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German Pages 343 [348] Year 1967
H E N R I ΕΥ ·
DAS B E W U S S T S E I N
PHÄNOMENOLOGISCH-PSYCHOLOGISCHE FORSCHUNGEN
HERAUSGEGEBEN VON
C. F. G R A U M A N N UND J . L I N S C H O T E N f
BAND 8
1967 WALTER
DE
GRUYTER
& CO.
/BERLIN
V O R M A L S G. J . G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G - J . G U T T E N T A G , V E R L A G S B U C H H A N D L U N G - G E O R G R E I M E R - K A R L J. T R U B N E R - V E I T & C O M P .
DAS BEWUSSTSEIN von
HENRI
EY
Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von K A R L PETER K I S K E R
1967 WALTER
DE
GRUYTER
& CO. / B E R L I N
V O R M A L S G. J . G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G - J. G U T T E N T A G , V E R L A G S B U C H H A N D L U N G - G E O R G R E I M E R - K A R L J. T R U B N E R - V E I T & COMP.
M i t 6 A b b i l d u n g e n . D a s O r i g i n a l w e r k ersdiien u n t e r d e m T i t e l La Conscience d e r R e i h e Le Psychologue,
Band
in
16, i m V e r l a g Presses U n i v e r s i t a i r e s d e F r a n c e ,
P a r i s , 1963. D i e Seitenzahlen d e r O r i g i n a l v e r ö f f e n t l i d i u n g finden sidi in K l a m m e r n a m o b e r e n I n n e n r a n d d e r Seiten d e r v o r l i e g e n d e n U b e r s e t z u n g .
Ardiiv-Nr. 34 99 671 © 1967 by Walter de Gruyter 8c Co., vormals G. J. Gösdien'sdie Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp., 1 Berlin 30 Printed in Germany Alle Redite vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es audi nidit gestattet, dieses Budi oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: H . Heenemann KG, 1 Berlin 31
INHALTSÜBERSICHT
ERSTER T E I L
Kapitel
Bewußt-sein I
Kapitel II
I
Kapitel II Kapitel III
I
Kapitel II VIERTER TEIL
7-34 34-56 57-178
Destruktion des Bewußtseinsfeldes (Entwurf einer phänomenologischen Psychopathologie des Bewußtseinsfeldes)
59-83
Das Bewußtseinsfeld (Entwurf einer Phänomenologie erlebter Aktualität) . . . .
84-112
Neurobiologie des Bewußtseinsfeldes . . . .
113-178
Ich oder Selbstbewußtsein
D R I T T E R TEIL
Kapitel
Die Philosophie und das Problem des Bewußtseins Bewußtseinsfeld oder Aktualität des Erlebens
ZWEITER TEIL
Kapitel
Das Problem der Definition des Bewußtseins
5-56
179-254
Von der Restriktion zur Verrückung des Ich
184-202
Konstitution des Ich
203-254
Das Unbewußte
Das Problem des Unbewußten
255-298 257-298
INHALTSVERZEICHNIS Vorrede des Übersetzers
XI
Vorwort Henri Eys zur deutschen Ausgabe
XXVI
Vorwort Henri Eys zur Original-Ausgabe
3
ERSTER TEIL
Bewußt-sein Kapitel
I.
Das Problem der Definition des Bewußtseins
7
§ 1. Die Negation des „Bewußtseins"
8
§ 2. Die Realität des Bewußtseins
9
§ 3 . Modalitäten des Bewußt-seins A. Vom biologischen zum humanen Bewußtsein . . B. Charakteristische Aspekte des Bewußt-seins . . a) Bewußtsein und Affektivität b) Bewußtsein und Wirklichkeitserfahrung . . . . a) Gedächtnis und Bewußtsein ß) Wahrnehmung und Bewußtsein γ) Aufmerksamkeit und Bewußtsein δ) Sprache und Bewußtsein c) Reflexives Bewußtsein und operationales Feld des Denkens d) Bewußtsein und Persönlichkeit e) Gewissen § 4. Definition des Bewußtseins a) Bewußt-sein b) Zwei fundamentale Modalitäten des Bewußt-seins c) Strukturierung des Bewußt-seins
Kapitel II.
11 11 14 15 16 17 17 19 20 23 26 27 29 30 32 32
Die Philosophie und das Problem des Bewußtseins . 35 § 1. Die unmittelbaren Gegebenheiten des Bewußtseins und das Problem seiner Struktur bei William James und Bergson a) William James b) H . Bergson
36 37 40
Inhaltsverzeichnis § 2. Die Phänomenologie a) Edmund Husserl α) Ziel und Methode der Phänomenologie.. β) Die Konstitution des transzendentalen Bewußtseins γ) Das Problem des psychologischen Bewußtseins b) Martin Heidegger
VII 42 43 43 45 49 53
ZWEITER TEIL
Bewußtseinsfeld oder Aktualität des Erlebens Kapitel
I.
Kapitel II.
Destruktion des Bewußtseinsfeldes (Entwurf einer phänomenologischen Psychopathologie des Bewußtseinsfeldes)
59
§ 1. Sdilaf und Traum
60
§ 2. Traumhafte Verwirrtheit (Delir)
64
§ 3. Dämmerzustände und Oneiroid
66
§ 4. Wahnerleben und halluzinatorische Spaltung . . . .
69
§ 5. Depersonalisation
73
§ 6. Manisch-depressive Zustände
77
Das Bewußtseinsfeld (Entwurf einer Phänomenologie erlebter Aktualität)
84
§ 1. Der Begriff des Bewußtseinsfeldes
84
§ 2. Phänomenologische Deskription des Bewußtseinsfeldes 92 a) Die Infrastruktur des konstituierten Bewußtseins 93 b) Fakultative Struktur und Disponibilität des Bewußtseinsfeldes 104 c) Das Idi und seine Artikulation mit dem Erlebnisfeld 107 α) Bewußtseinsebene und Organisation des Bewußt-seins. Beziehungen des Bewußtseinsfeldes zur Präsenz und zur Geschichtlichkeit des Ich 108 ß) Das Ich und die Gestaltung des Feldes. Vernünftiges Sein und operationale Entfaltung des Bewußtseinsfeldes 110
Inhaltsverzeidinis
Vili Kapitel III.
Neurobiologie des Bewußtseinsfeldes
113
§ 1. Die Hirnrinde § 2. Das zentrencephale System a) Die Formatio reticularis des Hirnstammes . . . . b) Der Thalamus und das diffuse thalamische Projektionssystem c) Das Rhinencephalon § 3. Periodische cerebrale Desorganisationen: Schlaf und Traum a) Neurophysiologie des Wachzustandes. Kortikales „Arousal" b) Neurophysiologie des Schlafes und des Traumes c) Experimentelle Hirnabtragungen und das Problem der Lokalisierung von Wachen und Schlafen § 4. Cerebrale Desorganisationen bei pathologischen Anfällen (Die Epilepsien) § 5. Dynamische Organisation des Gehirns. Kortex, Zentrencephalon und Bewußtseinsfeld a) Ordnungen und Niveaus der cerebralen Aktivität b) Aktualität des Erlebens. Bewußtseinsfeld und Hirnorganisation Literaturhinweise zum vorangehenden Kapitel
117 129 130 136 140 148 151 156 159 164 168 169 172 178
D R I T T E R TEIL
Ich oder Selbstbewußtsein Kapitel
I.
Kapitel II.
Von der Restriktion zur Verrückung des Idi § 1. Das „charakteropathische" Ich § 2. Das neurotische Ich § 3. Das verrückte Ich § 4. Das demente Ich
184 187 192 196 199
Konstitution des Ich § 1. Persönlichkeitstheorien a) „Elementaristische" Theorien: Reduktion der Persönlichkeit auf ihre basalen Determinanten a) Reduktion der Persönlichkeit auf Biotyp und Temperament: Biotypologien β) Reduktion der Persönlichkeit auf Charaktereigenschaften: Charakterologien. . γ) Reduktion der Persönlichkeit auf die coenaesthetisdie Sphäre Deutsch im französischen Originaltext.
HENRI ΕΥ
DAS
BEWUSSTSEIN
Vorwort Das Problem des Bewußtseins ist beunruhigend. Wenn ich so kühn war, es anzugehen, so allein deswegen, weil die Psychiatrie einiges (bislang niemals Gesagtes) zum Bewußt-sein, dessen Desorganisation Gegenstand ihres eigensten Wissens ist, beitragen kann. In der Ausarbeitung psychiatrischer Forschungen, deren Wesentliches in meinen Etudes psychiatriques1 vorliegt, entwickelte sich ein Bedürfnis nach umfassender Reflexion auf diese Grundfrage. Resultat der Reflexion ist dieses Werk. Nach Abschluß meiner Forschungen über die Struktur und Destruktion des Bewußtseinsfeldes (Bd. III der | Etudes, 1954) und vor Beginn derjenigen über die Persönlichkeit, ihre Wandlung und ihre Verrückung, stellten sich Fragen, welche mit der Eigentümlichkeit dieses Standortes zwischen schon erreichten und noch zu leistenden Einsichten zusammenhängen: 1. Was bedeutet diese Dualität des Bewußt-seins, insofern dieses sowohl Aktualität seiner Erfahrung, als auch Person seiner Welt ist? 2. Worin gründet die Artikulation dieser beiden Modalitäten des Bewußt-seins, das
1
Etudes psychiatriques (3 Bde.) Paris, Desclée de Brouwer: Bd. I: Geschichte, Methodologie, allgemeine Psychopathologie, 1. Aufl. 1948, 196 S.; 2. durdiges. u. verm. Aufl. 1952. Studie 1: Verrücktheit und menschliche Werte; 2: Zur Dynamik der Medizingeschichte; 3: Die mechanistische Entwicklung der Psychiatrie; 4: Die Psychiatrie im Rahmen der medizinischen Wissenschaften; 5: Eine mechanistische Theorie: G. de Clérambault; 6: Eine psychogenetisdie Konzeption: Freud; 7: Prinzipien einer organo-dynamistisdien Konzeption; 8: Der Traum, „Ur-Faktum" der Psychopathologie. Bd. II: Semiotik, 1. Aufl. 1950, 547 S.; 2. unveränd. Aufl. 1957, 547 S. Studie 9: Störungen des Gedächtnisses; 10: Katatonie; 11: Dranghandlungen; 12: Exhibitionismus; 13: Perversionen; 14: Der pathologische Suizid; 15: Die pathologische Angst; 16: Nihilistischer Wahn; 17: Hypochondrie; 18: Die pathologische Eifersucht; 19: Größenwahn. HENRI E Y ,
Bd. III: Struktur der akuten Psychosen und Destruktion des Bewußtseinsfeldes, 1. Aufl. 1954, 787 S.; 2. unveränd. Aufl. 1960. Studie 20: Die Klassifikation psychischer Krankheiten und die Frage der akuten Psychosen; 21: Manie; 22: Melancholie; 23: Akute Wahnkrankheiten; 24: Oneiroid-wahnhafte Psychosen; 25: Periodische manisch-depressive Psychosen; 26: Epilepsie; 27: Struktur und Destruktion des Bewußtseinsfeldes.
4
Vorwort
(1/2)
doch zugleich ein Bewußt-werden ist? Das kleine Buch sucht diese Doppelfrage zu beantworten und in jene Sphäre zwischen Ich-Transzendenz und Gehirn einzudringen, welche es dem Subjekt erlaubt, aus seiner Körperlichkeit emportauchend in seine Geschichdichkeit zu „fallen" und in jedem Augenblick ein Feld erlebter Aktualität zu konstituieren. Eine dritte, nicht minder dringliche Frage meint die Beziehungen des Bewußtseins zum Unbewußten, wie sie sich als psychologischer Sachverhalt darstellen. Wenn das Erscheinen des Unbewußten in der menschlichen Existenz tatsächlich die Domäne der Psychiatrie ist, so hat der Psychiater allen Anlaß, etwas über jene Ordnung zu sagen, aus welcher er eine Entordnung herleitet, die er zu kennen und zu heilen berufen ist. Die Antwort auf diese letzte Frage muß also auch zur Klärung der beiden vorangehenden beitragen. In der Tat scheint das Bewußtsein dynamisch wie strukturell aus seiner unbewußten Kehrseite eine Art Bestätigung zu ziehen. Damit ist die Dialektik dieses kleinen Werkes angedeutet, welches man von vornherein bei den Philosophen entschuldigen müßte, da es zu psychiatrisch, bei den Psychiatern, da es zu philosophisch ist, schlösse nicht gerade sein Gegenstand, das Bewußtsein, sowohl ontologisch wie funktionellpsychopathologisch zugleich mit dem Sinn der Vernunft den Gegensinn der Verrücktheit in sich. HENRI E Y
ERSTER T E I L
Bewußt-sein
KAPITEL I
Das Problem der Definition des Bewußtseins Bewußt sein, das heißt die Partikularität der eigenen Erfahrung leben und sie zugleich ins Allgemeine des eigenen Wissens einordnen. Das Bewußtsein kann nur als ein kompliziertes Gefüge beschrieben werden, als Struktur eines Lebens, dessen Subjekt immer schon auf die Anderen und auf seine Welt bezogen ist. Immanenz und Transzendenz, Unmittelbarkeit und Reflexivität sind die Antinomien, unter welchen Bewußtsein sich konstituiert. In dieser Verflechtung von Erfahrung und Urteil (HUSSERL) liegt die Realität des Bewußtseins. Die Definition des Bewußtseins stellt sofort vor die Frage nach seiner Realität, oder allgemeiner: nach Realität schlechthin. Jeder Definitionsversuch oszilliert zwischen zwei Möglichkeiten: Man schreibt dem Bewußtsein ein sachhaltiges Sein zu, das es nicht ist - oder nimmt es als ein Nichts, das es noch weniger ist. Wir werden in diesem Buch oft den Ausdruck „Bewußt-sein" wählen, wenn „das Bewußtsein" bezeichnet werden soll. Diese Formel scheint den Doppelsinn des Wortes „Bewußtsein" genauer zu treffen, insofern „Bewußtsein" einen praedikativen Modus des existierenden Subjekts (bewußt sein) meinen kann, aber auch eine objektiv bestimmbare substantivische Kategorie I des Existierenden (bewußt Seiendes). Was im Deutschen mit den Begriffen Bewußtsein und bewußtes Wesen unterschieden wird, läßt sich in seiner Artikulation besser im Ausdruck „être conscient" als im Substantiv „la conscience" fassen. Es wird dabei deutlicher, daß „das Bewußtsein" keine einfache „Funktion" seelischen Seins, sondern dessen Struktur selbst ist, insofern es sich ineins als Subjekt- und Objekt-sein konstituiert. Als eigener Modus des In-der-Welt-seins kann Bewußt-sein nur sein, indem es weder reines Subjekt noch einfaches Objekt ist. Der Doppelsinn seiner Konstitution (Inkludenz seiner Struktur, Offenheit für seine Welt), seines Status (Für-sich-sein, Sein-für-den-Anderen) und seiner Fragwürdigkeit (sein, scheinen und werden) macht aus dem Bewußt-sein ein Sein, das sich zu sich verhält, indem es die Frage nach seinem Sein stellt, wie J.-P. Sartre
8
Das Problem der Definition des Bewußtseins
(4/5)
dies formuliert. Es mag daraus verständlich werden, daß man das Bewußtsein oft leugnet, um seiner Definition zu entgehen1.
§ 1. Die Negation des „Bewußtseins" Eine erste Weise, Bewußtsein zu leugnen, nimmt es als ausschließlich subjektives Phänomen, folglich als ungeeignet, Gegenstand des Wissens zu werden. Eine zweite Art der Verleugnung macht aus ihm ein „Epiphänomen", einen zufälligen Reflex oder eine Abstraktion, wie man sie auch den elektronischen Schildkröten G R E Y W A L T H E R S zutraut. | Eine dritte Form der Negation reduziert Bewußtsein auf eine „einfache"2 Eigenschaft oder die Funktion der sogenannten Vigilanz. Eine vierte Form der Verneinung des Bewußtseins überdehnt es derart „inflationistisch", daß es sich in der Allgemeinheit oder feierlichen Würde des höheren Seelenlebens (des reflexiven oder schöpferischen Denkens) verliert, sei es nun, daß man Bewußtsein als Ich oder Persönlichkeit definiere, sei es, daß man es mit der Praxis und Ethik des Wollens (oder dem Gewissen) verwechsele oder endlich im Geflecht existentieller Relationen (im Dasein) untergehen lasse. Wie immer man nun Bewußtsein bestimme, ob als alles oder als nichts, das Ergebnis bleibt das gleiche: jeder Versuch, es zu fassen, scheint vergeblich und mündet ins Ungreifbare. In diesen defizitären oder inflationären Verneinungen wird stets die Strukturierung des Bewußt-seins selbst vernachlässigt und mit ihr die Realität des Bewußtseins. Die „Entdeckung" dieser Struktur ist Aufgabe dieses Werks. Die Frage richtet sich jetzt auf „Aspekte", „Phänomene", auf „Modi" seelischen Seins, an welchen jedermann (selbst der Verneiner des Bewußtseins) die Qualität des Bewußt-seins wiedererkennt; zugleich gilt es zu klären, daß sich ein Sinn dieser „Funktionen" und „Qualitäten", dieser „Zustände" oder „Gegebenheiten" nur in bezug auf eine Architektonik bewußten seelischen Seins herstellt, insofern sich dieses mehr oder minder gegen ein Unbewußtes entwirft. 1
2
So versäumt audi L A L A N D E in seinem Dictionaire nicht, den von vielen Autoren wiederholten Satz von Hamilton zu zitieren: „Consiciousness cannot be defined...". Am beharrlichsten sind in dieser Hinsicht die Behavioristen. Kürzlich zeigte H. T H O M A E in einer Arbeit über das Bewußtseinsproblem in der modernen Psychologie, daß der Begriff seit 1953 im Register des Annual review of Psychology nicht mehr auftauchte, ebensowenig im Werk von G. B L U M : Model of the Mind, 1961. P. C H A U C H A R D , S. 106: „Die Funktion des Bewußtseins ist ein einfacher, aber limitierter Prozeß ..
(5/7)
Die Realität des Bewußtseins
§ 2. Die Realität des
9
Bewußtseins
Niemand kann Bewußtsein (das eigene oder dasjenige Anderer) fassen, ohne sich auf ein Erleben zu beziehen und das heißt: Erfahrung, welche für das Subjekt, das sie lebt, unabweisbar ist. Diese | Subjektivität ist aber keine einfache und ablösbare Eigenschaft des Bewußtseins. Zweifellos ist dieses eine Leistung des Subjekts, aber stets - wie seit B R E N T A N O 3 wiederholt betont - als Bewußtsein von etwas, d. h. unauflösbar verknüpft mit den Gesetzen einer Objektivität, welche vom Bewußtsein konstituiert werden. Gleichwohl bildet die Meinung, daß nur die „objektiven" Erscheinungen existent oder wissenschaftswürdig seien, die Quelle eines steten Mißtrauens gegenüber dem Begriff eines auf seine Welt bezogenen Subjekts. Aber es geht nicht allein darum, den Begriff der Objektivität selbst zu revidieren und das Bewußtsein wieder in ihm aufzuheben: man muß vielmehr Bewußtsein als phänomenale Wirklichkeit fassen, welche nicht nur subjektiv sein kann, insofern in ihr die Konvergenz von esse und percipi für den Blick und das Wissen der Kundigen zugänglich wird. Gerade diesen zwiefachen Weg überwindet die HussERLsche Phänomenologie in ihrem Hin und Her zwischen idealistischen und realistischen Positionen4, das für sie zwingend der Struktur der Wirklichkeit selbst entspricht. Ohne Zweifel gründete auch die Gestaltpsychologie in der Einsicht, daß sich Subjekt und Objekt selbst im Aufbau solcher „Formen" konstituieren, trennen oder finden, welche das Subjekt mit seiner Welt verknüpfen; und zwar in und durch das Erscheinen eines Sinnes, der in seinem Zusammenhang Existenz und Gegenständlichkeit vermittelt. Niemand indessen ergriff klarer als H U S S E R L im Zueinander der Positionen und Sichtweisen des Seienden den Ursprung und die „Konstitution" erlebter Wirklichkeit als solcher. Seither ist der Zweifel an der Unterscheiduung eines realitätsfernen Subjekts und einer Gegenstandswelt, die man einer „Hypothese der Objektkonstanz" unterwarf, nicht mehr verstummt. Bewußtsein läßt sich von der objektiven Welt nicht trennen; es ist in diese Welt aufgenommen, wie es selbst sie nimmt. Der phänomenologischen Einstellung ist nichts fremder als die radikale „Subjektivität" des Bewußtseins. | Bewußtsein hat durchaus Objektivitätscharakter. Diese bilaterale, subjektiv-objektive Wirklichkeit, dies ursprüngliche Doppelgesicht macht die ontologische Struktur der Bewußtseinsphänomene aus: weder völlig objektiv noch ausschließlich subjektiv zu sein. Gerade dieser Realität entspricht - wie ein Scharnier der Realität im ganzen - die Realität des Bewußtseins. Die konstitutiven Phänomene des Bewußtseins zeigen sich in ihren transitiven Verweisungen, in ihrem Entstehen, Erscheinen und Vergehen, 3 P. LERSCH schreibt den ersten Gebrauch dieser Formulierung H. DRIESCH ZU. Vgl. ROMAN INGARDEN in: Husserl et la pensée moderne, 1959, S. 190-214.
4
10
Das Problem der Definition des Bewußtseins
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ihren Bezogenheiten und Implikationen wesenhaft als „intentionale" oder signifikative Zusammenhänge, als „primordiale Gegebenheiten" (HUSSERL), welche die Erlebnisse in ihrer Seinsordnung konstituieren und insofern als Strukturen des „reinen Bewußtseins" gelten können. Vor jeder konkreten Beschreibung ist daher festzustellen, daß uns dieser Aspekt der Phänomene (als erlebte psychische Realität) ihre Vielfalt nicht mehr als Vermögen oder Funktionen erscheinen läßt, sondern als Strukturen. In diesem Sinne spricht man durchaus geläufig von der Struktur der Wahrnehmung, der Person, des Gedächtnisses, des Verhaltens, der Intelligenz usw. Ein derartiges „Modell" psychologischer Gegenständlichkeiten ist dann auf solche Seinsweisen bezogen, welche (als operationale oder intentionale Systeme, als Gruppierungen in Gestaltqualitäten) unsere Organisation bilden und welchen wir den Charakter bewußten oder unbewußten Seins verdanken, je nachdem, ob sie in die erlebte und kommunikable Erfahrung des weltoffenen Subjekts treten oder außerhalb ihrer verbleiben. Der Strukturbegriff scheint in besonderer Weise geeignet, diese Seite der seelischen Realität zu fassen. Durch ihn gelangen wir zur vollen Einsicht in jene Seinsform, welche die dynamische Ordnung des Seelischen konstituiert. Wir leiten den Begriff der Struktur weder aus mechanischen noch aus kybernetischen Modellen | her5. Spricht man von psychischer Struktur, so gilt es, nach Art der Intuition BERGSONS Ordnungsformen und dynamische Schemata eines Raumes in der Dauer ins Auge zu fassen; denn diese dynamischen Strukturen sind «comme la mélodie, elles ne sont rien, qu'une certaine manière de durer», wie M E R L E A U - P O N T Y 6 kürzlich schrieb. Der Strukturbegriff, wie ihn K R U E G E R und D I L T H E Y , aber auch W. JAMES und BERGSON explizierten, wurde seit den Arbeiten der Würzburger und Grazer Schule zu einer Art Leitmotiv der neueren Psychologie. Im Ideenfeld einer reinen konstituierenden Intentionalität (EHRENFELS, MEINONG, HUSSERL) und einer perzeptiven Gestaltbildung ( W E R T HEIMER) entwickelt, meint er wesentlich eine innere und aktive Gestaltung, eine autochtone Ordnung. In der Tat stellen sich uns die psychischen Phänomene so dar: einerseits im Zusammenhang einer allgemeinen Struktur des Seienden, andererseits in einer je partikulären phänomenalen Ordnung. Bei jedem Schritt dieser Untersuchung wird zu erinnern sein, daß die Realität psychischer Strukturen einer Ordnung gelebter Zeitlichkeit zugehört, zugleich auch einer räumlichen Ordnung, die in die Aktualität des Erlebens eingeschlossen ist. Gelebter Sinn, Räumlichkeit und Zeitlichkeit konkretisieren sich darüber hinaus in der Seinsfunktion des Triebes und in deren Beziehungen zu Welterfahrung und Weltkonstitution. Zeigen sich S Vgl. die ersten Untersuchungen von R. RUYER (1932) und diejenigen von LATIL
(1953). S. auch die neuere Studie von RUYER (Rev. philos. 1962), die Arbeit von E. DELAVENEY (ibid.) und einen sehr interessanten Aufsatz von BUYTENDIJK u. CHRISTIAN (Nervenarzt 1963, S. 97-105), vgl. auch weiter unten S. 119. « In: Signes, 1960.
(8/10)
11
Modalitäten des Bewußt-seins
uns die psychischen Strukturen hierarchisch geordnet - was zugleich eine Ordnung steigender innerer Freiheitsgrade bedeutet - , so wird verständlich, daß manche Autoren bei der Wahl der Begriffe „Strukturen" oder „Formen" etwas willkürlich zum einen oder zum anderen Wort greifen und „Struktur" oder „Form" (Gestalt) | in Bedeutungen nehmen, welche eine mehr oder minder große Determination oder Stabilität der psychischen Struktur nahelegen7. Nach M E R L E A U - P O N T Y kann Struktur nur als „Organisation" begriffen werden, und zwar nur in ihrem «enracinement corporel», ihrem «être de latence». Vielleicht geben diese vorläufigen Überlegungen einen Hinweis auf die Existenz realer Strukturen des seelischen Seins. Jede dieser Strukturen bestimmt sich nicht allein aus dem Ganzen ihrer Organisation, sondern zugleich genetisch, dynamisch und final, d. h. aus dem, was sie war und was sie sein soll - wobei diese Strukturganzheit hierarchisch gegliederte Seinsniveaus einschließt, welche ihre zeitliche Ordnung und ihre inneren Verweisungen konstituieren. Unter dieser Perspektive ist jetzt zu fragen, wie die Strukturen beschaffen sind, über welche Einverständnis zu herrschen scheint, wenn von Bewußtsein die Rede ist.
§ 3. Modalitäten
des
Bewußt-seins
Wenden wir uns nun in erster Näherung auf dem Wege begrifflicher Analyse zu den „Intuitionen" oder „Fakten", wie sie sich der von H U S S E R L so genannten „natürlichen oder naiven Einstellung" erschließen.
A. Vom biologischen zum humanen
Bewußtsein
Es bedarf bestimmter Qualitäten oder Funktionen, will man Lebewesen eine gewisse Form oder einen gewissen Grad von Bewußtein zusprechen. Offenbar ist unbelebt Seiendem „natürlicherweise" Bewußt-sein versagt. I Bewußtsein ist in seinem ersten Erscheinen gewiß an Vitalität gebunden. Bewußtsein sei dem Leben koextensiv, sagte B E R G S O N . Im Bereich des Lebendigen scheint das Vegetative, insofern es beziehungslos lebt, vom Bewußtsein ausgeschlossen. So sehr dies auch zutrifft, ist dem Vegetativen doch eine gewisse Sensibilität eigen, und zwar korrela7
A. HESNARD (Evol. Psychiat. 1959, S. 353), wenn er Form als strukturierend, weniger als strukturiert versteht, und D. LAGACHE (Evolut. Psychiat. 1960, S. 491), welchem dieser Begriff «moins liée» scheint, lehnen die Idee einer Struktur des Bewußtseins überhaupt ab. Aber Organisation muß ineins strukturiert und strukturierend gedacht werden, gebunden in ihrer Konstitution, entbunden in ihre Aktivität.
12
Das Problem der Definition des Bewußtseins
(10/11)
tiv zu seinem spezifischen Drang zum Wachstum, zur Reduplikation und zur Vermehrung - eine enigmatisdie Sensibilität, die sich nicht mitteilen kann. Tiere verfügen über ein größeres Maß an Sensibilität, wie in ihren Bewegungen für uns spürbar wird. Soweit sie auf Reize mit „Reaktionen" antworten oder sich nicht allein unter dem Drude von Tropismen oder Instinkten bewegen, sondern ihr Verhalten je nach den Objekten ihrer Bedürfnisse variieren, Hindemisse bewältigen und Gefahren ausweichen, soweit also selbst in den niedrigsten Arten diese Möglichkeit der SelbstBestimmung, der Wahl oder - nach der Terminologie heutiger objektiver Ethologie - der Motivation auftaucht, kann ihnen Bewußtsein nur abgesprochen werden, wenn die unsinnige Forderung gestellt wird, diese Verhaltensweisen seien „maschinelle". Ebenso widersinnig ist es auf der anderen Seite, Automaten oder kybernetischen Maschinen „Bewußtsein" zuzuschreiben. Die Annahme eines animalischen oder neurobiologischen Bewußtseins? der niederen Tierarten setzt ein gewisses Maß an Reagibilität I und Gedächtnis voraus, sowie eine Organisation mit einer gewissen 8
Es gibt zahllose Untersuchungen von Biologen, Psychologen, Ethologen usw. zu dieser grundsätzlichen Frage. Die Behauptung einer Kontinuität zwischen animalischem und menschlichem Bewußtsein wird häufig mt der Intelligenz tierischer Verhaltensweisen und der Indeterminiertheit bio-neurophysiologischer Prozesse begründet, umgekehrt auch mit dem Determinismus oder kynergetischen Probabilismus menschlichen Verhaltens und der es steuernden Informationen. Zwei kürzlich erschienene Werke, welche diese These in beiden angedeuteten Hinsichten entwickeln, sind zu erwähnen: H. P I É R O N , De l'actinie à l'homme, 2 Bde. Presses Universitaires de France, Paris 1958 u. 1959; U. E B B E C K E , Physiologie des Bewußtseins in entwicklungsgeschichtlicher Betrachtung, Stuttgart 1959. | Für H. P I É R O N ist Bewußtsein bei Tieren insofern gegeben, als sich bei ihnen - wiewohl rudimentär und der jeweiligen Entwicklung ihres Nervensystems gemäß - Symbolaktivität und konditioniertes Verhalten finden. Sein Werk belegt diese These mit zahlreichen Beispielen, beginnend mit der adaptativen und rhythmischen Antizipation der Aktinien bis zur Intelligenz der Primaten von Yale, über die Orientierungsleistungen der Ameisen, das Gedächtnis der Mollusken, das Wiedererkennen und die Orientierung der Bienen bis zur Autonomie der Krebse usw. - Verhaltensweisen, welche in der Tat zeigen, daß die tierische Organisation vom psychisch-menschlichen Organismus nicht radikal geschieden ist; es gibt hier keine Kluft, die zu „überspringen" notwendig sein würde (vgl. die entsprechende Diskussion im ersten Kapitel des vierten Teils des genannten Werkes). E B B E C K E findet das Phylum menschlichen Bewußtseins in der funktionellen Bepräsentation auf der Ebene der einfachsten Lebewesen, deren dynamischer Strukturierung und autonomer Organisation (E. exemplifiziert an Einzellern, Coelanteen und Insekten). Er rückt die Neurophysiologie der Neuronen und ihr systematisches Kontinuum (Assoziate, Konzentrate, Aktivate) unter die Modellvorstellung einer Bewußtseinsstruktur, die lediglich durch zunehmende Komplexität konstituiert wird. Die Diskontinuitätsthese wird nach kartesianischem Muster von der Mehrzahl der „spiritualistisdien" Autoren vertreten, welche das menschlich Seiende als
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Modalitäten des Bewußt-seins
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Indeterminiertheit, einer gewissen Freiheit gegenüber dem eigenen Sein. Denn nur wenn das Insekt seinem „Instinkt" oder seinem „Vorbewußten" nicht mathematisch folgt, wenn es aus der Kontingenz seiner Wahrnehmungen, seines Gedächtnisses, seiner aktuellen oder individuellen Dispositionen freigestellt ist, halten wir es für bewußt. | Gerade die moderne, ganz „objektiv" eingestellte Ethologie lehrt bei vielen Arten solche „natürlicherweise" gegebenen mobilen Strukturen erkennen - Bewußtsein auf der ersten Stufe der Indétermination und Individuation, vielleicht schon mit dem ersten „imprinting" einsetzend. Höheren Tieren, deren Leben durch ein zentrales Nervensystem auf dieselbe Weise geregelt wird, wie das unsere, gestehen wir eher „Bewußtsein" zu; wir machen sie in dem Maße zu Partnern unseres eigenen Bewußtseins, wie sie „sich selbst" als uns ähnlich darstellen, wie zwischen ihnen und uns Kommunikationen entstehen, welche uns für uns selbst ähnlicher machen, indem wir uns in ihnen „verstehen". Unsere Möglichkeit, über sie zu sprechen, wie wenn wir zu ihnen sprechen könnten ( B U Y T E N D I J K ) , und ihnen ein Bewußtsein nach Analogie des unsrigen zu verleihen, beruht auf dieser „Identifikation". Wir projizieren in ihr „Lernen", in die Entwicklung ihrer perzeptiven und mnestischen Schemata, in ihre „bedingten Reflexe", ihre Emotionen und Motivationen, in diese affektiven und kognitiven Rudimente seelischen Lebens unsere eigenen Bewußtseinszustände. Aufs ganze gesehen fehlt ihnen nur das Wort. Offensichtlich ist Sprache eine unabdingbare Gegebenheit der Realität unseres Bewußtseins, und dies sowohl in ihrer entdeckenden als auch in ihrer verdeckenden Funktion. Durch sie erfährt der Mensch den anderen Menschen und sich selbst gegenüber diesem Anderen, wobei in dieser Erkenntnis meiner selbst und des Anderen eine Unbekannte bleibt, ein Geheimnis, das wie ein Schatten ist, welchen das Bewußtsein auf sich selbst supra- oder selbst extra-animalisches Sein ansprechen. Die Relativität dieser Auffassung wird oft sehr deutlich, wie z. B. im Buch von P. CHAUCHARD (Les mécanismes cérébraux de la prise de consciense, S. 118-131); für ihn geht das Erscheinen der Sprache auf eine Mutation im Verlauf der „Komplexifizierung" der Lebewesen zurück. Seit den geduldigen Beobachtungen von HENRI FABRE gewöhnten uns die objektivistischen Ethologen (LORENZ, TINBERGEN usw.) an ihre Ethogramme, welche - durch alle ihre Verhaltensniveaus hindurch - Insekten (Ameisen, Bienen, Termiten), Fische (Stichling) oder Vögel (Gänse) durch eine „Motivation" beseelt zeigen, welche gewissermaßen nach einem „Realitätssystem" funktioniert, insofern sie auf „Auslöser" eingestellt ist. So zeigt sich bereits auf der Ebene des animalischen Bewußtseins eine Bewußtseinstruktur, welche Gesetz und Wahl enthält. Vielleicht läßt sie sich noch im Erkundungs- und Freßverhalten sowie in den pathisdi-instinktiven Vollzügen aufweisen (vgl. hierzu VIAUD, CHAUVIN, LECOMTE U. a. und mein seit mehreren Jahren vorbereitetes Werk „La psychiatrie animale"). [Inzwischen (1964) erschienen im Verlag Desclée de Brouwer, Paris, A. d. H.]
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wirft. Anders ausgedrückt: die Sprache gibt dem Bewußtsein die Möglichkeit, sidi in der Beziehung zum Anderen zu öffnen oder sich in sich zu verschließen. Wenngleich das sprechende Sein in dieser Hinsicht die echteste Weise des Bewußtseins ist, I so steht das Sein des Bewußtseins doch quer zu dieser Dialektik des Expressiven, diesseits und wie vor jeder Verbalisierung, in welcher allein menschliches Bewußtsein kulminiert. Mit diesem ersten Blick auf die Phylogenese des Bewußtseins und seine Schwierigkeiten wird klar, daß sich die Organisation des Subjekts nicht in einem subjektiven Modell fassen läßt, sondern in einem Weltentwurf, welcher - wie die durch unser Cogito nicht in Frage zu stellende Realität selbst - die „Objekte" der Erfahrung als Konstituentien der inneren und äußeren Welt einbezieht. Ist einmal gesichert, daß uns Bewußtsein als Realität der Organisation des seelischen Seins selbst zugänglich wird, insofern es die Autonomie seiner lebendigen Beziehungen konstituiert, so ist nun nach der „Singularität" dieser Ordnung zu fragen, wenn Bewußtsein nicht zum „Leben" aller Lebewesen und zum ganzen „Seelenleben" eines bestimmten Individuums überdehnt werden soll. Um zu einer bestimmten Vorstellung über das Wesentliche der Struktur des Bewußt-seins zu gelangen, bedarf es der Suche nach Kriterien, welche bewußte von unbewußten Strukturen unterscheiden.
B. Charakteristische Aspekte des Bewußt-seins Alle Psychologen hielten sich bei ihrer Suche nach Charakteristika des Bewußten oder bei deren Ablehnung an partikuläre psychische Phänomene. Es gibt keine Handlungen oder seelischen Vollzüge, welche nicht schon einmal mit einem „Bewußtseinskoeffizienten" versehen worden sind. Daß ich in meinem Garten spaziere, daß ich bedenke, was ich morgen tun werde, daß ich eine Begebenheit erinnere, daß ich mich auf die nächste vorbereite, daß ich rechne, meditiere, mich konzentriere, daß ich mich über eine gute Nachricht freue oder beunruhige, alle meine Gedanken, Pläne, die Sorgen und Vorsorgen meines Daseiens, meine Handlungen | und Gefühle, alles das kann in eine schlüssige Beziehung zu meinem Bewußtsein gesetzt werden, sofern es in die Erfahrung als solche eingeht. Auf diese Weise wird das Unbewußte einsichtiger, welches sonst bei vielen Psychologen Bewußtsein und „Psychismen", Bewußtsein und Ich aufsaugte, ohne daß man bemerkte, wie jede Analyse dieses „Bewußten" auch Unbewußtes umfaßt, weil kein Bewußtseins-Phänomen ohne Einbettung in ein Unbewußtes gedacht werden kann, aus welchem es sich löst, sobald wir es fassen. Will man also die Modalitäten des Bewußt-seins bestimmen, so ist es entscheidend, sie mit dem Nicht-Phänomenalen zu vergleichen.
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Bewußt-sein stellt sich unter diesen charakteristischen „phänomenalen" Aspekten bald als ein Sein dar, das durch aktuelle Erlebnisse affiziert wird, bald als eine der Realität sich anpassende Struktur, bald als schöpferische Reflexion, bald als personales System, bald endlich als freie Selbstbestimmung im Wissen um die eigenen Ziele. Affektivität, Realitätserfahrung, Reflexion, Personalität und Volitives sind in der Tat fünf Attribute, in welchen die Bedeutungen konvergieren, die der Analyse des Bewußt-seins zugänglich werden, soweit dieses sich als „bewußtes Ergreifen" des Ich und der Welt zeigt. a) Bewußtsein und Affektivität Im Hinblick auf die unterschiedlichen Weisen seiner Angehbarkeit und allgemeiner: seiner Affektivität ist Bewußt-sein das Subjekt einer affizierenden Sensibilität der Erfahrung; sie entspringt zum Teil dem Unbewußten und zeigt sich nie allein als pure Sinnlichkeit. Die affektiven Modi der Lust und Unlust werden nur als „Komplexqualitäten" erlebt; stets mischen oder verbinden sich die Nuancen der Grundaffekte, | die zugleich und stets appetitiven und konativen Tendenzen (Strebungen, Triebfedern, Bedürfnissen) entsprechen. Wie auch immer Gefühl und Gestimmtheit sich ins Unendliche verzweigen mögen, stets erscheinen sie als emotionaler „Ausdruck" einer basalen „endothymen" Einbettung, welche nach KLAGES, P A L A G Y I , L E R S C H U. a. eine gelebte Gegebenheit par excellence darstellt, den unabdingbaren Vitalgrund jeden Erlebens. Freuden oder Leiden entspringen demselben opaken Grund unbewußter Strömungen. Diese Affekte enthüllen eine Tiefendimension, eine blinde Spontaneität, und zwar durch ihr Verwurzelung in einer Leiblichkeit, die dem Bewußtsein weitgehend entzogen ist. Die Tiefendimension der Gefühle wurde durch F R E U D ZU Tage gebracht. Gefühle sind niemals homogen, sondern komplex, d. h. ambivalent und stets teilweise unbewußt. Sie nehmen aber auch in diesen unbewußten Zügen an der gelebten Erfahrung teil; treten sie auch unmittelbar als Gegenpol in sie ein, so wirken sie dodi mittelbar und symbolisch. Jedes Erleben enthält dranghafte Einschläge und entzieht sich daher teilweise der Bestimmbarkeit. Man könnte auch sagen, daß Gefühle zwar das eigentlich Belebende des Erlebens ausmachen, in ihm aber weder insgesamt noch vollständig wirksam werden. So zeigt eine erste Übersicht dessen, was als affektives Phänomen erlebt wird, Schichtungen und Artikulationen, welche auf eine Organisation des Bewußt-seins zurückweisen, die wiederum die Affektivität bestimmt. Anders: das Affektive definiert zwar das Bewußtsein nicht, es setzt dieses vielmehr als Bedingung des Erlebens, als Sinngebung seiner Motivation und Intentionalität voraus. Wir berühren hier einen neuralgischen Punkt
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des Bewußtseins, aber dort, wo dieser Punkt kein Punkt mehr ist und das Phänomen sich in seiner strukturellen Komplexität zeigt. Zweifellos ist diese Modalität des Affiziert-seins eine Grundverfassung des Bewußtseins, ein pathisdier Modus (V. v. WEIZSÄCKER), [ eine sinnliche Erfahrung, die derart in das Bewußt-sein verwoben ist, daß keine Weise des Bewußtseins ohne Fühlen oder Sinnlichkeit möglich ist. CONDILLAC hatte dies gut verstanden, als er das Bewußtsein aus dem Duft einer Rose geboren vorstellte. In der Tat scheitert jede noch so berechtigte Kritik des Sensualismus und des Empirismus, wenn sie ihnen einen Rekurs auf psychologische Atome vorwirft, an dieser Grundverfassung jedes „Bewußtseinszustandes": Affektion eines sinnlichen Seins zu sein. In diesem Sinne läßt HUSSERL aus der eidetischen Struktur des Bewußtseins eine Sinngebung hervorgehen, der das Erlebte immanent ist9. Keine Analyse des reflexiven Denkens, welche dieser Basalstruktur einen Uberbau an Idealität hinzufügt, kann diese Sinngebung leugnen, die mehr oder minder unmittelbar stets Gabe der Sinne ist. Bewußt-sein heißt in der Tat - nenne man es nun so oder anders - Empfindungen haben, die den Leib oder ihn durchdringend seinen Träger angehen. Es heißt: Empfindungen geben oder sie empfangen, sie erinnern oder vorstellen, alles das in einem Betroffen-sein des Gemütes. Bewußt-sein bedeutet fühlen, dies nicht im Sinne eines Bewußtseins-Zustandes, sondern einer Bewußtseins-Struktur, welche quer zur aktuellen Erfahrung und der in ihr erlebten Mannigfaltigkeit der Erscheinungen steht. b) Bewußtsein und
Wirklichkeitserfahrung
In der Realitätsanpassung bildet Bewußt-sein eine komplexe operationale Fähigkeit aus, welche in der sinnlichen Erfahrung die Kategorien der gelebten Wirklichkeit entfaltet. Im allgemeinen sieht man die „Funktionen" des Gedächtnisses, der Wahrnehmung, der Aufmerksamkeit und der verbalen Kommunikation als Akte, welche Realität konstituieren und zugleich so fundamental sind, daß man aus jeder von ihnen das Wesen des Bewußtseins herleiten konnte. I Alle stehen mit jener Eigenschaft des Bewußt-seins in Beziehung: Realität zu setzen, d. h. mit seiner „thetischen" oder „noetischen" Erkenntnisfunktion. Es wird sofort zu zeigen sein, daß jede von ihnen eine unbewußte psychische Infrastruktur und eine Struktur aktuellen Erlebens umfaßt, die sich niemals auf einen einzigen „Bewußtseinsmechanismus" reduzieren läßt, weil sie stets ein „Etwas" enthält, das dieser nicht ist.
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„Man untersdiiebe nicht dem Wahrnehmen ein Zeichen- oder Bildbewußtsein." (Ideen I, § 43).
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a) Gedächtnis und Bewußtsein Das Gedächtnis entspricht ganz offensichtlich einer Forderung der Zeitlichkeit (mit seinen spezifischen „Eigenschaften" und „Funktionen": Merken, Spurenbildung, Retention, Speicherung und chronologische Ordnung der Erinnerungen, Erinnern, Wiedererkennen usw.). Gedächtnis stiftet eine zeitliche Ordnung, gewärtigt oder vergegenwärtigt das Gewesene oder Künftige, soweit dies für den Gang des aktuellen Erlebens erforderlich ist. In der Auswahl dessen, was in die Aktualität des thematischen Feldes eingehen soll, fungiert es wesentlich selektiv. Es handelt sich also um eine Bewußtseinsstruktur, die durch eine Vielfalt von Ebenen und Perspektiven charakterisiert wird, durch Schnitte, die in die Zeit gelegt werden, durch Techniken zur Bewältigung der momentanen Thematik oder des jeweiligen Querschnittes aktuellen Erlebens. Ebensogut ließe sich sagen, das Gedächtnis sei ein Bewußtseinsakt, welcher Unbewußtes impliziert und expliziert. Das Gedächtnis läßt nicht nur die Infrastrukturen des Erlebens in das Vergessene oder Unbewußte absinken; es schafft durch seine Aktivität auch eine Art Dualismus zwischen automatischen Reproduktionen und jener Anstrengung, welche den früheren, dem Vergessen oder der Gewohnheit anheimgefallenen Verkettungen die Möglichkeit der reinen Erinnerung entreißt. Diese beiden „Gedächtnisse", von BERGSON einander gegenübergestellt, machen die zwei Fundamentaldimensionen seelischen Seins noch deutlicher: in die gelebte Aktualität zieht das Gedächtnis diejenige Vergangenheit, welcher diese Aktualität bedarf - in das System der Persönlichkeit holt es die Geschichtlichkeit des Ich ein. | Das Gedächtnis wird unter beiden, zu häufig verwechselten Aspekten wirksam: unbewußt und potentiell als momentane Auslese des Erlebens oder als Verdrängung eine „Inhaltes" durch Ich-Kräfte.
ß) Wahrnehmung und Bewußtsein Derselben geschichtet-konfliktuosen Struktur, welche Bewußtes mit Unbewußtem vermittelt, begegnen wir bei der Wahrnehmung. Die Problematik von Schein und Sein, Objektivem und Subjektivem, Realem und Imaginärem wird hinreichend deutlich in der Schwierigkeit, dasjenige zu fassen, was sich als „Sache" in der Wirklichkeit meiner Erfahrung zeigt. Die geläufigen Wahrnehmungstheorien (Materie und Akt bei ARISTOTELES, das Widersprüchliche der psycho-physischen Bedingungen intuitiver, sensorischer und noetischer „Faktoren" bei BERGSON, den Gestaltpsychologen oder HUSSERL) laufen stets auf einen Doppelsinn der Wahrnehmungsstruktur hinaus, in welchem sich die Artikulation von Leib und Geist, von naturaler und subjektiver Welt, von empirischer Erfahrung und Idealität
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des Verstandes widerspiegelt10. Wahrnehmen heißt - man hat es tausendmal gesagt - jene existentiellen Vollzüge nachzeichnen, die den Gegenstand (wählend, wünschend, projizierend, belassend, erwartend, nennend, beurteilend und kontemplativ) umspielen. Alles das ist wiederum nur denkbar in seiner Beziehung zu den „Gegebenheiten" unserer Sinne. Wenn aber Wahrnehmen ein Akt ist, der sich nicht nur auf äußere Perzeption beschränkt, so können auch Vorstellungen (als Reflexe, | Vorwegnahmen oder Ersatz äußerer Sinnesdaten) zu Objekten der Wahrnehmung werden, ja sie hören niemals auf, solche zu sein. Wenn Perzeption „Exzeption" ist (Erfassen sei ein Herausfassen, sagte H U S S E R L ) , so umfaßt sie audi die Welt subjektiver Erfahrung, der Vergegenwärtigung und Intuition, die in jedem Augenblick eine Sinn-Konfiguration herstellt, zu welcher sich die Wahrnehmung äußerer Dinge wie ein besonderer, quasi-theoretischer Fall verhält. Das Wahrnehmungsfeld ist immer zugleich ein inneres und äußeres. Die Problematik der Wahrnehmung, wie sie sich in ihrer Vieldeutigkeit, in Illusion, affektiver Projektion, faktischer und intendierter Situation des perzeptiven Feldes, in der Interferenz des Realen und Imaginären usw. zeigt und durch keinen perzeptiven Vollzug völlig aufgelöst werden kann, führt wieder auf eine unbewußte Infrastruktur. Alle gesehene oder sonstwie gegebene Gegenständlichkeit wird erst vor einem Hintergrund (einer „υλη") von Erinnerungen, Tendenzen und Phantasien greifbar, welche als Vorgestalten der Wahrnehmungsstrukturen fungieren. Wahrnehmung, weder ausschließlich extern noch ausschließlich bewußt strukturiert, sondern ordnende Verteilerin der Realitätskoeffizienten und der Identiät der Gegenstände, die das Erleben bilden, ist also kein einfaches Phänomen, selbst dann nicht, wenn sie durch einen Rückgriff auf ein abgelöstes Empfinden als Herausfassen der Sache aus ihren hyletischen Einbettungen beschrieben wird, wie dies noch H U S S E R L tat. „Kohärenz" der Wahrnehmung (bevorzugtes Forschungsthema gestalttheoretischer Untersuchungen) bedeutet stets eine umfassende intentionale Struktur, wie es in bewundernswerter Weise M E R L E A U - P O N T Y zeigte: eine „thetisdie" Differenzierung der Realitätswerte und existentiellen Ordnungen (objektiver Raum, Leib, subjektive Repräsentation), zugleich eine Orientierung, in welcher die Koordinaten objektiver Zeitlichkeit und Räumlichkeit das Wahrnehmungsfeld zusammenschließen oder aufgliedern. | Der Wahrnehmungsakt konstituiert sich in einem phänomenalen Feld, in einer „Struktur", die auf die Matrix-Struktur des Bewußtseins zurückbezogen ist, d. h. auf eine Architektur des Erlebten, insofern jedes aktuelle Erleben Struktur voraussetzt. 10 An diesem Doppelsinn stößt sich ζ. B. die Informationstheorie (ALTNEAVE, MAKE, KLEMMER U. FREIK U. a.}, wenn sie sich um die Wahrnehmung bemüht; diese ist allerdings nicht auf Zufallswahrsdieinlidikeiten zu reduzieren.
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Bei der Darlegung seiner „Reduktion" zeigt HUSSERL (§ 36 bis § 44, Ideen I) das „reine Erkennen" als einen vom Leib und den Organen des Leibes ablösbaren Vollzug. Die primären Qualitäten, die Sinnes-„Daten" haben eine figurale Funktion, die nur in phänomenologischer Einstellung geklärt wird, wogegen die Erscheinungsweisen des konkret Erlebten nie vollständig wahrgenommen werden. Das Erlebte als solches ist demnach ablösbar von jeder konkreten Erfahrung, sei diese nun erfaßt oder nicht. Bewußtsein schließt also Wahrnehmung ein und läßt sich nicht auf sie reduzieren. Man könnte auch sagen, daß die Phänomenologie der Wahrnehmung eine Art Infrastruktur, eine Konkretisierung des Bewußtseins zum Aufweis bringt, welche tiefer liegt als sie selbst. Auf dieser Ebene stellt sich innerhalb der Bewußtseinsstruktur eine Sphäre leiblicher Erfahrung her, ein Ort, wo sich die Fäden des Bewußtseins zu einer Art Urempfindung verknoten 11 . So zeigt uns Wahrnehmung eine der Grundeigenschaften des Bewußtseins: sich Erlebtes zu geben, sich in ihm zu fassen, Erlebtes im Status der Gegenständlichkeit zu vergegenwärtigen. Wir sehen, daß die Struktur des Bewußtseins zwar nicht mit der Wahrnehmung zusammenfällt, daß diese aber - ähnlich wie Affektivität und Gedächtnis - auf eine bevorzugte Weise in sie eingeht. | γ) Aufmerksamkeit und Bewußtsein Die Aufmerksamkeit gilt seit MAINE DE BIRAN, W . JAMES, BERGSON, U. a. als Kraft, aus welcher sich psychische Dynamik und Energie bestimmen lassen. I m Aufmerken, im Interesse, in der Konzentration, der gerichteten Orientierung, Motivation usw. drückt sich jene vorsätzliche Anspannung auf ein erstrebtes Ziel hinaus, welche den „intentionalen Kern", den „Brennpunkt" eines „Bewußtseinszustandes" im stream, of consciousness von W . JAMES bildet. Dieser Zustand ist kein üblicher „Zustand", kein schlichter Bewußtseinsablauf, da das Feld des aktuellen Erlebens, wie wir sehen werden, weder eine passive „Gegebenheit" darstellt, die von der Welt der Gegenstände auf uns zukommt oder diese widerspiegelt, noch ein kontinuierliches inneres Fließen oder ein Energiequantum. Wir untersuchten kürzlich den Begriff der psychischen Spannung 12 in der Psychologie JANETS JANET
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a
Vgl. das bekannte Werk von MERLEAU-PONTY „La phénoménologie de la perception"»; von demselben Autor auch: Signes (1960), insbesondere die Passage über den Leib und die Wahrnehmung, S. 205-224. HENRI EY: Force et faiblesse des concepts génétiques et énergétiques de la psychopathologie de Pierre Janet, Bull, de psydiol. 14, 50 (1960). Dieses Werk erschien 1966 in einer von R. BOEHM besorgten deutschen Übersetzung unter dem Titel Phänomenologie der Wahrnehmung im de GruyterVerlag.
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und zeigten, daß die dort verwendeten energetischen Begriffe einer Ergänzung durch den Strukturbegriff bedürfen. Aufmerksamkeit konstituiert sich in der Tat nur in einem hierarchisch gegliederten thematischen Feld. Die Abfolge der thematischen Felder ist wesentlich diskontinuierlich; ihre Übergänge sind dem jeweiligen Erlebnis-Sinn untergeordnet, d. h. der Macht aktueller Bedeutungen, die von der Welt her erstehen, von den Beziehungen zum Anderen oder autochtonen Interessen. Faßt man diese Verhältnisse unter dem Aspekt des Bewußt-seins ins Auge, so bilden die „Grade" der Aufmerksamkeit keine einfachen Quanten ein und derselben Funktion, sondern eine Hierarchie von Ordnungen, welche sich vom Automatismus bis zum freien, schöpferischen Akt nach den ontischen Kategorien der fortlaufenden Erfahrung ordnen. Was wir Grade der Aufmerksamkeit oder der Wachheit nennen, sind allenfalls reifste Formen einer Fähigkeit des Bewußtseins, seine Inhalte in «idées claires et distinctes» zu gliedern. | Wachheit oder Aufmerksamkeit sind also keine homogenen Funktionen, die das Bewußtsein aufhellen oder wecken, um es zu höchstmöglicher Klarheit zu bringen; sie sind vielmehr Resultante eines funktionellen Zusammenwirkens (oder einer „dynamischen Struktur"), welches nur dann zur Luzidität, d. h. zu optimaler Differenzierung führt, wenn alle Infrastrukturen, denen beide Leistungen entspringen, einbezogen sind. Offenbar steht es mit der Aufmerksamkeit wie mit der Affektivität, dem Gedächtnis oder der Wahrnehmung: es sind Phänomene, die eine Bewußtseinsstruktur eher voraussetzen als daß sie sie konstituierten. ô) Sprache und Bewußtsein Dasselbe gilt für die Sprache. Jedermann weiß es (alle Psychologen bemerkten es - und es ist kaum originell, es zu wiederholen), daß Bewußtsein ein Wissen um das eigene Erleben bedeutet und daß jedes Erleben, soweit es vom Subjekt „gewußt" wird, ein diskursives ist. W. JAMES konnte darüber13 schreiben: «Ce qui forme la part de vérité que le mot conscience recouvre, c'est la susceptibilité que possèdent les parties de l'expérience d'être rapportées et connues». Die Verbalisierung der Phänomene, die sich im Bewußtsein entfalten, ist in der Tat die ihm eigene Weise des Sagendseins, seine eigene Sprache. Eine umfassende Psychologie des bewußt seienden homo sapiens lehrt uns, daß Bewußt-sein ein Ergreifen des eigenen Wissens in den Kategorien verbaler Kommunikation bedeutet. In der dialogischen Struktur des Wortes begegnen sich alle Phänomene, die an der Strukturierung des Bewußtseins teilnehmen. Schon J A N E T betonte, Bewußtsein sei das Selbstgespräch des Erlebens. Sprache ist also die Struktureigenschaft des Bewußtseins, durch welche es Humanität erlangt. Das Wort vermittelt das Subjekt in die Verfügbarkeit seiner Erfahrung. 13
Ardi. Suisses de Psychol. 1906.
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Indessen können diese vagen Allgemeinheiten nicht ausschöpfen, | was über das Bewußtsein zu lernen ist, wenn man sich mit seiner Verbalisierung beschäftigt. Bei tieferem Eindringen in die Beziehungen, welche Bewußtsein und Sprechend-sein vereinen, sehen wir zwei Extreme dieser bilateralen Struktur: Sprache in ihrem Bezug auf die Erfahrung (auf den aktuellen Gegenstand oder Inhalt des Bewußtseins) und als existentieller Modus des Ich. In ein linguistisches System eintreten, eine Sprache verstehen und sprechen, bedeutet in gewissem Sinne eine Symbol-Apparatur als Mittel zur Realitätsbewältigung bedienen zu lernen. Jede Realitätsanpassung passiert die Sprachlichkeit des Bewußtseins. Gegenstände benennen, Bedürfnisse äußern, sein Denken formulieren, in Kommunikation mit den Anderen treten - das ist ein Handhaben der Sprache, welches sich in der Spezifität des jeweiligen Sprachaktes ausfaltet; in ihm regeln sich fortlaufend die Präsenz und Absenz des „Er" und des „Anderen", wobei dieser Vorgang stets ein von mir ergriffener bleibt. Was ich sage, hat sich mir stets schon enthüllt, ist Vorgang in mir (zuweilen ohne, zuweilen mit meinem Einverständnis, manchmal ausdrücklich gewollt) und immer eine Peripetie von Ereignissen. Sprache ist bereits im Vollzug erlittene. „Denken und Sagen der Dinge sind nicht unser Besitz sondern unser Sein." 14 Sprache hat mit dem Pathos des Bewußtseins, mit dem ihr vorgegebenen oder auferlegten Fundament ein gemeinsames Schicksal. Sie ist daher wesentlich innere Sprache - wie auch eindringliche Studien über die Aphasie zeigten - , d. h. intentionale Fülle und Uberfluß. Sie wird nach J A C K S O N S Formulierung in dem Maße möglich, wie ich vom Handeln träumen kann, wie ich in mir Worte und Sätze als Spiegelungen oder Vorwegnahmen von Dingen aufsteigen lasse. Diese spirituelle „Materie" von Signanzen, dieses „zweite Signalsystem", ineins kulturell tradiert (in Kommunikation oder Einordnung in ein Kollektiv), Erfindung oder persönliche Stilbildung | ist ein Da-in-uns, gefügig oder aufsässig wie die Struktur unserer Intentionalität überhaupt: semi-objektive Sinn-Sphäre, worin sich unsere eigenen Gedanken entfalten, formen, ausdrücken und entschlüsseln. Wie auch immer - quer zu allen Begriffen - die Beziehungen der Worte zum Vorgestellten oder Vergegenwärtigten beschaffen sein mögen, so wird doch das Bewußtsein von dieser Welt der Bedeutungen, aus welcher es lebt, stetig angeregt und eingenommen; dasselbe gilt für die äußere Wahrnehmung, insofern „Wahrnehmen" der Gegenstände eine logo-noematische Entschlüsselung von Sinnesdaten darstellt. Bewußt-sein als Sprechend-sein15 M MERLEAU-PONTY:
Signes,
S. 2 7 .
is Oder als begegnendes Sein schlechthin, da es auch andere als sprachliche Formen der „Empathie" gibt (affektiver oder motorischer Austausch), wie man sie z. B. bei Taubstummen sieht, deren - übrigens nahezu stets enigmatisches - Bewußtsein sehr differenziert sein kann.
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ist demnach ein Seinsmodus, welcher das Subjekt durch das Wort mit seiner Welt verknüpft; durch ihn bietet und stellt sich das Subjekt seiner eigenen Welt dar. Es ist diese Möglichkeit der „Gebundenheit des Ich an seine Welt" (LERSCH), welche Sprache begründet; durch sie begreift das Subjekt seine Welt, sowie sich selbst in ihr und stellt sich im Fluß seiner unendlichen, weil nichtverbalen „animalischen" Erfahrung fest. Das Wort, im Bewußtsein beheimatet, ist Diskurs, Kunst des Oratorischen und keine einfache Ubersetzung von Signalen. Anders: die Struktur des Bewußtseins stellt sich nur her als Dialektik eines Seienden, das seine Sprache konstituiert. So gesehen ist Sprache kein zufälliger Uberbau des Bewußtseins, sondern Struktur eines Bewußtseins, das im Gespräch mit sich selbst ist. Dies bedeutet zugleich, daß Sprache (mehr Ent-deckung als Ausdruck) ebenso wie das Bewußtsein in sich das Sagbare konstiuiert und im Dunkel beläßt, was unsagbar bleibt und nicht zu klarer reflexiv-diskursiver Gegebenheit gebracht werden kann. Deutlicher: insofern sie die Struktur des Bewußtseins mitkonstituiert, impliziert Sprache ein unbewußt Seiendes als eine Leerform ihres eigenen Seins, welche ihr wie ein hieroglyphischer Diskurs zugehört. (Am Ende dieses Buches werden wir hierauf zurückkommen.) Je tiefer wir in die reflexive Struktur des Bewußtseins und die sie mitkonstituierende Sprache eindringen, um so klarer wird, daß Sprache nur sein kann, was das Subjekt, dieses «sujet» der Erfahrung, - hier erstmals in „erster Person", wie es sich selbst nennt, auftauchend - sagt. Mit der Sprachfunktion übernimmt das Subjekt - selbst vor dem ersten Aussprechen des „Ich" - Haltung vor seiner Welt. Indem es sie identifiziert und bezeichnet stellt es sich ihr gegenüber und erscheint so zugleich sich selbst. In dieser ersten Phase subjektiven Werdens (der einzigen Form „animalischer Subjektivität") verharrt der Mensch nicht, denn der Andere existiert nicht allein außerhalb seiner, sondern ebensosehr in ihm, seit ihn die Sprache durchdringt und bewohnt. Seit Hegel ist das Thema dieses für jede Identität konstitutiven Andersseins eine Art Leitmotiv geworden; M A R X , F R E U D und HEIDEGGER, überhaupt alle Existentialphänomenologen und Psychoanalytiker ( S A R T R E , LACAN, HESNARD, M E R L E A U - P O N T Y U. a.) entwickelten es weiter. Man hat die glänzenden Reflexe dieser Spiegel-Spiele des Selbstbewußtseins, wie sie in der sprachlichen Beziehung des Subjekts zu seiner Welt, vor allem des Subjekts zum Anderen, zustande kommen, seither unaufhörlich wiederholt. Der verbale Nexus dieser Identifikation kann sich nur in den grammatischen Relationen der Deklination und Konjugation entfalten, in der logischen Artikulation des Diskurses und den syntaktischen Formen, welche zugleich Synthesen des Bewußtseins sind, noetisch-noematisches Fundament des Logos (HUSSERL). Wir werden die dialektische Entwicklung der Person in ihrer Herkunft aus der ihr eigenen sprachlichen Grundkonstitution der Objektivität-Subjektivität im dritten Teil dieses Buches wieder aufgreifen. | Für den Augenblick mag genügen, daß Bewußt-
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sein, insofern es Subjekt seiner Welt und des Diskurses mit dem Anderen ist, in welchem es ersteht und sich bindet, aufgegliedert wird durch eine produktive Bewegung, in welcher es „zu sich" über das spricht, was „für es" ist, und damit notwendig auch zu Anderen, über sich zu Anderen - alles das, indem es sich selbst gegenüber eine Distanz einnimmt, die es, sprechend, in seinen „thetischen" Positionen eröffnet und übernimmt. Eingelassen in die tragenden Bindungen der Intersubjeküvität, formt die Sprache einen heterogenen Raum, der als gelebter Raum verbal artikuliert wird; er ist zugleich auch Logos des Ich, insofern sich die Person nur als sagende konstituiert. Freilich gestaltet er in dieser Doppelfunktion für die aktuelle Erfahrung und für die Struktur des Ich nur insofern das Bewußtsein, als er das Unbewußte - wie eine Dimension seines eigenen Diskurses setzt. c) Reflexives Bewußtsein und operationales
Feld des
Denkens
Diese phänomenologische Beschreibung fortsetzend, treffen wir jetzt auf Formen des Bewußt-seins, in welchen sich seine dynamische und potentielle Konstitution weiter entfaltet. Mit seiner diskursiven Entwicklung tritt ein recht transzendenter Aspekt des Bewußtseins in den Blick. Bevor jedoch diese Bestandsaufnahme der ihrem Wesen nach „bewußten" Vollzüge zur weiteren Klärung des Bewußtseins führt, halten wir einen Augenblick inne. Wir bemerken, daß wir mit dem reflexiven Bewußtsein (der idea ideae der Cartesianer) das spontane (unreflektiert-automatische) Bewußtsein verlassen und zu seiner kontrolliert-gelenkten Form gelangen. Allein schon diese Möglichkeit einer strukturellen Mutation des Bewußtseins kann das Bedürfnis nach Reflexion über dieses „reflexive Bewußtsein" wecken. | Die Reflexion, d. h. die pronominale Konjugation (ich betrachte mich, ich spüre mich, ich entscheide mich usw.) der Beziehung eines Bewußtseins-„lnhaltes" zum bewußten Subjekt, ist eine Bewußtseinsqualität echten Sinnes; wir begegneten ihr schon beim „ich fühle", das ein „ich fühle mich" ist, beim „ich bemerke", das ein „ich bemerke mich" bedeutet, bei der Erinnerung als einem „ich erinnere mich", bei der Aufmerksamkeit als einem „ich konzentriere mich", bei der Sprache als einem „ich sage mir". Wir werden aus dieser Dehiszenz des Bewußtseins Nutzen ziehen können, wenn wir uns der Phänomenologie des Bewußtseinsfeldes zuwenden, die sich zur jetzigen Erörterung wie ein Double, oder wie ein Raum zu seiner „Repräsentation" verhält. Die reflektierte Struktur des Bewußtseins ist vom reflexiven Denken keineswegs abzulösen, da dieses ja in jener aufgehoben ist; beide spielen nur auf verschiedenen strukturellen Ebenen. Bis hierher beschrieben wir in der Tat in Ubereinstimmung mit den üblichen psychologischen Deskriptionen solche spektakulären Vollzüge des Bewußt-seins, in denen sich das Subjekt (wie ζ. B. bei der Nahrungsaufnahme oder beim
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Erwachen) aus dem Unbewußten erhebt, um sich im Bewußt-werden erinnernd, wahrnehmend, aufmerkend usw. einem System fundamentaler Beziehungen zu eröffnen, welche für sein In-der-Welt-sein konstitutiv werden; wir faßten Bewußt-sein als einen fundierenden Modus des Erlebens, als in sich geschlossene, in bestimmten eidetisch-intuitiven Gegebenheiten kreisende Reflexion. Nach der allgemeinen Erläuterung des BewußtseinsBegriffes und seiner Bedeutung für die höheren Schichten der seelisdien Aktivität fassen wir jetzt eine Region des Seelischen ins Auge, die das Bewußt-sein als erlebte Aktualität übersteigt und Bewußt-sein im Vollzug seiner Intelligenz meint. Zweifellos kann ein Mensch sehr „bewußt" sein, ohne damit auch sehr „intelligent" zu sein; er kann „Grade der Bewußtheit" zeigen, was noch keine Aussage über seine diskursiv-cognitiv-noetischen Vollzüge bedeutet; | nachdenkend, überlegend, berechnend usw. schafft der Mensch Inhalte, die er seinem Bewußt-sein als diskursive, logische oder logistische Vollzüge, als neue Strukturen seiner Vernunft hinzubringt. Diese höheren Formen des Bewußt-seins, die es nun zu beschreiben gilt (operationales Denkfeld, System der Persönlichkeit, Gewissen), sind sicher in gewissem Sinne die bewußtesten. Man sollte aber nicht in den Fehler vieler Philosophen oder Psychiater verfallen, Bewußtsein nach seinem highest level zu bestimmen, da die Kontingenz selbst des intellektuellen und moralisdien Überbaus zeigt, wie wenig konstitutiv beide für das Bewußtsein und wie abhängig sie von dessen Fundamenten sind. Wir treffen hier auf einen bedeutsamen Struktur- und Niveau-Unterschied beider Modalitäten des Bewußt-seins. Behalten wir diese Infrastruktur des Bewußtseins und seines Überbaus im Auge. Sie wird uns später bei der Unterscheidung eines konstituierten von einem konstituierenden Bewußtsein beschäftigen. Wir beschreiben jetzt das operationale Feld des Denkens. Daß dieses eine Dimension des Bewußtseins sei, erscheint evident, da jedes diskursive Denken konstruküv-entfaltend angelegt ist und insofern eine Differenzierung der Bewußtseinsinhalte voraussetzt1*. Denkoperationen orientieren über die aktuelle Thematik des Reflektierten. Sie sind wie virtuose Akte, I in welchen die Denk-„Inhalte" nach Art einer Akrobatik oder einer Taschenspielerei der Welt-Dinge behandelt werden: sie bemächtigen einander darin, verschieben sich, kehren sich um, werden im Unendlichen raum-zeitlicher Perspektiven zum Erscheinen oder Verschwinden gebracht - so konstituieren sich dynamische Schemata als Leistungen der Intelligenz. Oft hat man auf den Unterschied hingewiesen, den die deutsche Sprache zwischen dem Allerweltswort Bewußtsein und dem seltenen Begriff Bewußtheit macht. Der Begriff Bewußtsein bezeichnet ziemlich genau das, was im 16
Die Denkarbeit während des Traumes, über welche seit HERVEY DE SAINTDENIS so viel geschrieben wurde, ist eher Vorbereitung und Verlängerung des Denkens als Denk-Ersatz. Sie schafft auf eine automatische Weise „Schemata", wie sie als Orientierungsversuche in jedem Einschlafdenken enthalten sind.
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Französischen «Conscience» genannt wird. Offenbar begegnete der Begriff in beiden Sprachen nahezu denselben Schwierigkeiten der Definition und des Verständnisses17. Was den Begriff der Bewußtheit angeht, so meint er nach J A S P E R S unanschauliche Vorstellungen0 (eine Art „insight", wie man mit Bezug auf einen ähnlichen englischen Terminus sagen könnte). So wie sich die Bewußtheit dem Bewußtsein gegenüberstellen läßt, kann man ein auf Intentionalität reduziertes Bewußtseins-Modell von einem anderen unterscheiden, in welchem Bewußtsein der Rang einer strukturierten Ordnung gegeben wird. Aber es ist klar oder scheint uns zumindest, daß Bewußt-sein sich nicht auf einen puren Intentionalitäts-Vektor reduzieren lasse, auf diesen Funken Bewußtsein, der wie ein mit ihrem Erscheinen gegebenes Aufleuchten der Phänomene des Seelenlebens ist. Im Bewußtsein erst konstituiert sich dieses Erscheinen. Bewußtsein läßt sich nicht auf Bewußtheit reduzieren, das Gegenteil ist der Fall. Bewußtsein läßt sich nicht aus einer in ihm enthaltenen Idee bestimmen, vielmehr nur aus der Ordnung, in welche es diese Idee einfügt. Seine diskursiven Vollzüge sind also nicht aus seinem Intentionalitätsvektor abzuleiten. | Oder anders: verzichtet* man darauf, Bewußtsein nur als einen Fluß intentionalen Erlebens, als eine Sukzession von Inhalten anzusehen, die einander in ihrem Gegebensein ähneln, richtet man sich vielmehr auf die Artikulation der Formalstruktur des Bewußtseins mit seiner Intentionalität, so wird zweifelsfrei, daß diese Struktur die Präsentation des Erlebten regelt und so als notwendige, wiewohl nicht zureichende Bedingung seiner diskursiven Entfaltung fungiert. Seine „Hochseilstücke" machen nicht das Wesen des Bewußtseins aus, sie spielen allenfalls, wenn man so sagen darf, auf seiner höheren Ebene. Lassen sich aber die verschiedenen Gegebenheiten des Bewußtseins, insbesondere seine Formalstruktur und seine Inhalte nicht auf dieselbe Ebene bringen, so wird die Vorstellung einer Hierarchie unabweisbar, und es geht darum, die verschiedenen Strukturen in ihrer gegenseitigen Zuordnung zu bestimmen. Und wenn wir mit H U S S E R L S Ideen den konstitutiven reellen Momente des Erlebten die noematisch-logischen Gehalte des Urteils superponieren, so folgt daraus, daß alle Vollzüge diskursiven Denkens (intellektuelle wie logistische Schemata), Begründungen, induktive und deduktive Denkoperationen usw.), daß diese auf sich selbst gerichtete Bewegung des tätigen Geistes in der schöpferischen Reflexion viel eher ein Produkt des Bewußtseins ist als sein Konstituens. 17
Daß sich das Wort conscience im Französischen bas zum Gewissen, zum moralischen Bewußtseins erstreckt, weckte in manchen Geistern die Meinung, es komme ihm eine „pontifikale" Funktion zu.
·> Η. EY überfordert hier den partikulären psychopathologischen Sinn, den JASPERS dem Begriff der Bewußtheit gab (s. hierzu audi C.-F. GRAUMANN: Bewußtsein und Bewußtheit. In: Hbch. Psydiol. I. Göttingen 1965).
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Das Problem der Definition des Bewußtseins d) Bewußtsein und
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Persönlichkeit
Von jemandem sagen, daß er Jemand sei, heißt zugestehen, daß er ein Bewußtsein seiner selbst habe, denn dieser Jemand kann sich als solcher nur zeigen in einer intersubjektiven Kommunikation, welche wiederum eine intrasubjektive Kommunikation in sich beschließt. „Persönlichkeit" nennen wir ein Individuum, das aufhört, irgendein Individuum zu sein, vielmehr zur „Person" wird, [ deren Sein und Haben sich in charakteristischen Weisen der Selbstverfügbarkeit zusammenschließen. Diese Physiognomie der Person, ihre persönliche Charakteristik setzt eine Strukturhierarchie voraus, welche Leib und Person, zugleich ihr Ich und dasjenige der Anderen vermittelt. Gewisse Persönlichkeitstheorien simplifizieren dies, wenn sie die Vielfalt und Komponiertheit des individuellen seelischen Seins zu einer monolithischen Einheit verdichten. Eine derartige Vereinfachung setzt etwa das Ich-Bewußtsein dem Bewußtsein überhaupt gleich. Woraus erhellt, daß viele Psychologen, Psychiater oder Psychoanalytiker die Begriffe Ich oder Bewußtsein synonym verwenden. Das Ich ist aber nicht einfach, sondern zusammengesetzt. Es begründet nicht das Bewußt-sein, sondern bildet seine strukturelle und geschichtliche Resultante. Will man der Persönlichkeit ihren Platz im Bewußtsein anweisen, so wird man sie nicht an seine Basis, sondern an seine Spitze rücken; damit berücksichtigt man sowohl ihr Werden als auch ihre Rückkopplung zur basalen Bewußtseinsstruktur. Gewiß braucht jedes Erleben ein Subjekt als Mittelpunkt; um ihn gruppieren sich alle Beziehungen zu den Objekten (seien es nun solche der existentiellen Landschaft oder menschliche „Gegenstände" seiner Koexistenz. Subjekt und Subjektivität, wie sie im Pronomen „ich" erscheinen, richten sich aber in der Person (im Ich) nur ein, indem sie sich entwickeln; wobei dann die Zeitlichkeit der Person mit der Bewegung ihrer Transzendenz zusammenfällt18: das Ich konstituiert sich, indem es sich von seinem Leib differenziert und in eine geschichtliche Existenz „wirft". Die Persönlichkeit läßt sich nicht auf eine Leib-Eigenschaft reduzieren, wie wir noch sehen werden. Charakterologie muß Personologie sein. Das „biophysiologisch" Vorgegebene der Konstitution | fungiert lediglich als Basis, zu welcher die Ichstruktur in Beziehung tritt, ohne sich allerdings mit ihr zu vermischen. Die Persönlichkeit ist wie eine Geschichte. Sie zeigt sich als biographischer Zusammenhang, der die Modalitäten des Ich-seins in einer Serie von Ereignissen verbindet. Diese Geschichtlichkeit des Ich nimmt es in eine reziproke Genese ( P R A D I N E S ) hinein, welche aus sich jene Ereignisse hervorgehen läßt, die das Ich konstituieren. 18
Wir werden noch mit SARTRE nach dem Sinn dieser Transzendenz des Ich zu fragen haben (S. 255). Für uns folgt sie aus der Möglichkeit, das Ich von der Aktualität des Erlebten zu unterscheiden.
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Modalitäten des Bewußt-seins
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So entfaltet sich das Ganze der Person als Schöpfung einer eigenen Welt. Das Ich wird zum Urheber der eigenen Personalität, dabei anderen Personen zugleich verpflichtet und entgegensetzt. Wenn Bewußt-sein seiner selbst bedeutet, sich als eigene Person zu begründen, und wenn Bewußt-sein so als „Eigentum" der Person erscheint (ein Eigentum, das nicht allein partikuläre Disposition ist, sondern ein Recht auf Disposition - wie wir im dritten Teil dieses Werkes zeigen werden), so läßt sich doch weder die Ganzheit des Bewußt-seins, noch seine basale Struktur auf dieses Bewußtseinsideal zurückführen. Denn der Begriff eines über sich verfügenden Ich schließt ein, daß die Person dieses Ich Beziehungen zu den Erlebnissen eingeht, welche in jedem Augenblick den Umfang ihres historischen Kapitals vergrößern. So repräsentieren Persönlichkeit und Ich die Transzendenz des Bewußtseins: Jemand zu sein, und zwar relativ auf sein Bewußtsein-haben. Sicher ist das Ich die höchste Form des Bewußtseins, aber eben „nur" diese höchste Form und in seiner Entwicklung etwas „Sekundäres" - wenn man so Kontingenz und Freiheit des Ich formulieren mag. e) Gewissen Dieses teilt mit dem „psychologischen Bewußtsein", das wir gerade beschreiben, nur die Höhe des Organisationsniveaus. Die verschiedenen diskursiven Vollzüge, Strukturen und Ebenen der Persönlichkeit sind | wie Stadien, welche von der (theoretischen oder praktischen) Vernunft überschritten oder einbezogen werden. Das Ich gehört, insoweit es vernünftig ist, in diesen Zusammenhang und läßt sich nur als Ich-in-Situation oder als Ich-in-seiner-Welt fassen, d. h. innerhalb der Problematik einer Existenz, die in einer gemeinsamen Wertwelt zugleich offen für den Anderen ist. Man versteht gut, daß die gegenwärtige (aus der Phänomenologie, der Sozialpsychologie oder Psychoanalyse hervorgehende) „Anthropologie" aus der Struktur menschlichen Seins seine „politische" und „moralische" Dimension, sein „axiologisches" Sein heraushob. Man erinnere sich, wie HEIDEGGER die Bewußtseinsproblematik mit derjenigen der Wertwelt verknüpfte, und wie unter diesem reich entfalteten Gesichtspunkt vom Sinn des Wortes Bewußtsein übergeleitet wird auf seine Bedeutung als Gewissenc. Ähnlich interessant ist der ethische Exkurs in der Philosophie SARTRES. Bereits 1 9 3 6 in «La transcendance de l'Ego» suchte SARTRE seine Konzeptionen von Moral und Politik in der absoluten Objektivität eines Bewußtseins zu begründen, das nur ist, was es ist, insofern es für den Anderen ist. Von daher auch die Lehre vom Engagement des Philosophen. Bewußtsein wird, wie SARTRE c
Η. EY stellt hier den deutschen Worten Bewußtsein und Gewissen (im Original-
text jeweils in Klammern) die entsprechenden französischen Begriffe conscience und conscience morale gegenüber.
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weiter sagt, von dieser Freiheit zum Handeln bestimmt; wenn wir zur Freiheit verdammt sind, so zeichnet diese Freiheit das Bewußtsein des Menschen aus als dessen eigene Weise, sidi problematisch zu werden. R I C O E U R betont in seiner «Philosophie de la volonté», daß Bewußtsein sich als moralisches Bewußtsein konstituiere, insofern es wesentlich Wertnahme und Reflexion über Werte sei. In der Tat wird die Phänomenologie des Willens durch die Thesen der inhärente Verantwortlichkeit und der Offenheit für die Wertwelt zusammengehalten. Viele solcher zeitgenössischer Studien (LA Ν ALLE, E . M O U N I E R , G A B R I E L , M A R C E L usw.) erlangen einen gemeinsamen Stil in der Bemühimg, die Wert-Transzendenz in der Struktur des Bewußtseins selbst zu verankern und sie zugleich von ihr unabhängig zu halten; man sieht die Doppeldeutigkeit eines Wählens und Zögerns, welche für die Problematik menschlicher Vollzüge konstitutiv ist. | Das Sein des Gewissens ist also vom „psychologischen" Bewußtsein grundsätzlich nicht zu trennen. „Moralität" ist kein Prinzip absoluter Selbstbestimmung, wie K A N T ihr vorschrieb; sie ist im Bewußtsein, diesem Meer von Reflexionen, gewissermaßen aufgelöst. „Volles" Bewußt-sein meint sehr wohl Wachheit, aber nicht allein als Bereitschaft zu einem Erkundungs„Reflex" im Sinne PAVLOVS, sondern audi die Haltungen der Ratlosigkeit und Fragwürdigkeit, wie sie HEIDEGGER immer wieder beschrieb. Nun läßt sidi allerdings von diesem „In-der-Welt-sein" der Werte, das sich als humanste (alle Pläne und Erfüllungen der Praxis durchbrechende) Form menschlichen Bewußtseins darstellt, ähnliches sagen, wie wir es für das Ich taten: sicher gehört auch die ethische Haltung zum Bewußtsein, aber als sein äußerster Grad an Differenzierung. Es liefe gewissermaßen auf eine Leugnung der Bewußtseinsstruktur im ganzen hinaus, wollte man von ihr definitorisch fordern, daß sie sich wie eine Ausnahme oder ein Ideal auf diesem höchsten Niveau halte. Dieser äußerste Aspekt eines „So-bewußt-wie-möglich-seins" macht nodi deutlicher, daß es zum Sein des Bewußtseins gehört, sich fraglich zu werden; Bewußtsein ist notwendig konfliktuos und doppelsinnig konstituiert: ein Seiendes, in seinem Für-sidi durch innere Auseinandersetzung zerrissen (MAURICE BLONDEL).
Dergestalt lassen sich die verschiedenen „Strukturen" psychischen Lebens, die Modalitäten des Denkens, der Existenz oder die Konstitution des Ich auf das „Bewußtsein" zurückbeziehen, wie auf eine strukturierte Realität, von welcher wiederum jede dieser Strukturen abhängt, und zwar nicht mehr wie eine Summe von Funktionen, die zufällig Bewußt-sein bedeutet oder nicht. Wir sahen indessen auch, daß Bewußt-sein zugleich Bewußt-werden ist, | d. h. strukturelle Hierarchie, nicht allein aus ihren höheren Formen ableitbar, da diese wiederum auf Strukturen gründen, die ihnen allererst Freiheit erlauben.
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Definition des Bewußtseins
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§ 4. Definition des Bewußtseins Die genannten Modalitäten des Bewußt-seins, alle diese „Operationen", „Funktionen", „Strukturen" stellen sich uns als „bewußte" Gegebenheiten dar. Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Reflexion, Sprache, Wissen, Intelligenz, Sinnlichkeit, Wahrnehmung, Ich, Gewissen und Selbstbewußtsein sind ganz oder teilweise bewußte Weisen psychischen Lebens. Anders: man könnte sich darauf beschränken, zu sagen, Bewußt-sein sei eine Eigenschaft, welche dem einen oder anderen dieser Aspekte der psychischen Aktivität oder ihrer Gesamtheit zugeordnet sei. So hat man meinen können, Bewußtsein sei ganz allgemein Denken oder etwa eine Qualität, welche allen psychischen Phänomenen zukomme oder nicht - was darauf hinausläuft, das Bewußtsein als eigene Struktur abzulehnen. Es ist aber die Frage, ob diese funktionelle Psychologie befriedigt, wenn sie das Seelische zerstückelt und das Bewußtsein in partielle Mechanismen des Gedächtnisses, der Wahrnehmung, in intellektuelle oder verbale Schematismen usw. zerschneidet, so als sei Bewußtsein nur eine Ansammlung heterogener Phänomene; ebenso fragwürdig ist eine Phänomenologie des Geistes, welche sich darauf beschränkt, die Intentionalität, die Vorstellungen, die Entfaltungen und Verwicklungen des „Erlebens" schlechthin in ihren allgemeinsten Zügen zu beschreiben, weiterhin die Weisen des In-der-Weltseins, die Verflechtungen von Ich und Du, die Anziehung und Abstoßung zwischen dem Ich und dem Anderen, die historische und ethische Problematik des Menschen, so als gehe Bewußtsein in der Allgemeinheit des Daseins, in der „Vernunft" oder der menschlichen Praxis auf. | Zweifellos sind beide Gesichtspunkte verdienstvoll und legitim: der erste ermöglicht operationale Analysen, der zweite sucht einen globalen Sinn der Existenz zu fassen. Der Gedanke einer Organisation seelischen Seins ist jedoch beiden grundsätzlich fremd; der erste Aspekt bleibt indifferent gegenüber der Artikulation jener Anteile des Seelischen, die er unterscheidet (Bewußtsein sei keine abstrakte Ganzheit), dem zweiten entgeht die leibliche Verwurzelung des Bewußtseins (Bewußtsein sei kein Naturphänomen). Aber müssen wir uns überhaupt auf einen Idealismus festlegen, der als Gegenstände ernsthafter Phänomenologie nur Wesenheiten oder Bedeutungen zuläßt, so als würden wir reiner Geist sein? Oder sind wir andererseits zu einem empiristischen Realismus verdammt, welcher vorgibt, sich nur mit einem Mosaik unabhängiger oder von cerebralen Assoziationen abhängiger Funktionen zu beschäftigen? Von diesen Vorurteilen lösen wir uns ab oder ersetzen sie durch ein neues (sofern der Versuch dieses Werks nicht überzeugt), wenn wir die Definition des Bewußtseins so angehen, daß wir Modalitäten des Bewußt-seins aus der Einheit und Heterogenität der sich uns zeigenden Phänomene heraus zu beschreiben suchen. Wir bemühen uns also um
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Das Problem der Definition des Bewußtseins
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eine allgemeine und eine spezielle Bestimmung der Grundstrukturen des Bewußt-seins. Es geht in der Tat um die Frage, ob man Bewußt-sein auf Basisstrukturen zurückführen könne, und wenn ja, auf welche; ob es möglich sei, die Weisen des Bewußtseins als Artikulationen solcher Strukturen zu begreifen. Damit geht man von einer Hypothese aus, welche die meisten Autoren und Schulen vernachlässigen oder systematisch ablehnen: vom seelischen Sein als einem Ordnungsgefüged. | a)
Bewußt-sein
Wir suchen jetzt die dynamische Struktur des Bewußtseins zu fassen und gehen dabei von den versuchten ersten Näherungen und den daraus gewonnenen Bestimmungen aus. 1. Bewußt-sein impliziert eine autochtone Organisation. - Die Phänomene des Bewußtseins selbst machen uns seine Idee und seinen empirischen Gehalt zugänglich, sie konstituieren als solche eine eigenständige Ordnung, welche die vegetativen Abläufe des Organismus mit seiner Welt vermitteln. Das so konstituierte „Milieu" bezieht Seeelisdies und Innerweltliches und damit Zentren und Horizonte der Existenz aufeinander, welche sich unaufhörlich begegnen. Man kann dieses „Milieu" also weder schlechthin als ein innerliches, nodi als ein räumliches fassen; es ist, was es ist, als (dynamische, intentionale, volitive usw.) Bewegung, welche die Gegen-ständigkeit der Welt in die Repräsentation des Subjekts einbringt. Die Struktur-Autonomie des Bewußtseins ersteht geradezu aus dieser Bewegtheit (BERGSON, ν. WEIZSÄCKER, MERLEAU-PONTY).
2. Bewußt-sein vergegenständlicht und reflektiert sich in einem mundanen Modell. - Man sollte diese Autonomie nidht mit der Innerlichkeit des Subjekts verwechseln; Bewußtsein konstituiert sich nicht als Produkt des Ego, dieses setzt vielmehr seine Konstitution voraus. Anders: es konstituiert sich selbst als Objekt; in diesem Sinne kann man (mit HUSSERL, SARTRE u. a.) sagen, Bewußtsein sei in der Welt, da es die Welt, namentlich die Welt der Anderen, welche in seine Konstitution eingeht, ist. Für ein lebendes, insbesondere humanes Individuum bedeutet Bewußtsein daher die Möglichkeit des Subjekts, sich selbst als Objekt für sich und für den Anderen zu konstituieren. Der Aufbau eines mundanen Modells ist nicht allein seine Aufgabe, sondern sein Sein. | Diese entscheidende Objektivation des d
Das französische Wort organisation wird von Η. EY häufiger bemüht als das Wort ordre, und zwar in einer recht weiten Bedeutung, welche sowohl biologisdi-organismisdie Organisation, als auch phänomenale und personale Organisation meinen kann. Wir übersetzen organisation, dem jeweiligen Kontext entsprechend, mit Ordnung, Ordnungsgefüge, Strukturzusammenhang, seltener mit Aufbau oder Organisation.
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Definition des Bewußtseins
Bewußtseins, durch welche es sich (im Erkennen) seinen eigenen Gegenstand zeigt und sich in seinem Wissen durchsichtig wird (Reflexion), spaltet es zugleich im Inneren seiner selbst. 3. Bewußt-sein Oerfügt sich in die Ordnung seiner Zeitlichkeit. - Diese „Teilung" leitet uns nicht zur Räumlichkeit, sondern zu der dem Bewußtsein eigenen Zeitlichkeit (HEIDEGGER); denn die Verfügung eines seiner Teile über einen anderen bedeutet wesentlich Unterordnung des einen unter den anderen in der Dauer, aktualisiere sich diese nun als Unmittelbarkeit des Erlebens nach der Ordnung der Simultaneität (Synchronie) oder als Entwurf mit seiner Geschichtlichkeit (Diachronie). Das Gesetz seiner zeitlichen Konstitution bildet in der Tat diejenige Ordnung, welche das Bewußtsein ein seinen leiblichen und mundanen Vollzügen entsprechendes Ideal ausbilden läßt, durch das es Person wird. 4. Bewußt-sein strukturiert sich als Rückwurf des Idi auf die Aktualität seines Erlebens. - Bewußt-sein ist endlich nicht mit dem Ich identisch; es erscheint als ein Sein, das eine Transzendenz des Ich gegenüber dem Erleben fordert19. Bewußt-sein ist notwendig angelegt auf ein Haben von Erlebnissen, die es in jedem Augenblick seiner Geschichte bestimmen, und auf ein Sein als Person, die sich in dieser Geschichtlichkeit entfaltet. Wenn es so ist, daß das Erlebte als Besitz des Ich in das Bewußtsein und damit in eine kernhafte „Eigenheitsphäre" e eintritt, so allein im Vollzug des Selbstbewußtseins und in der Beherrschung der Erlebniswelt durch Objektivation seines Seins im eigenen Idi. Wir gelangen so in allmählicher Näherung an Grundbegriffe (autochtones Milieu; I reflexives Modell der Welt; konstitutive Zeit-Struktur; Aufbau der Person) zur ontischen Bestimmung des Bewußtseins als einer Möglichkeit des Individuums, ein „Weltbild" anzueignen, in welchem sich die Erlebnisse verflechten und dessen sich die Person zugleich bedient. Bringt man die Strukturmannigfaltigkeit des Bewußtseins auf eine schematische Formel, so bedeutet es: Verfügung über ein personal strukturiertes mundanes Modell. Kein Gefühl, kein Gedanke oder Akt sind „bewußt", wenn sie in dieses Modell und diese Verfügung nicht eingehen; wobei alle Modi von Modell und Verfügung die verschiedenen Strukturen des Bewußt-sein konstituieren. 19
E
Wir werden uns weiter unten (S. 255-257) mit der These SARTRES über die Transzendenz des Ego beschäftigen; er setzt dabei dem „apersonalen" und „spontanen" Bewußtsein (unserem Erlebnisfeld) das Ich entgegen, welches jenes transzendiert und ihm irgendwie fremd bleibt. Es scheint uns, daß SARTRE mit Recht das Bewußtsein der Aktualität des Erlebens und das Ich auseinanderhielt. Wir werden aber sehen, daß die Transzendenz des E g o zugleich eine Selbstgestaltung bedeutet, insofern Ich zunächst an das Erleben gebunden ist und erst auf dieser Grundlage die Möglichkeit der Reflexion gewinnt. Im Originaltext verwendeter Begriff; vgl.
HUSSERL,
Ideen I, § 3 3 ,
S. 5 8
f.
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Das Problem der Definition des Bewußtseins b) Zwei fundamentale
Modalitäten des
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Bewußt-seins
Die Verfügung, in welche das Bewußt-sein sein mundanes Modell nimmt, kann nur als eine zeitliche verstanden werden, in einer Temporalität gründend, welche auch das Gedächtnis konstituiert. Augenscheinlich ist das Gedächtnis eines Lebewesens keine mechanische Konservierung von Erinnerungen, sondern gerade die Möglichkeit, nach Belieben über die Zeit zu verfügen und in ihr die Aktualität des Gegenwärtigen wie den existentiellen Entwurf auszuspannen. Solcherart koinzidieren die mnestisch-temporalen Strukturen des Seelischen und die Struktur des Bewußt-seins. Diese „bilaterale" oder „artikulierte" Struktur entspricht keinem linearen Modell, vielmehr einem Funktionskreis (Gestaltkreis), dessen komplementäre Halbkreise sich reziprok verhalten. Bewußtsein artikuliert aus seiner Zeitstruktur heraus beide Weisen des Subjekts, über seine Erlebnisse und ihr Uberleben zu verfügen. Es regelt sich selbst in dieser Doppelkonstitution, insofern Zeitlichkeit und Gedächtnis darin zusammenfallen. | Dieser Doppelstruktur entsprechen zwei fundamentale Ebenen des Bewußt-seins: Bewußt-sein stellt sich in der Aktualisierung der gelebten Erfahrung fest und entfaltet sich zugleich in das System der Person. Es ist ein verbreiteter Irrtum, diese beiden Strukturen des Bewußt-seins zu vermischen. Man verfällt ihm sofort, wenn man Bewußtsein allein aus seiner endothymen Basisstruktur oder (wie häufiger geschieht) allein aus seinem spirituellen Gipfel erklärt oder gar als eine völlig heterogene Gegebenheit in seiner Realität leugnet. Dagegen ist zu bedenken: Bewußt-sein ist zugleich reell und komplex. Gerade in dieser Komplexität konstituiert sich die besondere Ordnung seelischen Seins, welche auch das Unbewußte umschließt; neben diesem noch zwei weitere Modalitäten: das Bewußtsein der aktuell gelebten Erfahrung und das Selbst-Bewußtsein. Bei beiden handelt es sich nicht um getrennte „Stücke", vielmehr um zwei eng verknüpfte Systeme, deren wechselseitige Entsprechung jene Objektivation liefert, welche vom Subjekt in das eigene Sein eingebracht, als solche erkannt und nach seinen Zielen ausgerichtet wird.
c) Strukturierung des Bewußt-seins Nehmen wir einiges aus der Denkbewegung dieser Studie und der darin versuchten Aufklärung der dynamischen Strukturierimg des Bewußt-seins vorweg, so ergibt sich eine erste hypothetische Umschreibung 20 dieser beiden Modalitäten des Bewußtseins und ihrer Artikulation. | 20
Was hier an den Anfang des Werkes gerückt wird, gewissermaßen als Prämisse einer noch zu entfaltenden These, bleibt, streng genommen, natürlich Schlußfolgerung.
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Definition des Bewußtseins
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1. Die Aktualisierung des Erlebens1 als Grundstruktur des Bewußtseins. Im Kern des seelisdien Seins erscheint Bewußtsein als ein Feld, in welchem Erleben sich in Strukturen gliedert, die wiederum für die eigenständige Organisation dieses Feldes konstitutiv sind (GURWITSCH). „Gelebtes" durchläuft notwendig diesen Konstitutions-Prozeß des Präsenzfeldes. „Das Bewußtsein ist das augenblickliche Ganze . . . Das Ganze des momentanen Seelenlebens nennen wir das Bewußtsein", schreibt JASPERS und fügt damit der Intentionalität eines „Bewußtseins von etwas" die vergängliche Struktur eines Gegenwartsbewußtseins hinzu. Bewußtsein kann Gelebtes nicht erleben, ohne es in einer Gegenwart zu gewärtigen - in diesem Intervall, diesem Zeit-„Raum" (zwischen Retention des Vergangenen und Protention des Künftigen), der sich zwischen Gewesenes und Bevorstehendes schiebt. So zieht Bewußtsein den Raum der Repräsentation in die Aktualisierung seiner gelebten Zeitlichkeit hinein21. Dieses „Gelebt" bezieht sich auf die Leiblichkeit der Erfahrung, auf die in ihr gegebenen sinnlichen Daten (seien diese nun perzeptiver oder imaginativer Art); jedes Gelebte ist zugleich auf eine Bewußtseinsstruktur angewiesen, welche in einer legislativen oder thetischen (Realität setzenden) Leistung die subjektiv-objektive Wertigkeit dessen festlegt, was sich im Präsenzfeld zeigt. So fungiert die Bewußtseinsstruktur als Legislative des Erlebten, als Bedingung seiner Strukturierung oder Konstitution. | Die Organisation des Aktualitätsfeldes setzt demnach eine Formalstruktur voraus, die sich zu ihm wie eine formale Invariante (A. GURWITSCH) verhält und Gegenstand einer
an
orientierten Phänomenologie des Bewußtseins ist. 2. Die Transaktualität des Bewußt-seins als Ich-Struktur. - Der Aktualstruktur des Bewußtseinsfeldes entspricht eine Potentialstruktur des BewußtHUSSERL
21
Zeitlichkeit als innere Struktur des Bewußtseins - und von dieser wird in diesem Werk fortlaufend die Rede sein - ist zu unterscheiden von den Begriffen der Zeit, des Zeiterkennens oder der Zeitwahmehmung, für welche sie allenfalls als eine Art Vollzugs-Matrix fungiert. PAUL FRAISSE zeigt in seiner Psychologie du temps (Presses Universitaires de France, 1957), aus welchem Gefüge von Empfindungen, Gedanken und Urteilen die Totalität der psychologischen Zeit ersteht. Mit Recht trennt er jedoch davon die zeitliche Struktur des Erlebens, seine Aktualisierung und seinen Entwurfs-Charakter als einen „horizon temrel" ab (S. 150-196); dieser fällt mit dem Aktualitätsfeld, wie wir es hier sehen, zusammen; indessen nicht völlig, denn für uns, wie für das Bewußtsein, ist die Aktualität gelebter Erfahrung nicht gleichbedeutend mit ihrer Präsenz, sondern allein mit ihrer Präsentation.
f
L'expérience vécue und le vécu werden hier und im folgenden nicht stets mit Erleben oder Erlebnis übersetzt, sondern häufig auch mit gelebter Erfahrung, da der Begriff des Gelebten, in der neueren deutschsprachigen Anthropologie recht geläufig geworden, eine umfassendere, der von EY intendierten nähere Bedeutung gewonnen hat als der traditionelle Erlebnisbegriff.
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Das Problem der Definition des Bewußtseins
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seins: diejenige eines personal konstituierten Ich, das sich durch ein eigenes Wertgefiige und durch seine geschichtliche Entfaltung begründet. Diese Struktur ersteht aus dem Erlebnisfeld als Differenzierung seines Subjekts, sobald es aus der Verfassung unklarer Subjektivität zu einem Ich wird. Das Ich grenzt sich als reflexive Form des Selbst-Bewußtseins aus einem Bewußtsein vom anderen aus. Hatte das basale Bewußtsein die Struktur eines Feldes, so taucht das Ich in die Vergangenheit zurück oder wirft sich ins Künftige - das alles nach Art eines unaufhaltsamen (axiologischen) Entwurfs, welcher die Existenz an ihren Anfang und an ihrem Ende nach der ihr eigenen Bestimmtheit festmacht. Was über die Transzendenz des Bewußt-seins meines Selbst gesagt werden könnte oder müßte, ließe sich nur in der Art der Daseinsanalytik HEIDEGGERS ausdrücken. 3. Die Beziehungen des Bewußtseinsfeldes zum Ich. - Aber auch und HEIDEGGER konnten Bewußtseinsfeld und Persönlichkeitsentwurf nicht radikal voneinander trennen. Es läßt sich nicht umgehen, beide Komplementärformen des Bewußt-seins, sein immanentes und sein transzendentes Sein, seine aktualisierende und seine implikative Modalität, zu vermitteln. Wir werden noch oft zeigen können, wie Bewußtsein-hafcen von etwas als Inkorporierung von Erfahrung allererst die Basis für ein Bewußtsein des Selbst schafft. In dieser Dialektik von Sein und Haben entfalten sich Reziprokität, aber auch Uber- und Unterordnung des Bewußtseins senso strictu (d. h. der Organisation des aktuellen Erlebnisfeldes I und des Ich (d. h. der Begründung der Persönlichkeit im Selbst-Bewußtsein). Letzteres ist in der Tat eine dem aktuellen Erlebnisfeld übergeordnete oder - wenn man will - transzendente Struktur. Das Ich herrscht über dieses Feld nicht als absolute Instanz, sondern als integriertes Wertsystem, welches das Gesamterleben auf sich bezieht. Schaut man auf den vollen attentionalen, reflexiven und volitiven Vollzug des Bewußt-seins, so wird evident, daß seine zwiefache Struktur nicht aufzuspalten ist; dasselbe gilt für die in dieser Struktur sich enthüllenden Infrastrukturen des Bewußtseinsfeldes. HUSSERL
Weil nun die seelische Pathologie in manchem jene sonst verdeckt bleibende Integration des Bewußt-seins und seine Beziehung zum Unbewußten freilegt, heben wir diese (dem Philosophen wie auch dem naiven Verständnis entzogene) Perspektive besonders heraus; in ihr enthüllt sich für uns die Ordnung, innerhalb derer Bewußt-sein sich exponiert, d. h. die Artikulation des Feldes aktuell gelebter Erfahrung mit der geschichtlichen Struktur des Ich, mitsamt ihren Beziehungen zum Unbewußten. Diese Zusammenhänge zu klären, ist die Absicht dieses Werkes. Bevor das geschieht, hören wir noch ein wenig auf das, was die Philosophen sagen. Denn wenn der Psychiater berufen ist, etwas über die Kehrseite des Bewußt-seins zu sagen, so haben andererseits die Philosophen, Psychologen oder Existentialanthropologen Vieles und Tiefes über seine redite Seite ergründet. |
KAPITEL
II
Die Philosophie und das Problem des Bewußtseins Wir sehen uns hier außerstande, den Begriff „Bewußtsein" in den verschiedenen Zeitaltern und Denkrichtungen zu entfalten. Das philosophische Problem des Bewußtseins ist als Problem der Beziehung des Seins zur Erkenntnis die Grundfrage der Philosophie selbst. Wir suchen die Struktur des Bewußtseins zu fassen, indem wir die darin liegende Doppelsinnigkeit, ihre Bilateralität und Komplexität betonen. Vielleicht läßt sich sagen, die Struktur des aktuellen Erlebens, das Bewußtseinsfeld also, konstituiere sich im Zusammenstoß dessen, was sich zeigt, mit demjenigen, was ich erfasse, d. h. in einer positiven Erscheinung, die eine negative in sich schließt, insofern andere Augenblicke aus der Aktualität des Erlebten ausgeschlossen bleiben. Ähnlich erscheint das Ich als eine Konstruktion des Selbst, in welcher das andere fortlaufend aus der Geschichte der Person eliminiert wird. Wir werden bald zeigen, wie für W. JAMES und BERGSON die temporale Struktur des Bewußtseins zu einem Thema ersten Ranges wird. HEIDEGGER beschäftigte sich dagegen vor allem mit der Auslegung des Ich auf seine Welt; HUSSERL vermittelt in mancher Hinsicht diese beiden dialektischen Möglichkeiten, die Konstitution des Bewußt-seins vorzustellen. I Wir beschränken uns auf die von diesen vier Autoren beigetragenen Grundaspekte einer Philosophie des Bewußtseins und lassen alle „Naturphilosophien" und „mechanistischen" Psychologien beiseite, da sie Bewußtsein im wesentlichen negieren, „Bewußtes" einseitig als epiphänomenal interpretieren und dessen implikativ-dynamische Struktur übersehen. Dies geschieht namentlich in allen atomistischen oder assoziationistischen Psychologien cartesianischer Provenienz, im sensualistischen Empirimus und seinen behavioristischen ( W A T S O N ) , reflexologischen (BECHTEREW, PAVLOV) oder gestaltpsychologischen ( W E R T H E I M E R , KÖHLER, KOFFKA) Ausläufern. Fraglos nähert sich die empiristisch-sensualistische Auffassung einer StrukturPsychologie, wenn der Behaviorismus etwa zu einem „molaren" wird (KANTOR, TOLMAN) oder wenn die Gestaltpsychologie auf ihre ersten Intentionen (KRÜGER, MEINONG) zurückgreift; in ihnen vermischt sie sich mit (noch zu besprechenden) Grundlegungen der Phänomenologie, welche in BRENTANOS Psychologie der Intentionalität oder in der Gestalt-Theorie der Grazer Schule
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Die Philosophie und das Problem des Bewußtseins
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geleistet wurden1. Wir können daher diese Strömungen gegenwärtigen philosophischen oder psychologischen Denkens aus unserer Erörterung herauslassen, ohne damit ihre Bedeutung zu verkennen. Als Ahnherr der zeitgenössischen philosophischen (insbesondere der phänomenologischen) Bemühungen um das Bewußtsein ist natürlich H E G E L zu nennen. Mit seiner Phänomenologie des Geistes schrieb HEGEL der dialektischen Struktur menschlichen Bewußtseins eine absolute Idealität vor, welche letztlich auf eine Einheit von Geist und Selbst-Bewußtsein hinauslief. Heben wir aber auch hervor, daß er seit seiner ersten Grundlegung einer Phänomenologie (von ihm selbst als eine Wissenschaft der Bewußtseinserfahrung bezeichnet) darauf zielt, eine Genealogie der Formen des SelbstBewußtseins zu entwerfen: eine Dialektik, welcher die Haltung unseres eigenen Entwurfes des Bewußt-seins nicht so fern steht. [ HEGELS Entwurf bringt die jetzt zu erörternden Bewußtseinsphilosophien unter ein „idealistisches" Vorzeichen. Er wirkt auf jede Spekulation oder Analytik des Bewußtseins wie ein Anziehungspol und trägt dazu bei, Bewußtsein aus einer Uberformung oder Entfremdung seines naturalen Fundaments zu interpretieren. Eine der beiden in der Nachfolge HEGELS stehenden Strömungen hielt sich näher an die «données immédiates» des Erlebten, d. h. an die Erfahrungswelt des Subjekts (W. JAMES und BERSON), während die andere die Konstittuion des Bewußtseins als Entfaltung der Erkenntnis (HUSSERL) oder der Existenz (HEIDEGGER) begriff und insofern entschiedener idealistisch orientiert blieb. Gleichwohl bildet das Problem der Immanenz oder Transzendenz der Akte oder Strukturen des Bewußtseins den Mittelpunkt jeder Bewußtseinsphilosophie. Wir hoffen im folgenden Exkurs (vornehmlich für die Phänomenologie HUSSERLS) jenes „Kommen-und-Gehen" der Ideen faßbar zu machen, welches in gleicher Weise jedes Bewußt-seins auszeichnet.
§ 1. Die unmittelbaren Gegebenheiten des Bewußtseins und das Problem seiner Struktur bei William James und Bergson Die Konzeption des Bewußtseins als „Erlebnisstrom" bei W. JAMES, die sich bisher jedem Versuch einer „pragmatischen" Erneuerung entzog, und die Bemühung BERGSONS, die «données immédiates» des Bewußtseins in eine intentionale und zeitliche Struktur einzuordnen, werden hier zusammengenommen, weil in ihnen Erleben ausschließlich intuitiv ergriffen und zugleich das Problem der Organisation dieser Erfahrung gestellt wird. I
1
V g l . ARON GURWITSCH: Théorie
du champs
de la conscience,
S. 5 6 - 6 5 .
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a) William James Der „Pluralismus" von W I L L I A M JAMES stellt sich unter den Gesichtspunkt der reinen Erfahrung oder des radikalen Empirismus, wenn ihm Realität weder als endliche noch als unendliche erscheint, sondern schlechthin als undefinierbare: sie „fließt", ohne daß gesagt werden könnte, ob diesem Fluß eine einheitliche Richtung innewohnt. So charakterisierte B E R G S O N 2 diese Philosophie der Erfahrung, von welcher W. JAMES (während seiner berühmten Oxford-Gespräche) wiederum meinte, daß sie alles der BERGSONschen Intuition verdanke. Die Auffassung der Bewußtseins-„Inhalte" hat im Denken von W. JAMES seit seinem 1884 geschriebenen Artikel „The stream of consciousness" 3 gewisse Wandlungen durchlaufen: im Bewußtsein zeigt sich als sein reichster und konkretester Erlebnisbestand ein Fluß von Bewußtseinstatsachen. Sie entfalten sich darin in ihrer ganzen Komplexität und Heterogenität, dabei konstant mit einem Subjektivitätskoeffizienten versehen; solcherart wird Bewußtsein der Introspektion zugänglich, als ungeformter Inhalt, als Gegenstand eines radikal empirischen und intuitiven Wissens. Die Bewußtseinszustände sind zwar am personalen Bewußtsein beteiligt; was aber nicht mehr besagt, als daß sie auf die Aktivität und Existenz eines personalen Ich bezogen, daß sie ein Eigentum dieses Ich sind, im ganzen aber ihm entgegensetzt. Das Fließen dieses Stromes ist irreversibel und unaufhaltbar. Die Kontinuität des Bewußtseins impliziert dabei zweierlei: zunächst muß Bewußtsein, in einer „leeren Zeit" verlaufend, sich mit dem vorangehenden Bewußtseinszustand solidarisch fühlen und darin einen anderen Teil seines Ich wiedererkennen; zum zweiten erfolgen seine qualitativen Veränderungen niemals brüsk. Dieser Sachverhalt läßt sich mit den Worten „Kette" und „Abfolge" nur unzureichend ausdrücken; | man spricht besser von einem stetigen Übergehen oder Fließen. Indessen gliedert sich diese stets wechselnde Bewegung in Phasen. kannte substantivische Zustände, in denen der Gedankenstrom sich feststellt, und transitive Zustände, in welchen er gewissermaßen „fließt". Letztere werden als bewegliche Zwischenstadien vorgestellt, die von einem substantivischen Zustand zum anderen überleiten, womit das Problem der Konstitution zugunsten einer puren Intuition des Sinnes von „Inhalten" oder „Gegebenheiten" ausgeschaltet wird.
W . JAMES
Freilich hat jeder Denkgegenstand eine Franse, dergestalt, daß seine psychischen Begleitumstände, seine „Umfelder" in ihrer Sukzession miteinander interferieren können und in das Bewußtseinsfeld eine Vielfalt simul2 In der Einführung zum „Pragmatism" von W . JAMES, London/New York 1907 [Ubers.: Der Pragmatismus Leipzig 1908]. 3 Diese im „Mind" veröffentlichte Arbeit wurde zum Einleitungskapitel seiner „Principles of psychology".
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taner Gehalte einbringen; diese Ordnung ist aber eine thematische (topische), d. h. auf einen Inhalt zentriert, welcher wie ein Brennpunkt oder ein Gravitationszentrum die aktuellen Gegebenheiten des Bewußtseins versammelt. So gehen die Bewußtseinsdaten Verbindungen untereinander ein und werden dabei durch einen Selektions-ESèkt bestimmt. Die Beziehungen dieses stream of consciousness (W. JAMES erwog einmal den Begriff „sciousness", wie um mit der traditionellen Verwahrlosung des Wortes consciousness zu brechen) zum Ich sind zwiefache. Sie verlaufen einerseits zum Idi (als empirischem und leiblichem Subjekt, das durch die Affektdynamik des Bewußtseins affiziert wird und die subjektiven Modi derjenigen Bewußtseinsdaten widerspiegelt, die als „meine" erkannt werden), andererseits zum (transzendentalen) Ego, in welchem sich das Prinzip der Kontinuität und Einheit des Seelischen konstituiert. Dieses Beziehungsnetz bleibt aber aufgesplittert, insofern sich die Erfahrungselemente des Bewußtseins nicht zu einer festen Struktur zusammenschließen. JAMES' konkrete Bewußtseinszustände oder Bewußtseinsfelder4 bilden letztlich eine kaleidoskopische Heterogenität, zu welcher keine Strukturkonstanz paßt. 1906 distanzierte sich WILLIAM JAMES 5 formell von der Bestimmung des Bewußtseins aus | einer „Qualität des Bewußt-seins", von jener tautologischen Formel, bei welcher „gehässige Leugner" des Bewußtseins so oft eingehakt hatten. Auf dem V. Internationalen Kongreß für Psychologie in Rom 1905 sagte er: „Nach langen Jahren des Zögerns beziehe idi jetzt entschieden Stellung. Bewußtsein, wie man es sich gemeinhin vorstellt, als Einheit, reine Aktuosität, als fließend, unausgedehnt, diaphan und inhaltsleer, dabei aber reflexiv und spirituell - dies Bewußtsein ist eine reine Chimäre; was dies Wort in Wirklichkeit deckt, verdient ganz anders beschrieben zu werden." Das bedeutete offensichtlich eine Einschränkung, welche allein konkrete Phänomene, reine Erlebnisse gelten ließ. Und dann die seltsam widersprüchlichen Schlußfolgerungen dieser feierlichen Mitteilung: „Bewußtsein, wie man es gewöhnlich versteht, gibt es ebensowenig wie jene Materie, der BERKELEY den Gnadenstoß gab. In Wahrheit meint dies Wort jene Empfänglichkeit, welche die erinnerten oder bekannten Erlebnissequenzen für einander haben." Diese „susceptibilité", mit welcher das Problem gelöst werden soll, aber sich erst recht stellt, hält allein noch die Inhalte des Bewußtseins zusammen; wobei dann diese Inhalte die Rolle eines erkannten Gegenstandes annehmen können und jene Inhalte diejenige erkennender Subjekte. JAMES fährt fort: „Beide Rollen sind vollkommen zu bestimmen, ohne die Erlebnissphäre zu verlassen oder Transzendentales einzuführen. Subjekt und Objekt, Vorstellendes oder Vorgestelltes, Sache und Gedanke sind praktische Unterscheidungen größten Gewichtes, aber * Talk to teachers, S. 17 f. 5 Ardi, suisses de psychologie, 1906, S. 1-12.
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solche funktioneller6 Art und keineswegs ontologisdie, wie der klassische Dualismus annahm." Im Endeffekt sind Sachen und Gedanken | dem Grunde nach nicht mehr heterogen, sondern aus demselben Stoff gemacht, ein Stoff, der als solcher nicht definierbar, sondern lediglich erfahrbar ist, und den man, „wenn man so will", ganz allgemein als Stoff des Erlebens bezeichnen kann. Die Wirklichkeit einer Konstitution des Bewußtseins wird hier also nicht mehr gesehen, vielmehr dogmatisch ausgeschlossen. Die Konstitution der Erfahrung, „insoweit" (ein von W. JAMES nicht geschätztes Wort) sie auf ein Thema (eine Topik) zentriert ist, wird allein mit räumlichen Begriffen beschrieben. Diese Art der Deskription ist dann von A. GURWITSCH ( 1 9 5 7 , S. 2 2 6 - 2 9 8 ) wieder aufgegriffen worden, und zwar in einer Perspektive, die das j A M E S s c h e Bewußtsein als eine Struktur erscheinen läßt. Die „Fransen" sind dabei die transitiven Zustände, flüchtige Sphären, welche eine Affinität zum Objekt zeigen und dem Bewußtsein gewissermaßen als Attribut des „substantivischen Teils" des Objekts erscheinen. Faßt man zusammen, so wird hier das Objekt in einer Topik von Bedeutungen genommen, die es zugleich unter bestimmte Vorzeichen stellt. Die Struktur des Bewußtseins wird so zu einer Art Behauptung, die sich aus der Erfahrung zu rechtfertigen hat, zu einem Text, um den sich ein „Kontext" bildet (ein noematischer Kontext, wie uns HUSSERL belehren wird). Es handelt sich also sehr wohl um eine Organisation, um eine Präsenz und Simultaneität, welche mit einer Bedeutungssetzung konform geht, und zwar in fortschreitender Gewärtigung und Entfaltung. Eine solche Gestaltung des Erlebens wurde übrigens im Blick auf die Daten oder den Strom des Bewußtseins in den ersten Untersuchungen seiner Principles von W. JAMES durchaus gesehen; solange er es nämlich ablehnte, den Fluß des Bewußtseins als ein diskontinuierliches Aggregat aufzufassen. So konnte er einmal den „Bewußtseinszustand" als eine Totalität beschreiben, als "a single pulse of subjectivity, a single psychosis, a feeling one state of mind"7. W. JAMES' Denken oszillierte unaufhörlich zwischen der Idee eines originären Chaos der unmittelbaren Gegebenheiten, eines intuitiven Sprudeins und Überfließens des Erlebten - und derjenigen einer selektiven Ordnung dieser «totalités sensibles». | Daß die Bewußtseinstheorie von W. JAMES nur in seinen ersten Schriften formuliert und formulierbar wurde, beruht darauf, daß er in ihnen der Gestaltung des Erlebens eine größere Aufmerksamkeit schenkte als später, wo er sich stärker seiner sinnlichen Fülle zuwandte. An diese ersten Schriften knüpft auch A. GURWITSCH in seinem Versuch an, die J A M E S s c h e Theorie des Bewußtseinsfeldes der Gestalttheorie (bzw. die ursprüngliche Theorie von JAMES der ursprünglichen Theorie der Gestaltqualitäten), ja selbst HUSSERLS
β JAMES setzte dieses Wort kursiv. S. 2 7 7 .
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noetisch-noematisdier Strukturlehre anzunähern. Man könnte die Formulierung wagen, daß der von JAMES erarbeitete Gesichtspunkt purer Erlebnishaftigkeit des Bewußtseins das Problem seiner Konstitution keineswegs aus der Welt schafft, sondern allererst stellt.
b) H. Bergson8 bemerkte kürzlich9 über jene erstaunliche Beschreibung der Wahrnehmungswelt, die B E R G S O N 1 0 gab: „Noch nie hatte man bisher diesen Kreis zwischen Sein und Idi erfaßt, der das Sein ,für mich' zum Zuschauer werden läßt und umgekehrt mich zum Zuschauer ,für das Sein'. Bewußtsein ersteht geradezu aus diesem Gegenwurf der Welt auf mich, aus diesem Schlag, den das Leben gegen sein Erkennen führt." Dieses gegenläufige Sein, welchem nach J . DELHOMME notwendig eine Negativität zugeordnet ist, wurde für B E R G S O N ZU eigentlichen Gegenstand des *cogito temporel»; Bewußtsein wird als als Intervall der Aktualität, als Aktion begriffen. Das temporale Cogito, das in der Tat den Kern der Bewußtseinsphilosophie BERGSONS ausmacht, schafft das Leben selbst zu einem Bewußtsein um, I insofern dieses „ . . . sich zurücknehmen, reflektieren und in einer Dauer sammeln kann, deren dynamische Strukturen Gedächtnis, Handlung, Interesse und Freiheit sind, Vollzüge also, die den Körper und sein Gehirn passieren, diese zugleich aber auch mittels jener Temporalität überholen, welche die Verfügbarkeit des Ich ausmacht"11. M . MERLEAU-PONTY
Wenn Bewußtsein sich zum Leben koextensiv verhält, so kann es nicht ausschließlich aus den Bereichen der Vitalität und des Instinktes begriffen werden. Bewußtsein entsteht gerade in jenem Sprung, welcher vom Instinkt zur Intelligenz überleitet. Der ausschließlich organisch bestimmte Instinkt ist gewissermaßen ein durch seine eigene Prädeterminiertheit nichtig gemachtes Bewußtsein - Vollzug ohne Repräsentation. Zu ihr kommt es erst, wenn der Instinkt sich an der Realität bricht. Bewußtsein der Lebewesen läßt sich als arithmetische Differenz zwischen virtueller und faktischer Aktivität bestimmen; es ist das Maß des Sprunges von der Handlung zur Repräsentation12. Damit ist dann Bewußtsein kein reines Vitalphänomen mehr, es gründet sich auf das räumliche Gefüge der Intelligenz. In der 8
Wir zitieren die Werke BERGSONS hier nach ihren Anfangsbuchstaben: Les données immédiates de la Conscience (D. I.), Matière et Mémoire (M. u. M.), L'évolution créatrice (E. C.), L'énergie spirituelle (E. S.), La pensée et le mouvant (P. M.). Seitenangabe nach den Œuvres, Presses Universitaires de France 1959.
» SIGNES, S . 2 3 3 . 10 11 12
Im ersten Kapitel von M. u. M. E. C., S. 645-653 und E. S., S. 815-836. E. C., S. 618.
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Philosophie BERGSONS artikuliert Bewußtsein die Dauer und den Raum, und zwar als Leistung einer «attention de la vie», deren Träger das Gehirn ist13. Bewußtsein fügt sich in die Kontingenz möglicher Zusammenhänge als eine Realität ein, und zwar quer zu dieser Kontingenz, derer es sich entledigte. Bewußtsein ist «se faisant»14. So zeigt sich für uns die Grundauffassung BERGSONS, von welchem M E R L E A U - P O N T Y sagen konnte, er selbst sei «se faisant» gewesen. Bewußtsein ist also eine „Form" des Lebens, kein „Punkt", sondern die Struktur der Artikulation von Leib und Geist. Wie in einer Unbestimmtheitszone schließen sich in ihm jene Dynamismen zusammen, aus welchen dann die Handlung hervorgeht. Bewußtsein ist Verlangen nach Schöpfung15. Ist Handeln nicht mehr freie Wahl, so zieht sich das Bewußtsein aus ihm zurück. | Diese Möglichkeit des Bewußtseins, über die Zeit fakultativ zu verfügen - eine in seiner Temporalität begründete Freiheit - läßt es Künftiges vorwegnehmen und auf Vergangenes zurückkommen, wobei das Gedächtnis diese Fakultas begründet. In diesem Sinne ist für B E R G S O N das Bewußtsein an die Leistung der reinen Erinnerung gebunden. Bewußtsein bedeutet zunächst Gedächtnis16, insofern es Aufmerksamkeit und Erwartung ist. Die eigentliche Leistung des Bewußt-seins ist seine Entfaltung in der Zeit; Materie ist (wie schon bei L E I B N I Z ) nichts als Geist, festgebannt ins Augenblickliche. In dieser Bewegung, die das Sein der Sukzession der Augenblicklichkeit, dem Ablauf in der Dauer entreißt, bekundet sich das Wesen des Bewußtseins; BERGSON erläutert seine Leistung: „ . . . es behält das Gewesene ein und ersteht auf ihm nach Maßgabe der Entfaltung der Zeit." 17 Aus der Unmittelbarkeit instinktiv-animalischen Verhaltens entwirft sich - im Verlauf einer schöpferischen Entwicklung - der Bewußtseinsakt in seine eigene, neuartige Dauer. Dieser Akt ist wesentlich Aktualisierung, in bestimmter Hinsicht auch Reduplikation, insofern er eine Verdoppelung des Präsenten bewirkt. B E R G S O N sieht das Bewußtsein indessen nicht nur als Aktualisierung des in der Aufmerksamkeit gegenständlich gewordenen Erlebens, er verknüpft es auch mit dem Ich. In der Tat könnte seine Beschreibung des Ich18 für das Bewußtsein gelten: „ . . . daß nämlich das Ich, zu Unrecht oder zu Recht, den Leib, an den es doch geknüpft ist, nach allen Seiten überragt und ihn sowohl in der Zeit als auch im Raum übersteigt." 19
» M. u. M., S. 310 und E. C., S. 717-718, E. S., S. 850-852. M E. C„ S. 696-703. 18 E. C., S. 716. i« E. S., S. 818. 1 7 E. S., S. 921. 18
Vornehmlich in den Données immédiates, S. 85-91.
» E. S., S. 838.
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So umfaßt Bewußtsein in der Philosophie B E R G S O N S - ihrer ersten Intuition entgegen - letztlich auch das Ich in der Fülle seiner mnestischen, perzeptiven und intellektuellen Verweisungen. Es liefert gerade die Charakteristik der Wahrnehmung, wie sie in den Données immédiates20 versucht wird, aufschlußreiche Beschreibungen der Konstitution symbolischer Räumlichkeit und Zeitlichkeit, d. h. der Simultaneity. I In Matière et mémoire erfolgen dann die bekannten Untersuchungen über die Bewegung und deren Interpretation als «durée réelle» eines basalen Ich, wo die Vielfalt des Seienden sich in der Einheit eines freien Aktes begründet. Im dritten Kapitel desselben Werkes erörtert B E R G S O N die Bewegung in ihrem Bezug zur Räumlichkeit und vollzieht den Übergang vom Spiel des Gedächtnisses zum imaginativ Geistigen; Ubergang wird motiviert durch eine gewissermaßen hochgespannte «durée», welche sich mit dem homogenen Raum nicht zusammenfügt. Das ganze Werk dieses Philosophen durchzieht die Bemühung, die Bewußtseinsdynamik als eine «explicitation», als eine «détente» zu beschreiben, welche sich nur in der endlichen Ordnung dessen entfalten können, was J . D E L H O M M E «expérience intégrale» nennt - in einem Erleben also, das durch die Freiheit des Handelns integriert wird, dabei seinerseits die Intuitionen des «élan vital» integrierend. Hatte W. JAMES die Konzeption eines strukturierten Bewußtseins, die ihm mit dem Fließen der erlebten Gestalt unvereinbar schien, abgelehnt, so nahm B E R G S O N Instinkt und Intelligenz als artikulierte Strukturen des Erlebnisfeldes zusammen. Damit hat er recht eigentlich das Präsenzfeld oder Bewußtseinsfeld zur Basis seiner Philosophie gemacht. Wenn diese Philosophie, welche bekanntlich viele Stadien durchlief, zunächst auch Materie und Gedächtnis, Geist und Gehirn zu trennen schien, so hat sie dann doch an sich selbst eine Art schöpferischer Entwicklung durchgemacht und mit dem Begriff der spirituellen Energie Leib und Denken stärker verknüpft als gesondert; das Gehirn - nicht mehr nur Organ einer «mouvement dans l'espace» - wurde zum Träger der attentiven Haltung und damit der Freiheit. Dieser biologische Dynamismus könnte von denjenigen verworfen werden, welche leugnen, daß Bewußtsein audi natural und nicht allein geschichtlich zu begründen sei. Wird aber Bewußtsein als leiblich mitkonstituiertes bejaht, so trug niemand mehr als B E R G S O N dazu bei, ihm diesen Platz einzuräumen. I § 2. Die
Phänomenologie
Die Phänomenologie will zu den Sachen selbst gelangen, zur Konstitution des Seienden als Schichtung und Verflechtung jener Akte, in denen es sich 20 S. 55-72.
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schließlich als Bedeutungskern ausweist. Dieser Zugang zu Seiendem - und zwar zu Existierendem, zu menschlich Seiendem - gründet in einer (eidetischen) Wesensschau, in einer Reflexion auf die Akte, welche für die reziproke Beziehung von Objektivität und Subjektivität konstitutiv sind. Phänomenologie will Bewußtsein in seiner intentionalen Struktur fassen und bedient sich dabei einer Reflexion, die Objektives und Subjektives in ihrem wechselseitigen Verhältnis klärt. Weder „naturalistisch" oder „empiristisch", noch „logisch" oder „psychologisch", gilt die Phänomenologie als ein spezifischer Ansatz, den man immer wieder daraufhin befragte, ob er nun rein idealistisch sei oder nicht, ob „rationalistisch" oder nicht; ein Ansatz, welcher aber einer Transzendentalphilosophie gewiß näherliegt, insofern die hier geübte Methode einer „Reduktion" der natürlichen Einstellung zu einem Transzendieren der unmittelbaren Erfahrungswelt führt. a) Edmund Husserl „HUSSERLS Phänomenologie wendet sich gegen den ,Psydiologismus' und die in ihm vollzogene Gleichsetzung von Psychischem und intentionalem Gegenstand. An dieser Stelle bemüht die Phänomenologie den Transzendenzbegriff, wobei aber die Ausrichtung des Bewußtseins auf seinen Gegenstand für HUSSERL eine andere Bewegung verdeckt, welche man die subjektive nennen könnte; diese Bezeichnung würde aber nicht treffen, da es sich hier nicht um eine einfache psychische Bewegung handelt, sondern um eine intentionale Gegebenheit. Diese Sphäre, in welcher für HUSSERL Gegenständlichkeit letztlich ihren Raum erhält, ist eine andere als diejenige des selbstbewußten Subjekts. Sie wird beschrieben als Horizont oder .Hintergrund' der Gegenstände." | Wir zitieren aus der wichtigen Arbeit von EMMANUEL LINAS21, in welcher die Diskussion über die Prinzipien und Schwierigkeiten des HussERLschen Werkes besonders klar wird.
α) Ziel und Methode der Phänomenologie Die „Reduktion", wie sie innerhalb der phänomenologischen Fundamental-Reflexion erstmals in den Ideen 1913 beschrieben wurde, überholt zunächst die natürliche Einstellung; im Ergreifen der „hyletischen" Momente läßt sie dann auch die materielle und noetische Schicht des phänomenalen Seins hinter sich22, um endlich zu den eidetischen Zusammenhängen vorzudringen: zu Strukturen des transzendentalen Bewußtseins. Blickt man auf diese Etappen phänomenologischer Askese, so fragt man sich, ob die Phänomenologie nun eine Philosophie der Transzendenz oder (realistischer bzw. zi Rev. philos., 1959. 22 Ideen I, S. 175.
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idealistischer) Immanenz sei. Hier tut sich offenbar ein Doppelsinn auf, der oft zu Zweifeln veranlaßte 23 . Offenbar erledigt aber die Phänomenologie solche Fragen durch ihr eigenes Vorgehen. Denn es liegt in der Grundabsicht der phänomenologischen Einstellung, „die Domäne des Bewußtseins vom Ganzen der natürlichen Welt abzulösen" und damit eine Sphäre „reinen Bewußtseins" zu gewinnen, in welcher sich Gegenstände, Erlebnisse und Bedeutungen verflechten. Bewußtsein wird hier als diese Verflechtung vorgestellt. Die Reduktion (εποχή) bedeutet eine Wendung des Subjekts, in welcher es sich von der Begrenzung der natürlichen Einstellung freimacht. In ihr vollzieht sich eine „Reinigung", eine Entlastung durch „Einklammerung" aller empirischen Bestimmungen, welche das Subjekt für sich selbst undurchsichtig machen, indem sie es als einen mundanen Sachverhalt erscheinen lassen, wo es doch diesen eigentlich „fundiert". Diese Reduktion enthüllt die Welt als ein Korrelat des Bewußtseins, | und zwar eines absoluten Bewußtseins. In diesem reduktiven Vollzug, auf dem Höhepunkt dieser Askese gewissermaßen, kommt eine Transzendenz höherer Ordnung in den Blick: die Struktur einer Intentionalität, welche in gleicher Weise für das Ich und für die Welt leistende wird. Entscheidend ist aber nun, daß diese „phänomenologische Reduktion", wenn sie in die Transzendenz eines stets „reiner" werdenden Bewußtseins vordringt, wenn sie Einschläge der natürlichen Einstellung immer mehr aus sich entfernt und die Sachwelt bis zu einer absoluten Vernunft hinaufidealisiert, gleichwohl weder die Realität des Erlebten, nodi diejenige der Sachen oder der Natur unterdrückt. Die phänomenologische „Askese" soll zeigen, daß es möglich ist, eine Wissenschaft in Gang zu bringen, die nicht empirisch, sondern „eidetisch" fundiert ist (wobei εΐδος im Sinne von Wesen genommen wird). Die Region des Bewußtseins ist nun ausgezeichnet als diejenige der Wesenheiten. Sie ist der Region „Natur" nicht etwa gleichzuordnen, sondern sie umschließt diese; Natur ist demnach aus dem Bewußtsein nicht ausgeschlossen, sie wird von ihm vielmehr eingeholt. Was sich der eidetischen Intuition zeigt, ist das reine Wesen, wobei diese Intuition zugleich bestimmte Strukturen der Subjektivität einschließt. Die empiristische Behauptung, das Erleben (und insbesondere die Intuition) seien aus der sinnlichen Erfahrung abzuleiten, und die idealistische Gegenthese, welche jeden Erfahrungseinschlag der reinen Intentionalität leugnet, erscheinen HUSSERL in gleicher Weise unhaltbar, ja absurd. Phänomenologie und Bewußtsein ist gewissermaßen gemeinsam, daß sie der Welt den ihr eigenen Sinn geben, wobei dieser zugleich Sinn des konstituierenden Bewußtseins ist. Wir beabsichtigen keinen Beitrag zu dieser metaphysischen 23
Ζ. B. in R. BOEHMS Untersuchung (Rev. philos. 1959) oder bei ROMAN INGARDEN
in Husserl et la pensée contemporaine, 1959.
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Reflexion über die Reflexion und bemerken lediglich, daß das Problem der Immanenz oder Transzendenz des Bewußtseins sicher nicht einseitig zu lösen ist. Der Sinn der Phänomenologie H U S S E R L S liegt vielmehr darin, diese Doppeldeutigkeit der Seinskonstitution auszuhalten. Für die anthropologischen Wissenschaften (Psychologie, Psychiatrie usw.) stellt sich nun die ernste Frage, welchen Nutzen sie aus einer Phänomenologie ziehen können, von welcher H U S S E R L sagte, daß er mit ihr endgültig das Gebiet der | deskriptiven Psychologie24 verlasse und daß sie sich unterhalb eines Erfahrungswissens einrichte, das der natürlichen Einstellung entspringt - was ihn übrigens nicht hindert, über die natürliche Einstellung zu reflektieren: «car il y a aussi une vérité de l'attitude naturelle», wie M E R L E A U - P O N T Y einmal bemerkt25. Wir skizzieren zunächst die Grundlinien des HussERLschen Werkes, wie sie sich aus seinen zahlreichen Einzeluntersuchungen ergeben, um den Sinn des hier gestellten Problems klar zu fassen26. ß) Die Konstitution des transzendentalen Bewußtseins Stellten sich derart Absicht und Methode der Phänomenologie dar, so ist jetzt zu bestimmen, was sich der Wesensschau zeigt und wie sie es faßt. In der phänomenologischen Einstellung muß zur Klarheit gebracht werden, in welcher Weise die Strukturen artikulieren, die für die Reflexion konstitutive Bedeutung haben; denn die Reflexion schafft offenbar, inmitten des Seienden, dessen Sinn, und zwar - über alle Verknüpfungen oder Unterschiedenheiten dieses Seienden hinweg - als Struktur eines Bewußtseins. Im Gang der 24
25
Diese Haltung nahm HUSSERL seit 1907 ein (vgl. den von H . D U S S O R T 1959 in der Revue philosophique veröffentlichten Text S. 438). SIGNES, S . 204-209. Zu den bloßen Sachen gehen, meint eine aufsteigende Bewegung, welche sich zwar nicht von jeder Weltthesis löst, aber dodi das Halbdunkel der Meinungen (der δόξα) in den Blidc zu nehmen sucht, aus denen diese Thesis entspringt. Eine solche Wendung zur vortheoretischen Konstitution, zu den Vor-Gegebenheiten des Bewußtseins vollzieht die Phänomenologie endgültig in Ideen II und III. Am Ende erscheint die Phänomenologie - so schließt auch M E R L E A U - P O N T Y ( S . 208) - weder als Materialismus noch als Philosophie des Geistes. Unentbehrlich für diesen Exkurs in ein so schwieriges Gebiet waren: Vorwort und Übersetzung der Ideen I von P A U L R I C O E U R ( 1 9 1 3 ) , das Werk von LÉVINAS ( 1 9 3 0 ) , die Arbeiten von D U R V O R T , VUILLERMAN, R . BOEHM und M U R A L L in der Revue philosophique ( 1 9 5 9 ) , das HUSSERL gewidmete 6 . Kapitel der Signes ( 1 9 6 0 ) von M E R L E A U - P O N T Y und der Band HUSSERL et la pensée contemporaine ( 1 9 5 9 ) . Im Mittelpunkt unseres Überblicks stehen die Ideen I, das erste grundlegende Werk HUSSERLS, in welchem die Strukturen des „reinen Bewußtseins" beschrieben werden. Wir verkennen dabei nicht die Bedeutung der Ideen II und III und den von der Phänomenologie dort vollzogenen „Abstieg" zur Natur, zur Sphäre der „Urpräsenz" und des „Praereflexiven", welcher M E R L E A U - P O N T Y eine so leidenschaftliche Aufmerksamkeit zuwandte.
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phänomenologischen Reduktion I vereinigen sich die aktuellen und virtuellen Vollzüge des Bewußtseins zur Konstitution des Erlebten. Wir erinnern hier kurz die verschiedenen Ebenen dieser Konstitution, wie sie in den Ideen dargestellt wurden, und zeichnen die entscheidenden Züge ihrer Gliederung nach. Als Absprang dient uns die Reduktion der „Thesis der natürlichen Einstellung". Mit ihr setzten die phänomenologischen Fundamentalbetrachtungen27 ein. Das Sein des Bewußtseins ist unmittelbare Anschauung; die darin umfaßten Gegenständlichkeiten werden in einem Anschauungs-Feld mitbewußt. Dieses Feld wird zugleich von einem Abschattungshorizont unbestimmter Realität umschlossen. Dies gilt für Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Erlebens in gleicher Weise. Das Auftauchen, die Variationen und Differenzierungen der Erscheinungen im Anschauungsfeld bekunden mein Wachbewußtsein. So ist Bewußtsein als ein zugleich implizierendes und impliziertes Sein nichts Sachhaltiges, sondern eine Welt der Werte und Bindungen. (Die Zeithorizonte des Gegenwartbewußtseins wurden von HUSSERL vor allem in § 8 2 ausführlich beschrieben.) Alle diese „Erscheinungen", diese „Data", die Fülle der affektiven und volitiven Akte können Gegenstand des Cogito werden. Dieses Cogito richtet sich auf das, was „seinerseits" (als cogitatum) irreflexiv ist, was aber „meinerseits" (insofern idi mich darauf richte) auch keine Gegenstandsqualität mehr hat. Auf diese Weise wird zwischen natürlicher Welt (der „Welt" in gewöhnlichem Wortsinne) und Bewußtsein eine Ebene geschaffen, welche beide zugleich trennt und verknüpft. HUSSERL beläßt es nun nicht bei der natürlichen Einstellung, in welcher diese Bilateralität nur hingenommen werden kann; er veranlaßt vielmehr zu einer radikalen Wendung des Blicks. Er stellt in bezug auf das von ihm zu Beschreibende alle Seinssetzungen in Frage. Auch der cartesisdhe Zweifelsversuch erreicht für ihn das Sein des Bewußtseins nicht und gibt keine Klarheit über ein Sein, das er doch weiterbestehen läßt. Entscheidend ist vielmehr, die natürliche Realität zu suspendieren, | ohne sie zu verneinen - eine Einstellung, welche HUSSERL unter den Titel der „Einklammerung" bringt; in gleicher Weise wird auch die Generalthesis der natürlichen Einstellung „außer Kurs" gesetzt. Dabei geht es nicht darum, die Welt nach Art der Sophisten zu leugnen oder sie nach Art der Skeptiker zu bezweifeln; es soll die Sicht auf sie lediglich von allen Urteilen über eine raumzeitlidie Existenz gereinigt werden. Die Welt wird auf diese Weise in das Erleben aufgenommen, aber um sie zu bezeugen, nicht um sie zu bestreiten (31-32) 3 .
» Ideen I, § 27. 28 Signes, S. 219. a Die eingeklammerten Zahlen bezeichnen hier und auf den folgenden Seiten die entsprechenden Paragraphen von HUSSERLS Ideen I.
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Was bleibt, wenn die ganze Welt und wir selbst mit ihr der Einklammerung verfallen? Gewiß nicht - so M E R L E A U - P O N T Y 2 8 - ein solus ipse, sondern die Kompräsenz meines Bewußtseins mit meinem Leib als Ort einer originären Konstitution dessen, was HUSSERL „Urempfindung" nennt. Nehmen wir etwa den Fall einer Wahrnehmung. Wenn „ich wahrnehme" und mich darauf einstelle, daß idi wahrnehme, so eröffnet sich meiner Einsicht ein ganzer Hintergrund von Strukturen, der sich in ähnlicher Weise bei allen anderen Erlebnissen (Erinnerungen, Vorstellungen usw.) zeigen läßt; er begleitet jedes Erlebte als solches, geht ihm voran oder folgt ihm, denn der Ablauf des Erlebens kann sich als ganzer nie in reiner Aktualität konstituieren. Aktuell Erlebtes ist stets von einem Hof des Inaktuellen umschlossen. Die eidetische Analyse macht klar, daß dieCogitatio sich einem intentionalen Gegenstand zuwendet; der Blick erfährt demnach eine reflexive Wendung, in welcher das Objekt zum Gegenstand innerer Wahrnehmung wird (38). Die eidetische Verfassung dieses mit der natürlichen Welt verknüpften Erlebnisflusses - wir haben die natürliche Einteilung noch nicht verlassen ist nun als sinnliche Erfahrung (eines leiblich fundierten Individuums) besdireibbar, insofern dieser Fluß an die Welt der Materialität gebunden ist und durch einen Menschen oder allgemein durch Lebewesen (ammalia) getragen wird. Die phänomenologische Analyse muß jetzt auch diese Gebundenheit einklammern. Das Erlebte trägt nicht den Charakter eines „Bildes", da es als Erlebtes unmittelbar zugänglich wird; dagegen kann sich das in der üblichen Wahrnehmung Gegebene nur als „Bild" darstellen, insofern Wahrnehmung beim phänomenalen Sein der Sachen verharrtb. Das immanente Sein des Erlebten ist zugleich absolutes Sein; faßbar und wahrnehmbar wird es nur im Vollzug der Reflexion. Wir sehen hier, | wie sich Bewußtsein und natürliche Welt voneinander lösen, ein Vorgang, welcher das eigentliche Ziel der Phänomenologie zeigt: in die Region und Struktur eines reinen Bewußtseins vorzudringen (40-46). Die Strukturen des reinen Bewußtseins, d. h. ihre „Urkonstitution", bilden Entsprechungen zwischen der geschauten Gegenständlichkeit als solcher (dem Noema) und der vom Bewußtsein selbst geleisteten Anschauung (Noesis). Daß das Noema die Objekt-Seite des Bewußtseins, die Noesis seine Subjekt-Seite darstelle, betont auch R I C O E U R (S. XXI). Die Intentionalität, welche diese Konstitution begründet, fungiert reziprok: sie richtet sich vom Subjekt auf den Gegenstand und umgekehrt (84). Es geht hier offensichtlich nicht um eine „psychologische" Bestimmung des Erlebens, sondern um eine fundamentale Reflexion auf Erfahrung. Diese Reflexion b
Diese Sonderung von phänomenologisch gerichtetem Erleben und „üblicher Wahrnehmung" in bezug auf den Bild-Charakter des Erlebten ist aber aus HUSSERLS Analysen (insbes. aus § 4 3 , auf welchen E Y sich hier, wie bereits S. 16, bezieht) nicht zu entnehmen.
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bewegt sich in einer Sphäre reiner Gegebenheiten, welche zugleich subjektiv und objektiv ausgerichtet ist. Alle Erlebnisse, der für die Einheit des Bewußtseins konstitutive Erlebnisstrom, enthalten Sinnesdaten, die mit der Intentionalität im Vollzug einer Sinn-gebung verschmelzen, insofern die sinnliche ΰλη als intentionale μορφή erlebt wird. So verhält es sich mit dem noetischen Moment oder der Noesis (85). H U S S E R L sieht schließlich in diesen hyletischen und noetischen Momenten die „reellen Momente" des Erlebens (97). Die Konstitution der Bewußtseinstranszendenzen (der Trilogie von Ich, Temporalität und ύλη, deren Proto-Konstitution R I C O E U R in den Ideen angezielt sieht), richtet sich vornehmlich auf die noematische Sphäre. Mit dem noetischen Moment hängt zusammen, daß jedes intentionale Erlebnis 29 als Erlebnis in sich etwas verbirgt. | Den vielgestaltigen Data, welche sich in der Noesis zusammenschließen, entspricht eine Vielfalt von „Data", die sich in der reinen Anschauung zeigen und als solche deren noematischen Bestand ausmachen. Jede Wahrnehmung hat ihr Noema im Erlebten als solchem, und das gilt für alle Schichten intentionalen Erlebens. Die Erinnerung wird in der Reduktion zur Erinnerung als solcher. Alle Erlebnisse haben ihren noematischen Sinn (namentlich die „doxischen" Vollzüge, die urteilenden, meinenden und sonstigen „Setzungen"). Innerhalb des noetisch-noematischen Rahmens formen sich als „doxische" Modifikationen die aktuellen oder potentiellen „Setzungen": Einbettungen des „Logos", und zwar sowohl in signifikativer wie in expressiver Hinsicht (95-126). Im vierten und letzten Teil seines Werkes faßt H U S S E R L ein Problem an, daß in unserer Studie außer Betracht bleiben kann: die Beziehung des Noema zum Gegenstand (FINK) und zum rationalen Bewußtsein, insofern letzteres die formale Leere des Signifikativen mit Präsentischem erfüllt und die puren Bedeutungen mit Gegenwartskoeffizienten versieht, was eine Art Vollendung der Realität bedeutet. Mit der Methode der Reduktion, die für ihn selbst, wie M E R L E A U - P O N T Y bemerkt, stets eine geheimnisvolle Möglichkeit geblieben ist, gewann H U S S E R L dem Bewußtsein seine konstitutiven Sinn- und Wesensgefüge ab. Dieses reduzierte und reine Bewußtsein kann indessen nicht die Welt reduzieren; es fundiert diese Welt, indem es sie in sich aufnimmt, indem es sie setzt oder sich vor-stellt (RICOEUR). „Gebende" Anschauung und „Erfassen", bilden in den konstitutiven Vollzügen des Bewußtseins einen Kreisprozeß, reduzieren die Welt nicht zur abhängigen Variablen einer legislativ-formalen Bewußtseinsinstanz im Kantischen Sinne, sondern lassen sie aus einer 29
„Noetische" Momente sind nach HUSSERL (88) die Blickwendung des reinen Ich auf den Gegenstand, wie er, kraft Sinn-gebung, dem Idi erscheint; des weiteren das Erfassen des Gegenstandes und sein Festhalten, wenn der Blidc sich schon auf andere Gegenstände richtete. Weiterhin vielfältige Vollzüge der Beziehungsstiftung und der globalen Apprehension, alle möglichen Weisen des Meinens, Vermutens oder Urteilens.
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Präsenz hervorgehen, deren Realität zugleich diejenige des Bewußtseins ist, das sich auf diese Welt bezieht und sie ineins damit schafft. Diese - übrigens anfechtbare - Bestimmung des metaphysischen Sinnes der Ideen mag genügen, um erneut zu zeigen, wie sehr HUSSERLS Phänomenologie geeignet war, Gegenstand einer Idealismus-Realismus-Kontroverse zu werden. | Uns kommt es vornehmlich darauf an, die Dynamik dieses Denkens spürbar zu machen, welche zwischen Erleben und Vernunft hin und her schwingt, so als sei diese Bewegung der Puls des Seins, insbesondere des Bewußt-seins selbst. Der „reelle" Bestand, welcher der Konstitution des Bewußtseins entspricht, ist also weder die Sache, noch eine bestimmte Verfassung der Erkenntnis, die ihm doch äußerlich bliebe; reell ist das vom Cogito erfaßte immanente Gefüge, handle es sich nun um die Einbeziehung nicht-intentionaler Materialität in das Cogito oder um diejenige der Cogitatio in den Erlebnisfluß (§ 38, 69). Als sinnlicher und evidenter Bestand ist dieses Reelle der ausgezeichnete Gegenstand der Phänomenologie HUSSERLS. A U S der entschiedenen Überwindung des cartesianischen Dualismus folgt für HUSSERL, daß er jede Wahl zwischen Außen und Innen, zwischen äußerer Wahrnehmung und Idee ablehnt und diese Dichotomien durch die Vielfalt konstituierender Leistungen des Bewußtseins ersetzt. Wenn wir L U D W I G L A N D G R E B E richtig verstehen 30 , so ist die Konstitution des Bewußtseins mit diesem Gefüge von Leistungen gleichzusetzen, das unaufhörlich vergeht und sich wiederherstellt, indem es von demjenigen, was sich gibt, zu demjenigen, was es ergreift, übergeht. Zuletzt schlägt also der HussERLsche Idealismus in sich selbst zurück, um „die Sachen selbst" als Konstituentien des Bewußtseins in den Griff zu bekommen. Wir sehen in der von HUSSERL vollzogenen radikalen Reflexion ein Fundament unseres eigenen Versuches 31 . I γ) Das Problem des psychologischen Bewußtseins Aber verlassen wir den unsicheren Boden der Metaphysik und fassen zwei für unsere Bewußtseinskonzeption wesentliche Fragen ins Auge: verso
Wenn das Konstituierende letztlich passive Konstitution ist, so zeigt dies, daß die konstituierende transzendentale Subjektivität, das konstituierende und absolute .transzendentale Leben nicht mit dem selbstherrlichen kartesianischen Ego cogito gleichgesetzt werden kann; Konstitution ist im Gegenteil letztlich ein Vorgang, den das transzendentale Leben nidit beherrscht, sondern dem es verfällt . . . " HUSSERL et notre époque, in HUSSERL et la pensée contemporaine, S. 227. 51 Wir hätten hier einer weiteren Ontologie der Realitätsschichten einen bedeutsamen Platz einräumen können, derjenigen NICOLAI HARTMANNS (Grundlagen einer Metaphysik der Erkenntnis, Berlin, 4. Aufl. 1949); vgl. auch die drei Untersuchungen von J. WAHL, Centre de Documentation universitaire, und die Dissertation von R. K. BRETON.
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neint die transzendentale Phänomenologie die Möglichkeit einer „Psychologie des Bewußtseins", wenn sie das psychologische Bewußtsein auf ein reines Bewußtsein reduziert? - Welche Bedeutung hat überhaupt eine Phänomenologie des „reinen Bewußtseins" für das psychologische Problem der Bewußtseinsstruktur? Was den ersten Punkt angeht, sahen wir schon, daß die εποχή die Welt zwar ausschaltet, aber doch nur auf dem Wege der Einklammerung, daß sie die natürliche Einstellung überwindet, nicht jedoch deren Gegenstand anulliert. Die Beziehungen der Psychologie zur Phänomenologie liegen dagegen nicht so einfach. Hierzu sagt HUSSERL32: „Was nun die materialen eidetischen Sphären anbelangt, so ist für uns eine in solcher Weise ausgezeichnet, daß selbstverständlich an ihre Ausschaltung nicht gedacht werden kann: das ist die Wesenssphäre des phänomenologisch gereinigten Bewußtseins selbst." Die Möglichkeit einer phänomenologischen Psychologie (ein in so vielen zeitgenössischen Arbeiten verwendeter Ausdruck) scheint damit gesichert. Daraus erhellt wieder die Bedeutung der Seins-„Regionen", also die Konzeption einer Art ontologischer Hierarchie. Die regionalen Indizes der naturalen Sphäre tauchen samt der dazugehörigen Kategorie des Leibes 3 3 auf dem eidetischen Reflexionsniveau wieder auf. Wenn nicht in der empirischen Psychologie, so wird diese Seinsstruktur mehr oder minder in einer phänomenologischen Psychologie angezielt. Mit zahlreichen Autoren, die dazu besser als wir legitimiert sind und ähnlich urteilen, betonen wir also, daß die Ausschaltung der Gegenstände der natürlichen Erkenntnis oder der empirisch-naturalistischen Wissenschaften | keine Schmälerung des Wertes dieser Wissenschaften bedeutet, selbst wenn sie in der εποχή übersprungen werden. HUSSERLS Sicht des psychologischen Bewußtseins wurde in den § § 5 3 und 54 seiner Ideen klar formuliert. Bewußtsein ist als reale Gegebenheit in das Ganze dieser Welt eingeordnet; real wird es nur in der Beziehung zu einem Leib, und zwar als humanes oder animalisches Bewußtsein. Diese Leiblichung des Bewußtseins ist auch die Bedingung jeder Intersubjektivität. Dagegen kann ein reines Bewußtsein ohne seine psychophysischen Verknüpfungen gedacht werden; es nicht wesenhaft leiblich, wie aus folgendem, häufig kommentierten HussERL-Satz hervorgeht: „Sicherlich ist ein leibloses und, so paradox es klingt, wohl auch seelenloses, nicht menschliche Leiblichkeit beseelendes Bewußtsein denkbar 34 . Insofern Phänomenologie die Struktur eines reinen Bewußtseins zu fassen versucht, überspringt sie notwendig diejenigen Bewußtseinsbestände, welche ausschließlich real und natural konstituiert sind. Phänomenologie bleibt noch möglich, wie vor allem im § 76 der Ideen gezeigt wird, wenn die Gegen-
32 Ideen I, § 60. Ideen I, § 17 und Ideen II. 34 Ideen I, § 54, 105. 33
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stände der empirischen Psychologie mit denjenigen der intentionalen Psychologie, wie sie den anfänglichen eidetischen Analysen vorschwebte, verschmelzen. Das scheint uns ganz wesentlich, denn schon in den ersten reduktiv geprägten Erlebnisanalysen, den „Beschreibungen" und ursprünglichen „transzendentalen Untersuchungen" formte sich für H U S S E R L eine Strukturanalytik des Bewußtseins heraus, welche vor das Ziel der Wesensstruktur eines reinen Bewußtseins die Untersuchung seiner realen Organisation setzte. Eben diese reale Fundierung hatte H U S S E R L seit seinen ersten Schriften, namentlich in der fünften seiner Logischen Untersuchungen betont. I Die zweite Frage gilt dem Nutzen, den die transzendentale Phänomenologie oder die Struktur eines reinen Bewußtseins für eine eidetische Wissenschaft haben können, welche der naturwissenschaftlichen Psychologie35 näher steht, d. h. für eine intentional orientierte Strukturpsychologie des Bewußtseins. H U S S E R L S Antwort darauf lautete stets36, die Ausschaltung der natürlichen Realitäten und der ihnen zugeordneten Wissenschaften bedeute keineswegs, daß diese ein Nichts seien; in den vorgängigen phänomenologischen Reduktionen empfangen diese Wissenschaften vielmehr ihre Methode (oder deren Gegenstände ihre Letztbegründung). Was die Phänomenologie selbst angeht, so liefert in der Tat allein sie den Zugang zur realen Struktur des Bewußtseins; diese Struktur ist als solche - wir wiederholen es - kein Artefakt, seine Abstraktion, sie ist vielmehr angelegt und verwiesen auf eine (phänomenologisch begründbare) ideale Seinsform. Innerhalb der Phänomenologie selbst stellt sich Bewußtsein dar, „einmal als das absolute Bewußtsein, zum anderen im Korrelat als psychologisches Bewußtsein, das nun der natürlichen Welt eingeordnet ist . . ." 37 . So wird einsichtig, daß die reflexiven und reduktiven Vollzüge einer reinen Phänomenologie, welche die konstitutiven Modi des Bewußtseins freilegen, unentbehrliche Vorarbeit für eine Strukturanalyse des Bewußtseins in seiner phänomenalen Wirklichkeit leisten. Die Phänomenologie schließt eine Psychologie des Bewußtseins nicht nur nicht aus, sondern fordert sie geradezu, insofern sie die „hyletische" Einbettung, den unbewußten Grund der Konstitution des Bewußtseins in der Urempfindung, im Absoluten des Leibes und der sinnlichen Welt aufklärt. | Der gebannte Leser der Ideen sieht sich in eine vielfältige Architektonik der Erscheinungen eingeführt, die zugleich auch die Einheit des Bewußtseins vermittelt. Er erfährt schließlich aus den Cartesianischen Meditationen38 35
Vgl. hierzu HESNARD, LANTÉRI (Congrès de Neur. et Psych, de Tours 1 9 5 9 ) und den Artikel von BUYTENDIJK in HUSSERL et la pensée contemporaine ( 1 9 5 9 ) , S. 78-114.
36 Ideen I, § 76. 3
7 § 76.
se Vor allem IV, § 38.
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im Hinblick auf die Konstitution des Bewußt-seins im Ich eine phänomenologische Begründung dieser Eigenheitssphäre, welche uns oben beim Versuch einer Definition des Bewußt-seins beschäftigte. Wir sahen, daß diese Sphäre das Wesen der Autonomie des Bewußt-seins ausmacht, indem sie ihm sein Sein (als Ich) und sein Haben (als Erfahrung) garantiert. Dieser gegenseitige Verweisungszusammenhang von Ich und Haben ist für die zwiegesiditige Verfassung des Bewußt-seins konstitutiv: ineins gewissermaßen besitzend und besessen zu sein39. Die Phänomenologie HUSSERLS wird so zum unentbehrlichen Leitfaden für unsere eigene Untersuchung. Diese „reflexive" Verfolgung der Vollzüge des Bewußtseins bis an ihren Ursprung, wie sie in der Phänomenologie geleistet wird, dieses ständige Alternieren zwischen einem Auf-sich-zurückkommen und einem Aus-sich-heraus-gehen, zwischen Idealität und Realität, zwischen dem Geben und dem Nehmen der Existenz klärt und belebt auch unsere Bemühung. Im Gegensatz zu anderen Interpretationen der Phänomenologie sehen wir sie sowohl in die Infrastruktur des Seienden tauchen, als auch zu seiner Idealität sich erheben. HUSSERL und BERGSON sind - was auch immer hierzu gesagt werden könnte - nicht so weit voneinander entfernt, wenn man sich mehr an ihr Werk hält und weniger an ihre Jünger oder Kommentatoren. Wir hätten vielleicht nicht gewagt, eigene Uberlegungen zu diesem schwierigen Thema vorzulegen, | wäre uns nicht diese Hinwendung der Phänomenologie zu einem Bezirk des Schattens, den sie durch ihr eigenes Licht erzeugt, an einem Satz klar geworden, welchen M E R L E A U - P O N T Y kurz vor seinem Tode in den Signes dem Philosophen und seinem Schatten widmete: „Was in uns der Phänomenologie widerstrebt - das natürliche Sein - steht nicht außerhalb der Phänomenologie und muß - HUSSERLS Bemühung gemäß - seinen Platz in ihr finden." M E R L E A U - P O N T Y sah die Notwendigkeit, in die Region unserer eigenen «archéologie» herabzusteigen. Er war überzeugt, es gebe „unleugbar etwas zwischen der transzendentalen Natur des In-seins des Naturalismus und der Immanenz des Geistes". Dieses verbindende Etwas ist für ihn der Leib: „dies ist der Leib, dieses vinculum zwischen Ich und Dingen, zugleich Kompräsenz, die mein Bewußtsein dem anderen begegnen läßt." Das ganze Problem der Einfühlung und der Verleiblichung beruht für ihn auf der «médiation du sensible». M E R L E A U - P O N T Y , der damit seine eigenen früheren Untersudlungen des Verhaltens und der Wahrnehmung hinter sich ließ, sah zuletzt im Leib das Irrelative aller Relativitäten, den Mittelpunkt der Erfahrung und der in ihr stets variablen Modalitäten des Empfindens, 39
Auch das Werk von GABRIEL MARCEL: L'être et l'avoir beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit Bewußt-sein Eigentum und inwieweit es selbstherrlich sei. Vgl. auch G . BRAND: Welt, Idi und Zeit nach unveröffentlichten Manuskripten HUSSERLS; femer ROBERT KLEIN: Appropriation et aliénation, Filosofia della
alienazione e analisi esistenziale, Archivio die Filosofia, 1961, S. 53-64.
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Fühlens und Handelns, endlich den Bezugsort aller konstituierenden und konstituierten Akte, welche das Bewußtsein an seine Welt binden. Der lebendige Sinn der Phänomenologie HUSSERLS liegt für uns in dieser Verleiblichung einer Spiritualität, die dem Bewußtsein eignet. b) Martin
Heidegger
Blickt man aufs Ganze, so zielt eine andere Strömung der Phänomenologie, die Daseinsanalytik HEIDEGGERS, auf die Ex-zentrizität und auf die Ek-stase der Existenz. Führten uns HUSSERLS Reflexionen in die abgründigen Fundamente, so bedürfte es bei HEIDEGGER zahlloser Bücher, ja ganzer Bibliotheken, um die „horizontale" Unendlichkeit offener Verweisungen des Existierenden | für und durch sein Dasein klarzulegen. Wir müssen uns demnach mit einem unvollkommenen Abriß der Seinslehre HEIDEGGERS begnügen. Die seit DILTHEY geläufig gewordene Scheidung des Seienden in Seiendes als Sache und Seiendes als Subjekt, von Sache oder Seele, dieses Prinzip einer Heterogenität von Bewußtsein (oder Leben) und Sache, wurde bekanntlich zu einem Leitgedanken gegenwärtigen Philosophierens. Wie A. DE WAEHLENS 40 zeigt, suchte HEIDEGGER in Sein und Zeit den Geist in einer Weise zu denken, die sich vom Denken der Sache radikal unterscheidet. DILTHEY hatte bereits gesehen, daß die Gesetzlichkeiten, welche das Sein des existierenden Subjekts (das Dasein) bestimmen, auf sachlich (i. S. der Vorhandenheit) Seiendes nicht übertragbar sind. Damit hängt zusammen, daß HEIDEGGER für das Leben (und damit auch für das Bewußtsein) keine „Jenseitigkeit", keine „andere Seite" gelten lassen kann. Insofern wird audi „Bewußtsein" in vollem Sinne kein Gegenstand der phänomenologischen Analysen HEIDEGGERS. Sein, Scheinen und Sinn konstituieren für ihn eine unteilbare Einheit, hinter welcher es nichts mehr gibt41. Aus dem absoluten Bewußtsein wird das Sein im Da seiner Welt. Das Sein des Seienden steht nie im Hinblick auf sein Bewußtsein, wohl aber stets im Hinblick auf das Dasein in Frage. Man kennt die Kontroversen über die Unterscheidung von Seiendem und Sein des Seienden. In der Tat scheint sich die „Jemeinigkeit" des Existierenden in der Allgemeinheit des Seins alles Seienden zu verflüchtigen, wie wir noch sehen werden. Die Existential-Ontologie, welche nach HEIDEGGER nicht mit der existentiellen Philosophie von JASPERS verwechselt werden sollte, zeigt das Dasein (im Gegensatz zu der in ihr Sein eingeschlossenen Sache) ausgezeichnet als unabschließbare Möglichkeit. Von daher bestimmen sich die 40 41
A. DE WAEHLENS: L a philosophie de M. HEIDEGGER, Louvain, 3. Aufl. 1948. „Das Sein des Seienden kann am wenigstens je so etwas sein, .dahinter' noch etwas steht, was nicht erscheint." (Sein und Zeit, 7. Aufl. Tübingen 1953, § 7 , S. 35 f.).
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Weisen des Existierens, die den Sinn des Daseins konstituieren. | Hier liegt zugleich audi der Kerngedanke einer existentiellen Anthropologie. Dasein zeigt sich stets als ein Ich, und das heißt im bejahenden oder verneinenden Stellungnehmen zu bestimmten Möglichkeiten. Das Sein des Ich beschließt notwendig in sich die Möglichkeit eines Seins gegen das Ich. Von daher ergeben sich die beiden Grundstrukturen der Eigentlichkeit oder Uneigentlichkeit, wobei letztere die Alltäglichkeit durchschnittlich beherrscht. Das In-der-Welt-sein erschließt sich der Analytik HEIDEGGERS als erstes „Existential". Es handelt sich dabei nicht um die Beziehung eines Inhaltes zu demjenigen, was ihn enthält, vielmehr um eine transzendentale Struktur, die den Bezug des Existierenden auf ein außerhalb seiner Seiendes anzeigt. „In-sein" ist keine Eigenschaft unter anderen oder dem Menschen als eine solche verfügbar; es ist vielmehr das Sein dieses Existierenden selbst. Existenz verhält sich in der Seinsweise des „Besorgens"; existieren heißt besorgend auf die Welt bezogen sein. Diese Welt hat ihr Da, wie auch das Sein des Seienden sein Da hat. Diese Welt enthält u. a. sachlich Seiendes als Zeug (πράγματα), dem die Seinsweise des Zuhandenen zukommt, vom Sein ergriffen und benutzt und ihm Möglichkeiten des Besorgens eröffnend. Innerweltlich Seiendem ist eine Räumlichkeit inhärent, welche nicht mit metrischen Abständen gleichzusetzen ist, sondern einen anthropologischen Raum darstellt: mit eigenen Richtungen, Dimensionen, Plätzen, Punkten, Wegen, Linien, Horizonten, Regionen, Entfernungen usw. Diese Räumlichkeit ermöglicht dem Dasein, die begegnende Welt zu übersteigen, sich ihr zu nähern, sie verfügbar zu machen usw. Was ist nun das Subjekt dieses „In-der-Welt-seins"? Offenbar gehört zum Dasein wesenhaft ein Selbst, aber nicht im Sinne eines von der Welt ablösbaren reinen Bewußtseins. Ich ist Mitsein, Sein mit Anderen; Existenz und Einsamkeit schließen einander aus. Diese Verfassung kann eine solche des „Man" sein, wenn koexistierendes Dasein der Uneigentlichkeit verfällt. Die Geworfenheit des in die Welt ausgesetzten Daseins | ist für die Peripetien der menschlichen Verfassung konstitutiv. HEIDEGGER erörtert sie unter den Titeln der Angst, des Todes und der Sorge. Aus der Sorge entspringt das Selbst-sein. Folgt man dem ersten Entwurf seiner Existentialanalytik, so erscheint Mensch-sein bei HEIDEGGER als zeitigend, als auf sich zukommend und geschichtlich; es hält sich durch seinen Bezug zum Raum der Geschichte in steter Offenheit. In ihr konstituiert sich die Geschichtlichkeit des Daseins, sein faktischer Entwurf. Dasein verfügt nie ganz über sich selbst, es ist ein „Sein zu", ein dem Werden überantwortetes Sein; insofern es aber endlich bleibt, ist es selbst der Ort der Lichtung des Seins, die Öffnung, durch welche sein Licht auf es zukommt. Wir können hier nicht den außerordentlichen Reichtum der Bedeutungen darlegen, die in dieser Entfaltung des In-der-Welt-seins und seiner Geschichtlichkeit zum Vorschein kommen. Vielleicht wurde aber deutlich - wir
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folgten den Erläuterungen von A . DE W A E H L E N S - , daß das Problem des Bewußtseins hier gewissermaßen zum Platzen gebracht wird und selbst einer Art Geworfenheit verfällt. In den unendlichen Ek-stasen dieser Seinsmodi verflüchtigt sich das Bewußt-sein oder wird so überdehnt, daß es letztlich mit seiner Welt zusammenfällt. So stimmig diese „Ontologie" sein mag, so macht es doch auch ratlos, das Sein des Bewußtseins in ihr aufgelöst zu sehen in die unendlichen Möglichkeiten und Progressionen einer Existenz, welche sich gleichwohl in die Endlichkeit ihres „Seins zum Tode" eingeschlossen sieht. »
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Wir suchen aus der Fülle angebotener Ideen und Reflexionen herauszuarbeiten, was den Fortgang unserer Untersuchung fördert. Die Analysen von W. JAMES und H . BERGSON schärften unseren Blick für das Bewußtsein als erlebte Wirklichkeit; | sie bestärkten unsere Überzeugung, daß das aktuelle Erlebnisfeld in der Tat einen fundierenden Modus des Bewußt-seins darstellt, welcher nicht auf die konkreten und fluktuierenden Inhalte dieses Feldes reduziert werden kann. Gilt schon für die Inhalte, daß das Bewußtsein nicht entleerbar ist, so ist ihre Erscheinungsweise noch weniger wegdenkbar. Eben dies wird, wie uns scheint, durch die Phänomenologie HUSSERLS herausgestellt, wenn sie im asketischen Weg der εποχή zum reinen Bewußtsein freilegt, daß dessen ursprüngliche Konstitution (wie schon die Erfahrung als Gegenstand des ersten Teiles der HEGELschen Phänomenologie) auf dem festen Grund eines mit den Objekten verschränkten Subjektes steht. Die regionale Schichtung des Seienden und die Konstitution der Weisen seiner Realität leiten notwendig auf eine innere Struktur des Bewußt-seins und bestimmen damit jede Untersuchung seiner Organisation und Ontologie. Die Bemühungen der Philosophen eröffnen - oder bestätigen - uns eine weitere Perspektive. Wenn H E G E L es unternahm, das natürlich-individuelle Bewußtsein in eine Phänomenologie des Geistes aufzulösen, welche in die Geschichte fällt oder sich in ihr entfaltet, so zeigt er damit die Möglichkeit der dialektischen Entwicklung eines Ich, das sich von der Erfahrung und das heißt letztlich von seinem Leib trennt. Damit zeigt er den Weg zu einer Ich-Dialektik, welche die Entfaltung des Selbst-Bewußtseins in einer „Person" (die stets ein „Jemand" ist) fundiert sieht. Dies als Dasein in seiner historischen Zeitlichkeit ergriffene Ich wurde zum ausgezeeichneten Thema der Existentialanalytik HEIDEGGERS und der Untersuchungen der Existenz im allgemeinen. Hier müßten die unterschiedlichsten Typen existentieller Anthropologie genannt werden ( K . JASPERS, MINKOWSKI, L . BINSW ANGER, G A B R I E L M A R CEL); wir können sie hier nicht im einzelnen erörtern. | Namentlich das Werk von J . P . S A R T R E - die Überlegungen vor allem, die ihn von der «Transcen-
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dance de l'Ego» zur «Dialectique de la raison pratique» weiterführten - , gehörte hierher 42 . α o Λ
Ohne das Licht philosophischer Reflexion gelingt kein Durchbruch zum Problem des Bewußtseins. Was die Philosophen sich durch Jahrhunderte weiterreichten, was die zeitgenössische Philosophie an den Tag bringt, ist uns unentbehrlich. Licht- und Schatten-Spiele der philosophischen Spekulation unserer Tage versetzen uns in die Lage, das Sein des Bewußtseins bewußter zu fassen, dies vor allem im Hinblick auf die Kritik am „Biologismus", am „Realismus", am „Psydiologismus", aber auch am transzendentalen Idealismus; sie schärfen unseren Blidc für die Grenzen der Naivität, aber auch einer solchen Naivität, die das Sein des Bewußtseins zu hoch oder zu niedrig ansetzt. Wenn wir den Bemühungen der Philosophen so viel verdanken, deren Berufung es doch ist, den Problemen des Seins, des Wissens um dies Sein und seinen Schein nachzugehen, so können wir ihnen vielleicht einen Dienst erweisen, den sie nicht aus Opposition gegen jeden „Naturalismus" zurüdeweisen sollten. D a es ihnen so schwierig wird, die Organisation des Bewußtseins durch die zarten Profile seiner Erscheinungen hindurch zu fassen, können wir ihnen helfen, diese Organisation des Bewußtseins (d. h. seine Natur, aber eine „Natur", welche sich vom Leib, in den sie eingelassen ist, ablöst, um ihn zu reflektieren) in der Psychopathologie zu fassen, wo sie unmittelbar hervorbricht. Wenn Psychopathologie überhaupt einen Gegenstand hat, dann denjenigen der Desorganisation des Bewußt-seins. Wenn sie überhaupt etwas ist, dann die „via regia" jeder Spekulation über das Bewußtsein. |
42
Wir werden darauf in späteren Etudes eingehen. Weiter unten im Abschnitt über das Ich (S. 255) kommen wir übrigens auf SARTRES Theorie des Idi und des Bewußtseins zurück.
ZWEITER TEIL
Bewußtseinsfeld oder Aktualität des Erlebens
KAPITEL
I
Destruktion des Bewußtseinsfeldes (Entwurf einer phänomenologischen Psychopathologie des Bewußtseinsfeldes)
Am Gängelband einer „assoziationistischen" und „funktionalistisdien" Psychologie hat die klassische Psychiatrie ihren Gegenstand in eine Mehrzahl von Funktionen (Gedächtnis, Affektivität, Wahrnehmung, Vorstellung, Intelligenz, Bewußtsein usw.) aufgelöst. Wir nehmen einen radikal andersartigen Ausgang und beschreiben keine Reihe (gewissermaßen kontigenter) Störungen als „Störungen des Bewußtseins", sondern fassen als solche hierarchisch gegliederte Ebenen der Destrukturierung des Bewußtseins, also „Krisen" oder „Zustände" seelischen Gestörtseins, welche bestimmte Erlebnisweisen als pathologische Abwandlungen der Aktualisierung des Erlebten konstituieren. Diese Hierarchie wird durch eine Reihe von „Strukturen" gebildet, welche die traditionelle Psychiatrie künstlich trennte. Sie stellt sich als natürliche Ordnung der Bewußtseinsschichten dar, deren innere Architektur in der pathologischen Entordnung | sozusagen freigelegt wird. In seiner pathologischen Brediung erscheint das Bewußtseinsfeld als Resultante derjenigen Vollzüge, welche die Aktualisierung des Erlebens regeln, zugleich damit die zeitlich-räumliche Ordnung der unmittelbaren Erfahrung des Hier-undjetzt-seins, also des Präsenzfeldes. Das ist der allgemeine Sinn der Strukturanalysen, die wir früher entwickelten und die uns als Leitfaden dieses Kapitels dienen. Eine detaillierte und vertiefte Darstellung der Fakten und Überlegungen, die es uns erlaubten und erlauben, das hier gestellte Problem aus dem Gesichtspunkt strenger klinischer Beobachtung anzugehen, findet der Leser in unseren Etudes1. Wollen wir an die für das Bewußtsein wesentlichen oder konstitutiven Strukturen herankommen, so muß die phänomeno1
Etudes psychiatriques, Bd. III; Strukturen akuter Psychosen und Destrukturierung des Bewußtseins, Verl. Desclée de Brouwer, Paris 1954, 787 S. - Seither hat sich das Interesse an einer Psychopathologie des Bewußtseins noch vergrößert, vgl. hierzu die Verhandlungen beim Symposium in Saint-Moritz, Herausg. v. H . STAUB (Thieme Verl. 1 9 6 1 ) , oder die Arbeiten von BINSWANGER, J . Z U T T , v . AUERSPERG, B U Y J T E N D I J K U. a .
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logische Deskription in der Tat von dieser „klinischen Beobachtung" ausgehen. Diese Strukturen werden in ihrer Destrukturierung am besten faßbar, gewissermaßen als Negativ, insofern diese Negativität die Positivität des Erlebens „freisetzt", d. h. die für eine noch mögliche Gestaltung des Erlebens notwendigen Bedingungen. Eine solche klinische Beobachtung, ein auf sie gegründetes „Wissen" ist für unseren Blidc unentbehrlich. Es zeigt Fakten, die kein Kliniker bezweifeln würde: 1. Die Tatsache, daß die von allen Klinikern gekannten Störungen des Bewußtseins zahlreiche „andere Störungen" mitumfassen und daß diese Störungen als „Krisen" (nach dem typischen „Modell" einer epileptischen Krise) verlaufen. 2. Die Tatsache, daß die Klinik (vor allem diejenige der „periodischen Psychosen") Verfassungen der Verwirrtheit, der Umdämmerung, | der Halluzinose, der Depersonalisation, der Depression oder manischer Erregung als ein Kontinuum sehen lehrt, in das Grenzen zu legen künstlich sein würde. 3. Die Tatsache, daß diese psychopathologischen Strukturen eine irreversible und konstante Ordnung bilden, die man als eine Hierarchie von Strukturschichten beschreiben kann; so zwar, daß die höheren Schichten der Destrukturierung in den niederen Schichten mitenthalten sind, aber nicht umgekehrt. 4. Die Tatsache, daß ein und derselbe Entordnungsprozeß bei unterschiedlichsten Ätiologien (gleichgültig ob toxisch durch Psychotomimetika oder sonstige pathogene Substanzen, ob infektiös wie bei der Encephalitis, ob i. e. S. cerebral durch Epilepsie, Tumoren oder Hirnverletzungen, ob exogen durch situative Prägungen oder endogen durch konstitutionelle Einflüsse) Platz greift und klinisch als eine Skala von Verfassungen destrukturierten Bewußtseins erscheint. (Wobei die höchsten Schichten jeweils den Beginn oder die Rekonvaleszenz im Krankheitsverlauf kennzeichnen.) Im vorliegenden Zusammenhang müssen wir uns auf einige wesentliche klinische Sachverhalte beschränken.
§ 1. Schlaf und
Traum
Vor jeder Beschreibung der Struktur dieser Entordnungsschichten des Bewußtseins wollen wir schlicht feststellen, daß für sie ein «fait primordial» (Moreau de Tours) entscheidend ist, das Faktum von Schlaf und Traum2, 2
Vgl. unsere 8. Etude (Etudes psychiatriques, Bd. I, 2. Aufl., S. 186-283).
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Schlaf und Traum
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insofern es verdeutlicht, wie das Imaginäre den versdiiedenen Graden der Bewußtseinsveränderung als notwendiger Gehalt zugehört. Das Vitalphänomen des Schlafbewußtseins | kontrastiert derart mit seiner „aktiven Vigilanz", daß Bewußtsein und Unbewußtes oft mit Wadiheit und Schlaf gleichgesetzt wurden. So konnte es geschehen, daß der Schlaf als Nullwert der Vigilanz oder des Bewußtseins schlechthin erschien. Der Traum erweist diese Negation indessen als unhaltbar; Schlafbewußtsein ist keineswegs negatives Bewußtsein. Der Traum ist fraglos Erlebnis, nur eben unter den Bedingungen des Schlafbewußtseins. Dieses u. U. außerhalb der Erinnerung bleibende „Erlebnis" zeigt sich dem Anderen nur in mutmaßlicher Weise, gleichwohl aber (etwa als psychomotorische Erscheinung im Traum) in signifikativ-expressiven Zusammenhängen. Daraus erhellt, daß die Beziehungen zwischen Schlaf und Wachzustand nicht auf eine Alles-oderNichts-Altemative zu reduzieren sind. Bewußtsein läßt sich nicht schlicht und einfach als Vigilanz bestimmen, da sein Abbau ganze Schichtungen von Erlebnissen zeigt. Was ist aber nur dies Erlebnis, das vom Träumer in einer Art Für-sich gelebt wird? Es ist ein im Erleben eben noch vollziehbares Erlebnis, so augenblicksverhaftet und hinfällig, daß es manchmal nur mit den Vorzeichen „nicht mehr" oder „noch nicht" gehabt werden kann. Tatsächlich gehört es zum Wesen des Schlafdenkens oder des imagierenden Traumbewußtseins, vom Schlaf verschlungen zu werden. Weckt man den Schläfer oder erwacht er selbst, so kann dies genügen, ihn die „Unterbrechung eines Erlebens" spüren zu lassen, das zwar ungreifbar bleibt, als Erlebnis sich aber eben in diesem Entschwinden ins Irreale konstituiert. Solche Erlebnisse würden in einem nur geahnten und vagen Sein verharren, wenn sie nicht „Traum" werden, wenn sie sich nicht, den Schlaf gewissermaßen überbordend, als Erinnerung, als eine Geschichte oder (wie uns die Neurobiologie des Bewußtseinsfeldes noch zeigen wird) als erzählbarer Vorgang in die Erfahrung eingehen könnten. Wir berühren hier eine extreme Möglichkeit von „Erlebtem" 3 ; die Vergangenheitsform bildet offenbar die I einzige Weise, seine Unmittelbarkeit zu konjugieren - eine Unmittelbarkeit, die nicht länger währt, als das Sich-überleben des Erlebnisses dies erfordert. Das Schlaf-„Erleben" tritt als „Traum" in das Gewebe der Existenz ein, um es sogleich zu verlassen. Dies Einströmen des Traumes und des Schlafbewußtseins in das Wachbewußtein wird „zurückgeholt" unter dem Vorzeichen der Erinnerung an ein Erlebnis, das im Schlaf „wirklich" gelebt wurde, aber keinen Zugang zur offenen Welt des Träumenden
3
Das deutsche Substantiv Erlebnis zeigt mehr von dieser Unmittelbarkeit als die Perfektform „vécu", in welcher das Nicht-mehr des Erlebens vorwiegt. Erlebnis läßt sich aber ohne diese Vergangenheitsform nicht ins Französische übersetzen. Erlebnis als das in der unmittelbaren Erfahrung Gelebte ist im Grunde „passiv" konstituiert; die sprachliche Passiv-Konstruktion drückt dies ganz unmittelbar aus.
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fand und von ihr ausgeschlossen blieb. Gerade im Bericht über das, was im Traum geschah, konstituiert sich der Traum als Traum: dies an die Bedingungen einer gewissen Schlaftiefe4 geknüpfte und zugleich mit der Klarheit des Wachbewußtseins unvereinbare Phänomen. Solcherart sind die Zusammenhänge, in welchen das Schlaferleben erscheint. Es ersteht aus ihnen als ein „Real-Irreales", insofern die Bildwelt des Traumes weder nichts nodi etwas ist. Als irreduzibler Kern dieser Imaginationen wurde in vielen Untersuchungen des traumhaften Bewußtseins die Projektion der Intentionalität in ihre Objekte, also eine Art Sinngebunga, herausgeschält. Wiewohl diese Erscheinung offenbar einem bestimmten Bedürfnis dient, taucht sie dodi ohne jeden weiteren Zusammenhang auf und erfüllt sich in der eigenen Präsenz. Ihre Szenen, Bilder, Figuren und Gegenstände erstehen gewissermaßen aus einem Grunde des Nichts und aus der Nacht des Schlafes. Wird im Aufwachen oder in seiner sekundären Verarbeitung dem Traumerleben nicht etwas ihm ursprünglich Fremdes hinzugebracht, so bleibt seine thematische Struktur lediglich bildhafte Entfaltung von Bedeutungen, die stärker implikativ als expressiv sind und in metaphorisch-symbolischen Verweisungen stehen. Man kann das Traum-„Erlebnis" als eine reine „noetische" Struktur i. S. ansehen, fundiert in einer Sinn-gebung, die aus der Tiefe der Leiblichkeit des Träumenden aufsteigt; dieses Träumenden, der sich so gleichgültig oder abwesend zu seiner Welt verhält, als gäbe es nichts anderes als diese Immanenz, wobei diese Art Passivität aber eine „Gegebenheit" des Bewußtseins ist. | Der Traum ist in der Tat das, als was ihn J.-P. SARTRE5 in bewundernswerter Weise beschrieb: ein Imaginäres ohne Mundaneität, Bewußtsein als reines Imagieren, insofern ihm die «fonction thétique» abgeht, d. h. die Möglichkeit, objektiv-mundane Realitäts-Kategorien zu entfalten. Die Positionalität des Traumes bleibt eine fundamental zweideutige. Sein Erleben ist durch absolute Unmittelbarkeit bestimmt, zugleich aber aus jeder Realiätsproblematik freigestellt. Der Traum gehorcht, wie schon F R E U D sah, auf eine absolute Weise dem „Lustprinzip", nicht demjenigen der Realität. Die Ordnung dieses Erlebens liefert (nach HUSSERL) kein Abbild oder Zeichen. Sie entsteht aus dem Aufleuchten einer Sache, die einfach da ist. Offenbar verhält sich dies so, weil sich der Traum - Gewärtigung und Aktualisierung ohne Bezugsystem - des Schläfers als Faszination bemächtigt. Der Zusammenhang des Schlaferlebens (dessen HUSSERLS
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Wir werden weiter unten zeigen, wie sich der Neurobiologie des Bewußtseinsseinsfeldes die Beziehung zwischen Traum und Schlaftiefe darstellt. Im strengsten seiner Werke: L'imaginaire. Im Originaltext verwendeter deutscher Begriff. Oft benutzt EY auch seine franzö-
sische Übersetzung donnée de sens, donation de sens.
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Schlaf und Traum
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Geschichte als Traum erzählt wird) mit dem Träumenden (der diese Geschichte erlebt hat) ist derart, daß der Schläfer und sein Schlaf im Traum suspendiert werden6. Wenn E . M O U N I E R ganz allgemein über das Bewußtsein sagte, daß es die Notwendigkeit seiner eigenen Wahl zugleich übernehme und in sie genommen werde, daß es sich in seinem Gefaßtsein fasse, so gilt das in besonderer Weise für dieses imaginäre Bewußtsein. Diese „Noesis" - wenn man den ungeformten, frei steigenden SinnUrsprung des traumhaften Erlebens so nehmen will - bestimmt das Schlafdenken ganz allgemein, auch das nicht zum scenischen Traum durchgestaltete. Es schlägt sich in einer unbestimmten Form nieder, in einem symbolischen Kontext - als „Analogon" der Realität gewissermaßen - , um eine Ordnung zu erlangen und bestenfalls als Traum-Geschichte weiterzuleben. Ist man nämlich der Auffassung, daß der Traum hieroglyphisch die Dialektik von Unbewußtem und Bewußtem auf einem ganz ursprünglichen Erlebnisniveau ausdrückt | (vgl. Teil IV dieses Buches), so muß er „Regeln" unterliegen, die ihn, seien sie nun syntaktische oder nur rhetorische, mit der Gesetzlichkeit der Objektivität verknüpfen. Die noematische Struktur des Erlebens gilt auch für diese Schicht; sie zeigt uns das Erleben des Schlafenden nicht als ein schlechthin Gegebenes, vielmehr eingeordnet in erschlaffte Intentionalität, die das Erleben „Symbol von etwas" werden läßt und ihm Ereignis-Charakter gibt. Wenn sich dies Erleben auch auf der niedersten Stufe möglicher Konstitution nur als eine Art Virtualität darstellt, so aktualisiert es sich doch in der Vergegenständlichung oder steht zumindest in der Notwendigkeit eines Scheins von Vergegenständlichung. Die gelebte Erfahrung des Schlafenden hängt insofern mehr oder minder unmittelbar vom Schlaf ab, als diesen ein Unvermögen zu jeder Art Gestaltung auszeichnet. Bewußtsein kann sich hier nicht entfalten, auf eine Welt hin entwerfen, sich mit ihr konfrontieren: ein Für-sich ohne Gegenüber, dazu verurteilt, als ein In-sich zu verharren, als ein kreisendes erstarrten Bewußtseins des Schlafenden in sich selbst. Wir sehen in dieser Dynamik von Schlaf und Traum das eigentliche Modell einer Destrukturierung des Bewußtseins. Denn der Schlaf figuriert nicht nur in der (neutralen) „dritten Person", sondern auch in der „ersten Person", da wir sagen können, daß „wir vom Schlaf erfaßt werden" oder daß „wir uns aus dem Schlaf lösen". Der Schlaf erfaßt uns oder wir ergeben uns ihm7. | 6
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„Der Traum ist der Wäditer des Schlafes", sagte FREUD; wir werden sehen, daß er auch sein Gefangener ist. Diesem Doppelsinn einer im Einschlafen vollzogenen Dissolution des Subjekts in eine dem Schlaf unterworfene und eine ihn veranlassende Seite gilt die Bemerkung von HENRI MICHAUX: «Tantôt mené par le chanvre, tantôt l'emmenant avec moi» (Connaissance par les gouffres, 1961, S. 145). Ähnliches meinen auch unsere Überlegungen zu den Hirnprozessen des Schlafes, namentlich zu d e n B e f u n d e n v o n JOUVET ( v g l . S . 2 2 7 - 2 3 0 ) .
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Destruktion des Bewußtseinsfeldes § 2. Traumhafte Verwirrtheit
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(Delir)
Die psychiatrische Klinik kennt zahlreiche Syndrome der Verwirrtheit oder „Verwirrtheitszustände" ; die französische Psychiatrie hat sie besonders intensiv studiert (DELASIAUVE, R É G I S , CHASLIN U. a.). Ihre Pathogenese kann hier außer Betracht bleiben; sie wird von den meisten mit gutem Grund als toxisch-infektiöse angesehen, denn diese Bilder finden sich in der Tat regelmäßig bei Encephalitiden oder Intoxikationen, in welchen es zu rauschhaften Bewußtseinsstörungen kommt; dies vor allem unter dem Einfluß neurotroper Gifte (insbesondere des Alkohols). Diese deliranten Verfassungen nannte vor hundert Jahren schon LASÈGUE «rêves pathologiques». Der Delirante ist aber kein Schlafender; seine besondere Vigilanz" gestattet - selbst bei verwirrten Stuporen - allenfalls eine Analogie zum Schlaf, keinesfalls eine Gleichsetzung. Das Delir ist offenbar eine „basale" Destrukturierung, in welcher die Negativformen des „Nicht-bewußt-seins" einen kritischen klinischen Höhepunkt erreichen. Gleichwohl erscheint auch dieses Unbewußtsein (deutlicher als dasjenige des Schlafenden) noch als ein „Bewußtsein", insofern es eine delirant-traumhafte Erlebniswelt ausbilden kann. Was seine motorische Aktivität angeht, so schläft der Delirante keineswegs; aber sein Bewußtsein ist dasjenige eines Einschlafenden. Wenn der Schlafende seinen Traum in der Quasi-Ruhe seines Leibes lebt (so wie er atmet) und uns nur in gelegentlichen Bewegungen, vor allem solchen der Augen, zeigt, daß er träumt, wenn er also den Traum für sich bewahrt, um aus ihm für sich oder uns eine Geschichte zu machen, so lebt der Delirante eine Erfahrung, die gewissermaßen außerhalb seiner abrollt und die er agiert: im psychomotorischen Ausdruck (seiner Haltungen und Bewegungen, seiner Turbulenz, Agitiertheit, Pantomimik usw.) und seiner Verbalisierung (zumeist wird das Erlebte sofort erzählt, | und es ist fast immer möglich, in die Erlebniswelt des Deliranten mit der „Kommunikation" der klinischen Exploration einzutreten). Der traumhaft Delirante löst sich zwar aus der Selbstbezogenheit des Schlaferlebens bis zu einem gewissen Grade, bleibt ihm aber auch in der Tiefe verhaftet. Für die traumhafte Verwirrtheit des Deliranten ist eine Abwesenheit des Subjekts kennzeichnend. Er kann sich zwar Anderen mehr oder minder erschließen, nicht aber sich selbst. Fasziniert durch eine kaleidoskopische Bilderwelt ist er da, ohne eigentlich da zu sein. Sein „Erleben" muß ihm traumhaft erscheinen, da er es nicht oder nur schlecht festhält und erinnert. Dieser amnestische Einschlag des deliranten Erlebens ist eine der Bedingungen dafür, daß hier - ähnlich dem Schlaf - keine zeitlich-räumlich geordnete Welt konstituiert werden kann. Eine „Welt" kommt in der Verwirrtheit ebensowenig zustande wie im Traum; sie bleibt „Analogon", Trugbild, Imagination ohne Mundaneität, ohne den Horizont der eigent-
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Traumhafte Verwirrtheit (Delir)
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liehen Welt. Dies Erleben entfaltet sich unter dem Drude chaotischer „Gegebenheiten", die es dann als seine „Erscheinungen" hat. Deren scenische Verknüpfung wird oft durch eine intensive Affektdynamik ängstlicher, panischer oder euphorischer Färbung getragen und ist dann wie ein Sprudeln pulsierender Bedeutungen. Im „ästhetischen", „ekstatischen" oder „erotischen" Charakter dieses Erlebens erscheint etwas von der starken Bindung der traumhaften Verwirrtheit an das Lustpinzip, oder allgemeiner: an eine ursprüngliche Sphäre von Begierde und Angst. Die „Heiterkeit" des Deliranten, die noch im Terror seiner Alpträume spürbar bleibt, drückt die intentionale Verknüpfung der Bildwelt mit der Triebdynamik, deren Ersatzbildungen und Gegenströmungen unmittelbar aus. Der Delirante erfährt eine Wandlung zum „Spektator" und lebt (oder erlebt) in genauer Entsprechung hierzu seine Welt als „Spektakel". Noch deutlicher: der „Film", welcher ihn so einnimmt, daß alle übrigen Möglichkeiten des Interesses oder der Freiheit nichtig werden, verdeckt dem Deliranten jede Einsicht in die eigene Urheber-Rolle und läßt ihn jeweils das werden, was er eben „sieht" und „lebt". | Daher ist der „Onirismus" nahezu stets visualisierte Erfahrung, ein Absorbiert-sein im Blicken. Das Subjekt ist nur mehr Objekt, und zwar Objekt der Begierde oder der Angst, so wie sie in jenem Imaginären auftauchen, in welchem der Delirante sich verfing. Allenfalls bleibt ihm ein vages Wissen um das Symbolische seiner Verdammung. Die Abwesenheit des Subjekts in dem Traum, den der Delirante produziert (und in welchem er Selbst-los figuriert), bewirkt zugleich jene Anziehung, welche durch die überflutende Macht des Imaginären auf ihn und in ihm ausgeübt wird. Im Schwindel tut sich ein Abgrund vor ihm auf, der ihn in ein bloßes Sein als Sache herunterreißt, in welchem er aufhört, irgend jemand zu sein, und der ihn dazu bringt, sich so weit aus sich herauszulehnen, daß er sich selbst entfällt. Es gibt für ihn nur noch die dramatischen Bilder der Ekstase und des Todes, und sie entfalten sich ohne sein Ich. Reale Gegenstände und Personen erscheinen lediglich als vage Schemen am zerbrechlichen Horizont der Virtualität dieses Erlebens. Sie werden verkannt, umillusioniert und in dieser Deformation dem phantasmagorischen Bestand des Delirs zugeschlagen. Es ist, als sei dies entordnete Bewußtsein dem Ansturm einer ungeformten Masse von Ereignissen ohne Geschichte, ohne Raum und Zeit ausgeliefert; alles Erleben vollzieht sich in Hast, planlos und ohne Rücksicht auf die Nuancen und Zusammenhänge der Realität. Diese Welt ohne Welt, dieses Spektakel an Stelle der Existenz liegt jenseits jeder Distanz und Perspektive, jener noematischen Kategorien also, die das Subjekt vor dem schwindelnden Sog einer ausschließlich subjektiven Erfahrung bewahren. In der Verwirrtheit wie im Schlaf ist das Subjekt des destrukturierten Bewußtseins in der Tat mit sich allein; es verliert sich selbst im Verlust der Transzendenz. Völlig identisch mit der intentionalen oder noetischen Dynamik, die ihn mit sich reißt, verliert der
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Verwirrte jede Präsenz in der Welt; er kann nidit mehr für den Anderen und für sich sein, kein „Gegenüber" herstellen | und verliert damit den Zugang zu einem offen-eröffnenden Bewußtsein. Diesem „Abwesenden" entschwindet mit der Welt die Möglichkeit, diese Welt zu konstituieren; ähnliches geschieht uns, wenn wir, im Erwachen, nicht mehr wissen, wer und wo wir sind, und für einen Augenblick ratlos vor diesem Abgrund des Nichts stehen. Für den Deliranten ist dieser Abgrund indessen kein pures Nichts. „Erlebnisse" beleben ihn, aber sie tauchen in diesem Wirbel nur gelegentlich auf und erfüllen ihn nicht. Diese Bilder nehmen den Deliranten flüchtig ein, oder besser, sie nehmen ihn mit sich fort. Die traumhafte Verwirrtheit zeigt sich uns so als ein tiefstufiges, quasi-unbewußtes Erleben, das keine Möglichkeit hat, die Welt in einem ersten konstitutiven Schritt der Orientierung zu erschließen. Der Delirante kann sich nicht in Front zu seiner Welt bringen und damit an die ursprünglichen Fundamente des „Feldes seiner Freiheit" gelangen.
§ 3. Dämmerzustände
und
Oneiroid
Unter diesen Titel ( M A Y E R - G R O S S ) brachte die Psychiatrie Weisen entordneten Bewußtseins, die mit dem traumhaft-verwirrten Bewußtsein (RÉGIS) SO dichte Beziehungen eingehen, daß es oft schwierig, zuweilen praktisch unmöglich ist, sie zu unterscheiden. In phänomenologischer Hinsicht haben indessen diese Ubergänge vom deliranten zum halluzinatorischen Erleben großes Interesse. Wenn nämlich die eben besprochene traumhafte Verwirrtheit eine Art hypnotischen Schlafes bedeutet, der weltoffener als der Schlaf des Schlafenden ist, so ist doch diese Geöffnetheit eine verschwindend geringfügige. Der Delirante bleibt auf ein Privat-Erleben eingeschränkt, verharrt am subjektiven Pol der Bilateralität von Selbst und Welt und damit vor dem Zusammenschluß dieser Kategorien der Realität. | Auf der Erlebnisebene der Dämmer-Zustände (gelegentlich auch als „Hypnoid" oder „Oneiroid" bezeichnet) wird die Welt dagegen nicht annihiliert, sondern transfiguriert. „Erleben" konstituiert sich hier in einer Atmosphäre bedrohlicher Undurchsichtigkeit, in einer Art existentieller Landschaft, die bis zu ihrem Horizont durch ein Übermaß an Tragik oder Ekstase erfüllt wird und so das Subjekt - zugleich Mittelpunkt und Zuschauer - einhüllt. Ungeordnet und flüchtig gleiten die Erlebnisse an den verwirrten Perspektiven des Umdämmerten vorüber. Die Welt wird zu Bildern, Gedanken und Wahrnehmungen umgeformt, die dann eine bestimmte „Stelle" des erlebten Raumes einnehmen: ein magisches Intervall zwischen dem Ich und seiner Welt. Der delirante Einschlag dieses Erlebens zeigt sich hier nicht als ein Versinken aller konkreten Erfahrungen (wie im Traum) oder als Zerstückelung in isolierte Elemente der Sinnlichkeit (wie
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Dämmerzustände und Oneiroid
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in der Halluzinose), sondern als ein unmittelbares Fließen der Phantasie, das jede Logik des Raumes in den Wind schlägt und zwischen Ich und Objektivität eine dritte Welt errichtet. Die Welt des Umdämmerten ist in ihrer räumlichen Struktur erschüttert. Zahllose Raum-Stücke brechen sich in ebenso zahllosen Spiegelungen und Echos. Bilder, Allegorien und symbolische Phantasmen überstürzen sich, werden zurückgeworfen, vermischen sich, tilgen einander, verbergen sich, richten sich wieder auf, steigen und fallen das alles in teleskopischer Verzerrung der Größen und Perspektiven. Dabei erscheint diese fremde „Mundaneität", welche dem magischen Taschenspiel einer noch reflexionsfähigen Phantasie unterworfen ist - befestigt zwischen Himmel und Erde am dämmrigen Horizont der Existenz - als ein erstaunliches oder monströses Zusammentreffen des Selbst mit seiner anderen Welt. Die Repräsentation8, diese fundierende Leistung jedes Bewußtseins, bleibt in dieser Schicht der Destrukturierung im Erscheinungshaften stecken: I Erscheinung einer Gestalt, einer Szene, einer Begebenheit, die eben nicht mehr nur repräsentiert, sondern präsent und gegenwärtigt wird. Indessen bleibt das Präsent-werden in dieser umdämmerten Realitätssphäre ein ungewöhnliches. War im Bewußtsein des Träumenden jede Re-präsentation aufgehoben, insofern der Träumende sich als Urheber seines Traumes (oft auch in seiner Rolle als betrachtender Zuschauer) verborgen blieb, so fügt sich das Erlebte hier als „Repräsentierendes" in den Gang der Erfahrung ein, und zwar als Repräsentation einer „anderen", einer „jenseitigen" Welt. Die unter normalen Bedingungen gegebene Möglichkeit des Subjekts, auch ohne Reflexion auf die eigene Subjektivität irgendeine (sei es imaginäre) Vorstellung zu erzeugen und sich von ihr zu distanzieren, scheint hier verloren. Das Gesetz der wechselseitigen Ausschließung des Objektiven und Subjektiven tritt außer Kraft. Eine Dimension der Zweideutigkeit kommt zum Vorschein und mit ihr das Künstliche und „Surreale" einer Repräsentation, in welcher das Sein (des Erlebten) und das Nichtsein (des Realen) gleiche Geltung beanspruchen. Konkrete Ereignisse gehen in die Erfahrung des Umdämmerten nur ein, indem ihr Realitätswert eingeklammert wird. Die „thetischen" Vollzüge dieser Erfahrung sind in sich zweideutig und
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Wir wissen, daß die Phänomenologie jede Abbild- oder Zeichen-Funktion des Bewußtseins ablehnt. Und sie hat dafür zwei gute Gründe. | Zunächst: das Erlebnis wird als solches erlebt und bedarf dazu keiner Vermittlung. Zum zweiten sind Bild und Zeichen keine Epiphänomene i. S. flüchtiger Bewußtseinsgegebenheiten. Die Phänomenologie würde aber im Unrecht sein, wenn sie uns hier untersagen würde, das Imaginäre als ein Erleben zu fassen, das sich im Netzwerk seiner eigenen Repräsentation verfängt. Wer das Imaginäre lebt, läuft stets Gefahr, es als Realität zu nehmen. Oder anders: wäre die Repräsentation keine Bewußtseinsstruktur, so könnte sie nicht zum Spielball ihrer eigenen Illusion werden.
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müssen es sein, insofern Doppelsinnigkeit diese Stufe der Entordnung des Bewußtseins kennzeichnet. | Dieses Bewußtsein kann sich zwar nicht mehr in einer Bealität konstituieren; es verlor aber gleichwohl nicht völlig die Möglichkeit der Konstitution einer Welt, wofern es sich nicht um die Faktizität des Faktischen handelt. Das Numinose ist zweifellos ein ursprünglicher Wesenszug dieser ungewöhnlichen „Repräsentation". Man sieht das Erleben in dieser Schicht der Destrukturierung auf eine fatale Weise an gewisse Konstitutionsmodi (etwa an das Dramatische, das Kunststückhafte, das Mysteriöse) gekettet; so zwar, daß die Thematik des Dämmerzustandes - die „Götterdämmerung" - die Erschütterung dieser entordneten Struktur in den symbolischen Figuren des Untergangs oder des Rausches ausdrückt. Im Blick auf den eben beschriebenen Strukturverlust an Räumlichkeit stellt sich dies Erleben im typischen Fall als Überflutung des Bewußtseinsfeldes durch eine phantastische Welt dar. Diese „Invasion" ist ein Einbruch „dessen", was „sich tut", Einbruch des Fabelhaften in eine schwankende Welt, ein übernatürliches, kosmisch-apokalyptisches Geschehen®. Alle Archetypen, die Figuren und Fabeln der Mythologie, die Gestalten der antiken Tragödie, alle Dramen der menschlichen Existenz tauchen im Abgrund dieser radikalen Destruktion des Erlebens auf. Die Atmosphäre des Dämmerzustandes hat in der Tat etwas Lyrisches und Metaphysisches; dieses Erleben gründet in einer ganz ursprünglichen Problematik von Realität und Existenz, in jener primordialen Sphäre, wo Bedürfnis und Faktizität zusammentreffen, wo das abgründige Thema von Leben und Tod sich auftut. Die besondere Zwischen-Stellung und Offenheit der Welt des Oneiroiden oder Umdämmerten bringt es mit sich, daß dies Erleben | für den Beobachter und für die Erinnerung des betroffenen Subjekts „greifbar" wird10. Dies phantastische Erleben ist aus dem Gewebe der Existenz nicht völlig herausgelöst, wie das beim Delir (s. oben S. 82) häufig der Fall ist. Es wird oft lebhaft und mit der entsprechenden emotionalen Beteiligung erinnert. Die Patienten bleiben nach dem, manchmal schwierigen, Herausgeraten aus der Faszination für eine Zeit ratlos und wie betäubt.
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Vgl. die ausführliche Strukturanalyse des Falles Jean-Pierre in unserer Etude 26. Was hier abstrakt beschrieben wurde, erscheint dort in der sdireddichen Konkretion eines epileptischen Dämmerzustandes. Die Dissertation von P. SCHMIDT (Paris, 1950) gibt eine ausgezeichnete Darstellung dieser Zustände. Vgl. hierzu die schönen Selbstschilderungen, welche MAYER-GROSS veröffentlichte (s. auch unsere Etude 23) b . W . MAYER-GROSS: Selbstschilderungen der Verwirrtheit. Die oneiroide Erlebnisform. Berlin 1924.
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Wahnerleben und halluzinatorische Spaltung § 4 . Wahnerleben
und halluzinatorische
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Spaltung
Die visuelle Versinnlidiung des Erlebten als „Spektakel" oder „Erscheinung" bildet ein Strukturmerkmal des traumhaft-verwirrten 0 und des oneiroiden Bewußtseins 11 . Damit hängt zusammen, daß zur Struktur des imagierenden Bewußtseins wesentlich ein „Blicken" gehört; das visuell Spektakuläre dieses Erlebens führt oft dazu, ihm einen „optischen Apparat" hinzuzudenken; wir kommen darauf weiter unten zurück (S. 131). Auf der jetzt zu beschreibenden Ebene des halluzinatorischen Bewußtseins begegnen wir dem Erleben von „Stimmen", einem Erfahrungsmodus also, welcher sich nicht als szenische Konfiguration, sondern als Sinn eines Sinnes (E. STRAUS), und zwar des Gehörs, darstellt. Diese Weise der Verbalisierung des Erlebens lenkt erneut auf eine Störung gelebter Räumlichkeit zurück. Es sind hier die Untersuchungen von E. MINKOWSKI und E. STRAUS, welche dem einschlägigen Satz von MERLEAU-PONTY zugrunde liegen: „Was den Gesunden vor dem Wahn oder der Halluzination bewahrt, ist nicht seine Kritik, sondern die Struktur seiner Räumlichkeit . . . Halluzination und Wahn beruhen auf deren Schrumpfung.. ," 1 2 . | Eingelassen in ihren „mythischen Raum", erscheint die Halluzination als das, was sie ist, nämlich als „Trug", welcher eben jene Entordnung des Bewußtseins verdeckt, die seine Entsprechung ist. Wir beschrieben bisher das halluzinatorische Erleben als Korrelat der Struktur des gelebten Raumes, so 11 Vgl. hierzu auch meine Etude 23, S. 290. Wir folgen hier auf weite Strecken den Untersuchungen von M E R L E A U - P O N T Y (Phénoménologie de la perception, S. 385-397). Hier einige seiner Ergebnisse: „Halluzinationen zersetzen vor unseren Augen die Wirklichkeit...". Sie sind „kein sinnlicher Inhalt", kein „Urteil", keine „Annahme". „Das halluzinatorische Phänomen gehört nicht zur W e l t . . . Es ist eine bloß implizite und unartikulierte Bedeutung . . . Die Halluzination ist nicht wie die Wahrnehmung ein konkreter Zugang zur Zeit in einer lebendigen Gegenwart. Sie gleitet über die Zeit, über die Welt hin . . . Sie findet nicht ihren Ort in der .geographischen Welt', . . . sondern in der individuellen .Landschaft', durch die die Welt uns anrührt und durch die wir mit ihr in lebendige Kommunikation treten . . ."