400–429, hier S. 416–417. 14 Das Bild des „Neiders“ ist bald schon fester Bestandteil der Imagination des Teufels.
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gen. Das Böse ist hier also „dämonisch“ gedacht. Das semantische Konzept sharr, das in dieser Sure benutzt wird, beschrieb in den altarabischen Erzähl- und Dichtungstraditionen die Eigenschaft einer Sache oder eines Menschen, ein böses Vorzeichen zu sein. Die Opposition zum sharr bildet der Begriff khayr, der entsprechend wohl das „gute Omen“ bedeutet haben mag. Beide Wörter können in substantivischer wie attributiver Verwendung auftreten. In attributiver Verwendung bezeichnen beide eine komparative oder elative Relation („böser“, „besser“ beziehungsweise „bösest“, „best“). Diese Opposition ist schon in frühmekkanischen Suren belegt. So ist zum Beispiel in Sure 99:7–8 zu lesen: „Wenn dann einer (auch nur) das Gewicht eines Stäubchens an Gutem getan hat, wird er es zu sehen bekommen. Und wenn einer (auch nur) das Gewicht eines Stäubchens an Bösem getan hat, wird er es (ebenfalls) zu sehen bekommen.“15
Da die frühen mekkanischen Offenbarungen noch nicht explizit im Kontext der abrahamitischen Narration standen, bezogen sich die Begriffe sharr/khayr vorrangig auf die Bewertung von Handlungen als Glauben und Unglauben. Mit dem Einbezug der abrahamitischen Tradition aber gewinnt die moralische Bewertung menschlicher Handlungen zunehmend an Bedeutung. Der Offenbarungstext zieht zur Bezeichnung der Dichotomie gut/böse nun aber ein anderes semantisches Konzept vor und benennt das Gute mit dem arabischen Lexem husn, und das Böse oder hier besser das Schlechte mit dem Lexem su. Beide Begriffe treten in verbaler (gut handeln vs. böse/schlecht handeln) und in attributiver Verwendung (ein Handeln ist gut oder böse) auf. Pluralisiert bezeichnen diese Begriffe dann die guten beziehungsweise die bösen Taten. In einer mekkanischen Offenbarung, die schon im Kontext der abrahamitischen Verkettung zu lesen ist, wird die Funktion moralischen Handelns genauer bestimmt: „Wenn ihr etwas Gutes tut, dann tut ihr es für euch selber. Ebenso, wenn ihr etwas Böses tut.“ (17:7)
Hier sind Gut und Böse eindeutig schon als Handlungsqualitäten beschrieben. Hierfür wird bevorzugt die Opposition husn/su genutzt, die offensichtlich ältere Opposition sharr/khayr tritt deutlich in den Hintergrund. In späteren Offenbarungen schließlich findet sich eine dritte Dichotomie, die mit den arabischen Begriffe khabith vs. tayyib (zum Beispiel 15 In einer späteren Offenbarung wird dies präzisiert: „Und wenn einer mit einer guten Tat (vor den Richter) kommt, wird ihm zehnmal so viel als Lohn zuteil. Und wenn einer mit einer schlechten Tat kommt, wird ihm nur mit gleich viel vergolten. Und ihnen wird dabei nicht unrecht getan“ (6:160, analog 28:84), insofern ist „die gute Tat nicht der schlechten gleich“zusetzen (41:34).
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Koran 3:179) bezeichnet wurde und die vor allem die ethische Wertung darlegt. In Sure 5:100 heißt es unter Nutzung dieser beiden Begriffe, dass das Schlechte/Böse und das Gute nicht gleichwertig seien. Und an anderer Stelle wird gesagt: „Gott kann die Gläubigen unmöglich in dem Zustand belassen, in dem ihr seid, ohne dass er das Schlechte von dem Guten scheidet“ (3:179 und 8:37). In der späteren theologischen Diskussion um das Böse findet sich häufig das Wort qubh für „das Böse“, das ebenfalls in Opposition zum Lexem husn trat und terminologischen Wert erhielt. Die arabische Sprache hat also verschiedene lexikalische Konzepte zur Verfügung, um das deutsche Begriffspaar „gut“/„böse“ abzubilden: Gut
Böse/schlecht
khayr (Subst./Attr.) husn (Subst.) hasan (Adj.) hasanat (Handlungen) husn (Subst.) hasan (Adj.) tayyib (Adj.)
sharr (Subst./Attr.) su (Subst.) sayyi (Adj.) sayyiat (Handlungen) qubh (Subst.) qabih (Adj.) khabith (Adj.)
Diese Begriffe werden nicht einheitlich terminologisch verwendet. Die meisten arabischen Lexikographen betrachteten sie als synonym, sofern sie die Synonymie zuließen.
3. Iblis, der Teufel und das Böse Die Figur, die wir im Deutschen als „Teufel“ bezeichnen, begegnet uns in der frühislamischen Tradition in zweierlei Gestalten: Zum einen haben wir es mit den Satanen (shayatin) zu tun, zum anderen mit Iblis, der in der späteren koranischen Offenbarung als „der Teufel“ (ash-shaytan) bezeichnet wird. Es mag sein, dass der Begriff shaytan in vorislamischer Zeit über das christliche Äthiopien entlehnt worden ist, doch mit dem biblischen Begriff satan haben die vorislamischen Satane nur wenig zu tun.16 Diese wurden vielmehr als rebellische Jinne17 oder Dämonen gedacht, die zwi16 Arabische Lexikographen leiteten früher den Begriff shaytan von einem arabischen Verb shatana („abirren“) her. Ebenso verfuhren christliche Aramäer, die aramäisch satana vom Verb seta („abirren“) ableiteten. Siehe Heinrich Speyer, Die biblischen Erzählungen im Qoran [1931], Hildesheim: Olms 31971, S. 58. 17 J. Chelhod, Les structures du sacré chez les Arabes, Paris: Maisonneuve et Larose 1964, S. 81ff.
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schen Gut und Böse stünden und die den Menschen – vor allem den Dichtern – „eingäben“, was dazu führte, dass man sich alle Werke eines Menschen als Ausdruck eines (ethisch neutralen) Satans dachte. In diesem Sinne wurden die shayatin auch als weibliche Göttinnen (Nuhum, Quzah, Taghut etc.) verstanden (vgl. Koran 2:117)18, andererseits als ständige Begleiter (qarin) eines Menschen gesehen.19 Ja, unter Umständen konnten nicht nur Jinne, sondern auch Menschen „Satane“ sein.20 Die negative Qualifizierung des Satans als der „ungläubige, unehrenhafte, feindliche und betrügerische Jinn“ im Kontrast zu den „reinen, makellosen und vollkommen guten Engeln“21 ist wohl erst in der monotheistischen Deutung der Ethik durch den Koran begründet. Die zweite Gestalt des Teufels ist Iblis22, der im Koran fast ausschließlich auf den Mythos der Erschaffung des Menschen bezogen ist. In dem adamitischen Mythos23 von der Ausweisung aus dem Paradies wird Iblis dann innerhalb einer in sich geschlossenen Narration „der Satan“ (ashshaytan) genannt (Koran 2:30–39), wobei der Name Iblis auf seinen Stolz und seine Widersetzlichkeit gegenüber Gott, der Name ash-shaytan auf seine Versuchung Adams und Evas bezogen scheint.24 Die moralische Würdigung eines Tuns als Widersetzlichkeit oder Frevel gegenüber Gott beginnt schon in dem Augenblick, als Gott Adam erschuf. Da weigerte sich aus Eifersucht Iblis, der aus Feuer geschaffen wurde, sich vor Adam, der „nur“ aus Lehm erschaffen wurde, niederzuwerfen. Auch die Engel, die aus Licht Erschaffenen, wunderten sich über die Aufforde18 Toufic Fahd, Le panthéon de L’Arabie centrale à la veille de l’hégire, Paris: P. Geuthner 1968. 19 Immer noch wichtig wegen der Zusammenstellung aus arabischen Quellen: C. van Vloten, „Dämonen, Geister und Zauber bei den alten Arabern“, in: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 7 (1893), S. 169–187, 233–247 und 8 (1894), S. 59–73, 290–292. 20 Eine frühe Erwähnung eines shaytan findet sich in Koran 37:6–7, wo davon die Rede ist, dass Gott den „unteren Himmel mit dem Schmuck der Sterne versehen und (diese auch) zum Schutz vor jedem rebellischen Satan bestimmt“ habe. 21 Amr b. Bahr al-Jahiz, kitab al-hayawan, I–VII, ed. v. A. M. Harun, Kairo 1938– 1945, 3Nachdr. Beirut 1969, VI, S. 229. 22 Iblis (konventionell von griechisch dia-bolos [„Verleumder“] abgeleitet; eine Entlehnung über das Syrisch-Aramäische wird angenommen, wobei die Silbe dia als aramäische Genitivpartikel [di] interpretiert worden sei) trägt auch den Beinamen al-Harith („der Pflüger“). 23 Zur Beziehung zwischen den koranischen adamitischen Mythen und den biblischen Traditionen siehe Speyer, Biblische Erzählungen, S. 54–73. 24 Zu Iblis in der koranischen Offenbarung siehe E. Beck, „Iblis und Mensch, Satan und Adam. Der Werdegang einer koranischen Erzählung“: Le Muséon 89 (1976), S. 195–244.
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rung Gottes und weigerten sich zunächst, sich vor Adam niederzuwerfen, wussten sie doch, dass die Nachkommen Adams sich Gott widersetzen würden. Doch Gott sprach: „Ich weiss (vieles), was ihr nicht wisst.“ (2:30). Und so folgten die Engel Gottes Gebot.25 Im Koran wird diese erste Widersetzlichkeit mit folgendem eindringlichen Dialog beschrieben (38:71–85)26: „(Damals), als dein Herr zu den Engeln sagte: Ich werde einen Menschen aus Lehm erschaffen. Und wenn ich ihn dann geformt und ihm Geist von mir eingeblasen habe, dann fallt (voller Ehrfurcht) vor ihm nieder. Da warfen sich die Engel alle zusammen nieder außer Iblis. Der war hochmütig und gehörte zu den Ungläubigen. Allah sagte: Iblis! Was hindert dich daran, dich vor etwas niederzuwerfen, was ich mit meinen Händen geschaffen habe? Du bist wohl (zu) hochmütig (dazu) und gehörst zu denen, die überheblich sind. Iblis sagte: Ich bin besser als er. Mich hast du aus Feuer erschaffen, ihn (nur) aus Lehm. Allah sagte: Dann geh aus ihm hinaus. Du bist (von jetzt an) verflucht. Mein Fluch wird auf dir liegen bis zum Tag des Gerichts. Iblis sagte: Herr! Gewähre mir Aufschub bis zu dem Tag, da sie (vom Tode) erweckt werden. Allah sagte: (Gut!) Dann sollst du zu denen gehören, denen Aufschub gewährt wird bis zum Tag der bestimmten Zeit. Iblis sagte: Bei deiner Allmacht! Ich werde sie allesamt abirren lassen mit Ausnahme deiner auserlesenen (?) Diener, die es unter ihnen (gibt). Allah sagte: Es wird wirklich und wahrhaftig so sein; was ich sage, ist wahr: Die Hölle werde ich mit dir und all denen von ihnen, die dir folgen, füllen.“
Iblis, der mit dieser Narration erstmals in der Offenbarung genannt wurde, blieb bei seiner Widersetzlichkeit und warf Gott gleichzeitig vor, ihn zu dieser Widersetzlichkeit angeregt zu haben, ihn also „abirren“ zu lassen. Damit war er der Erste, der durch seine Widersetzlichkeit böse handelte und gleichzeitig sich dadurch vom Bösen freisprach, weil er nicht sich, sondern Gott als Verursacher für die Eifersucht verantwortlich machte. Doch aus dieser Widersetzlichkeit oder diesem Frevel erwuchs keine „ruinöse Wirkungsgeschichte menschlicher Schuld“27; die Welt blieb nach 25 Die Engel mussten einsehen, dass sie „den Namen der Dinge“, die Gott ihnen vorgelegt hat, nicht kundtun konnten, während Adam es deshalb konnte, weil Gott ihm „alle Namen“ gelehrt hatte (Koran 2:28–31). 26 In der Sure 15:26–43 findet sich der gleiche, wenn auch teilweise anders formulierte Bericht. Anstelle von „Lehm“ ist hier von „feuchter Tonerde“ die Rede. In Vers 15:39 aber wird noch deutlicher der Rachegedanken von Iblis angesprochen: Weil Gott ihn hat abirren lassen, werde auch er „den Menschen im schönsten Licht erscheinen lassen(, was es) auf Erden (zu genießen) gibt, und sie allesamt abirren lassen“. 27 Hans Zirker, „‚Er wird nicht befragt …‘ (Sure 21,23). Theodizee und Theodizeeabwehr in Koran und Umgebung“, in: Udo Tworuschka (Hrsg.), Gottes ist der
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koranischer Auffassung trotz dieser Widersetzlichkeit unberührt und als solche ohne Makel und ohne Mangel: „Sieh dich doch einmal um: Kannst du irgendeinen Defekt finden?“ (67:3f.). Das Böse des Teufels beruht auf seiner Hybris und auf seiner aus Eifersucht stammenden Feindschaft der Schöpfung und damit Gott gegenüber. Doch damit ist das Böse noch nicht in die Welt gekommen. Vielmehr wird zunächst nur eine Handlung von Iblis als böse angesehen. In seinem Bestreben, Verbündete unter den Menschen zu finden, gelingt es ihm aber, dass Adam und Eva aus dem Paradies verbannt wurden. Obwohl durch diese Zuweisung Handlungen als böse charakterisiert werden, ist der Teufel nicht das Böse in Person.28 Eine wirkliche Personalisierung des Bösen findet sich in der koranischen Offenbarung nicht.29 Die drei Kategorien der Geschöpfe, die Engel30, die Jinne31 und die Menschen, sind alle der moralischen Bewertung ihres Handelns ausgesetzt. Es Orient, Gottes ist der Okzident. Festschrift für Abdoldjavad Falaturi zum 65. Geburtstag, Köln, Wien: Böhlau 1991, S. 409–424, hier S. 417. 28 In späterer Zeit aber wird der Teufel durchaus als das Böse bezeichnet. Dagegen haben sich aber immer wieder Theologen zu Worte gemeldet und darauf hingewiesen, dass der Teufel, auch wenn sein Handeln böse ist, immer noch ein Geschöpf Gottes sei, so z.B. Abu Bakr Muhammad b. at-Tayyib al-Baqillani [gest. 1013], kitab at-tamhid, ed. v. R. J. McCarthy, Beirut 1957, hier zitiert nach der Ed. v. Muhammad Zahir al-Kawtari, Kairo: al-Khanji 1963, n° 126. 29 Ein wenig überzeugender Versuch, die Personalisierung des Bösen in der islamischen Tradition nachzuzeichnen, ist Z. A. Aloiane, „Anthropomorphic Representations of Evil in Islam and some other Traditions. Cross-Cultural Approach“, in: Acta Orientalia Academiae Scientiarum Hung. 44 (1996) 3, S. 423–434. Anders als im Koran findet sich in der arabischen Frömmigkeitsliteratur vielfach eine Ausmalung des Teufels. So war Iblis vor seiner Verfluchung ein vierflügeliger Pfau der Engel (malak Tawus). Nach seiner Verfluchung hatte er einen Kamelkopf, einen Schweinenacken und, wie die Engel meinten, das Gesicht eines Affen mit Eckzähnen eines Wildschweins. Anderen Traditionen zufolge war Iblis ein Hermaphrodit, der sich selbst begatten konnte und so fünf (oder sieben oder gar 70) Kinder haben konnte. Die fünf Kinder von Iblis waren jeweils für einen Aspekt des Bösen (Streit, Schicksalsschläge, Unzucht, Lüge, Hass zwischen Mann und Frau) zuständig. 30 Der Koran bezeichnet die Engel als „Diener des Barmherzigen“ (43:19) und wirft den Mekkanern vor, sie hätten sie zu weiblichen Wesen und zu „Töchtern Allahs“ gemacht. Unter „Töchter Allahs“ wurden in vorislamischer Zeit weibliche Gottheiten verstanden. 31 Iblis wird meist als Engel bezeichnet; in der Sure 18:50 hingegen wird Iblis aber als ein Jinn angeführt. Möglicherweise ist dies so zu verstehen, dass die koranische Offenbarung hier den Teufel aus dem abrahamitischen narrativen Feld in das religiöse Feld überführt, das auf die religiösen Traditionen der nicht monotheistischen Mekkaner verweist.
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gibt also böse handelnde Engel32 (Iblis oder ash-shaytan), böse handelnde Jinne (shayatin) und böse handelnde Menschen (Sünder), insofern sie sich Gott und seinem Gesandten Muhammad widersetzen. In Koran 20:116–126 wird der Auszug aus dem Paradies direkt an die Schöpfungsgeschichte angeschlossen: „Und (damals), als wir zu den Engeln sagten: Werft euch vor Adam nieder! Da warfen sie sich (alle) nieder außer Iblis. Der weigerte sich. Da sagten wir Adam: Adam! Der da ist dir und deiner Gattin ein Feind. Dass er euch nur nicht aus dem Paradies vertreibt und dich unglücklich macht! Du brauchst darin weder Hunger zu fühlen noch nackt zu sein, weder zu dürsten noch unter der Sonnenhitze zu leiden. Aber da flüsterte der Satan (ash-shaytan) ihm (böse Gedanken) ein. Er sagte: Adam! Soll ich dich zum Baum der Unsterblichkeit33 und einer Herrschaft, die nimmer vergeht, weisen? Und sie aßen beide davon.34 Da wurde ihnen ihre Nacktheit bewusst, und sie begannen, Blätter (von den Bäumen) des Paradieses über sich zusammenzuheften. Adam war gegen seinen Herrn widersetzlich. Und so irrte er. Hierauf erwählte ihn sein Herr.35 Und er wandte sich ihm (gnädig) wieder zu und leitete (ihn) recht. Er sagte: Geht beide von ihm hinunter (auf die Erde, und bleibt
Neben Iblis sind dies vor allem die aus dem Alten Testament bekannten „gefallenen Engel“ Harut und Marut, von denen es in Sure 2:102 heißt: „Und sie folgten dem, was die Satane (shayatin) unter der Herrschaft Salomos (den Menschen) vortrugen. Nicht Salomo war ungläubig, sondern die Satane, indem sie die Menschen in der Zauberei unterwiesen. Und (sie folgten dem,) was auf die beiden Engel in Babylon, Harut und Marut, (vom Himmel) herabgesandt worden war. Und sie unterwiesen niemanden (in der Zauberei), ohne zu sagen: Wir sind nur eine Versuchung (für die Menschen). Werde darum nicht ungläubig. Und so entfernten sie von ihnen das (Mittel), womit man zwischen einem Mann und seiner Gattin ein Zerwürfnis hervorruft. Und sie schädigen damit niemanden, es sei denn mit Allahs Erlaubnis. Und sie erlernten, was ihnen schadet und nicht nützt. Und sie wussten wohl, dass derjenige, der so etwas einhandelt, am Jenseits keinen Anteil hat. Sie haben sich fürwahr auf einen schlechten Handel eingelassen.“ Hierzu G. Vajda, „Harut and Marut“, in Enyclopaediea of Islam, 2nd ed., Leiden: Brill 1971, Vol. III, S. 243f. 33 In Sure 7:20 wird erklärt, was es mit dem Baum auf sich hat. Iblis flüstert den Menschen zu: „Euer Herr hat euch diesen Baum nur verboten, (um zu verhindern), dass ihr Engel werdet oder sonst zu Wesen, die ewig leben.“ 34 In 2:35 wird dies deutlicher angesprochen: „Und wir sagten: Adam! Verweile du und deine Gattin im Paradies, und esst uneingeschränkt von seinen Früchten, wo ihr wollt. Aber naht euch nicht diesem Baum, sonst gehört ihr zu den Frevlern.“ 35 Dies geschah, wie in Sure 7:22–23 genauer ausgeführt wird, nachdem die beiden sagten: „Herr, wir haben gegen uns selber gefrevelt. Wenn du uns nicht vergibst und dich unser erbarmst, werden wir (dereinst?) zu denen gehören, die den Schaden haben.“ 32
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dort wohnen, ihr Menschen) allesamt. Ihr36 seid (künftig) einander Feind. Und wenn dann (später) von mir eine rechte Leitung zu euch kommt (habt ihr euch zu entscheiden). Und wer sich von meiner Mahnung abwendet, soll (im Diesseits) einen kümmerlichen Lebensunterhalt haben. Und am Tag der Auferstehung werden wir ihn blind (zu uns) versammeln. Er sagt (dann): Herr! Warum hast du mich blind (zu dir) versammelt, wo ich (im Diesseits) doch sehen konnte? Allah sagt: So ist es (in Ordnung?). Unsere Zeichen sind zu dir gekommen, und du hast sie vergessen. Ebenso wirst du heute vergessen.“
Das Verhalten der beiden Menschen Adam und Eva gegenüber Gott wird nun mit dem gleichen Begriff bezeichnet wie das Verhalten von Iblis: Sie handelten widersetzlich. Doch warum ließ Gott es zu, dass sie widersetzlich handelten? In seinem Korankommentar ruh al-bayan zitiert der osmanische Sufi und Philosoph Ismail Haqqi (gest. 1753) den Sufimeister und Richter Üftade Efendi al-Burusawi37 (gest. 1580), der auf diese Frage wie folgt antwortete: „Das Geheimnis des Auszuges von Adam aus dem Paradies ist darin zu sehen, dass Adam eine Stufe der göttlichen Einzigkeit erkannt hat, die höher als die seine war (und die ihn deshalb dazu inspirierte, sie zu erreichen). Er fragte also Gott, wie er diese Stufe erreichen könne. Es wurde ihm gesagt, dass er diese nur durch Tränen erreichen könne. Also wollte Adam weinen, doch wurde ihm gesagt: Das Paradies ist kein Ort zum Weinen, sondern ein Ort der Freude. Darum bat er, in das Diesseits herabsteigen zu dürfen. So gestaltete er in Anbetracht des Unvermögens seines Ranges, die erwünschte Rangstufe zu erreichen, das, was er hervorbrachte, als Sünde in Bezug auf ihn, und zwar nach Art des Guten der Frommen und des Bösen der Vertrauten.“38
Von nun an ist Iblis ein Teufel (shaytan), der Gott und den Menschen Feind ist. Er lässt den Menschen an seiner Boshaftigkeit teilhaben, wobei er verschiedenste Mittel einzusetzen weiß wie Wein, das Glücksspiel oder von Menschen verehrte Idole (Koran 5:90). Seine Wirkungen sind mannigfaltig. So ist er es, der die Muslime aus dem Kampf fliehen lässt (3:155), der sie ständig ängstigt (3:175), der trügerische Versprechungen macht (17:64), der das Schlechte als gut erscheinen lässt (6:43; 26:24; 29:38), der die Menschen vergessen lässt (6:68; 12:42; 18:63; 58:19), der die Menschen und besonders die Propheten ständig in Versuchung führt (7:27; 22:52; 47:25), der selbst seine eigenen Parteigänger betrügt (8:48; 25:29; 59:16) und lasterhafte „Nationen“ verrät (16:63); er ist es, der den Streit zwischen den Menschen provoziert (17:53), der zu unehrenhaftem oder schamlosem Das heißt die Menschen und der Teufel. Er war der Lehrer von Mahmud b. Fadl Hüdai (gest. 1628/9), der ihm als Meister (und Mitbegründer) des Jilwatiya-Ordens folgte. 38 Ismail Haqqi, ruh al-bayan, I–IV, Nachr. Beirut 1985, I, S. 110. 36
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Verhalten aufruft (24:21), der sich den Menschen auf ihrem Lebensweg entgegenstellt (27:24; 29:38; 43:62), der den Menschen zum Selbstmord treiben kann (28:25), der Mühsal und Pein über die Propheten kommen ließ (38:41), der Verschwörungen anzettelt (58:10), der die Menschen dazu bringt, mit Geld verschwenderisch oder geizig umzugehen (Koran 12:27), und der zum Wucher ermuntert (Koran 2:175).39
4. Das Böse als Attribut menschlicher Handlungen In der koranischen Offenbarung tritt uns das Böse in viererlei Gestalt entgegen: 1. Als böses Omen: Sehr unscharf nur noch zu erkennen ist das Böse zunächst als Dämonen, Menschen oder Dingen anhaftendes „böses Omen“ gefasst. 2. Als moralische Qualität einer Handlung: Mit den verschiedenen Begriffen für „böse“ werden dann zunächst und in erster Linie die menschlichen Handlungen attributiv qualifiziert, die eine Widersetzlichkeit oder einen Frevel gegenüber Gott, seiner Offenbarung oder seinem Propheten Muhammad gegenüber bezeichnen. 3. Als Attribut der Handlungen des Teufels: Das so spezifizierte Konzept „böse“ dient dazu, die Handlungsweise von Iblis zu charakterisieren. Er ist es, der die Menschen zum Bösen verleiten kann, aber er ist nicht der Grund für das Böse selbst. Vielmehr verleitet er sie nur, Böses zu tun, ohne dass sie ihm vollkommen ausgeliefert und damit von der Verantwortung freizusprechen wären. Aus diesen Handlungsattributen wurde später das Repertoire „böser Handlungen“ überhaupt abgeleitet. 4. Als Prüfinstanz Gottes: Eine explizite Theodizee findet sich in der koranischen Offenbarung nicht. Implizit aber lässt sie sich dort vermuten, wo Gott das Böse, wie in Sure 7:168, als Prüfinstanz für den Menschen beschreibt: „Wir haben sie [die Menschen] auf der Erde in (verschiedene) Gemeinschaften zerteilt. Unter ihnen gab es solche, die rechtschaffen waren, und solche, die es nicht waren. Und wir prüften sie durch das Gute (hasanat) und das Böse (sayyiat), damit sie sich vielleicht bekehren würden.“40
Das Böse erscheint damit als Barmherzigkeit Gottes, insofern es den Menschen überhaupt erst ermögliche, gut zu handeln. Um den guten Weg Cf. M. J. L. Young, „The treatment of the principle of evil in the Qur’an“, in: Islamic Studies 5 (1966) S. 275–281 und T. Fahd/A. Rippin, „Shaytan“, in: EI2 IX, S. 406–408. 40 Dazu auch Sure 29:2f. 39
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im Bewusstsein des Guten überhaupt beschreiten zu können, müsse der Mensch wissen, was Gut und Böse sei und wie zwischen Gut und Böse zu unterscheiden sei. Allgemein tritt so das Böse in der Welt als Zeichen für Gottes verborgene, von den Menschen verkannte Weisheit auf.41 Das Beste (husna) ist damit für die Menschen vorgesehen, die Gottes Prüfungen bestehen (Sure 21:101–103).42 Da Gott den Menschen in einem religiösen Zustand erschaffen hat (fitra43) und weil der Mensch deshalb von seinem Ursprung her gläubig sein kann, ist er nicht in Sünde, sondern „im Guten“ geboren. Das Böse tritt so nur als Deviation auf, als ein Versuch des Menschen, vom göttlichen Schöpfungsplan und damit von seiner ihm ureigenen religiösen Identität durch Selbstfrevel abzuweichen. Menschen, die sich dieser Identität nicht (mehr) bewusst sind, sind entweder „Toren“ (jahilun44) oder, wenn sie sie bewusst verleugnen, „Ungläubige“ (kuffar). Die koranischen Berichte über die Mythen von der Erschaffung Adams und von der Vertreibung aus dem Paradies haben in späterer Zeit zahlreiche Veränderungen und Erweiterungen erfahren.45 Dabei ging es unter anderem auch darum, die Freveltat von Adam und Eva zu bewerten, d. h. zu bestimmen, ob es sich hierbei um eine große Sünde gehandelt habe. Sollte der Frevel als große Sünde zu bewerten sein, dann müsste man die Vorbildrolle Adams in Frage stellen. Doch hierzu mochten sich nur wenige islamische Theologen des Mittelalters durchringen. So wurde vielfach versucht, durch spekulative Reflexion zum Schluss zu gelangen, dass die Tat Adams und Evas als „kleine Sünde“ zu beurteilen sei.46 Damit war auch Zirker, „Theodizee“, S. 416. Im Koran werden hier konkret die Propheten angesprochen. 43 Dieser aus Koran 30:30 abgeleitete Begriff bezeichnet den unveränderlichen Schöpfungswillen Gottes, durch den er den ursprünglichen religiösen Zustand des Menschen erschaffen hat. In späterer Zeit wurde die fitra als „religiöser Naturzustand“ des Menschen aufgefasst, der den Menschen überhaupt erst befähige, den Glauben an den Einen Gott anzunehmen. 44 Dieser Begriff taucht erst in den späten mekkanischen und in den medinensischen Offenbarungen auf. Er meint nicht einfach die Abwesenheit vom Wissen, sondern – analog zum griechischen Begriff amathía – „eine falsche Vorstellung in bedeutenden Angelegenheiten haben“. Daneben bezeichnet er aber auch das „ungestüme“, „unbesonnene“ Verhalten (vor allem der Mekkaner). Mit ihm verbunden ist der Begriff jahiliya („Zeit der falschen Vorstellungen“), der im Koran (3:154, 5:50, 33:33 und 48:26) die Zeit meint, die vor der Offenbarung lag und in der unter den Mekkanern eine falsche „Sitte“ herrschte. 45 Vgl. Peter J. Awn, Satan’s Tragedy and Redemption. Iblis in Sufi Psychology, Leiden: Brill 1983, S. 18–44; Cornelia Schöck, Adam im Islam. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Sunna, Berlin: Schwarz 1993. 46 Cf. Schöck, Adam, 126–132. 41 42
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die ureigentliche Religiosität Adams nicht mehr in Zweifel zu ziehen, ja, Adams Verhalten wurde – vor allem in den großen Traditionen der Prophetenlegenden (qisas al-anbiya) und in der Koranexegese – nicht mehr als sündhaft bezeichnet.47 Dies war aber die Voraussetzung dafür, Adam als ersten Propheten des ursprünglichen Monotheismus zu sehen, wie er seit dem 8. Jahrhundert verstanden wurde. Anders Iblis. In islamischen Kommentaren zu den Versen des Korans, in denen über die zwei Mythen gesprochen wird, wird die Sündhaftigkeit von Iblis noch um ein Vielfaches erweitert. Dabei stellte sich auch noch ein theologisches Problem: Wie kann es sein, dass Iblis ein Engel sei, wo er doch als Teufel den Menschen das Böse „einflüstere“? Für die Mehrzahl der muslimischen Autoren, die sich mit dieser Frage beschäftigten, war es undenkbar, den Teufel als Engel zu begreifen, werden doch die Engel als vollkommene Diener Gottes beschrieben, die allein seinen Willen vollstreckten (cf. Sure 66:6). Wenn der Teufel also ein Engel wäre, wäre er nur der Vollstrecker eines göttlichen Plans gewesen und damit nicht Ursache für das Böse. Da nun aber im Koran auch noch an einer Stelle vermerkt wird (18:50), dass Iblis zu den Jinnen gehörte, bot sich den Kommentatoren die Möglichkeit, Iblis als bösen Dämon zu begreifen.48 Doch wie wurde Iblis dann böse? Der osmanische Moraltheologe ad-Diyarbakri (gest. 1574) berichtete von einem entsprechenden Mythos, der in sufischen Kreisen schon lange zirkulierte: Als Gott die Jinne erschaffen hatte, wies er ihnen die Erde als Wohnstätte zu. Die Jinne und ihre Nachkommen aber waren neidische, streitsüchtige Wesen, die vor allem danach trachteten, Gottes Verbote zu übertreten. Da sandte Gott ihnen einen Gesandten, um ihnen den richtigen Weg zu weisen. Aber fast alle Jinne weigerten sich, bis auf einen: ein Asket namens Azazil49, der sich in die Berge zurückgezogen hatte und dem Einen Gott huldigte. Die Engel legten nun bei Cf. Abu Ali al-Fadl b. al-Hasan at-Tabarsi [gest. 1153], majma al-bayan fi tafsir [oder li-ulum] al-quran, I–IV, Sidon/Sayda 1959/60, I, S. 85; einem Argument zufolge hatte Adam das göttliche Verbot falsch ausgelegt, missverstanden oder den ursprünglichen Sinn einfach nur vergessen: Er glaubte, Gott habe nur das Essen der Frucht eines bestimmten Baumes gemeint, so dass Adam sich eines anderen Baums gleicher Art bediente. Tatsächlich aber hatte Gott die Frucht eines jeglichen Baums dieser Art gemeint. Cf. Schöck, Adam, S. 131. 48 Z. B. Abu Jafar Muhammad b. Jarir at-Tabari [gest. 923], jami al-bayan an tawil al-quran, I–XXX, Kairo 1903/4, I, S. 173–174; außerdem at-Tabarsi, majma al-bayan, I, S. 82–3; Nasir ad-Din Abu Said Abdallah b. Umar al-Baydawi [gest. 1389], anwar at-tanzil wa-asrar at-tawil, ed. v. G. Freytag, I–II, Bonn 1846–1848, I, S. 48ff. 49 Islamische Mystiker haben den Namen gerne vom arabischen Begriff azala („trennen“) abgeleitet, weil er in seiner Herrschaft beschnitten wurde (mazul). 47
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Gott Fürsprache ein und baten ihn, den asketischen Jinn in den ersten Himmel zu erhöhen; Gott erfüllte ihnen die Bitte, und schon bald, nachdem Azazil erhoben worden war, zeichnete sich dieser als der Frömmste unter den Himmelsbewohnern auf, und so erhöhte ihn Gott in den zweiten Himmel, und so fuhr er fort, bis er schließlich von Gott an seinen Thron berufen wurde. Und dort angelangt, wurde er schließlich zum Hüter des Throns und des Schlüssels zum Paradies.50 Und mit seiner Erhöhung wuchs auch sein Stolz, bis er sich schließlich fast Gott ebenbürtig sah. Dies aber machte aus Azazil den Iblis, und mit der Namensänderung änderte sich auch sein Charakter, er wurde vom frömmsten Jinn zum Frevler an Gott. Und so wurde Iblis verstoßen, er verlor seine Rolle als Paradieswächter und war von nun an der von Gott auf Ewigkeit verfluchte Feind.51 Vom Umgang der Sufis mit der Paradoxie, dass Iblis dafür, dass er aus Achtung der göttlichen Einzigkeit (tawhid) sich weigerte, sich vor Adam niederzuwerfen, von Gott bestraft wurde, soll später berichtet werden. Der Moraltheologe ad-Diyarbakri nahm diesen Mythos zum Anlass, gleich eine paradox klingende Warnung anzufügen: „Lass dich nicht durch seine (d. h. des Teufels, R. S.) Frömmigkeit verleiten! Hinter jeder frommen Tat steckt das Böse. Und vertraue nicht seinem Gehorsam! Denn in jeder gehorsamen Tat liegt das Verderben.“52 Die Koranexegeten und die Tradenten der Prophetenlegenden begnügten sich in diesem Zusammenhang mit der Erzählung, die erklären soll, wie der Teufel in die Welt kam.53 Über das Böse in Bezug auf seine Handlungen herrschte mehr oder weniger Konsens. Auch waren diejenigen Exegeten, die Adams Verhalten für sündhaft und schlecht hielten, in der Minderheit, da die Annahme eines „Ausnahmezustandes“, in dem Adam handelte und die verbotene Frucht aß, die Figur Adams als „ersten Monotheisten“ rettete. Das Böse konnte nun nur noch im Handeln des Men50 Cit. n. Awn, Satan’s Tragedy, S. 30. In vielen sufischen Texten findet sich eine Variante dieses Mythos, der meist so beginnt, dass der Mystiker bei irgendeiner Gelegenheit auf den oft als alten Mann dargestellten Teufel traf, der ihm dann seine Geschichte erzählte. 51 Diese Verfluchung wurde während der Pilgerfahrt nach Mekka (hajj) insofern konkretisiert, als der Teufel dort rituell „gesteinigt“ wird. Ob der arabische Begriff rajim zunächst „verflucht“ und dann „gesteinigt“ bedeutete oder ob aus einem alten Steinigungsritual eine Verfluchung abstrahiert wurde, ist nicht auszumachen. 52 Zit. n. Awn, Satan’s Tragedy, S. 30. 53 Das Problem, wie der Teufel theologisch zu begreifen sei, das heißt wie er erschaffen wurde (und warum) und wie sein Ende aussehen werde (als Erschaffener muss er „sterben“), wurde von der islamischen Theologie nur selten direkt angesprochen; vgl. die apologetische Kritik von al-Baqillani, kitab at-tamhid, n° 123– 131.
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schen selbst zu verorten sein, auch wenn der Teufel weiterhin als jemand betrachtet wurde, der den Menschen zu einer bösen Tat verleiten konnte.
5. Koran 4:78–79 oder die Wahlfreiheit des Menschen Nun finden sich im Koran aber auch Aussagen, die auf eine andere Bestimmung von Gut und Böse hindeuten. Ursprünglich im Kontext der Auseinandersetzung zwischen den Muslimen und den jüdischen Stämmen von Medina finden sich in der Sure 4 zwei aufeinander folgende Verse, um deren richtige Auslegung Generationen von Exegeten gerungen hatten. In Sure 4:78 ist zu lesen: „Wenn sie etwas Gutes (hasanat) befällt, dann sagen sie: Dies ist von Gott! Und wenn sie etwas Böses (sayyiat) befällt, dann sagen sie: Dies ist von dir! Sprich du: Alles ist von Gott!“
Und im darauf folgenden Vers heißt es (4:79): „Was dich an Gutem befällt, ist von Gott; und was dich an Bösem befällt, ist von dir selbst.“
Auf den ersten Blick scheinen sich beide Aussagen zu widersprechen. Denn wie kann einerseits alles, das Gute wie das Böse, von Gott kommen, und gleichzeitig festgelegt sein, dass nur das Gute von Gott komme, während das Böse allein vom Menschen selbst herrühre? Solange aber der Offenbarungstext nicht in ein System theologischer Spekulation einbezogen war, stellten beide Aussagen keinen Widerspruch dar. So mag den frühen Korantradenten vielleicht der historische Kontext der ersten Offenbarung noch präsent gewesen sein. Denn dort, so lautet der koranische Vorwurf, hätten die Juden all die Unbill, die sie erlitten haben, dem Propheten Muhammad angelastet. Und nun spricht Gott Muhammad implizit von der Verantwortung für diese Unbill frei, denn er sagt, dass er es ist, der den Juden die Unbill gebracht habe, nicht Muhammad. Sicherlich haben verschiedene Korankommentatoren immer wieder auf diese Sinngebung hingewiesen, um zu verhindern, dass hieraus eine ethische Maxime abgeleitet würde, die einer radikalen Prädestinationslehre Vorschub geleistet hätte. Mit dem zweiten Vers sind die meisten früheren Korankommentare ebenso verfahren.54 Hier sahen sie das Gute in der von den Muslimen gegen die Mekkaner gewonnenen Schlacht von Badr, das Böse in der von den Muslimen verlorenen Auseinandersetzung am Berg Uhud.55 54 55
U.a. at-Tabari, jami al-bayan, VIII, S. 555–557. Die Prophetenviten beziehen die „Schlacht bei Badr“ auf das Jahr 624 und
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Die Historisierung ließ also zunächst keine Spekulation über die Frage zu, wie beide Verse miteinander in Bezug gesetzt werden können. Dies änderte sich aber schon bald, als sich die frühen islamischen Wissenskulturen weiter ausdifferenzierten und spezialisierten. In dem Moment, wo die theologische Spekulation um die Frage der Verantwortlichkeit für die Sünde Bedeutung erlangte, wurden auch die verschiedenen koranischen Aussagen, denen eine ethische Maxime entnommen werden konnte, in der Spekulation aufgegriffen. Oft begründeten die Theologen ihre Spekulation mit ausgewählten Prophetentraditionen (hadith)56, mit denen zunächst der Deutungshorizont für diese beiden Verse abgesteckt wurde. So wurde eine Überlieferung des Irakers Abu Bakr al-Bazzar (gest. 905) zitiert, die folgende Prophetentradition, die von den meisten Gelehrten aber als konstruiert und erfunden angesehen wurde, enthält. Diesem Hadith zufolge setzten sich eines Tages Abu Bakr und Umar, die nach dem Tode des Propheten nacheinander die Würde des Kalifats bekleiden sollten, nach einem Wortgefecht zwischen zwei Gruppen zu Muhammad: „Muhammad fragte sie: Warum habt ihr eure Stimme erhoben? Einer der Anwesenden sagte: Abu Bakr hat gesagt, dass das Gute von Gott, das Böse aber aus unseren Seelen stamme. Muhammad fragte darauf Umar: Und was hast du gesagt? Umar antwortete: Ich sagte, das Gute wie das Böse stammen von Gott. Da sagte Muhammad: Die ersten, die so sprachen, waren [die Engel] Gabriel und Michael. Michael sprach wie du, Abu Bakr, und Gabriel sprach wie du, Umar. Und so waren schon die himmlischen Wesen unterschiedlicher Meinung, und wenn die himmlichen Wesen unterschiedlicher Meinung sind, so sind es auch die menschlichen Wesen. Schließlich entschied der Engel Israfil zwischen beiden [und sagte, dass] das Gute wie das Böse von Gott stammen. Da rückte er [Muhammad] an Abu Bakr und Umar heran und sagte: Bewahrt mein Urteil in Bezug auf euch beide. Hätte Gott gewollt, dass der Teufel nicht rebelliert, hätte er ihn nicht geschaffen.“57
verknüpfen sie mit der Ausweisung des jüdischen Stammes Qaynuqa aus Medina; entsprechend wird die „Schlacht am Berg Uhud“ (datiert auf das Jahr 625) mit der Vertreibung der jüdischen Banu Nadir in die Oase Khaybar in Verbindung gebracht. Eine kritische Sichtung des historischen Materials lässt Zweifel an dieser Zuordnung aufkommen, vgl. Marco Schöller, Exegetisches Denken und Prophetenbiographie, Wiesbaden: Harrassowitz 1998. 56 Der hadith bezeichnet zum einen einen Einzelbericht („Tradition“) über das Handeln und Sprechen des Propheten Muhammad, zum anderen die Gesamtheit der entsprechenden textlichen Überlieferung. Das, was gesamthaft durch den hadith überliefert wurde, ist die Sunna („Verfahrensweise“) des Propheten. 57 Zitiert im Korankommentar von Abu l-Fida Ismail Ibn Kathir [gest. 1373], tafsir al-quran al-azim, Beirut: dar al-marifa 1987, I, S. 540–541.
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Abu Bakr und der Engel Michael standen für die Lehre vom freien Willen, Umar und der Engel Gabriel hingegen für die Lehre von der Prädestination. Das Urteil über diesen Streit sprachen Muhammad und der Engel Israfil: Gott hat das Böse gewollt, denn sonst hätte er die Rebellion des Teufels nicht zugelassen.
6. Das Böse und die theologische Spekulation um die Handlungsfreiheit des Menschen Die hier Abu Bakr beziehungsweise Michael zugeschriebene Haltung war in der Frühzeit der islamischen Theologiegeschichte58 zunächst keineswegs sonderlich ketzerisch. Vielmehr findet sich eine ähnliche frühe Positionsbestimmung zum Beispiel in der Person des Asketen und Predigers Hasan al-Basri (642–728), der von vielen Sufis, Theologen und Traditionariern später als eine wichtige islamische Autorität in Glaubensdingen angesehen wurde. Dieser hat schon vermerkt, dass Gott den Menschen allein lasse, wenn er sich im Bösen verstrickt. Damit versuchte er wohl, den Muslimen die moralische Verantwortung für ihr Tun nahe zu bringen, denn es ging ihm vor allem darum, zu einer ethischen Lebensführung in Anbetracht des nahenden Jüngsten Gerichts aufzurufen. Dazu passte auch die sich seit dem frühen 8. Jahrhundert entfaltende Diskussion um die Frage, ob eine Sünde, und wenn ja welche, einen Muslim zum Ungläubigen mache, dem dann am Tage des Jüngsten Gerichts das „Feuer“ drohe. Unter den Umayyaden, die sich immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt sahen, angesichts der Auseinandersetzungen mit dem Vetter und Schwiegersohn des Propheten, Ali (gest. 660), um die Würde des Kalifats gesündigt und gefrevelt zu haben, wurde der Determinismus59 zu einer „favorisierte[n] Sicht der Dinge“, wie Josef van Ess meint. Dieser fasst die Entwicklung der Determinationsvorstellungen treffend zusammen: „Vorherbestimmt war zunächst das Glück, dann das Heil im Jenseits, dann das Handeln, mit dem man jenes erwirbt oder verspielt.“60 Anders ausgedrückt: „Wisse, dass das, was dich trifft, dich nicht hätte verfehlen können, noch das, was dich verfehlt, dich hätte treffen können.“61 58 Allgemein hierzu Tilman Nagel, Geschichte der islamischen Theologie, München: Beck 1994. 59 M. Montgomery Watt, Free Will and Predestination in Early Islam, London: Luzac 1948, S. 19. 60 Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra, I–VI, Berlin, New York: de Gruyter 1991–1997, IV, S. 493. 61 3. Satz aus der Abu Hanifa [gest. 767] zugeschriebenen Lehrspruchsammlung al-fiqh al-absat, den van Ess das „prädestinatianische Axiom“ genannt hat, siehe van Ess, Theologie und Gesellschaft, I, S. 211.
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Je weiter die Determination gefasst wurde, desto stärker wurde sie in den Rahmen einer allgemeinen Prädestinationslehre eingepasst. Dieser Lehre zufolge sei zwischen der ewigen, zeitlich indifferenten Determiniertheit der Welt durch Gott (qada ) und der zeitlich fixierten Determiniertheit von Geschehen (qadar) zu unterscheiden. Beide Formen der Determiniertheit sahen diese Theologen als Ausdruck von Gottes Omnipotenz [qudra, oft im Sinne von griechisch exusía]. Das gute wie das böse Handeln wurde dabei nicht als zeitlich indifferente, also ewige Determiniertheit gefasst, sondern als zeitliche Determination einzelner Handlungen. Mithin ging es um die Frage, ob Handlungen auch in Hinsicht auf ihre ethische Qualität determiniert seien. Gegen diese enge Sicht der Dinge wandten sich schon bald im Gefolge von Hasan al-Basri Anhänger einer weiter gehenden theologischen Spekulation (kalam). Gleichfalls dem radikalen Determinismus abgeneigt waren aber auch die Traditionarier (ahl al-hadith), die der textlichen Überlieferung der Prophetentradition Vorrang gegenüber jeder Spekulation bei der Etablierung eines legitimen religiösen Wissens gaben. Diese wandten sich vor allem gegen weiter gehende Spekulationen, die aus dem Determinismus erwuchsen und die zum Beispiel Fragen der Beschaffenheit des Korans (d. h. ob als ewig oder als erschaffen zu betrachten) oder die Eigenschaften Gottes betrafen. Die Anhänger der Traditionen um Hasan al-Basri fragten sich, wo denn Gottes Allmacht die selbst gesetzten Grenzen habe, auf dass der Mensch handle. Sie vermochten sich nicht mit der aus der Prädestinationslehre abzuleitenden Vorstellung abfinden, dass der Mensch nicht als Person, sondern als Spielball des Geschicks existiere. Die Wahl zwischen Gut und Böse wurde aber von ihnen, die bald unter der Gruppenbezeichnung Qadariya bekannt wurden, als ein rein ethisches Postulat gesehen und zur Beurteilung eines sündigen Muslims verwendet. Knapp gefasst lässt sich diese frühe Lehre in dem Satz zusammenfassen: Der Mensch entscheidet selbst, ob er sündigt oder sich an die Weisung Gottes halten möchte.62 Diese ethische Sicht wurde damit jedoch noch nicht mit dem Begriff der Handlungsfreiheit verbunden. Gut und Böse unterlagen damit nicht der ausgefeilten theologischen Spekulation. Zögerliche Ansätze zu einer solchen theologischen Spekulation hierüber finden sich zunächst bei jenen Theologen, die möglicherweise dem Umfeld der Kharijiten, also jener Gemeinschaft, die sich dem so genannten Schiedsgericht von Siffin 657, in dem zwischen dem Kalifatsanspruch Alis und seines umayyadischen Kontrahenten Muawiya entschieden wurden, nicht beugen wollten. Diese Theologen verwehrten Gott nicht das 62
Van Ess, Theologie und Gesellschaft, IV, S. 489.
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Vorwissen über die menschlichen Handlungen, sondern postulierten, dass Gott nicht in das menschliche Handlungsgeschehen eingreife und daher auch keinen Willensakt bezüglich menschlicher Handlungen ausübe.63 Damit radikalisierten sie die schon genannte auf Hasan al-Basri zurückgeführte Maxime, wonach Gott selber das Gute, das der Mensch tut, bestimme und ihn allein lasse, wenn er sich im Bösen verstrickt. Eine andere theologische Tradition, die sich aus dem Umfeld der Qadariya heraus entwickelte, war die Mutazila. Hierbei handelt es sich um eine islamische, ursprünglich irakische theologische Lehrtradition, der sehr unterschiedliche dogmatische Aussagen aus dem 8. Jahrhundert zur Einheit und Gerechtigkeit Gottes zugrunde lagen. Sie entwickelte sich im 9. Jahrhundert (v. a. ca. 815–50) zu einer von zahlreichen Einzelpersönlichkeiten getragenen theologischen Kultur und wurde seit dem späten 9. Jahrhundert durch scholastische Systematisierung in Schulen tradiert. Der Name Mutazila, der „diejenigen, die sich getrennt hatten“ bedeutet, wurde spätestens seit der Mitte des 8. Jahrhundert als Gruppenbezeichnung für islamische Theologen benutzt, die sich in einer intellektuellen Tradition mit frühen (heute oft kaum noch greifbaren) islamischen Denkern identifizierten, die sich ihrerseits im späten 7. Jahrhundert nicht in die Auseinandersetzungen um die Frage einer legitimen Herrschaft einmischen wollten.64 In diesem Sinne begann die Mutazila wohl als innerislamische asketisch ausgerichtete Missionsbewegung, die u. a. Wasil Ibn Ata (gest. 749) begründet hatte und die sich v. a. in Bagdad entfaltete; etwa im selben Zeitraum bildete sich im südirakischen Kufa auch eine eher intellektuelle Tradition der Mutazila heraus, die sich gegen dominante Traditionen einer rechtlich gefassten Theologie und gegen schiitische Tendenzen zu profilieren suchte. Als umfassende Denktradition trat die Mutazila v. a. im 9. Jahrhundert in Bagdad hervor, wo sie eine erste rationalistische Interpretation des Islam als universelle (sunnitische) Identität ausformulierte. Diese an zahllose einzelne, keineswegs homogene Lehrmeinungen gebundene Interpretation des Islam wurde in späterer Zeit (Abu l-Hudhayl, gest. um 841) in fünf dogmatischen „Prinzipien“ zusammengefasst. 63 Daher wurden Ali, der sich dem Schiedsgericht beugte und damit praktisch einer Zweiteilung der Kalifatswürde zustimmte, wie auch Muawiya für ihr Verhalten verantwortlich gemacht. Ali wurde 661 von kharijitischen Verschwörern ermordet. 64 W. Madelung, Religious schools and sects in medieval Islam, London: Variorum Reprints 1985; Josef van Ess, „Mutazila“, in: Enc. of Rel. X (1987), 220–229; S. Stroumsa, „The beginnings of the Mutazila reconsidered“, in: Jerusalem Studies in Arabic and Islam 13 (1990), 265–293; Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft, passim.
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Zwei von ihnen weisen in frühere islamische Diskussionen zurück: zum einen das auf den ursprünglichen Missionscharakter der Mutazila hindeutende Prinzip, „das Gute dringlich zu gebieten und das Schlechte zu verbieten“65, und das an frühe Diskussionen um die Sündenlehre anknüpfende Prinzip der „Zwischenstellung“, das dem sündigen Muslim als „Frevler“ (fasiq) eine Sonderstellung zwischen Gläubigen und Ungläubigen zuweist. Gerade das erste Prinzip aber brach sich an den deterministischen Vorstellungen: Denn wenn Gott das Gute wie das Böse vorherbestimmt habe, dann könne der Mensch nicht für sich das Recht einfordern, selbst das Gute zu gebieten und das Böse zu verbieten. Der Missionsauftrag der Mutazila, der sich hinter dem Prinzip verbarg, wurde so zu einem tragenden Motiv, Gut und Böse in die theologische Spekulation einzubeziehen.66 Das Urteil über die mutazilitische Haltung zur Frage, wer denn das Böse in die Welt gebracht habe, war bald eindeutig. „Das Gute und das Böse sind für sie Ergebnis der Taten der Menschen, geschehend wegen des Willens (qudra) der Menschen, außerhalb dessen, was Gott den Menschen bestimmt hat. Und so sind für sie beide zwei Geschehen von dem Menschen (selbst).“67 Ende des 9. Jahrhunderts hatte sich eine mutazilitische Meinung etabliert, wonach Gott nichts anderes schaffen könne als das, was er tatsächlich schafft. Er kann dies, wie van Ess es formuliert hat, schaffen, denn er weiß, dass es sein wird. Das, von dem er weiß, dass es nicht sein wird, kann unmöglich sein, und damit kann Gott es auch nicht in die Existenz versetzen.68 Mit diesem logischen Argument wurde Gottes Vorwissen, das seiner Allmacht entspricht, mit dem real Geschaffenen in Beziehung gesetzt. Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Gott hat alles Gute verwirklicht, das es gibt. Ergo gibt es nichts Besseres (aslah). Umgekehrt kann Gott also nicht nur nichts Böses tun, er kann auch nichts Böses bewirken. Folglich kann Gott zum Beispiel auch nicht den Unglauben erschaffen haben; da er nur den Menschen erschuf, muss der Unglauben vom Menschen determiniert sein. Für diese radikale Auffassung vom Optimum, das Gott erschaffen hat und das deshalb keinen „Fehler“, also auch kein Böses zulässt (Koran Die übliche Bezeichnung für das Gute lautet hier maruf (eigentlich „das, was anerkannt ist“) und für das Schlechte munkar („das, was verpönt ist“). In früheren Formen dieser ethischen Selbstverpflichtungserklärung standen noch die Begriffe khayr beziehungsweise sharr. Cf. Michael Cook, Commanding Right and Forbidding Wrong in Islamic Thought, Cambridge: Cambridge Univ. Press 2000. 66 E. Mainz, „Mu’tazilitische Ethik“, in: Der Islam 22 (1935), 191–206. 67 Abdalmalik Muhammad al-Juwayni [gest. 1085/6], kitab al-irshad fi usul al-itiqad, ed. u. Übers. v. J. Luciani, Paris 1938, hier zit. nach der Ausg. v. Sad Tamim, Beirut: al-kutub ath-thaqafiya o.J., S. 222. 68 Van Ess, Theologie und Gesellschaft, IV, S. 31. 65
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67:3 f.: „Sieh dich doch einmal um: Kannst du irgendeinen Defekt finden?“), konnten sich nicht alle Anhänger der mutazilitischen Theologie erwärmen. Vielen war das moralische Argument angenehmer, wonach das Böse eigentlich etwas Nützliches und Gutes sei: Es „schmerzt“, und als „Schmerz“ erinnert es den Menschen an das Eigentliche, eben das Gute.69 Entsprechend müsse, so einer der letzten wichtigen mutazilitischen Gelehrten in Ostiran, Mahmud b. Umar az-Zamakhshari (gest. 1144), deutlich zwischen dem guten und dem bösen Leiden unterschieden werden: Leiden könne gut sein, und zwar „in verschiedener Hinsicht, nämlich, dass es verdient ist wie die Anklage und Bestrafung eines Übeltäters, oder dass es einen Nutzen hat, der über das Leiden hinausgeht, wie die Plage beim Studieren oder im Handel, oder [dass es] dem Zwecke der Schadensabwendung dient wie im Fall der Medizin, oder dass es der Verteidigung dient, wie wenn du dich gegenüber jemanden verteidigst, der dich angreift und den du dann tötest […].“70 Wie in manchen sufischen Theorien finden sich auch in der Mutazila Auffassungen, die Josef van Ess als anthropologische Theorie der Willensfreiheit bezeichnet hat. Bekannt sind vor allem die Spekulationen des Mutaziliten Abu Ishaq an-Nazzam (gest. 835/845): Dieser behauptete, dass der Mensch allein deshalb zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, weil seine Seele im Körper gefangen ist. Ist sie nämlich von ihrem Körper gelöst – was dann der Fall ist, wenn sie im Paradies ist –, dann tut sie nur noch Gutes. Das Böse ist also durch die Unvollkommenheit begründet, die von der Körperlichkeit ausgeht und die mit dem Tode stirbt.71 Das, was als Böses bezeichnet wird, ist demnach das Ergebnis von Handlungen, oder anders gesagt: Die menschlichen Handlungen induzieren das Gute wie das Böse, und zwar entweder durch spontane Einfälle (zum Guten oder Bösen72) oder durch Denkprozesse. Da die Seele immer im Kontext ihrer Bestimmung gedacht wurde, nahmen die Mutaziliten keine autonomen seelischen Prozesse an oder sahen sie gar in einer Wechselwirkung mit einer „frei wirkenden Natur“. Andererseits hielten sie sich, wie an-Nazzam, bei der Beurteilung der Rolle des Teufels in Bezug auf das Böse zurück. Denn wenn dem Teufel zu viel Macht zugestanden würde, wenn man also annimmt, dass er das Böse „induziere“, dann würde man Van Ess, Theologie und Gesellschaft, IV, S. 130. Mahmud b. Umar az-Zamakhshari, al-minhaj fi usul ad-din, ed. u. übers. v. Sabine Schmidtke, A Mutazilite Creed of az-Zamakhshari (d. 538/1144), Stuttgart: Steiner 1997, S. 69, engl. Übers. S. 32. 71 Van Ess, Theologie und Gesellschaft, IV, S. 500. 72 Der arabische Begriff für „Einfälle“ (khatiran) wurde daher meist im Dual gebraucht. 69
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ihm unverhältnismäßig viel Macht zuweisen, was wiederum der Gerechtigkeit Gottes zuwiderliefe. Vielmehr sei es Gott selbst, der auch das „Böse“ induzieren könne, und zwar deshalb, um überhaupt den Menschen die Wahlfreiheit zu lassen. So ließ sich die Vorstellung, „alles stammt von Gott“, mit der Lehre vom freien Willen durchaus vereinbaren. Die Lehre von den „Einfällen“ wurde im Laufe der Zeit, so bei dem Mutaziliten Amr b. Bahr al-Jahiz (777–869) und dem Mystiker al-Harith al-Muhasibi (gest. 857), weitgehend generalisiert. Pluralisch verwendet bezeichneten die „Einfälle“ (khawatir) allgemein „Motivationen“, die nun die als von außen stammend gedachten Anstöße der Seele ersetzten. Da die „Emotionen“ aber weiterhin „induziert“ erscheinen, sei es durch das Selbst, durch die (von Gott ausgehende) Vernunft oder durch den Teufel, ist diese mutazilitische Emotionslehre nur begrenzt mit der platonischen Opposition von logistiko/n („denkend“) versus epithym etiko/n („begehrend“) in Verbindung zu bringen.73 Über die Rolle des Teufels bei der Induzierung des Bösen waren sich nun die Mutaziliten keineswegs einig. Für viele war die Vorstellung unannehmbar, dass der Teufel quasi in Konkurrenz zu Gott die Menschen zum Bösen verleiten könne, es sei denn, Gott nutze den Teufel als sein Werkzeug, die Menschen zu prüfen. So finden sich auch andere Erklärungsversuche: Gutes, beziehungsweise fast gleichbedeutend Glauben, werde durch die göttliche Angedeihung von Erfolg (tawfiq) oder durch göttlichen Beistand (mauna), Böses, beziehungsweise Unglauben, hingegen werde durch Gottes Enttäuschung (khidhlan) in das Handeln des Menschen eingebracht.74 Menschliche Handlungen, die die Voraussetzung für das Böse wie das Gute seien, stünden dadurch im Kontext Gottes, dass allein ihr Zustandekommen von Gott geschaffen wird, nicht aber die Qualität der Handlungen. Insofern wirke die Absicht des Menschen mit Gottes Hilfe oder Verweigerung zusammen. In dieser Diskussion gab es keinen Platz für die Konzeptionalisierung eines Bösen an sich. Auch Tiere wurden nicht mehr als „gut“ oder „böse“ klassifiziert; dies wäre auch im Denksystem der Mutazila nicht möglich, denn Tiere können ja keine Schuld auf sich laden. Konsequenterweise wurde das, was konventionell als „böse“ bei Tieren angesehen wurde (wie das Stechen eines Skorpions oder einer Wespe), mit einer spezifischen Bedeutsamkeit versehen: Skorpione, Wespen oder Hunde haben ihren Sinn 73 Ich folge hier van Ess, Theologie und Gesellschaft, IV, S. 502. Van Ess weist außerdem darauf hin, dass im Unterschied zum rabbinischen Konzept yeser ha-tob versus yeser ha-ra die khatiran als von außen induziert gedacht wurden. 74 „Wohlgefallen haben“ beziehungsweise „im Stich lassen“ entsprechen in etwa den neutestamentlichen Begriffen endokeo und enkataleipo.
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in dieser Welt, in der es prinzipiell gerecht zugeht, sofern man das menschliche Tun außer Betracht läßt.75 Al-Jahiz betonte daher, „dass das Wohl der Welt vom Anfang bis zum Ende ihrer Dauer in der Vermischung des Guten mit dem Bösen, des Schädlichen mit dem Nützlichen, des Abscheulichen mit dem Angenehmen, der Erniedrigung mit der Erhöhung und der Menge mit dem Wenigen besteht. Wenn das Böse unvermischt wäre, ginge die Schöpfung zugrunde; wenn das Gute rein wäre, hätte die Prüfung, die uns auferlegt wurde, keine Daseinsberechtigung mehr, und die Ursachen der Überlegung würden verschwinden.“
Wenn es diese Mischung nicht gäbe, so führt er weiter aus, dann hätte diese Welt keinen Sinn mehr, denn es gäbe keine Unterscheidungsmöglichkeit für den Menschen mehr, es gäbe weder Gerechtigkeit noch Ungerechtigkeit, weder Hoffnung noch Verzweiflung, weder Wissen noch Unwissen. Der Mensch könnte dann auch nichts mehr erkennen und aus der Erkenntnis Nutzen ziehen: „Wer würde sich dann noch freuen, dass es Sonne und Mond gibt, Feuer und Schnee, einen Turm oder einen Wolkenfetzen oder gar die ganze Milchstraße, oder ein Maß Wasser oder eine bestimmte Menge Luft?“76
Al-Jahiz begründet die Notwendigkeit des Bösen hier aus einer Seinsbestimmung des Menschen heraus. Erst die Unterschiedlichkeit der Welt ermögliche es dem Menschen, sich diese Welt anzueignen. Das Böse ist insofern sinnhaft, als es einen Teil der Unterscheidungsmöglichkeit des Menschen konstituiert. Das Wissen des Menschen ist in dem Sinne durch die Vernunft wie die Offenbarung „aufgeklärt“, als es die Mischung zu kritisieren, also zu scheiden versteht. Um zu zeigen, dass diese Mischung die Ordnung der Schöpfung darstelle und dass Gut und Böse als relative Begriffe verstanden werden müssten, bettete al-Jahiz seine Sicht in ein fiktives Streitgespräch zwischen zwei Parteigängern der Mutazila ein. Das Streigespräch geht um die Frage, ob der Hahn oder der Hund besser oder schlechter sei. Der schon genannte Mutazilit an-Nazzam, Lehrer von al-Jahiz, übernahm die Aufgabe, den Hahn zu preisen und den Hund zu tadeln, während sein Kontrahent, der Mutazilit Mabad, die Bosheit des Hahns und das Gute des Hundes herausstellte. Da beide die Vorzüge ihres Tieres und die Nachteile des Tieres des anderen gleichermaßen begründen können, gelingt es al-Jahiz zu zeigen, dass das Gute wie das Böse einen al-Jahiz, kitab al-hayawan, III, S. 300. al-Jahiz, kitab al-hayawan, I, S. 204 f., hier in der Übersetzung von Charles Pellat [Walter W. Müller], Arabische Geisteswelt, Zürich: Artemis 1967, S. 220. 75
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festen Platz in der Schöpfungsordnung habe und beide dem Optimum (aslah) der Schöpfung dienen.77 Diese Sinnhaftigkeit bestimmt die Ordnung, und die Ordnung ist gerecht. Der Gerechtigkeitsbegriff aber, der in späterer Zeit zum Mittelpunkt einer islamischen Theodizee werden sollte, wurde erst relativ spät in die theologische, und hier insbesondere in die mutazilitischen Diskussionen eingebracht.78 Abu l-Hudhayl nahm an, dass Gott zwar ungerecht sein könne, dies aufgrund seiner Weisheit und seiner Barmherzigkeit aber nicht in die Praxis umsetze (tajwiz). Der Mutazilit an-Nazzam – und mit ihm dann auch al-Jahiz – verwahrten sich gegen diese Überlegung und betonten, dass Gott nicht ungerecht sein könne, auch wenn dies zunächst seiner Allmacht widerspreche (tadil). Prompt stellte sich den Mutaziliten die Frage, ob Ungerechtigkeit etwas sei oder ob es eben nur nicht Gerechtigkeit sei. Wenn sie etwas nicht ist, dann muss geklärt werden, ob dieses Nicht eine Substanz hat, also irgendwie doch ist und damit zumindest akzidentiell ist. Ist das Nichts also etwas, dann ist auch die Ungerechtigkeit, und dann muss es auch in der Macht Gottes stehen, es in die Welt zu setzen. Wird das Nichts aber nur als das Objekt des Wissens um Gerechtigkeit verstanden, dann stört die Aussage, Gott könne nicht ungerecht sein, Gottes Allmacht bei der Schaffung des Seins nicht.79 77 Al-Jahiz, kitab al-hayawan, I, S. 218 ff., wiederaufgenommen in II, S. 86 ff. Cf. hierzu ausführlich Ibrahim Gériès, Un genre littéraire arabe: al-Mahâsin wa-l-masâwî, Paris: G.-P. Maisonneuve et Larose 1977. Dieses Thema wurde in späterer Zeit vielfach fortgeschrieben. Wie al-Jahiz vertrat auch der Zaydit Ibrahim b. Muhammad al-Bayhaqi (9./10. Jh.) in seinem Buch al-mahasin wa-l-masawi (ed. F. Schwally, Gießen: Ricker 1902) die Koexistenztheorie (das Gute und das Schlechte der Armut), allerdings betont er die Opposition von Gut und Böse anhand von Antonymen (das Gute des Mutes, das Böse der Feigheit). Eine direkte Fortschreibung von al-Jahiz sind drei Werke von ath-Thaalibi (11. Jh.), von denen das Büchlein az-zaraif wa-l-lataif fi l-addad (in der Überlieferung von Ahmad b. Abdarrazzaq al-Maqdisi, Täbris: al-Hwansari 1869/70) größere Beliebtheit erfahren hat. Zur Charakterisierung der Positionen von Abu l-Hudhayl und an-Nazzam s. Harry Austryn Wolfson, The Philosophy of the Kalam, Cambridge (Mass.): Harvard Univ. Pr. 1976, S. 579. 78 Van Ess, Theologie und Gesellschaft, IV, S. 508. Im Koran findet sich, wie van Ess betont, kein abstrakter Begriff für die Gerechtigkeit Gottes. Die Tatsache, dass er gerecht ist, wird allein an seinem Handeln demonstriert. Das Gleiche gilt auch für das Handeln der Menschen. Wie auch in Bezug auf „gut“ und „böse“ tritt „gerecht“ als Qualität einer Handlung und nicht als Attribut des Handelnden hervor. 79 Hierzu Alnoor Dhanai, The Physical Theory of Kalam. Atoms, Space, and Void in Basrian Mutazili Cosmology, Leiden: Brill 1994, S. 29 f.; F. Klein-Franke, „The non-existent is a thing“, Le Muséon 107 (1994), S. 375–390; Richard M. Frank, „Alma’dum wal-mawjud: the non-existent, the existent, and the possible in the teaching
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In einem dogmatischen Traktat des Zayditen Abu l-Husayn Yahya b. al-Husayn, genannt al-Hadi ila l-Haqq80 (gest. 910), heißt es: „Man soll wissen, dass Gott in allen seinen Handlungen gerecht ist, wobei er für seine Schöpfung Sorge trägt, seinen Dienern barmherzig ist, sie nicht mit etwas beauftragt, zu dem sie nicht fähig sind, und von ihnen nichts fordert, was sie nicht finden können, [denn] Gott tut (bei der Vergeltung im Jenseits) nicht im Gewicht eines Stäubchens Unrecht. Und wenn es eine gute Tat ist (die vergolten werden soll), dann vervielfältigt er sie. Er gibt von sich aus einen gewaltigen Lohn.81 Er hat den Unglauben, den Zwang und den Frevel nicht geschaffen, und er fordert dazu nicht auf; er wünscht seinen Dienern nicht den Unglauben, er fügt den Dienern kein Unrecht zu und befiehlt ihnen keine Schandtaten. Es ist so, dass wer etwas davon gemacht, gewollt oder gutgeheißen hat, weder weise noch barmherzig sein kann. Gott aber ist barmherzig, gütig, edel großmütig, freundlich. Er kann sich nicht trennend zwischen ihnen und dem Glauben stellen, sondern ihnen nur den Gehorsam befehlen und sie von der Widersetzlichkeit abhalten, [was bedeutet, dass er] sie auf zwei Ebenen leitet und ihnen zwei [Arten von] Handlungen ermöglicht.“82
Das hier angesprochene Motiv, dass Gott zu gerecht sei, um den Menschen das Böse antun zu können, einfach, weil er sie nicht mit etwas beauftragt, was sie nicht erfüllen können (la yukallifuhum ma la yutiquna)83, hat in der Theologie über die Gerechtigkeit zu einem generellen Dogma geführt, das übersetzt „die Beauftragung mit etwas, was man nicht kann“ (taklif ma la yutaq) lautet.84 Das Böse kann also nicht von Gott stammen, denn, wie es in einem Hasan al-Basri unterschobenen Ausspruch heißt: „Unser Herr ist zu barmherzig, zu gerecht und zu edel, um seinen Menschen/Knechten dies anzutun.“85 Entsprechend hat sich der späte mutazilitische Theologe al-Qadi Abdaljabbar (gest. 1024/5) geäußert: of Abu Hashim and his followers“, Institut Dominicain d’Etudes Orientales du Caire: Melanges (MIDEO) 14 (1980), S. 185–210. 80 Hierbei handelt es sich um den Begründer der zayditischen Herrschaftsdynastie im Jemen. 81 Koran 4:40. 82 Yahya Ibn al-Husayn, ar-radd ala al-mujabbira al-qadariya, ed. v. Muhammad Imara, Kairo: dar al-Hilal 1971 [rasail al-adl wa-t-tawhid, 2.], S. 65. 83 Abgeleitet aus Koran 2:286: „Belaste uns nicht mit etwas, wozu wir keine Kraft haben (la tuhammilna ma ta taqata lana bihi).“ 84 Hierzu u.a. Watt, Free Will, S. 69ff. Die Grundannahme der Theologen, wonach unendlich viele Potentialitäten des Seins in Gott begründet sind, hat die theoretische Frage bedingt, ob Gott zu etwas Undurchführbarem verpflichten könnte. Dies müsste so sein, da sonst in Gott nicht unendlich viele Potentialitäten begründet wären und Gott selbst damit endlich sei. Um diese Paradoxie aufzulösen, unterschied man gewöhnlich zwischen der unendlichen Potentialität Gottes und dem „Wirkvollzug des endlichen Seienden.“ Cf. Daiber, as-Sulami, S. 102. 85 Zitiert nach van Ess, Theologie und Gesellschaft, IV, S. 507.
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„Man spekuliert des Weiteren darüber, ob er [Gott] das Böse des Bösen kenne, ob er ohne es auskomme und ob er davon wisse, dass er ohne es auskommen könne. Tatsächlich befällt ihn das Wissen hierüber, eben weil er gerecht und weise ist, weil er nichts Böses tut, weil er das Gebotene nicht verletzt, weil er Böses nicht befiehlt, weil er vom Guten nicht abhält, sondern weil all sein Tun gut ist.“86
Die terminologische, auf Gott bezogene Verwendung des Begriffs Gerechtigkeit bedeute, so fährt er an anderer Stelle fort, dass er nichts Böses tut und nicht das verletzt, wozu er sich selbst verpflichtet hat.87 Auf Menschen bezogen aber sei das Böse zum einen nicht als Attribut einer Handlung an sich zu verstehen – gute und böse Handlungen gebe es nicht –, sondern bezeichne lediglich die Modalität, in der sich eine Handlung vollzieht. So kann selbst eine eigentlich als gut empfundene Handlung wie das Gebet böse sein, nämlich dann, wenn es nicht auf Gott, sondern auf den Teufel bezogen ist. Zum anderen aber sei das Böse in Bezug auf bestimmte Handlungen vom Willen des Handelnden abhängig, das heißt, dass die Ursache für die Bosheit einer Handlung vom Willen des Handelnden bestimmt ist. So hänge die Charakterisierung einer Aussage als Lüge allein davon ab, ob der Sprecher die Unwahrheit sagen will. In diesem Sinne kann Gottes Handeln nur gut sein. Das Handeln selbst könne aber nicht von Gott erschaffen sein, denn wenn man dies annimmt, dann würden sich, so Abdaljabbar, unter anderem folgende absurde Aussagen ergeben88: a) Wenn Gott die Handlungen der Menschen erschaffen hätte, dann wäre er die Ursache des Bösen. Andernfalls wüsste er nicht das Böse zu machen. b) Wenn Gott die Handlungen der Menschen erschaffen hätte, dann wäre es möglich, dass er selbst Böses tut, weshalb er dann lügnerisch und ungerecht sei. c) Wenn Gott das Böse geschaffen hätte, dann könnte er es uns auch befehlen. d) Wenn Gott den Irrtum der Menschen erschaffen hätte, dann könnte er auch veranlassen, dass ein wahrer oder falscher Prophet sie in die Irre führt. 86 al-Qadi Abdaljabbar, sharh al-usul al-khamsa, ed. v. Abdalkarim Uthman, Kairo: Wahba 1965, S. 66, Z. 13. Cf. George F. Hourani, Islamic Rationalism: The Ethics of Abd al-Jabbar, Oxford: Clarendon 1971 und Abdalla Mohammed, The notion of good and evil in the ethics of Abd al-Jabbar: a philosophical study with a translation of The Determination of Justice and Injustice (al-Tadil wa-al-tajwir), sections 1–12, Thesis (Ph.D.), Temple University, 1984; Daniel Gimaret, Théories de l’acte humain en théologie musulmane, Paris: J. Vrin 1980, S. 18ff. 87 Abdaljabbar, sharh al-usul al-khamsa, S. 131, Z. 9. 88 Zusammengestellt nach Gimaret, Théories, S. 265ff.
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e) Wenn Gott den Unglauben der Ungläubigen erschaffen hätte, dann wäre er nicht wohltätig ihnen gegenüber, weshalb er dann auch weder ihre Anerkennung noch ihre Verehrung, sondern ihren Tadel verdient hätte. Andernfalls stünde das im Gegensatz zur Religion. Diese Annahmen aber widersprechen zutiefst dem Gerechtigkeitsprinzip, das der Mutazilit Abdaljabbar fast gleichrangig mit dem Prinzip der absoluten Einzigkeit Gottes setzte. Für manche mutazilitische Theologen war die Kategorie „Gottes Gerechtigkeit“ derart entscheidend, dass sie sich gegen jegliche Theodizee wandten. Dies mag verwundern, da doch gerade der von Leibniz 1697 geprägte Begriff „Theodizee“ wörtlich übersetzt „Gerechtigkeit Gottes“ meint. Ismail Ibn Abbad (gest. 995) aber stellte klar: „Es soll nicht danach gefragt werden, was er (Gott) macht, auch wenn sie fragen! Sag vielmehr: Das weist auf seine Gerechtigkeit hin. Die Diener fragen nach ihren Taten, ob nun in ihnen frevelhaftes Spiel, Unrecht oder Böses liege. Doch bei Gott, da all sein Tun gut ist, ohne Böses zu enthalten, und Gerechtigkeit ist, ohne Unrecht zu enthalten, ist es davon frei, dass man es befragt.“89
Durch die Betonung von Gottes Gerechtigkeit, die zwangsläufig das Böse zu einem menschlichen Geschehen und einem Akt seiner Willensfreiheit macht, wird die Möglichkeit für eine Theodizee minimiert. Denn wenn Gottes Handeln absolut gerecht ist, kann die Frage: „Wie kommt dann das Böse in die Welt?“ kategorisch nicht an ihn gerichtet werden. Schon die Frage nach einer Theodizee würde paradoxerweise die Gerechtigkeit Gottes verletzen. Es bleibt allein, die menschlichen Handlungen zu klassifizieren, und zwar danach, ob sie Lob verdienen (dann sind sie gut) oder Tadel verdienen (dann sind sie böse). Unter den jemenitischen Zayditen, die viele mutazilitische Gedanken tradierten, wurde das Gute kategorisch allein als das, was „keine Strafe nach sich zieht“, und das Böse als sein Gegenteil definiert.90 Damit wird die Gerechtigkeit bei den Mutaziliten zu einem ethischen wie kosmischen Prinzip. Es tritt bald schon gleichrangig neben ihr erstes Prinzip, nämlich das (Bekenntnis der) absolute(n) Einzigkeit Gottes (tawhid). Mit dem Hinweis auf Gottes prinzipielle Gerechtigkeit wurde die Möglichkeit einer Theodizee im Keim erstickt. Erst in dem Maße, wie sich die islamische Theologie mehrheitlich von der Mutazila abwandte, gewann die Frage nach einer Theodizee spekulativen Spielraum. Abu l-Qasim Ismail Ibn Abbad, al-ibana an madhhab ahl al-adl, ed. v. Muhammad Hasan Al Yasin, Bagdad: dar an-nahda 1963, S. 22. 90 al-Qasim b. Muhammad b. Ali [Ibn Rasul Allah, gest. 1620], kitab al-asas li-aqaid al-akyas, Beirut: dar at-Talia 1980, S. 101ff. 89
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7. Die Abwendung von der Spekulation über das Böse Schon zu Beginn des 9. Jahrhunderts, auf dem ersten Höhepunkt der spekulativen Disputationen um die dogmatischen Folgen, die sich aus den Lehrsätzen der Mutazila ergaben, hatten sich die Traditionarier, allen voran der streitbare Ahmad Ibn Hanbal (780–855), gegen diese „sinnlose Diskussion“91 der Theologen gewandt. Dieser überlieferte Hadithe wie: „Der Muslim ist der Bruder des Muslim, er fügt ihm keinen Schaden zu und die Gottesfurcht enttäuscht ihn nicht. […] Zwischen beiden unterscheidet nur das, was er an Neuerung hervorbringt, denn der Neuerer ist der Böse, der Neuerer ist der Böse, der Neuerer ist der Böse!“92 Solche Traditionen dienten ihm dazu, die Ansicht zu untermauern, dass das Gute durch die offenbarte Ordnung prinzipiell gegeben und durch den Kanon anerkannter Texte überliefert sei und dass das Abweichen von dieser Ordnung kategorisch böse sein müsse. Einen wirklich machtvollen Gegner aber erfuhren die Verfechter des freien Willens erst in der Person von Abu l-Hasan al-Ashari (gest. 935/6), der, selbst aus einer mutazilitischen Tradition stammend, ein exzellenter Kenner der theologischen Argumente und Argumentationen war und diese für sein Anliegen, zu einer neuen islamischen Theologie zu finden, einsetzte. In seiner Zusammenstellung der Argumente seiner Gegner (maqalat al-islamiyin) fasst er die Position der Verfechter des freien Willens wie folgt zusammen: „Diese behaupten, dass Gott – gepriesen sei er – den Menschen die Taten überantwortet hat und für sie die Willensfreiheit (istitaa) in Bezug auf all das, was sie verantworten, gegeben hat; und sie (die Menschen) seien fähig zum Unglauben wie zum Glauben; Gott habe keinen Willen in Bezug auf das Tun der Mensch, und das Tun der Menschen sei nicht von Gott geschaffen.“93 Hierzu Wolfson, Philosophy of the Kalam, S. 578ff. Ahmad b. Muhammad Ibn Hanbal, al-musnad, I–VI, Ed. Kairo: al-maymaniya 1895, Bd. V, S. 71. 93 Abu l-Hasan al-Ashari, maqalat al-islamiyin wa-khtilaf al-musallin, ed. v. H. Ritter, Istanbul: matbaat ad-dawla 1930, S. 93, Z. 7ff. Einschränkend sagt al-Ashari aber an anderer Stelle (S. 245, Z. 12 f.): „Alle Mutaziliten, mit Ausnahme von Abbad [Ibn Sulayman, gest. um 864], sagen, dass das Böse (sharr), das Krankheit ist, und die Schlechtigkeiten (sayyiat), die Strafen sind, von Gott geschaffen sind. [Aber] es handelt sich bei dem ‚Bösen‘ und den ‚Schlechtigkeiten‘ [um Begriffe im] übertragenen Sinn. Was Abbad anbetrifft, so verneint er, dass Gott was immer wir auch als Böse oder Schlechtigkeiten im konkreten [oder im übertragenen] Sinne bezeichnen würden, geschaffen hat.“ Der Iraker Abbad Ibn Sulayman radikalisierte somit die Auffassung der Mutazila und sah auch Krankheiten etc. nicht als Strafen Gottes, sondern als durch die Menschen selbst verursacht. 91
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In dieser Passage übersteigerte al-Ashari die Argumente seiner Gegner: Sie lesen sich in seinen Worten fast so, als stammten sie aus dem Munde von Ungläubigen. Denn wenn der freie Wille erzwinge, dass Gott keinen Willen in Bezug auf das Tun der Menschen habe, welche Rolle spielt dann Gott überhaupt noch? Kann er dann noch Gegenstand des Glaubens und Hoffens sein, wenn nicht mehr erbeten werden kann, dass Gott dem Menschen in der Not helfe? Wenn man dies aber erhofft, folgert hieraus, dass nur Gott allein einen freien Willen habe, der zudem noch zeitlich unbegrenzt ist. Dies aber wiederum führt zur Frage, wer denn die Definitionsmacht über Gut und Böse besitzt. Ist Gott einem ethischen Prinzip unterworfen? Für al-Ashari war die Sache klar. Auf die Frage, ob „Lügen nur deshalb böse sei, weil Gott es für böse erklärt hat“, antwortete er: „Sicher. Denn wenn Gott es für gut erklärt hätte, dann wäre es gut; und wenn er es [so] angeordnet hätte, könnte man dagegen keinen Widerspruch erheben.“94 Al-Ashari kann hier unbekümmert argumentieren, denn durch den Verweis auf den Koran ist ja klar, was Gott als gut und was als böse definiert hat. Gott hat die Lüge eben für böse erklärt, damit ist er der Schöpfer der ethischen Werturteile, und nicht etwa der Mensch. Doch dadurch ist er selbst nicht böse oder ungerecht, denn das Böse verlange die Überschreitung einer gesetzten Grenze, was wiederum in Bezug auf Gott genauso undenkbar sei wie die Vorstellung, dass er selbst lüge. „Da der Schöpfer selbst nicht unterworfen sein oder unter einem Befehl stehen kann, kann er nichts Böses verursachen.“95 Positiv gewendet hat al-Ashari seine Lehrmeinung mit folgenden Worten beschrieben: „[Wir glauben, dass] das Gute und das Böse der allgemeinen wie besonderen Bestimmung Gottes unterliegen. Wahrlich, wir glauben an Gottes allgemeine wie besondere Bestimmung, seine gute wie seine böse, seine süße wie seine bittere; und wir wissen, dass das, was uns fehlgehen lässt, nicht dazu da ist, uns zu schädigen, und dass das, was uns schädigt, nicht dazu da ist, um uns fehlgehen zu lassen.96 [Und 94 Abu l-Hasan al-Ashari, kitab al-luma fi radd ala ahl az-zaygh wa-l-bida, ed. u. übers. v. R. McCarthy, Beirut: Impr. catholique 1953, S. 71 (arab.), 100 (engl.), n° 171. Hierzu Peter Antes, „The First Asarites’ Conception of Evil and the Devil“, in: Seyyed Hossein Nasr (ed.), Mélanges offerts à Henri Corbin, Teheran: McGill University Press 1977, S. 177–189. 95 al-Ashari, al-luma, S. 71/99, n° 170. 96 „Ein Mensch glaubt erst wirklich, wenn er an die gute wie böse Vorherbestimmung glaubt, bis er weiß, dass das, was ihn fehlgehen lässt, nicht dazu da ist, ihn zu schädigen, und dass das, was ihn schädigt, nicht dazu da ist, um ihn fehlgehen zu lassen.“ Hadith, Muhammad b. Isa at-Tirmidhi [gest. 892], al-jami as-sahih, Ed. Beirut 1983, Bd. 3, S. 306, n° 2231.
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wir glauben, dass] die Menschen für sich keine Kontrolle über Schaden und Nutzen haben außer über das, was Gott will, so wie Gott sprach: ‚Sag: ich vermag mir weder Nutzen (zu verschaffen) noch Schaden (zuzufügen), soweit es Gott nicht anders will.‘97 [Und wir glauben, dass] wir in unseren Angelegenheiten Zuflucht bei Gott suchen und unser ganzes Bedürfnis auf ihn und unserer Abhängigkeit von ihm bekräftigen müssen.“98
Das Böse ist somit nur deshalb böse, weil Gott es will. Und da er ein Vorwissen von allen potentiellen Handlungen des Menschen hat, sind alle Handlungen – einschließlich ihrer moralischen Qualität – von Gott erschaffen. Doch al-Ashari spricht sich nicht für eine Wiederbelebung des frühen Determinismus aus. Vielmehr lässt er dem Menschen noch einen Handlungsspielraum, der dadurch bestimmt ist, dass er als Handelnder die determinierten Handlungen „erwirbt“ (kasb). Dieser Begriff wird im Koran vielfach verwendet, vor allem um das Begehen einer Sünde oder eines Bösen zu beschreiben.99 Die in diesem arabischen Begriff begründete semantische Analogie von „begehen“ und „erwerben“ wurde von alAshari wie vor allem von seinem Parteigänger al-Baqillani (gest. 1013) nun theologisch systematisiert und zur Grundlage einer gemäßigten Prädestinationslehre, die die Omnipotenz Gottes auch in Bezug auf das Gute wie das Böse und mit der persönlichen Verantwortung des Einzelnen zu versöhnen suchte.100 Die occasionalistisch anmutende Lehre101 von dem „Erwerb vorherbestimmter Handlungen“ wurde schon bald zu einem Standardlehrsatz in der islamischen Dogmatik, die sich der asharitischen Tradition bediente. Durch das Konzept von den „erworbenen HandlunDer Vers geht weiter: „Wenn ich das Verborgene wüsste, würde ich mir (auf Grund dieser Einsicht) viel Gutes verschaffen und hätte nichts Böses zu leiden.“ Koran 7:188. 98 Abu l-Hasan al-Ashari, al-ibana an usul ad-diyana, ed. v. Abdalqadir al-Arnawurt, Damaskus: al-bayan 1981, S. 21; engl., zum Teil abweichende Übers. von Walter C. Klein, New Haven, Conn.: American Oriental Society 1940, S. 51. 99 Cf. Koran 2:81, 4:11; Richard M. Frank, „Moral Obligation in Classical Muslim Theology“, in: Journal of Religious Ethics 11 (1983), S. 204–223. 100 Zusammenfassend Majid Fakhry, Ethical Theories in Islam, Leiden: Brill 1991, S. 53f. 101 Hierzu auch die ältere Arbeit von Ludwig Stein, „Antike und mittelalterliche Vorläufer des Occasionalismus“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 21 (1889), S. 193–245, hier S. 207–224; außerdem W. Montgomery Watt, „The Origin of the Islamic Doctrine of Acquisition“, Journal of the Royal Asiatic Society (1943), S. 234–247. Zum Occasionalismus überhaupt und die Verwendbarkeit des Begriffs für die islamische Theologie siehe Dominik Perler/Ulrich Rudolph, Occasionalismus: Theorien der Kausalität im arabisch-islamischen und im europäischen Denken, Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht 2000. 97
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gen“ wird zugleich noch ein anderes Problem beseitigt, das in der theologischen Spekulation oft angesprochen wurde. Wenn Gott nämlich das Böse als Qualität von Handlungen mit diesen zugleich vorherbestimmt habe, dann liegt die Vermutung nahe, dass Gott die Menschen zum Bösen zwinge. Dagegen aber wandte sich al-Ashari mit folgendem Argument: „So muss man die Frage von jemandem aufteilen, der sagt: Sagt ihr, dass das Böse von Gott kommt? Darauf ist zu sagen: Wenn ihr meint, dass es von ihm ist als Schöpfung und als Erschaffung in dem Sinne, dass er Böses für jemanden geschaffen hat und dass dieser dann zum Bösen wird, dann ja, so, wie man jemandem einen Schaden zufügt und dieser dann dadurch ein Geschädigter ist, sodass er (der Erstere) dann der Schädiger ist. Entsprechend heißt es ja bei den Muslimen: Uns ist ein Herr, der schädigt und der Nutzen bringt. Wenn ihr aber meint, dass es [von ihm ist als Schöpfung und als Erschaffung] in dem Sinne stammt, dass es Befehl dafür oder eine Aufforderung hierzu ist, dann nein.“102
Gott zwingt also nicht zum Bösen, er stellt den Menschen frei, sich an die vorherbestimmten Handlungsqualitäten anzuhängen, wodurch der Handelnde dann zu einem Bösen wird. Doch hier hat der Mensch eben Wahlfreiheit. Mag manchen Theologen diese Argumentation auch spitzfindig erschienen sein, so erlaubte sie doch, das Eine zu tun, ohne das Andere zu lassen. Auf die Frage, wie das denn möglich sei, verweist al-Ashari dann meist auf sein wohl bekanntestes Axiom: Auf die Frage nach dem „wie“ in Bezug auf Gott kann es keine Antwort geben, da Gott kein „WieWesen“ sei. Damit kann auch nicht gefragt werden, wie es gerecht sein kann, dass es das Böse in der Welt gibt, wo Gott doch selbst die Existenz böser Handlungen vorherbestimmt habe. Nach al-Ashari sind die Begriffe „gerecht“ und „ungerecht“ nicht auf Gott zu beziehen, sondern machen nur einen Sinn, wenn sie auf den Menschen bezogen sind. Denn „gerecht“ und „ungerecht“ könne ein Mensch nur dann sein, wenn er einem Gesetz (sharia) unterworfen ist. Das Gesetz ist es, das die Regeln bestimmt, und wenn ein Mensch diese Regeln verletzt, ist er ungerecht. Bleibt er ihnen hingegen treu, ist er gerecht. Von Gott aber könne man nicht sagen, dass er einem Gesetz unterworfen sei, mithin kann er weder gerecht noch ungerecht sein.103 Damit ist eine Theodizee endgültig ausgeschlossen. Einen Kompromissweg zwischen dem Rigorismus asharitischer und hanbalitischer Prägung und der Mutazila suchten die Parteigänger der Maturidiya. Diese wird auf den Theologen Muhammad b. Muhammad alMaturidi (gest. 944) zurückgeführt und wurde später nach der Ashariya zur zweitwichtigsten Lehrtradition der islamischen scholastischen Theolo102 Abu Bakr Muhammad b. al-Hasan Ibn Furak [gest. 1015], mujarrad maqalat ash-Shaikh al-Ashari, ed. v. D. Gimaret, Damaskus: al-mashriq 1987, S. 97. 103 Daniel Gimaret, La doctrine d’al-Ashari, Paris: du Cerf 1990, S. 433–435.
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gie. Der uns hier interessierende Kompromiss zur Frage des Ursprungs des Bösen gründet auf zwei wichtigen Grundannahmen: Zum einen betont alMaturidi, dass der menschliche Verstand vor jeder Offenbarung Gott kennen kann und kennen muss, wenn er sich selbst treu bleiben will. Der Verstand ist eine dem Menschen eingeborene Institution, die Erkenntnis „verursacht“ und damit effektiv ist. Zum anderen folgt aus dieser ersten Grundannahme, dass der Mensch „aus seiner Natur her“ handelt: Er ist damit real der Vollstrecker seiner Handlungen und damit des Guten wie des Bösen. Gott aber bleibt auch bei al-Maturidi der Schöpfer auch der menschlichen Handlungen, weshalb Handlungen, also auch die guten wie die bösen, zwei Verursacher haben. Gott erschafft die Handlungen, der Mensch aber ist frei, sie sich anzueignen. Im Unterschied zu al-Ashari begreift al-Maturidi den „Erwerb“ (kasb) in einem aktiven Sinne. Da Gott allwissend, allbestimmend und allwollend ist, sind sowohl die effektive Natur des Menschen wie das Böse oder das Gute von Gott gewollt; real aber werden Gut und Böse erst durch das menschliche Tun, das in seiner „natürlichen Freiheit“ begründet ist.104 Der andalusische Gelehrte Ibn Hazm (994–1064) weitete die Ablehnung einer Theodizee insofern aus, als er jeglicher theologischen Spekulation eine Absage erteilte und religiöse Aussagen allein aus der Tatsächlichkeit des im Koran oder der anerkannten Prophetentradition Geäußerten oder, wie er sagt, „Mitgeteilten“ ableiten möchte. Das Böse hat nun überhaupt keinen moralischen Eigenwert mehr, vielmehr komme es durch Gottes Verbot in die Welt, und darin eingeschlossen ist Gottes Mitteilung darüber, was er als Böse ansieht. Das Böse kann daher nur sekundär sein, es ist durch die Mitteilung Gottes verursacht: „Das Böse wird zum Bösen dadurch, dass der eine Erste es verboten hat, und das Gute wird zum Guten dadurch, dass er es befohlen hat. Darin liegt ohne Zweifel eine Güte. Wenn dies so ist, dann steht absolut fest, dass wer keinen Schöpfer (mubdi ) und keinen Lenker (mudabbir) hat und über den keiner befiehlt, nichts von seinem Tun böse sein kann, denn der Grund dafür, dass das Böse böse ist, ist die Mitteilung darüber, dass es böse ist. Doch kein Mitteiler kann zum Gehorsam zwingen außer Gott.“105
Damit waren die wichtigsten Traditionslinien in der theologischen Spekulation über das Böse abgesteckt. Fortan beriefen sich islamische Theologen auf eine dieser Traditionen, ohne zunächst substantiell etwas an der 104 Siehe Ulrich Rudolph, al-Maturidi und die sunnitische Theologie in Samarkand, Leiden: Brill 1997; J. M. Pessagno, „The uses of evil in Maturidian thought“, in: Studia Islamica 60 (1984), S. 59–82. 105 Ali b. Ahmad Ibn Hazm, al-fisal fi l-ahwa wa-l-milal wa-n-nihal, I–V, Beirut: dar al-marifa 1975, Bd. I, S. 38.
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Argumentation zu ändern. So führte der irakische Philologe und Dichter Abdalhamid Ibn Abi al-Hadid (gest. 1257) aus: „Wenn du sagst: wie kann einer, der Gutes tut, besser sein als das Gute (selbst), und der, der Böses tut, böser sein als das Böse, wo doch der, der Gutes tut, wegen des Guten gelobt würde, und der, der Böses tut, wegen des Bösen getadelt würde, und wenn das Gute und das Böse beide ein Grund für das Lob beziehungsweise für den Tadel sind, wobei beide der Grund dafür sind, wie können dann die Täter des Guten beziehungsweise des Bösen besser beziehungsweise böser sein als sie selbst? Dann sage ich: weil das Gute und das Böse beide nicht Ausdrücke für ein lebendiges, machtvolles Wesen sind. Beide Ausdrücke bezeichnen vielmehr zwei Handlungen, beziehungsweise eine Handlung und das Fehlen einer Handlung. Wenn man das lebendige, machtvolle Wesen, aus denen beide hervorgehen, außer Acht ließe, dann könnte niemand daran Nutzen beziehungsweise Schaden finden. Nutzen und Schaden sind ja beide Ergebnis des durch diese zwei Beschriebenen, nicht von diesen beiden je für sich. Eben deshalb ist der, der Gutes tut, besser als das Gute, und der Böses tut, böser als das Böse.“106
Die alte theologische Frage, ob man Gott Böses zuschreiben könne, indem man die Sünde auf ihn zurückführt107, erübrigte sich fortan. Die drei wichtigsten Traditionslinien, an die nun die meisten Theologen anknüpften, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. Das Böse als Teil der ethischen Normen existiert neben Gott, Gott selbst muss sich auch nach ihnen richten (manche Mutaziliten108). 2. Das Böse als Teil der ethischen Normen untersteht Gott, der damit über den ethischen Normen steht (Ashariten). 3. Gott setzt die ethischen Normen und richtet sich nach ihnen (die spekulative Tradition der Maturidiya).
8. Ens et bonum convertuntur Die islamische Theologie war aber nur ein Bereich, in dem über das Böse nachgedacht wurde. Ein zweiter Bereich findet sich in der arabischislamischen Philosophie.109 Abu Nasr Muhammad al-Farabi (gest. 950), der 106 Abdalhamid Ibn Abi al-Hadid, sharh nahj al-balagha, I–X, Beirut: dar al-fikr 1965–1979, IV, S. 257, 17. 107 Van Ess, Theologie und Gesellschaft, IV, S. 511. 108 Diese Auffassung teilten viele islamische Philosophen. 109 Zum Ganzen und vor allem zu Ibn Sina: Muna Ahmad Muhammad Abu Zayd, al-khayr wa-sh-sharr fi l-falsafa al-islamiya. disasa muqarina fi fikr Ibn Sina, Beirut 1991. Die arabisch-islamische Philosophiegeschichte im engeren Sinne des Wortes beginnt mit der Rezeption aristotelischer, platonischer und vor allem neuplatonischer Traditionen im Zuge der zweiten Übersetzungskultur, die zu Beginn
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Neubegründer des Neuplatonismus, bediente sich hierbei des klassischen Arguments, das zumindest bis auf Plotin110 zurückverfolgt werden kann und dessen sich eine Vielzahl von christlichen Scholastikern bedient haben: „Das Gute ist in Wirklichkeit die Vollkommenheit des Seins, es ist das notwendige Sein, und das Böse ist die Abwesenheit jener Vollkommenheit.“111
Das ontologische Argument in Bezug auf das „Nichtsein des Bösen“ wurde zunächst unabhängig von der spekulativen Theologie und ihrem „theistischen Subjektivismus“ beziehungsweise „ethischen Voluntarismus“112 tradiert. Doch angesichts der überaus dominanten Stellung der spekulativen Theologie war es für die Philosophen nicht einfach, eine „objektivistische“ Theorie über Gut und Böse in Umlauf zu bringen und über diese beiden Begriffe außerhalb des islamischen Kanons zu sprechen. Dies zeigt gerade auch die Rezeption von al-Farabis Ontologie des Bösen. Kein Geringerer als Abu Bakr Muhammad Ibn Tufayl (gest. 1185) verurteilte in seiner philosophischen Lehrerzählung Hayy Ibn Yaqzan al-Farabis Sicht der Dinge, da sie, so Ibn Tufayl, zu einer Gleichsetzung von Gut und Böse führten. Dies könne und dürfe aber keiner behaupten, der der islamischen Tradition treu bleiben möchte. Schließlich sei unbestreitbar, dass gemäß koranischer Offenbarung die Seele eines Verdammten nicht ewig in der Hölle schmore113, sondern irgendwann Gottes Erbarmen sicher sein könne. Trotzdem war die Position von al-Farabi kein Einzelfall. Diese Vorstellung hatte ja den irakischen Dichter Abu Nuwas (gest. um 814/5), der des 9. Jahrhunderts in Bagdad entstand. Hierzu Gerhard Endreß, „‚Der erste Lehrer‘. Der arabische Artistoteles und das Konzept der Philosophie im Islam“, in: Tworuschka (Hrsg.), Gottes ist der Orient, S. 151–181; Dimitri Gutas, Greek Thought, Arabic Culture: The Graeco-Arabic Translation Movement in Baghdad and Early Abbasid Society (2nd-4th/8th-10th centuries), London/New York: Routledge 1998. 110 Enneaden I.8.1–12 und III.2.5. Allerdings stimmen die Interpretationen zu Plotins Beurteilung der Ursache des Bösen nicht immer überein. 111 Abu n-Nasr al-Farabi [?], rasail, at-taliqat, Ed. Haydarabad: dairat al-maarif al-uthmaniya 1927, S. 11. Es ist nicht ganz sicher, ob dieser Text wirklich von alFarabi stammt. Ausfühlicher bei [Abu n-Nasr al-Farabi], Al-Farabi’s Commentary and Short Treatise on Aristotle’s de interpretatione, Übers. v. F. W. Zimmermann, London: Oxford University Press 1981, S. 187ff. 112 Beide Bezeichnungen sind entnommen aus G. F. Hourani, „Averroes on Good and Evil“, in: Studia Islamica 16 (1972), S. 13–40, hier S. 15. Hierzu auch J. Obermann, Der philosophische und religiöse Subjektivismus Ghazalis. Ein Beitrag zum Problem der Religion, Wien/Leipzig: Braumüller 1921. 113 Genau dies aber hatten viele Mutaziliten behauptet. Ihrer Meinung nach waren die Strafen Gottes „ewig“.
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selbst eher dem Determinismus zuneigte, zu oft zynischen Gedichten provoziert. Abu Nuwas fragte sich: „Erlangt jemand anders Vergebung als ein Sünder, der vom Verbrechen Besitz ergriffen hat?“114
Ibn Tufayl nun behauptete, dass al-Farabi einerseits gesagt habe, „dass die bösen Seelen nach dem Tod ohne Ende in Schmerzen bleiben und dass das Bleiben ohne Ende sei“, andererseits aber den Guten mit dem Bösen gleichgesetzt und postuliert habe, dass beide im Nichtsein aufgehoben würden, und dies sei nun einmal „ein Lapsus, den man nicht sagt, und ein Fehltritt, der nicht wieder eingerenkt werden kann“.115 Dass Ibn Tufayl al-Farabi so auslegen konnte, zeigt, dass die philosophische Spekulation über das Böse dann in Schwierigkeiten kam, wenn sie direkt mit dem ethischen Subjektivismus der Theologen in Konflikt geriet. Der philosophische Diskurs zeichnete sich ja gerade dadurch aus, dass er ethische Begriffe kontextunabhängig und objektivistisch zu bestimmen versuchte. So haben sich die „Lauteren Brüder“ (ikhwan as-safa)116 wie folgt dem Problem genähert: „Gut und Böse existieren auf viererlei Art, und zwar erstens als das, was auf das Glück und Unglück der Himmelssphäre zurückzuführen ist, zweitens als das, was auf die natürlichen Dinge des Seins und Vergehens zurückzuführen ist und was die Lebewesen an Schmerz und Leid heimsucht, drittens als das, was auf die Natur der Lebewesen an Harmonie und Streit, Liebe und gegenseitigem Hass zurückzuführen ist und was in ihrer Natur an gegenseitigem Kampf und Ringen (verborgen) ist, und schließlich viertens als das, was auf das zurückzuführen ist, wovon die Seelen befallen werden, die unter dem Gebot und Verbot durch die Urteile der Seelen (selbst) in Bezug auf das Glück und Unglück im Diesseits wie im Jenseits stehen.“117
Das Böse ist damit vier Bereichen zuzuordnen: dem Geschick der Sterne, dem physischen Leid, dem emotionellen Handeln und schließlich der 114 Ewald Wagner, Abu Nuwas. Eine Studie zur arabischen Literatur der frühen Abbasidenzeit, Wiesbaden: Steiner 1965, S. 124. 115 Abu Bakr Ibn Tufayl, Hayy Ibn Yaqzan, Ausg. von Albert Nasri Nadir, Beirut: dar al-mashriq 21968, S. 21 f. Ibn Tufayl benutzt die Begriffe „der Gute“ (fadil) und „der Böse“ (sharir). Deutsche Übersetzung von Johann Gottfried Eichhorn (1752– 1827), Berlin: Nicolai 1782, S. 12. 116 Die „Lauteren Brüder“ ist der Name für eine Philosophengemeinschaft, die um die Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert in Südirak in einem ismailitischen Milieu aktiv war. Sie ist vor allem durch ihre 52 Episteln bekannt, in denen sich verschiedene philosophische Traditionen, v. a. der Neupythagoräismus und der Neuplatonismus, mischten. 117 ikhwan as-safa, rasail, Ed. Beirut: dar Sadir 1957, Bd. III, S. 474.
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ethisch handelnden Seele. Als Erfahrung ist daher das Böse aus dem Geschick, der Natur, dem Ego der Menschen und der Ethik hervorgebracht. Diese Auffassung entsprach aber nur bedingt der der peripatetischen Philosophen, die dem Objektivismus nahe standen. Abu Ali al-Husayn Ibn Sina (Avicenna, gest. 1037), der Zeitgenosse der Lauteren Brüder, fasste seine – nicht leicht verständliche – Sicht in einem eigenen Kapitel im neunten Buch seiner Metaphysik zusammen. Hier ist zu lesen: „Wisse, dass das Böse in mehrerer Hinsicht angesprochen wird: Einerseits nennt man das böse, was wie der Mangel ist, der sich in Unwissenheit, Schwäche und Entstellung äußert. Andererseits nennt man das böse, was dem Schmerz und der Traurigkeit gleicht und das dort existiert, wo eine gewisse Wahrnehmung einer Ursache und nicht [etwa] allein der Abwesenheit einer Ursache besteht.“118
Und weiter: „Das Böse an sich ist der Mangel, und zwar nicht der Mangel im absoluten Sinne, sondern der Mangel, der dem Wesen der Sache hinsichtlich ihrer permanenten Vollkommenheit entsprechend seiner Art und Natur anhängt. Das Böse als Akzidens ist damit das Ermangelte, oder das, was die Vollkommenheit von dem, worauf sie ein Recht hat, fern hält.“119
Zur Verdeutlichung verwendet Ibn Sina also auch die (sokratische) Umschreibung des Bösen durch die Begriffe „Unwissenheit/falsche Vorstellung“ (jahl) und „Schwäche“ (duf)120 und konnte damit zumindest begrifflich eine Beziehung zur koranischen Offenbarung herstellen.121 Ibn Sinas neuplatonische und teleologische Sicht lässt kein unabhängiges Böses zu. Die Emanation des Notwendigen Seins122 in die verschiedenen Stufen der getrennten Intelligenzen, der celesten Seelen und himmlischen Körper führe unmittelbar zu einer Vermischung mit dem Existenten, und da alles Existente nicht absolut vollkommen sein kann, kann es auch nicht absolut gut sein, mithin muss es auch böse sein. Und dieser böse Anteil wiederum ist eine Notwen118 al-Husayn b. Ali Ibn Sina, kitab ash-shifa, al-ilahiyat, I–II, ed. v. G. Anawati et al., Kairo 1960, II, S. 415, Z. 8ff. 119 Ibn Sina, ash-shifa, al-ilahiyat, II, 416, Z. 5 ff. Französische Übersetzung von Georges C. Anawati, Avicenne, La métaphysique du Shifa. Livres de VI à X, Paris: J. Vrin 1985, S. 149ff. 120 Ibn Sina, al-ilahiyat, II, 415, Z. 8; außerdem al-Husayn b. Ali Ibn Sina, annajat fi l-hikma al-mantiqiya wa-t-tabiiya wa-l-ilahiya, ed. v. Muhyi ad-Din Sabri al-Kurdi, [Kairo] 21938, S. 284ff. 121 Koran 4:28: „Gott will euch Erleichterung gewähren. Denn der Mensch ist (ja) schwach geschaffen [oder von Natur schwach].“ 122 Ibn Sina identifizierte in seinem Begriff vom „Notwendigen Sein“ Plotins „Eine“ mit Aristoteles’ „Unbewegtem Beweger“.
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digkeit, die sich aus dem Guten ergibt. Diese Mischung zeige sich auch dort, wo man aus verschiedener Perspektive über das Böse spricht: „Man nennt ‚böse‘ tadelnswerte Handlungen; man nennt ‚böse‘ die ihnen unterliegenden ethischen Prinzipien; man nennt ‚böse‘ die Schmerzen, Kümmernisse und Traurigkeit und was ihnen ähnelt; und schließlich nennt man ‚böse‘ den Mangel einer jeden Sache an Vollkommenheit und den Verlust, den sie in Bezug auf das erfahren hat, was sie haben sollte.“123
Handlungen seien dann ‚böse‘, wenn sie ihre Vollkommenheit durch das Auftreten des Bösen in ihnen (Beispiel Ungerechtigkeit) oder eine von der Religion vorgeschriebene Vollkommenheit (Beispiel Unzucht) verlieren. Die Vorstellung, gut und böse seien in der Welt gemischt, bedeute aber nicht, so Ibn Sina, dass sie in gleichem Umfange existierten: Im Gegenteil, zwar gebe es – allerdings nur in der Natur – Dinge, die nicht böse sind, doch Dinge, die nur böse oder wenigstens größtenteils böse oder wenigestens so böse wie gut sind, existierten nicht.124 Deutlicher als Ibn Sina bezog Ibn Rushd (Averroes, 1126–1198) die Argumente der Theologen in seine philosophische Spekulation ein.125 Er warf den Ashariten vor, auf Grund ihrer Argumentation über Gottes Gerechtigkeit annehmen zu müssen, dass „es nichts Gerechtes an sich und nichts Ungerechtes an sich gibt“126. Ein solches Argument empfand Ibn Rushd als „äußerst abscheulich, denn andernfalls gäbe es nichts, das an sich gut, und nichts, das an sich böse wäre. Aber es ist selbstevident, dass Gerechtigkeit etwas Gutes ist und dass Ungerechtigkeit etwas Schlechtes ist. Gott [andere Götter] beizugesellen wäre in diesem Fall nicht ungerecht oder frevelhaft an sich, sondern nur vom Standpunkt des Gesetzes her gesehen, und wenn das Gesetz eine Verpflichtung vorgeschrieben hätte, an einen Gott Beigesellten zu glauben, dann wäre das gerecht.“127 Al-Ashari hätte sich möglicherweise über dieses Argument sehr empört, denn er hätte sagen können, dass Ibn Rushd damit sein Argument über die Faktizität des als gut oder böse Bestimmten einfach übergangen habe. Doch Ibn Rushd hat anderes im Sinn. Ihm geht es darum zu zeigen, dass die ethischen Werte unabhängig von Gott existieren, dass sie also an sich sind. Mit dem Hinweis darauf, dass Beigesellung intrinsisch böse sei – und hierbei konnte er sich der Unterstützung vieler muslimischer Theologen sicher Ibn Sina, ash-shifa, al-ilahiyat, II, S. 419, Z. 5ff. Ibn Sina, ash-shifa, al-ilahiyat, II, S. 421. 125 Am deutlichsten in seinem Traktat Abu l-Walid Ibn Rushd, kitab al-kashf an manahij al-adilla, ed. v. Marcus J. Müller, Philosophie und Theologie von Averroes, München: In Comm. b. G. Franz 1875. 126 Ibid., S. 113, Z. 15. 127 Ibid., Z. 15–19. 123 124
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sein, denn wenn Beigesellung nur konventionell böse sei, dann hätte Gott auch gegen sich selbst entscheiden können und sich damit aufheben müssen –, begründet Ibn Rushd seine Werttheorie zu einem guten Teil moralisch, aber auch durch den Hinweis auf den Koran selbst. Hier findet er Argumente, die seine Auslegung des Problems von Gut und Böse stützen. Ganz im Sinne der aristotelischen Nikomachischen Ethik begreift er das Gute teleologisch in dem Sinne, dass das Sein nur dann ist, wenn es das Gute zum Ziel hat. Das Sein ist wirklich nur, wenn es dieses Ziel erreicht und damit vollkommen wird. Das Böse hängt damit nicht mit Gott, sondern, wie auch die Lauteren Brüder unter „zweitens“ gesagt haben, mit der Natur der Sache zusammen. Diese Sicht aber kollidiert mit der koranischen Auffassung, dass es in dieser Welt keinen „Defekt“ gebe. Wenn es aber natürliche Ursachen des Bösen als erlittenes Leid (zum Beispiel bei Naturkatastrophen, Krankheiten) gebe, dann wäre etwas geschaffen, was Gott nicht geschaffen hat, dann wäre Gottes Omnipotenz in Frage gestellt. Die Lösung des Problems konnte nur darin liegen, durch spekulative Argumentation die Wirklichkeit eines ethischen Wertes an sich zu belegen. Denn nur wenn der Wert nicht arbiträr (durch Gott) gesetzt ist, sondern an sich existiert, kann das Gute gut, das Böse böse sein.128 Gott ist daher zwar der Schöpfer des Guten wie des Bösen, aber nur in dem Sinne, dass er das Gute an sich und das Böse für das Gute geschaffen habe. Denn nur über das Gute lässt sich das Böse begreifen, womit Ibn Rushd wieder beim klassischen Argument der Philosophen angelangt ist, nämlich, dass das Böse nur der Mangel des Guten sei, und zwar nicht im Sinne, dass es das reine „Nichtsein“ oder die reine „Negation“ sei, wie zu behaupten ihm später manche islamischen Theologen vorgeworfen haben, sondern im Sinne von „Mangel“. „Böse“ verhält sich in dieser Argumentation zu „gut“ wie „blind“ zu „sehend“.129 Zugleich aber räumte Ibn Rushd ein, dass es durchaus sinnvoll sein kann, rein pragmatisch über das Böse zu sprechen, vor allem dann, wenn ein Bezug zum Gesetz hergestellt wird und man das Recht als positive Zielsetzung von Handeln versteht. In seinem Kommentar zu Platons Repulik führte er aus: „Es ist evident, dass der Meinung all dieser [Menschen] nach das Gute wie das Böse, das Nützliche wie das Schädigende, das Edle wie das Niederträchtige von 128 Marfat Izzat Bali, „mawqif Ibn Rushd min mushkilat al-khayr wa-sh-sharr“, in: Muhammad Atif al-Iraqi (ed.), al-faylusuf Ibn Rushd mufakkiran arabiyan wa-raidan li-l-ittijah al-aqli, (Beirut?) 1993, p. 359–372. 129 Dieser Aussage entspricht die klassische Definition des Bösen als privatio debeti boni und passt in die ähnliche Argumentation, die bekanntermaßen Thomas von Aquin in seiner „Summa theologiae“ (I, qu. 48) entwickelt hat.
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Natur her existieren und nicht durch Vereinbarung. Denn alles, was zum Ziel hinführt, ist gut und edel, und alles, was daran hindert[, das Ziel zu erreichen], ist böse und niederträchtig. Dies genau zeigt sich im Bereich des Rechts, und insbesondere in unserem Recht. Viele Leute in unserem Land haben diese Meinung bezüglich unseres Rechts.“130
Damit erteilt er den scholastischen Theologen allgemein eine radikale Abfuhr: „Zu den niederträchtigen Nachahmungen […] gehört die Gewohnheit der Menschen zu sagen, dass Gott der Grund für das Gute wie das Böse sei. Aber Gott ist absolut gut. Er tut niemals irgendein Böses, noch ist er der Grund dafür. Die diesbezügliche Behauptung, die von unseren zeitgenössischen Theologen aufgestellt wird, mit dem Ergebnis, dass Gut und Böse nicht in Bezug auf Gott (erhaben sei er) begriffen werden können, dass vielmehr alle Handlungen bezogen auf ihn gut seien, na, das ist ein sophistisches Argument, dessen Absurdität offenkundig ist. Denn dieser Logik zufolge können weder das Gute noch das Böse eine feste Natur in sich selbst haben, sondern erst auf Befehl zu Gut und Böse gemacht werden. Das Böse sollte deshalb einem anderen Prinzip zugeordnet werden, so, wie dies von Ashmodai [Teufel, lies Iblis?] und den anderen Dämonen gesagt wird, auch wenn dies schlechte Darstellungen auch in einer anderen Hinsicht sind. […] Das Böse sollte daher besser mit der Darstellung der Materie in Verbindung gebracht werden, so, wie wenn man das Böse dem Mangel oder der Nichtexistenz zuordnet.“131
Damit waren auch in der islamischen Tradition jene zwei wichtigsten Argumentationsstrategien gegeben, mit denen Gott verteidigt wurde: „Zeigen, dass es (in Wirklichkeit) nichts Böses in der Welt gibt […] oder zeigen, dass Gott nicht (wirklich) allmächtig ist.“132 Ibn Rushds Fehde mit den Ashariten bezog natürlich auch einen der wichtigsten Tradenten der asharitischen Theologie mit ein, nämlich Abu Hamid al-Ghazzali (gest. 1111). Dieser hatte in verschiedenen Werken gegen die philosophische Spekulation geschrieben und zu zeigen versucht, dass die Philosophie dem [Abu l-Walid Ibn Rushd,] Averroes on Plato’s Republic. Tansl. […] by Ralph Lerner, Ithaca, N.Y./London: Cornell University Press 1974, S. 81. Die arabische Rückübersetzung dieser von Samuel ben Judah 1322 verfassten hebräischen Version des verlorenen arabischen Originals Ibn Rushds weicht hier ab, cf. Ibn Rushd, ad-daruri fi s-siyasa. mukhtasar kitab as-siyasa li-Aflatun. Übers. v. Ahmad Shahlan, Beirut: markaz dirasat al-wahda al-arabiya 1998, S. 144. Deutsche Fassung der engl. Übers. v. Somin Lauer, Zürich: Spur 1996. 131 Averroes, Republic, S. 20–21; abweichende Übers. Lauer, Kommentar, S. 46 f.; ähnlich auch [Ibn Rushd], Die Epitome der Metaphysik des Averroes, übers. v. S. van den Bergh, Leiden: Brill 1970 [1. Aufl. 1924], S. 144 ff.; Hourani, „Averroes“, S. 21. 132 E. Wolff in: Notions de philosophie, sous la dir. de Denis Kambouchner, Vol. II, Paris: Gallimard 1995, S. 184. 130
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Sinn und Zweck der Religion diametral zuwiderlaufe. Ethische Fragen könnten, so al-Ghazzali, allein durch die Bezugnahme auf eine sufische Lebenshaltung beantwortet werden. Zwar würden auch das Recht und die Theologie – und in sehr begrenztem Maße auch die gemaßregelte Philosophie – jeweils spezifische Antworten auf moralische Fragen liefern, doch nicht in dem umfassenden Sinne, wie es die Mystik vermochte. Al-Ghazzalis Werk aber war keineswegs einheitlich. In seiner berühmten Streitschrift gegen die Philosophen „Die Inkohärenz der Philosophen“ (tahafut al-falasifa, verf. 1085), auf die Ibn Rushd knapp 100 Jahre später mit seiner Schrift „Die Inkohärenz der Inkohärenz“ reagieren sollte, griff er ohne Bedenken die philosophische Sprachregelung über das Böse auf und kommentierte den Philosophensatz, dass der Schöpfer als erstes Prinzip unter anderem „absolut gut“ sein müsse, wie folgt: „Wenn man von ihm sagt, er [Gott] sei das absolut Gute, dann meint man, dass seine Existenz frei von Mangel und von der Möglichkeit des Mangels ist, denn das Böse hat keine Essenz, sondern verweist auf den Mangel/die Nichtexistenz einer Essenz oder den Mangel an Gutheit der Existenz; denn Existenz selbst ist, insofern, als sie existent ist, gut. Deshalb verweist dieses Attribut auf die Negation der Potentialität des Mangels und damit des Bösen. Man könnte vielleicht auch sagen, ein Gutes ist das, was die Ursache für die Ordnung in Dingen ist, und der Erste ist das Prinzip für die Ordnung eines jeden Dings, und so ist er gut.“133
Ibn Rushd kommentiert diese Stelle in seiner Erwiderung auf al-Ghazzali nicht weiter, sondern meint, dass al-Ghazzali im Ganzen die Meinung der Philosophen treffend wiedergegeben, sich aber bezüglich der Einschätzung der Rolle der Vernunft vergriffen habe. An anderer Stelle seiner Widerlegung al-Ghazzalis referiert Ibn Rushd aber nach einer Zurückweisung eines jeden Dualismus die Perspektive des Philosophen: „Die Alten [Philosophen] waren hinsichtlich dieses Arguments – nämlich dass aus einem nur einer hervorgehen kann – einer Meinung. […] Sie glaubten daher, dass wegen des Guten, das in allem existent ist, das Böse nur etwas akzidentiell Geschaffenes sei134, wie die Strafen, die die trefflichen Staatslenker auferlegen. Sie sind Böses, das zum Zweck des Guten auferlegt wird und nicht zum primären Zweck [nämlich ihr Böses zu bestätigen]. Das ist so, weil es unter den guten Taten einige gute Taten gibt, die nur in Vermischung mit einem Bösen existieren können, wie es der Fall ist in der Existenz des Menschen, der geformt ist aus einer ‚spre133 Abu Hamid al-Ghazzali, tahafut al-falasifa, hier zitiert nach der Version in Abu l-Walid Ibn Rushd, tahafut at-tahafut, ed. v. Maurice Brouyges, Beirut: Dar elMachreq 1987 [erste Aufl. 1930], n° 36.33, S. 308; andere Lesung in der Ed. v. Sulayman Dunya, Kairo o. J., S. 166. Etwas abweichende Übersetzung v. Simon van den Bergh, Averroes’ Tahafut al-Tahafut, I–II, London: Luzac 1969, I, S. 184. 134 Cf. Plotin, Enneaden, III.2.
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chenden Seele‘ und einer ‚tierischen Seele‘. Ihnen (d. h. den Philosophen gemäß) hat die [göttliche] Weisheit bestimmt, dass es viel Gutes geben müsse, auch wenn es mit ein wenig Bösem vermischt sein müsse, denn die Existenz von viel Gutem trotz des wenigen Bösen ist dem Mangel des vielen Guten wegen des wenigen Bösen vorzuziehen.“135
Doch al-Ghazzali ging es um mehr als um eine ontologische Bestimmung von Gut und Böse, wie sie Ibn Rushd verlangte. Indem er das Sein an sich als Gut bestimmt (ens bonum) und da das Sein aus dem Schöpfungswillen Gottes entspringt, ist das Gute von Gott als Qualität des Seins in die Welt gesetzt. Etwas als nicht-gut zu bezeichnen würde entsprechend bedeuten, dieses Etwas in seiner Substanz zu zerstören. Wichtig ist alGhazzali dann aber die Konsequenz, die sich daraus ergibt, etwas als böse zu bezeichnen: „Das Böse ist der Mangel, und das Erfassen des Mangels ist der Schmerz.“136 Nun ist es nicht gerade ein Thema der Philosophen darüber zu spekulieren, ob man einen Mangel erfahren könne. Für alGhazzali aber war die Sache klar: Über das Böse ist nur aus der Erfahrung her zu sprechen. So ergibt sich auch der Sinn des Bösen, den er wie folgt zusammenfasst: „All das ist eine Aufforderung, das zugefügte Ungemach geduldig zu tragen. Das geduldige Ertragen des von den Menschen zugefügten Ungemachs gehört zu den höchsten Stufen der Geduld. Denn dabei unterstützen die Antriebskräfte der Begierlichkeit und des Zornes einander gemeinsam gegen die Antriebskräfte der Religion.“
Entsprechend solle der Mensch „Böses nicht mit Bösem vergelten“137, oder wie es in Sure 14:12 heißt: „Wir wollen das Ungemach, das ihr uns zugefügt habt, geduldig ertragen.“ Dennoch solle der Mensch sich keinesfalls mit dem Bösen zufrieden geben, denn „wer mit Bösem zufrieden ist, hat es gleichsam selbst getan“,138 und „wer zu Bösem führt, ist wie der, der es tut“139. Gut und Böse seien beide von Gott gewollt, doch dabei mit 135 Ibn Rushd, tahafut, n° III.63, S. 177; Ibn Rushd/Van den Bergh, tahafut, I, S. 106. 136 Abu Hamid al-Ghazzali, maqasid al-falasifa, ed. v. Sulayman Dunya, Kairo: dar al-marif 1960, S. 299, Z. 25ff. 137 Richard Gramlich, Muhammad al-Ghazzalis Lehre von den Stufen zur Gottesliebe, Wiesbaden: Steiner 1984 [= Übers. von und Kommentar zu kitab ihya ulum ad-din, Buch 31–36], B.54. Al-Ghazzali zitiert hier Matthäus 5,38–41. 138 al-Ghazzali/Gramlich, Lehre, F.293. Es handelt sich um einen bei Abu Talib al-Makki, qut al-qulub, hier nach der Übers. v. Richard Gramlich, Die Nahrung des Herzens, I–IV, Stuttgart: Steiner 1992–1995, II, n° 46.6//3.67 zitierten Hadith. 139 al-Ghazzali/Gramlich, Lehre, F.293 = al-Makki/Gramlich, qut al-qulub, 32, 634.
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unterschiedlichen Wertschätzungen belegt. Vielleicht hätte hier Ibn Rushd eingegriffen und gefragt, wie denn Gott etwas Böses hassen und etwas Gutes gutheißen könne, wenn neben ihm nicht autonome Werte existierten, auf die er zurückgreifen könne, um überhaupt das Böse als hassenswürdig beurteilen zu können. Doch auf diesen Einwand hätte al-Ghazzali sicherlich gut asharitisch wie folgt reagiert: „Der Kern der Sache ist, dass das Gute und das Böse beschlossen ist. Da aber das Beschlossene nach dem Vorauswollen notwendig geschehen muss, gibt es keinen, der Gottes Entscheid zurückweisen, und keinen, der seinen Ratschluss und seinen Befehl revidieren könnte. Vielmehr ‚ist alles aufgezeichnet, es mag klein sein oder groß‘140, und es ist zu erwarten, ‚dass es in einem festgesetzten Maß‘141 eintrifft. ‚Was dich trifft, vermag dich nicht zu verfehlen, was dich verfehlt, vermag dich nicht zu treffen.‘“142
Doch damit nicht genug. Für al-Ghazzali geht es vor allem darum zu begründen, dass die Diskussionen über das Wesen des Bösen ins Leere laufen müssen, denn „das alles aber ist zurückzuführen auf das Geheimnis der Vorherbestimmung, das man nicht enthüllen darf. Es besteht darin, dass beide, das Böse und das Gute, Gottes Willen und Wollen unterstehen, das Böse aber ein (von Gott) gehasstes Gewolltes, und das Gute ein (von Gott) gutgeheißenes Gewolltes ist. Wer daher sagt, das Böse sei nicht von Gott, ist ein Tor. Ebenso wer sagt, beide seien von Gott, ohne dass sie diesbezüglich Gutgeheißensein und Gehasstsein unterscheiden; er verfehlt das Ziel ebenfalls. Davon die Decke wegzunehmen ist nicht erlaubt. Darum ist es am besten, zu schweigen und sich an die gute Sitte des Religionsgesetzes zu halten.“143
Doch damit war noch nicht der endgültige Schluss der Debatte verkündet. In seinem Hauptwerk „Die Wiederbelebung der Wissenschaft von der Religion“ (kitab ihya ulum ad-din) findet sich jene berühmte Stelle, die zahlreiche spätere Gelehrte zu Kommentaren und Interpretationen angeregt hat.144 Sie lautet: „Alles, was Gott unter den Menschen ausgeteilt hat, Unterhalt und Zeit des Todes, Freude und Trauer, Unvermögen und Fähigkeit, Glaube und Unglaube, Gehorsam und Ungehorsam, alles ist lautere Gerechtigkeit ohne frevlerische Gewalt, reines Recht ohne Unrecht, ja es steht in der notwendigen und richtigen Ordnung gemäß Sure 54:53. Sure 15:21. 142 Abu Hamid al-Ghazzali, ihya ulum ad-din, I–IV, Ed. Kairo 1968, Bd. IV, S. 322 = al-Ghazzali/Gramlich, Lehre, E.75. Der letzte Satz ist identisch mit dem dritten Lehrsatz des Abu Hanifa (siehe oben Anm. 61). 143 al-Ghazzali/Gramlich, Lehre, F.301. 144 Hierzu Eric L. Ormsby, Theodicy in Islamic Thought. The dispute over alGhazali’s „Best of all possible worlds“, Princeton: Princeton Univ. Pr. 1984. 140 141
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dem, was sich gehört, so wie es sich gehört und in dem Maß, das sich gehört.145 Schöneres, Vollendeteres und Vollkommeneres ist überhaupt nicht möglich. Denn wenn es das gäbe und Gott behielte es für sich und täte es nicht, so wäre das Geiz, der der Großmut, und Unrecht, das der Gerechtigkeit widerspräche, und wenn er dazu nicht fähig wäre, wäre das ein Unvermögen, das der Göttlichkeit widerspräche.“146
Aus der letzten Passage, die so in dem von al-Ghazzali als Vorlage benutzten Text des Mystikers al-Makki nicht zu finden ist, haben islamische Theologen das Diktum „(Auch) in der Potentialität gibt es nichts Wunderbareres als das, was geworden ist“ (laysa fi l-imkan abda mimma kan)147 abgeleitet. Dies erinnert natürlich an die von Pierre Abaelard bis Thomas von Aquin vorbereitete Auffassung von der „besten aller Welten“, die später in den Mittelpunkt der christlichen Theodizeelehren gerückt wurde. Al-Ghazzali selbst aber spricht hier nicht von „der besten Welt“, sondern meint vielmehr, dass Gott für dieses Universum die bestmöglichen Daseinsbestimmungen geschaffen hat. Daher sei analog zur Auffassung christlicher Scholastiker wie Duns Scotus, Thomas von Aquin oder William von Ockham zwischen der potentia absoluta Dei und der potentia ordinata Dei strikt zu unterscheiden. Dieser Sinnzusammenhang wurde später aber oft stark verkürzt. Die gängige Version des Satzes war dann: „Es gibt nichts Wunderbareres in der Potentialität als die Gestalt dieser Welt“, so zum Beispiel der ägyptische Jurist Badr ad-Din Muhammad azZarkashi (1344–1392).148 Doch al-Ghazzali selbst hat diesen Gedanken hier nicht weiter ausgeführt, was Richard Gramlich zur Vermutung führte, dass er diesen Gedanken ohne jede systematische Überlegung aufgenommen habe und dass „die Gedanken für einmal mit dem Verfasser durchgegangen“ seien.149 Es mag in der Tat verwundern, dass hier al-Ghazzali, der Parallel und ausführlicher: al-Makki/Gramlich, qut al-qulub, n° 35.28–36.2. al-Ghazzali, ihya, IV, S. 231f. = al-Ghazzali/Gramlich, Lehre, E.72–73. 147 Van Ess, Theologie und Gesellschaft, IV, S. 32, Fn. 9. 148 Zit. bei Ahmad b. Mubarak al-Lamati (gest. 1742), adh-dhahab al-ibriz min kalam Sidi Abdalaziz, neue Ed. u. d. T. al-ibriz alladhi talaqqahu […] Ahmad b. alMubarak an […] Sidi Abdalaziz ad-Dabbagh, Kairo: al-Azhariya 1998, S. 457. 149 al-Ghazzali/Gramlich, Lehre, S. 550, Anm. zu n° E.73. Anzumerken aber ist, dass al-Ghazzali in seinem kitab al-arbain fi usul ad-din (ed. Mustafa Abu l-Ala, Kairo 1970, S. 202) schrieb: „Es gibt verschiedene Wege, mit vollkommener Aufmerksamkeit die Perfektion von Gottes Güte und Weisheit zu verstehen: Einer dieser Wege ist, die Art und Weise zu bedenken, in denen Gott die Ursachen organisierte, die das Verursachte bestimmen. Man kann auch das Wissen um die Prädestination (qada), mittels deren Gott alles in einem Augenblick erschaffen hat, und um die Determinierung (qadar), die der offensichtliche (Seins-)Grund für das Bestehen der Einzelheiten der Prädestination ist, betrachten. Diese sind absolut voll145 146
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sonst als fleißiger Tradent der Ashariya wirkte, just ein Argument aufgegriffen hat, das eigentlich dem Umfeld der Spekulation der Mutazila entstammt.150 Dies hat wieder manche Parteigänger al-Ghazzalis dazu veranlasst zu vermuten, dass al-Ghazzali hier nicht das meinte, was man ihm unterstellen könnte.151 Zu den Gegnern zählten zahlreiche prominente Gelehrte. Zu nennen sind u. a. der Andalusier Abu l-Walid at-Tartushi (gest. 1126 o. 1131), Abu l-Faraj Ibn al-Jawzi (gest. 1200), der marokkanische Mystiker Abdalaziz ad-Dabbagh (gest. 1730) und der indische Gelehrte Muhammad Iqbal (1876–1938)152. Bei weitem überwogen aber seit dem 14. Jahrhundert die Befürworter von al-Ghazzalis Theodizee: Für ihn haben sich ausgesprochen u. a. der berühmte Mystiker Muhyi ad-Din Ibn al-Arabi (gest. 1240)153, die ägyptischen Gelehrten Taj ad-Din as-Subki (gest. 1355), Jalal ad-Din as-Suyuti (gest. 1505) und Abdalwahhab ashSharani (gest. 1565) sowie Murtada az-Zabidi (gest. 1791), der berühmte algerische Mystiker Abdalqadir al-Jazairi (gest. 1883) und heute der malaysische Theologe Naquib Al-Attas.154 Der idealistische Optimismus kommen und die bestmögliche [Entscheidung], und es gibt keine Möglichkeit, besser und passender zu handeln.“ Al-Ghazzali greift in diesem Kapitel zum „Gottvertrauen“ (tawakkul) das ganze Thema nochmals auf. 150 Ormsby (und ihm folgend van Ess) hat, wie schon zuvor Louis Massignon (La passion de Husayn ibn Mansûr Hallâj, martyre mystique de l’Islam […], I–IV, Paris: Gallimard 21975, II, S. 83), auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht und gezeigt, dass das Argument schon von Abbad Ibn Sulayman (gest. um 864), der „innerhalb der Mutazila einer der bedeutendsten Theologen um die Mitte des 3. Jh.s [= 9. Jahrhundert] gewesen ist“ (van Ess, Theologie und Gesellschaft, IV, S. 17), entwickelt worden ist. 151 Die ganze Debatte ist zusammengefasst im großen Kommentar zu al-Ghazzalis ihya von Murtada az-Zabidi [gest. 1791], ithaf as-sada al-muttaqin bi-sharh asrar ihya ulum ad-din, I–X, Ed. Kairo 1894, IX, S. 441–443. 152 al-Lamati, adh-dhahab al-ibriz, S. 455–482, der auch eine Übersicht über die ganze Diskussion gibt. 153 Dass sich Ibn al-Arabi dafür ausgesprochen hat, verwundert nicht. In seinem radikalen Monismus ist die Welt durch die Enthüllung der Namen Gottes (einschließlich des Namens Allah) durch den absolut transzendenten Gott mittels des Imperativs „sei“ entstanden. Damit ist alles Seiende als Manifestation der göttlichen Namen gut. Das Böse entsteht nur durch die Unvollkommenheit des sich seiner Existenz nicht bewussten Menschen. Da das absolute Gute wie das vollkommene Sein aber transzendent seien, ist das Gute aus sich heraus nicht zu verstehen, genauso wie Freiheit nicht aus sich heraus, sondern nur aus der Negation der Sklaverei definiert werden könne; Muhyi ad-Din Ibn al-Arabi, al-futuhat al-makkiya, I–IV, Nachdr. Beirut: dar Sadir o. J., Bd. II, S. 502. 154 Siehe die ausgezeichnete Zusammenstellung, unter ausgiebiger Nutzung von az-Zabidis und al-Lamatis Übersichten, von Ormsby, Theodicy, S. 92–134.
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behielt damit die Oberhand über den realistischen Pessimismus, den der syrische Gelehrte Ibrahim b. Umar al-Biqai (gest. 1480) in dem Satz zusammenfasste: „In der Potentialität gibt es Wunderbareres als das, was es gibt“ (kana fi l-imkan abda mimma kan).155 Der hanbalitische Theologe Taqi ad-Din Ibn Taymiya (gest. 1328) – und nach ihm Muhammad b. Abi Bakr Ibn Qayyim al-Jawziya (gest. 1350) – radikalisierte die Vorstellung von der Absolutheit der Gutheit der Welt. Ausgehend von der Exegese der Koranverse 4:78–79 begründet er, warum das Böse an sich nicht auf Gott bezogen werden könne: „Das Böse ist auf keine Weise auf Gott zurückzuführen. Gott hat, auch wenn er der Schöpfer der Handlungen der Menschen ist, es einerseits für den Gehorsam – und zwar als Gnade und aus Barmherzigkeit – und andererseits für die bösen Handlungen geschaffen, und zwar als Beweis für seine Weisheit und Barmherzigkeit; das Böse ist somit trotzdem eine Gerechtigkeit von ihm, denn er begeht an den Menschen keine Ungerechtigkeit; die Menschen aber sind sich selbst gegenüber ungerecht.“156
Das Böse erscheint hier als Strafe für das Unterlassen guter Handlungen. Somit wird das Böse zum Bösen erst durch den Menschen selbst: Es ist seine Interpretation von Handlungen, die zumeist auf reiner Unwissenheit gründet. Was wir also das Böse nennen, ist nur Folge der falschen Bewertung von Gottes Gerechtigkeit durch den Menschen. Wüsste der Mensch richtig, würde er nicht falsch handeln. Damit gibt es in der göttlichen Ordnung und damit in der göttlichen Vorhersehung nichts Böses. Dennoch bleibt Gott der Schöpfer von Gut und Böse, doch ganz im Sinne seines „platonisch inspirierten Optimismus“ ist das Böse hier als „etwas Zufälliges“ zu verstehen, das „nicht ist und keine wirkmächtige Wirklichkeit“ in der von Gott aus reiner Güte geschaffenen Welt hat.157
9. Die Relativierung des Bösen in der islamischen Mystik Die Auseinandersetzung um die Ontologie beziehungsweise Deontologie des Bösen hatte wenig Freunde: Der indische Enzyklopädist at-Tahanawi (schrieb um 1745) beispielsweise plädierte für einen pragmatischen Umgang mit den Begriffen, da die philosophische Spekulation darüber keinen praktischen Zweck habe: Zit. nach Ormsby, Theodicy, S. 135. Taqi ad-Din Ibn Taymiya, al-hasana wa-s-sayyia, ed. v. Muhammad Jamil Ahmad Ghazi, Kairo: al-Madani 1972, S. 94. 157 Henri Laoust, Essai sur les doctrines sociales et politiques de Taki-d-Din Ahmad b. Taimiya, Kairo: IFAO 1939, S. 169, 515. 155
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„Manchmal beziehen die Philosophen das Gute auf das Sein und das Böse auf den Mangel [an Sein], und manchmal beziehen sie das Gute auf das Erreichen der Vollkommenheit einer Sache und das Schlechte auf das Nichterreichen [der Vollkommenheit]. Sie sagten: Das Sein ist das absolut Gute, und der Mangel ist das absolut Böse. Wenn sie nun mit „gut“ wie in diesen Worten das Sein meinen, wobei sie damit das reine Sein meinen, dann entbehrt dies jeglichen Nutzens. Und wenn sie aber darunter das Erreichen der Vollkommenheit verstehen, dann umfasst das Sein nicht die Notwendigkeit, an sich zu existieren. […] Es ist klar, dass ihr angeführtes Argument absolut nicht richtig ist. Es wird aber auch gesagt, dass sie damit nicht die Bedeutung von Gut und Böse konzeptionalisieren wollten, wie diesem Argument zuzuschreiben wäre. Doch was gesagt ist, ist gesagt, und die Bedeutung [von Gut und Böse] ist den Menschen in aller Klarheit bekannt; sie bezeichnen mit beiden [Begriffen] spezifische Sachverhalte und wenden sie nicht auf andere [Sachverhalte] an, und sie unterscheiden eben nicht zwischen Wesen und Akzidens, sondern beziehen das Gute wie das Böse auf beide.“158
Der praktische Sinn von Gut und Böse stand im Vordergrund der mystischen Auseinandersetzungen um die gelebte Ethik. Hier war die Grundannahme von Bedeutung, dass der Mensch dem Ich, seiner Seele, misstrauen müsse. Denn zum einen, so der Mystiker Dawud at-Tai (gest. um 781), „unterscheidet die Seele nicht zwischen Gut und Böse: ‚Bei jeder Seele, die man ihrem Bestreben überlässt, gibt es Streben nach Gutem und Streben nach Bösem.‘“159 Zum anderen aber, so Abu Uthman al-Hiri (gest. 910), „kann die Seele aber nur erkennen, wer ihr ständig misstraut. (…) Sein Ich ist es, was das Böse befiehlt.“160 Unterscheidungskraft besitzen allein der Verstand und das Herz. So sahen die Mystiker das Böse anders begründet. Für sie war es die Seele, die fast sehnsüchtig nach dem Bösen dürstet, wozu gerne auf die Sure 12:53: „Die Seele verlangt nun einmal gebieterisch nach dem Bösen“ Bezug genommen wurde. Durch eine entsprechende Lesung werden diese ethischen Begriffe in die Seelenlehre einbezogen und dadurch zu einer emotionalen Kategorie umgedeutet. Das Gute wird zum Ausdruck der Freude, das Böse zur Erfahrung des Kummers. Wenn jemandem etwas Freude bereitet, sagte der einer Theosophie zugeneigte Mystiker al-Hakim at-Tirmidhi (gest. 905/910), dann dachte man sich das so, dass die Gutheit dieser Sache sich auf seine Brust legt, Muhammad Ala b.Ali at-Tahanawi, A dictionary of technical terms […] – kashshaf istilahat al-funun, ed. v. Muhammad Wajih et al., Calcutta: W. N. Lee’s Pr. 1861, S. 417f. 159 Zit. n. Abu Nuaym Ahmad al-Isfahani [gest. 1038], hilyat al-awliya, I–VII, Kairo: al-Khanji 1932–1938, VII, S. 356, Z. 7–8. 160 Zitiert nach Abu l-Qasim Abdalkarim al-Qushayri [gest. 1074], risala fi t-tasawwuf, Kairo: al-adabiya 1899/1900, S. 4, hier in der Übers. v. Richard Gramlich, Alte Vorbilder des Sufitums, Wiesbaden: Harrassowitz 1995–1996, II, S. 221. 158
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von wo aus sie sich ins Gesicht verbreitet und die Züge des Gesichts, die zuvor zusammengezogen waren, aufblühen lässt.161 Wenn im Unterschied dazu jemand sagt: etwas kümmert mich, dann meinte man, dass sich die Bosheit der Sache auf die Brust legt und von dort wieder ins Gesicht fließt, wo sie die erblühten Gesichtszüge ersterben oder verflachen ließen. Alles, was Konturen sichtbar werden lässt, sei schön und damit gut, und alles, was konturlos ist, sei schlecht und damit böse. Für at-Tirmidhi ist der Ursprung des Schönen letztlich im „Lachen Gottes“ zu suchen, und der des Bösen im „Schatten Gottes“. Das Lachen ist voller Kontur, der Schatten hingegen nivelliert jede Kontur.162 Poetisch verknüpft der Sufi weiter den Schatten mit dem Abend (masa) und den Morgen (subh) mit der Schönheit (sabaha). Aus dieser Anordnung der Dinge kann at-Tirmidhi nun auf eine große Klassifikation der Welt schließen: Alles auf dieser Welt, das sich im Zustand der Entschleierung und im Licht befindet, wird schön und gut, und alles, was auf dieser Welt verschleiert ist und im Schatten liegt, ist hässlich und damit notwendig böse. Die Ästhetisierung von Gut und Böse, die at-Tirmidhi mit den arabischen Begriffen husn („das Schöne/Gute“) und su („das Hässliche/Schlechte“) kennzeichnet, wird ergänzt durch die Gegenüberstellung von Gut (khayr) und Böse (sharr) in Bezug auf das, was Gott den Menschen zugewiesen hat. „Das Gute ist das, was ihm [den Menschen] aus dem Wollen Gottes zugefallen ist.“163 Tatsächlich wird das khayr-Gute gerne auf irdische Güter bezogen, mit denen fromme Werke finanziert werden. Die Seele, oder das Ego beziehungsweise das Selbst, ist der Ort des Bösen. Der Sufi al-Harith al-Muhasibi (gest. 857)164 hat die emotiven Merkmale dieses Selbst zusammengestellt: Lust, Begierde, Selbstgefälligkeit, Hochmut, Stolz, Gleichgültigkeit und Unwissenheit bilden die Grundlage für das, was die Seele an Bösem will. Es ist an dem Verstand des Menschen, dieses Selbst zu zähmen, und zwar durch Krankheit, Isola161 al-Hakim at-Tirmidhi, kitab tahsil nazair al-quran, paraphrasiert in Paul Nwyia, Exégèse coranique et langague mystique, Beirut: Dar el-Machreq 1970, S. 121–154, hier S. 128–130. Zur Rolle der Physiognomie bei der Bestimmung von Gut und Böse vgl. auch Josef van Ess, Die Gedankenwelt des Harith al-Muhasibi, Bonn: Selbstverlag Or. Sem. 1961, S. 57 f. Zu at-Tirmidhi siehe Bernd Radtke, AlHakim at-Tirmidhi. Ein islamischer Theosoph des 3./9. Jahrhunderts, Freiburg: Schwarz 1980. 162 Hier ist noch ein Wortspiel maßgeblich. At-Tirmidhi bringt das von ihm verwendete Wort für das „Böse“ su mit dem arabischen Verb sawwa „gleichmachen, nivellieren“ in Verbindung. Desgleichen sieht er eine Parallele zwischen „erfreuen“ (sarra) und „Konturen“ (asarir). 163 Zitiert nach van Ess, Gedankenwelt, S. 120. 164 Van Ess, Gedankenwelt, passim.
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tion, Ausharren, rigorose Askese, Therapie, Vernunft, Wissen, Aufgabe des Erwerbs und Wahrung der Rechte Gottes. Der Kampf wird begleitet durch eine Vielzahl von neuen emotiven Merkmalen: Hunger, Furcht, Hoffnung, Schrecken und Demut. All dies führt zur Selbstvergewisserung (muhasaba), die in der Erkenntnis und Begegnung mit Gott endet und der wiederum spezifische emotive Merkmale zugeordnet sind: Vertrauen, Sehnsucht, Dank und Liebe. Da die Sufis im Unterschied zu den Theologen nicht die kognitive Anerkennung des Wissens um Gott in den Mittelpunkt stellten, sondern das emotionelle Erlebnis mittels einer „spirituellen Theorie“ zu erfassen suchten, verschwindet die Notwendigkeit, das Böse kategoriell zu bestimmen. Das Böse wird nun zu einem Ausdruck des emotiven Zustandes der Seele, solange diese noch nicht in den Prozess der Selbstvergewisserung und der Therapie einbezogen ist. Bei einer solch starken Betonung der Boshaftigkeit des Ego bleibt eigentlich nicht mehr viel Raum für den Teufel. Tatsächlich sieht al-Muhasibi – der Zufall wollte es, dass er just den Namen al-Harith trägt, mit dem auch der Teufel bezeichnet wurde – den Teufel sekundär zur Boshaftigkeit der Seele.165 Er kann nur deshalb so viel ausrichten, weil er mehr vom Ich des Menschen weiß als er selbst, er weiß besser über ihn Bescheid als des Menschen eigenes Ich.166 Aber da der Teufel um den eigentlichen Sachverhalt von Gut und Böse nicht weiß, reagiert er nur mit Obstruktion, wenn im Menschen etwas Gutes entsteht, und mit Beschönigung, wenn etwas Böses entsteht.167 Ob Gut und Böse im Menschen entstehen, ist allein Sache des Ego. Wie sehr die Menschen für den Umgang mit ihrem Ego selbst verantwortlich sind, führt al-Muhasibi in seinem Buch über das Ende der Welt drastisch vor Augen. Denn hier zeigt sich das Ego in seiner wahren bösartigen Natur. Al-Muhasibi führt den Leser in diese Endzeit und sagt: „Du sähest die Geschöpfe, ihre Pein, ihr Aussehen: Das Feuer hat ihr Fleisch verzehrt, ihre Züge, die Schönheit ihrer Gesichter, ausgelöscht. Ihre Gesichtszüge sind verschwunden, es bleiben Knochen, Skelette, verbrannt, geschwärzt. Verschlungen durch Ketten und Halseisen, rufen sie in Verwirrung. Es ist ein Schrei in ihrem Unglück, dass sie verloren sind. Sie plärren, weinen und seufzen. Dein Herz würde aus Angst zerfließen, wenn du ihre Bösartigkeit sähest. Du würdest ohnmächtig werden, wenn du ihren Gestank röchest. Was du bist, bliebe nicht in deinem Körper [leben], so stark ist das Erglühen ihrer Körper, die Hitze ihres Atems.“168 Awn, Satan’s Tragedy, S. 69. Van Ess, Gedankenwelt, S. 59. 167 Van Ess, Gedankenwelt, S. 58. 168 André Roman, Une vision humaine des fins dernières. Le Kitab al-Tawahhum d’al Muhasibi, Paris: Klincksieck 1978, S. 105. 165 166
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Doch keineswegs alle Sufis hatten eine solch pessimistische Sicht der Dinge wie al-Muhasibi. Über die Negativität des Ego war man sich natürlich einig. Doch ging es ihnen nun weniger um die Bestimmung eines abstrakten Bösen, das sich in der Seele manifestiert, als vielmehr um die Praxis, die sich aus einer sufischen Sicht ergab. Stolz vermerkte ein Anonymus des 10. Jahrhunderts, dass es allein die Mystiker seien, die ihr Wissen praktisch werden ließen.169 Und somit geht es oft mehr um die positive Selbstbehauptung der Mystiker gegenüber einer bislang dominanten theologischen Kultur, und diese Selbstbehauptung zeichnete sich vor allem durch eine Betonung der praktischen Seelenläuterung aus, in die dann verschiedene, auch theoretische Konstruktionen über den rechten Weg eingebettet waren. Das Böse an sich spielte in solchen Darlegungen kaum eine Rolle. In einem Aspekt aber kam das Böse indirekt wieder zur Sprache, nämlich dort, wo es um das Gewissen ging. Die Vorstellung von einer „gebieterischen Seele“ (an-nafs al-ammara), die den Menschen zum Bösen verführt, provozierte die Ausgestaltung eines Begriffs für das, was wir mit „Gewissen“ bezeichnen. Dieser Begriff war an sich keine Kategorie der frühen islamischen Theologie.170 Sicherlich können wir davon ausgehen, dass in der klassischen islamischen Theologie kein Raum für ein autonomes Gewissen gegeben war, da die Theologie ja ein „bilaterales Verhältnis“ zwischen Gott und den Menschen zu beschreiben versuchte und ethische Werte wie Gut und Böse, die das Handeln des Menschen umschreiben, stets im Kontext dieser Beziehung oder gar als Ausdruck des Willens Gottes dachte.171 Diese Beziehung ermöglichte ja erst, sich das begreiflich zu machen, was als Sünde bezeichnet wurde.172 Im Mittelpunkt der sufischen Auffassung von Gut und Böse stand die Sünde (masiya), die das Gewissen des Gläubigen quäle. Abu Muhammad Sahl at-Tustari, ein irakischer Sufi des 9. Jahrhunderts, widersetzte sich allen Versuchen, das Böse durch spitzfindige Spekulation aus der Verantwortung des Menschen herauszunehmen. Erst wenn der Mensch anerkannt habe, dass sein böses Handeln nicht durch Gott gewollt ist, sondern durch ihn selbst verursacht wird, und wenn der Mensch dann begreift, dass 169 Cf. Die Lebensweise der Könige. Adab al-muluk. Ein Handbuch zur islamischen Mystik, übers. u. komm. v. Richard Gramlich, Stuttgart: Steiner 1993, n° 0.10–0.12. 170 Van Ess, Theologie und Gesellschaft, IV, S. 574. 171 Vgl. aber die Bemerkungen v. Albrecht Hofheinz, „Der Scheich im Über-Ich oder Haben Muslime ein Gewissen?“, in: Wuqûf 7–8 (1992/3), S. 461–481. 172 Toshihiko Isutzu, Ethico-religious Concepts in the Quran, Montreal: McGill University Press 1966, S. 242ff.
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er durch sein böses Handeln sich selbst geschadet hat und dass es Resultat seines „Unverstands“ ist, erst dann gibt Gott zu erkennen, dass eigentlich er es war, der dem Menschen sein Handeln bestimmt habe: „Und wenn er etwas Böses getan hat und sagt: Du hast bestimmt, du hast gewollt, spricht Gott: Du hast Unrecht getan, du hast gesündigt durch deine Begehrlichkeit und dein Lustverlangen. Wenn der Mensch aber sagt: Ich habe gegen mich selbst gefrevelt und durch meinen Unverstand gesündigt, schämt sich Gott vor ihm und spricht: Nein, sondern ich habe bestimmt und ich habe beschlossen. Ich vergebe dir, weil du eingestehst, dass du gegen dich selbst gefrevelt hast.“173
Das Gewissen entsteht durch das Begreifen, dass Sünde ein Selbstfrevel und ein Frevel gegenüber Gott ist. Die Sünde ist aber nur eine Ebene, in der sich – nach Meinung der Sufis – böses Handeln äußert. Generell wird das Böse als menschliche Handlung verstanden, die durch einen Willen zum Bösen, durch eine Anhängigkeit an die Welt, durch eine „schlechte Meinung von Gott und seinem Gesandten, durch das Zurückhalten des Wissens um den richtigen Weg, durch die Liebe zum Diesseits und schließlich durch das Lustverlangen der Seele ausgelöst wird“174. Gegen das Böse helfe nur, wenn man das Herz an Gott anbinde, die Welt hasse, sich das nicht anschaue, was Gott verboten hat, und sich nur in der Bitte um Gottes Vergeltung in der Welt bewege. Es verwundert daher nicht, dass im Kontext dieser sufischen Sicht dem Gewissensbegriff eine besondere Rolle zukam. Dem theosophischen Mystiker at-Tirmidhi wird zusgesprochen, er habe gemeint, dass das Gewissen als ein Seelenzustand (nafs lawwama), der der göttlichen Wahrheit „am nächsten“ sei, zu verstehen sei; zugleich mahnte er aber zur Vorsicht, denn das Gewissen sei auch „trügerisch und schmeichlerisch“.175 Genauer versuchte al-Kashani das Gewissen zu fassen: „Das Gewissen: Es ist es, das mit einem Licht des Herzens erleuchtet wird, und zwar ein Leuchten gemäß dem, wodurch es aus dem Schlummer der Gleichgültigkeit erwacht. Sie (die Seele) erwacht und beginnt ihren Zustand zu reformieren, wobei sie zwischen der Herrlichkeit (Gottes) und der Schöpfung hin und her schwankt. Jedesmal, wenn aus der Seele etwas Böses durch die Herrschaft ihrer Zitiert nach al-Makki/Gramlich, qut al-qulub, n°32, 654. So der 1893 verstorbene Mystiker Ahmad al-Kamashkhanawi an-Naqshbandi, jami al-usul fi l-awliya wa-anwaihim […] wa-kalimat as-sufiya, Kairo: Wahbiya 1879, S. 37. 175 Muhammad b. Ali al-Hakim at-Tirmidhi, bayan al-farq bayna as-sadr wa-lqalb wa-l-fuad wa-l-lubb, ed. v. Nicolas Heer, Kairo: dar al-ihya 1958, S. 83. Bernd Radtke, Drei Schriften des Theosophen von Tirmidh, Beirut/Wiesbaden: Steiner 1996, S. 4, weist nochmals darauf hin, dass dieses Werk dem Theosophen unterschoben worden ist. 173
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schädigenden Naturveranlagung, der ‚Natürlichkeit‘ und ihres Naturells entspringt, das das Licht der göttlichen Unterweisung in Ordnung richtet, dann beginnt sie, sich selbst zu beklagen und dafür zu bereuen, um Verzeihung bittend und zurückkehrend zum Tor des gnädigen Verzeihers.“176
Das Gewissen wird hier noch als ein spezifischer Seelenzustand begriffen. Es handelt sich also nicht um eine autonome, sondern um eine psychologische Kategorie, die durch das Gefühl angeregt wird. Die meisten Sufis verzichteten meist darauf, ihre Gewissenslehre, die schon bei al-Muhasibi vorformuliert wurde, in eine direkte Beziehung zu philosophischen Seelenlehren zu stellen. Eine solche Konzeptionalisierung findet sich in den Texten, in denen das Gewissen nicht als Seelenzustand begriffen wird, sondern als Intuition. In diesem Sinne wird „Gewissen“ meist mit dem arabischen Wort wijdan (eigentlich „Intuition“) bezeichnet. Der indische Enzyklopädist at-Tahanawi meinte, dass bei den Sufis „Gewissen“ (wijdan) bekanntermaßen bedeute, dass es „die Seele und ihre inneren Kräfte bezeichnet. Nun wird auch gesagt, dass es die inneren und intuitiven Kräfte meint, was also jeder in seiner Seele vernunftsmäßig und unvermischt vorfindet, wobei es verstanden werden kann als die Zustände der Seele oder als das Begreifen durch eine innere Kraft. [… Daher] sagen andere: Das Gewissen ist das, was durch eine innere Kraft begriffen wird. Strittig ist also, ob das Gewissen das ist, wodurch die Vernunft allein im Sinne eines inneren Empfindens urteilt, und ob dies ihr zuzuzählen ist, wobei es die Oberhand gewinnt über das, was wir in unserem Selbst finden und nicht durch unsere Mittel wie unser Fühlen unseres Selbst und durch das Tun unseres Selbst.“177
Von dem lateinischen beziehungsweise griechischen Begriff des Gewissens als das „auf das eigene Verhalten bezogene Mitwissen“ auf der Grundlage eines moralisch wertenden Bewusstseins ist hier nicht explizit die Rede, vielmehr wird „Gewissen“ eher aus sufischer Tradition heraus als psychologischer Prozess der moralischen Selbstprüfung begriffen, der zunächst als „klagend“ empfunden wurde. Außerhalb der sufischen Tradition wurde das Gewissen weitergehend als „moralisch wirkende Vernunft“ gefasst, die mit der sinnliche Wahrnehmung im Empfinden vereint ist, oder anders gesagt: Wenn sich das Empfinden und Begreifen des Menschen auf die inneren Sinne richtet, dann spricht man von Gewissen, richtet es sich auf Äußerlichkeiten, dann nennt man es Wahrnehmung.178 176 Abdarrazzaq al-Kashani [gest. 1329], istilahat as-sufiya, ed. v. Abdalkhaliq Mahmud, Kairo: dar al-maarif 1984, S. 110. 177 at-Tahanawi, kashshaf, III, S. 1455. 178 Ali b. Muhammad al-Jurjani (1340–1413), kitab at-tarifat, ed. G. Flügel, Leipzig: Vogeli 1845, S. 11, 270. Zur Geschichte des Gewissens in den islamischen Tradi-
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Die Sufis haben in gewissem Sinne das Böse in den Menschen zurückgeholt, indem sie die Seele als „Ort des Bösen“ deklarierten. Dadurch fällt das Böse, wie das Sein überhaupt, stets auf den Menschen selbst zurück, es kommt nicht von Gott und trifft ihn nicht. „Wisse“, heißt es in einem Werk des marokkanischen Mystikers Ali b. Abdarrahman al-Jamal179, „dass das Sein von dir ist, und dass du von ihm bist. […] Entsprich dem Bösen in Bezug auf es, es ist böse für dich. […] Alles kommt von dir und kehrt zu dir zurück, das Gute wie das Böse.“180 Alles spielt sich also nur noch in dem Menschen selbst ab, der sich durch die Kritik seines seelischen Daseins in die Lage versetzen kann, entweder der Transzendenz Gottes zu begegnen oder, wenn die Immanenz Gottes in der Welt angenommen wird, diese in dem eigenen Sein aufzuspüren. Entsprechend fügte sich die mutazilitische Anschauung, derzufolge der Mensch ein Geschöpf sei, in dem Gut und Böse untrennbar verwoben seien, in die sufische Sicht der Dinge ein.181 Gerade die theosophische Mystik radikalisierte diese Perspektive und machte daraus ein Prinzip, das sie in die Nähe dualistischer Weltdeutungen brachte. Der Theosoph as-Suhrawardi al-Maqtul (gest. 1191) begriff das Böse als einen inhärenten Bestandteil der Welt der Schatten, also jener Welt, die die unterste Stufe der kosmischen Ordnung darstellt: „Das Elend (shaqawa) und das Böse (sharr) sind, in der Welt der Schatten, das Ergebnis der Bewegungen, wobei Schatten und Bewegung zwei notwendige Konsequenzen aus der Dimension des Mangels sind, die in dem Engelhaften und dem Herrschaftlichen existieren.“182
In der sufischen Ethik wurde das Böse so kaum noch als gesonderte Kategorie gefasst. In den klassischen sufischen terminologischen Lexika fehlen gesonderte Einträge. Die mystischen Lehren hatten das Böse als Eigenschaft der „fordernden Seele“ so weit seziert, dass es als selbständige tionen gibt es nur wenige verlässliche Arbeiten. Eine Streitschrift hierzu ist M. Mujeeb, „The status of the individual conscience in Islam“, in: Studies in Islam 7 (1970), S. 125–149. 179 al-Jamal, der in der Tradition der maghrebinischen Shadhiliya stand, lebte im 18. Jahrhundert und wurde zum spirituellen Begründer des Darqawa[iya]-Ordens, cf. Fred de Jong, „Materials relative to the history of the Darqawiyya order and its branches“, in: Arabica 26 (1979), S. 126–143. 180 Ali al-Jamal [Ali al-Jamal], The Meaning of Man, transl. by Aisha Abd arRahman at-Tarjumana, Norfolk: Diwan Press 1977, S. 91. 181 al-Jazzali, ihya, IV, S. 3. 182 Shihâboddân Yahya Sohravardî, Le livre de la sagesse orientale [kitab hikmat al-ishraq], Commentaires de Qotboddîn Shîrâzî et Mollâ Sadrâ Shîrâzî, trad. et notes par Henry Corbin, Paris: Verdier 1986, S. 216.
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Kategorie kaum noch greifbar war. Eine gesonderte Theodizee erübrigte sich daher. Dies zeigt sich auch im Kommentar des schon zitierten osmanischen Mystikers Ismail Haqqi al-Burusawi zur angesprochenen Kontroverse um die beiden Koranverse 4:78 und 79. Ismail Haqqi sieht in diesem Zusammenhang keine Notwendigkeit für eine explizite Theodizee, denn „[Dieser Vers] widerspricht nicht Gottes Wort ‚Alles ist von Gott‘, denn das Ganze ist ein Hervorbringen und ein Übermitteln von Gott; jedoch ist das Gute Wohltun und Gunsterweis, und das Böse aber ist Vergeltung und Rache. […] Denn wisse, dass Handlungen aus vier Klassen bestehen, und zwar aus zwei Klassen, die allein Gott zugehörig sind und nicht den Menschen und durch die ein Eintritt gegeben ist. Es sind dies die Prädestination und die Schöpfung. Die zwei Klassen menschlicher [Handlungen] sind das Annehmen (kasb) und das Tun. Gott ist frei vom Erwerben und dem Tun des Bösen, denn beides gehört zu[r Bestimmung der] Menschen. Der Erwerb [des von Gott Beschlossenen] selbst ist erschaffen, und zwar erschaffen von Gott, so wie er sagt: ‚Er hat euch geschaffen und ihr wisst es nicht.‘183 Genau dies ist die Bewahrheitung seines Wortes: Sag: Alles ist von Gott, das heißt aus Erschaffung und Prädestination und nicht etwa aus Erwerb oder Tun. Verstehe dies und glaube dies, denn das ist die Überzeugung der Mystiker.“184
Die Relativierung des Bösen war die Konsequenz oder vielleicht auch der Hintergrund für die Neudeutung des Teufels, die in vielen sufischen Traditionen zu finden ist. Ausgangspunkt ist die oben schon erwähnte Paradoxie, die sich durch die Rückprojektion des Gebots, sich vor niemand anderem als vor Gott niederzuwerfen, auf die Schöpfungsgeschichte ergab. Iblis hatte sich ja dadurch Gottes Zorn zugezogen, dass er sich weigerte, sich vor Adam niederzuwerfen. Die islamischen Exegeten verstanden dies gemeinhin als Ausdruck für die Überheblichkeit und für den Stolz des großen Satans Iblis. Wenn aber auch für Iblis das Verbot gelte, Gott jemanden beizugesellen, indem man sich vor diesem anderen niederwirft, dann wäre Iblis, weil er Gottes Gebot befolgte, somit eigentlich der wahre Monotheist gewesen, der nicht aus dem Bösen heraus gehandelt hat, sondern aus Gottesliebe. Wieso wird er dann für etwas von Gott bestraft, wo er doch nur Gottes Gebot beachtet hat? Und wieso zwingt ihn Gott zu einer Handlung, die ihn unvermeidlich zur Verdammnis führen muss? Ist Iblis das Opfer des paradoxen Befehls Gottes zum Ungehorsam? Und wieso gilt dann für Iblis nicht Gottes Versprechen, nichts zu fordern, was man nicht zu leisten imstande ist? Die berühmten Mystiker al-Husayn b. al-Mansur al-Hallaj (gest. 922) und nach ihm Ahmad alGhazzali (gest. 1126) waren es wohl, die aus dieser Paradoxie eine Umdefinition des Teufels ausformulierten, die dann eine Vielzahl von islami183 184
Koran 37:96. Haqqi, ruh al-bayan, II, S. 242.
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schen Mystikern übernommen haben, unter ihnen so berühmte Sufis wie Farid ad-Din Attar (gest. 1190) und Jalal ad-Din Rumi (gest. 1273). In der sufischen Ethik wurde die Unbeugsamkeit von Iblis als Teil des göttlichen Schöpfungswillens angenommen. Gottes Fluch wird damit zu einer positiven Größe. Daher konnte al-Hallaj sagen: „Die Tugend der Ritterlichkeit kann nur Iblis und Ahmad [= Muhammad] zugesprochen werden. O Herr, ich diene dir nicht aus Suche nach Erbarmen. Ich stelle für meine Verehrung keine Bedingung. Ich bin zufrieden mit dem, was du willst und machst. Während andere deinem Fluch auszuweichen versuchen, mache ich ihn zur Krone meines Hauptes und zum Wappen auf meinen Ärmeln.“185
Der Mystiker Attar bezog dieses Motiv direkt auf Iblis. In seiner Dichtung „Die Konferenz der Vögel“ (abgeschlossen 1187) erzählt Attar, dass Gott, als er Adam die „reine Seele“ einhauchen wollte, den Engeln befahl, sich niederzuwerfen, weil er nicht wollte, dass die Engel erfuhren, dass Adam eine Seele haben würde. Iblis aber sagte: „Niemand wird mich jetzt verbeugen sehen. Selbst wenn sie meinen Kopf von meinem Körper abschlagen, werde ich das nicht bedauern, denn ich werde dann immer noch meinen Nacken haben! Ich weiß, dass Adam nicht aus Ton (allein) ist. Ich fürchte mich nicht, meinen Kopf zu verlieren, um das Geheimnis zu sehen.“ Als Gott sah, dass Iblis das Geheimnis erkannt hat, wollte er ihn töten. Und ganz im Sinne der Mystiker sagte Gott: „O Mensch, der du gewählt hast, das Geheimnis zu sehen, du musst bereit sein, dafür deinen Kopf zu verlieren.“ Und zu Iblis gewandt fuhr er fort: „Wenn ich deinen Kopf jetzt nicht abschlage, wirst du das Geheimnis der Welt enthüllen.“ Da bat Iblis um Aufschub, den Gott gewährte. Gott aber legte ihm dafür ein Halsband aus seinem Fluch um den Nacken. Und Iblis sprach: „Warum soll ich den Fluch fürchten, wo mir doch das reine Geheimnis enthüllt worden ist? Der Fluch ist dein, die Barmherzigkeit ist dein, der Diener ist dein, und sein Schicksal ist dein. Wenn es mein Schicksal ist, verflucht zu sein, dann fürchte es [ihn] nicht, denn es muss Gift geben wie sein Gegenmittel.“186 Die Tragik von Iblis187 wurde schon bald Teil eines verbreiteten, aller185 al-Husayn b. al-Mansur al-Hallaj, kitab at-tawasin, VI.: tasin al-azal wa-l-iltibas, ed. v. Paul Nwiya, Beirut: Ed. Saint Joseph 1972. Ausführlich hierzu Awn, Satan’s Tragedy, S. 122–134; die ganze Passage bei al-Hallaj bezieht sich auf die Begegnung von Mose und Iblis, hierzu auch G.-C. Anawati, Louis Gardet, Mystique musulmane. Aspects et tendances. Expériences et techniques, Paris: J. Vrin 1986, S. 269–272. 186 Farid ad-Din Attar, mantiq at-tayr, ed. v. Sayyed Sadeq Gawharin, Teheran 1963, S. 181–182; auch al-Hallaj, tawasin, S. 45f. 187 Zum Ganzen Awn, Satan’s Tragedy, passim.
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dings auch heftig befehdeten sufischen Mythos, der Iblis zum ersten Sufi machte und Adam als den nichtsufischen Menschen beschrieb. In einem Dialog mit Mose erklärte Iblis, warum er von Gott so behandelt worden ist: Dies sei eine Versuchung gewesen, um ihn vom (mystischen) Pfad abirren zu lassen, doch er, Iblis, sei standhaft geblieben. Und während Mose (und parallel hierzu die anderen Propheten188) Gott nicht habe schauen wollen, habe er die Kraft gehabt, Gott zu schauen und damit das mystische Geheimnis zu erkennen.189 Der Fluch Gottes ist nur ein Mittel, um die Menschen auf die Probe zu stellen, denn erst wenn sie sich dem Fluch aussetzten, könnten sie das Geheimnis schauen. Da aber Gott Iblis die Welt als Ort seines Daseins zugewiesen hat, dient er fortan nur, um die Menschen zu versuchen, sich von der Wahrheitssuche abzuwenden. Der Mystiker, der Iblis gleichzukommen sucht, wird gleichzeitig von ihm befreit werden.190 Die eindringlichste Variante der Geschichte von Iblis findet sich in Rumis Meisterwerk, der didaktischen „Dichtung der inneren Bedeutung“ (mathnawi-ye manawi).191 In dieser Erzählung erwacht eines Tages Muawiya, der schon genannte Gegenspieler des Kalifen Ali, durch das Gefühl, dass jemand anwesend sei, doch als er die Augen aufmacht, ist niemand da. Aber hinter einem Vorhang erblickt er einen Schattenriss und ruft: „Du da, wer bist du, was ist dein Name?“ „Einfach gesagt“, antwortet er, „mein Name ist Iblis, der Hartherzige.“ Daraufhin beginnen beide einen feinsinnigen Dialog über den Lebenssinn von Iblis. Muawiya wirft ihm, zahlreiche Vorurteile nutzend, Räuberei, Betrug und Verderben vor, Iblis versucht sich zu rechtfertigen, indem er ihm das Gute in seinem Handeln vor Augen zu führen versucht. Nachdem Muawiya Iblis aber zum Geständnis gezwungen hat, erkennt Muawiya die gute Absicht von Iblis 188 Dies wird häufig auf Koran 53:17 bezogen: „Der Blick (des Propheten) schweifte nicht ab. Und er war nicht anmaßend.“ 189 Ahmad al-Ghazzali, „bahr al-haqiqa“, in: Ders., majmua-ye athar-e farsi-ye Ahmad-e Ghazzali, ed. v. Ahmad Mojahed, Teheran 1979, S. 159ff. 190 An anderer Stelle unterscheidet Ahmad al-Ghazzali zwischen der Engelsidentität des Menschen, die sich in der „guten Sinneswahrnehmung“ des Herzens äußert, und der Satansidentität, die sich in der „bösen Sinneswahrnehmung“ der Seele äußert. Damit ist klar, dass er zwischen Iblis und Satan (shaytan) strikt unterscheidet. Siehe Richard Gramlich, Der reine Gottesglaube. Das Wort der Einheitserkenntnis [Übers. von Ahmad al-Ghazzali, at-tajrid fi kalimat at-tawhid], Wiesbaden: Steiner 1983, S. 1–10. 191 Jalal ad-Din Rumi [Rumi], mathnawi-ye manawi, ed. v. R. A. Nicholson, Leiden: Brill 1925, Bd. 2, S. 391–402 [= n° 2604–2793]. Hierzu auch A. L. Herman, „Sufism, fatalism and evil in the Mathnawi of Jalal al-Din Rumi“, in: Iqbal Review 12 (1971) S. 1–15.
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an. Es war gut, dass Iblis ihn geweckt hat, denn tatsächlich habe Iblis ihn an die Gebetszeit erinnern wollen. So schließt er den Dialog mit den Worten: „Du hast mich geweckt, aber dieses Erwecken hat mich wahrlich zum Schlafen gebracht. Du hast mir ein Schiff gezeigt, doch in Wirklichkeit war es ein Malstrom. Du hast mich zum Guten ermahnt, um mich von einem besseren Guten ablenken zu können.“192
Iblis wird in diesen Traditionen zwar als „Teufel“ gesehen, doch – soweit ich sehe – kaum jemals explizit als Satan (shaytan) bezeichnet. Rumi zum Beispiel sprach dann vom Satan, wenn es um die Deutung des Ego ging: „Das Ego und der Satan“, dichtete er, „waren eins von Beginn an und waren Feinde und Neider Adams.“193 Die Ehrfurcht vor Iblis als dem wahren Monotheisten bedeutete also keinen Kult des Bösen oder gar einen Satanskult. Im Gegenteil, ein Kult des Bösen war in dieser sufischen Tradition nicht möglich, weil das Böse als Böses seine Absolutheit verloren hat. Der Ort des Bösen ist die „gebieterische Seele, die zu der körperlichen Natur hinneigt, die die Freuden und sinnlichen Genüsse befiehlt und die das Herz nach unten herabzieht. Sie ist der Ort des Bösen und die Quelle der tadelnswerten ethischen Einstellungen und schlechten Taten.“194 Da das Böse somit sekundäre Eigenschaft der Seele ist, ist es aus der Seinsbestimmung des Menschen herausgenommen. Die Kritiker sufischer Traditionen im Umfeld der islamischen Theologie sahen das natürlich anders. So war es für den schon genannten Dogmatiker Ibrahim b. Umar al-Biqai (gest. 1480) schlicht Unglauben zu behaupten, dass das Böse ein Seelenort sei und dass mithin Paradies und Hölle zwei oppositionelle Zustände der Seelenerkenntnis seien.195 Genau diese Auffassung aber war die Konsequenz aus der sufischen Lehre von der „gebieterischen Seele“, sofern eine göttliche Immanenz angenommen wurde. In gewisser Hinsicht tradierten damit die Sufis mutazilitische Vorstellungen, dass das Böse und das Gute ausschließlich in der Verantwortlichkeit des Menschen lägen, und erweiterten diese Perspektive um eine psychologische Dimension.
Rumi, mathnawi, II, S. 402, n° 2792–3. Rumi, mathnawi, III, S. 182, n° 3197: nafs o-shaytan bude za-wwal wahedi – bude Adam-ra aduw o-hasedi. 194 al-Kashani, istilahat as-sufiya, S. 110. 195 Ibrahim b. Umar Burhan ad-Din al-Biqai, tanbih al-ghani ila takfir Ibn Arabi, ed. v. Abdarrahman al-Wakil unter dem Titel masra at-tasawwuf, [Kairo] [um 1952], S. 72. 192
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10. Die Zeit und das Böse Für die islamischen Prediger, die gegen Ketzerei und Abweichungen von der wahren Religion zu Felde zogen, war die Personifizierung des Bösen in der Figur des Teufels nachgerade zwingend. Denn moralische Rechtleitung eines nicht theologisch oder philosophisch gebildeten Publikums gelang sicherlich eher über die Personifizierung ethischer Werte als über abstrakte Konstruktionen wie Gut und Böse. Der hanbalitische Gelehrte und Prediger Ibn al-Jawzi (gest. 1200) verfasste für seine summarische Abrechnung mit aller Abweichlerei ein Werk, das den bezeichnenden Titel „Die Verkleidung von Iblis oder die Kritik des Wissens und der Gelehrten“ (talbis Iblis) trug und das sich vornehmlich mit den „Ketzereien“ der Mystiker beschäftigte. Ketzerei, so Ibn al-Jawzi, ist nichts anderes als ein Werk des hinterlistigen Iblis, der sich die törichten Mystiker für seine Zwecke dienstbar machte.196 Dieses Buch fand so manche Nachahmer und wird noch heute von Predigern ausgiebig genutzt. In der Paränese ist die Ausgestaltung des Bösen als Teufel ein weit genutztes rhetorisches Mittel, wobei das Böse im Grunde auf das Verführungsbild reduziert erscheint. Auch für die arabischen Literaten des 8.–13. Jahrhunderts war das Böse vor allem in der Gestalt des Teufels interessant. Es bereitete manchen großes Vergnügen, den Teufel, meist als Iblis, in den Dialog mit Menschen treten zu lassen, so, wie es auch die Mystiker machten.197 Das wohl bekannteste Beispiel ist das „Sendschreiben der Vergebung“ (risalat alghufran)198 des syrischen Homme de Lettres Abu l-Ala al-Maarri (973– 1058), thematisch ein Vorläufer von Dantes La Divina Commedia. AlMaarri lässt hier einen Dichter namens Ibn al-Qarih, der ihm zuvor ein Sendschreiben über die Unbill des Alterns zugeschickt hatte, als Verstorbenen auftreten, der zunächst das Paradies und dann die Hölle besucht, wo er unter anderem auf den Teufel, Iblis und den berühmten irakischen Dichter Bashshar Ibn Burd (gest. 787), dem allerlei Häresien angelastet worden waren und der deshalb in der Hölle schmorte, traf. Der Teufel nutzte die Gelegenheit, um für sich etwas Gutes herauszuhandeln, da Ibn al-Qarih ja auch Zugang zum Paradies hatte und er dem Teufel somit die Freuden des Paradieses in die Hölle bringen könnte. Ibn al-Qarih war naAbdarrahman Ibn al-Jawzi, talbis Iblis, ed. v. Muhammad as-Sabah, Beirut: al-hayat 1989, S. 231ff. 197 Shaikh, Teufel, S. 36–46. 198 Abu l-Ala al-Maarri, risalat al-ghufran wa-maaha nass muhaqqaq risalat Ibn al-Qarih, ed. v. Aisha Abdarrahman Bint ash-Shati, Kairo: dar al-maarif 51969. Deutsche Übersetzung des ersten Teils von Gregor Schöler, München: Beck 2001. 196
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türlich entsetzt, was zur Folge hat, dass der Teufel ihm die Höllenhunde an den Hals hetzte. Al-Maarri porträtierte hier den Teufel nicht als das Böse, sondern als Zyniker, dem er offenkundig gewisse Sympathien entgegenbrachte. Das Böse erscheint hier nicht mehr als wirklich böse, da es – zumindest in den Augen von al-Maarris Teufel – das einzig Existierende und Wirkliche ist, während das Gute (verkörpert in dem Moralismus von Ibn al-Qarih) als unwirklich und damit inexistent anzusehen sei. Was ist, ist nicht gut, sondern schlecht und böse. Dieses Motiv, das sich in einer Vielzahl klassisch-arabischer Prosatexte und Gedichte findet, ist die Verkehrung des idealistischen Optimismus, dem sich so prominente Gelehrte wie al-Ghazzali verschrieben hatten. Das Motiv, das Gute allein durch die Abwesenheit des Bösen zu definieren, war aussagekräftig genug, um in der Dichtung den Topos der „schlechten Zeit“ bilden zu können. Die Klage über die schlechte Zeit wurde meist unmittelbar verbunden mit der Klage über die Abwesenheit des Guten, was die Dichter mit entsprechend aussagekräftigen Beispielen über handelnde Menschen zu belegen versuchten. Das Gute brauchte damit nicht mehr erfasst zu werden, denn nun erschien das Gute einfach nur noch als die Abwesenheit des Bösen, oder anders gesagt: Nicht das Gute definierte, was böse ist, sondern das Böse bestimmt, was gut sein könnte. Dies galt vor allem dann, wenn die Zeiten als so schlecht angesehen wurden, dass kein Gutes mehr auszumachen war. Dann konnte schon die Abwesenheit des Bösen tatsächlich als gut gewertet werden. Der Ausdruck „schlechte Zeiten“ war allerdings aus theologischen Gründen nicht sehr beliebt. Er erinnerte zu sehr an vorislamische Vorstellungen, nach denen es die (unbestimmbare) Zeit (dahr) sei, die sich über alles Geschehen in der Welt legen würde. Denn aus theologischer Sicht waren nicht die Zeiten schlecht, sondern die Menschen handelten schlecht in einer bestimmten Zeit. Gemeinhin wurde angenommen, dass die Menschen engstens mit ihrer Zeit verbunden seien. Bashshar Ibn Burd sagte: „Ich bin wie die Zeiten. Wenn sie nüchtern sind, dann bin ich es auch, und wenn die Zeiten verrückt sind, dann bin ich es auch.“199
Wenn die Zeit trotz theologischer Bedenken „schlecht“ sein konnte, dann konnte man auch die Umstände für die Existenz des Bösen ins Spiel bringen. Und so meinten viele Dichter, die Welt in ihrem unbegrenzten Geschehen sehen zu können, ein Geschehen, das den Menschen in einer ihm ureigentlichen Mischung aus Freude und Leid begegne und damit das Gute wie das Böse schaffe. Und so beklagte sich ein abbasidischer Prinz: 199 Zit. n. Franz Rosenthal, ‚Sweeter than Hope‘. Complaint and Hope in Medieval Islam, Leiden: Brill 1983, S. 38.
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„Ich beklage mich bei Gott über das, was ich in unserer Zeit sehe, All die Ungerechtigkeit und das Falsche, das in ihr geschieht. Sklaven haben sich über ihre Herren erhoben Und Unwissenheit wird unter ihnen mehr gepriesen als das Wissen.“200
In dieser zutiefst skeptischen und pessimistischen Weltsicht wird der Teufel nun zum Herren der Umstände und des Geschehens. Der Unbill, die der Mensch erfährt, kann er nur durch allerlei listige Tricks begegnen, die Abu l-Hasan Ali at-Tanukhi (gest. 994) in seiner Anekdotensammlung „Die Freude nach dem Ungemach“ beschrieben hat. Und in diesem Sinne zitierte er einen frühen arabischen Dichter: „Fürchte das Böse aus Anlass des Guten, und bitte um das Gute aus Anlass des Bösen, gar manches Leben hat seinen Grund in der Suche nach dem Tod, und ein Tod hat seinen Grund in der Suche nach dem Leben.“201
11. Ein Ausblick In dem vorliegenden Beitrag konnten nur die wichtigsten Traditionslinien in der islamischen Religionsgeschichte bezüglich der Befassung mit dem Bösen erörtert werden. Eine eigene Untersuchung verdient die Frage, wie diese Traditionslinien in der Neuzeit von islamischen Denkern weiter entwickelt wurden und dann, wie diese genutzt wurden, um zu einer neuen Bestimmung des Bösen und implizit der Theodizee zu gelangen, die sich von der älteren Diskussion absetzte. Doch hierzu lässt sich noch kein Überblick geben, da bislang kaum verlässliche Studien zur Geschichte der islamischen Wissenskulturen zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert vorliegen. Um wenigstens einen Ausblick auf diese Erörterung zu geben, soll zum Schluss noch kurz auf eine Neuinterpretation eingegangen werden, die im späten 19. Jahrhundert ausformuliert wurde und die bis in die Gegenwart hineingewirkt hat. Im Bemühen, die islamische Theologie aus einem neuscholastischen Diskurs zu befreien, der im frühen 19. Jahrhundert Mode gewesen war, setzten so genannte islamische „Reformer“ auf eine positive Rezeption früherer Formen der rationalistischen Theologie. Es ging ihnen auch darum zu zeigen, dass die Europäer völlig fehlgingen, wenn sie der islamischen Kultur eine fatalistische Grundhaltung zuschrieben. Der persische Gelehrte Jamal ad-Din al-Afghani (1839–1897), der 1884 zusammen Cit. n. Rosenthal, ‚Sweeter than Hope‘, S. 35. Abu l-Hasan Ali al-Muhsin at-Tanukhi, al-faraj bada sh-shidda, I, ed. Kairo 1955, S. 40. 200
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mit dem ägyptischen Gelehrten und späteren Richter Muhammad Abduh (1849–1905) aufgrund politischer Aktivitäten 1884 in Paris im Exil lebte, publizierte in der dort von beiden herausgegebenen Zeitschrift al-urwa al-wuthqa einen Artikel, in dem er die asharitische deterministische Lehre zu aktualisieren versuchte und den Europäern schlicht Unkenntnis der komplexen islamischen Theologie vorwarf.202 Einen Schritt weiter gingen dann Muhammad Abduh und sein Schüler, der aus Syrien stammende Prediger Muhammad Rashid Rida (gest. 1935). In ihrem berühmten Korankommentar findet sich zu den oben behandelten Koranversen 4:78–79 folgender Kommentar, den ich in Auszügen wiedergebe. Der Verfasser, wohl Rashid Rida, lässt hier einen fiktiven Fragesteller folgenden Sachverhalt darstellen: „Wenn nun gesagt wird, dass alles, ob Gut oder Böse, sich auf Gott stütze und dass beide von Gott stammten in dem Sinne, dass er der Schöpfer ihrer Beschaffenheit und der Urheber für das auf sie bezogene Gesetz von Ursache und Wirkung sei und dass sich all das, was der Mensch diesbezüglich an Erwerb und Handlungsfreiheit habe, auf den Menschen stütze, ganz gleich, ob es nun das Gute oder das Böse sei, wobei hierdurch die Kenntnis der Menschen [von Gut und Böse] fortschreite, und wenn man das auf den Koran oder die Sunna abstützt wie zum Beispiel auf die Sure 6:160 ‚Und wenn einer mit einer guten Tat (vor den Richter) kommt, wird ihm zehnmal so viel als Lohn zuteil. Und wenn einer mit einer schlechten Tat kommt, wird ihm nur mit gleich viel vergolten. Und ihnen wird dabei nicht unrecht getan‘, warum geschieht dann das Gute absolut durch die Güte Gottes und das Böse absolut aus der Seele des Menschen?“
Rida lässt den Frager sein asharitisch vorgebrachtes Anliegen also ganz im Sinne der klassischen theologischen Dispute formulieren. Dem setzt er nun folgende Antwort entgegen: „Die Antwort darauf ist [Folgendes]: Das, was in der Frage angesprochen wurde, ist richtig, und auch das, was im [zitierten] Koranvers steht, ist wahr, denn für jede Situation gibt es eine Rede (Gottes), und die Situation, auf die der Vers verweist, ist durch zwei Sachverhalte erklärt: Die erste ist die Negation und das Entkräften des Unheils und des Pessimismus, damit die Menschen wissen, dass das, was sie an Bösem befällt, sie nicht wegen des Unglücks eines unter ihnen befällt. In der jahiliya waren unter allen Völkern Aberglaube und Pessimismus weit verbreitet, man betrachtete Dinge verbreitet pessimistisch und als unheilvolles Vorzeichen. Dies war Teil der Märchen, die die Vernunft zurückweist. Die Religion der menschlichen Ursprünglichkeit (fitra) erklärte sie für nichtig. Gott sprach (7:130): ‚Und wenn ihnen [sc. den Leuten Pharaos] etwas Gutes zukam, sprachen sie: Das steht uns zu. Und wenn sie etwas Böses traf, sahen sie das (böse) Omen in Mose und in denen, 202 Jamal ad-Din al-Afghani, „al-qada wa-l-qadar“, in: al-urwa al-wuthqa, neue Ed. Kairo 1958, S. 48–59.
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die mit ihm waren.‘ Und so machte er den Aberglauben zum Bestandteil des Unwissens und zum Verlust des Wissens um die Wirklichkeiten. Der zweite Sachverhalt besagt, dass es für den, dem Böses geschieht, wünschenswert ist, dass er nach dessen Ursache in seinem Selbst sucht und sich nicht damit begnügt, es nicht durch das Unglück eines anderen, der im [erlebten] Bösen [aber eigentlich] keinen tatkräftigen oder erworbenen Anteil hat, zu erklären. Denn das Böse ereilt den Menschen – wie zuvor erläutert wurde – wegen seiner Beschränkung auf und seinen Umgang mit seiner Unwissenheit beziehungsweise seiner Willkür in Bezug auf die Verfahrensweise Gottes, indem er vor dem bevorstehenden Bösen den Vorteil erbittet und er sich vor Unheil durch die Bereinigung der Ursachen des Bösen schützt. Denn der Grund für die Ordnung der menschlichen Natur ist das, was der Mensch in seinem Selbst findet, wobei er das Gute über das Böse, den Nutzen über den Schaden überwiegen lässt. Das Wesen aller seiner Kräfte ist ihm nützlich, wenn er es gut einzusetzen versteht. In der menschlichen Natur ist absolut nichts Böses, vielmehr erleidet der Mensch einen Schaden, weil er [seine Kräfte] falsch verwendet und etwas verlangt, wozu ihn die Natur nicht bestimmt hat.“203
Das Böse hat nach Rida somit zwei voneinander abhängige Bedeutungen: Zum einen dient die koranische Offenbarung als Instanz der Aufklärung der Menschen, indem er den Menschen das, was sie bislang Aberglauben nannten, zu einer moralischen Größe umdeutet. Zum anderen aber betont Rida, dass das so vom Unglauben befreite Böse als Möglichkeit der dem Menschen eigenen Natur erkannt werden müsse. Nicht der Mensch selbst ist böse, er kann vielmehr sich böse machen. Diese Kontingenz zeichne den Menschen wie seine ihm ureigentliche Verantwortung aus. Damit kehrten die Reformer zur älteren Bestimmung der Willensfreiheit zurück und nutzten diese (hier nicht explizit angesprochenen) Traditionen, um auch in der islamischen Theologie die Willensfreiheit wiederzubegründen. Muhammad Abduh antwortete daher auf eine früher an ihn gestellte Frage, wie denn diese beiden Verse in Bezug auf die Willensfreiheit zu verstehen seien, kategorisch: Derjenige, der mit einem Gewissen der Welt gegenübertrete, würde erkennen, dass das, was er an Freude erfährt und was seine rationalen und emotionalen Wonnen bestärkt, das Gute sei, was Gott dem Menschen bereitet habe. Der Mensch, von Natur her gut, sei geschaffen, um entsprechend seiner Gabe glücklich zu sein und das Gute in ihm zu verwirklichen. Was er aber an Bösem in der Welt finde, sei von ihm selbst verantwortet. Nur durch das Erkennen von Gut und Böse würde sich der Mensch seiner Verantwortung stellen, und nur in der Verantwortung ist der Mensch.204 Der eingangs schon genannte schiitische Muhammad Abduh/Muhammad Rashid Rida, tafsir al-quran al-karim ashshahir bi-tafsir al-manar, V, Kairo: Ali Yusuf 41960/1, S. 269–271. 204 Muhammad Abduh, „sual wa-jawab an ayatayn min al-kitab“, in: al-manar 3 (1900), S. 157–161. 203
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Gelehrte at-Tabatabai (gest. 1980) teilte diese Auffassung und spitzte den teleologischen Aspekt noch weiter zu: Das Gute ist das, was Gott dem Sein als Ziel bestimmt habe, und daher ist das Gute ganz und ausschließlich von Gott geschaffene Eigenschaft der Welt. Das Böse hingegen sei eine ausschließlich vom Menschen geschaffene Eigenschaft der Welt, das sich darin äußere, dass es der Zielsetzung der Welt zuwiderlaufe. Unbill hingegen, zum Beispiel Erdbeben oder Epidemien, könnten nicht als an sich mit Gut oder Böse beeigenschaftet gesehen werden, da die Umstände, in denen sie geschehen, darüber bestimmten, ob sie schädigend oder nützlich sind.205 Dem schloss sich der zum Islam konvertierte österreichische Autor Muhammad Asad (Leopold Weiss, gest. 1992) in seinem Kommentar zu Sure 4:79 mit den Worten an: „Für alles Leiden dieser Art (Asad meint das malum morale) kann der Mensch nur sich selbst tadeln, denn ‚Gott tut niemandem auch nur ein Stäubchen unrecht‘ (Koran 4:40).“206
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Axel Michaels
IV. Das Böse in der hinduistischen Tradition 1. Zur Methode Das Böse im Hinduismus ist wie in anderen Kulturen auch im Wesentlichen die Verletzung einer kosmischen, religiösen, rituellen, sozialen oder natürlichen Ordnung, die von Göttern, Dämonen, Menschen oder durch das Schicksal (Zeit, Sterne etc.) herbeigeführt wurde. Es ist „das Widerwärtige, das Ordnung und Existenz Bedrohende, darum Gefürchtete und Gemiedene, ist, religionswissenschaftlich gesehen, ein Aspekt des Unverfügbaren, des verborgen Mächtigen, dem sich der Mensch ausgeliefert fühlt und von dem er dennoch zehrt. Das Unverfügbare ist ambivalent; es fördert das Leben und bedrängt es auch.“1 Dementsprechend vielfältig ist das Bedeutungsspektrum des „Bösen“ auch im Hinduismus; es umfasst Dämonen, Sünde, Fehler der Natur, Chaos bzw. Mangel an Ordnung, Untaten der Menschen oder der Götter, Illusion, Krankheit, Tod, Wiedergeburt und anderes mehr. In dieser Vielfalt dominieren drei Themen: das Böse als begrenzt vermeidbare Sünde (die böse Tat), das Böse als unvermeidbares Schicksal (die böse Zeit, unverschuldetes Leid, der Tod) und die Personifikationen des Bösen (Dämonen, Geister, aber auch Götter und Menschen), die die Welt oder den Einzelnen ins Unheil stürzen. Diese und andere Aspekte des Bösen vermischen sich im Hinduismus begrifflich so sehr, dass es kaum möglich ist, sie deutlich zu trennen. Das Böse hat sich als Vorstellung und Begriff im Hinduismus denn auch nicht herausgebildet; eher zu finden sind Gegenbegriffe zum Guten, Tugendhaften, Geordneten, Wahren, Reinen etc. Hinzu kommt, dass Formen und Folgen des Bösen je nach textualer, historischer, regionaler oder sozialer Perspektive unterschiedlich dargestellt werden: zum Beispiel als Schuld, Unreinheit oder Unheil. Dementsprechend sind die wesentlichen Mittel zur Befreiung vom Bösen: rituelle Entsühnung und Reinigung, Erlösung oder Gnade. Die nachfolgenden Überlegungen konzentrieren sich ausschließlich auf den Hinduismus bzw. die Hindu-Religionen. Darunter ist ein Bündel von mindestens drei Religionen zu verstehen, nämlich2: 1 Keller (1998), Sp. 1703; zum Bösen allgemein siehe besonders Parkin (1985, Introduction), Colpe/Schmidt-Biggemann (1993) und Safranski (1999). 2 Ausführlich dazu Michaels (1998), 27–47.
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Axel Michaels
(1) der klassische brahmanische Sanskrit-Hinduismus: eine polytheistische, ritualistische, über nahezu ganz Südasien verbreitete brahmanische Priesterreligion mit einem Schwerpunkt auf großfamiliären Haus- und Opferritualen und einer Berufung auf die vedischen Sanskrit-Textsammlungen als Autorität; (2) die Volksreligionen der Regionen Südasiens und der sozialen Gemeinschaften (Subkaste, Kaste, Stamm) sowie hinduistische Volks- bzw. Stammesreligionen; hiebei handelt es sich um polytheistische, teilweise animistische Religionen mit einem Schwerpunkt auf lokal begrenzten, gemeinschaftlichen, kastenübergreifenden Feiern bzw. Verehrungsformen und oralen, volkssprachlichen Texten, eigenen Priestern, Göttern und Festen; (3) gestiftete Religionen: meist asketische, oft antibrahmanische, mitunter missionierende Erlösungsreligionen mit monastischen Gemeinschaften und Basistexten der Stifter. Zu den gestifteten Religionen gehören unter anderem vis nuitische und śivaitische Sekten, synkretistische Stifterreligio˙˙ nen oder hindu-christliche Mischreligionen wie der (ethische) Neohinduismus und in Indien entstandene, aber auch im Westen verbreitete, von charismatischen Gurus begründete Religionsgruppierungen.
a) Das Wortfeld3 Im Sanskrit und in mittel- sowie neuindischen Sprachen bietet sich ein breites Wortfeld für „das Böse“ an, das zugleich die verschiedenen Vorstellungen vom Bösen widerspiegelt. Zu beachten ist freilich, dass die gleichen Wörter teilweise in hinduistischen, buddhistischen oder jainistischen Zusammenhängen mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet werden; dies gilt besonders für karma(n), „Tat“, und duhkha, „Leid“. ˙ Wörter und Begriffe für das Böse im weiten Sinne sind im Sanskrit4: (1) pāpa oder pāpman, „Übel, Sünde“: Dieser wohl häufigste Ausdruck für das Böse wird oft feinstofflich aufgefasst (s. u.), aber auch in einem ethisch-moralischen Sinne verwendet. Die Opposition zu pāpa bildet meist punya, „religiöses Verdienst“, das freilich ebenfalls überwunden ˙ werden muss, wenn es um die Befreiung geht.5 Der Übeltäter, Sünder oder Bösewicht heißt im Allgemeinen pāpin oder pāpakr t(a). ˙ 3 Wenn nicht anders vermerkt, entstammen im Folgenden die indischsprachlichen Fremdwörter dem Sanskrit. 4 Die Bedeutungen können sich teilweise überschneiden. Vgl. zum vedischen Sprachgebrauch auch Kane (1973), 4ff. 5 Vgl. Mundaka-Upanis ad 3.1.3. ˙˙ ˙
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(2) agha, āgas, enas, „Übel, Sünde“ im meist substanzhaften Sinn, d. h. verbunden mit der Vorstellung, dass es eine feinstoffliche Substanz des Übels gibt, die übertragbar oder abwaschbar ist. Das gilt auch für kilbisa, „Schuldsubstanz, (rituelle) Verfehlung“ und (mit Einschränkungen) für:˙ (3) aśubha, aśuddha, mala (auch pāśa, kalmasa oder pan˙ka), „Schmutz, ˙ Unreinheit, Befleckung“ – Begriffe, die auch seelische Übeltaten und Befleckungen umfassen können. (4) dosa, dus-, durita, dusta, „Fehler(haftigkeit), Übel, das Schlechtge˙ machte, Verfehlung“ (dus- ˙