Dante [Reprint 2018 ed.] 9783110876703, 9783110032079


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German Pages 202 [212] Year 1951

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INHALT
VORWORT
Dante und wir Deutschen
Italien und Florenz zu Dantes Zeit
Herkunft,Jugend und Neues Leben
In der Arena des politischen Kampfes
Exul immeritus
Trost der Philosophie: Die Traktate vom Gastmahl und von der Volkssprache
Enttäuschte Hoffnung: Kaiser Heinrichs Kampf und Ende
Für Kaiserrecht und Weltreich: Die Schrift „de monarchia"
Neue Wanderschaft und neuer Kampf
Der Pilger durch die jenseitigen Reiche: Werden und Wesen der göttlichen Komödie
Ausklang
Unsterblichkeit
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Dante [Reprint 2018 ed.]
 9783110876703, 9783110032079

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Falkenhansen DANTE

F R I E D R I C H FREIHERR VON

FALKENHAUSEN

DANTE

WALTER DE GRUYTER & CO. vormals G. J . Göachensche Verlagshandlung > J . Gattentag, Verlagsbuchhandlung. Georg Reimer - K a r l J . T r a b n e r • Veit & C o m p .

HERLIN

1951

Als Vorlage f ü r den Dante-Kopf auf d e m Schutzumschlag diente eine Radierung von WILLY JAECKEL * 10. 2. 1888 zu Breslau f 30. 1. 1944 zu Berlin

Archiv N r . 346151 Gesamtherstellung: Werkpresse Ravensburg

INHALT Dante und wir Deutschen Italien und Florenz zu Dantes Zeit Herkunft, Jugend und Neues Leben In der Arena dea politischen Kampfes Exul immeritus Trost der Philosophie: Die Traktate vom Gastmahl und von der Volkssprache Enttäuschte Hoffnung: Kaiser Heinrichs Kampf und Ende Für Kaiserrecht und Weltreich: Die Schrift „de monarchia" Neue Wanderschaft und neuer Kampf Der Pilger durch die jenseitigen Reiche: Werden und Wesen der Göttlichen Komödie Ausklang Unsterblichkeit

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VORWORT „Wer immer von Dantes Genius angerührt wird), wendet den Blick nicht wieder ab von dem Ziele, das er ihm weist, einem Ziele, das nicht von dieser Welt ist." Mit diesen Worten hat Friedrich Frh. v. Falkenhausen selbst die Kraft bezeichnet, die sein Leben durch die letzten schicksalsschweren Jahrzehnte getragen hat. Er, der einst im Staatsdienst an wesentlicher Stelle stand, immer wieder aufbauend und. hoffend, immer wieder resignierend, war von jeher der Danteschen Gedankenwelt verbunden, und hat den letzten Abschnitt seines Lebens daran gesetzt, sie bis zum Grunde zu verstehen und den daraus gewonnenen Trost auch andern zugänglich zu machen. Je mehr Gewalt, Egoismus der Völker und Abfall von den bisher im Abendland herrschend gewesenen geistigen Kräften das europäische Bewußtsein verdunkelten, desto stärker wirkte er f ü r ein neues Verständnis von Dantes Lebenswerk. Dantes großes Lied, das mit so unendlicher dichterischer Kraft und Schönheit das Gefüge der göttlichen Weltardnung offenbart, war ihm die großartigste Beschwörung des Geistes, um den chaotischen Mächten der Zeit standzuhalten und sub specie aeternitatis die Überwindung des irdischen Wirrsals zu erstreben. Der Trost dichterischer Schönheit und der Klarheit des Geistes, der Menschlichkeit

und gläubiger Demut, die das Lied „dran Himmel Hand gelegt und Erde" ausstrahlt, ist ihm, dem Übersetzer, geblieben... so tief und zerstörend auch das dunkle Verhängnis über Europa und mit dem Kriegsende ganz besonders über den deutschen Osten hereinbrach. In der dunkelsten Zeit, im März ig46 ist Friedrich Freiherr v. Falkenhausen in Potsdam gestorben. Die vorliegende Arbeit ist in den Jahren unerhörten geistigen Druckes während des zweiten Weltkriegs entstanden, bestimmt von dem Willen, auch vom Geschichtlichen her und aus der Kenntnis des Lebensschicksals Dantes heraus den Weg zum Verständnis seiner unsterblichen Dichtung dem heutigen Menschen zu erleichtern oder gar zu eröffnen. Harald v. Koenigswald

Dante und wir D e u t s c h e n Was Lessing in seinem vielzitierten Epigramm von dem Dichter des Messias gesagt hat, gilt noch heute bei uns von dem Sänger der göttlichen Komödie: Jeder wird ihn loben, nicht jeder ihn lesen wollen. Wer wüßte nicht aus der Literaturgeschichte, daß Dante am Parnass einer der Größten aller Zeiten, daß er ohne gleichen unter allen Poeten romanischer Zunge ist? Wie viele aber kennen auch nur von dem großen Gedichte, dem er seinen Ruhm verdankt, mehr als den seltsamen Titel, einige Episoden wie die von Ugolino und Francesca da Rimini und zwei oder drei abgegriffene Zitate? Wohl hat Dante in Deutschland eine Gemeinde begeisterter Verehrer. Ein reichhaltiges Schrifttum deutscher Sprache bezeugt den Eifer, mit dem die deutsche Wissenschaft um ihn bemüht ist. Keine andere Dichtung fremder Zunge ist so o f t ins Deutsche übersetzt worden wie seine Commedia. Heimisch aber, wie Homer, wie Shakespeare, ist er bis heute nicht geworden im Reich des deutschen Geistes. In seinem Buche vom „lebendigen Dante" hat sein Landsmann Giovanni Papini das Schlagwort ausgegeben: um Dante zu verstehen, müsse man Florentiner, Katholik und Künstler sein. Er scheint dasParadoxe seines Urteils selbst zu spüren, da er sich beeilt, dessen Tragweite einzuschränken. Wörtlich genommen würde es eine arge Her1 Falkenhaasen, Dante

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absetzung seines Helden bedeuten. Ein Dichter, der nur für die Brüder in Apoll, nur für literarische Feinschmekker genießbar ist, sieht seinen Lorbeer rasch verwelken; sein Wort wird nie, wie das Dantes, durch die Jahrhunderte hallen. Dantes Religiosität, so wesenhaft katholisch ihr Gepräge, ist nicht so eng, daß sie Andersgläubigen den Weg zu ihm versperrte. Tatsächlich haben Protestanten manches treffende und tiefe Wort über ihn gesagt und geschrieben. Das fremde Volkstum aber ist auf den Höhen, wo Dante steht, keine Scheidewand: hier gehen, nach Jakob Burckhardts schönem Worte, alle Schlagbäume in die Höhe. Die Pflege, die Dantes Vermächtnis in Deutschland und auch in England gefunden hat, gibt der des Mutterlandes wenig nach. Ja: die deutsche Danteforschung darf sich rühmen, in mancher Hinsicht, vielleicht in Wesentlichem, der Italiens voraus zu sein. Einer der Neuesten von dort, der eben genannte G. Papini, der durch sein beißend treffendes Urteil über die blind verhimmelnde „Dantomanie" und die instinktlose Haarspalterei der „Dantologen" auch bei uns beträchtliches Aufsehen erregt hat, wirkt mit seinem Versuche, das Menschliche und auch das Allzumenschliche an Dante ins Licht zu stellen, aufs Ganze gesehen, weit weniger überzeugend als das Charakterbild des Dichters und Denkers, das man aus K. Voßlers Buche über die göttliche Komödie gewinnt. Vergleicht man dies Werk dann mit den Leistungen anderer namhafter italienischer Danteforscher, etwa mit Zingarellis Dantebuch, so kann man sich dem Eindruck nicht verschließen, daß der Deutsche dem innersten Wesen des fremdstämmigen Dichters und Denkers näher kommt als seine Landsleute. Der Gedanke an eine geistige Verwandtschaft drängt sich auf, die ihm das Verständnis für Wesenszüge erschließt, die jenen fremd bleiben. Eis ist ein Schildbürgerstreich, wenn der oder jener den großen Florentiner wegen der Herkunft seines a

Familiennamens Alighieri von dem deutschen Aldiger als ganzen oder halben Germanen in Anspruch nehmen will. Der Name ist, wie er selbst (Par. XV, 187 f f ) zu sagen weiß, von dem Geschlecht seiner Ururgroßmutter übernommen, die aus dem Tale des Po — wahrscheinlich aus Ferrara — stammte. Selbst wenn sie, was nach dieser Herkunft höchst unwahrscheinlich, rein deutscher Abstammung gewesen sein sollte, so hätte er damit nur einen von sechzehn Blutsträngen von deutscher Seite empfangen. Die kindische Eitelkeit, alles, weis glänzt im Reiche des Geistes, an sich raffen zu wollen, sollten wir ruhig den Völkern lassen, die es nötig haben, sich mit fremden Federn zu schmücken. Nur darum geht unter den Anthropologen noch der Streit, ob Dante der mediterranen oder der etruskischen Rasse angehört habe. Aber wie immer das Blut in seinen Adern gemischt war: in der Seele des Mannes, der sich selbst Florentiner von Geburt, nicht von Gesinnung nannte, klingt eine Saite, die uns Deutsche wunderbar vertraut anspricht. Seine rücksichtslos unbekümmerte, oft genug bis zur Rechthaberei gesteigerte Wahrheits- und Gerechtigkeitsliebe, der Stolz und die Empfindlichkeit seines Ehrgefühls, die Verachtung des Erfolges, die Herzensneigung zu den Unterliegenden, für die Tragik der Minderheiten, deren Sache kraft ihrer inneren Hoheit noch im Untergange triumphiert, der heilige Ernst, der sich seiner Sache mit Leib und Seele verschreibt und stets bereit ist, für jedes Wort mit dem Leben einzustehen: das alles sind Eigenheiten, die er mit den Edelsten unseres Volkes gemein hat. Strenger als das fremde Blut trennt der Abstand der Jahrhunderte. Es ist nicht die Fülle der zeitgeschichtlichen Anspielungen, die uns tinverständlich geworden sind, weil ein großer Teil der Ereignisse und Persönlichkeiten, die den Zeitgenossen ohne weiteres geläufig waren, heute vergessen ist, auch nicht die Menge dieser 3

nebensächlichen, durch den Fleiß der Ausleger meist gelösten Einzelfragen, was das Verständnis hindert: Weit schwerer ist die Kluft zu überbrücken, die die ganze Denkweise jener Zeit von der unseren scheidet. Das mittelalterliche Weltbild, die philosophischen Ideen, die Anschauungen über Kirche und Staat, über Beruf und Familie, in denen Dante lebte, sind uns fremd geworden. Es ist, als ob die Gedanken des mittelalterlichen Menschen als solche von Haus aus andere Wege gingen als die unseren, oft so überraschende Wege, daß es uns schwer wird, ihnen zu folgen. Aber diese fremdartige Tracht von Dantes Gedanken ist doch nur ihre äußere Hülle. Was sie birgt, ist zeitlos; es reicht in Tiefen hinab, wo unter allem Schutt der Jahrhunderte, von ihren Umwälzungen unberührt, die Wurzeln des Ewigmenschlichen sich verschlingen. Zu diesem inneren Kerne wird der Leser umso leichter hindurchdringen, je näher er dern Dichter als Menschen vertraut geworden ist, je klarer sich ihm sein Seelenleben, seine geistige Persönlichkeit erschlossen hat. Er m u ß suchen, ihn inmitten seiner Umwelt zu sehen, seine Beziehungen, seine Spannungen zu den Mächten seiner Zeit kennen zu lernen. Wüßten wir mehr von Dantes Erdenwallen, so würde ein Bild seines Lebens solcher Schau aufs beste dienen. Leider führt sein Weg auf weite Strecken durch undurchdringliches Dunkel. Urkundliche Zeugnisse sind nur in sehr beschränktem Umfange auf unsere Zeit gekommen. Für den größten Teil seiner Lebensjahre fehlen sie ganz. Von den Zeitgenossen erwähnen ihn Dino Compagni und Giovanni Villani in ihren Chroniken von Florenz. Aber ihre Angaben, obwohl Villani ihm einen besonderen Abschnitt, die Rubrica Dantesca widmet, sind lückenhaft und ohne Zusammenhang. Das gilt auch von den zahlreichen Hinweisen und Andeutungen auf eigene Erlebnisse, die sich in seinen Werken, namentlich in der

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göttlichen Komödie finden. Sie sind überdies zum grossen Teil so dunkel und vieldeutig, daß sie keinen festen Anhalt f ü r die Bestimmung der Tatsachen geben. Auch die Angaben der alten Ausleger zu diesen Stellen sind mit Vorsicht aufzunehmen. Die Legendenbildung, die sich seiner Person schon bei Lebzeiten bemächtigt zu haben scheint und mit der raschen Ausbreitung seines Ruhmes immer üppiger ins Kraut schoß, hat auch hier offenbar ihren Niederschlag gefunden. Giovanni Boccaccio, dem wir die erste Lebensbeschreibung Dantes verdanken, hat ihn selbst nicht mehr gekannt. Er steht indes dem mit Begeisterung verehrten Meister zeitlich noch so nahe, daß er aus seiner Umgebung glaubwürdige Nachrichten erhalten haben wird. Nur legt der Meister der Novelle sichtlich mehr Wert auf gefällige und spannende Darstellung und pathetischen Schmuck der Rede als auf strenge Genauigkeit; er scheidet nicht ängstlich zwischen Wahrheit und Dichtung, gibt auch augenscheinlich manche bloße Vermutung als Tatsache. Wenngleich die Zweifelsucht, mit der lange Zeit seine Angaben, wie überhaupt die Überlieferungen über Dante, von vornherein mit Mißtrauen betrachtet wurden, ohne Frage übertrieben war, so können seine Vita und sein Trattatello doch nicht als unbedingt zuverlässige Quellen gelten. Die späteren Lebensbeschreibungen aus der Zeit des Humanismus sind überhaupt nicht mehr als Quellen zu werten. Sie fußen fast durchweg auf Boccaccio. Einzig der florentiner Staatssekretär Lionardo Bruni nimmt einen Anlauf zu historischer Kritik. Unzufrieden mit Boocaccio, dessen novellistische, allzu empfindsame Art er Dantes unwürdig findet, setzt er sich vor, dessen tätiges Leben, vor allem sein Wirken in der Öffentlichkeit darzustellen. Er hat tatsächlich die Urkunden, die ihm wohl von Amts wegen zugänglich waren, eingesehen und geprüft. So erwähnt er einen eigenhändigen Brief Dantes, 5

dessen Handschrift er beschreibt, und sagt von einem Schreiben, das in den Parteikämpfen der Jahre I3OO/OI eine Rolle gespielt hat, er habe es unter den im Stadthause aufbewahrten Schriften selbst gesehen und halte es für eine Fälschung. Immerhin hat er auf die kleine Schrift, die, wie er selbst bekennt, zur Erholung von ernsterer Arbeit verfaßt ist, nicht allzuviel Sorgfalt verwendet, und in verschiedenen Einzelheiten, namentlich in Zeitangaben, sind ihm Irrtümer nachgewiesen. So spärlich und zum großen Teil so trübe rinnen die Quellen, aus denen wir unser Wissen um Dantes Lebensgang schöpfen müssen. Für weite Abschnitte läßt sich der Verlauf nur mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit ermitteln; über manche Vorfälle sind nur Vermutungen möglich. Klarer wird die Einsicht, wenn es um seinen inneren Werdegang geht, auf den für die Erfassung seiner Persönlichkeit schließlich alles ankommt. So lückenhaft die Kenntnis von dem äußeren Verlauf seines Lebens ist: das, was wir davon wissen, von den Schicksalen, die ihn zum Manne geschmiedet, von seiner Haltung zu den geistigen Strömungen, seinem Ringen mit den politischen Mächten seiner Zeit, es rundet sich zum Bilde, wenn wir es mit den Selbstzeugnissen zusammenhalten, die in jedem seiner Werke reichlich zu finden sind: in der Jugenddichtung vom Neuen Leben, dem Preise der verklärten Herrin Beatrice,* in den Kanzonen des Mannesalters und den gelehrten Abhandlungen des Gonvivio; in der Monarchia, der Streitschrift für das Kaisertum und das heilige Weltreich; vor allen in der göttlichen Komödie, dem Liede von der ewigen Gerechtigkeit. Überall spiegelt sich dort das Wesen ihres Urhebers: nicht allein in den vielfachen bewußten Bekenntnissen; in jedem Worte, das wir von ihm zu hören bekommen. Gelingt es, mit Hilfe dieses Spiegels, dem Gange seines Lebens 6

folgend, ein lebendiges Bild des Mannes vor Augen zu führen, dann wird dem Leser, der so mit seinem inneren Wesen vertraut geworden ist, die Hülle fallen, die ihm den Zugang zu den Tiefen seiner Offenbarung wehrte, und sein Ohr wird, sich öffnen für das, was Dante noch uns Heutigen zu sagen hat. Wenn nicht alles trügt, hat er in seinem poema sacro, dem „geweihten Sang, dran Himmel Hand gelegt und Erde'", gerade unserer Zeit und unsrem Volke noch viel zu sagen. Die Allseitigkeit seines Geistes, der dennoch, in gewollter Einseitigkeit, alles irdische Geschehen in das Licht der ewigen Gerechtigkeit stellt, kann mit der Anschauung solch geschlossenen Weltbildes selbst unserer relativistisch zerfaserten Zeit den Begriff des Absoluten geben. Seine Commedia ist wohl die tiefste Offenbarung des Göttlichen, die wir dem Genius der Dichtung zu danken haben, ein Weckruf diesem Geschlechte, das als Erbe vieler Generationen die Vergötzung vergänglicher Werte überkommen hat. Die Fülle der Gesichte, die eine unerschöpfliche dichterische Eingebung in zwingender Eindringlichkeit gestaltet; die lange Reihe bedeutender Gestalten, die lebendig und lebenswahr an uns vorüberzieht; die Dramatik der bald furchtbaren, bald erhebenden Szenen, die sich vor uns abspielen: das alles, samt der grandiosen Architektonik des Aufbaus, der unvergleichlichen Wucht der dichterischen Sprache, der meist verhaltenen, in ihrer strengen Beherrschtheit umso mächtiger wirkenden Glut der Empfindung und der unerbittlichen Wahrhaftigkeit, mit der sie zum Ausdruck kommt, es scheint berufen, uns nach allem, was wir an Literatentum, Ästhetenkunst und Manierismus im letzten Mensrhenalter erlebt haben, eindringlich vor Augen zu führen, was hohe Poesie ist und was sie vermag, wenn sie sich ehrfürchtig in den Dienst einer heiligen Sache stellt.

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I t a l i e n u n d F l o r e n z zu D a n t e s Z e i t

Die Zeit, in die Dantes Leben fällt, das letzte Drittel des dreizehnten und das erste Viertel des vierzehnten Jahrhunderts, ist der Ausgang des Mittelalters. Man hat diese Jahre mit dem ganzen Trecento wohl als „Vorrenaissance" zu kennzeichnen gesucht und insonderheit Dante selbst als Vorläufer der Renaissance in Anspruch nehmen wollen. Die Bezeichnung t r i f f t die Sache nicht, mag man nun den Begriff der Renaissance wörtlich als Neubelebung der — in Italien nie ganz erstorbenen — Überlieferung der Antike fassen oder, im allgemein geistesgeschichtlichem Sinne, als Lösung des Individuums aus den Banden der herrschenden Ideengemeinschaft, Befreiung des Denkens von der Autorität des Hergebrachten, Aufkommen der Empirie, der exakten Wissenschaften. Wohl bahnt sich in jener Zeit, auf den verschiedensten Gebieten deutlich spürbar, etwas wesentlich Neues an. Aber es weist nicht in die Richtung, wo die Ziele der Renaissance lagen. Mit dem Sturze der Stauf ermacht war das mittelalterliche Kaisertum und mit ihm das Imperium, der staatliche Zusammenhalt des Abendlandes, zu Grabe getragen. Der Versuch Heinrichs VII., es neu zu beleben, ist völlig gescheitert. Die Bahn war frei f ü r das Aufstreben der Nationalstaaten. Zunächst aber blieb als Sieger das mittelalterliche Papsttum auf dem Plan. Sein Weltmachtstreben, dem das Kaisertum erlegen war, erhob sich eben zu Dantes Zeit in Bonifaz VIII. zu den kühnsten Ansprüchen. In der Bulle Unam sanctam verlangte er f ü r den kirchlichen Oberhirten zu dem geistlichen das weltliche Schwert und war auf dem Wege, die Forderung zu verwirklichen. Er erlag der Macht Philipps des Schönen von Frankreich, und bald nach dem Tode des

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durch die Gefangennahme zu Anagni gebrochenen Greises führte Clemens V., der „Gascogner", wie ihn Dante geringschätzig nennt, das Papsttum in die babylonische Gefangenschaft zu Avignon, f ü r den Druck der Kaisermacht den lastenderen der Krone Frankreichs eintauschend. Aber auch hier, so peinlich durch deren Übergewicht seine Bewegungsfreiheit gehemmt war, blieb es auf dem Wege, den einst Gregor VII. eingeschlagen hatte; die Oberherrlichkeit über alle Herrscher des Abendlandes wurde in aller Form als ein dem Nachfolger Petri von Gott verliehenes Recht in Anspruch genommen. Blieb dergestalt das Verhältnis von Kirche und Staat grundsätzlich dasselbe, wie es sich im späteren Mittelalter gestaltet hatte, so blieb auch der Einfluß der Kirche auf das geistige Leben nach wie vor maßgeblich und weithin beherrschend. Auch hier zwar regten sich neue Kräfte. Aber die beiden großen Bewegungen, die damals, dem verweltlichten Kirchenregiment zum Trotz, wahrhaft christliche Frömmigkeit zu neuem Leben zu wecken wußten, waren nach Wesen und Gesinnung echte Schößlinge des Mittelalters: sowohl die geistige Großtat der Scholastik, die, namentlich durch Thomas von Aquino, aus den Händen der Araber die aristotelische Philosophie übernahm, um damit das katholische Dogma zu unterbauen, als die weltverachtend religiöse Inbrunst des heiligen Franz von Assisi. Unter dessen Jüngern machte sich gerade zu Dantes Zeit jene schwärmerische Richtung geltend, die im Gegensatz zu der laxeren Ordensleitung auf strengste Durchführung der von ihrem Meister gebotenen Besitzlosigkeit, namentlich auch bei den Prälaten und Kirchenfürsten, drang. Diese spiritualen Franziskaner legten auch darin eine ausgesprochen mittelalterliche Gesinnung an den Tag, daß sie die Lehre des Kalabreserabtes Joachim de Fiore von den drei Gottesreichen aufnahmen, deren drittes nach seiner Weissagung 9

die beiden ersten, das Gottvaters und das des Gottessohnes, die Reiche des alten und neuen Bundes, in Kürze mit einer Inkarnation des heiligen Geistes ablösen werde. Diese Inkarnation sahen sie in der Geburt ihres Heiligen vollzogen und damit das Reich des Geistes angebrochen. Ihre Schwarmgeisterei ist später von der Kirche als ketzerisch verdammt und verfolgt worden. Damals aber übten sie starken Einfluß, und es kam in dem Orden zu schweren, selbst in blutige Händel ausartenden Streitigkeiten. Im Zeichen thomistischer Scholastik und franziskanischer Mystik stand das gesamte Geistesleben jener Tage. Unter ihrem Einfluß stand auch Dante selbst. In Thomas von Aquino sieht er seinen Führer zu ewiger Wahrheit; auf die thomistische Philosophie und Theologie, auf ihre Welt- und Seelenlehre gründen sich die Anschauungen, die überall in Dantes Werken zum Ausdruck kommen. Scholastisch ist die Methode, wie er seine Ansichten entwickelt, seine Beweise führt. Auf Schritt und Tritt begegnen in seinen Werken Meinungen und Vorstellungen, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf Thomas oder auch auf dessen Vorgänger Albertus Magnus zurückgeführt werden. Anklänge an den Wortlaut von Stellen aus den Schriften des Aquinaten sind nicht selten. Wie dieser Dantes Denken die Richtung gegeben hatte, so gehörte seine Neigung dem heiligen Franz von Assisi. Die im weiteren Verlaufe immer mehr auseinanderstrebenden Richtungen der scholastischen Dogmatik und der franziskanischen Mystik scheinen in Dantes Vorstellung zu harmonischer Einheit verschmolzen. Sinnbildlich kommt das im Paradiso zum Ausdruck, wenn im XI. und XII. Gesänge Thomas von Aquino selbst das Lob des heiligen Franz und dessen Jünger Bonaventura das des heiligen Dominicus singt, dessen Ordenskleider der Aquinate trug. Der erste dieser Gesänge ist ganz dem poverello di Dio und seiner mystischen Ver-

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mählung mit der Armut gewidmet. Wo immer in der Commedia von irdischem Besitz die Rede ist, wird er im Sinne des franziskanischen Armutideals behandelt. Sogar die Apokalyptik jener Spiritualen scheint nicht ohne Einfluß auf Dante gewesen zu sein, wenngleich er ihre Verstiegenheit nicht minder scharf verurteilt als die Laxheit ihrer Gegner. Wagt er doch, den Begründer ihrer Lehre vom Reiche des heiligen Geistes unter die seligen Glaubenslehrer im Himmel der Sonne zu versetzen, obgleich diese seine Lehre von der Kirche als bedenklich und gefährlich verurteilt worden war. Franz von Assisi und Thomas von Aquino, die beiden Erwekker spätmittelalterlicher Geistigkeit, haben bei Dante Pate gestanden, wie wir ihn auch als streitbaren Verfechter der mitteralterlichen Kaiseiidee kennen lernen werden. Auch die italienische Dichtung trug zu Dantes Zeit, wenngleich auf neuen Bahnen zu neuen Zielen strebend, den Stempel des Mittelalters. Ein Pflänzling der proven«jalischen Troubadourpoesie, war sie in der Stoffwahl, in der Vergeistigung des Minnebegriffs, in dem künstlichen Strophenbau und der oft gekünstelten Sprache getreulich ihrem Vorbilde gefolgt. In Italien indes war dies ein neuer Ton. Nachdem bisher das Latein unbeschränkt geherrscht hatte, erklangen jetzt, zuerst am Hofe Kaiser Friedrichs II., Minnelieder in der Volkssprache, dem Volgare. Im Norden, der das Erbe dieser sizilianischen Schule übernahm, legte die Dichtung ihr höfisch ritterliches Wesen ab und kam in die Pflege der Notare und anderer Gelehrter. Diese scuola dottrinale steigerte die Neigung zu gekünstelten Formen, gesuchten Bildern und verschlungenen, oft dunklen Gedankengängen zu trockener Lehrhaftigkeit und geschraubter Haarspalterei, die Dante selbst Anlaß gab, den Ruhmeskranz ihres Hauptes, des damals hochgefeierten Guittone von Arezzo, zu zerpflücken (Purg. XXVI, ff). Unter dem An11

hauch franziskanischer Innigkeit löst sich diese Starrheit. Nachdem schon der Heilige selbst und sein Jünger Jacopone di Todi im Volkston Lieder zu Gottes Ehre gesungen hatten, schlug Guido Guinizelli von Bologna, der „Vater derer, die süß anmutige Liebesreime fanden", wie Dante ihn preist (ebenda v. 97 f f ) , Töne echter Poesie an. Seine Richtung, der dolce stil nuovo, wurde namentlich in Toskana gepflegt und gedieh bei Guido Cavalcanti, Gino da Pistoja und anderen, vor allem bei Dante selbst zur Vollendung. Er kennzeichnet denn auch das Wesen dieses „neuen, süßen Stiles" in den schönen Versen: . . . . Ein solcher bin ich, der, wenn Leben Mir Minne haucht, im Innern widerklinge, Die Weise tönend, die sie eingegeben. Diese Forderung, echter Ausdruck unmittelbaren Empfindens zu sein, ist freilich nichts anderes als das Wesen aller wahren Poesie. Sie ist auch nicht in allen Erzeugnissen der neuen Schule rein erfüllt worden. Daß sie gestellt werden konnte, zeigt immerhin ebenso wie die hier nur knapp umrissene Entwicklung, daß auch die Poesie zu Dantes Zeit neue Wege suchte. Auch auf diesem neuen Wege aber blieb sie der mittelalterlichen Überlieferung des Minnesanges treu. Und wenn Dante, namentlich in seiner Commedia, über den neuen süßen Stil hinausgewachsen ist, so ist dies sein letztes Gedicht, das Lied von der Wanderung durch Hölle, Fegfeuer und Paradies womöglich noch echteres Mittelalter und der Renaissance noch ferner als selbst der Minnesang. Ein Schritt von weittragender Bedeutung war schon die Einführung der Volkssprache in die Poesie gewesen. Dantes Beispiel sowohl wie seine sprachwissenschaftliche Abhandlung de vulgari eloquentia haben die Entwickelung mächtig gefördert und der Bildung der italienischen Schriftsprache, die er aus einer gestaltlosen Masse 12

ungefüger Mundarten herausschälte, bis auf den heutigen Tag die Wege gewiesen. So weit indes diese Tat in die Zukunft weist, so wenig kann die Entthronung des Lateins als Vorspiel zur Renaissance gelten, deren vornehmstes Anliegen die Wiederbelebung der klassischen Sprache und ihres Schrifttums war. Die bildenden Künste erleben in Italien zu Dantes Zeit ihre erste Blüte seit dem Verfall der Antike. Die Plastik der Pisani, die Malerei der florentiner und der sienesischen Schule weisen nicht nur eine dort bisher unerhörte Beherrschung der Kunstmittel auf, sondern auch neue künstlerische Ziele, eine neue Kunstgesinnung. Aber Giottos, Duccios und ihrer Schüler Kunst ist in ihren Formen wie in ihrem Wesen durchaus gotisch; und wenn Niccolö Pisano die Reliefs antiker Sarkophage zum Vorbilde nahm und auf der Kanzel des Baptisteriums zu Pisa die Mutter Gottes als antike Göttin bildete — nördlich der Alpen gab es Ähnliches schon etwa hundert Jahre früher zu sehen —, so zeigen seine späteren Werke und die seiner Nachfolger: die Kanzeln in den Domen von Siena und Pisa, in S. Andrea zu Pistoja, eine Entwickelung, die nicht nur nicht in der Richtung auf die Renaissance verläuft, sondern immer entschiedener auf die Gotik zurückweist. Alles in allem: Dantes Zeit ist eine Zeitwende; aber nicht sowohl Übergang zu einem neuen Zeitalter als vielmehr Ausklang eines zu Ende gehenden, nicht Vorrenaissance sondern Erfüllung des Mittelalters, als dessen echten Sohn Dante selbst sich in allen seinen Lebensäußerungen bekennt: als Vorkämpfer für Imperium und Kaiserrecht, als Schüler der Scholastik und Jünger des heiligen Franz, als Minnesänger und Pilger durch' die jenseitigen Reiche. In seinem Wesen spiegelt sich insonderheit das Jahrhundert, in das sein Leben mündet, das von seltsamen, i3

eng beieinanderliegenden Gegensätzen trächtige Trecento. Mit Staunen sieht der Leser der göttlichen Komödie, wie sich in dem Geiste ihres Schöpfers christliche und antike Vorstellungen verschlingen. Der tugendstolze Realismus der Stoa scheint sich ohne Zugeständnisse mit dem ehrfürchtigen Vertrauen des Christen auf die göttlicne Gnade zu vertragen. In bunter Reihe wechseln Bilder aus der biblischen Geschichte mit solchen aus der griechisch-römischen Mythologie. Wo die Beispiele gehäuft werden, sind sie meist in geflissentlicher Abwechselung diesen beiden Kreisen entnommen. In einem Verse des Purgatorio (VI, n 8 f ) wird gar der Christengott angerufen als „höchster Jupiter, der f ü r uns auf Erden gekreuzigt worden 1" Auch in den Prosaschriften werden Zitate aus der heiligen Schrift und den Kirchenvätern ohne Wahl mit solchen aus den Philosophen, Geschichtsschreibern und Dichtern des klassischen Altertums in eine Reihe gestellt. Noch auffallender ist die Gegensätzlichkeit, wenn in den Beweisführungen, die durchweg streng dogmatisch aufgebaut, vielfach mit Bibelstellen belegt werden, unvermittelt eine Bemerkung auftaucht, die von scharfer Beobachtung der Natur und des Lebens zeugt. So geht in dem Traktat über die Volkssprache die gläubig der Bibel folgende Lehre von der Entstehung der menschlichen Sprache im Paradiese und ihrer Zersplitterung nach dem Turmbau zu Babel in eine scharfsinnige Untersuchung über die Entwickelung der europäischen Sprachen über. So erscheint in der Schrift de monarchia, mitten zwischen Ausführungen von scholastischer Methodik, die in ihrer nüchternen Skepsis fast modern anmutende Entkräftung der päpstlichen Lehre von den zwei Schwertern. Bezeichnend f ü r Dantes Zeitalter ist, wie sich in seiner geistigen Haltung zwei unvereinbar scheinende Gegensätze verschmelzen: neben messerscharfer Berechnung waltet ein Überschwang himih

melstürmender Phantasie. Diese Gegensätzlichkeit gibt namentlich der göttlichen Komödie ihr Gepräge. Mit staunenswerter Geistesschärfe und Folgerichtigkeit ist das Ganze aufgebaut, sind die drei Reiche des Jenseits in das Bild des Ptolemäischen Weltsystems eingefügt. Ort und Zeit, der Stand von Sonne, Mond und Sternen sind so scharf berechnet, daß man immer wieder versucht hat, den Weg der mystischen Wanderung mit Uhr und Meßkette zu verfolgen. An einer bestimmten Grenze aber sieht sich der Leser immer wieder fast unmerklich in das Gebiet des Irrationalen versetzt. Die Begriffe von Raum und Zeit verlieren ihre Gültigkeit. Ewigkeit und Unendlichkeit werden Wirklichkeiten. Am Schlüsse wird in Wort und Bild nachdrücklich vorgestellt, daß im Reiche der Geister die Gesetze der Natur keine Gültigkeit haben. So gleicht das ganze Gedicht, ein Symbol für den Geist seiner Zeit, einem Gebäude, dessen Fundamente fest im Boden wurzeln, während die Zinnen hoch über Erdenlüfte in den ewigen Äther hinaufragen. Dantes Vaterstadt Florenz stand zur Zeit seiner Geburt noch im Zeichen der Parteikämpfe zwischen Ghibellinen und Guelfen, von deren Feldgeschrei seit den Fehden der Staufer mit ihren meist vom Papste begünstigten weifischen Gegnern ganz Italien widerhallte. Die beiden Parteien, im Grunde nur Vetternschaf ten und lose Kampfbünde der miteinander verfeindeten Geschlechter, die dergestalt, je nach Bedarf und Gelegenheit bei Papst oder Kaiser Anlehnung suchend, ihre Händel ausfochten, rangen ständig, mit wechselndem Glücke, um die Herrschaft in der Stadt, wobei, nach dem grausamen Brauche der Zeit, die Unterliegenden jedesmal in die Verbannung geschickt wurden. Um die Mitte des Jahrhunderts hatte dies harte Los die Ghibellinen getroffen. Im Jahre 1260 aber schlugen sie im Bunde mit Siena, wo sie Zuflucht i5

gefunden hatten, unterstützt von deutschen Rittern König Manfreds, unter Führung des Feldhaiiptmanns Farinata degli Uberti die Guelfen in der blutigen Schlacht bei Monteaperti an der Arbia, bemächtigten sich des Stadtregiments und trieben die Gegner aus. Ihre Herrschaft währte nicht lange. Schon nach sechs Jahren wurden sie überwältigt und mußten ihrerseits die Stadt wieder verlassen. Im Jahre 1279 kam durch Vermittelung des vom Papste beauftragten Kardinals Latino Frangipani eine Versöhnung zwischen den Parteien zustande. Unter lebhafter Zustimmung des Volkes, das des ewigen Haders müde war, wurde die Verbannung der Ghibellinen aufgehoben, eine neue Verfassung erlassen, die beiden Parteien Anteil am Stadtregiment zubilligte, eine Anzahl neuer Ämter und Kollegien als Gewähr für die unparteiische Verwaltung des Gemeinwesens eingesetzt und eine Truppe zur Sicherung des Friedens aufgestellt. Mit großer Feierlichkeit wurde der Friede beschworen. Die namhaftesten Vertreter beider Parteien tauschten öffentlich vor allem Volke den Bruderkuß, und Heiraten zwischen den verfeindeten Geschlechtern sollten die Versöhnung besiegeln. Aber die Parteisucht war stärker als aller guter Wille, der sie zu bändigen suchte. Kaum war der mit so großen Hoffnungen begrüßte „Friede des Kardinals Latino" geschlossen, als die Zwistigkeiten von neuem ausbrachen. Bald wurden die Häupter der Ghibellinen abermals vertrieben. Sie suchten, wie üblich, Schutz und Hilfe bei den Parteigenossen in der Nachbarschaft und rüsteten mit deren Unterstützung in dem ghibellinischen Arezzo ein Heer, um die Rückkehr mit Waffengewalt zu erzwingen. Aber die Guelfen kamen ihnen zuvor, indem sie über den Consumapaß und das oberste Arnotal, das Casentino, gegen Arezzo vorrückten. Bei Campaldino errangen sie im Jahre 1289 einen entscheidenden Sieg. Damit war die Rolle der Ghibellinen 16

in Florenz f ü r immer ausgespielt. Von nun an blieben die Guelfen unbestrittene Herren der Stadt. Aber Bürgerzwist und Parteiung dauerten fort in Florenz, wenn auch in veränderter Gestalt. Schon seit geraumer Zeit hatten sich die Gewerke, zunächst die zu Wohlhabenheit gelangten oberen Zünfte, das popolo grasso, gegen die Herrschaft der adligen Geschlechter erhoben, die bis dahin die Leitung des Gemeinwesens fast ausschließlich in Händen gehabt hatten. Unter Führung Gianos della Bella, eines Volkstribunen aus vornehmsten Hause, setzten sie im Jahre I2g3 die ordinamenti di giustizia durch, eine Verfassung, die den Adel von der Stadtverwaltung völlig ausschloß und alle Macht in die Hand der Zünfte legte. Es versteht sich, daß die Geschlechter eine solche Entrechtung nicht ohne Widerstand hinnehmen konnten; umso weniger, als ihnen die gewalttätige Willkür, mit der von ihrer Seite allzu oft die überkommene Macht mißbraucht worden war, von den zur Gewalt gekommenen Popolanen jetzt in Verwaltung und Rechtsprechung mit Zinsen heimgezahlt wurde. Ihre Aussichten schienen günstig, als den Urheber der Umwälzung, den Gracchus von Florenz, schon bald nach dem Erfolge sein Gracchen-Schicksal ereilte. Durch sein hochfahrendes Wesen der Volksgunst verlustig gegangen, überdies dem Papste verdächtigt und von ihm exkommuniziert, wurde Giano della Bella gestürzt und mußte in die Verbannung gehen. Alsbald, im Jahre iag5, kam ein lange vorbereiteter Anschlag, die neue Verfassung mit Gewalt zu beseitigen, zur Ausführung. Er mißlang. Das Volk, zu den Waffen gerufen, zwang die Granden, sich in ihre festen Häuser zurückzuziehen, wo sie förmlich belagert wurden. Unter dem Einfluß Gemäßigter kam indes ein Vergleich zustande, in dem die gehässigste Bestimmung der ordinamenti gemildert wurde: den Angehörigen des Adels wurde gestattet, sich in die Liste einer 2

Falkenhansen, Dante

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der berechtigten Zünfte eintragen zu lassen, wodurch sie die Wählbarkeit zu den städtischen Ämtern wiedererlangten. Gestützt auf ererbtes Ansehn, Reichtum und auswärtige Beziehungen, gewannen sie bald wieder maßgebenden Einfluß auf die Lenkung des Gemeinwesens. Aber auch die alten Feindseligkeiten der Geschlechter untereinander dauerten an, und zu deren Austrag warben die Granden nun Anhang unter den Popolanen, die ihrerseits durch die Eifersucht der niederen Zünfte, des popolo minuto, auf das popolo grasso ebenfalls in sich gespalten waren. Es währte nicht lange, so standen sich in der Bürgerschaft wieder zwei Parteien feindlich gegenüber, erbittert um die Herrschaft kämpfend und bestrebt, sich gegenseitig auszutreiben. „Aufs neue", schreibt Lionardo Bruni, der bereits erwähnte Biograph Dantes, „traf die Bürgerschaft der Fluch der Parteiung: eine neue Entzweiung spaltete die Guelfen selbst, die das Staatswesen beherrschten, und die beiden Parteien nannten sich Schwarze und Weiße. Dies Unwesen war zuvörderst unter den Pistojesen ausgebrochen, vornehmlich in der Sippe der Cancellieri. Und als schon ganz Pistoja in sich zerfallen war, griffen die Florentiner ein, um das Übel zu heilen: sie ließen die Häupter beider Parteien nach Florenz kommen, damit sie, dort festgehalten, nicht noch schlimmere Wirren erregen könnten. Das war ein Heilmittel, das nicht sowohl den Pistojesen durch Entfernung der Parteihäupter zum Frommen, als vielmehr den Florentinern zum Unheil gedieh, die sich damit selber diese Pest zuzogen. Denn da jene Parteihäupter zu Florenz Sippschaft und Gefreundte hatten, entfachten sie, die von diesen Verwandten und Freunden unterschiedliche Begünstigung erfuhren, dadurch hier alsbald den Brand zu noch wilderen Flammen, als sie in Pistoja hinter sich gelassen kitten. Und dieweil das Ding, öffentlich wie im Stillen, 18

sich weiter ausbreitete, gedieh die Saat wunderbarlich, bis die ganze Stadt sich dergestalt entzweite, daß es kaum eine Sippe mehr gab, die, vornehm oder gering, nicht in sich selbst gespalten war, und keinen Privatmann von irgendwelchem Ansehn, der nicht zu einer der Parteien gehalten hätte. Ja, es kam vor, daß die Spaltung leibliche Brüder entzweite, indem der eine auf dieser, der andere auf jener Seite stand." Wie zuvor Guelfen und Ghibellinen, so bildeten jetzt die schwarzen und die weißen Guelfen zwei einander ständig bedrohende Heerhaufen in der Bürgerschaft. Die Weißen, an deren Spitze die Sippe der Cerchi stand, ein schwerreiches aber erst neuerdings zugezogenes Geschlecht, suchten und fanden Anhang bei den Popolanen. Führer der Schwarzen war Corso aus dem altadligen Hause der Donati, ein glänzender Ritter, herrisch und gewalttätig, der als Haupt der parte Guelfa über deren Machtmittel verfügte und, was noch schwerer ins Gewicht fiel, die Gunst des Papstes f ü r seine Sache zu gewinnen wußte. Auf dem Stuhle Petri saß nach dem Verzicht CoelestinsV., des frommen Einsiedlers, dessen müdem Haupte die dreifache Krone allzu schwer gewesen war, sein Widerpart, Bonifatius VIII., eine der ragendsten, zugleich eine der verhängnisvollsten Gestalten in. der Reihe der Päpste. Der stolze Kirchenfürst, klug und willensstark, treulos und verschlagen, ohne jedes Bedenken in der Wahl seiner Mittel, hemmungslos in seiner Machtgier, hatte von der Stunde seiner Erhebung an das Ziel seines Strebens vor aller Augen enthüllt: die päpstliche Tiara sollte die Krone der Weltherrschaft werden. Mit Waffengewalt, unter Mißbrauch der geistlichen Zuchtmittel suchte er Fürsten und Herren des Abendlandes, einen gegen den anderen ausspielend, unter seinen Willen zu beugen. Als Rückhalt plante er in Italien eine Hausmacht für sich und seine Nepoten. Nachdem er das mächtige 19

Geschlecht der Colonna, seine Gegner im Kirchenstaate, unter Aufgebot der Christenheit zum „Kreuzzuge" bekämpft, durch Treubruch zur Übergabe ihrer festen Burg Palästrina vermocht und zu Boden geworfen hatte, gedachte er Toskana, das Erbe Mathildens von Tuscien, mit dem Vorort Florenz in seine Botmäßigkeit zu bringen. Unter dem Vorwande, daß kein gekrönter Kaiser auf dem Throne sitze, nahm er die formell noch immer bestehende Oberhoheit des Reiches für die Kurie in Anspruch, und in Erwartung einer förmlichen Abtretung, die er von Albrecht von Österreich als Preis für die Kaiserkrönung zu erlangen hoffte, trachtete er vorerst in Florenz die Macht zu gewinnen. Der Zwist der dortigen Parteien bot ihm willkommene Gelegenheit, sich in die inneren Händel der Stadt einzumischen, und die Schwarzen, die ihm auf mehr als halbem Wege entgegenkamen, mußten den Zwecken seiner Herrschsucht dienen. So zog sich das Gewitter über Florenz zusammen. So bereitete das Drama sich vor, in dem Dante bestimmt war, seine tragische Rolle zu spielen, und dessen Katastrophe ihn für den ganzen Rest seines Lebens aus der Bahn werfen sollte. Herkunft, Jugend und Neues

Leben

Glorreich Gestirn! O Leuchte ohnegleichen, A n Macht so reich, der alle Kraft und Zier Ich danke, die mein Geist nur kann erreichen I Mit Dir ging auf, zur Rüste ging mit Dir Sie, die da zeugt hienieden alles Leben, D a Tusciens ersten Hauch ich spürt' in mir. (Par. X X I I , 112 f f )

Mit dieser Lobpreisung grüßt Dante, als er auf seinem Himmelsfluge den Fixstemhimmel erreicht, das Zwillingsgestirn, dessen Strahl den darunter Geborenen nach der Lehre der Astrologen Geisteskraft und Wissensdrang 20

auf den Lebensweg mitgibt. In diesem Zeichen des Tierkreises also, gegen Ende des Maimondes, stand die Sonne, als er im Jahre 12 65 — der Tag ist nicht bekannt — zu Florenz das Licht der Welt erblickte. Die Taufe empfing er, wie eine andere Stelle des Paradiso verrät, in dem altberühmten Baptisterium, das der Verbannte in liebevoll wehmütiger Erinnerung il mio bei San Giovanni nennt. Der Taufname wird Durante gelautet haben, dessen Abkürzung Dante f ü r Mit- und Nachwelt sein R u f name geblieben ist. Das Geschlecht der Alighieri, dem Dante entsprossen ist, gehörte dem Stadtadel von Florenz an. Mit sichtlicher Genugtuung führt Dante in der göttlichen Komödie (Par. XV, 37 f f ) seinen Ahnherrn Cacciaguida vor, dem er als seligen Geist auf dem Planeten Mars begegnet. Er läßt sich von dem Ururgroßvater erzählen, wie dieser dem Kaiser Konrad — nach der Zeitangabe m u ß es Konrad III., der Staufer, gewesen sein — als Kreuzfahrer gegen die Ungläubigen Heeresfolge getan und von ihm zum Lohn f ü r gute Dienste mit dem Schwertgurt des Ritters gegürtet worden sei. Der ritterliche Kreuzfahrer ist allerdings der einzige unter Dantes Vorfahren, von dem wir Kunde haben. Von seinen Altvorderen sagt er bei jener Begegnung, es sei besser, von ihnen zu schweigen, als über sie zu reden; ein Wort, das wohl mit Recht dahin gedeutet wird, daß Dante selbst nichts von ihnen gewußt hat. Von seinen unmittelbaren Vorfahren hören wir, daß sie Angehörige der guelfischen Partei gewesen sind und als solche unter der Herrschaft der Ghibellinen in die Verbannung haben gehen müssen. Das läßt sich ihr Sohn und Enkel von dem großen Ghibellinenführer Farinata degli Uberti selber sagen, den er in der Hölle unter den Ketzern a n t r i f f t (Inf. X, 34 ff). Unwillig bedeutet ihm der Verdammte dort, nachdem er seine Herkunft erfragt, daß seine Väter ihm und seiner 21

Partei bitter feind gewesen seien und daß er sie deshalb zweimal aus der Heimat verjagt habe. Dantes Eltern scheinen also unter den guelfischen Parteigängern gewesen zu sein, die bei der Rückkehr der Ghibellinen nach der Schlacht bei Monteaperti in die Verbannung geschickt wurden. Lange können sie indes nicht im Exil geblieben sein, sondern müssen, zumindest die Mutter, wenigstens ein Jahr vor den übrigen Verbannten heimgekehrt sein, die erst in dem auf Dantes Geburt folgenden Jahre wieder in Florenz erscheinen. Vermutlich waren die Alighieri, weil nicht zu den namhafteren Mitgliedern der parte Guelfa gehörig, als ungefährlich der Beachtung der Gegner entgangen. Tatsächlich hat sich bis zu Dante kein Abkömmling des Geschlechtes in Florenz einen Namen gemacht. Der Vater scheint ein kleines Wechselgeschäft betrieben zu haben. In beschränkten Verhältnissen lebend, hatte er augenscheinlich Mühe, das Ansehn des ererbten Adels zu wahren. Außer dem Stadthause im sestiere San Pietro, nahe der Kirche San Martino del Vescovo in der engen Gasse gelegen, wo noch heute die — in dieser Gestalt freilich nicht aus jener Zeit stammende — casa di Dante gezeigt wird, scheinen sie nur spärliche Liegenschaften besessen zu haben. Als der Sohn nach der schon in seiner frühen Kindheit verstorbenen Mutter mit achtzehn Jahren auch den Vater verlor, war das Erbe, das er mit einem Bruder teilen mußte, so gering, daß er nachweislich mehrmals genötigt gewesen ist, Schulden aufzunehmen. Ihrer beengten Lage zum Trotz hat die Familie ihre Beziehungen zu dem Adel der Stadt und auch zu den größeren und mächtigeren Geschlechtern zu erhalten gewußt. Dantes früh verstorbene Mutter stammte wahrscheinlich aus dem altvornehmen Hause der Abbati. Er selbst wurde schon im zwölften Jahre mit Gemma Donati verlobt, der — allerdings einer wenig begüterten 22

Nebenlinie entsprossenen — Tochter jener mächtigen Sippe, deren Haupt, der schon erwähnte Corso Donati, als Führer der Parte Guelfa und der schwarzen Partei später eine überragende Stellung im Gemeinwesen eingenommen hat. Aus der Ehe, die erät siebzehn Jahre später geschlossen worden ist, sind vier Kinder, drei Söhne und eine Tochter, hervorgegangen. Die Tochter, Antonia getauft, ist als Ordensschwester später in das Kloster San Stefano degli Olivi zu Ravenna eingetreten, wo sie den Namen der von ihrem Vater verklärten Herrin Beatrice annahm. Zwei der Söhne, Pietro und Jacobo, haben Glossen zu der göttlichen Komödie hinterlassen. Von Pietro di Dante berichtet Lionardo Bruni, er sei durch eigene Tüchtigkeit und begünstigt durch das Ansehn seines Vaters ein Mann von Bedeutung geworden, habe in Verona einen Hausstand begründet und beträchtliches Vermögen erworben; dessen Enkel Leonardo habe ihn in Florenz selber besucht. Die Familie Alighieri ist erst in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts ausgestorben. Von Dantes Kindheit wissen wir wenig. Nach dem frühen Tode seiner Mutter Bella hat der Vater eine zweite Gattin genommen, die ihm einen Sohn und zwei Töchter schenkte. Mit diesen Stiefgeschwistern ist der Knabe aufgewachsen. Den Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen und in den sieben freien Künsten, dem Trivium und Quadrivium, wird er, wie gebräuchlich, in der Klosterschule empfangen haben: entweder bei den Franziskanern von Santa Croce oder in dem damals besonders beliebten Gonvict der Dominikaner von Santa Maria Novella. Ebendort mag er später, als er nach seinem Bekenntnis die Schulen der Gottesgelehrten und die Disputationen der Philosophiebeflissenen besuchte, den Frater Remigio de' Girolami gehört haben, der hier seine weitberühmten Vorlesungen hielt und seine Zuhörer in 23

die scholastische Philosophie und Theologie einführte. Dante selbst nennt als seinen Lehrer den seinerzeit hochberühmten Brunetto Latini, der durch eine im Exil französisch abgefaßte Enzyklopädie, die livres du Trésor, und einen Auszug daraus in italienischen Reimen, den tesoretto, seinen Ruf begründet hatte. An schulmäßigen Unterricht ist nicht zu denken. Der gefeierte Gelehrte war kein Schulhalter, sondern Notar und Staatsschreiber. Er wird, nach Art der im Zeitalter des Humanismus vielgepriesenen Akademieen, einen Kreis wißbegieriger junger Leute um sich versammelt haben, in deren Mitte Dante wissenschaftliche Anregung und Anleitung empfing. Er bekundet dem Verstorbenen, den er zu seinem Kummer in der Hölle unter den Sodomitern trifft (Inf. XY, 79 ff), seine tiefe Dankbarkeit für die Unterweisung, „wie der Mensch sich die Ewigkeit gewinne". Nicht Bereitung zum ewigen Leben — der Verfasser des Trésor war als weltlich Gesinnter bekannt und gesteht dort selber seinen Mangel an Ehrfurcht vor Gott und der heiligen Kirche ein —, sondern das Streben nach irdischer Unsterblichkeit, nach dem Fortleben im Ruhm seiner Werke will Dante ihm danken, und gewiß mit gutem Grunde. Brunetto Latinis Schriften sind Encyclopädieen des gesamten Wissens jener Zeit; im wesentlichen zwar Kompilationen, Sammlungen von Lesefrüchten und Übersetzungen aus den alten Schriftstellern, aber mit Geschick darauf angelegt, den Neuling in die Kenntnis dieses Schrifttums einzuführen und ihm namentlich Ciceros Werke, zumal seine Staatslehre nahe zu bringen. Zugleich war er selbst Politiker und wurde als Meister des Kanzleistiles gefeiert. Auf allen diesen Gebieten wird er dem jugendlichen Dante Anregung gegeben und den Weg zu eigenem Studium gewiesen haben. Mit welcher Gründlichkeit der Schüler seine Studien betrieben hat, davon legen seine Werke Zeugnis ab, in 24

denen er eine das gesamte Wissen seiner Zeit umfassende Gelehrsamkeit an den Tag legt. Auch seine Biographen u n d Ausleger wissen seinen Lerneifer und seinen unersättlichen Wissensdurst zu rühmen. Dabei betont Lionardo Bruni, d a ß er nichts weniger als ein Stubenhocker und Bücherwurm gewesen sei. Er habe sich, sagt er, nicht in müßigem Grübeln von der Welt abgeschlossen, sondern mit den anderen jungen Leuten seines Alters gelebt und verkehrt; wohlerzogen, gewandt und mutvoll, sei er bei allen Übungen zu finden gewesen, die der J u gend anstehen. Ein Zeugnis, daß er unter der ritterlichen Jugend von Florenz seinen Platz ausgefüllt, findet sich im VII. Gesänge des Paradiso. Dort legt er dem Prinzen Karl Martell von Anjou, dem frühverstorbenen Sohne des Königs Karl II. von Neapel, dessen Seele ihn im Himmel der Venus begrüßt, die Worte in den Mund: Du liebtest recht und recht mit Fuge mich, Denn meine Liebe, blieb ich nur am Leben, Trug bessres Dir als Blätter sicherlich! Der junge Königssohn war auf der Durchreise durch Toskana von den Florentinern mit hohen Ehren empfangen und ritterlich geleitet worden. Dante, der sich vielleicht in dem Ehrengeleite befunden hat, m u ß ihm damals freundschaftlich nahegetreten sein. Daß er die W a f f e n zu f ü h r e n wußte und in ritterlichen Übungen nicht unerfahren war, hat er bewiesen, als er, vierundzwanzigjährig, in den Reihen der guelfischen Reiterei bei Campaldino mitfocht. „In jener großen und denkwürdigen Schlacht", schreibt Lionardo Bruni, „stand er, ein wohlangesehener junger Mann, unter den W a f f e n , kämpfte tapfer zu Pferde in der vordersten Reihe und bestand große Gefahr. Denn die Schlacht begann mit einem Reiterkampf, in dem die 25

Ritter, die auf Seiten der Aretiner waren, das Fähnlein der florentiner Ritter in so wildem Ansturm überrannten, daß diese sich, geschlagen und in Verwirrung, auf die Stellung des Fußvolks zurückziehen mußten. Dieser Einbruch war es jedoch, der den Aretinern den Verlust der Schlacht eintrug. Denn indem die siegreichen Ritter die fliehenden verfolgten, ließen sie ihr Fußvolk weit hinter sich, so daß sie von nun an nie mehr in geschlossener Front kämpften . . . Auf Seiten der Florentiner aber ergab sich das Gegenteil: da ihre Ritter bis zur Linie des Fußvolks zurückgeflutet waren, bildeten sie eine Schlachtreihe und konnten ohne Mühe zuerst die Ritter, dann das Fußvolk schlagen. Diese Schlacht erzählt Dante in einem Briefe. Er bekundet, selber mitgekämpft zu haben, und beschreibt den Hergang des Gefechts." Diesen Brief muß der Biograph selbst vor Augen gehabt haben, denn er führt an anderer Stelle einen Satz daraus mit der Versicherung an, daß es Dantes eigene Worte seien. Alle seine Leiden, klagt dort der Verbannte, hätten ihre Ursache in der Wahl zum Priorate gehabt, „jenem Amte, dessen ich, wenngleich durch Klugheit nicht würdig, in Anbetracht meiner Jahre und meiner Bürgertreue gleichwohl nicht unwürdig war. Denn zehn Jahre waren bereits verstrichen seit der Schlacht bei Campaldino, wo die Partei der Ghibellinen zu Tode getroffen und fast vernichtet wurde, wo ich nicht als Neuling im Waffenhandwerk erfunden ward, wo ich viel Angst auszustehen und zuletzt größte Freude hatte, je nach den Wechselfällen dieses Gefechts". Auch an dem Feldzuge gegen das ghibellinische Pisa, den die Florentiner noch in dem nämlichen Jahre zur Unterstützung der Guelfen von Lucca geführt haben, hat Dante teilgenommen, wie sich aus der Erwähnung eines Ereignisses aus diesem Kriege in seiner Commedia ergibt. Um die Furcht anschaulich zu machen, die ihm in der Höllenkluft der

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Gauner die trotz Vergils Berufung auf seinen vom Himmel empfangenen Auftrag drohenden Mienen der Teufel einflößen, schildert er (Inf. XXI, g4 f f ) , wie nach der Einnahme des den Pisanern gehörigen Kastells Caprona die mit freiem Geleit abziehende Besatzung gleichwohl voller Angst an den dichten Reihen der Belagerer entlanggeschlichen sei. Er sagt ausdrücklich, d a ß er dies selbst mitangesehen habe. Die Überlieferung will wissen, daß Dante in jungen Jahren als Novize in den dritten Orden des heiligen Franziskus eingetreten sei. Erweislich ist ein solcher Schritt nicht. Die Annahme kann sich auf die innige Verehrung berufen, die unser Dichter dem Bräutigam der Armut zeitlebens geweiht hat. Sie gründet sich im Wesentlichen auf eine vielleicht mißverständliche Deutung der dunklen Verse (Inf. XVI, i o 6 f ) , wo es heißt, er habe sich mit einem Strick gegürtet, um den Panther, das Sinnbild der Wollust, zu fangen. Daß der jugendliche Dante mit Fröhlichen fröhlich zu sein verstand, d a f ü r haben wir ein Zeugnis aus seinem eigenem Munde: das anmutige, an seinen Freund Guido Cavalcanti gerichtete Sonett, das freilich in seiner gesamten Dichtung kaum ein Gegenstück findet: Guido, ich wollt', ein Zauber rührt' uns an, Dich, mich und Lapo, führt' als Fahrtgesellen Uns auf ein Schiff, das striche durch die Wellen Bei jedem Wind, wie's einer wünschen kann! Und dürfte keines Wetters Tücke dann, Kein ander Ungemach die Lust vergällen: Einmütig würd* ein Wunsch die Herzen schwellen, Daß nichts mag scheiden unsern Bund fortan. Und Monna Vanna dann und Lagia sollte Und sie auch, deren Zeichen dreimal 'zehn, In unser Boot der gütige Zaubrer tragen; Und nur von Minne wollten wir uns sagen, Und ihrer jede würd' es gerne sehn, Wie's, meiner Treu, von uns ein jeder wollte! 37

Guido Cavalcanti, den Dante den ersten seiner Freunde nennt, scheint ihm bei den ersten Schritten auf dem Parnaß den Arm geboten zu haben. Ein tiefsinniges Sonett, das ihm der jugendliche Dichter zugesandt hatte — es ist das erste der später in die Vita nuova aufgenommenen Gedichte — , h a t der gereifte, als Poet schon gefeierte Mann einer freundlichen und verständnisvollen poetischen Erwiderung gewürdigt. Das, sagt Dante in jenem seinem Jugendwerke, war der Anfang ihrer Freundschaft. Cavalcanti m u ß eine bestechende Erscheinung gewesen sein, recht dazu angetan, einem angehenden Jünger der Musen Führer und Vorbild zu werden. Sprößling eines der angesehensten Geschlechter von Florenz, eine vornehme Natur, vollendeter Weltmann und Ritter, war er als philosophischer Kopf bekannt, dem man, wie in Boccaccios Decamerone zu lesen, freigeistige Neigungen nachsagte, so wie vor ihm schon seinem Vater, den Dante deshalb in die Hölle unter die; Ketzer versetzt. Als Dichter war er mit seinen kunstvoll gebauten, gedankenreichen Sonetten und Kanzonen unbestritten der bedeutendste Meister des dolce stil nuovo, in dem jenerzeit, wie bereits erwähnt, eine neue Blüte der italienischen Poesie sich erschloß. Dante hat sich dem älteren Freunde — wo er von ihm spricht, bezeugt es der Klang seiner Worte — mit bewundernder Hingabe angeschlossen und ist ihm auf dem Wege gefolgt, den jener als Dichter eingeschlagen hatte. Seine Jugendlyrik klingt im neuen, süßen Stil. Es ist die letzte, höchstgesteigerte Stufe des Minnesanges, die dieser Stil erreicht. War schon in der Troubadourpoesie, als deren Abkömmling er erwachsen ist, der Begriff der Minne immer mehr sublimiert und vergeistigt worden, so wird er in der Lyrik des dölce stil nuovo zum Symbol f ü r die höchsten ethischen, ja f ü r religiöse Werte. Amore e '1 cor gentil sona una cosa: 28

Minne und adlig Herz sind eines nur: so heißt es, anklingend an ein älteres Gedicht der Schule, in einem jener Danteschen Sonette. Diesem Überschwang des Minnebegriffs entsprechend wird auch die geliebte Frau über menschliches Maß in eine nicht mehr irdische Sphäre erhoben. Sie wird zum Sinnbild aller Tugend, aller Hoheit, allen Seelenadels. Sie wird zur Trägerin göttlicher Gnadengaben, und selber zur himmlischen Gestalt. Auf diesen Ton sind die frühen Gedichte Dantes gestimmt, zumal jene im dritten Jahrzehnt seines Lebens entstandenen, die er später durch verbindende Erzählung zu dem Büchlein vom Neuen Leben zusammengeschlossen hat. Incipit vita nuova: Hier hebt sich an das neue Leben: so lautet bedeutungsvoll die Überschrift des ersten Kapitels, in dem Dante seine, des neunjährigen Knaben, erste Begegnung mit der noch um etliche Wochen jüngeren Beatrice erzählt. Wir hören, daß „von Stund an Amor seiner Seele Gebieter war, dem sie sich alsbald ganz zu eigen gab, dergestalt, daß alles geschehen mußte, was er befahl". Als ihn die Herrin, eben erwachsen, ihres Grußes würdigt, weiht er sich in schwärmerischer Hingabe ihrem Dienste; schon durch einen Gruß und, als dieser ihm, der in den Verdacht der Flatterhaftigkeit geraten, versagt wird, noch durch das Lob ihrer Tugend beseligt, verehrt er sie in scheuer Ehrfurcht von ferne. Sie stirbt, und sein ganzes ferneres Leben soll ihrem Andenken geweiht sein. Nach einem Jahre tiefster Trauer weckt das tröstliche Mitleid einer edlen Frau neue Neigung; aber in hartem Kampfe siegt die Treue gegen die Verewigte, die ihm in der Glorie ihrer Verklärung erscheint, und er lebt nur noch dem Vorsatz, dereinst „von ihr zu sagen, was noch von Keiner je gesagt worden ist". Das ist, wenn man es so nennen darf, der Gang der Handlung, der, von einem reichen Kranze

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zärtlicher, schwärmerischer, klagender und tiefsinniger Sonette und Kanzonen umrankt, in vieldeutig geheimnisvolle Symbolik und Zahlenmystik eingehüllt und — nicht zum Besten der dichterischen Wirkung — von schulmäßig einteilenden Erläuterungen der Gedichte begleitet ist. Diese Liebesgeschichte, die, äußerlich betrachtet, noch ehe sie recht begonnen, ein tragisches Ende nimmt, in der im Grunde nichts geschieht und die doch so geheimnisvoll von innerem Lichte leuchtet, hat Dante und seiner Herrin Beatrice einen Platz eigenen Ranges in der Reihe berühmter Liebespaare verschafft. Aber ist es denn überhaupt eine Liebesgeschichte? Von jeher ist die Wirklichkeit dessen, was hier als Geschehnis erzählt wird und was doch schon durch den Ton, in dem es erzählt wird, in das Dämmerlicht der Unwirklichkeit gerückt wird, vielfach angezweifelt worden. Bis auf den heutigen Tag wird lebhaft die Ansicht verfochten, das Ganze sei allegorisch zu verstehen. Beatrice soll kein Weib sein, sondern das Ideal aller weiblicher Tugend oder gar Personifikation der Kirche und ihrer Autorität, des Glaubens der Theologie. In der Geschichte der Liebe zu ihr hat man die Einkleidung religiöser Erlebnisse, ja liturgischer Handlungen wie Taufe, Erstkommunion, Priesterweihe, oder gar den Deckmantel f ü r politische Geheimnisse sehen wollen. Keine dieser seltsamen Deutungen läßt sich ohne äußerste Gewaltsamkeit mit den Einzelheiten der Erzählung, mit ihren Gestalten und Bildern in Einklang bringen. Wer nur ein wenig Ohr hat f ü r poetische Wahrhaftigkeit, wer den Klang des Erlebten von dem des Ersonnenen zu unterscheiden weiß, kann schlechterdings nicht auf den Gedanken kommen, daß er hier ausgeklügelte Bilder abstrakter Begriffe vor sich habe. Die Verfechter dieser Meinung können sich freilich in einem Punkte auf Dantes eigene Worte berufen. 3o

In seinem Convivio gibt er an, die Donna gentile, deren Mitleid ihn in seinem Kummer um Beatrice getröstet hatte, sei das Sinnbild der Philosophie gewesen, bei der er in jenem Leide Trost gesucht u n d gefunden habe. Diese Erklärung ist indes offensichtlich eine nachträgliche Umdeutung, nach eigener Angabe bestimmt, übler Nachrede zu begegnen, die den Dichter der Vita nuova als allzu leidenschaftlichen Liebhaber zu verdächtigen drohte. Ganz abgesehen davon, daß die Empfindung f ü r die Donna gentile, die Dante sich als Treulosigkeit vorwirft u n d bald überwunden hat, zu der andauernden, höchst preiswürdigen Hingabe an die Weltweisheit nicht stimmen will: der Klang seiner eigenen Worte zeugt gegen ihn. Zu deutlich spricht die Schilderung der anmutigen Frau am Fenster, deren mitleidige Blicke das Herz des Trauernden bewegen, spricht das Bekenntnis des Zwiespalts zwischen Treuepflicht und keimender Neigung von wahrhaftem Erleben. Man darf nur das Sonett hören, das über diesen Zwiespalt klagt: Der Strahl der Minne, des Erbarmens Licht, Kein Frauenantlitz kann's so lieblich malen; Wie oft ich Huld in schönem Auge strahlen Und tränend sah ein holdes Angesicht: So wundersam wie Eures blickt* es nicht, Da Ihr mich saht in meines Herzens Qualen, Und Wünsche da in meinen Sinn sich stahlen, Dran furcht' ich, zwiegeteilt das Herz mir bricht. Nicht kann ich meinem armen Auge wehren, Erhebt es sich zu Euch, so oft es kann, Denn Weinen, Weinen nur ist sein Begehren. Und also facht Ihr sein Verlangen an, Daß sich's in solchem Schauen muß verzehren. Doch nah ich Euch, nicht weinen mag es dann. Ist es denkbar, daß in diesen Versen die Philosophie angeredet werde? Spürt man nicht vielmehr das ängstliche Schlagen des Herzens, das in dem Widerstreit schmerzlich-zärtlicher Empfindungen „zwiegeteilt zu bre3i

chen" droht? Es ist kein Zweifel möglich: diese Liebesklage richtet sich an ein Frauenwesen von Fleisch und Blut. Und eine Frau, eine wahrhaft geliebte und liebenswerte Frau, ist vollends die huldreiche Herrin Beatrice. Man glaubt sogar feststellen zu können, wer die „historische" Beatrice gewesen ist. Dantes Sohn Jacopo nennt Bice, die Tochter des Patriziers Folco Portinari, die, mit dem Ritter Simone de' Bardi vermählt, in jungen Jahren verstorben ist. Boccaccio in seiner Lebensbeschreibung und die meisten Ausleger von Dantes Werken haben die Angabe übernommen. Da sich das wenige, was von ihrem Leben bekannt ist, mit der Erzählung der Vita nuova wohl in Einklang bringen läßt, so gilt heute Bice Portinari fast allgemein als die Beatrice Dantes. Sie ist es so gut und so wenig, wie etwa Charlotte Kestner, Werthers Lotte, die Angebetete des unglücklichen Selbstmörders ist. Die Vita nuova ist kein autobiographisches Zeugnis, von dem man bindende Auskunft über Gegenstand und Schicksal von Dantes Jugendliebe erfragen dürfte. Sie ist eine Dichtung, die gewiß aus einem wahren inneren Erleben geboren ist, dessen äußere Umstände aber in dichterischer Freiheit gestaltet sind. Und sie ist eine symbolische, eine ganz mit tiefer Symbolik getränkte Dichtung. So ist denn auch Beatrice eine dichterische Gestalt, deren Urbild wir in Bice Portinari erkennen mögen, die indes, von diesem Urbilde vermutlich wesensverschieden, zwar mitnichten Personifikation abgezogener Begriffe, wohl aber Trägerin der Ideen ihres Dichters ist. Wie sie, leisen Schrittes und immer wie in zarte Nebelschleier gehüllt, durch das ahnungsvolle Dämmerlicht dieses neuen Lebens schreitet, scheint ihr F u ß die Erde kaum zu berühren. Übernatürliche Kräfte und Gnadengaben strahlen von ihr aus. Wo sie ihrem Sänger erscheint, ihren Gruß ihm gönnt, überkommt ihn eine Glut liebevoller Hingebung, die ihn jedem, der ihn gekränkt, vergeben heißt. Wer sie 3a

nur erblickt, vergißt Zorn und Übermut und muß seufzend jeden seiner Fehler bereuen. Wo sie sich zeigt, erklingt ihr Lob; aber so wenig es ihre Demut anficht, so wenig weckt es den Neid der anderen. Nichts Gemeines kann vor ihr bestehen: es wird geadelt oder es muß zunichte werden. J a : Reiner, dem sie je ein Wort gegönnt, kann ein unseliges Ende nehmen! Nach ihrem Tode verklärt sie sich ihrem Dichter vollends zur himmlischen Gestalt. In Himmelshöhen, „noch über der Sphäre, die am weitesten kreist", sieht er sie in der Glorie schweben, in einer Herrlichkeit, die sein Geist nicht zu fassen vermag. Das ist nicht Schmuck der Rede, nicht, wie es in der Troubadourpoesie literarische Mode geworden, Übersteigerung höfischer Huldigung. Es ist ohne Frage echtes Erleben. Sofern es sich um das innere Erlebnis handelt, haben wir nicht nötig, Wahrheit und Dichtung zu scheiden; hier können wir dem Bekenntnis des Dichters aufs Wort glauben. Diese Liebe, die, so überwältigend ihr Sehnen ist, vor der Annäherung an die geliebte Frau scheut und schon bei ihrem Anblick in Zagen gerät, die allein von der Wonne ihres Grußes und von der Freude am Lobe ihrer Vollkommenheit lebt, nicht als entsagende, sondern weil ihr bewußt ist, daß jede Erfüllung sie aus ihrer Höhe in den Staub der Alltäglichkeit herabziehen müsse: diese Liebe ist mit ihrem überirdischen Lichte in dem Herzen dieses Mannes wirklich und wahrhaftig aufgegangen, hat von seiner Seele Besitz ergriffen und mit ihrem Strahl sein ganzes Leben erleuchtet, seinem ganzen Dasein die Weihe gegeben. Denn Dantes Amor ist nicht der kleine Schütze, dessen Pfeil die Herzen in süßer Glut entbrennen läßt: er ist eine hohe, göttliche Macht, die den von ihr Gezeichneten in strenge Zucht nimmt und in deren Walten sich irdische Liebe zur himmlischen verklärt. Die Entfaltung solcher irdisch3

FalkeiihaiiBen, Dante

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himmlischen Liebe, die Weise, wie sie in die Seele des Begnadeten einzieht, sie durch ihre Macht veredelt und erhebt, ist der eigentliche Inhalt der Vita nuova, der tiefere Sinn ihrer Erzählung und ihrer Dichtung. Ihre traumhaft visionäre Stimmung, die mystische Dämmerung, in der ihre Gedanken verschwimmen, läßt Wesen und Art dieser Macht und ihren bezwingenden Einfluß auf das Seelenleben des Dichters nur ahnen. Der Leser hat den Eindruck, daß er hier seiner Herrin vorerst noch verworren dient. In voller Klarheit wird ihr Walten als Führerin zum ewigen Heile erst in dem großen Gedichte, dessen Idee in dem oben angeführten Schlußsatze des Jugendwerkes aufleuchtet, in der göttlichen Komödie offenbar. In jener Stimmung liegt aber gerade der einzigartige poetische Reiz der jugendlichen Dichtung. Sonette wie das vorletzte: „Ihr Pilger, die Ihr sinnend müsset g e h e n . . . " , wie das oben wiedergegebene an die Donna gentile, wie die ganze Erscheinung der anmutigen Frau mit dem mitleidigen Blicke haben an zarter Innigkeit kaum ihresgleichen. Die großartig unirdischen Bilder der Kanzonen aber geben schon eine Ahnung von den Gesichten, die in der Commedia aufleuchten werden. Mit der Vollendung der Vita nuova nimmt Dante Abschied von seiner Jugend. Der genaue Zeitpunkt des Abschlusses läßt sich nicht feststellen. Es wird sogar die Ansicht vertreten, daß der Schluß des Werkes nachträglich angefügt sei. Man wird jedoch annehmen dürfen, daß vor der Mitte des letzten Jahrzehnts vor der Jahrhundertwende sowohl die letzten der Gedichte als auch der verbindende Prosatext fertig vorgelegen haben. Die Jahre von da an bis zum Beginn des neuen Jahrhunderts bringen in mehr als einer Hinsicht eine Wende in Dantes Leben und Entwickelung. Die übersinnlich schwärmerische Gefühlsseligkeit verebbt und schlägt f ü r eine Zeitspanne in ihr Gegenteil um, in derben Sinnengenuß. 34

Die Lyrik des dolce stil nuovo verstummt und macht einem brennenden Durste nach Erkenntnis Platz, der in ausgebreiteten Studien Stillung sucht und auch der Dichtung der folgenden Jahre, den gedankenschweren, manchmal geradezu lehrhaften Kanzonen, den Stempel aufdrückt. Der Dichter wird Staatsbürger und stürzt sich mit Leidenschaft in den Strudel des öffentlichen Lebens. Daß Dante in jenen Jahren den Ausschweifungen eines leichtfertigen Genußlebens verfallen ist, hat er in unzweideutiger Selbstbezichtigung bekannt. Wenn er sich zu Beginn der Commedia „um die Mitte des Lebensweges", also gerade am Ende jener Jahre, im finsteren Wald der Sünde verirrt wiederfindet; wenn er auf dem Gipfel des Läuterungsberges von Beatrice mit vernichtender Anklage empfangen und zu reuevollem Geständnis genötigt wird, so gilt dies, wie sich zeigen wird, gewiß nicht allein diesen Verfehlungen und ist nicht einmal ein rein persönliches Schuldbekenntnis. D a ß indes auch an diese Jugendsünden gedacht ist, lehrt schon Beatrices Wort von den Lockungen der Sirenen, denen er erlegen sei, und von einem Dirnlein (pargoletta), der zuliebe sein Höhenflug sich gesenkt habe. Nicht von ungefähr m u ß Dante auch die Buße der Liebessünder — als einzige — am eigenen Leibe verspüren, indem er (Purg. XXVII, 10 f f ) genötigt wird, das Feuer, in dem sie sich läutern, selbst zu durchschreiten. Unmißverständlich ist vollends das Wort, das er (Purg. XXIII, n 5 ) seinem im Jahre 1296 verstorbenen Jugendgefährten Forese Donati, dem Bruder des mehrerwähnten Corso, entgegenhält, als er ihm im Fegfeuer unter den büßenden Schlemmern begegnet: Denkst Du zurück an unser Erdenwallen, Wie Du's mit mir und ich's mit Dir gepflogen, Noch mag es schwer Dir auf's Gewissen fallen! 35

Von dem Treiben mit diesem Zechbruder ist — leider! — ein Bodensatz bis auf unsere Tage erhalten geblieben: ein Sonettenstreit, in dem die beiden sich in unwürdigen Anwürfen gegenseitig überbieten. „Bicci Novel", so redet Dante den Kumpan in dem letzten dieser Trutzgedichte mit seinem Spottnamen a n : Bicci Novel, wer weiß, wes Sohn Du bist? Man müßte Monna Tessa drum befragen! Und der so Geschmähte erwidert mit hämischer Anspielung auf unrühmliche Nachrede: Du bist, das weiß ich nur zu gut, der Sohn Des Alighieri... Zu deutlich verrät sich in diesen boshaften Anspielungen die Unsitte der Zeit, dem Gegenspieler um jeden Preis etwas anzuhängen, als daß man die plumpen Anzüglichkeiten als Zeugnisse f ü r wirklich ehrenrührige Vorkommnisse gelten lassen müßte. Die „tenzone" scheint nicht einmal das Einvernehmen der beiden auf die Dauer ernstlich getrübt zu haben. Bei der Begegnung mit dem Schatten des Verstorbenen unter den büßenden Schwelgern zeigt Dante sich von dem Anblick seiner abgezehrten Züge tief erschüttert, gesteht seinen Tod beweint zu haben und legt ihm ein dankbares Lob seiner Witwe in den Mund, derselben, deren Vernachlässigung er ihm in dem ersten jener Sonette vorwirft. Aber auch so werfen die unsauberen Sticheleien ein so trübes Licht auf Dantes Umgang und Lebensführung in jenen Jahren, d a ß man wünschen möchte, die üblen Verse aus seinem Werke auslöschen zu können. Es besteht indessen kein zureichender Grund, an ihrer Echtheit zu zweifeln. Überhaupt ist das ganze Satyrspiel nach der Tragödie der Vita nuova nur allzugut bezeugt. Augenscheinlich hat sich die leidenschaftliche Natur des heißblütigen Mannes gegen die 36

übersteigerte Geistigkeit des Beatrice-Kultus am Ende aufgelehnt und nun der Sinnlichkeit ihnen Zoll entrichtet. Wein, Weiber, schlechte Gesellschaft haben nach dem Verklingen von Beatrices Andenken ihren Sänger in die Ausschweifungen eines lockeren Lebens verstrickt —• es hat keinen Sinn, die unleugbare Tatsache zu bemänteln. Schließlich ist es auch eines Dante nicht würdig, wenn man sich müht, den Schatten auf seinem großen Bilde himmelblau zu überpinseln. Noch weniger würdig freilich ist die Sucht, die „sittliche Verirrung" sensationell auszumalen, Einzelheiten nachzuspüren, die mangels jeden tatsächlichen Anhalts durch gewaltsame Ausdeutung aus unverfänglichen Worten und Bildern herausgepreßt werden. Hat man sich doch nicht gescheut, den Sänger Beatrioes lediglich deshalb, weil er verdienten Männern unter den Sodomitern in der Hölle Mitleid und Achtung zollt, widernatürlicher Laster zu zeihen 1 Auf die Verirrungen jener Jahre und auf die Zynismen in der Tenzone mit Forese Donati berufen sich auch gewisse Kritiker, die Dante f ü r den Verfasser des Fiore ausgeben, einer jahrhundertelang verschollen gewesenen Umdichtung des zu jener Zeit weitberühmten roman de la rose in italienische Sonette, die das französische Original in schamloser Unflätigkeit noch zu überbieten suchen. Die Zuschreibung wirkt fast wie ein schlechter Scherz. Auf ihre Begründung und deren Entkräftung einzugehen ist hier nicht der Ort. Nur so viel sei gesagt: wenn Dante sich in leicht hingeworfenen Gelegenheitsgedichten, vielleicht in der Weinlaune, so weit vergessen konnte wie in den Sonetten an Forese, so darf man ihm deswegen noch nicht zutrauen, daß er ein ganzes Epos im Tone Jeans de Meun, des Vollenders des Rosenromans, ausgearbeitet habe. Von dem Eintritt ins öffentliche Leben und von der Wendung zur Philosophie soll in den folgenden Ab37

schnitten die Rede sein. Vorwegzunehmen ist noch ein Ereignis, das in diese Übergangsjähre fällt: Dantes Vermählung. Im Jahre i2g/j, soweit sich ermitteln läßt, wurde seine Ehe mit der ihm seit seiner Kindheit verlobten Gemma Donati geschlossen. Daraus, daß von ihrem Walten in Dantes Leben nirgends die Rede ist, daß er die Gattin in seinen Werken mit keinem Worte erwähnt, daß sie seit seiner Verbannung von ihm getrennt gelebt hat, will man folgern, daß die Ehe unglücklich gewesen sei. Schon Boccaccio schreibt, Dante habe sich seine Gattin geflissentlich fern gehalten. Daß sie ihm nicht wie seine Kinder ins Exil gefolgt ist, kann jedoch andere Gründe gehabt haben: Monna Gemma mag durch wirtschaftliche oder Familienrücksichten in Florenz zurückgehalten worden sein. Auch Dantes Schweigen von ihr kann nicht überraschen. Von seinen häuslichen Verhältnissen den Leser zu unterhalten, wäre kaum seine Art gewesen. An eine Liebesheirat ist allerdings nach dem nüchternen Brauche der Zeit und angesichts der schon im kindlichen Alter geschlossenen Verlobung von vornherein nicht zu denken. Auch der Umstand, daß das lockere Leben in Gesellschaft Forese Donatis gerade in die ersten Ehejähre fällt, spricht nicht gerade für junges Eheglück. An Tatsächlichem aber, damit müssen wir uns bescheiden, wissen wir aus Dantes Eheleben nur das eine, daß, wie bereits erwähnt, drei Kinder der Ehe entsprossen sind. Für das Verhältnis zu dem „ersten seiner Freunde" in dieser Zeit haben wir dagegen ein Zeugnis aus dessen eigenem Munde. Zwischen Dante und Guido Gavalcanti ist in jenen Jahren, offenbar unter dem Eindruck der geschilderten Wandlung, eine Entfremdung eingetreten. Die Entwickelung des von diesem wohl mit großen Hoffnungen begrüßten jungen Dichters scheint den älteren Freund enttäuscht zu haben. Man wird sich den als Frei38

denker bekannten Weltmann nicht als Sittenrichter vorstellen dürfen. Immerhin läßt sich denken, daß ihm das nichtige Genußleben des Bruders in Apoll nicht würdig scheinen konnte. Besonders widerwärtig muß dem Todfeinde Corso Donatis der vertraute Umgang mit dessen Bruder, dem Schlemmer Forese gewesen sein, von dem er überdies unerwünschte politische Beeinflussung befürchtet haben mag. Möglicherweise hat auch die Abkehr des Freundes von der Pflege des dolce stil nuovo seine Erwartungen getrogen. In einem Sonett, mit ernster und doch liebevoller Rüge, mahnt er den, wie er meint, durch schlechte Gesellschaft auf Abwege Geratenen an das, was er seiner hohen Berufung schuldig ist. Dies schöne Zeugnis ihrer edlen, hochgesinnten Freundschaft lautet verdeutscht : Wie oft komm' ich zu Dir, wie oft am Tage! Doch allzu niedrig will Dein Sinn mir scheinen: Drum ich um Deinen edlen Geist muß weinen, Um all die Zierde, die dahin, nun klage. Sonst war so manch Gezücht Dir ja zur Plage, Und miedest streng den Pöbel, den gemeinen; So herzlich schienest Du's mit mir zu meinen, Daß, was Du sangst, ich stets im Herzen trage. Nun wag' ich kaum zu loben Deine Lieder, Da gar so niedrig jetzo Dein Gebaren; Nur ungesehen nah ich Dir im Lied. So lies es denn und lies es immer wieder I Dann mag aus Deiner armen Seele fahren Der böse Geist, der in den Staub sie zieht. In der Arena des p o l i t i s c h e n

Kampfes

Eis ist eine Überraschung, den Dichter der Vita nuova, der eben in empfindsam schwärmerischen Sonetten seiner verklärten Herrin gehuldigt und den Plan zu einer Dichtung noch höheren Fluges gefaßt hatte, bald darauf mitten im Getriebe des öffentlichen Lebens zu

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sehen. Kaum war durch die oben erwähnte Milderung der Ordinamenti di giustizia im Jahre 1295 den Angehörigen der Adelsgeschlechter eine Hintertür zum Eintritt in die städtischen Ämter eröffnet worden, als Dante den Weg einschlug. Er ließ sich, der Form halber, in die Zunft der Ärzte und Apotheker aufnehmen, bewarb sich um eine Stelle in den städtischen Kollegien und erreichte in kurzer Zeit sein Ziel. Noch im gleichen und in den folgenden Jahren wurde er in den consiglio speciale, in den Rat der „Weißen Männer" und endlich in den Rat der Hundert gewählt, der über die Gesetze und Verordnungen des Stadtregiments zu beraten hatte. Bezeugen diese rasch auf einander folgenden Berufungen, daß Dante sich von Anfang an durch Einsicht und Geschäftstüchtigkeit bewährt und Vertrauen erworben hat, so darf daraus noch nicht geschlossen werden, daß er schon jetzt und vor der Jahrhundertwende eine wirklich bedeutsame Rolle in Politik und Verwaltung gespielt habe. Maßgebenden politischen Einfluß hatte im Grunde keines der zahlreichen Kollegien, unter die demokratisches Mißtrauen die Verwaltung der Stadt aufgespalten hatte. Ihre Befugnisse waren beschränkt und wenig fest umgrenzt, die Amtsdauer geflissentlich kurz bemessen, die Wiederwahl erschwert. So wurde die höchste Behörde der Stadt, der Rat der sieben Prioren jeweils nur auf zwei Monate gewählt, und die Abtretenden durften erst nach drei Jahren wiedergewählt werden. In Wirklichkeit fiel die Entscheidung über die Geschicke des Gemeinwesens nach wie vor in dem unverantwortlichen Kreise der Parteien. Zwischen den Granden und dem Popolo, den Schwarzen und den Weißen eingeklemmt, mußten die amtlichen Organe dauernd Rücksichten üben, lavieren, Zugeständnisse machen und konnten nicht daran denken, einen festen politischen Kurs zu steuern. In jenen Parteikreisen mußte Dante Einfluß zu gewin4o

nen suchen, wenn er hoffen wollte, eine politische Rolle von irgendwelchem Belange zu spielen. Das war für ihn offenbar ein schwerer Entschluß. Dante erweist sich in allen seinen Worten und Taten als Fanatiker der Gerechtigkeit und als leidenschaftlicher Gegner des Parteigetriebes, dessen verhängnisvoller Einfluß auf das Gemeinwesen die Lage von Florenz in seinem Zeitalter nur zu eindringlich vor Augen führte. Wir hörten, daß sein Geschlecht auf Seite der Guelfen gestanden und daß er selbst in jungen Jahren für die guelfische Sache die Waffen geführt hat. Aber das bedeutet nicht, daß er Guelfe im Parteisinne gewesen ist. Er hat sich sein Leben lang dagegen verwahrt und die Guelfen wie die Ghibellinen als Verfechter des Unrechts gleichermaßen verworfen. Im Paradiese (VI, 97 f f ) läßt er Kaiser Justinian, den Hort des Rechtes, dies Verdamnmngsurteil mit der Haltung beider Parteien gegen das Imperium, die von Gott selbst eingesetzte Ordnung des Abendlandes begründen: wenn die einen den Adler, das geheiligte Zeichen des römisch-deutschen Kaisertums, befehden, so mißbrauchen es die anderen für ihre eigennützigen Zwecke. „Wer" heißt es dort: W e r ist der schlimmere von dem schlimmen Paar? Treibt, Waiblinge, treibt unter andrem Zeichen Eur Wesen I Dies führt wider E h r und Fug, W e r mit ihm will vom Pfad des Rechtes weichen. Nicht kreuz' ihm jener andre Karl den Flug Mit seinen Weifen 1 Mag die Klaun er scheuen, Die stärkrem Löwen schon ins Fell er schlug I

Viele andere Aussprüche ließen sich anreihen, in denen das Unheil der Parteisucht verwünscht und die Triebfeder aller Parteiung, die eupidigia, die Hab- und Machtgier, als Wurzel alles Übels gebrandmarkt wird. Wie Dante keine der beiden alten Parteien als Verfechterin einer gerechten Sache gelten läßt, so haben auch jetzt in

seinen Augen weder die Schwarzen noch die Weißen das Recht auf ihrer Seite. Beide Parteien sah er allzusehr von der Rücksicht auf ihre kleinlichen Vorteile geleitet, als daß er sich f ü r eine von ihnen hätte entscheiden können. Mit den Donati war er verschwägert. Aber in Corso Donati, dem skrupellosen Vergewaltiger jeden Rechtes, mußte er den Verderber des gemeinen Wesens sehen. Auch den Cerchi, den engherzigen Geldleuten, die Politik vom Standpunkte des Geschäftsmannes trieben, konnte er nicht folgen. Er wollte, wie er an anderer Stelle sagt, „ f ü r sich allein Partei bilden" — anscheinend, ohne sich klar zu machen, daß solch Einzelgänger in der Politik von vornherein zum Mißerfolg verurteilt ist. Den Ausschlag gaben schließlich die oben bei der Darstellung der allgemeinen politischen Lage erwähnten Zettelungen der Schwarzen mit dem Papste. Daß sie bereit waren, f ü r die Unterstützung ihres Strebens nach Verdrängung der Gegenpartei aus dem Stadtregiment seinen Herrschaftsgelüsten die Unabhängigkeit der Vaterstadt zu opfern, mußte Dantes Gerechtigkeitsgefühl und seine Heimatliebe gleichermaßen empören. Sein religiöses Bewußtsein aber wird sich schon damals gegen das Verlangen des geistlichen Oberhirten nach weltlicher Macht aufgelehnt haben, wie er es später und bis zum Ende seines Lebens als Auflehnung gegen die von Gott gewollte Weltordnung, als gleich verhängnisvoll f ü r Kirche und Staat bekämpft hat. Wo es um diese Frage ging, war Dantes Stellung von vornherein gegeben: er mußte auf deren Seite treten, die den Ansprüchen des Papstes Widerstand zu leisten entschlossen waren. So näherte er sich, ohne der Partei sich zu verschreiben, den Weißen und scheint mit der Zeit in ihrem Rate nicht unbedeutenden Einfluß gewonnen zu haben. In dem schicksalsträchtigen Jahre i3oo, das, vom Papste zum Jubeljahre erklärt, durch die Verheißung 4a

reichlichen Ablasses zahllose Pilger nach Rom zog und Macht und Glanz der päpstlichen Kurie auf dem höchsten Gipfel sah, trieben die Dinge sichtlich der Entscheidung zu. Immer häufiger kam in Florenz die Feindschaft der Parteien in blutigen Straßenkämpfen zum Ausbruch. Bald nach Beginn des Jahres waren bei einem Leichenbegängnis im Hause der Frescobaldi Anhänger der Donati und der Gerchi handgemein geworden, nicht lange danach Guido Cavalcanti mit seinem alten Gegner Corso Donati, der ihm, wie es heißt, heimlich nach dem Leben getrachtet hatte. Bei der • Maifeier, dem Calendimaggio, gab es wieder einen bewaffneten Zusammenstoß zwischen den beiden feindlichen Gruppen, bei dem einer der Cerchi durch einen Schwerthieb die Nase einbüßte: ein Schimpf, der mehr als manche schwerere Gewalttat den Rachedurst schürte. Noch allgemeiner war die Empörung, als am Johannistage der Zug, in dem alljährlich die Zünfte mit ihren Bannern, von den Behörden der Stadt geleitet, nach der Taufkirche wallfahrteten, überfallen, eine Anzahl der Teilnehmer zu Boden geworfen und mißhandelt wurde. Unter den Tätern wollte man Anhänger Corso Donatis erkannt haben. Der Häuptling der schwarzen Partei, der wegen seiner Gewalttätigkeit allgemein gefürchtet, zugleich aber um seiner glänzenden Erscheinung, um der Pracht, mit der er sich umgab, und um der stolzen Sicherheit seines Auftretens willen vom Volke bewundert wurde — wo er sich sehen ließ, pflegte er mit dem Zurufe Viva il Barone empfangen zu werden, während die ganze Sippe wiederum mit dem Schimpfnamen malefame,Übeltäter' bedacht wurde—, scheint damals mit seinen Spießgesellen eine Art von Schreckensregiment geübt zu haben. Offen wurde er des Mordes an Feinden und auch an Verwandten beschuldigt, auf deren Vermögen er es abgesehen hatte. Seine verwitwete Schwester holte er, um sie zu einer zweiten, für ihn vorteil43

haften Heirat zu zwingen, mit Gewalt aus dem Kloster, in das sie sich zurückgezogen hatte. Der Sühne f ü r seine Missetaten wußte er sich lange durch Bedrohung und Bestechung der Richter zu entziehen. Die Rechtsprechung ward zum Spott. In der göttlichen Komödie (Purg. XII, io5) wird auf einen Fall angespielt, in dem ein Richter die Niederschrift einer Zeugenvernehmung gefälscht hatte und, als die Sache ruchbar wurde, das Blatt aus den Akten verschwinden ließ. Als dem Verächter von Recht und Gesetz der Boden in Florenz allzuheiß wurde, fand er bei dem Papste Schutz und ehrenvolle Aufnahme. Angesichts dieser aufs höchste gespannten Kampflust der feindlichen Parteien war die Obrigkeit der Stadt, in der die weiße Partei überwog, in schwieriger Lage. Jeder Zusammenstoß zwischen einzelnen rauflustigen Parteigängern drohte zum Ausbruch allgemeiner Feindseligkeiten zu führen. Schon die Bluttat am Calendimaggio, die Störung des Friedens in der Festesfreude der Frühlingsfeier hatte solche Erregung hervorgerufen, daß die Prioren auf Mittel sinnen mußten, den Burgfrieden zu erhalten. Sie verfielen auf die verzweifelte Abhilfe, die, wie man sich erinnert, seiner Zeit, zum Unheil f ü r die eigene Stadt, in Pistoja versucht worden war: eine Anzahl führender Mitglieder beider Parteien wurde in die Verbannung geschickt. Lionardo Bruni führt die Maßregel auf einen Vorschlag Dantes zurück. Er irrt zwar in seinen Angaben über den Zeitpunkt und die Veranlassung. die er in einer von den Schwarzen veranstalteten und von ihm als Verschwörung hingestellten, in Wirkkeit erst im folgenden Jahre abgehaltenen Versammlung in der Kirche Santa Trinità gegeben glaubt. Irrig ist auch seine Annahme, daß Dante damals schon dem Rate der Prioren angehört habe, in den er tatsächlich erst um Mitte Juni des Jahres berufen worden ist. Dennoch ist die Überlieferung, daß er die Verbannung der Partei-

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häuptlinge angeregt habe, nicht ohne weiteres zu verwerfen. Dante war zu jener Zeit zwar ohne amtliche Stellung, hatte aber, wie wir sahen, in der weißen Partei wahrscheinlich schon einen gewissen Einfluß. Er war zudem vor kurzem von einer Gesandtschaft zurückgekehrt, die in dem benachbarten San Gimignano, allerdings vergeblich, wegen Verlängerung des zwischen den Städten Toskanas geschlossenen Guelfenbundes verhandelt hatte. Schon die Notwendigkeit, über diese Verhandlungen zu berichten, wird ihm Gelegenheit gegeben haben, auch zu der allgemeinen politischen Lage und zu der brennenden Frage der Erhaltung des Burgfriedens ein Wort zu sagen. Der Plan aber, daß der Schlag beide Parteien gleichermaßen treffen solle, entspricht durchaus seiner Sinnesart und Auffassung. Sein leidenschaftlichss, gelegentlich wohl sogar überspanntes Gerechtigkeitsgefühl, seine Überzeugung von der Verderblichkeit des Parteibetriebes, sein Bestreben, eine Stellung außer und über den Parteien zu behaupten, konnten den in der Politik noch wenig erfahrenen Dichter wohl auf den Gedanken bringen, die Unbill paritätisch auf beide Parteien zu verteilen. Wenn er, wie man hiernach der Überlieferung wird glauben dürfen, tatsächlich der Urheber des Beschlusses gewesen ist, so hat er damit ein Schicksal heraufbeschworen, das ihm schwer auf die Seele gefallen sein muß. Auf die Liste der Verbannten wurde nämlich — sicher gegen seinen Willen — unter anderen auch der „erste seiner Freunde", Guido Cavalcanti, gesetzt. Sarzanaaber an der ligurischen Küste, das den Verbannten der weißen Partei zum Aufenthalt angewiesen wurde, war ein berüchtigtes Fiebernest. Cavalcanti erkrankte dort schwer, und obgleich den Vertriebenen daraufhin im Monat August liie Heimkehr gestattet wurde, ist er kurz nach seiner Ankunft in Florenz gestorben. So ist Dante mög45

licherweise der unschuldige Urheber des Todes seines nächsten Freundes und des begnadetsten Vorläufers seiner Dichtung geworden. Inzwischen waren die Fäden zwischen der schwarzen Partei und dem Papste immer enger gesponnen worden. Die Signoria von Florenz, in der, wie gesagt, die Weißen das Übergewicht hatten, brachte in Erfahrung, daß die Vertreter des florentiner Bankhauses Spini, das in Rom die Geldgeschäfte des Papstes besorgte, selbst eifrige Parteigänger der Schwarzen, die Vermittler des verräterischen Handels waren, der ihrer Partei die Gewalt in der Stadt, dem Papst die Herrschaft über die Stadt verschaffen sollte. Schon im April wurden der Leiter des Hauses und zwei Mitschuldige des Verrates angeklagt und verurteilt. Papst Bonifaz, der das Urteil mit gutem Grunde als Schlag gegen seine Person empfand, erhob Einspruch dagegen, verlangte seine Aufhebung und lud seinerseits Ankläger und Richter zur Verantwortung vor das geistliche Gericht. Als das unerhörte Ansinnen abgelehnt wurde, drohte er mit Gewalt und sandte dann „zur Herstellung des Friedens" den Kardinal Acquasparta nach Florenz. Der Kardinallegat verlangte, statt eine Versöhnung zu versuchen, für seine Person Vollmacht zur Entscheidung der Streitigkeiten zwischen den Parteien, vor allem aber bedingungslose Erfüllung der päpstlichen Forderungen. Die Vertreter der Stadt waren in großer Verlegenheit. Dem Verlangen nach Aufhebung des rechtmäßig gefällten Urteils und vollends nach Auslieferung derer, die das Verfahren pflichtgemäß durchgeführt hatten, konnten sie nicht stattgeben, wenn sie Ehre und Unabhängigkeit des Gemeinwesens wahren wollten. Die Erteilung der verlangten Vollmacht bedeutete nichts anderes als Ergebung auf Gnade oder Ungnade; denn daß die Entscheidung des päpstlichen Beauftragten der schwarzen Partei alle Gewalt in die Hände spielen würde, 46

darüber konnte kein Zweifel bestehen. Die Ablehnung aber brachte nicht geringere Gefahr. Der Papst stand jetzt, in der Mitte des Jubeljahres, auf dem Gipfel seiner Macht. Die Huldigung der unermeßlichen Pilgerschar verlieh der dreifachen Krone einen noch nie erhörten Glanz. Die reichen Opferspenden der Romfahrer füllten die päpstlichen Kassen zum Überfließen. Zudem hatte es den Anschein, daß Philipp der Schöne von Frankreich dem Papste, der seinen Gegensatz zu den Habsburgern auszunutzen verstand, mit Waffengewalt zu Hülfe kommen werde. Seiner Macht, zu der sich alsdann die Anhänger der Schwarzen schlagen würden, war die Bürgerwehr nicht entfernt gewachsen, selbst wenn sie, was keineswegs sicher, Zuzug aus der Nachbarschaft erhielt. Auf jeden Fall war damit der Bürgerkrieg entfesselt, den zu vermeiden das dringendste Anliegen der Behörde gewesen war. Wer Bonifaz kannte, wußte, daß der herrische Kirchenfürst niemals nachgeben, seine Macht rücksichtslos einsetzen und sich auch nicht scheuen würde, die geistlichen Zuchtmittel, Bann und Interdikt, f ü r seine politischen Zwecke zu mißbrauchen. Besonders gefürchtet war in Florenz, dem Hauptorte des ausländischen Geldverkehrs, ein Schachzug des geistlichen Oberhauptes, der den Banken Ruin drohte. Das Verbot des kanonischen Rechtes, Zins zu nehmen, bot ihm, obwohl längst außer Übung gekommen, jederzeit die Handhabe, ein jedes Bankhaus unter Anschuldigung des „Wuchers" in Verruf zu erklären und dessen Schuldnern die Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten zu verbieten: ein Verbot, das, wie sich denken läßt, im allgemeinen willige Erfüllung fand. In den städtischen Kollegien gab es heftigen Meinungsstreit. Die Anhänger der Schwarzen drängten auf Annahme der Bedingungen des Papstes, von dessen Eingreifen sie Erfüllung ihres eigenen Machtbegehrens er-

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warteten. Auf der Gegenseite rang die Abneigung gegen solche Unterwerfung mit der Scheu vor dem Bruch mit dem mächtigen Träger der Tiara. Dante, der kurz vor der Ankunft des Kardinals in den Rat der Prioren eingetreten war, ist mit Entschiedenheit f ü r entschlossenen Widerstand gegen die päpstlichen übergriffe eingetreten. Das wird nicht nur von allen, die über jene Kämpfe berichten, übereinstimmend bezeugt; es ist ihm sozusagen amtlich bescheinigt worden. In dem später gegen ihn erlassenen Urteil wird ihm unter anderen Beschuldigungen vorgeworfen, daß er „sich gegen den summus pon- tifex und Messer Carlo (den päpstlichen Abgesandten Karl von Valois) durch Widerstand gegen seine Aufnahme aufgelehnt" habe. Selbst wenn diese Zeugnisse fehlten, könnte über seine Stellungnahme in jenen Beratungen kein Zweifel sein. Sie konnte nicht anders ausfallen, wenn er nicht seine Überzeugung von der Verwerflichkeit der päpstlichen Ansprüche auf weltliche Macht im allgemeinen und der Anschläge auf die Selbständigkeit seiner Vaterstadt im besonderen völlig hätte verleugnen wollen. Man darf nur an die flammende Rügerede denken, in der er Sankt Peter im Paradiese (XVII, 16 f f ) seine machtgierigen Nachfolger anklagen läßt, aus seinem Grabe eine Kloake voll Blutes und stinkenden Unrats gemacht zu haben; man muß sich der abgründigen Verachtung erinnern, mit der er in der Vorhölle die unentschiedenen Lauen straft, denen nicht einmal die Hölle Platz gönnt, weil ihre Jämmerlichkeit die Sünder stolz machen könnte: und man kann sich leicht vorstellen, mit welcher Schärfe der von seiner Idee von Recht und Gerechtigkeit völlig besessene Dichter, seiner ganzen Anlage nach starr auf seiner Überzeugung beharrend und als Neuling im politischen Leben überdies f ü r die Schachzüge einer undurchsichtigen Politik ohne Verständnis, jede Nachgiebigkeit gegen die in der Tat

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maßlosen Forderungen des Papstes als schwächliche Halbheit bekämpft haben mag. Die Sorge vor den schweren Folgen eines Bruches ließ die Signoria nicht zu entschiedener Stellungnahme kommen. Indem sie dem Papste ihre Ergebenheit bekundete, suchte sie durch Vermittelungsvorschläge seinen Unwillen zu beschwichtigen, ohne doch ihren Standpunkt gänzlich aufzugeben. Der als Friedensstifter erschienene Kardinal aber, der die Unbeugsamkeit seines Auftraggebers kannte, bestand auf unbedingter Unterwerfung unter dessen Willen. Als dann gar von einem Unbesonnenen ein Anschlag auf sein Leben verübt wurde, schwand jede Aussicht auf Verständigung. Obwohl der Rat der Stadt ihm volle Genugtuung und überdies, auf seine bekannte Neigung zur Habsucht bauend, ein reiches Geldgeschenk bot, blieb er unversöhnlich, wies die Gabe zurück, brach die Verhandlungen ab und verließ bald darauf, gegen Ende September, die Stadt, indem er Interdikt und Bann über ihre Einwohner und ihre Obrigkeit verhängte. Auf erneute Vorstellungen und Ergebenheitsversicherungen wurde zwar, in Erwartung baldiger Nachgiebigkeit, die geistliche Maßregelung einstweilen außer Kraft gesetzt. Aber der Papst bestand nach wie vor auf seinen Forderungen. Die Spannung löste sich nicht. Obwohl mitldem in gleicher Bedrängnis lebenden Bologna ein Schutz- und Trutzbündnis geschlossen war, blieb die Lage f ü r Florenz höchst bedrohlich. Am i5. September war Dantes Amtsdauer im Priorat zu Ende gegangen. Die Muße, die ihm der Rücktritt vom Amte bot, scheint er wahrgenommen zu haben, um zur Feier des Jubeljahres nach Rom zu wallfahrten. Er erwähnt die Reise zwar nirgends ausdrücklich, und auch die zeitgenössischen Quellen ergeben nichts darüber. Im Inferno aber (XVIII, 28 f f ) schildert er den Strom der Pilgermassen über die Tiberbrücke an der Engelsburg 4 Faikenbanaen, Dante

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unter Anführung der straßenpolizeilichen VerkehrsOrdnung, die rechts zu gehen gebot, so genau und anschaulich, daß man kaum zweifeln kann, er habe ihn mit Augen gesehen. Daß der erbitterte Gegner des Papstes dessen Rufe zur Andacht an den in seiner Obhut stehenden Gnadenstätten gefolgt ist und an den von ihm verheißenen Gnadengütern Anteil genommen hat, darf nicht Wunder nehmen. Die Entrüstung über die Entartung des verweltlichten Kirchenregiments hat, wie wir sehen werden, Dantes Ehrfurcht vor der Kirche selbst und vor dem geistlichen Amte als solchem keinen Abbruch getan. Wie ernst er den gnadenbringenden Einfluß des Jubeljahres trotz seiner Empörung über die ungeistliche Haltung seines Verkünders genommen hat, läßt die Erzählung erkennen, die er dem im Vorfegfeuer ihm begegnenden Sänger Casella in den Mund legt (Purg. II, g4 f f ) . Die Seele dieses Freundes bekennt, daß sie nach dem Tode, wohl wegen Unbußfertigkeit, lange Zeit auf die Fahrt nach dem Inselberge der Läuterung habe warten müssen und von dem Engel, in dessen Schiff die Seelen dorthin geleitet werden, mehr als einmal abgewiesen worden sei. Mit dem Anbruch des Jubeljahres aber seien alle Harrenden ohne Unterschied zur Überfahrt zugelassen worden. So sah Dante die Wirkung des vom Papste verheißenen Ablasses an. Wir dürfen überzeugt sein, daß der leidenschaftliche Kämpfer als demütiger Pilger nach Rom gezogen ist, dort am Grabe Sankt Peters und an den übrigen heiligen Stätten andächtig gekniet und den verheißenen Ablaß gläubig empfangen hat. Das Jubeljahr ging zu Ende, der nächste Frühling kam ins Land, ehe Dante wieder Gelegenheit fand, sich im öffentlichen Leben zu betätigen. Am 1. April I3OI wurde er von neuem in den Rat der Hundert berufen. Es ist verbürgt, daß er dort als Beauftragter f ü r Wegeund Brückenbau erfolgreiche Arbeit geleistet h a t Aber 5o

auch neue Verhandlungen mit dem Papste riefen ihn auf den Plan. In seiner Fehde mit den Aldobrand'eschi von Santafiore hatte Bonifaz einige Zeit zuvor die Stellung von hundert Mann Hilfstruppen von Florenz verlangt und bewilligt erhalten. Jetzt, nach Ablauf der Frist ihrer Gestellung, forderte er deren Verlängerung. Das sachlich wenig belangreiche Ansinnen stellte den Rat wieder vor eine grundsätzlich bedeutsame Entscheidung. Sollte man dem Papste, mit dem man in offenem Streite lag, der mit Gewaltmaßregeln aller Art drohte, noch Waffenhilfe leisten? Hieß das nicht, dem Gegner das eigene Schwert in die Hand drücken? Auf der anderen Seite war die Frage nicht ganz unberechtigt, was hundert Mann, mehr oder weniger in diesem Kampfe ausmachen könnten. Ist es nicht politisch klüger, sie zu stellen, fragten die Vorsichtigen, als durch Weigerung den mächtigen Gegner, den zu beschwichtigen man eifrig bemüht war, noch mehr zu erbittern? Dante wollte, wie sich denken läßt, auch jetzt von solchen politischen Bedenken nichts wissen. Er mochte fest und mit gutem Grunde überzeugt sein, daß Bonifaz entschlossen war, sein Ziel, die Unterwerfung von Florenz, unter allen Umständen zu erreichen, daß daher jeder Versuch, ihn durch kleine Gefälligkeiten zu begütigen, verlorene Liebesmühe sei. Quod de servicio faciendo Domino Papae nihil fiat: den dem Herrn Papste zu leistenden Dienst betreffend solle nichts geschehen: mit diesen lapidaren Worten ist sein Votum in dem Sitzungsprotokoll vom 29. Juni I3OI aufgezeichnet. Wieder, allerdings nur mit einer Mehrheit von drei gegen zwei Fünftel der Stimmen, entschied die Ratsversammlung gegen ihn. Die Forderung wurde bewilligt, die Hilfstruppe gestellt. Daß Dante recht gehabt hat, wenn er die Nachgiebigkeit f ü r zwecklos hielt, erwies sich nur zu bald. Schon seit geraumer Zeit stand der Papst mit dem französi5i

sehen Könige wegen Stellung von Hilfstruppen gegen seine Widersacher in Italien in Verhandlung. Bereits im Vorjahre war in Aussicht genommen worden, daß der Bruder des Königs, Prinz Karl von Valois, mit einer Schar französischer Ritter nach Italien kommen und dort ein Heer unter den päpstlichen Fahnen sammeln solle. In erster Linie war es bestimmt, dem Hause Anjou das in der sizilianischen Vesper verlorengegangene Inselreich von den Aragoniern zurückzuerobern. Aber es bestand kein Zweifel, daß die Truppen auch zur Unterwerfung Toskanas dienen sollten. Bis zum Frühling I 3 O I war der Prinz noch durch Kämpfe in Flandern in Anspruch genommen. Erst im Monat Mai gelang es dem Sieur sans terre, wie er spottweise genannt wurde, durch Verrat die flandrischen Städte in seine Gewalt zu bringen. •So kam er denn im Julimonat mit seinen Rittern, „ohne Waffen", wie Dante (Purg. XX, 73 f f ) sagt, „nur mit der Lanze, mit der einst Judas focht", über die Alpen und traf gegen Ende August oder Anfang September in An&gni bei dem Papste ein. Er wurde mit hohen Ehren und großen Versprechungen empfangen und beauftragt, unter Aufschub des Unternehmens gegen Sizilien mit seinem Heeresgefolge sogleich gegen Florenz zu ziehen. In einem Sendschreiben, das den Florentinern zugestellt wurde, ernannte der Papst ihn zum „Friedenstifter" mit dem Auftrage, den Widerstand gegen die Kirche zu brechen. Als die Botschaft in Florenz eintraf, sah sich die Obrigkeit der Stadt abermals vor die schwere Frage gestellt, ob sie sich in ihr Schicksal ergeben oder gegen die Übermacht zur Wehre setzen sollte. Wie der „Friede" gemeint war, den der Abgesandte des Papstes zu stiften kam, konnte nach Lage der Dinge nicht zweifelhaft sein. Er würde sicherlich die Sache der Schwarzen, mit denen er dem Vernehmen nach bereits in Castel della 52

Pieve, dem ihnen bei der Verbannung angewiesenen Aufenthaltsorte, zusammengetroffen war, zu der seinigen machen, ihnen zur Gewalt verhelfen und seinen Arm zur Unterdrückung der Weißen leihen. Für diese bedeutete es somit nahezu Selbstmord, wenn sie einem solchen ..Befrieder" die Tore öffneten. Sie ihm verschließen aber hieß einen Kampf beginnen, in dem sie einem mächtigen Feinde gegenüber fast allein auf sich selbst angewiesen sein würden. Höchstens von Bologna war nennenswerte Hilfe zu erwarten. In der Stadt selbst aber scheint die Gegenwehr nicht einmal genügend vorbereitet gewesen zu sein. In der Versammlung, der die folgenschwere Entscheidung oblag, hat Dante das Wort genommen. Aber die Urkunde, die ihn als Redner anführt, schweigt über den Inhalt seiner Äußerung. Aus der bereits erwähnten Urteilsbegründung jedoch, daß er „sich gegen Messer Carlo durch Widerstand gegen dessen Aufnahme aufgelehnt" habe, ergibt sich, daß er auch diesmal, seiner bisherigen Haltung getreu, jede Nachgiebigkeit bekämpft und sich gegen die Zulassung des Valois ausgesprochen hat. Auch bei dieser letzten Entscheidung ist er unterlegen. Man wagte nicht, dem Abgesandten des Papstes, hinter dem überdies die Macht Frankreichs zu stehen schien, das Tor der Stadt zu verschließen, und griff wieder zu dem Auskunftsmittel der Verhandlung: es wurde beschlossen, eine neue Gesandtschaft an den Papst abzusenden. Nachdem die Beteiligung Bolognas erbeten und zugesagt worden war, traten die Gesandten der beiden Städte in der zweiten Hälfte des Oktober'von Florenz aus die Reise nach Rom an. Boccaccio berichtet, Dante habe als einer der drei florentiner Abgesandten an der Gesandtschaft teilgenommen. Auf die Frage, ob er bereit sei, habe er das stolze Wort gesprochen: „Wenn ich gehe, wer bleibt? 53

Und wenn ich bleibe, wer geht?" Diese nach rhetorischer Ausschmückung klingende Äußerung, die sonst nirgends erwähnt wird, macht die Angabe verdächtig. Dante selbst gedenkt der Gesandtschaft mit keinem Worte. Die Zeitgenossen, die davon zu sagen wissen, sind in ihren Angaben so unbestimmt, daß sie keine Gewißheit bieten. P r ü f t man die Frage vom Standpunkt der inneren Wahrscheinlichkeit, so ist es schwer, an Dantes Teilnahme zu glauben. Die Gesandtschaft konnte nach Lage der Sache nur den Zweck haben, den Papst milde zu stimmen und zum Verzicht auf die bereits eingeleiteten Zwangsmaßregeln zu vermögen. Es war von vornherein klar, daß solche Versöhnlichkeit nur um den Preis weitgehenden Entgegenkommens gegen seine hartnäckig festgehaltenen Forderungen erkauft werden konnte. Nach Dantes bisheriger Haltung kann man sich kaum vorstellen, daß er sich zum Sprachrohr solcher Gefügigkeit hergegeben haben sollte. Aber selbst wenn er sich so weit überwunden hätte: war er der Mann, die gewünschte Entspannung zu erreichen? Dantes Name und seine Haltung in den schwebenden Fragen kann am päpstlichen Hofe nicht unbekannt geblieben sein. Gewiß darf man seine Bedeutung im öffentlichen Leben nicht überschätzen, darf sich den zu jener Zeit noch nicht einmal allgemein bekannten Dichter nicht etwa, wie es wohl geschehen, als politisch ebenbürtigen Gegenspieler des großen Kirchenfürsten vorstellen. Daß aber sein nach allen Zeugnissen auffallend heftiger Widerstand gegen die Bestrebungen des Papstes in Rom ruchbar geworden ist, läßt sich nicht bezweifeln. Mußte nicht der bloße Name dieses schärfsten Gegners auf der Liste der Gesandten den Unwillen des reizbaren, ohnehin übelwollenden Papstes steigern und die gewünschte Verständigung noch erschweren? Es scheint undenkbar, daß die Signoria von Florenz sich diese Frage nicht vorgelegt oder 54

diese Bedenken in den Wind geschlagen habe. So bleibt die Tatsächlichkeit dieser Gesandtschaft Dantes, über die bis auf unsere Tage viel gaschrieben und gestritten worden ist, eine offene Frage. Wie dem auch sei: dieser letzte Schritt blieb, wie alle früheren, ohne Ergebnis. Die Abgesandten von Florenz — die Bolognesen, hatten sich auf der Reise von ihnen getrennt — wurden zwar nicht ungnädig empfangen, aber das einzige, was sie zu hören bekamen, war die Forderung unbedingter Unterwerfung unter den Willen des Nachfolgers Petri. Inzwischen erfüllte sich das Schicksal der Stadt Florenz. Am x. November war Karl von Valois mit seinem Gefolge dort eingezogen. Die Stadt hatte nicht gewagt, ihm ihre Tore zu verschließen, und mit unerbittlicher Folgerichtigkeit vollzog sich ihr Geschick. Bei seinem Einzüge hatte der Prinz noch gelobt, die Satzungen der Stadt zu achten und nichts dagegen zu unternehmen. Aber gleich in einer der ersten Nächte ließen seine Söldner, denen auf sein Verlangen die Bewachung der Stadttore überlassen worden war, die ersten der verbannten Schwarzen ein, denen wenige Tage darauf Gorso Donati selbst mit den Seinen folgte. Alsbald wurde der Aufruhr geschürt. Überfälle, blutige Zusammenstöße, förmliche Straßenkämpfe folgten sich. Die festen Häuser der weißen Parteiführer wurden belagert. Schließlich wurden sogar die Gefängnisse geöffnet und Verbrecher aller Art auf die Gegner, ihr Leben und ihr Eigentum losgelassen. Bald wüteten Mord, Brand und Plünderung in der ganzen Stadt. Als ob der Himmel ein drohendes Zeichen geben wollte, erschien in diesen Tagen am Firmament ein großer Komet. In seinem Convivio erwähnt Dante die Himmelserscheinung, die das Bild eines Kreuzes gezeigt habe. Unter Berufung auf den arabischen Gelehrten Albumassar nennt er sie eine Anhäufung selbstentzündlicher Ausdünstungen des 55

Planeten Mars und vergleicht ihre Erscheinung beim Zusammenbruch von Florenz mit dem einer feurigen Kugel, die nach Senecas Angabe beim Tode des Augustus beobachtet worden sei. Daß er sie als unheilverkündend angesehen habe, sagt er nicht ausdrücklich, wie er denn überhaupt die astrologischen Vorstellungen der Zeit nur mit Vorbehalt annimmt. Aber aus seiner Darstellung läßt sich erkennen, wie das unheimliche Zeichen Angst und Schrecken steigernd auf die Gemüter gewirkt hat. An den leitenden Stellen scheint Verwirrung und Kopflosigkeit geherrscht zu haben. Die Prioren, durch das Einverständnis der Franzosen mit der schwarzen Partei eingeschüchtert, wagten nicht, gegen die Ruhestörer wirksam einzuschreiten. Einzelne Versuche beherzter Parteigänger der Weißen, Widerstand zu leisten, blieben beim Mangel einheitlicher Führung ohne Erfolg. Der „Friedestifter" rührte keinen Finger, dem Unwesen zu steuern. Ob der Valens überhaupt daran gedacht hat, die Streitigkeiten der Parteien wirklich zu schlichten, ist bei den bekannten Absichten seines Auftraggebers mehr als zweifelhaft. Er scheint von Anbeginn schlechthin Werkzeug in den Händen der schwarzen Partei gewesen zu sein, die den stets geldbedürftigen Königssohn mit reichen Geschenken erkauft haben soll. Dino Gompagni, Dantes Zeitgenosse, schreibt, die Anhänger der Donati hätten ihn, der sich nicht recht in die Stadt hineingetraut habe, fast mit Gewalt zum Einzüge gezwungen. Nach Lionardo Bruni soll er durch Vorlegung eines augenscheinlich gefälschten Briefes, in dem Parteigänger der Weißen angeblich geheime Beziehungen zu einem seiner Ritter anzuknüpfen versucht hätten, gegen ihre Partei aufgebracht und für deren Unterdrückung gewonnen worden sein. Soviel steht fest, (laß diese mit seiner Unterstützung, zum mindesten unter seiner wohlwollenden Duldung, 56

planmäßig vergewaltigt worden ist. Am Ende waren die Schwarzen unbeschränkte Herren der Stadt. Die bisherige Obrigkeit mußte abtreten und Nachfolgern Platz machen, die den neuen Herren genehm waren. Der neu eingesetzte Podestà, ein Ritter aus Cubbio, namens Cante di Cabrielli, führte das Werk der Rache, das Corso Donati und seine Spießgesellen in den Tagen des Aufruhrs mit Gewalttaten aller Art begonnen hatten, in der Form Rechtens zu Ein de. Die Häupter der weißen Partei und alle ihre Anhänger, die in den Kämpfen der letzten Jahre hervorgetreten waren, wurden unter schimpflichen Reschuldigungen angeklagt. Da sie sich, wohl wissend, was ihrer harrte, und von der Nutzlosigkeit jeder Verteidigung vor diesem mehr als befangenen Richter überzeugt, der peinlichen Refragung durch die Flucht entzogen, wurden sie sämtlich in contumaciam verurteilt. Auch Dante war unter den Angeklagten. Obwohl der weißen Partei nicht angehörig, hatte er durch seinen entschiedenen Widerstand gegen die Forderungen des Papstes und die Aufnahme Karls von Valois die Schwarzen derart gegen sich aufgebracht, daß er unter den Opfern ihrer Rache nicht fehlen konnte. Am 27. Januar i3oa wurde gegen ihn und drei Gefährten das Urteil gefällt, das auf eine Geldstrafe von 5ooo P f u n d lautete und f ü r den Fall, d a ß die Summe nicht binnen drei Tagen erlegt werde, Einziehung des Vermögens, Zerstörung des Hauses und Verbannung auf zwei Jahre androhte. Die Urteilsbegründung, die f ü r alle Angeklagten wahllos nach einheitlichem Muster abgefaßt ist, wirft ihnen in allgemein gehaltenen Ausdrücken Bestechlichkeit, Amtsmißbrauch, Erpressung, Unterschlagung von Staatsgeldern und ähnliche Verletzungen der Amtspflicht vor, ferner Auflehnung gegen den summus Pontifex und Messer Carlo durch Widerstand gegen seine Aufnahme und gegen den Frieden der Stadt und der Guelfischen 57

Partei.Der letzteVorwurf ist wohl der einzig ernst gemeinte Anklagepunkt. Die übrigen zeigen schon durch ihre Unbestimmtheit und den Mangel an sachlichen Feststellungen, daß ihnen nichts Tatsächliches zu Grunde liegt. Man erkennt deutlich das damals beliebte Verfahren, dem politischen Gegner durch schimpfliche, ohne Bedenken aus der L u f t gegriffene Beschuldigungen die Ehre abzuschneiden. Dante hat es denn auch nicht f ü r nötig und seiner würdig gehalten, sich gegen die Anschuldigungen überhaupt zu verteidigen. Selbst nachträglich in seinen Schriften und seiner Dichtung begnügt er sich mit der allgemeinen Klage über die schmähliche Unbill, die ihm, dem exul immeritus, dem „unverdient Verbannten" angetan worden. Dem Richter, der nicht Walter des Rechtes sondern Vollstrecker politischer Rache war, hat er sich so wenig gestellt wie seine Mitangeklagten. An die Erlegung der unmäßig hohen Geldbuße konnte er wohl schon seiner beschränkten Vermögensverhältnisse halber nicht denken. So blieb ihm nur der Weg in die Verbannung. Ob die Anklage ihn überhaupt in Florenz getroffen hat, ist ungewiß. Dino Compagm berichtet, daß von den florentiner Gesandten nach der Audienz beim Papste nur zwei zur Übermittelung seines Willens heimgekehrt seien, der dritte aber in Rom habe zurückbleiben müssen. Dieser dritte, so wird von manchen Forschern angenommen, sei Dante gewesen. Selbst wenn die Annahme zutrifft. ist es höchst unwahrscheinlich, daß er noch bis zum Ende des Januar, also länger als drei Monate in Rom ausgeharrt haben soll. Es läßt sich schlechterdings kein Grund seines Bleibens erdenken, da die Entscheidung inzwischen längst gefallen war. Wo er in dieser Zeit, während sein Schicksal sich erfüllte, sich aufgehalten hat, ist nicht auszumachen. War er noch in Florenz, so hat er jedenfalls spätestens auf die Erhebung 58

der Anklage hin der Stadt den Rücken gekehrt, um sich in Sicherheit zu bringen. Dergestalt, mit völligem Zusammenbruch, ging Dantes politische Laufbahn zu Ende. Angesichts dieses Mißerfolges hat man ihm jede politische Befähigung absprechen wollen. Daß dies nicht die Meinung seiner Zeitgenossen gewesen ist, beweist die Fülle der politischen Aufgaben mannigfaltiger Art, zu denen er, noch in der Zeit seiner Verbannung, herangezogen worden ist und die er zur Zufriedenheit seiner Auftraggeber gelöst hat. Soviel aber scheint zuzutreffen, daß ihm das f ü r die Kunst des Möglichen, wie man die Politik genannt hat, unerläßliche Augenmaß f ü r das jeweils Erreichbare, f ü r die tatsächlichen Gegebenheiten einigermaßen gefehlt hat. Vor allem ging ihm die Wendigkeit ab, ohne die der handelnde Politiker nicht auskommen kann. Die Starrheit, mit der er die ihn ganz beherrschende Idee von Recht und Gerechtigkeit festhielt, zwang ihn, seinen Weg, ohne rechts oder links zu sehen, stets in gerader Richtung zu verfolgen, und machte es ihm unmöglich, das Steuer, wenn es die Lage erforderte, einmal herumzuwerfen. Mit gutem Grunde ist denn auch geurteilt worden, daß die letzte Ursache seiner Mißerfolge nicht sowohl in seiner Anlage als in seinem Willen zu suchen sei. Er habe, schreibt K. Voßler, zwar den Ehrgeiz aber nicht die unbedingte Liebe zum Staatswesen gehabt, sei nicht willens gewesen, im Notfalle sein Seelenheil dafür zu verspielen. Wir werden sehen, daß ihm die Staatlichkeit niemals letztes Ziel war sondern immer nur Mittel zur Erreichung eines höheren: der Rechtsboden, auf dem der Menschheit der Weg zum ewigen Heile bereitet werden soll. Die ethisch religiöse Idee ist es, die ihn ganz beherrscht. So ernst und eifrig er den Fragen über Wesen und Einrichtung des Staates nachgesonnen, so leidenschaftlich er sein staatliches Ideal

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verfochten hat: ein Letztes, ein Absolutes sind ihm diese Dinge nie gewesen. Niemand aber kann sich einer Sache absolut hingeben, deren Relativität ihm bewußt ist.

Exul

immeritus

Wie aus Athen Hippolytum zu fliehn Die arge Mutter trieb mit tückischer Klage, So aus Florenz mußt Du von hinnen ziehn. So will, so plant man's, und mit einem Schlage Vollbringt's, der drauf bedacht zu jeder Stund, Wo Christum sie verschachern alle Tage. Zur Unbill kommt das „Schuldig" dann im Mund Der Welt, wie's allen geht, die Unrecht leiden; Doch tut Vergeltung bald die Wahrheit kundl Du mußt von allem, was Du lieb hast, scheiden, Und was Dir wert: so trifft der erste Pfeil Vom Bogen Dich des Banns mit scharfer Schneiden; Wirst schmecken dann, wie Bitternis Dein Teil, Wie hart das fremde Brot und wie die Stiegen Der Fremde, auf und nieder, ach, so steil I In diesen von Gram und bitterer Empörung eingegebenen Versen läßt Dante sich von seinem Ahnherrn Cacciaguida bei der mehrfach erwähnten Begegnung im Paradiese (XVII, 46 f f ) das harte Schicksal voraussagen, das ihn jetzt ereilt hatte. Es hat seinen dunklen Schatten auf sein ganzes ferneres Leben geworfen. Für den mittelalterlichen Menschen gab es kaum ein herberes Los als die Vertreibung aus der Heimat. Mit der Trennung von dem heimatlichen Herde waren ihm nahezu alle Bedingungen eines ersprießlichen Daseins unterbunden. Gewinnbringende Tätigkeit war in der Fremde kaum zu finden. Um sein Leben zu fristen, mußte der Verbannte seine Füße unter fremde Tische strecken. Es blieb ihm nichts übrig, als bei mächtigen Gönnern und Gesinnungsgenossen Schutz und Obdach zu suchen. Deren 60

Gunst mußte der Flüchtling nur allzuoft mit peinlichen Demütigungen erkaufen, mußte sie mit andren, höchst fragwürdigen Gästen seiner Beschützer teilen, mußte wohl gar mit Gauklern, Possenreißern, Bänkelsängern und solchem Gelichter, deren Späße vielen der großen Herren jener Zeit eine willkommene Würze der Unterhaltung waren, im Wettbewerb um sie ringen. Die Hilflosigkeit, die Not, die Erniedrigung, die der Heimatlose, verfolgt überdies von den grundlosen, in der leichtgläubigen Menge aber gleichwohl willig aufgenommenen Verdächtigungen der Gegner, bei jedem Schritt auf seinem Wege in der Fremde zu dulden hatte, klingt, fast ergreifender noch als aus den Worten Cacciaguidas, aus der beweglichen Klage, in die Dante zu Beginn seines Convivio ausbricht: „Ach, hätte es doch dem Lenker des Alls gefallen,... mir jene ungerechte Strafe zu ersparen, die Strafe des Bannes und der Verarmung I Nachdem es den Bürgern von Florenz, der herrlichsten und ruhmvollsten Tochter Romas, beliebt hatte, mich aus ihrem holdseligen Schöße auszutreiben — wo ich geboren und großgezogen war bis zur Höhe meines Lebens; wo ich mich von Herzen sehne, in Frieden meine müde Seele zur Ruhe zu betten und die mir beschiedene Lebensfrist zu enden —, seither bin ich fast durch alle Gegenden des Landes geirrt, in dem unsere Zunge klingt: heimatlos, schier ein Bettler, wider Willen die Wunde enthüllend, die das Geschick mir geschlagen, eine Wunde, die allzuoft dem Geschlagenen unverdientermaßen als Schuld zur Last gelegt zu werden pflegt. Wahrlich: ein Schiff ohne Segel und Steuer, ward ich von Port zu Port, von Münde zu Münde, von einer Küste zur andren verschlagen von dem dörrenden Winde, mit dem die unselige Armut uns umtreibt. Manchem schien ich verächtlich, der sich nach meinem Rufe ein anderes Bild von mir gemacht hatte. Und nicht 61

allein meine Person verlor ihre Würde: auch mein Werk mußte im Werte sinken, das vollendete wie das neue, das noch vor mir lag Man spürt den bohrenden Stachel in der stolzen Seele des seines Wertes als Schaffender sich bewußten Mannes, der geächtet, mittellos und ohne Erwerb, um Obdach zu finden und sein Leben zu fristen, bald hier, bald dort an die Türen der Mächtigen pochen mußte, während er daheim sein Haus der Zerstörung preisgegeben, die Seinen in steter Bedrängnis, vom Haß der Gegner bedroht wußte. Es kann nicht Wunder nehmen, daß sich unter dem Druck dieser Not ein Zug scharfer Bitterkeit tief und tiefer in seine Seele eingefressen hat. Sein© Wellverarihtung, das furchtbar harte Urteil über seine Zeit, die düstere Lebensauffassung, die das Licht der Hoffnung einzig in der Ewigkeit leuchten sieht, diese ganze Seite von Dantes Wesen, obwohl in seiner innersten Anlage verwurzelt, ist offenbar durch die Erlebnisse des Verbannten zu ihrer letzten Härte geschmiedet worden. Daß er die Heimat bis an sein Lebensende nicht wiedersehen werde, hat er sich schwerlich träumen lassen. Anfangs wird er sioh noch in der Hoffnung gewiegt haben, daß ein baldiger Umschwung der Dinge ihm die Heimkehr ermöglichen werde. So oft in der Geschichte der italienischen Stadtstaaten der Kampf der Parteien zum Sturz der herrschenden Richtung geführt hat, setzten alsbald die Versuche der Ausgetriebenen ein, sich die Heimkehr zu erkämpfen. Sie schlössen sich zusammen, suchten Hilfe bei den Gesinnungsgenossen der Umgegend, warben Truppen und warteten in festen Plätzen der Nachbarschaft auf Gelegenheit, den Gegner in der Vaterstadt zu überfallen. Die aus Florenz vertriebenen Weißen wandten sich, wie vor ihnen die verbannten Ghibellinen, nach dem vorwiegend ghibellinischen Arezzo, 62

wo eben jetzt der in mancher Fehde als Feldhauptmann der Ghibellinen bewährte Uguccione della Faggiola als Podestà waltete. Obwohl weiße Gnelfen sich nennend, waren sie durch den Gegensatz zu dem Papste und den als Guelfissimi sich gebärdenden Schwarzen fast mit Zwang den Ghibellinen immer näher gekommen. So fanden sie jetzt bei ihnen, nicht nur in Arezzo, sondern auch in den Städten der Romagna, vor allem aus Bologna, Unterstützung und Zuzug. Dante schloß sich ihnen an. Es war vor der Hand der einzige Weg, auf dem er hoffen konnte, in die Heimat zurückzufinden. Auf Lösung des Bannes war nicht zu rechnen. Schon zwei Monate nach Fällung des ersten Spruches erging ein neues Urteil, das ihn durch Verhängung der Todesstrafe verschärfte. Im Falle der Rückkehr erwartete den Verbannten der Scheiterhaufen. So hing sein Schicksal von dem Erfolge der Anschläge ab, die von seinen Leidensgefährten und deren Verbündeten in Arezzo geschmiedet wurden. Bei ihrer Vorbereitung hat er zunächst tätig mitgewirkt. Er war einer der Unterhändler, die noch im Frühling desselben Jahres mit den Ubaldini einen Bund geschlossen haben, dem mächtigen, von jeher ghibellinischen Geschlechte, das im Mugello, dem Tale des oberhalb Florenz von Norden her dem Arno zuströmenden Sieve in festen Kastellen saß. Dantes Name steht unter dem Vertrage, in dem ihnen Ersatz aller durch den Kampf gegen Florenz etwa entstehenden Schäden zugesichert wird. Später war er als Abgesandter der Verbanntenliga in Forli, wo er bei Scarpetta degli Ordelaffi, dem Gebieter der Stadl, Unterstützung fand und ihn selbst zum Anführer des geplanten Feldzuges geworben hat. Auch nach Verona zu Bartolomeo della Scala ist er nach zuverlässiger Überlieferung schon damals gekommen, um Hilfstruppen für das Unternehmen zu erbitten.

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Die kriegerischen Unternehmungen der Verbündeten endeten durchweg mit Mißerfolgen, die im wesentlichen durch grobe Fehler in der Anlage und Durchführung verschuldet waren. Planlosigkeit, Uneinigkeit und selbst Verräterei der Streitgenossen, die sich aus ganz verschiedenen Absichten am Kampfe beteiligt hatten, brachten selbst aussichtsvolle Anschläge zum Scheitern. Eine schwere Enttäuschung bereitete den Verbannten schon bald nach ihrer Ankunft in Arezzo die Haltung Uggucciones, der sich damals der Gegenpartei genähert hat. Er söhnte sich mit dem Papste aus, der ihn vom Bann löste, und gab seine Tochter Gorso Donati, dem Todfeinde der Weißen, zur Ehe. Viel Unbill, heißt es in der Chronik Dino Compagnis, hätten die florentiner Verbannten von ihm erfahren. Der Ausfall des tapferen und kriegskundigen Anführers machte sich alsbald unheilvoll geltend. Der erste Vorstoß, den die Verbannten gleich im Sommer dieses ersten Jahres I3O2 mit den Ubaldini und deren Rittern aus dem Mugello gegen Florenz unternahmen, schlug fehl. Er wurde durch einen Gegenstoß der Schwarzen abgeschlagen, die in das Gebiet der Gegner einbrachen und das Land verwüsteten. Bald darauf fiel das Kastell Piantravigne, in dem sie eine Schar der vertriebenen Weißen eingeschlossen hatten, durch Verrat des Garlino de' Pazzi, dem Dante dafür im Inferno (XXXII, 69) ein Brandmal aufdrückt. Er läßt dort, im tiefsten Höllenschlunde, einen anderen seines Geschlechts, Camincion Pazzi, «der im Eise des Cocytus den verräterischen Mord eines Verwandten büßt, den höhnischen Ausspruch tun, er warte auf seinen Vetter Carlino, der ihn entlasten, d. i. seine eigene Untat durch ärgere Treulosigkeit in den Schatten stellen werde. Eines anderen schweren Rückschlages aus dieser Zeit gedenkt Dante im XXIV. Gesänge der Hölle. Er läßt dort (v. 145 f f ) den wegen Kirchenraubes ver-

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dämmten Vanni Fucci aus Pistoja in kränkender Absicht die Weissagung tun : Mars schickt vom Magratale Nebelgraus, Aus dem sich finstre Wetterwolken ballen, Und wütend wird in wildem Sturmgebraus Auf Camp Piceno Schlachtenlärm erschallen; Jach spaltet das Gewölk sein Wetterschlag, Der schwer aufs Haupt dann fällt den Weißen alleni Das sag* ich Dir, daß Dich's gereuen mag. Der Markgraf Morello Malaspina, von Giovagallo im vai di Magra, zog gegen Ende des Sommers mit einem Heere aus Florentiner Schwarzen und Luechesen gegen das mit den Weißen im Einverständnis stehende Pistoja, eroberte schon im Herbste das Kastell Serravalle und schloß die Stadt selber ein, die allerdings erst nach langer Belagerung und tapferer Gegenwehr genommen wurde. Der Rest des Jahres i3oa ging mit Vorbereitungen f ü r einen neuen Angriff hin, mit der Fortsetzung jener Verhandlungen über Gestellung von Waffenhilfe, an denen Dante als Unterhändler beteiligt war. Im Frühling des nächsten Jahres kam der Plan zur Ausführung. Es sollte ein Hauptschlag gegen Florenz werden. Mit großer Heeresmacht, unter F ü h r u n g des Ordelaffi, drangen die Verbündeten, abermals durch das Mugello, gegen das Stadtgebiet vor. Als ihnen aber die Schwarzen unter dem neugewählten Podestà Fulcieri da Calboli im Gebirge entgegentraten, versagte der Kampf wille der Bundesgenossen. Die Bolognesen rückten ab und zogen heim. Scarpetta degli Ordelaffi mit den Seinen warf sich in die den Ubaldini gehörige feste Burg Montaccenico, und die Weißen zogen sich fluchtartig wieder zurück. Es war eine vernichtende Niederlage, die auch den Anhängern der Weißen in Florenz teuer zu stehen kam. Mit Folter und Henkerbeil hat der grausame Fulcieri da 5

Falkenhausen, Daote

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Calboli gegen sie gewütet. „Lebendigen Leibes", so heißt es von ihm im Purgatorio (XIV, 61 f f ) , Lebendigen Leibes hält ihr Fleisch er feil U n d metzelt sie wie Schlachtvieh dann in Scharen, Bringt Viel* um's Leben, sich um E h r und Heil. Bluttriefend wird es letzt von hinnen fahren U n d läßt das klägliche Gehege dann So, d a ß sich's nicht erholt in tausend Jahren.

Die Verbannten selbst haben sich von diesem Schlage nicht wieder erholt, wenn sie auch die Versuche, sich mit Waffengewalt den Rückweg in die Heimat zu bahnen, noch lange nicht aufgaben. Zwischen Dante and seinen Mitverbannten aber kam es nach dem kläglichen Ausgange der mit so großen Hoffnungen begonnenen Unternehmung zu schweren Zerwürfnissen, die schließlich zum Bruche führten. In der Weissagung Cacciaguidas folgen auf die im Eingange dieses Abschnitts angeführten Verse die vielsagenden Worte: D o c h schwerer wird auf Deinen Schultern liegen D i e blöde T ü c k e Deiner Leidgenossen, D i e mit Dir dann in diesen A b g r u n d fliegen. Undankbar, töricht, boshaft, stehn geschlossen Sie wider D i c h ; doch blutrot kommt's zur Stund V o n ihrem, nicht von Deinem Schlaf geflossen.

Der Ausdruck grimmiger Verachtung in diesen Versen bekundet Dantes Empörung über die Planlosigkeit der Kriegführung, die Preisgabe und den Verrat der gemeinsamen Sache, die den Erfolg der von ihm mit Eifer geförderten Unternehmung so schnöde vereitelt hatte. Zugleich klingt daraus die Erbitterung über schwere Unbill, die ihm selbst von den Gefährten seines Schicksals widerfahren ist. Sie haben ihm, wie die Überlieferung bestätigt, die Schuld an dem Mißerfolge aufbürden wollen. Auf seinen Rat soll der anfangs schon 66

für den Herbst I3O2 geplante Angriff behufs besserer Vorbereitung auf das nächste Frühjahr verschoben worden sein. Diesen Aufschub habe man nachträglich als Ursache der Niederlage hingestellt, weil dadurch der günstige Augenblick, die Gelegenheit zur Überraschung des Gegners versäumt worden sei. Es heißt sogar, daß man ihn verräterischer Absichten beschuldigt und verdächtigt habe, von Florenz mit Geld gekauft zu sein. Ein solcher Ausgang konnte kaum ausbleiben. Es ist eine alte, oft bestätigte Erfahrung, daß nach dem Scheitern gemeinsamer politischer Unternehmungen, zumal solcher, die sich gegen die jeweils herrschende Macht richten, die Teilnehmer sich über dem Streit um die Schuldfrage zu veruneinigen pflegen. Ohnehin hatte Dante, der unnachgiebige Einzelgänger, mit den übrigen Verbannten im Grunde nichts gemein ab die gemeinsame Not und den gemeinsamen Gegner. Man braucht daher wirklich nicht nach weiteren Gründen für die Trennung zu forschen. Ein neuer Biograph Dantes, Gallarati Sootti, sieht diesen Grund in einer „Gewissenskrise", in der Erkenntnis des unverdient Verbannten, daß die bewaffnete Auflehnung gegen die Vaterstadt ein Verbrechen gewesen sei. Aus der Gehässigkeit der Parteigesinnung habe er sich zu höherer Anschauung erhoben, sich dazu hindurchgerungen, sein persönliches Schicksal im Lichte des allgemeinen Kampfes zwischen Gerechten und Ungerechten zu sehen. Die Annahme solcher Bekehrung stützt sich, außer auf eine sehr gewagte Deutung der Kanzone tre donne intorno al cormi son venute, wo Amor seine Pfeile im Gegensatz zu denen der Verfolger der Gerechtigkeit die Waffen nennt, die er verlange, auf die Rechtfertigung, die im Inferno dem Ghibellinenführer Farinata in den Mund gelegt wird, daß er nur in der Notwehr und in Gemeinschaft mit den Mitverbannten die Vaterstadt bekriegt, 67

nach dem Siege aber unter Einsatz seiner Person ihre Schonung durchgesetzt habe. Angenommen 9elbst, daß aus Farinatas Worten, wie Gallarati Scotti annimmt, Dante selbst spräche, so verteidigt dessen Wort und Beispiel ja gerade das Recht des Verbannten, um die Heimkehr mit den Waffen zu kämpfen, da selbst ein so vaterlandliebender Mann, wie er sich nach dem Siege zeigte, solchen Kampf nicht gescheut hat. Tatsächlich spricht nichts dafür, daß Dante sich aus seiner Beteiligung an den kriegerischen Unternehmungen der Verbannten jemals ein Gewissen gemacht habe. Noch die oben angeführten Verse, die er gegen Ende seines Lebens gedichtet hat, atmen nur die Entrüstung über die Unfähigkeit und Treulosigkeit seiner Gefährten, an denen jene Unternehmungen gescheitert sind, keinerlei Reue über die Anschläge selbst und seine Beteiligung daran. Hätte er diesen Kampf als Unrecht empfunden, so würde er nicht in seinen Kaiserbriefen Heinrich VII. beschworen haben, Florenz, die Viper, die verderbliche Hydra, zu züchtigen. Er sah sich eben nicht der Vaterstadt als solcher gegenüber, sondern der rechtswidrigen Gewaltherrschaft, die nach seiner Überzeugung deren eigenes Verderben war. Von jeher, wie wir sahen, war er in seinem Kampfe nicht von Parteihaß geleitet: von Anbeginn folgte er der höheren Idee von Recht und Gerechtigkeit. Dazu bedurfte es keiner Bekehrung und keiner Gewissenskrise. Der Zeitpunkt, an dem Dante aus dem Lager der Verbannten ausgeschieden ist, läßt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Eine Spannung zwischen ihnen hat ohne Frage seit dem Mißerfolge vom Frühjahr i3o3 bestanden, den er den Schuldigen, die Schuldigen ihm zum Vorwurf machten. Es ist bezeichnend, daß unter einem Abkommen, das am 9. Juni über Waffenhilfe für einen neuen Angriff auf Florenz in Bologna ge68

schlössen worden ist, unter zahlreichen Unterschriften der Name Dantes fehlt. Vor Ausgang des Winters m u ß er jedenfalls Arezzo verlassen haben. Wir werden sehen, daß e r allem Anschein nach in Verona von Bartolomeo della Scala aufgenommen wurde, der Anfang März i3o4 gestorben ist. Vielleicht war er schon nicht mehr im Lager der Verbannten, als das folgenschwere Ereignis eintrat, das ihnen neue Aussichten zu eröffnen schien. Papst Bonifaz war mit König Philipp dem Schönen zerfallen und befand sich wegen seiner Ansprüche auf die Gewialt über den französischen Klerus in erbittertem Streite mit ihm. Am 7. September i3o3 wurde er von dem Kanzler des Königs, Wilhelm von Nogaret, und Sciarra Golonna, dem Haupte des mächtigen, von dem Papste unnachsichtlich verfolgten römischen Adelsgeschlechtes, in seinem Schlosse zu Anagni überfallen und gefangen genommen. Unter Drohungen und Mißhandlungen suchten sie ihn zur Niederlegung der Tiara zu bewegen. Aber der greise Kirchenfürst blieb standhaft. Er wurde schließlich von den Seinen befreit und nach Rom in Sicherheit gebracht, starb aber schon einen Monat später an den Folgen der erlittenen Gewalt. Dante mußte das Ableben des Papstes, in dem er seinen Todfeind, den Bedränger seiner Vaterstadt und den Verderber der Kirche sah, als Erlösung von schwerem Druck empfinden. Aber er beweist auch hier, wie unbestechlich er zwischen der Person des Amtsträgers und dem heiligen Amte als solchem zu unterscheiden weiß. In seinem Gedichte gedenkt der ehrfürchtige Sohn seiner Kirche der Ruchlosigkeit, die sich an der geheiligten Person des Statthalters Christi vergriffen hatte, mit höchster Empörung. Er läßt im Purgatorio (XX, 85 f f ) Hugo Capet, den eigenen Ahnherrn des schuldigen Königs, der an anderer Stelle Frankreichs 69

Pest gescholten wird, diese Gewalttat härter als alle anderen Untaten seiner Nachfolger verdammen und dem an dem Heiland selbst begangenen Frevel an die Seite stellen: J a : alles bleicht, was je und je begangen, Seh gen Alagna ich die Lilien wehn, Seh Christ in seinem Statthalter gefangen! Ich seh zum andern ihn verspottet stehn, Seh ihn aufs neu mit Gall' und Essig tränken Und zwischen neuen Schachern sterben gehn. So streng er indes die Tat beurteilen mußte, ihre Folgen waren angetan, seine Hoffnungen f ü r sich selbst sowohl wie f ü r die Sache der Gerechtigkeit, der er sich verschworen hatte, zunächst neu zu beleben. Bonifazens Nachfolger auf dem Heiligen Stuhle, Benedikt XI., in allen Stücken das Gegenbild seines Vorgängers, suchte auch in Florenz die von jenem so verhängnisvoll geschürte Zwietracht zu schlichten. Seinem Abgesandten, dem Kardinal Niccolö von Prato gelang es in der Tat, eine Verständigung zwischen den Parteien zu erzielen. Er lud Vertreter der verbannten Weißen und auch der Ghibellinen nach Florenz und vermittelte zwischen ihnen und den schwarzen Guelfen, die inzwischen auch unter sich gespalten waren, nachdem Gorso Donati in Rosso della Tosa ein Nebenbuhler erstanden war. Alle diese Widersacher wurden dazu vermocht, in feierlicher Versammlung die Versöhnung zu beschwören und den Bruderkuß zu tauschen. Aber auch dieser Friede war nicht von Dauer. Die Verhandlungen über die neue Ordnung waren noch nicht abgeschlossen, als, von den Schwarzen geschürt, neue Unruhen ausbrachen. Die Vertreter der Weißen, wohl mit Grund um ihre Sicherheit besorgt, verließen die Stadt. Wenige Tage darauf kehrte ihr auch der Friedensstifter, selbst von den Schwarzen bedroht, den Rücken, indem er das Interdikt über sie verhängte; 7o

einen Monat später, am 7. Juli i3o4 schloß der betagte und kränkliche Friedenspapst die müden Augen. Sein Nachfolger Clemens V., der Franzose Bertrand de Got, der, durch den Einfluß seines Königs auf den Heiligen Stuhl gelangt, den Sitz der Kurie nach Avignon verlegte, hatte andere Sorgen als die Befriedung der Städte Italiens. Er nahm die Bemühungen seines Vorgängers nicht auf. Die um ihre Hoffnung betrogenen und nach Arezzo in die Verbannung zurückgekehrten Weißen rüsteten alsbald einen neuen Zug gegen Florenz. Am 17. Juli des Jahres gelang es ihnen zum erstenmale, durch Überraschung in die Stadt einzudringen. Aber die Unterstützung aus den Reihen der Bürgerschaft, auf die sie gehofft hatten, blieb aus, sie konnten sich nicht halten und wurden mit blutigen Köpfen heimgeschickt. Auf diesen schweren Schlag zielt Dante augenscheinlich, wenn er in den zuletzt angeführten Versen seinen Ahnherrn sagen läßt, in Bälde werde von seiner Leidensgenossen, nicht von seiner eigenen Schläfe das rote B l u t fließen. Er selbst hatte ja an diesem letzten Anschlage keinen Anteil mehr. Als der von dem Kardinal von Prato vermittelte Friede in die Brüche ging, hat et offenbar die Sache der Verbannten, von denen er sich schon vorher losgesagt hatte, endgültig verloren gegeben. Rückblickend hat «r das in der eben erwähnten Zwiesprache mit Farinata degli Uberti angedeutet, wenn er sich von dem Verdammten voraussagen läßt: wie schwer es sei, aus der Verbannung heimzufinden, werde er erfahren, ehe der Mond fünfzigmal voll geworden sei. Er gibt damit zu verstehen, daß er sich vor) Ablauf von fünfzig Monaten nach der Osterwoche des Jubeljahres i3oo, in die er die Höllenfahrt verlegt, vor dem E!nde des Junimondes i3o4 also, in dem der Kardinal nach dem Scheitern seiner Vermittlung Florenz verließ, von 71

der Aussichtslosigkeit der Rückkehrversache seiner Mitverbannten hat überzeugen müssen. Er hatte inzwischen, nach dem Scheiden von Arezzo, „die erste Zuflucht und das erste Obdach", wie es in Cacciaguidas Weissagung heißt, „bei dem großen Lombarden, der über der Leiter den heiligen Yogel im Schilde führt", gefunden. Es war die Burg der Scaliger, die ihn aufnahm, der Gebieter Veronas, die zu der Leiter, dem Zeichen ihres Namens, in jenen Jahren den kaiserlichen Adler, das Feldzeichen der Ghibellinen, in ihr Wappen aufnahmen. Ihr Haupt war bis zu seinem Tode im März i3o4 jener Bartolomeo della Scala, mit dem Dante wahrscheinlich schon im Jahre zuvor als Abgesandter der Verbannten wegen Hilfeleistung verhandelt hatte. Er ist sicher unter dem „großen Lombarden" zu verstehen, dem Dante dankbar nachrühmt, er sei so gütig gegen ihn gewesen, daß dem Wunsche das Gewähren zuvorgekommen sei. Sein Bruder Alboino, der ihm folgte, wird im Gonvivio nicht eben rühmlich erwähnt. Im Purgatorio (XVII, 121 f f ) wird ihm sogar die Strafe des Himmels angedroht, weil er wider das kanonische Recht einen Bankert, „seinen mißgeborenen Sohn, der am Leibe verkrüppelt, im Geiste noch mißratener gewesen", zum Abte des weitberühmten Klosters von San Zeno in Verona erhoben habe. Die Vermutung liegt nahe, daß Dante mit diesem Schutzherrn in Mißhelligkeiten geraten ist. Sein Gast ist er jedenfalls nicht lange geblieben. Schon gegen Ende des Jahres i3o4 finden sich seine Spuren in Bologna. Lernend, vielleicht auch lehrend hat er nach der Überlieferung in der Stadt der altehrwürdigen Universität und auch eine Zeit lang in Padua, ihrer Rivalin in der Pflege gelehrten Wissens, geweilt. Hier war zur gleichen Zeit sein großer Zeitgenosse Giotto am Werke, die Kapelle der Scrovegni, Madonna dell' Arena mit den Fresken zu schmücken, 72

die wir noch heute dort bewundern. Dante hat Giottos Bedeutung gewürdigt. Im Purgatorio (XI, g4 f f ) nennt er ihn als den Meister, dessen Ruhm den seiner Zeit vielgepriesenen Cimabue in den Schatten gestellt habe. Boccaccio berichtet, daß die beiden Größten ihres Jahrhunderts einander freundschaftlich nahe gestanden haben. Zeugnis ihrer Beziehungen ist das Jugendbildnis Dantes, das der Künstler in der Magdalenenkapelle des Bargello zu Florenz gemalt hat. Von diesem Bilde wird weiterhin im Zusammenhange mit den übrigen Dantebildnissen die Rede sein. Wenn die dort gewagte Vermutung zutrifft, daß das verlorene Bild Taddeo Gaddis in Santa Croce nach einer um diese Zeit entstandenen Zeichnung Giottos gearbeitet war, so würden wir ihm und der Begegnung in Padua auch unsere Kenntnis von der Erscheinung Dantes als gereiften Mannes verdanken. Näheres über Dantes Aufenthalt an den beiden Hochschulen ist nicht festzustellen. Wahrscheinlich hat er Bologna im Frühling des Jahres i3o6 nach dem Sturz der ghibellinischen Lambertazzi, unter deren Gegnern er sich nicht mehr sicher fühlen konnte, den Rücken gekehrt. Im Herbste dieses Jahres ist dann sein Lebensschiff in einen Hafen eingelaufen, der dem unstet umhergetriebenen Flüchtling f ü r einige Zeit ruhige Einkehr bot. In der Lunigiana, im Tale des südlich von Spezia mündenden Küstenflusses Magra, saßen auf ihren festen Schlössern Mulazzo, Giovagallo und Villafranca die Markgrafen von Malaspina, deren einer, jener Moroello von Giovagallo, vor drei Jahren das Heer der Schwarzen gegen Pistoja geführt hatte. Seine damalige Parteinahme hat nicht gehindert, daß Dante bei ihm und seinen Geschlechtsvettern freundliche und verständnisvolle Aufnahme gefunden hat. Im Purgatorio (VIII, 121 f f ) stattet er ihnen seinen Dank dafür ab, indem

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er ihrem Vorfahren Currado, dem er unter den Büßern im Vorfegfeuer begegnet, das Lob seiner Nachkommen in hohen Tönen singt. Er preist ihre Freigebigkeit und ihre Waffen und rühmt ihnen nach, daß sie allein und unbeirrt durch das böse Beispiel des schuldbeladenen Hauptes der Christenheit stets auf dem graden Wege des Rechtes bleiben. Ehe die Sonne siebenmal im Zeichen des Widders zur Rüste gehe, erwidert ihm der Büßer, vor dem Frühling i3o7 also, werde er diese gute Meinung durch Taten bewährt finden. Die Gastfreundschaft der Malaspina hat ihm hiernach im val di Magra wieder ein Asyl geboten, in dem die Nöte und Demütigungen der Heimatlosigkeit durch den Edelmut der Schutzherren gemildert wurden. Auch befriedigende Tätigkeit fand sich hier, mit der er zugleich seinen Wirten den Dank f ü r den ihm gewährten Schutz erstatten konnte. Von drei Vettern Malaspina zum Vermittler bestellt, schloß er mit dem Bischof von Luni einen Vertrag, der den jahrelangen Streit zwischen ihm und den Markgrafen um gewisse Hoheitsrechte schlichtete. Zwei notarielle Urkunden, vom 6. Oktober i3o6 datiert, die diese seine erfolgreiche Tätigkeit im Auftrage seiner Beschützer bekunden, sind bis heute erhalten. Auch an dieser gastlichen Stätte hat es Dante nicht lange geduldet. Diesmal war es kein Zerwürfnis mit seinen Wirten, das ihn nötigte, wieder zum Wanderstabe zu greifen. Das Verhältnis blieb, wie ein kurz nach der Trennung an den Markgrafen Moroello von Mulazzo gerichteter Brief bezeugt, völlig ungetrübt. Vermutlich war es eine neu erwachende Hoffnung auf Rückkehr nach Florenz, die ihn aus seiner Zufluchtstätte wieder auf den Schauplatz der alten Kämpfe gelockt hat. Im Frühling des Jahres 1307 nämlich planten die verbannten Weißen und Ghibellinen, die noch immer in Arezzo versammelt waren, und bisher immer

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vergeblich auf günstige Gelegenheit gewartet hatten,, einen entscheidenden Schlag gegen Florenz. Sie hatten den Legaten des Papstes, den Kardinal Orsini, als Anführer gewonnen und ein stattliches Heer, nach Angabe Dino Compagnis 3ooo Ritter und i5ooo Mann Fußvolk, zusammengebracht. Diesmal hatten sie einen aussichtsreichen Kriegsplan entworfen. Ihre ganze Heeresmacht sollte im Casentino, dem obersten Arnotal, das durch den Höhenzug des Pratomagno von dem unteren geschieden ist, eine Bereitschaftstellung beziehen, um die Gegner, wenn sie gegen Arezzo vorrückten, jenen Höhenrücken auf dem Consumapaß überschreitend, im Rücken zu fassen, von Florenz abzuschneiden und womöglich die Stadt selbst zu überrumpeln. Für's erste boten ihnen die festen Schlösser der Grafen Guidi, des im Casentino von alters her reich begüterten Geschlechtes, Schutz und Unterkunft. Von hier aus war der geplante Schlag mit bester Aussicht auf Erfolg zu führen. Im entscheidenden Augenblick aber versagte die Führung wiederum auf unbegreifliche Weise. Die Schwarzen zogen tatsächlich gegen Arezzo und besetzten die Höhen im Westen der Stadt. Aber anstatt sofort, wie geplant, über den Consumapaß vorzugehen und sich zwischen das feindliche Heer und seinen Stützpunkt, die Stadt Florenz, zu werfen, blieb der Kardinal untätig bei Romena stehen und zögerte so lange, bis die Gegner der Gefahr inne wurden und sich in Eilmärschen zurückzogen. Unbehelligt ließ er sie die Stadt erreichen und kehrte selbst unverrichteter Sache nach Arezzo zurück, während das große Heer auseinanderlief. Sein Verhalten ist so unerklärlich, daß der alsbald auftauchende Verdacht, er habe mit der Gegenpartei in geheimem Einverständnis gehandelt, nicht von der Hand zu weisen ist. Jedenfalls war durch diesen letzten Fehlschlag das Schicksal der 75

Verbannten besiegelt. Von nun an haben sie keinen neuen Angriff mehr gewagt. Erst als Kaiser Heinrich VII. gegen Florenz zog, haben sich viele der verbannten Weißen und Ghibellinen seinem Heere angeschlossen — um abermals einen Mißerfolg zu erleben. Was Dante damals an den Ort der Tat gezogen haben mag, ist schwer zu sagen. Sich an dem Unternehmen zu beteiligen, konnte f ü r ihn, der sich von den Veranstaltern in Unfrieden getrennt hatte, kaum in Frage kommen. Es hat beinahe den Anschein, als ob er nur dea Wunsch gehabt habe, die Ereignisse, deren Ausgang f ü r ihn selbst von entscheidender Bedeutung war, in Augennähe zu haben. Tatsächliches läßt sich indes nicht feststellen. Ebensowenig ist zu ermitteln, bei wem er sich in Casentino aufgehalten hat. Nach der Überlieferung ist er auf einem der Schlösser der Grafen Guidi zu Gaste gewesen. Wenn er aber deren Gastfreundschaft genossen hat, müssen die harten Urteile auffallen, mit denen er sie in seinem Gedichte bedenkt. In der Hölle (Inf. XXX, 73 f f ) beschuldigt der Falschmünzer Meister Adam von Brescia drei Brüder Guidi, die Schloßherren von Romena, ihn angehalten zu haben, Florentiner Goldgulden aus minderwertiger Legierung zu prägen. Im Purgatorio (XIV, 43 f f ) nennt der Ritter Guido del Duca die Insassen des Gasentin mit deutlicher Anspielung auf den Namen des Kastells Porciano, das ebenfalls den Grafen Guidi gehörte, „wüste Schweine, denen Eichelmast besser denn alle andere Speise taugt." Vielleicht erklären sich diese Ausfälle daraus, daß er die Grafen im Verdacht gehabt hat, an dem Verrate, dem man Schuld gab, das letzte Unternehmen gegen Florenz zum Scheitern gebracht zu haben, beteiligt gewesen zu sein. Aber das bleibt Vermutung. Der ganze Aufenthalt im Casentin ist von Rätseln umgeben. Wir wissen nicht einmal, wann er begonnen, wann und wie er geendet hat. 76

Nur das eine, daß Dante sich um diese Zeit aus dem val di Magra dorthin an den Strand des Arno begeben hat, geht aus dem erwähnten Briefe an Moroeilo Maiaspina hervor. Und eine Reihe von Kanzonen, deren landschaftlicher Hintergrund unverkennbar jenes Gebirgstal in winterlichem Gewände ist, künden in geheimnisvoll vieldeutigen Versen von einer Begegnung, die er dort erlebt hat. Von diesen Kanzonen und von dem Erlebnis, aus dem sie geboren sind, soll, im Zusammenhange mit den übrigen Dichtungen jener Jahre, in dem nächsten Abschnitte die Rede sein. Waren schon die Nachrichten über Dantes Aufenthalt im Casentino spärlich und schwer zu deuten, so verliert sich von nun an auf eine ganze Reihe von Jahren seine Spur völlig im Dunkel. Ohne Zweifel hat jetzt die Irrfahrt von neuem begonnen, die ihn, wie er zu Beginn seines Convivio sagt, fast durch alle Gebiete deß Landes führen sollte, wo die Sprache seines Volkes klingt. Die zahlreichen Beschreibungen von Orten und Gegenden seines Vaterlandes von den Alpen bis in die Umgegenden Roms, die sich in der göttlichen Komödie finden, geben eine Ahnung davon, wie weit es ihn, kreuz und quer, durch diese Landschaften umgetrieben haben muß. Solche Ortsangaben können zwar nicht unbesehen als Beweise f ü r den Augenschein gelten. Das Vermögen der dichterischen Vorstellungskraft darf nicht unterschätzt werden. Bekanntlich hat der Dichter des Teil die Schweiz nie mit Augen gesehen, so wenig wie Adalbert Stifter den Gardasee, den er doch in den „Schwestern" so anschaulich und getreu vor Augen führt, wie ihn kein Maler mit den leuchtendsten Farben eindrucksvoller wiedergeben kann, Eine lange Reihe von örtlichkeiten aber ist in der göttlichen Komödie so überzeugend geschildert, daß man kaum zweifeln kann, er sei selbst an Ort und Stelle gewesen. Die Beschreibung des 77

Pilgerzuges über die Tiberbrücke in Rom wurde bereits erwähnt. Aber auch den schiefen Turm Garisenda zu Bologna, das Arsenal von Venedig, den Pinienwald bei Ravenna, das Felsgeröll der slavini di San Marco im Etschtal bei Rovereto, die Felsensteige von San Leo bei Urbino, von Bismontava in der Emilia, von Noli an der Riviera, die Lage von Assisi, die Ufer des Gardasees muß er wohl gesehen haben, um die Beschreibung geben zu können, die wir in seinem Gedichte lesen. Die Überlieferang läßt ihn noch an vielen anderen Orten erscheinen. In der Camaldolenserabtei von Fönte Avellana im Apennin, den er als Aufenthalt des heiligen Petrus Damiani erwähnt, soll er längere Zeit zu Gaste gewesen sein. An einem alten Turm in Gubbio meldet eine Tafel, daß er dort geweilt und gedichtet habe. Vor dem Kloster Santa Croce del Corvo soll ihn ein Frater Ilario getroffen haben; ein offenbar erdichteter Brief des Fraters erzählt, wie ein Unbekannter in sinnender Betrachtung der Klostergebäude von ihm betroffen worden sei und auf die Frage, was er suche, nichts als das Wort „Frieden" geantwortet habe, woran er von dem Klosterbruder als der Dichter der göttlichen Komödie erkannt worden sei. So haben Legende und Anekdote, die das Bild des Dichters und seines Lebens mit buntem Kranze umrankten, auch die Odyssee des Verbannten reichlich ausgeschmückt. Ein Kern von Wahrheit mag den meisten dieser Geschichten zu Grunde liegen. Aber es ist nicht möglich, Wahrheit und Dichtung zu scheiden, und das, was aus den eigenen Angaben allenfalls gefolgert werden kann, gibt keinen Anhalt, seinen Weg von Ort zu Ort zu verfolgen. Über Rom hinaus nach Süden in das Reich des zu seinen Gegnern haltenden Königs von Neapel scheint Dante nicht gelangt zu sein. Dagegen weiß Boccaccio zu berichten, er sei bis über die Alpen gekommen, habe in 78

Paris an der altberühmten Hochschule der Sorbonne Vorlesungen über Philosophie und Theologie gehört und sich dort an den gebräuchlichen Disputationen mit Beifall beteiligt. Er selbst sagt davon kein Wort. Nur zweimal wird in der Commedia Paris ganz beiläufig erwähnt. Von der Miniaturmalerei heißt es im Purgatorio (XI, 81), ihre Kunst nenne man dort illuminieren; und von dem Philosophen Sigher von Brabant wird im Paradiso (X, i36) gesagt, er habe zu Paris in dem vico delli strami, der rue du Fouarre, seine vielangefochtenen Wahrheiten gelehrt. Auch das, was der Dichter sonst aus Frankreich und den anderen Ländern nördlich der Alpen erwähnt, kann nicht als Beweis von Ortskenntnis gelten. Von dem Gräberfeld bei Arles und den Schutzdeichen von Brügge, die er zum Vergleich mit den glühenden Särgen der Ketzer im sechsten Höllen-Kreise und den Dämmen am Ufer des Höllenstromes Phlegethon heranzieht, desgleichen von dem besonderen Schnitt der Mönchskutten in Köln (oder Clugny; die Lesart ist ungewiß), mit denen die Tracht der verdammten Heuchler verglichen wird, kann er ebensowohl vom Hörensagen gewußt haben. Daß Paris und die Sorbonne, wo sein verehrter Meister Thomas von Aquino nach seinem eigenen Lehrer Albertus Magnus gewirkt, wo er in den Kämpfen mit den Gegnern seiner christliche Theologie und aristotelische Philosophie vermählenden Lehre seine Siege erfochten hatte, wo sein Vermächtnis aufs eifrigste gepflegt wurde, größte Anziehungskraft für ihn gehabt haben, steht außer Zweifel. Boccaccios Angabe, die von Giovanni Villani bestätigt wird und von vielen der alten Ausleger der göttlichen Komödie übernommen worden ist, hat daher nicht geringe Wahrscheinlichkeit für sich. Auffallend bleibt indes das Schweigen des Dichters selbst. So muß die Frage, ob er über die Alpen gelangt ist, und insonderheit, ob er in Paris geweilt hat, offen bleiben. 79

Dante selbst erwähnt von den Stationen auf seinem Wege bis nach Ravenna, seinem letzten Asyl, nur Verona und Lucca. Sein Aufenthalt an diesen beiden Orten fällt indes erst in die Zeit nach dem Römerzuge Kaiser Heinrichs VII. Der Bericht über dies Ereignis, das einen bedeutsamen Einschnitt in sein Leben bedeutet, wird einen besonderen Abschnitt füllen. Zuvor aber will der innere Werdegang des Dichters und Denkers in der Zeit seit seinem Eintritt ins öffentliche Leben beleuchtet werden, der auch in diesen Jahren deutlicher vor unsren Augen liegt als der Lauf seines Schicksals.

T r o s t der P h i l o s o p h i e Die Traktate vom Gastmahl und von der Volkssprache „Als ich die erste, höchste Lust meiner Seele verloren hatte", schreibt über seine Stimmung nach dem Tode Beatrices Dante im zweiten Buche seines Convivio (Kapitel XII), „blieb ich hier zurück in so tiefer Trauer, daß kein Trost mir taugen wollte. Nach einiger Zeit indessen, da mein Geist darauf sann, wie er gesunden könne — denn weder eigene noch fremde Tröstung kam mir zu Statten—, gedachte ich zu tun, wie andere es in ihrer Trostlosigkeit gehalten hatten, um Trost zu finden. Ich schickte mich an, jenes nur wenigen bekannte Büchlein des Boethius zu lesen, in dem er, im Kerker und aus der Heimat vertrieben, Trost gewinnt. Und da ich von einem anderen Buche hörte, das Tullius geschrieben und das, von der Freundschaft handelnd, Trostworte des trefflichen Laelius beim Tode seines Freundes Scipio anführt, machte ich mich daran, auch dieses zu lesen... Und wie es zu gehen pflegt, daß einer, der nach Silber sucht, unversehens Gold findet — was eine geheime 80

Ursache verrät und vielleicht nicht ohne Gottes Ratschluß geschieht —, so fand ich, der Trost suchte, nicht allein ein Heilmittel für meine Tränen, sondern lernte Lehrer und Schriften und Gebiete des Wissens kennen, denen nachsinnend ich wohl inne wurde, daß die Philosophie, der Leitstern jener Lehrer, jener Wissenschaft und jener Schriften, etwas überaus Erhabenes sei. Und ich stellte sie mir vor wie eine edle Fraue und konnte sie mir nicht anders denken als mit der Gebärde des Mitleids. Darum war mein Sinn in Wahrheit so verlangend nach ihrem Anblick, daß ich ihn kaum von ihr zu wenden vermochte. Und durch diese Betrachtung angezogen, begann ich die Stätten aufzusuchen, wo sie sichtbarlich sich zeigte. So lernte ich in kurzer Zeit, etwa in dreißig Monden, so viel von ihrer Süße schmecken, daß die Liebe zu ihr jeden anderenGedanken verscheuchte und austilgte.'' In diesem Bilde zeichnet Dante selbst die Wandlung, die nach Abschluß der Vita nuova in seiner Seele begonnen hatte. Allegorieen, Symbole wollen nicht beim Wort genommen werden. Der Umschwung von der schwärmerischen Übersinnlichkeit der Vita nuova zudem eifervollen Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis hat sich sicher nicht so unvermittelt vollzogen, wie es hier, in starker Verkürzung, sinnbildlich dargestellt wird. Nach dem Verblassen des Bildes seiner verklärten Herrin Beatrice hat sich ihr Sänger, während er im Rückschlag auf die übersteigerte Geistigkeit jener Liebe eine Zeit lang in ein ausschweifendes Genußleben geriet, zunächst in den Kampf der politischen Parteien gestürzt. In Sturm und Wogendrang dieser Kämpfe, in dem Schiffbruch, aus dem er trachten mußte, das nackte Leben zu retten, in der Not der Verbannung, solange das Ringen um die Rückkehr ihn ständig in Atem hielt, kann er zunächst kaum Muße und Sammlung zu nachhaltiger wissenschaftlicher Arbeit gefunden haben. Erst allmählich und 6

FaJkenhansen, Dante

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vor allem, nachdem er sich, die Hoffnung auf einen Erfolg der Waffen aufgebend, von seinen Leidensgefährten getrennt hatte, wird er in dieser Arbeit Vergessen seines Elends gesucht haben. Daß er als Trostbedürftiger zur Weltweisheit kam, ist sicher buchstäbliche Wahrheit, wenn es auch nicht nur der Verlust Beatrices allein, das Versiegen der in ihr verkörperten jugendlich beglückenden Träume war, um die er trauerte. Über den Zusammenbruch seiner ganzen bisherigen Lebensarbeit bei dem Siege der politischen Gegner, über die drückende und entwürdigende Lage, in der er sich als Vertriebener sah, über den Verlust der teuersten Hoffnungen sollte die Philosophie ihm mit ihrem Tröste hinweghelfen. Es war freilich nicht diese Tröstung allein, um deretwillen er sich ihr in die Arme geworfen hat. Er sagt selbst, daß er den Wunsch gehabt habe, sich vor der Welt zu rechtfertigen. Die Lieder der Vita nuova, so fürchtet er, hätten ihn in den Ruf gebracht, sich über Gebühr von Liebesleidenschaft beherrschen zu lassen. Dem zu begegnen, wolle er jetzt, indem er den allegorischen Sinn seiner Gedichte aufdecke, dartun, daß nicht Leidenschaft sondern Tugend ihn geleitet habe. Wenn der Jugend Glut und Begeisterung anstehe, so solle nunmehr der Ernst und die Männlichkeit des reiferen Alters zum Worte kommen. Unausgesprochen hat er wohl noch einen anderen Zweck verfolgt. Der Gedanke an Rückkehr in die trotz allem leidenschaftlich geliebte Heimat hat den Verbannten nachweislich niemals freigegeben und ihn nach dem Scheitern der bewaffneten Heimkehrversuche auf andere Wege sinnen lassen. Noch im Paradiso, im Eingang des XXV. Gesanges, verrät er, schon dem Grabe nah, die leise Hoffnung, daß sein geweihter Sang den Haß seiner Mitbürger besänftigen, daß die Heimat ihn zur Dichterkrönung heimberufen werde. Jetzt hoffte er wohl durch! 82

eine wissenschaftliche Großtat, der er größeres Gewicht beimessen mochte als dem Dichterruhm, die Rückberufung verdienen zu können. Unerachtet dieser Nebenabsichten dürfen wir ihm aufs Wort glauben, was er über die Begeisterung sagt, mit der er sich dem Studium ergeben, über den unersättlichen Drang nach Erkenntnis, der keinen anderen Gedanken aufkommen ließ, und über die raschen Fortschritte, deren beglückendes Bewußtsein er bereits nach drittehalb Jahren gespürt habe. Welch staunenswertes Wissen er sich auf allen Gebieten der mittelalterlichen Gelehrsamkeit durch angespannteste, rastlose Arbeit in kurzer Zeit erworben hat, das kommt in allen seinen Werken von jetzt an zu Tage. In den Prosaschriften wie in der göttlichen Komödie erweist der Dichter sich als Gelehrter, der das gesamte Wissen seiner Zeit beherrscht. Die scholastische Theologie und Philosophie ist ihm nicht nur vertraut, sondern geistiger Besitz. Erstaunlich ist seine Belesenheit in der Bibel, den Kirchenvätern und den alten Schriftstellern und Dichtern, soweit sie seiner Zeit bekannt waren. Aber auch in Grammatik und Jurisprudenz, in Astronomie und Astrologie, in Naturkunde und Physik beweist er umfassende und in die Tiefe dringende Kenntnisse. Die Frucht dieser Studien sollte eine wissenschaftliche Schrift werden, in der er all sein Wissen vor dem Auge der Zeitgenossen auszubreiten gedachte. Er nennt (Conv. I, 9) ausdrücklich als Ziel seiner Arbeit, den Ungelehrten, dem Laienstande, Männern, die im bürgerlichen und öffentlichen Leben stehen, und auch Frauen, die Schätze des Wissens zu vermitteln, die ihnen bisher durch den ausschließlichen Gebrauch des Lateins im wissenschaftlichen Schrifttum vorenthalten geblieben waren. Für solch volkstümliche Wissenschaftslehre ist die Schrift in der Tat höchst sinnreich angelegt. 83

Das Werk, das f ü r die geistige Haltung Dantes in jenem Abschnitte seines Lebens ebenso kennzeichnend ist wie f ü r seine Jugend die Vita nuova, nennt sich nach dem Vorgang von Piatons Symposion Convivio, das Gastmahl, weil die dem Leser dargebotenen Wahrheiten den Speisen vergleichbar seien, mit denen die Gäste bei einem Mahle bewirtet werden. Wie die Vita nuova ist das Buch aus Prosa und Versen zusammengestellt. Solche Verquickung war seit der Consolatio Philosophiae des Boethius, die im Mittelalter weit verbreitet war und deren Einfluß auf Dantes Wendung zur Philosophie in dem eingangs angeführten Abschnitt ausdrücklich bezeugt wird, nicht3 Unerhörtes. Hier nun geben sich die gelehrten Auseinandersetzungen als Kommentar zu allegorisch philosophierenden Kanzonen, wobei in zahlreichen Exkursen wissenschaftliche Fragen der verschiedensten Art abgehandelt werden. Dergestalt sollte das Ganze in vierzehn Traktaten, einen einleitenden Abschnitt nicht gerechnet, ein Kompendium universeller Wissenschaft werden. Nur drei dieser Traktate außer der Einleitung sind vollendet worden. Der einleitende ergeht sich nach Erklärung des Titels über die Art, wie den Gästen die Gaben dieses Gastmahls gereicht werden sollen. Dabei wird mit eingehender Begründung der Gebrauch der italienischen Volkssprache gerechtfertigt, die, obwohl dem Latein, der zünftigen Sprache der Wissenschaft, an Vornehmheit nicht ebenbürtig, dafür auch dem Ungelehrten verständlich und somit dem Zwecke der Schrift allein dienlich, dem Verfasser überdies, wie er bekennt, besonders ans Herz gewachsen ist. Über dem zweiten Traktat steht als Leitmotiv die Kanzone Voi che intendendo il terzo ciel movete. Mit den Worten des ersten Verses richtet sie sich an die seligen Beweger des dritten Himmels: Sphäre der Venus,

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des Liebessternes; denn Minne (amore) in dem vergeistigten Sinne, den der Begriff schon im dolce stil nuovo hatte, ist auch hier die Macht, die alles beherrscht. Von ihr geweckt, ringen zwei Regungen im Herzen des Dichters: die Trauer um seine verewigte Herrin und die Begeisterung f ü r eine hehre Frau, von der es heißt, in ihre Augen müsse schauen, wer das Heil erblicken wolle. Nach harten Seelenkämpfen m u ß er sich dieser demütig frommen, weisen und edlen Gebieterin hingeben, der seine Seele mit den Worten von Marias Erwiderung auf den englischen Gruß huldigt: siehe, ich bin Deine Magd; tue mit mir, was Dir gefällt 1 Die Erläuterung folgt der Lehre vom Polysensus, den mittelalterliche Poetik von der Theologie übernommen hatte. Wie die biblische Exegese in der heiligen Schrift einen vierfachen Sinn zu finden glaubte, so sollte auch die Dichtung neben ihrem buchstäblichen einen allegorischen, einen moralischen und einen anagogischen (erbaulichen) Sinn haben. Nachdem diese Lehre vorweg entwickelt worden, folgt zunächst die schulmäßige Erläuterung des buchstäblichen Sinnes mit einer Erklärung, man könnte auch sagen Umschreibung der einzelnen Worte. Ihre tiefere Bedeutung wird dann in der Erläuterung des allegorischen Sinnes dargelegt. Die beiden Trauen, die sich das Herz des Dichters streitig machen, sind nach der hier gegebenen Erklärung die verklärte Beatrice, in der die Minneidee seiner Jugend verkörpert war, und die Philosophie, f ü r deren Sinnbild jetzt in einer der Dialektik jener Zeit geläufigen, wenngleich, wie wir sahen, recht gewagten Umdeutung die donna gentile der Vita nuova erklärt wird. Anfangs, so heißt es, sei Beatrice noch Herrin in der Burg seines Herzens gewesen, so daß es durch die Neigung zur Philosophie in scharfen Zwiespalt geraten sei. Am Ende aber habe die Philosophie die unbedingte Herrschaft über seine Seele 85

gewonnen, ihn mit ihrem Trost und ihren Gaben beglückend, wie es in den Sätzen, die diesem Abschnitt vorangestellt sind, geschildert wird. Im Zuge dieser Erläuterung geben einzelne Stichworte Gelegenheit zur Abhandlung über mehr oder weniger abgelegene Fragen: über die Ordnungen der Engel, die, in der christlichen Vorstellung an die Stelle der platonischen Intelligenzen tretend, als Beweger der Himmel angesehen werden; über diese Himmel selbst, die in einem seltsamen Vergleiche zu den verschiedenen Zweigen der Wissenschaft, den sieben freien Künsten, der Metaphysik, der Moralphilosophie und der Gottesgelehrtheit in Parallele gestellt werden; über Wesen und Entstehung der Milchstraße, über die Unsterblichkeit der Seele und anderes. Dei dritte Traktat wird eingeleitet durch die Kanzone Amor che nolla mente mi ragiona. Sie ist ein begeistertes Preislied auf die hehre Frau Philosophia, die gnadenreiche Herrin, derengleichen die Sonne auf ihrem ganzen Kreislauf um die Welt nicht wieder sieht, bei deren Anblick kund wird, was die Freuden des Paradieses weckt. Auch dies Gedicht wird wie das erste nach dem buchstäblichen und nach dem allegorischen Sinne erläutert. Die Bedeutung des Begriffes Philosophie wird erklärt als eine beinahe göttliche Liebe zur Erkenntnis. Philosophen dürften sich danach nur diejenigen nennen, die solcher Liebe sich gänzlich hingeben, nicht jene, die um irgendeines Nutzens willen nach Erkenntnis streben wie „die Rechtsgelehrten, die Ärzte und fast alle Geistlichen, die da nicht des Wissens halber studieren, sondern um Geld oder Ansehn zu erwerben". Denen aber, die ihr wahrhaft ergeben seien, gewähre sie durch vollkommene Erfüllung des Wunsches nach Erkenntnis — insoweit sie dem Menschen überhaupt beschieden sei — wahre Glückseligkeit und durch Tilgung aller Fehler sittliche Erhebung. Auch in diesem Traktat sind Ab86

handlungen über allerlei Sonderfragen eingewoben. Wenn in der Kanzone von der Sonnenbahn die Rede ist, wird in der Erläuterung eine astronomische Beschreibung dieser Bahn in ihrem Verhältnis zum Tierkreise und zu den Himmelspolen angeknüpft. Das Lob der Philosophie als einer Erzieherin zur Tugend gibt Anlaß zur Unterscheidung der verschiedenen Arten sittlicher Fehle und so fort. Der vierte Traktat mit der dritten Kanzone bringt ein Zwischenspiel. Hier gesteht der Verfasser, mit seinem Philosophieren auf einen toten Punkt gekommen zu sein. Über das Wesen der prima materia namentlich habe er nicht ins Reine kommen können. Seine Herrin, heißt es in der Kanzone, habe ihm ein ungnädiges und furchterregendes Antlitz gewiesen; darum habe er sich fülr einige Zeit ihren Anblick versagt. Um aber nicht müßig zu gehen, wendet er sich einer Frage des öffentlichen, Lebens zu und verbreitet sich über Wesen und Ursprung wahren Adels. Er sieht ihn ausschließlich in edler Gesinnung und untadliger Lebenshaltung. Vor allem verwirft er mit Entschiedenheit und mit eingehender Begründung die auf eine Äußerung Kaiser Friedrichs II. zurückgeführte Meinung, ererbter Reichtum könne den Adel begründen. Reichtum, irdische Güter erklärt er für etwas von Grund aus Niedriges, für das Gegenteil echten Adels. Daß er dem Kaiser, dem von Gott eingesetzten Herrn des Abendlandes, zu widersprechen wage, glaubt er entschuldigen zu müssen. Er rechtfertigt es damit, daß die kaiserliche Autorität sich nicht auf Entscheidung von Fragen der Wahrheit und Erkenntnis erstrecke. Im Anschluß daran kommt er zu einer grundsätzlichen Erörterung des Kaiserrechtes, zu einer Abhandlung über Kaisertum und Weltreich, dadurch besonders bemerkenswert, daß darin im Keime bereits die Auffassung enthalten ist, die als geschlossenes, fest} gegründetes System später in der Schrift de monarchia 87

erscheint und auch in der göttlichen Komödie in immer neuen Wendungen begegnet. Der Aufbau des ganzen Werkes trägt den Stempel der Scholastik. Schulmäßig, nach ihrer Methode werden die Lehren entwickelt, die Fragen gestellt and eingeteilt, die Beweise geführt. Die Beweisführung zumal ist überwiegend dogmatisch. Meist werden Bibelstellen, Sätze aus den alten Dichtern und Philosophen, vorwiegend aus den Schriften des Aristoteles, als Belege herangezogen, gelegentlich auch Aussprüche arabischer Gelehrter des Mittelalters. Derartige Belegstellen begegnen in großer Zahl fast auf jeder Seite des Buches. Selbst in einer der Kanzonen, der letzten, findet man die Ethica des Aristoteles mit Quellenangabe zitiert. Mit dem vierten Traktat bricht der Gonvivio ab. Es waren, wie in der Einleitung angegeben, noch elf weitere geplant. Die Kanzonen, die f ü r diese Fortsetzung bestimmt waren, glaubt die Forschung unter Dantes Gedichten ermittelt zu haben. Zur Ausarbeitung des Prosakommentars ist es indes nicht mehr gekommen. Der Grund, weshalb die Arbeit liegen blieb, ist unschwer zu erraten. Äußere Umstände werden mitgespielt haben. Entscheidend ist doch wohl gewesen, daß Dante, der Dichter, d e r Dürre dieses gelehrten Ährenlesens überdrüssig geworden ist. Der Leser kann es ihm nachfühlen. Gewiß begegnet ihm hier und da ein eigenartiger Einfall, eine scharfsinnige Bemerkung, die den tiefen Denker verrät. Auf das Ganze gesehen, bleibt es Kärrnerarbeit, an der ein überall auf das Wesentliche zielender Geist wie der Dantes auf die Dauer unmöglich Genüge finden konnte. Bei aller Bereitschaft, der Eigenart mittelalterlichen Wissenschaftsbetriebes Rechnung zu tragen, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Dantes Genius hier auf einem Wege war, der ihn von den Quellen seiner Lebens- und Schaffenskraft entfernte. Es

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konnte kaum ausbleiben, daß er selbst dessen inne wurde. Die Unfruchtbarkeit der in so seltsame Form gepreßten Anhäufung trockenen, vielfach toten Wissens; die Belanglosigkeit dieser Divisionen und Syllogismen, die vielfach wie Schulübungen in formaler Logik anmuten; die Entbehrlichkeit dieser Erklärungen, die zum großen Teil nichts erklären, was der Erklärung bedürfte; der Ballast der gehäuften Lesefrüchte, die nur als Belege f ü r die Belesenheit des Verfassers von Bedeutung sind: das alles m u ß ihm im Laufe der Arbeit zum Bewußtsein gekommen sein. Wir haben keinen Grund zu bedauern, daß er sie aufgegeben hat, ehe ein Viertel des ungefügen Werkes vollendet war. Noch während der Beschäftigung mit dem Convivio scheint auch eine andere Prosaschrift, eine sprachwissenschaftliche Abhandlung begonnen zu sein. Unter dem Titel de vulgari eloquentia untersucht die lateinisch abgefaßte Schrift die rechte Form und den rechten Gebrauch der italienischen Volkssprache. Auch dies Werk ist unvollendet geblieben. Von den zwei Büchern, die uns vorliegen, handelt das erste von der Entstehung der« italienischen Volkssprache, ihren verschiedenen Mundarten und der Form, die als mustergültig anzusehen sei. Es beginnt mit einer dogmatischen, Einleitung über Ursprung und Entwicklung der menschlichen Sprache überhaupt, ihre Verleihung durch den Schöpfer im Paradiese und ihre Spaltung bei dem Turmbau von Babel. Sodann werden die europäischen Sprachen behandelt, insonderheit die romanischen. Diese drei, das Spanische (Provenjalisch-Katalanische), das Französische und das Italienische, nach dem Worte der Bejahung — oc, oil, oui, si — unterschieden, werden aus einem Stamme hergeleitet, aber nicht aus dem Lateinischen. Das Latein, die „grammatica", sieht Dante nämlich nach der seit89

samen Auffassung seiner Zeit überhaupt nicht als eine natürlich gewachsene, jemals lebendig gewesene, sondern als eine zum Zwecke allgemeiner Verständigung bewußt 'erfundene Kunstsprache an. Im geraden Gegensatze zu dier noch zu Beginn des Convivio vertretenen Ansicht erklärt er jetzt die Volkssprache für edler als das Latein, wteil sie älter, weil sie gebräuchlicher und weil sie natürlich' entstanden sei. Nun werden die zahlreichen Mundarten aus allen Gegenden Italiens aufgezählt und an Beispielen beurteilt. Sie werden sämtlich verworfen. Die wahre, maßgebliche Volkssprache, heißt es (1,16), könne nur eine solche sein, die allen Ortschaften des Landes gemeinsam, aber keiner einzelnen von ihnen angehörig sei, eine Sprache, an der alle örtlichen Mundarten gemessen, gewogen und ausgerichtet werden müßten. Das sei die Sprache, in der die vorzüglichsten Dichter, seit der sizilianischen Schule am Hofe Kaiser Friedrichs II. bis auf Dante selbst und seine Freunde, gedichtet haben: das vulgare illustre, cardinale, aulicum et curiale, das, durch erhabene Form, Treffsicherheit und Vollkommenheit ausgezeichnet, das Wesentliche aller einzelnen Mundarten in sich vereint, hoffähig ist und bei Hofe gesprochen werden würde, wenn Italien ein Herrscher beschieden wäre. Die Dichtung seines Jahrhunderts, meint hiernach Dante, habe seinem Volke die Schriftsprache geschenkt. So ist es in der Tat gewesen. Die Gestalt, die jene von ihm genannten Dichter und vor allen er selbst in seiner Prosa und in der göttlichen Komödie der italienischen Sprache gegeben haben, ist die Grundlage, auf der sie bis auf den heutigen Tag sich entwickelt und geblüht hat. Sechs Jahrhunderte haben so wenig hinzuzutun und zu modeln gehabt, daß das heutige Italienisch der Sprache Dantes mindestens so nahe steht, wie etwa das Deutsch von Heute der Sprache Luthers. 9°

Die folgenden Bücher sollten eine vollständige italienische Poetik bringen und anscheinend auch die Kunst der Prosa behandeln. In dem zweiten, das mitten im vierzehnten Kapitel abbricht, wird die Form der Kanzone erörtert, die Dante als vorzüglichste gilt. Sie müsse daher, wie alle hohe („tragische") Dichtung, im vulgare illustre gedichtet werden, dessen Gebrauch aber nur den ausgezeichnetsten Dichtern zukomme. Der Komödie gebühre das mittlere, der „elegischen" Dichtung das niedere vulgare, Abarten, deren Bestimmung einem späteren Abschnitt vorbehalten bleibt. In einer für unsere Auffassung von der Poesie reichlich formalistischen und schulmäßigen Auseinandersetzung wird der Leser dann über die rechte Gestaltung der Kanzone unterrichtet: über die Wahl des Stoffes, von denen nur die erhabensten — Waffen, Minne und Tugend — ihrer würdig seien; über den Gebrauch der Wörter, die nach Würde und Klang unterschieden werden; über den Bau des Satzes und die verschiedenen Stile der Rede; über Vers, Strophe und Reim. Als Belege werden einzelne Verse aus zahlreichen Kanzonen provenfalischer Troubadours und italienischer Dichter angeführt, darunter solche von Dante selbst, von Guido Guinizelli, den er auch in der Commedia als den Vater seiner Dichtung und der anderen Jünger des dolce Stil nuovo preist, seiner Freunde Guido Cavalcanti und Cino da Pistoja, mit dem er Jahre hindurch in poetischem Briefwechsel gestanden hat. Dantes Muse ist auch in dieser Zeit der wissenschaftlichen Arbeit nicht verstummt. Aber der Klang ihrer Stimme ist ein anderer geworden. Die Wendung zum rationalistischen Denken hat auch seiner Dichtung in diesen Jahren das Gepräge gegeben. Die Gedichte, die, soweit philologische Forschung ermitteln konnte, damals entstanden sind, klingen fast durchweg in gleichem oder ähnlichem Tone wie jene drei, die den Traktaten 9*

des Convivio vorangestellt sind und deren Inhalt wir bei der Erörterung dieser Traktate kennen gelernt haben. Zum Teil scheinen sie bestimmt gewesen zu sein, den geplanten elf weiteren Büchern des Werkes einverleibt zu werden; einige sind vielleicht eigens zu diesem Zwecke verfaßt. Es sind zumeist Kanzonen, die in kunstvoll gebauten Strophen philosophische und moralische Weltund Lebensfragen in allegorischer, o f t vieldeutiger Verhüllung gedankenvoll tiefsinnig abhandeln. Die beiden ersten Kanzonen des Convivio geben ein gutes Beispiel dieser philosophierenden Poesie. Daß ihr Dichter sie selbst vor anderen geschätzt hat, darf man daraus schließen, daß er sie, als einzige neben der ersten Kanzone aus der Vita nuova (Donne ch* avete intelletto d' amore), in der göttlichen Komödie erwähnt. Im Vorfegefeuer (Purg. III, 106 f f ) beginnt der ihm befreundete Sänger Casella, der dort auf Zulassung zum Bußgange wartet, auf seine Bitte um ein Lied zum Trost f ü r die auf ihrer Pilgerfahrt schwer bedrückte Seele, die zweite jener Kanzonen (Minne, die zu mir spricht in meinem Sinne) zu singen: mit so süßem Klange zu singen, daß die lauschenden Seelen um sie her ihre Bestimmung, den Weg zur Läuterung, ganz vergessen. Im Paradiese dann, im Himmel der Venus, grüßt der jung verstorbene Prinz Karl Martell von Anjou Dante, dem er, wie bereits erwähnt, bei einem Besuche in Florenz, nahe getreten war, mit den Eingangsversen der anderen Kanzone, die sich an die Beweger eben jenes Himmels richten: Den Himmelsfürsten nach, im gleichen Kreise, Mit gleichem Schwung, von gleichem Durst verzehrt, Drehn wir uns, denen dort Du sangst zum Preise: „Ihr, die den dritten Himmel kreisen l e h r t . . . " Neben diese beiden darf man wohl die Kanzone Tre donne intorno al cor mi son venute stellen, die f ü r den 92

XIV. Traktat des Convivio bestimmt gewesen zu seih scheint. Sie ist dadurch bedeutungsvoll, daß der Dichter hier sein eigenes tragisches Schicksal in das Licht des allgemeinen Widerstreits zwischen Recht und Ungerechtigkeit stellt. Er sieht an der Schwelle seines Herzens die Rechtlichkeit, wieder verkörpert in einer hohen Frau, mit ihren Töchtern Freigebigkeit und Mäßigung, stehen, weinend und in Lumpen gekleidet. Dem Herrn seines Herzens, Amor, klagt sie ihr Leid, d a ß sie von der argen Welt verachtet u n d verstoßen sei. Amor weist seine Pfeile und heißt sie hoffen, d a ß die lange nicht Gebrauchten und rostig Gewordenen einmal von neuem glänzen werden. Bei dieser Aussicht a u f «inen Sieg der guten Sache wird der Dichter getrost, und in edlem Stolze rechnet er sich den Bann, den er durch Eintreten f ü r Recht und Gerechtigkeit auf sein Haupt gezogen, zur Ehre: Wenn Weißes denn in Schwarz die Welt verkehrt, Mit Edlen Untergehn ist Lobes wert! Die Gedankenfülle, der Bilderreichtum, der Wohlklang der Verse ist in diesen Gedichten von jeher bewundert worden. Höchst anmutig und echt poetisch ist der Schluß der zweiten, in dem, wie üblich, die Kanzone selbst angeredet wird. Den Tadlern, die ihren tiefen Sinn nicht zu erfassen vermögen, soll sie antworten: So sehet doch nur an, wie schön ich bin! Aber der Dichter m u ß hier selbst bekennen, es werde wenige Hörer geben, die sie verstehen könnten, so dunkel und schwer zu begreifen sei ihre Rede. Auch in dem' letztgenannten Gedichte räumt er am Schlüsse ein, wie schwer seine Andeutungen zu enträtseln sind, wenn er mahnt, ihren Schleier unberührt zu lassen. Es ist nicht zu leugnen, daß in allen diesen Dichtungen die unmit93

telbare Wirkung durch die Dunkelheit der Bildersprache vielfach gestört wird. Die Kunst wird allzuoft zur Künstelei, der Tiefsinn zur Spitzfindigkeit. Die Bilder sind nicht selten gesucht, die Allegorie geschraubt. Lehrhaftigkeit, Überwiegen der Reflexion drohen die Poesie zu ersticken. Auf die Spitze getrieben sind diese Eigenheiten, mit denen Dante dem Geist und Geschmack seiner Zeit huldigt, in der Kanzone über den Adel aus dem vierten Traktat des Gonvivio. Das ist keine Dichtung mehr; es ist eine in Reime gebrachte moralisierende, mit Polemik durchsetzte Abhandlung. Wenn man die Gesamtheit der Dichtungen und Prosawerke überblickt, die seit dem Abschluß der Vita nuova bis gegen Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts entstanden sind, und sie mit dem zusammenhält, was ihr Verfasser im Laufe dieser Jahre gewirkt und erlebt hat, so erhält man ein deutliches Bild von Dantes innerer Entwicklung in dieser Zeit des ersten Mannesalters. Auf die schwärmerisch mystische Ekstase des neuen Lebens folgte eine Ernüchterung. Der Sänger Beatrices stieg in die Welt der Wirklichkeit hinab. Er lernte ihre Genüsse kennen; er widmete sich dem; öffentlichen Leben und stritt mit Leidenschaft im Kampfe der Parteien; er mühte sich in scharf rationalistischem Denken um die Erkenntnis der realen Welt. Den Lebensgenuß hat er bald als schal und unbefriedigend erkannt. Seine politische Laufbahn endete mit Enttäuschung aller Hoffnungen. Seine wissenschaftlichen Arbeiten blieben Bruchstücke. Dennoch ist der geistige und seelische Ertrag dieser Jahre nicht gering zu achten. Der weiche, träumerische Jüngling ist zum Mannte gereift. Er hat gelernt, seinen Mann zu stehen und seine Kräfte zu gebrauchen: im Kampfe mit der Umwelt sowohl, als im Ringen um ein geschlossenes Weltbild. Sein Wirklichkeitssinn hat sich entwickelt, sein G'e94

sich tskreis ist erweitert. Auf dem Felde der Politik hat er ein Urteil gewonnen über die Mächte, die in Staat und Kirche wirksam sind, und unter dem Eindruck des verhängnisvollen Strebens der päpstlichen Kurie nach weltlicher Macht ist ihm bereits sein politisch-religiöses Ideal vom heiligen Weltreich aufgegangen. Im Studium der Wissenschaften hat er sich nicht allein umfassendes Wissen und strenge Methode erworben, sondern auch philosophisches Denken gelernt und sich eine gefestigte Welt- und Lebensauffassung gesichert. Die Lehre der Stoa ist es, die ihn, sicher nicht ohne den Einfluß seines tragischen Schicksals, ganz f ü r sich eingenommen hat. Verachtung irdischer Güter, Unerschütterlichkeit gegenüber dem Schicksal, Tugend als höchster Wert, Vernunft als Leitstern: das ist jetzt f ü r ihn der Weisheit letzter Schluß. Mit wahrer Inbrunst predigt er die Weisheit dieser Vernunftreligion, wenn er im letzten Traktat seines Convivio seine Tugendlehre vorträgt, wenn er von der Vollkommenheit spricht, die Menschen zu Göttern mache, wenn er die stoische Philosophie und deren Idealbild, den jüngeren Cato, preist, den Blutzeugen der Freiheitsliebe und der stoischen Gesinnung, von dem er sagt, keiner sei würdiger, Sinnbild der Gottheit zu sein. Es lag in Dantes Natur, daß er alles, was seine Seele ergriff, auf die Spitze treiben mußte: wie einst den Beatrice-Kultus, so jetzt den der Vernunft. I n der Freude an dem errungenen; Wissen sieht er das Wissen als höchsten der Werte, als ein Absolutes an, als Gewähr f ü r vollkommene Glückseligkeit. Wenn er sich auch bewußt bleibt, daß Gott dem Menschen nicht beschieden hat, alle Rätsel des Daseins zu lösen, so tritt ihm das dem rationalen Denken verschlossene Gebiet, das Geheimnis der göttlichen Weltordnung, jetzt in den Hintergrund. Die eigentlich religiöse Empfindung verblaßt. 95

Nicht, daß er an seinem Christenglauben irre oder auch nur in der Ehrfurcht vor der Mutter Kirche wankend geworden wäre. Seine Rechtgläubigkeit ist unangefochten geblieben. So peinlich sie von der Danteforschung! geprüft worden ist, es hat ihm keinerlei Glaubensirrung nachgewiesen werden können. Zu Unrecht ist er der Neigung zum Averroismus, der von Thomas von Aquino erfolgreich bekämpften, pantheistisch gerichteten Lehre des arabischen Aristotelikers Averroes verdächtigt worden. Nicht einmal der vom Thomismus verworfenen Richtung der pura philosophia darf man seine damalige Haltung gleichsetzen, wenn man im Auge behält, wiie er im Convivio seine Urteile nicht einseitig auf die Lehren der alten Philosophen stützt, sondern sich regelmäßig auf die Heilige Schrift, auf Kirchenväter, auf den Christenglauben beruft, „der nicht lügen kann"; ganz im Sinne der Scholastik, der die Philosophie ebenfalls als Helferin der Glaubenslehre willkommen ist. Wenn K. Witte, der Altmeister der deutschen Danteforschung, aus Beatrioes Anklage am Schlüsse des Purgatorio herauslesen will, daß Dante sich später selbst der* Verirrung in die pura philosophia bezichtigt habe, so wird diese Deutung dem Wortlaut ihrer Beschuldigung nicht gerecht. Sie hält ihm, wie wir sehen werden, mit deutlichen Worten eine viel allgemeinere Schuld vor: die Abkehr von Gott, dem ewigen Gute, durch Hingabe an die vergänglichen Dinge, die Lüste und Sorgen dieser Welt. Witte geht auch ohne Zweifel zu weit, wenn er den Werdegang Dantes in das Schema einer „Trilogie" zwängen will, indem er drei Abschnitte in seinem Leben scheidet, deren jeder durch die Art eines seiner Werke, der Vita nuova, des Convivio und der Commedia gekennzeichnet werde: die Zeit kindlicher Gläubigkeit in der Jugend, die Zeit des Mannesalters, in dem der einfältige Glaube durch philosophische 96

Grübelei zersetzt worden, endlich die Rückkehr zueinem durch ernstes Nachdenken gefestigten Glauben Das heißt denn doch, die ihrer Natur nach höchst komplexen Vorgänge im Seelenleben eines genialen Menschen durch Zuspitzung der Gegensätze allzusehr vereinfachen. Soviel aber ist zuzugeben: die Schriften und Dichtungen aus jener Zeit verraten auch einen gewissen Wandel in der religiösen Haltung. Die übereifrige Vertiefung in philosophische Spekulationen hat die einfältige Hingabe an die christlichen Heilswahrheiten zurückgedrängt. Die Vergötterung der Vernunft stellt die göttliche Offenbarung eine Zeit lang in den Schatten. Dantes sprachwissenschaftliche Forschungen, seine Bemühungen um Erkenntnis von Bau und Geist, Gesetz und Ausdrucksfähigkeit seiner Muttersprache haben ihm das Rüstzeug geliefert, dank dem er in der göttlichen Komödie, ein Meister des Wortes wie kein Zweiter im Bereich der romanischen Zungen, die Poesie zu kommandieren gewußt hat. So gewiß er zum Dichter geboren war, die Beherrschung der Sprache, die er jenen Studien verdankt, befähigt ihn erst, seinen Gedanken und Empfindungen den bezwingendem Ausdruck, den Terzinen seiner Commedia die Wucht und die Stimmung zu geben, die uns dort so unwiderstehlich ergreifen. Schon in den Dichtungen jener Jahre kommt die hohe Kunst der Rede zur Geltung. Zugleich freilich lassen sie erkennen, welche Gefahr die rationalistische Richtung seines Denkens dem Dichter brachte. Wir sahen, wie gesuchte Allegorien und Überwiegen der Abstraktion Künstelei, Dunkelheit und Lehrhaftigkeit in seine Dichtung hineingetragen haben. Vor den Kanzonen, die in dem Convivio aufgenommen sind, die f ü r ihn bestimmt waren oder sonst in der Zeit der wissenschaftlichen Studien entstanden sind, wird dem Leser 7

Falkenhausen, Dante

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deutlich, daß Dante, wenn er auf diesem Wege weitergegangen wäre, niemals der Dichter der göttlichen Komödie hätte werden können. Was ihm auf dem Wege Halt geboten hat, läßt sich angesichts der breiten Lücke, die gerade hier in den Nachrichten aus seinem Leben klafft, nur vermuten. Mit großer Wahrscheinlichkeit aber darf man annehmen, daß es jenes Erlebnis war, das ihm bei seinem Besuch im Casentino begegnet ist. Er sagt es selbst in dem oben erwähnten, an seinen Gönner Moroello Malaspina gerichteten Briefe, der, lange angezweifelt, heute fast allgemein f ü r echt gilt, so überraschend die Offenherzigkeit wirkt, mit der er eine blutende Herzenswunde enthüllt. Von dem Hofe des Markgrafen geschieden, so schreibt er, und am Ufer des Arno angelangt, ysei ¡er einer Schönen begegnet, bei deren Anblick ihn eine verzehrende, seine Seele ganz überwältigende Leidenschaft ergriffen habe. Sie habe alle seine Vorsätze, von Minne und Minnesang zu lassen und sich ganz der Erkenntnis der himmlischen und irdischen Dinge zu widmen, zunichte gemacht, seinen freien Willen in Fesseln geschlagen. Diesem Briefe fügt er ein Gedicht bei: die Bergk anzone (canzon montanina), in der er sein Liebesleid klagt, verzweifelt über die Grausamkeit seiner Angebeteten, der Frau mit dem Herzen von Stein, und über die seelenmordende Gewalt seiner Leidenschaft stöhnt, die in seinem Herzen selbst das Verlangen nach der Heimat erstickt habe. Von dieser donna Pietra, der Dame von Stein, künden noch vier andere Kanzonen, die man nach ihr die Steinkanzonen getauft hat. In immer neuen Klagen und Anklagen wiederholen sie das Lied von den bestrickenden Reizen der Herrin und von ihrer unbarmherzigen Herzenskälte, o f t mit symbolischem Hinweis auf die umgebende winterliche Gebirgslandschaft, in der Stimmung wechselnd zwischen tiefer Schwermut 98

und lodernder Leidenschaft, die sich am Ende in grimmigen Verwünschungen der Unerbittlichen überschlägt. Die Dichtungen wie das Abenteuer, das sie umranken, sind von Geheimnis umwittert, rätselvoll wie Dantes ganzer Besuch im Casentino. Keine Andeutung, kein Fingerzeig läßt ahnen, wer die spröde Schöne gewesen ist, die ihn gefallsüchtig mit ihren Reizen umstrickt und kalten Herzens mit ihm gespielt zu haben scheint. Boccaccios Angabe, es sei ein Bauernmädchen aus dem Gebirge gewesen, deren Schönheit der in jenen Bergen häufige Kropf geziert habe, ist kaum ernst zu nehmen. Auch die Gleichsetzung mit jenem „Dirnlein hold und jung an Jahren", von dem die Ballade Io mi son pargoletta bella ce novca singt, will nicht einleuchten. Dies naiv anmutige junge Geschöpf — an das sich vielleicht noch einige andere Gedichte richten — ist augenscheinlich ebenso wie die Neigung, die sie weckt, viel leichter von Gewicht als die unnahbar stolze, dämonische „Dame von Stein" und die sengende Leidenschaft, die sie entzündet. Das Rätsel, das sie aufgibt, hat dazu verleitet, auch ihre Gestalt allegorisch anzudeuten. Die donna Pietra soll eine Verkörperung der Philosophie sein, die, einer spröden Schönen gleich, dem beflissenen Verehrer die tiefsten ihrer Erkenntnisse verweigert. Andere wollen in ihr die grausame Mutter Florentia sehen, die ihren getreuen Sohn von sich stößt, und in der Liebesklage den Schmerz des Vertriebenen und sein Sehnen nach der Heimat erkennen — von dem er doch in der offenbar von der gleichen Leidenschaft eingegegebenen Canzon Montanina sagt, daß sie eben durch diese Leidenschaft in seiner Seele erstorben sei. Es wird sogar allen Ernstes die Meinung verfochten, diese Bekenntnisse einer herzerschütternden Seelenqual seien nichts als eine Stilübung des von dem „trobar clus", dem dunklen Sange des Proven^alen Arnaut Daniel

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begeisterten und zur Nachahmung gereizten Dichters. In dem Briefe an den Malaspina entkräftet Dante selbst diese Deutelei, indem er das Abenteuer ganz so, wie die Verse es ahnen lassen, in unmißverständlicher Prosa berichtet. Wer die Echtheit dieses Briefes anzweifelt, sei auf ein nach den Begleitumständen u m diese Zeit entstandenes Sonett aus dem vorerwähnten Briefwechsel Dantes mit Cino da Pistoja verwiesen. Der Freund hatte in Versen sein Urteil erbeten, ob er, von seiner Herrin getrennt, ohne Gewissensbedenken einer neuen Neigung nachgeben dürfe. I n seinem Antwortsonett bekeimt Dante, er habe Amors Sporn und Zügel, das Lachen und Stöhnen unter seiner Herrschaft selbst erfahren, wisse daher, d a ß gegen ihn V e r n u n f t und Tugend so wehrlos seien wie Glockengeläut gegen ein Donnerwetter, daß, soweit sein Pfeil reicht, der freie Wille geknechtet werde und die V e r n u n f t umsonst weisen Rat gebe. Ein überraschendes Geständnis im Munde von Beatrices Verehrer, der sich die nach ihrem Tode gefaßte flüchtige Neigung zu der donna gentile in bitterer Selbstanklage vorgeworfen hatte! Und ein sprechendes Zeugnis dafür, daß ihm ein Erlebnis, wie es die Steinkanzonen, wörtlich genommen, uns ahnen lassen, damals tatsächlich begegnet ist. I n den Kanzonen aus der Zeit des Convivio gibt Dante überall der Allegorie das Wort. Aber zu den tiefsinnig erdachten und künstlich gestalteten Bildern dieser allegorisch moralischen Gedichte stehen die tiefen Seufzer und verzweiflungsvollen Aufschreie der Steinkanzonen in grellem Gegensatz. Welch andere Stimme als dort klingt aus den Versen: . . . Ach heult" in Höllenglut Sie doch nach mir, wie ich nach ihr allzeit! „Ich helf' Dir" rief' ich schnell, und gleich bereit, Die Faust in ihrer blonden Locken Seide Wühlt' ich, die mir zu Leide Minne so schön geziert mit krausem Gold. IOO

So wollt' ich tun. Und dann wär' ich ihr hold. Hielt' ich sie bei den schönen Flechten dann, Zur Geißel mir geschürzt, zum Peitschenschlage, Die zaust' ich schon vor Tage Und bis zur Vesper, bis zum Abendsegen! Nicht zart und sänftlich faßt' ich, traun, sie an: Nein, wie ein Bär wohl spielt in wildem Hage, Die Striemen, die ich trage Vom Streich der Minne, rächend allerwegen . . . Hier rast sich ohne Zweifel eine echte, in Rotglut flammende, in Haß umgeschlagene, wilde Liebeswut aus. Und eine ebenso echt empfundene tiefe Schwermut klingt ergreifend aus den Versen der Sestine: Wo karg der Tag und lang um mich die Schatten, Da steh ich, ach; wo weiß vom Reif die Hügel, Wo fahl das Sommergrün verblich der Fluren; Und läßt mein Sehnen doch nicht ab zu grünen: So eingewurzelt ist's dem harten Steine, Der spricht und lauscht, als wär' es eine Frauel Sie aber bleibt, die morgendliche Fraue, Zu Eis erstarrt, wie Schnee verharscht im Schatten, Und nimmer will sie rühren, gleich dem Steine, Die holde Zeit, da die erwärmten Hügel, Dem Weiß enttaut, auf's neue wieder grünen, Und Gras und Blümlein schmücken ihre Fluren. Trägt einen Kranz ihr Haupt vom Wuchs der Fluren, Sie scheucht aus unsrem Sinn all andre Fraue: So lieblich steht ihr krauses Blond zum Grünen, So schön, daß Amor selber steht im Schatten, Er, der in Haft mich zwischen sanften Hügeln Weit fester hält denn Mörtel Stein am Steine. Ihr Reiz hat Zaubermacht trotz edlem Steine, Und schlägt sie Wunden, heilt kein Kraut der Fluren. Weit flüchtet' ich, weit über Plan und Hügel, Daß ich mich berge vor sotaner Fraue; Doch ist vor ihrem Angesicht kein Schatten: Nicht Berg noch Mauer, noch im Laub, dem grünen. Ich sah sie in Gewanden jüngst, in grünen, Da hätte Liebe sie entfacht im Steine: Liebe, die mir im Herzen weckt ihr Schatten. O sah ich wandeln sie auf schöner Fluren, In Liebe, wie nur irgend schöne Fraue, Vom Ring umschlossen allerhöchster Hügel 1 101

Doch eher kehrt der Strom zurück zum Hügel, Eh sich's in diesem frischen Holz, dem grünen, Entflammt, wie sonsten wohl in schöner Fraue, Für mich, der schlafen wollt' auf hartem Steine All meine Zeit, zur Kost das Kraut der Fluren, Von ihrem Kleide nur zu sehn den Schatten. Wirft nun der Hügel immer dunklern Schatten, Im Schmuck, dem grünen, birgt die junge Fraue Er gleich dem Steine unterm Wuchs der Fluren. Wer Ohren hat zu hören, kann diese Ergießungen eines zu Tode verwundeten Herzens unmöglich f ü r künstlich erdachte Allegorien oder gar f ü r Stilübungen eines seinem Vorbilde nacheifernden Poeten halten. Es ist kein Zweifel: die Donna Pietra war eine Frau von Fleisch und Blut wie vor ihr Beatrice, deren Widerpart sie i n allen Stücken gewesen zu sein scheint. Der Einfluß, den sie durch die in Dantes Herzen entfachte Glut auf ihn geübt hat, mag kaum geringer gewesen sein. Diese verzehrende Leidenschaft, die den der Jugend längst entwachsenen Mann unversehens überfiel, ihn aus seinen gelehrten Studien und seinen Sorgen um die Z u k u n f t gewaltsam herausriß, m u ß sein Innerstes erschüttert und zu einer neuen Wandlung geführt haben. Die Lähmung des Willens, die jeden Widerstand vereitelte, die Selbstverachtung, deren Stachel er unter dem Druck dieser unwürdigen Knechtschaft in seiner Seele spürte; der A u f r u h r seiner Empfindungen, die sich aus Liebe in Haß und aus Haß in Liebe verkehrten: das alles m u ß t e seine stoische Selbstgerechtigkeit ins Wanken bringen, seinem Vernunftsdünkel einen Stoß geben, seinem Rationalismus die Rätsel in den abgründigen Tiefen der eigenen Seele zum Bewußtsein bringen. Vernehmlich klingt dieser Zusammenbruch aus den Stoßseufzern u n d den wilden Ausbrüchen der Steinkanzonen. Aus dem Zusammenbruch hat Dante sich dann zu neuer seelischer Haltung erhoben. Das Lob I02

der stoischen Lehre verstummt. Davon, daß die Philosophie dem Menschen vollkommene Glückseligkeit bringe, ist nicht mehr die Rede. Der Dichter der göttlichen Komödie weiß, daß er der göttlichen Gnade bedarf und daß es Verdienst ist, diese Gnade anzunehmen. Wie scharf sich d e r poetische Stil der Steinkanzonen von dem der allegorisch moralischen aus jener Zeit unterscheidet, ist bereits hervorgehoben worden. Hier werden keine philosophischen Fragen abgehandelt, keine Moralien aufgetischt, keine dunklen Bilder, keine geistreichen Allegorien ausgeklügelt. In diesen klangvollen Versen macht sich eine überwältigende Empfindung gewaltsam Luft. Von ihr eingegeben, erklingt hier, nachdem er lange Zeit fast verstummt war, zum ersten Male wieder der Ton unmittelbaren lyrischen Gedichtes. Dürfen wir glauben, daß diese Leidenschaft, die als schwere Krisis in Dantes Leben eingebrochen sein muß, nicht ohne seelischen Gewinn geblieben ist, so hat sie zugleich den Dichter in ihm, der im Schatten der gebieterischen Herrin Philosophie zu verkümmern drohte, zu neuem Leben erweckt. Wenn nicht alles trügt, so dürfen wir der donna Pietra Dank d a f ü r wissen, daß die von ihren Reizen entfachte Liebesglut den Verfasser des Convivio, indem sie ihn in den Dichter der Steinkanzonen wandelte, befähigt hat, sich zum Sänger der göttlichen Komödie zu erheben.

Enttäuschte

Hoffnung

Kaiser Heinrichs Kampf u n d Ende Am 27. November i3o8 fand zu Frankfurt am Main eine Wahl statt, die, f ü r die Geschichte des Abendlandes und vornehmlich Italiens von weittragender Bedeuio3

tung, auch Dantes fernerem Lebensschicksal eine neue Wendung gegeben hat. Nach der Ermordung Albrechts I. durch seinen Neffen Johannes Parricida hatte König Philipp der Schöne von Frankreich den Plan gefaßt, die Kaiserkrone an sein Haus zu bringen, und sich f ü r die Wahl seines Bruders Karl von Valois eingesetzt, des Sieur sans terre, den wir als Friedensstifter in Florenz kennen gelernt haben. Die Gegner des französischen Einflusses, an der Spitze der Erzbisohof Balduin von Trier, hoben dessen Bruder, den Grafen Heinrich von Luxemburg auf den Schild und setzten es durch, daß er zum König gewählt wurde. Papst Clemens V., um die Unabhängigkeit der Kurie besorgt, die in Avignon durch den lastenden Druck der Krone Frankreichs im Norden, durch die Herrschaft der ihr verwandten Anjous über Neapel im Süden des Kirchenstaates schwer bedroht war, hatte, während er den Valois zu unterstützen vorgab, im Geheimen die Wahl des Luxemburgers begünstigt. Als sie ihm angezeigt wurde, bestätigte er den Gewählten, der den Ansprüchen des päpstlichen Stuhles weit entgegenkam, und stellte die Kaiserkrönung in Aussicht. Heinrich, nach Herkunft und Erziehung mehr Franzose als Deutscher, nahm im Gegensatz zu seinen Vorgängern die Richtung der staufischen Politik, den Anspruch auf die Kaiserkrone und auf Beherrschung Italiens wieder auf. Nachdem er Böhmen gewonnen und seinem Sohne Johann zu Lehen gegeben hatte, zog er im Herbst I 3 I O über die Alpen, um sich in Rom zum Kaiser krönen zu lassen. Durch Burgund und das Arelat, über den Mont Cenis kam er in das Gebiet seines Schwagers, des Herzogs Amadeus von Savoyen, der sich ihm mit Heeresmacht anschloß. Den Abgesandten der italischen Herren und Städte, die dort vor ihm erschienen, verkündete er, daß er gekommen sei, ihrem von inneren Kämpfen zerrissenen Lande den Frieden zu bringen, io4

den Streit der Parteien überall mit gerechtem Schiedsspruch zu schlichten. So wurde er mit großen Hoffnungen, vielfach mit Begeisterung empfangen. Nicht nur die Ghibellinen jubelten ihm zu, in der Erwartung, mit seiner Hilfe ihre Ansprüche durchzusetzen. Auch von guelfischen Grafen und Herren konnte er manche Huldigung entgegennehmen: auch auf ihrer Seite war der Wunsch verbreitet, es mit dem Träger der Krone nicht von vornherein zu verderben. Das kleine Heer, das er mitgeführt hatte, erhielt weiteren Zuzug; auch Leopold von Österreich mit seinem Aufgebot stieß jetzt zu ihm. Am 6. Januar i3o6, dem Epiphaniastage, ließ er sich in Mailand, dessen Gebieter, Guido della Torre, sich nach langem Zögern widerwillig zur Huldigung bequemte, in der Kirche Sant' Ambrogio die lombardische Krone aufsetzen. In keiner Seele konnte die Hoffnung leuchtender, die Begeisterung flammender sein als in Dante. Der Stern, der jetzt über den Alpen aufging, war f ü r ihn das Zeichen, das alles Heil der Welt verhieß. Unter dem Szepter des rechtmäßigen Herrschers, unter einem neuen Träger 4er seit dem Sturz der Staufer verschollenen Kaiserkrone geeinigt, mußte das Abendland befriedet, die Kirche aus dem babylonischen Exil befreit und von ihrer Verweltlichung gereinigt, Italien von dem verderblichen Hader der Parteien erlöst, in Florenz die Gewaltherrschaft der schwarzen Partei niedergeworfen, überall dem Recht und der Gerechtigkeit zum Siege verholfen werden. Dem schuldlos Verbannten selbst aber winkte nach dem Sturz der ihm feindlichen Regierung in Florenz die Aussicht auf ehrenvolle Heimberufung in die mit Schmerzen geliebte Vaterstadt. Es versteht sich, daß er den brennenden Wunsch hatte, selbst zur Stelle zu sein, wenn all diese Hoffnungen sich verwirklichen sollten. Wenn er damals, als der König seine Romfahrt antrat, in Frankreich geweilt hat, so ist er auf diese Nachricht hin jedenio5

falls unverzüglich über die Alpen zurückgekehrt. Und nicht nur als stummer Zuschauer wollte er dem Drama folgen, dessen Ablauf für sein eigenes Schicksal und für alles, wofür er sich eingesetzt hatte, von so entscheidender Bedeutung war. Es drängte ihn mitzusprechen, mitzuhandeln, auf den Gang der Dinge Einfluß zu üben. Drei offene Briefe, die in dieser Zeit verfaßt und der Sache des Kaisers gewidmet sind, zeugen für den leidenschaftlichen Eifer, mit dem er für diese Sache eingetreten ist. Mit dem ersten mischt er seine Stimme gleich anfangs in den Chor der Begrüßungen und Huldigungein. In dem letzten rühmt er sich, „den gütigsten, mildesten Herrscher mit Augen gesehen und mit Ohren gehört, seine Füße umfangen und geküßt zu haben". Wenn die letzte Redewendung bildlich zu verstehen sein mag, so ist an einer Begegnung Dantes mit dem Fürsten nach diesem Zeugnis nicht zu zweifeln. Wo er ihn gesehen hat, läßt sich nicht feststellen. Die Vermutung liegt nahe, daß er nach Mailand geeilt ist, um der Krönungsfeier beizuwohnen. Er mag sich einer der zahlreichen Gesandtschaften angeschlossen haben, die zu Beginn der Romfahrt mit Huldigung und Ergebenheitsbekundungen in das Hoflager gekommen sind. Wir dürfen uns wohl vorstellen, daß er in der altehrwürdigen Kirche des heiligen Ambrosius zu Mailand, unter die Menge der andächtigen Zuschauer sich mischend, mitangesehen hat, wie die lange verwaiste Krone von Italien sich wieder auf ein gesalbtes Haupt senkte. Von der weihevollen Stimmung dieser Tage ist jedenfalls der erste der Kaiserbriefe erfüllt. Es ist eine feierliche Mahnung, die der „demütige Sohn Italiens, Dante Alighieri, der schuldlos Verbannte" an „alle und jede Herrscher Italiens, die Senatoren der ewigen Stadt, an die Herzöge, Markgrafen, Grafen und Völker des Landes" richtet, insgesamt dem rechtmäßigen Herrn der Christen106

heit, dem Erben der Caesaren zu huldigen und ihm Gehorsam zu leisten. „Gekommen ist die angenehme Zeit", so beginnt er mit den Worten des Sehers, „da die Zeichen aufgehen der Tröstung und des Friedens". „Freue Dich, ItaJia", heißt es dann, „derzeit selbst den Sarazenen bedauernswert, die Du in der ganzen Welt Dich alsbald wirst beneidet sehen, dieweil Dein Bräutigam Dir zur Hochzeitsfeier entgegeneilt, er, der Trost des Erdkreises, der Ruhm Deines Volkes, der gnadenreiche Heinrich, der Erwählte Gottes, der Caesar, der Augustus!" Allen werde er barmherzig sein, mit Milde strafen aber überschwänglich belohnen, allen Frieden und Freude bringen. „So erwachet denn allesamt!" werden die italischen Landsleute angerufen. „Erhebet Euch zu Eurem Herrscher, Ihr alle, die Ihr nicht allein seiner Herrschaft, sondern als Kinder seiner Obhut anbefohlen seid!" Sie sollen sich der Großmut des neuen Augustus vertrauen und sich hüten, der Ordnung Gottes zu widerstreben, der, wie aus zahlreichen Sprüchen der Heiligen Schrift erwiesen wird, den Römischen Kaiser selbst zum Oberherrn der Völker bestimmt habe. Die Unterdrückten aber, die, wie der Schreiber selbst, Unbill erlitten haben, werden beschworen, versöhnlichen Sinnes zu verzeihen und Schonung zu üben, „auf daß der Hirt sie als Schafe seiner Herde erkenne". Überraschend klingt diese Mahnung zur Versöhnlichkeit gegen die Unterdrücker im Munde des streitbaren Kämpfers gegen Unrecht und Vergewaltigung. In seiner Begeisterung vergißt er sogar den Groll und die begründete Erbitterung über die ihm widerfahrene Unbill! Es muß wie ein Rausch über ihn gekommen sein. Aus jedem Worte des ekstatischen Aufrufes spricht ein unerschütterlicher Glaube an den Retter, der an einer Stelle sogar mit den Worten, die in der Bibel dem Heiland gelten, begrüßt wird, ein Vertrauen, das keinen Augenblick 107

zweifelt, er werde sein Wort einlösen, alle Streitigkeiten schlichten, die Feindseligen versöhnen, Recht, Frieden und Eintracht heraufführen, eine Zuversicht, die nichts zu ahnen scheint von den mannigfachen Hindernissen, die der Verwirklichung seiner edelmütigen Verheißungen im Wege lagen und ihre Erfüllung von vornherein in Frage stellen mußten. Dantes dichterische Einbildungskraft hatte auch diesmal den Politiker über den Widerstreit zwischen seinen Idealen und der harten Wirklichkeit hinweggetäuscht. Mit der Krönung in Mailand war der Honigmond bereits zu Ende gegangen, der König Heinrich in seinen Beziehungen zu Italien und den Italienern beschieden war. Schon auf die Krönungsfeier selbst hatte ein bedenkliches Vorzeichen seinen Schatten geworfen. Die eiserne Krone, mit der bereits die langobardischen Könige und nach ihnen die deutschen Herrscher zu Königen von Italien gekrönt worden waren, konnte nicht zur Stelle geschafft werden. Die ehrwürdige Reliquie, die ihren Namen bekanntlich dem in den Goldreif eingeschmiedeten Nagel vom Kreuze Christi verdankt, war in dem Dom von Monza, wo sie seit Jahrhunderten verwahrt gewesen, nicht aufzufinden. Es hieß, sie sei in den Wirren der letzten Jahre geraubt und an einen Juden verschachert worden. Ein Goldschmied aus Siena erhielt den Auftrag, in aller Eile Ersatz zu schaffen. Ein Diadem, reich mit Perlen und Edelsteinen geziert, aber ohne die Weihe der geschichtlichen Überlieferung, mußte bei der feierlichen Handlung dienen. Als die Kunde sich verbreitete, wurde über die „stroherne Krone" gespottet und das Fehlen der rechten allgemein als unheilverkündendes Zeichen gedeutet. Nur zu bald erwies sich die Befürchtung als begründet. Auf die vielversprechenden Anfangserfolge Heinrichs folgte ein schwerer Rückschlag. Zu Beginn hatte 108

nur Florenz seine Aufforderung, ihn als Oberherrn anzuerkennen, ihm Gehorsam zu leisten, Frieden zu halten und die Verbannten zurückzurufen, trotzig und in unbotmäßiger Form zurückgewiesen. Bald aber kam auch in Oberitalien Widersetzlichkeit auf. Gemeinden, die bereits gehuldigt hatten, fielen ab. Verräterische Umtriebe wurden ruchbar. Die alten Parteigegensätze brachen von neuem auf. Die allgemeine Versöhnung war ein schöner Traum, dessen Verwirklichung an der Gewalt des seit Menschenaltern eingefressenen, mit Strömen von Blut genährten Hasses der Parteien scheitern mußte. Die Guelfen, die sich zunächst der neuen Macht gebeugt hatten, warteten im Stillen auf Gelegenheit, ihr Haupt wieder zu erheben. Wenn anfangs bis in ihre Reihen die Stimmung dem landfremden Ankömmling nicht ungünstig gewesen war, so wurde sie jetzt selbst bei den Ghibellinen durch die Enttäuschung, die ihre Hoffnung auf einseitige Begünstigung an seiner Unparteilichkeit erfuhr, vielfach getrübt. Allgemein verstimmend, ohne Ansehn der Partei, wirkten überdies die hohen Auflagen, die er bei der Knappheit seiner Mittel von den Eingesessenen zu fordern genötigt war. Schon einen Monat nach der Krönung, als der Tag zum Aufbruch nach Rom bereits bestimmt war, brach in Mailand selbst ein Aufstand aus, der blutig niedergeschlagen werden mußte. Bald darauf erhoben sich die Städte Lodi, Cremona und Brescia. Der Zug nach Rom wurde aufgeschoben, die bereits auf einen nahen Termin vereinbarte Kaiserkrönung vertagt. Zunächst galt es, die aufrührerischen Städte zum Gehorsam zu bringen. Ihre Unterwerfung sollte schwere Verluste an kostbarer Zeit, an Blut und Mitteln kosten und das Ziel des Römerzuges, die Kaiserkrönung, um viele Monate hinausschieben. Der Umschwung der Lage spiegelt sich aufs deutlichste in dem ganz anderen Ton des zweiten und dritten 109

von Dantes Kaiserbriefen, die nur drei Monate nach, der Krönung zu Mailand am 31. März und 16. April des Jahres I3II, des „ersten der gesegneten Romfahrt Heinrichs des Erwählten Gottes", geschrieben sind. Der zweite richtet sich an die „höchst frevelhaften Bürger von Florenz", die auch eine zweite Botschaft des Königs in hochfahrendem Trotze zurückgewiesen hatten. Mit strenger Rüge hält der unnachsichtliche Ankläger ihnen vor, daß sie sich gegen Gottes heiligen Ratschluß a u f lehnen, wenn sie, auf vermeintliche Rechte pochend, dem römischen Kaiser den Gehorsam weigern; denn Gott selbst habe, wie die Vernunft lehre und die heilige Schrift bezeuge, dem heiligen Römischen Reiche die Lenkung der irdischen Dinge übertragen, so daß, wenn der Thron des Augustus unbesetzt sei, der ganze Erdkreis aus den Fugen gehe und auf dem Schifflein Petri Steuermann und Ruderer dem Schlafe verfallen. Ihre Empörung, droht er den von Geld- und Machtgier Verblendeten, werde ihnen teuer zu stehen kommen. Nicht Wall noch Bollwerke könnten sie schützen vor der Macht des Adlerb im goldenen Felde. Durch die Hartnäckigkeit ihres Widerstandes werde der Zorn des Herrschers noch heftiger gegen sie entbrennen, so daß die Gnade, die ständige Begleiterin seiner Heerfahrt, unwillig von ihm weichen werde. Ihre Häuser würden zerstört und verbrannt, ihre Tempel geplündert, die Bürgerschaft dem Tode oder der Gefangenschaft verfallen. Wähnend, eine falsche Freiheit zu verteidigen — in Wahrheit sei der Gehorsam gegen die Gesetze des Naturrechtes, freiwillig und freudig geleistet, nicht nur nicht Knechtschaft sondern die allerhöchste Freiheit —, würden sie in den Kerker einer wahrhaften Knechtschaft geraten. Als ernste Warnung wird ihnen das Schicksal des von Hannibal zerstörten Sagunt vorgehalten und an die Züchtigung Mailands erinnert, das sich gegen Friedrich Barbarossa no

erhoben hatte. Mit dem harten Worte, daß es zur Buße zu spät und auf Gnade nicht mehr zu hoffen sei, schließt die drohende Anklage. Der Brief ist, ebenso wie der folgende, von der Quelle des Arno datiert. Dante hatte sich also wieder in das Casentin begeben und hielt sich dort wahrscheinlich auf Schloß Battifolle, einem dar den Grafen Guidi gehörigen Kastelle, auf. Dafür sprechen zwei Briefe, die er im Auftrage der Schloßherrin an die Gemahlin des Königs geschrieben haben soll. Er wollte offenbar in. der Nähe sein, wenn sein Augustus, wie er zuversichtlich erwartete, gegen Florenz anrücken und siegreich dort einziehen würde, unter den vielen Verbannten ihn selbst in die Heimat zurückführend. Von Tag zu Tage, in wachsender Ungeduld, mag er auf die Nachricht von dessen Aufbruch aus Mailand gewartet haben. Man kann sich seine Enttäuschung vorstellen, als sich statt dessen die Kunde verbreitete, der sehnlich Erwartete sei durch die Unruhen in der Lombardei dort festgehalten und die Romfahrl auf unbestimmte Zeit verschoben worden. In seiner Erregung wagte er es jetzt, in dem dritten und letzten Sendschreiben eine dringende Mahnung an den König selbst zu richten. Im Namen „aller Tusker, die den Frieden ersehnen", begrüßt er darin mit ehrfurchtsvoller Huldigung die Ankunft des „ruhmreichsten und begnadetsten Triumphators, des Herrn ohnegleichen, Herrn Heinrichs, nach Gottes Vorsehung Römischen Kaisers, des allezeit Erlauchten in Italien". Dann aber hält er ihm die Enttäuschung über sein Zögern und die Unterbrechung seines Zuges gegen Rom unumwunden vor. Seine Getreuen seien dadurch versucht, mit Christus' Vorläufer zu fragen: Bist Du, der da kommen soll oder sollen wir eines anderen warten? „Gleichwohl", heißt es, „glauben wir an Dich und hoffen auf Dich, als den Arm des Herrn, den Sohn der Kirche, den Vor-

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kämpfer für die Ehr© Roms. Aber wir wandern uns über Dein langes Säumen, da Du, längst siegreich, in der Niederung des Po, Tuscien sich selbst überlassest, übergehst, vernachlässigst, als ende das Reich, dessen Rechte Du zu schirmen kommst, an den Grenzen Liguriens". Durch den Aufschub wachse das Selbstvertrauen der toskanischen Gewaltherrscher und der Übermut der Übelwollenden, sie kämen zu neuen Kräften, und ihre Dreistigkeit nehme überhand. „Willst Du in Mailand", ruft er ihm zu, „nach dem Winter auch noch den Frühling über zögern? Wähnst Du, die verderbliche Hydra auszutilgen, wenn Du ihr die Köpfe einzeln abschlägst? Was hast Du gewonnen, wenn Du dem widerspenstigen Cremona den Nacken beugest? Wird nicht die Tollwut dann in Brescia ausbrechen oder in Pavia? Und wenn au^h dort gezüchtigt, wird sie sich aufs neue ausbreiten: in Vercelli, in Bergamo oder anderwärts; bis die Wurzel solchen Unwesens ausgerottet ist! Weißt Du nicht, Du unvergleichlicher Herrscher, kannst Du es nicht erkennen von der hohen Warte Deiner Erhabenheit, wo die Füchsin, in Sicherheit vor dem Jäger, ihren Bau hat, von der all dieser Stank ausgeht? Weder aus dem reißenden Po noch aus Deinem Tiber trinkt die Frevelhafte: die Gewässer des Arnostromes tränken ihren Rachen, und Florenzia nennt sich das verderbliche Ungeheuer." Schmähung auf Schmähung häuft der „unverdient Verbannte" auf die Stadt, die ihn geboren hat. Er schilt sie eine Viper und gibt ihr die Namen der verworfensten Sünderinnen der antiken Sage; er beschuldigt sie, daß sie versuche, den Papst gegen König Heinrich aufzuwiegeln, und daß sie sich dem feindlichen König Robert von Neapel ergeben habe. Zum Schlüsse wird der „andere Sproß Isais" beschworen, seine Säumnis abzubrechen und „jenen Goliath mit der Schleuder seiner Weisheit und dem Schleudersteine seiner Macht zu Boden zu

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strecken": dann würden die Philister flächten und Israel befreit sein. Diese beiden letzten Briefe sind für Dantes Gesinnung und Haltung seiner Vaterstadt gegenüber so aufschlußreich, daß ihr Inhalt und auch der hieratisch übersteigerte Ton ihrer oft der Bibel entnommenen oder ihr nachgebildeten Redewendungen alle Beachtung verdient. Sie haben ihrem Verfasser von mancher Seite harte Vorwürfe wegen Mangels an Vaterlandsliebe eingetragen. Der erste Eindruck dieser furchtbaren Drohungen und wilden Flüche ist in der Tat wahrhaft erschreckend. Wenn man hört, mit welcher Leidenschaft er den Landfremden beschwört, die eigene Heimatstadt anzugreifen und zu unterwerfen, so glaubt man die Stimme von Shakespeares Coriolan zu vernehmen. Aber Dante war kein Coriolan. Schon einmal wurde es gesagt: nicht seine Vaterstadt hatte er bei seinen Angriffen im Auge, sondern deren Regiment, das er als widerrechtlich und ihr selbst verderblich ansah. Man darf unsere heutigen Begriffe von der Treuepflicht gegen das Vaterland nicht ohne weiter» auf jene Zeiten staatlicher Zerrüttung übertragen. Die italienischen Gemeinwesen waren damals durch die beständigen, erbitterten Parteikämpfe derart in sich zersetzt und gespalten, daß von unbedingter Zusammengehörigkeit der Bürgerschaft einer und derselben Stadt nicht wohl die Rede sein konnte. Der Ghibelline fühlte sich dem Ghibelliiien, der Guelfe dem Guelfen ohne Ansehn des Heimatortes enger verbunden und auch stärker zu Treue verpflichtet als dem Mitbürger. Wo es ein alltägliches Vorkommnis war, daß die eine Partei die andere aus der Heimat vertrieb; wo den Vertriebenen kein Weg zur Heimkehr offen blieb als das Aufgebot der Gewalt und das Waffenbündnis mit Gesinnungsgenossen aus fremden Städten gegen die eigene Vaterstadt, da mußte schließlich die Idee der Vaterlandsliebe 8 Falkenhusen, Dante

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als ethische Forderung verblassen. In der Gewaltherrschaft der schwarzen Partei über Florenz durfte Dante eine feindliche Macht sehen. Durch Verrat, im Aufruhr, mit fremder Hilfe aufgerichtet, entbehrte sie in seinen Augen, jeglicher rechtlichen Grundlage. Durch ihr gesetzloses, jeder Billigkeit spottendes Schalten, das lange und blutige Bürgerkämpfe entfachte, hatte sie, überdies in sich gespalten, sich als unheilvoll f ü r das Gemeinwesen erwiesen. König Heinrich hingegen, der nach göttlicher Ordnung rechtmäßige Herrscher, verhieß Frieden und Gerechtigkeit zu bringen. So konnte sich Dante als Verfechter des Rechtes fühlen und füglich glauben, dem wahren Wohle seiner Vaterstadt zu dienen, wenn er ihn drängte, das rechtswidrige und verderbliche Regiment der Schwarzen in Florenz durch Bekämpfung und Einnahme der Stadt zu stürzen. Sicherlich hat sein eigenes Anliegen, der Wunsch nach Heimkehr mitgesprochen. Aus den leidenschaftlichen Beschwörungen, den wilden Verwünschungen klingt unverkennbar die tiefe Erbitteterung, die nach all der erfahrenen Unbill die Seele des schuldlos Verbannten ergriffen hatte. Man darf sich aber nur an die Mahnung zur Versöhnlichkeit, die Bereitschaft zu vergeben und zu vergessen in dem ersten Kaiserbriefe erinnern, um zu erkennen, daß diese Erbitterung nicht der letzte Beweggrund seines Handelns gewesen ist. Auch in den Kaiserbriefen kämpft er f ü r die Idee von Recht und Gerechtigkeit, von der wir seine ganze politische Haltung von jeher beherrscht sahen. Vom Standpunkt der Zweckmäßigkeit f ü r die Sache des Königs gesehen, war der in dem letzten Briefe gegebene Rat nicht zu verwerfen. Dante hatte ohne Zweifel recht gesehen, wenn er Florenz als den Herd des Widerstandes hinstellte und voraussagte, daß dieser Widerstand mit jedem Monate, um den Heinrichs Aufbruch sich verzögerte, neue Kraft gewinnen würde. Gewiß wäre es ii k

ein Wagnis gewesen, den Aufstand in der Lombardei ungedämpft im Rücken zu lassen. Aber noch gefährlicher war es wohl, den Gegnern im Süden und in Mittelitalien Zeit zur Sammlung ihrer Kräfte und zur Vorbereitung einer übermächtigen Abwehr zu lassen. Nachdem der Kampf mit den Empörern in Oberitalien einmal aufgenommen worden war, konnte er nicht wohl vor dem siegreichen Ende abgebrochen werden. Vielleicht aber hätte Heinrich von vornherein darauf verzichtet, wenn er hätte voraussehen können, wie lange die Niederwerfung der aufrührerischen Städte ihn in Atem halten würde. Lodi zwar ergab sich bald. Cremona wurde rasch bezwungen. Brescia aber leistete tapferen Widerstand und konnte erst nach einer viermonatigen Belagerung erobert werden, die den König außer dem verhängnisvollen Zeitverlust schweres Geld und, nach Ausbruch der Pest, einen großen Teil seines Heeres kostete. Es war Herbst geworden, als er endlich in die eroberte Stadt einziehen konnte. Ein furchtbares Strafgericht traf die Unterworfenen. Schwer gereizt durch den Abfall und den hartnäckigen Widerstand, schien der Eroberer der schönen Milde, die er bisher bewiesen und die ihm die Herzen gewonnen hatte, ganz vergessen zu haben. Von nun an zeigt sich in seinem Verhalten ein eigentümlicher Wechsel zwischen unangebrachter Nachsicht und übertriebener Strenge, ein unvermitteltes Schwanken, das, ärger als zielbewußte Härte, die Stimmung zu verderben und das Ansehn zu untergraben pflegt. Als. Sieger, aber tiefe Erbitterung hinter sich lassend, schied er alsbald nach dem erfolgreichen Abschluß der Kämpfe von der unterworfenen Lombardei. Endlich konnte er sich.seinem Ziele zuwenden. Schon am 2. Oktober, acht Tage nach dem Einzüge in Brescia, brach er auf zur Romfahrt. Aber der nächste Weg war ihm vern5

legt. Die Apenninenpässe bis zur ligurischen Küste hielten die Florentiner besetzt, entschlossen, ihm die Grenzen Toscanas zu sperren. Nicht gewillt, sich gleich wieder in neue Kämpfe einzulassen, nahm er den Weg über Genua und von dort zur See nach Pisa. In Genua, das die schon in Mailand geleistete Huldigung erneuerte und zu der damals gewährten Waffenhilfe eine ansehnliche Ehrengabe fügte, blieb er fast vier Monate; erst am 6. März des folgenden) Jahres i3i2 landete er vor Pisa. Die allezeit kaisertreue Stadt empfing ihn mit hohen Ehren und feierlichen Ergebenheitsbezeugungen und zeigte sich zu großartiger Hilfe mit Geld und Waffen bereit. Jetzt stießen auch die Ghibellinen Toscanas mit ihren Mannen zu ihm. Wenn sie allerdings hofften, er werde sich nunmehr, Dantes Wunsch erfüllend, gegen Florenz wenden, so wurden sie wieder enttäuscht. Nur einige Geplänkel und Streifzüge gegen die den Florentinern am unteren Arno und an den Hängen der Pisaner Berge gehörigen Kastelle fanden statt, wobei zwei der festen Burgen erobert wurden. Die Stadt selbst aber blieb unbehelligt. Gegen Ende April brach Heinrich mit seinem ansehnlich angewachsenen Heere nach Rom auf. Ehe er Pisa verließ, hielt er Gericht über die widersetzlichen Städte Toscanas und der Emilia, und verhängte die Acht über Siena, Lucca, Parma und Reggio, nachdem sie über Florenz sdhon in Genua ausgesprochen worden war. In Rom hatte sich inzwischen die Lage höchst bedrohlich gestaltet. Schon seit dem Abzug des päpstlichen Hofes nach Avignon war die Stadt Schauplatz unablässiger Kämpfe zwischen den großen Adelsgeschlechtern gewesen, die sich die Reste der antiken Bauwerke zu festen Burgen ausgebaut hatten. Vornehmlich die guelfischen Orsini, die auf der Engelsburg und gegenüber, auf dem linken Tiberufer, auf dem Monte Giordano 116

saßen, und die ghibellinischen Colonna, die um den Lateran ihre Türme hatten, lagen ständig in Fehde. Der von König Heinrich bald nach seiner Ankunft in Italien zum Senator von Rom ernannte Ludwig von Savoyen, der nicht ohne Erfolg die Ordnung herzustellen versucht hatte, war während der Belagerung von Brescia abberufen worden. Als er nach deren Beendigung zurückkehrte, konnte er sieb nur in den von den Colonna beherrschten Stadtvierteln behaupten: im Osten der Stadt vom Lateran gegen die Porta del Popolo. Der ganze Stadtteil rechts des Tiber, dazu die Brücken und der gegenüberliegende Uferstreifen waren vom Feinde besetzt. Den Widerstand der Orsini bestärkend, war dort im Auftrage des Königs Robert von Neapel dessen Bruder, der Graf Johann von Gravina mit neapolitanischen Truppen eingezogen und wehrte den Zugang zu der Basilika Sankt Peters, in der nach uraltem Herkommen und überdies nach ausdrücklicher Vorschrift des Papstes die Kaiserkrönung vorgenommen werden sollte. Dank der Vorsorge seines getreuen Senators konnte Heinrich mit seinem Heere unbehelligt das Stadtgebiet erreichen und, nur durch wirkungslose Pfeilschüsse beim Übergang über den Tiber auf der Milvischen Brücke belästigt, durch die Porta del Popolo einziehen. Aber er kam nur bis zum Lateran, wo er von den Colonna aufgenommen wurde. Alle Verhandlungen über Freigabe des Weges nach dem Sankt Peter blieben erfolglos. Der König mußte versuchen, sich ihn mit Waffengewalt zu bahnen. Es gelang, das Kapitol, das während der Abwesenheit des Savoyers verloren gegangen, und einige andere Stützpunkte zu erobern oder durch Einschüchterung der Unentschiedenen zu gewinnen. Aber der Angriff auf die Brücken und den jenseitigen Stadtteil wurde nach verheißungsvollen Anfangserfolgen in blutigen, verlustreichen Kämpfen abgeschlagen. Nun blieb 117

der einzige Ausweg, die Krönung, dem päpstlichen Gebot zuwider, im Lateran vorzunehmen. Die Gewissensbedenken der Kardinäle wurden durch eine — wie man munkelte, durch den kaisertreuen Kardinal Nicolaus von Prato zu diesem Zwecke angestiftete — aufrührerische Kundgebung des römischen Volkes beschwichtigt, das sich das für die Würde seines Namens bedeutsame Schauspiel nicht wollte entgehen lassen. Am Tage Peters und Pauls, dem 29. Juni i 3 i 2 , wurde Heinrich von Luxemburg in der Basilika des Laterans durch den Kardinal von Prato zum Kaiser gekrönt. Beim Krönungsmahl auf dem Aventin flogen Pfeile und Schleudersteine aus den feindlichen Stadtburgen in den Festsaal. Schon vier Wochen darauf verließ der gekrönte Kaiser die ungastliche Hauptstadt der Welt, um nach kurzer Rast in Tivoli sein Heer gen Norden, nach Arezzo zu führen. Endlich sollte nun zur Tat werden, was Dante vor anderthalb Jahren so stürmisch verlangt hatte: die Abrechnung mit der verderblichen Feindin am Arno, die tatsächlich die Widersetzlichkeit gegen den Kaiser in ganz Italien geschürt und noch eben in Rom ihre Söldner an der Seite des Anjou gegen ihn ins Feld geführt hatte. Die Verbannten, die noch immer in Arezzo versammelt waren, weiße Florentiner und Ghibellinen der Umgegend schlössen sich in der Hoffnung, endlich die Heimkehr zu gewinnen, dem Heere des Kaisers an. Dante war nicht unter ihnen. Ob er damals noch im Gasentino weilte, wissen wir nicht. An dem Kampfe hat er jedenfalls nicht teilgenommen. „Soviel Achtung", schreibt Lionardo Bruni, „hatte er vor seiner Vaterstadt, daß er, als der Kaiser gegen Florenz zog und vor dessen Toren sein Lager aufschlug, nicht selber, wie er in einem Briefe sagt, dabei sein wollte, obwohl er ihn zu diesem Zuge angefeuert hatte". Was er dem Kaiser damals über -die schlimmen Folgen seines Zögerns warnend vorausgesagt hatte, fand 118

dieser jetzt in verhängnisvoller Weise bestätigt. Florenz hatte die Zeit genutzt, hatte Truppen geworben, sich mit Kriegsgerät und Lebensmitteln versorgt und seine Befestigungen gewaltig verstärkt. In offener Feldschlacht zwar vermochten seine Söldner der ungestümen Tapferkeit der Kaiserlichen nicht Stand zu halten. Bei Incisa am mittleren Arno erlitten sie am 17. September eine schwere Niederlage und mußten sich hinter die Mauern der Stadt Florenz zurückziehen. Diese Mauern aber hemmten den Siegeslauf des kaiserlichen Heeres. Die Stadt einzuschließen und regelrecht zu belagern, fehlte es an Truppen, Verpflegung und Belagerungsgerät. Im Tale der Erna erfocht der Kaiser noch einen Sieg über die ihm folgenden Gegner. Aus befestigten Lagern bei San Casciano und Poggiboni bedrohte er sie dann den Winter über. Schließlich kehrte er jedoch, den Kampf gegen die unbezwungene Feindin fürs erste aufgebend, nach Pisa zurück, wo er am 23. März des folgenden Jahres I3I3 eintraf. Zunächst gedachte er sich wider den anderen Gegner zu wenden, der ihm in Rom die Kaiserkrönung streitig gemacht und auch Florenz durch Übernahme der Schutzherrschaft den Rücken gestärkt hatte: Robert von Anjou, den König von Neapel. Schon von Arezzo aus hatte Heinrich den König als Rebellen wider Kaiser und Reich vor seinen Richterstuhl geladen. Jetzt saß er über ihn zu Gericht. Da er nicht erschienen war, verurteilte er ihn als Aufrührer, als Räuber von Reichsgut, als Verräter, Reichsfeind und Majestätsverbrecher zum Tode und erklärte ihn in die Acht. Ohne Verzug sollte das Urteil vollstreckt werden. König Friedrich von Sizilien, der den Anjous feindliche Aragonese war als Bundesgenosse gewonnen. Er schickte sich an, mit seiner mächtigen Flotte gegen Neapel zu Hilfe zu kommen. Der Kaiser selber wollte mit seinem wesentlich verstärkten Heere über Rom, wo ihm eine 1J

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Bestätigung seiner angefochtenen Kaiserkrönung durch den Popolo Romano in Aussicht gestellt war, gegen die Grenze des Königreichs Neapel vorrücken. Die Aussichten des kriegerischen Unternehmens schienen diesmal günstiger denn je. Da fiel ihm der Papst in den Arm. Anfangs, in Anerkennung von Heinrichs beispielhafter Ergebenheit gegen die Kirche und ihr Haupt, hatte er sich, eines Gegengewichts gegen die Übermacht der Krone Frankreichs dringend bedürftig, seinem Aufstiege durchaus günstig gezeigt. Seit den römischen Händeln aber war, unter dem starken französischen Drucke, seine Haltung zweideutig geworden. Jetzt erließ er eine Bulle, in der er „Jedwedem, wer er auch sei, ob geistlich, ob weltlich, oder auch kaiserlicher Würde", unter Androhung des Bannes untersagt, das Königreich Neapel anzugreifen. Das war die „Falschheit gegen den hohen Heinrich", deren Dante (Par. XXVII, 82) den „Basken" (Gascogner) zeiht, ihn, dem er dafür im Inferno (XIX, 82 f f ) und wiederum am Schlüsse des Paradiso (XXX, i k i f f ) die gleiche Höllenstrafe androht wie seinem Vorgänger Bonifaz VIII. Es m u ß den frommen, seiner Kirche aufrichtig ergebenen Herrscher hart angekommen sein, mit deren Oberhaupte in Gegensatz zu geraten. Ohne sich selbst aufzugeben, konnte er indes auf Vollstreckung des gefällten und aller Welt verkündeten Urteils nicht verzichten. Mit rechtlicher Begründung erhob er Einspruch gegen den Übergriff des Papstes auf das Gebiet der weltlichen Gewalt. Dann, am 8. August i 3 i 3 brach er mit seinem Heere zum Entscheidungskampfe auf. Aber der Todesengel, so o f t in dem tragischen Verlauf der deutschen Geschichte der verhängnisvolle deus ex machina, schwebte bereits über seinem Haupte. Schon seit dem letzten Herbste hatte er an einem Tertian-Fieber gelitten, das ihm wahrscheinlich in den heißen römischen Som120

mertagen angeflogen war. Jetzt traf ihn ein neuer Anfall. Am 24- August, in dem Städtchen Buonconvento südlich von Siena angelangt, erlag er der tückischen Krankheit. Mit dem Tode des Kaisers brach das ganze Gebäude der Pläne, die auf seinen Namen gebaut waren, mit einem Schlage zusammen. Die Gegner jubelten, von schwerem Druck erlöst, und schickten sich an, alles, was sie verloren, doppelt wieder einzubringen. Die Anhänger, tief entmutigt, suchten zu retten, was zu retten war. Die deutschen Gefolgsleute strebten eilends der Heimat zu; die Italiener zogen sich hinter ihre Mauern zurück. Mit dem Kaiser wurde auch sein Kaisertraum begraben. Der Versuch, das mittelalterliche Kaisertum zu erneuern, hatte auf seinen zwei Augen gestanden. Er war endgültig gescheitert und ist nicht wieder aufgenommen worden. Die geschichtliche Stunde war unwiederbringlich vorüber. Weil er für eine Sache gekämpft hat, die im Reiche der Wirklichkeit keinen Raum mehr hat, ist der Luxemburger mit leiser Geringschätzung der Romantiker auf dem Kaiserthrone genannt worden. Gewiß hat es ihm an nüchternem Wirklichkeitssinn gefehlt, an Augenmaß für die Grenzen des Möglichen. Seine einfach-gerade Art war der verschlagenen Staatskunst der Welschen, der Höfe von Avignon, Neapel und Paris nicht gewachsen. Sein Plan allgemeiner Versöhnung verrät eine gewisse Weltfremdheit, und auch im einzelnen ist ihm seine Vertrauensseligkeit o f t genug teuer zu stehen gekommen. In einem aber, in dem Entscheidenden hat sie ihn nicht getrogen: die Zuversicht auf die Macht der Kaiseridee hat sich trotz allem als begründet erwiesen. So gewiß das Kaisertum als politische Funktion seit dem Sturz der Staufer tot und begraben war: als Idee lebte es in den Köpfen der Zeitgenossen fort und übte seine irrationale, doch höchst reale Macht. Wemi Heinrich VII. auf seinem Zuge trotz der völligen 121

Unzulänglichkeit seiner Mittel, trotz aller Fehler und Fehlschläge immer von neuem Auftrieb bekam, immer neue Unterstützung fand, so dankte er das nur der Macht dieser Idee, die sich in seiner Person verkörperte. Wer will sagen, daß er nicht am Ende doch ans Ziel gekommen wäre, wenn sein vorzeitiger Tod nicht allem ein Ende gemacht hätte? Die Gebeine des ritterlichen Herrschers bewahrt das treue Pisa in seinem altehrwürdigen Dom. Auf dem schönen Grabmal, das Meister Tino da Camaino, der Sienese, ihm gemeißelt hat, ergreift uns noch heute an der ruhenden Gestalt des Toten der edle Ausdruck des jugendlichen Angesichts. Wohl wert war er, der tragische Held jenes geschichtlichen Dramas, auch des anderen, unvergänglichen Denkmals, das ihm Dante in seinem Paradiso (XXX, r33 f f ) gesetzt hat, dort, wo Beatrice, auf einen leeren Thronsessel in den Reihen der Seligen weisend, sagt: Auf jenem Hochsitz, drüber Du schon jetzt, Da Du hinaufblickst, siehst die Krone schweben, Thront, eh dies Hochzeitsmahl Dich selber letzt, Des hohen Heinrich Seele, der, im Leben Zum höchsten Amt berufen, aus dem Schlamme, Eh's noch' bereit, Italien will erheben. Die Ihr verzehrt von blinder Habgier Flamme, Ihr gleicht dem Säugling ja in ihrem Bann, Der Hungers stirbt und von sich stößt die Amme! Für Kaiserrecht und

Weltreich

Die S c h r i f t „ d e m o n a r c h i a " Die Todeskunde von Buonconvento klingt wie Antwort des Schicksals auf die himmelstürmenden wartungen, die Dante in seinen Kaiserbriefen von rettenden und rächenden Taten des neuen Caesar 122

die Erden und

Augustus im Prophetentone seinen Landsleuten vorgehalten hatte. Dieser Schicksalsschiaß hat alle jene Prophetien mit einem Schlage zunichte gemacht. Aber wenn an Verwirklichung der auf das Kaisertum gesetzten Hoffnungen in der Gegenwart nicht mehr zu denken war: Dantes Idee von dem Kaisertum als der von Gott eingesetzten Oberherrschaft über die Christenheit wurde durch diese niederdrückenden Erfahrungen nicht erschüttert. Er wäre nicht Dante, wenn seine Überzeugung der Entwickelung der Tatsachen gewichen wäre. Mit immer gleicher Beharrlichkeit, mit gleicher leidenschaftlicher Hingabe, hat er auch nach dem Zusammenbruch seiner Hoffnungen und bis ans Ende seine Idee von dem Rechte des Kaisers und von dem heiligen Weltreich verfochten. In der Abhandlung de monarchia hat er diese seine Idee grundsätzlich entwickelt und dogmatisch begründet. Anlaß und Zeitpunkt der Abfassung dieser merkwürdigen Schrift sind umstritten. Die Annahme, sie sei schon vor oder unmittelbar nach der Verbannung entstanden, wird schon durch die oben erwähnte Stelle des später begonnenen Gonvivio unglaubhaft, die sich zu ihr wie die Skizze zu dem ausgeführten Gemälde verhält. Fraglich bleibt, ob sie als Werbeschrift für die Sache Kaiser Heinrichs bei Gelegenheit seines Römerzuges ververfaßt ist oder nach seinem Tode als Entgegnung auf die damals und noch im Streite mit Ludwig dem Bayern aus dem päpstlichen Lager gegen die Rechtsstellung des Kaisertums gerichteten Angriffe. Die für beide Meinungen ins Feld geführten, durchaus einleuchtenden Gründe gegeneinander abzuwägen, ist hier nicht der Ort. Als kennzeichnend für die Art solcher Streitfragen sei nur erwähnt, daß die Entscheidung wesentlich davon abhängt, ob der in einem Teil der Handschriften enthaltene Hinweis auf einen Vers des erst in Dantes letz123

ten Lebensjahren vollendeten Paradiso zum ursprünglichen Text gehört oder als nachträgliches Einschiebsel, vielleicht aus einer späteren Randbemerkung, hineingeraten ist. Wenn man sich f ü r eine der beiden Zeitsetzungen entscheiden soll, so hat es wohl am meisten Wahrscheinlichkeit f ü r sich, daß der Verfasser der Kaiserbriefe sich nach deren Bekanntwerden gedrungen gefühlt hat, die Auffassung vom Kaisertum, die er da in die Welt hinausgerufen hatte, sachlich zu begründen und damit der Sache des Kaisers ein rechtliches Rüstzeug f ü r den Kampf Tim die öffentliche Meinung zu liefern. Dantes Schrift ist eine Verteidigung des Kaisertums und des heiligen Weltreiches, der nach seiner Überzeugung gottgewollten Weltordnung, gegen die Ansprüche der Einzelstaaten und Gemeinwesen und gegen die Übergriffe des Papsttums auf das Gebiet der weltlichen Macht. Drei Leitsätze werden in den drei Büchern der Monarchia aufgestellt und begründet: erstlich, daß die „Monarchie", die einheitliche Lenkung aller Völker durch einen Herrscher, zum zeitlichen und ewigen Heile der Menschheit vonnöten und dieserhalb durch Gottes Ratschluß verordnet sei; sodann, daß diese Lenkung von ihm in die Hand des römischen Kaisers gelegt sei; endlich, daß dies Weltreich und sein Herrscher unmittelbar von Gott eingesetzt und unabhängig von der Kirche und deren Oberhirten sei. Diese drei Sätze werden nach scholastischer Methode, aus Gründen der Logik und Vernunft, aus der Heiligen Schrift, aus der alten Geschichte und durch Zeugnisse aus den Werken der antiken Philosophen und Dichter erwiesen. Die Erörterung der ersten These geht mit philosophischer Gründlichkeit von der Frage nach dem Endziele alles menschlichen Gemeinwesens aus. Dies Ziel, lautet die Antwort, ist der allgemeine, der Weltfriede, dessen die Menschheit bedarf, um ihr Höchstes und Eigenstes, 124

das, was sie vor allen anderen Lebewesen voraushat: ihr geistiges Teil, die potentia sive virtus intellectiva, zu entwickeln und zu betätigen. Zur Wahrung des allgemeinen Friedens bedarf es eines höchsten Richters. Dieser höchste Richter muß von höchster Gerechtigkeit geleitet sein und darf nur das Beste der ganzen Menschheit wollen. Da er über alles Macht hat, bleibt ihm nichts zu wünschen übrig, und er ist daher frei von aller Habund Machtgier, von der verderblichen eupidigia, die sonst alle menschlichen Verhältnisse trübt. Nur unter einem solchen Weltherrscher können die Menschen in der Eintracht leben, die zu ihrem Heile dient. Nur unter einem Weltherrscher sind sie wahrhaft frei, frei von der Willkür, die in allen einzelstaatlichen Verfassungen, ob sie sich demokratisch, ob aristokratisch, ob autokratisch nennen, die Untertanen knechtet. Diese Einzelstaaten und ihre Regierungen sollen nicht etwa durch den Weltherrscher ausgeschaltet und ersetzt werden. Ausdrücklich verwahrt sich Dante gegen solches Weltbürgertum. Er will jedes Volk nach seiner Eigenart unter eigener Verfassung und nach eigenen Gesetzen leben lassen. Nur was allen gemein ist, soll der oberste Herrscher für alle regeln und die Streitfragen unter den Völkern als oberster Richter schlichten. Dafür, daß eine solche „Monarchie" die von Gott gewollte Weltordnung sei, wird als Zeugnis angeführt, daß Gott für die Erscheinung des Heils in seinem Sohne „die Zeit erfüllt sah", als eben das Weltreich durch Augüstus gegründet war. In dem zweiten Buche wird die Berufung des römischen Volkes zur Weltherrschaft aus seinen Vorzügen vor allen anderen Völkern der Erde und aus der in seinem Werdegang sich kundgebenden göttlichen Erwählung hergeleitet. Seinen Adel erweist die Abstammung von dem gepriesenen Helden Äneas und anderen Heroen, 125

Fürsten und Fürstinnen; seine Eignung, die Uneigennützigkeit seiner Bürger, die alles dem Gemeinwohl opferten, und seine Natur, die es zum Herrschen bestimmt wie andere Völker zum Gehorchen; seine Erwählung durch göttlichen Ratschluß, der Erfolg seiner Taten, von den Heldenstücken und wunderbaren Rettungen aus der sagenhaften Urgeschichte bis zu den glorreichen Siegen im Kampfe mit den Völkern der Erde. Diese wie jene lassen den Finger Gottes erkennen: die einen als gottgewirkte Wunder, die anderen als Gottesurteile, wie sie das Mittelalter in dem Ausgang gerichtlicher Zweikämpfe sah. Bestätigt wird schließlich die Rechtmäßigkeit der römischen Weltherrschaft durch die göttliche Fügung, daß Christus unter dem Szepter des Kaisers Augustus zu Bethlehem geboren und durch den römischen Landpfleger zum Tode verurteilt worden ist; denn nur als formal rechtlich verhängte Strafe konnte nach scholastischer Lehre sein Tod die Sünde der Menschheit sühnen. Das dritte Buch bringt dann den Nachweis, daß die Weltherrschaft des römischen Kaisers ihr Recht unmittelbar von Gott selbst herleitet und nicht von der Kirche abhängt. Es beginnt mit der Entkräftung der Gründe, auf die das Papsttum seinen Anspruch auf weltliche Oberhoheit gestützt hatte. Alle jene seltsamen Deutungen von Bibelstellen, geschichtlichen und ungeschichtlichen Tatsachen werden als willkürlich und unhaltbar abgetan: die Lehre, daß der Kaiser seine Macht von dem Papste erhalte wie der Mond, das kleine Licht der Schöpfung, von dem großen, der Sonne, seine Leuchtkraft; die Berufung auf Levi und Juda, auf Samuel und Saul, auf die den Aposteln übertragene Gewalt zu lösen und zu binden; vor allen der in der Bulle unam sanctam aufgestellte Lehrsatz von den zwei Schwertern, dem geistlichen und dem weltlichen, die beide dem 126

Nachfolger Petri zukämen, als welcher sie Jesu vor seiner Gefangennahme in Gethsemane vorgewiesen habe. Mit einer bei dem Jünger der Scholastik überraschenden, beinahe modern anmutenden Nüchternheit weist Dante nach, daß Petri Antwort, die lediglich die Frage Jesu nach dem Besitz von Waffen bejahte, nach dem Zusammenhange keinerlei symbolische Nebenbedeutung haben könne. Gleichermaßen entkleidet er die „Constantinische Schenkung", die mit der Verlegung des Reichssitzes nach Byzanz als Abtretung der Herrschaft über das Abendland an den Papst gedeutet wurde, und den Ruf Papst Hadrians I. an Karl den Großen — eigentlich ist wohl dessen Krönung durch Leo III. gemeint, in der man eine Übertragung der Kaisermacht durch die Kirche sehen wollte — ihrer angemaßten Bedeutung. Er wendet ein, daß Rechtsanmaßung kein Recht schaffe; mit gleicher Berechtigung könne man, wie er schlagend bemerkt, aus der Entthronung und Einsetzung von Päpsten durch Otto den Großen das Gegenteil, die Abhängigkeit des Papsttums von der kaiserlichen Gewalt folgern. Die Schenkung Constantins — an deren Tatsächlichkeit er so wenig zweifelt wie das ganze Mittelalter — erklärt er für nichtig: weder habe der Kaiser das Recht gehabt, einen Teil des seinem Wesen nach unteilbaren Reiches abzutreten, noch die Kirche, die nach dem Worte ihres Stifters an seine Apostel nicht Gold noch Silber besitzen solle, das Recht, solchen Besitz anzutreten. Sie habe überhaupt keinerlei Recht auf weltliche Macht: ihr Reich sei so wenig wie das ihres Herrn „von dieser Welt". Im letzten Kapitel entwickelt Dante, im Gegensatz zu jenen von päpstlicher Seite aufgestellten Theorien, seine eigene Idee von dem Verhältnis geistlicher und weltlicher Gewalt und legt damit sozusagen ein politisches Glaubensbekenntnis ab. 127

Dem Menschen, wie er aus Leib und Seele zusammengesetzt ist, wurde von Gott ein zwiefaches Ziel gesteckt: die irdische Glückseligkeit, die in Übung der Tugend, und die ewige Seligkeit, die im Anschauen. Gottes besteht. Zu dem ersten, dem zeitlichen Ziele führt, durch Erziehung zu den moralischen und intellektuellen Tugenden, die Philosophie; zu den ewigen die göttliche Offenbarung kraft der drei „theologischen" Tugenden: Glaube, Liebe, Hoffnung. Auf jedem dieser Wege braucht die Menschheit einen Führer. Zum ewigen Heile soll sie der Papst leiten, der oberste Seelenhirt; zum irdischen der römische Kaiser, der Weltherrscher, der die von ihren Lüsten erregte, mißleitete und geknechtete Welt in Frieden und Freiheit zu erhalten hat. In diesem seinem Bereiche ist der Kaiser nur Gott allein unterstellt und verantwortlich, wie er von ihm unmittelbar eingesetzt ist, — seine Wähler, die Kurfürsten, sind recht besehen nur Künder des göttlichen Willens, heißt es zum Schluß. Anfang und Ende dieses letzten Buches sind bezeichnend f ü r Dantes Haltung zu seiner Kirche. Im Eingange erklärt er sich bewußt zu sein, daß sein Urteil über das Verhältnis von Kaisertum und Papsttum bei manchen Lesern Unwillen erregen werde. Von diesen Gegnern scheidet er, als keiner Beachtung wert, von vornherein diejenigen aus, die, vor hemmungsloser Machtgier blind am Geiste, Söhne nicht der Kirche, wie sie sich nennen, sondern des Teufels, aus Widerwillen gegen den Namen des geweihten Herrschers die Wahrheit leugnen. Ebensowenig will er sich an die „Dekretalisten" wenden, die, ohne eine Ahnung von Theologie oder Philosophie, lediglich auf die Dekretalen des Kirchenrechtes versessen und auf die kirchliche Überlieferung gestützt, das Recht des Kaisertums anfechten. Auch mit denen will er nicht rechten, die sich „im Balg von Rabenfedern f ü r weiße iä8

Schäflein in der Herde des Herrn" ausgeben, die Söhne der Bosheit, die, um ungestraft ihre Untaten begehen zu können, die Mutter zu schänden, die Brüder auszutreiben, keinen Richter über sich wollen. Mit allen diesen Leugnern des Kaiserrechts — in deren Kennzeichnung Hinweise auf Clemens V., der die Dekretaliensammlung des corpus juris canonici um einen eigenen Abschnitt, die „Clementinen" vermehrt hat, auf die Partei der „Schwarzen" in Florenz, die Anjou und die übrigen Feinde Kaiser Heinrichs deutlich erkennbar sind — lohnt sich dem Verfasser keine ernsthafte Auseinandersetzung. Nur an diejenigen wendet er sich, die allein von dem Eifer f ü r die Mutter Kirche getrieben sind und die Wahrheit nicht kennen. Diesen Gegnern aber will er jetzt, wenn er zum Schutze der Wahrheit auf den Kampfplatz tritt, mit aller Ehrerbietung begegnen,die ein guter Sohn dem Vater und der Mutter, ein frommer Christ dem Heiland, der Kirche, dem Hirten und allen Bekennern des Christenglaubens schuldig ist. Diesem Vorsatz entsprechend, schließt er die Ausfuhrungen, in denen die päpstlichen Ansprüche auf weltliche Gewalt so entschieden zurückgewiesen werden, mit einer ehrfurchtsvollen Verbeugung vor dem Heiligen Stuhle. Wie die himmlische Gerechtigkeit, sagt er, der irdischen übergeordnet sei, so schließe die Selbstherrlichkeit des Kaisers eine gewisse Unterordnung unter den Oberhirten der Kirche nicht aus. „Darum soll Caesar dem Petrus diejenige Ehrerbietung erweisen, die der erstgeborene Sohn dem Vater schuldet, um, von der väterlichen Huld erleuchtet, um so tugendreicher dem Erdkreise vorleuchten zu können, dem er von dem Lenker alles Ewigen und Zeitlichen allein zum Leiter gesetzt ist." Mit diesem Zugeständnis wird nichts von dem zurückgenommen, was zuvor über die Unabhängigkeit des 9 Falkenhaaaen, Dante

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Kaisers und gegen die Ansprüche der Kurie auf Überordnung in weltlichen Dingen gesagt worden war. Dante betont hier nur, was überall, wo er sich mit Fragen der Staatlichkeit auseinandersetzt, als Grundzug seiner Staatsauffassung zu Tage tritt: daß der Staat nirgends letztes Ziel in Gottes Weltplan ist, sondern einem höheren Zwecke dient. Die irdische Glückseligkeit, die, in der Übung der Tugend bestehend, auf seinem Rechtsboden der Menschheit bereitet werden soll, ist nur Vorstufe zu dem ewigen Heile. Daraus folgt ohne weiteres der Vorrang der geistlichen vor den weltlichen Dingen; aber keineswegs ein Anspruch des geistlichen Hirten auf Lenkung der weltlichen Angelegenheiten. Die ehrerbietige Verwahrung am Schlüsse hat denn auch so wenig wie die Ergebenheitsbezeugung im Eingange dem kühnen Kämpfer gegen die Lehre von der weltlichen Oberhoheit des Papsttums für seinen Angriff auf diesen von Bonifaz VIII. in der Bulle unam sanctam verkündeten, von Clemens V. durch die Einfügung seiner Bulle pastoralis cura in die Dekretalen zum Bestandteil des kanonischen Rechtes erhobenen Grundsatz Verzeihung erwirkt. Aus dem päpstlichen Lager kam eine scharfe Entgegnung: die refutio des Fra Guido Vernani. Etwa ein Jahrzehnt nach Dantes Tode ließ der Kardinallegat Bertrand de Castenet das Buch verbrennen und betrieb sogar ein Verfahren wegen Ketzerei vor dem geistlichen Gericht. Einflußreichen Verehrern gelang es, die Gefahr der Schändung abzuwenden, die im Falle der Verurteilung noch der Asche des Verstorbenen drohte. Immerhin ist die Monarchia später, während des Tridentiner Konzils, auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt worden, von dem sie erst unter Leo X. wieder abgesetzt wurde. Auch auf kaiserlicher Seite aber hat Dantes Kampfruf Widerhall gefunden. Eine ganze Reihe von Schrifi3o

ten gleicher Richtung ist ihm gefolgt, darunter der in den politischen Erörterungen jener Zeit vielgenannte defensor pacis des Marsilius von Padua. In einigen dieser Schriften wird die Monarchia angezogen, in anderen finden sich Anklänge, die mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit auf ihren Einfluß schließen lassen. Höchst bemerkenswert ist es, daß mehr als zwei Jahrhunderte nach Abfassung der Monarchia, als das auf ganz andere Grundlagen gestellte Weltreich Karls V. im Bau begriffen war, Dantes Gedankengänge sich, wie K. Brandi nachweist, in den Denkschriften des kaiserlichen Kanzlers Gattinari wiederfinden. Dieser bedeutende Staatsmann hat dann auch die erste Drucklegung der Monarchia angeregt. In einem Briefe an Erasmus von Rotterdam spricht er den Wunsch aus, daß die Schrift, die bisher von den Gegnern unterdrückt gewesen, an die Öffentlichkeit gelange, „weil sie der Sache des Kaisers diene." Angesichts dieser Zeugnisse, die eine unmittelbare und weittragende Bedeutung von Dantes Staatsschrift f ü r die praktische Politik erweisen, wirkt es nicht gerade überzeugend, wenn sie, wie es nicht selten geschehen, als müßige Phantasie eines weltfremden Poeten hingestellt wird. „Die unhaltbarste Wahnvorstellung, die je ein Dichterhirn ausbrütete", schilt sie H. St. Chamberlain, dessen Angaben und Urteile über Dante freilich auch sonst mit Vorsicht aufzunehmen sind. Treffender ist das Wort, daß Dantes Monarchia „mehr Epitaph als Prophetie des Kaisertums" sei. Als er seine Idee von der gottgewollten Weltordnung verkündete, war die geschichtliche Stunde des mittelalterlichen Imperiums unleugbar abgelaufen. Es drängt sich sogar die Frage auf, ob jenes heilige Weltreich mit seinem ewigen Frieden und seinem allgerechten Herrscher, ob die schiedlich gemeinsame Herrschaft der geistlichen und der I3I

Weltlichen Gewalt über Körper und Seelen der Menschheit zu irgendeiner Zeit so, wie sie dort gedacht, verwirklicht worden ist oder jemals verwirklicht werden kann. Dantes Monarchia ist in gewissem Sinne eine Utopie. Sie will kein politisches Rezept, kein Leitfaden für den Staatsmann ihrer eigenen oder irgendeiner anderen, Zeit sein. Sie stellt ein Idealbild auf. Dem Ideal aber, das liegt in seinem Begriff, ist es in dieser Welt der Unzulänglichkeiten nicht beschieden, ohne Rest verwirklicht zu werden. Dafür bleibt es, unberührt vom Wandel der Zeiten, unverrückbares Ziel für das Streben der Menschheit. Noch heute steht Dantes gottgewollte Weltund Staatsordnung vor unsren Augen als ein Ziel, aufs innigste zu wünschen. Das Schlagwort von der freien Kirche im freien Staate will nichts anderes als die schiedliche Trennung von weltlicher und geistlicher Autorität, wie sie in der Monarchia verlangt wird. Die Forderung einheitlicher Leitung der Völker innerhalb des Imperiums, hat sie nicht das gleiche Ziel wie der Wunsch nach Zusammenhalt des Abendlandes, der wahrlich in unseren Tagen die brennendste aller politischen Fragen ist? Wenn die Versuche, sie zu lösen, von der Heiligen Allianz bis zu dem Völkerbunde und der PanEuropa-Bewegung durch Fehlgreifen in der Wahl der Mittel, durch eigensüchtige Verfälschung des Grundgedankens, durch Unzulänglichkeit der treibenden Kräfte fehlgeschlagen sind: das Ziel bleibt erstrebenswert, es wird und muß weiter verfolgt werden. Davon, ob die Völker und ihre Lenker, durch Leiden klug geworden, dies Ziel, wie es schon Dante gewollt hat, mit weitem Blick, reinen Sinnes und mit starkem Willen unbeirrt verfolgen, davon nicht zuletzt wird es abhängen, ob unser Erdteil die Stellung wird behaupten können, die er so lange Jahrhunderte und wahrlich nicht ohne Gewinn für die Menschheit inne gehabt hat.

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Neue W a n d e r s c h a f t und neuer Kampf

Die Romfahrt Kaiser Heinrichs, der Italien den Frieden zu bringen und die Parteien zu versöhnen verheißen hatte, war tatsächlich der Weckruf zu neuen erbitterten Kämpfen geworden. Im ganzen Lande flammte der Streit der Parteien mit neuer Heftigkeit auf und wurde zum allgemeinen Brande. Alle Gegner des Kaisertums, die Guelfen, die Parteigänger des Papstes, der Franzosen und der Anjous, hatten durch den Tod des Kaisers zunächst gewaltigen Auftrieb erhalten. Ihre stärkste Stütze war König Robert von Neapel. Er hatte gegen die über ihn verhängte Reichsacht Einspruch erhoben und, federgewandt, halber Gelehrter, der er war, in einer Denkschrift an den Papst das Recht des Kaisers grundsätzlich bestritten. Der Papst, der, krank und willensschwach, mehr und mehr dem französischen Einflüsse unterlag,ging auf seine Wünsche ein. Indem er während des Interregnums, also solange kein von ihm bestätigter Kaiser auf dem Throne saß, die kaiserlichen Rechte über Italien f ü r sich in Anspruch nahm, ernannte er den Anjou später sogar zum Reichsvikar für Italien. Die guelfische Partei des ganzen Landes sah in ihm ihr Haupt und ihren Hort. Unter seiner Führung rüstete sie zu einem Schlage, der den Gegnern den Garaus machen sollte. Die Ghibellinen waren durch den Tod des Kaisers schwer getroffen und aus dem Angriff in die Verteidigung zurückgedrängt. Aber sie machten sich zur Gegenwehr bereit. In Toscana war ihr Vorkämpfer der kriegerprobte Söldnerführer Uguccione della Faggiola, den wir bald nach Dantes Verbannung in Arezzo eine so zweideutige Rolle spielen sahen. Jetzt hatte er sich zum Herrn von Pisa gemacht und unterwarf alsbald auch das bisher guelfische Lucca, das nun die Farben wechselte. i33

Die Ghibellinen Oberitaliens hatten an den Scaligern von Verona einen sicheren und starken Halt. Dort war im Jahre i3i2, nach dem Tode seines Bruders Alboin, der ihn schon ein Jahr zuvor als Mitregenten angenommen hatte, der jugendliche Cangrande della Scala zur Herrschaft gekommen. Noch von Kaiser Heinrich zum Reichsvikar für Italien ernannt, hatte der tatkräftige, kriegstüchtige junge Herrscher sich von Anfang an der kaiserlichen Sache mit Nachdruck angenommen. Jetzt führte ihn die gemeinsame Gefahr mit Uguccione zusammen. Ein Schutz- und Trutzbündnis kam zwischen beiden zu Stande. In der verworrenen Lage, die in Deutschland durch das anderthalbjährige Interregnum nach Kaiser Heinrichs Tode und dann durch die zwiespältige Kaiserwahl, durch den Thronstreit zwischen Ludwig dem Bayern und Friedrich dem Schönen entstanden war, konnten die dortigen Gewalten keinen wirksamen Einfluß auf den Gang der Dinge in Italien üben. Aber auch der päpstliche Einfluß war während der zweijährigen Sedisvakanz nach dem Tode des am 20. April i3i/t verstorbenen Clemens V. so gut wie ausgeschaltet, so daß die Parteien Italiens im wesentlichen auf sich selbst angewiesen waren. Im Jahre I3I5 kamen die Feindseligkeiten zum Austrag. Durch das Anwachsen der Macht Ugucciones beunruhigt, der bereits gegen Pistoja und das benachbarte Kastell Montecatini zum Angriff vorging, hatten die Florentiner König Robert zu Hilfe gerufen. Seine Truppen rückten heran. Aber sie erlitten bei dem Versuch, Montecatini zu entsetzen, trotz zahlenmäßig starker Überlegenheit durch die überlegene Kriegstüchtigkeit Ugucciones eine schwere Niederlage. Als dann wenige Tage darauf Cangrande mit Hilfstruppen zu seiner Verstärkung; erschien, war der Feldzug zu Gunsten der Ghibellinen entschieden. Uguccione della Faggiola alleri34

dings, gleichgültig gegen die allgemeine Sache und nur auf Festigung seiner eigenen Machtstellung bedacht, setzte den Kampf gegen Florenz nicht fort. Schon ein halbes Jahr nach seinem Siege wurde er, der sich durch seine Gewaltherrschaft verhaßt gemacht hatte, bei einem Aufstande gestürzt und vertrieben. In der Lombardei aber gewannen die Ghibellinen mehr und mehr die Oberhand. In Mailand hatten die ghibellinischen Visconti die Anhänger Roberts von Neapel überwunden. Cangrande vollends, der schon im Jahre I3I4 das guelfische Padua bezwungen hatte, wurde nach und nach Herr über das spätere Venetien und die östliche Lombardei. i 3 i 7 wurde er von Friedrich dem Schönen als Reichsvikar bestätigt und behielt das Amt, obwohl der Papst unter Androhung des Bannes die Niederlegung gebot. Ein Jahr später machten ihn die Ghibellinen der Lombardei zu ihrem Generalkapitän. Der Hof zu Verona, das alte Scaligerkastell an der heutigen Piazza dei Signori, wurde Zuflucht und Sammelpunkt für die Anhänger des Kaisers aus allen Gregenden des Landes. Keinen zweiten wohl in ganz Italien hat das tragische Ende Kaiser Heinrichs schwerer getroffen als Dante. Der Kaiser war seine ganze, seine letzte Hoffnung gewesen. Alles hatte er auf diese eine Karte gesetzt. Wenn er vorher damit gerechnet hatte, sich durch wissenschaftliche Leistungen ehrenvolle Rückberufung zu verdienen, so war daran nicht mehr zu denken, seit er in dem Briefe an die „höchst frevelhaften Bürger von Florenz" der herrschenden Partei in schärfster Form den Fehdehandschuh hingeworfen hatte. Schon im September I 3 I I war er daraufhin von einer Amnestie, die den übrigen Verbannten — wohl, um sie aus dem Lager des Kaisers herüberzuziehen — gewährt wurde, ausdrücklich ausgeschlossen worden. In den Jahren nach dem Tode des Kaisers zwar wurde das Angebot der Ami35

nestie mehrfach erneuert, jetzt hätte auch Dante die Möglichkeit gehabt, sich durch Annahme und Erfüllung der gestellten Bedingungen den Rückweg in die Heimat zu eröffnen. Aber die Bedingungen enthielten eine arge Demütigung für den, der sich ihnen unterwarf. Wer des Straferlasses teilhaftig werden wollte, mußte außer Entrichtung einer Geldbuße im Büßerkleide eine Wallfahrt nach der Taufkapelle des Stadtpatrons San Giovanni Battista tun. Nicht wenige der Verbannten ließen sich dazu als zu einer bloßen Förmlichkeit herbei. Auch Dante erhielt von befreundeter Seite aus Florenz den Rat, sieh ihr zu fügen. In der Antwort aber, die er einem geistlichen Freunde erteilt — lange Zeit angefochten, wird sie heute fast allgemein als echt anerkannt —, weist er es mit Entrüstung von sich, durch solche Demütigung die Heimkehr zu erkaufen. „Ist das", so schreibt er, „die hohe Gnade, durch die Dante Alighieri nach fast fünfzehn Jahren des Exils in sein Vaterland zurückgerufen wird? Ist das der Lohn für seine offenkundige, Jedermann bekannte Unschuld, für den Schweiß und die Unausgesetzte Mühe seiner Studien? Fern sei einem Jünger der Philosophie eine solche Niedrigkeit der Gesinnung, daß er sich, gleich Übeltätern, gewissermaßen selber schuldig bekenne! Fern sei es von dem Manne, der Gerechtigkeit predigt, daß er, der Unrecht erlitten, denen, die es ihm angetan, gleich Wohltätern dafür noch Geld zahlet Das ist nicht der Weg, ins Vaterland zurückzukehren... Auf andre Art, die seinem Ruf und seiner Ehre nicht abträglich, werde er eilenden Schrittes heimkehren. Wenn aber nicht auf ehrenvolle Weise, wolle er Florenz überhaupt nicht wiedersehen. Auch anderwärts würden ihm Sonne und Sterne leuchten; auch ohne sich seinen feindlichen Mitbürgern zu unterwerfen. werde er der Wahrheit nachsinnen können, und nicht einmal am Brote werde es ihm fehlen." i36

Die letzte jener Amnestieverordnungen enthielt einen Gestellungsbefehl. Da Dante ihm keine Folge leistete, wurde das Urteil gegen ihn nochmals erneuert und auch auf seine Söhne ausgedehnt. Es waren wohl nicht die entwürdigenden Bedingungen allein, die Dante abhielten, die Gelegenheit zur Heimkehr zu ergreifen. Solange die feindliche Partei in Florenz am Ruder war, gab es dort keinen Platz für ihn. Mit ihr wollte und konnte er keinen Frieden machen. In dem Streit um Staat und Kirche, in dem er sich eingesetzt hatte und der von beiden Seiten mit wachsender Schärfe fortgeführt wurde, war er nicht willens, den unbeteiligten Zuschauer zu spielen. Er wollte sich auch nicht bei der theoretischen Verteidigung seiner Auffassung bescheiden, wie sie in der Schrift de monarchia geführt wird. Ein Ereignis von weittragender Bedeutung hatte ihn von neuem auf den Kampfplatz gerufen. Als Clemens V. im Frühjahr I3I4 verstorben war, wurde um die Wahl seines Nachfolgers lange und heftig gestritten. Es war in der Tat eine Schicksalsfrage für die römische Kirche, ob der Stuhl Petri von einem Manne besetzt würde, der sie, fähig und gewillt, dem französischen Einflüsse zu widerstehen, aus der babylonischen Gefangenschaft zü Avignon nach Rom, dem angestammten Sitze ihres Oberhauptes zurückführen, sie von den eingerissenen Mißbräuchen reinigen und aus der Verstrickung in die Händel dieser Welt lösen würde. Für eine solche Wahl hat sich Dante in einem offenen Briefe an die Italiener unter den im Konklave zu Carpentras in der Provence versammelten Kardinälen eingesetzt, indem er ihnen ihre Verantwortung für die Zukunft der Kirche mit feierlicher Beschwörung ins Gewissen schiebt. Mit den Worten des Propheten Jeremias über den Fall der Stadt Jerusalem, die Verschleppung des Volkes I37

Israel und seines Heiligtums nach Babylon beklagt er den Raub, der an Rom, der Hauptstadt der Welt, durch Entführung des von Gott selbst dort aufgerichteten Thrones seiner Kirche verübt sei und der die Christenheit zum Gespött bei Juden und Sarazenen mache. Dieser schweren Schuld klagt er die Leiter der Kirche an. Er beschuldigt sie, den Wagen der Kirche, nicht anders als Phaeton den Sonnenwagen, zum Entgleisen, zugleich die Herde der Gläubigen an den Rand des Abgrundes gebracht zu haben. Den Wechslern im Tempel des Herrn sie vergleichend, droht er ihnen dafür die Strafe des Himmels an. Denen, die ihm etwa einwenden wollten, er, „der geringsten eines von den Schäflein auf der Weide Jesu Christi", sei zu solcher Rüge nicht berufen, hält er das Schriftwort entgegen: „Durch Gottes Gnade bin ich, der ich bin" und das andere: „Der Eifer für das Haus des Herrn verzehrt mich". Im Munde der Unmündigen sei die gottgefällige Wahrheit gewesen, und der Blindgeborene habe sie bekannt, als die Pharisäer sie verschwiegen und böswillig verdreht hätten. Nicht wie Usah lege er die Hand an die Gotteslade, sondern an die Ochsen, die sie störrisch vom Wege abseits ziehen. Sie selbst, die habgierigen Prälaten, die statt der Kirchenväter nur das Kirchenrecht studieren, die nicht Gott suchen sondern nur Zehnten und Pfründen, sie hätten ihn gezwungen, seine Stimme zu erheben als einer für alle, die insgesamt das gleiche meinen, ahnen, raunen oder murren. In dieser Not wendet er sich an diejenigen unter den zur Wahl versammelten Kardinälen, die in Italien geboren sind. Indem er die vornehmsten unter ihnen mit Namen anredet, mahnt er sie an die Liebe zu ihrer Heimat, an die Ehrfurcht vor der heiligen Roma und beschwört sie, in sich zu gehen und „in dem eben begonnenen Kampfe mannhaft zu streiten, auf daß wieder das Gloria in exoelsis zu hören sei und die Ani38

maßung der Gasoogner den Nachgeborenen für allé Zukunft ein abschreckendes Beispiel werde". Die Kühnheit, mit der Dante, nur auf »eine Pflicht als Christ sich berufend, den höchsten kirchlichen Würdenträgern ins Gewissen redet, zeugt mit der Wucht der Anklage, der Eindringlichkeit der Beschwörung dafür, wie schwer ihn die Not seiner Kirche bedrückt hat und wie sehr ihm deren Rettung am Herzen lag. Welchen Eindruck seine Mahnung gemacht hat, läßt sich nur vermuten. Die Mehrzahl der Angerufenen wird wohl dem dreisten Laien, der sich ein so hartes Urteil über die Lenkung des Kirchenschiffes anmaßte, empört oder achselzuckend den Rücken gekehrt haben. Erfolg war jedenfalls dieser Beschwörung so wenig beschieden, wie allen früheren Anliegen. Dank der Überzahl, die ihnen Clemens V. durch gehäufte Verleihungen des roten Hutes im Kardinalskollegium verschafft hatte, setzten die „Gasoogner", die französischen Kardinäle, ihren Willen durch. Als im Sommer I3I6 nach mehr als zwei Jahren erbitterten Streites endlich eine Wahl zu Stande kam, fiel sie auf den Erzbischof Joachim d' Euse aus Cahors, der als Johann XXII. den päpstlichen Stuhl bestieg, den Sitz in Avignon beibehielt und die kaiserfeindliche Politik in verschärfter Tonart fortführte, die Kirche immer tiefer in die Streitigkeiten der weltlichen Mächte verwickelnd. So endete Dantes letzter Versuch, zu Gunsten seiner Idee von der gottgewollten Weltordnung in den Kampf der staatlichen und kirchlichen Mächte einzugreifen. Die Aussicht auf Verwirklichung jener Idee, für die er sich mit dem ganzen Feuer seiner leidenschaftlichen Seele eingesetzt hatte, schien jetzt völlig geschwunden. Das Kirchenregiment blieb auf absehbare Zeit in der „babylonischen Gefangenschaft", unter dem Druck der Krone Frankreichs; die Kaisermacht war nach längerem Interregnum durch den Thronstreit zwischen Ludwig dem I39

Bayern und Friedrich dem Schönen von Österreich gelähmt; der Papst in scharfem Gegensatz zu ihr, bemüht, ihr die Gewalt, zumal über Italien, zu entwinden — die Gesamtlage von dem Ideal der Monarchia weiter entfernt denn je. Dante selbst scheint um diese Zeit zunächst wieder unstet von Ort zu Ort getrieben worden zu sein. Für den Herold des gestürzten Kaisertums werden die „Stiegen der Fremde" noch steiler gewesen sein als zuvor für den verbannten Gegner der schwarzen Guelfen. Da er von den Feinden der Kaisermacht keine Schonung zu erwarten hatte, war er genötigt, im ghibellinischen Lager Zuflucht zu nehmen. Aber es ist ein Mißverständnis, wenn man ihn zum Ghibellinen im Parteisinne hat stempeln wollen, als ob er von der guelfischen Seite, auf der sein Geschlecht gestanden, zur Gegenpartei hinübergewechselt sei. Dante ist, wie er selber ausdrücklich bekundet, keiner von beiden Parteien hörig gewesen. Fr hat bis ans Ende an seinem Entschlüsse festgehalten, „Partei für sich allein zu bilden". Der entschlossene und überzeugte Kämpfer für die Idee des Kaisertums fühlte sich mitnichten als Gesinnungsgenosse der ghibellinischen Parteigänger, von denen er allzuoft erfahren hatte, daß sie unter dem Banner des Kaiseradlers ihre eigensüchtigen Zwecke verfochten. Wir erinnern uns der Verse, in denen er sie deshalb ebenso unnachsichtig wie die Guelfen, die offenen Feinde des Kaisertums, als Schädlinge verwirft, die „vom Pfade des Rechtes weichen". Die Verse klingen fast wie ein Hieb auf den bedenkenlosen Kondottiere Uguccione della Faggiola, der, ohne Rücksicht auf die gemeinsame Sache, seinen Sieg über die Kaiserfeinde ungenützt ließ. Der Gedanke liegt nahe, daß Dante nach diesem Siege wieder einmal Hoffnungen auf Heimkehr nach dem Sturz des feindlichen Stadtregiments in Florenz geschöpft hat eine Hoffnung, die dann abermals enttäuscht worden ist. i4o

Es scheint, daß er aus diesem Grunde damals selber zu ihm nach Lucca gekommen ist. Daß er sich eine Zeitlang dort aufgehalten hat, wissen wir aus seinem eigenen Munde. Im Purgatorio (XXIV, 43 f f ) deutet eine dunkle Rede auf den Besuch in dieser Stadt. Einer ihrer Bürger, der Reimer Bonagiunta, der unter den Schlemmern Buße tut, verkündet ihm, ein Weib, jenerzeit noch unvermählt, werde ihm seine Heimatstadt noch teuer machen, wieviel man auch an ihr — deren Bürger im XXI. Gesang des Inferno allesamt f ü r bestechlich erklärt werden — auszusetzen habe. Näheres über diese Trösterin hat sich nicht ermitteln lassen, wenngleich eine Trägerin des Namens Centucca, den der Büßer murmelt, in Lucca sich um jene Zeit nachweisen läßt. An ein Liebesverhältnis wird man jedenfalls nicht denken dürfen. Der Ton der Weissagung, der Zusammenhang und die Umgebung lassen eher an die Fürsorge eines ihn kindlich verehrenden Mädchens denken. Auch über Zeit und Dauer des Aufenthaltes in Lucca wissen wir nichts Genaues. Wahrscheinlich ist Dante nach Abfassung der Kaiserbriefe noch längere Zeit in Casentin geblieben. Dort hat ihn vielleicht noch die Kunde von Kaiser Heinrichs Tode erreicht. Wann er die dortige Zuflucht verlassen, ob er sich von dort unmittelbar nach Lucca begeben, wie lange er dort verweilt hat, ist ungewiß. Mit Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, daß er, als mit Ugucciones Sturz die Guelfen hier wieder ans Ruder kamen, im Frühling des Jahres I3I6, die Stadt ebenfalls verlassen hat, um sich nach Verona zu wenden. Dort findet seine Spur sich wieder. Am Hofe der Scaliger hat er endlich, bis zur Übersiedlung nach Ravenna in seinen letzten Lebensjahren, die lange entbehrte Rast gefunden. Der jetzige Gebieter Cangrande della Scala war ihm als neunjähriger Knabe schon bei seinem ersten Besuche in Verona begegnet. Ihm spendet er in i4I

der göttlichen Komödie hohes Lob. In der schon mehrfach angezogenen Weissagung des Ahnherrn Cacciaguida im Himmel des Mars (Par. XVI, 76 f f ) verkündet dieser, nachdem er ihm die freundliche Aufnahme bei den Scaligern zu Verona verheißen: Dort findest Du ihn, den von Geburt die Sphären Durchglüht mit dieses Sternes hoher Macht, Daß bald sein Ruhm erklingt in Lied und Mären. Kaum wird im Land des Knaben schon gedacht, Um dessen zarte Jugend ihre Runden Neun Jahr lang diese Kreise erst gemacht. Doch eh so falsch den Basken noch erfunden Der hohe Heinrich, blinkt aus ihm der Schein Der Tugend schon, die Gold nicht schiert noch Wunden. Und kundbar wird sodann landaus, landein Sein Edelsinn: nicht können, die ihn hassen, Die Feinde stumm zu seinem Lobe sein. Auf seine Großmut magst Du Dich verlassen. Der schafft noch Wandeil Fürst und Bettelmann Wird seine Macht die Lose tauschen lassen. Das ist eine gerechte Würdigung des tapferen und umsichtigen Führers aller Kaisertreuen jener Zeit. Es ist zugleich der Dank, den ein Dichter seinem hochherzigen Gastfreunde und Beschützer abstattet. Aber nicht allein Schutz und Obdach hat Dante bei ihm gefunden. Boccaccio schreibt, der Dichter der Gommedia habe die Gewohnheit gehabt, dem Herrn von Verona jedesmal, wenn ein neuer Abschnitt des großen Gedichts zur Vollendung gereift war, die erste Abschrift zu senden. Tatsächlich ist ein Brief auf uns gekommen — dessen Echtheit, in der Zeit übertriebener Zweifelsucht ebenfalls angefochten, kaum zu bezweifeln ist — , in dem „Dante Alighieri, Florentiner von Herkunft, nicht von Sinnesart, . . . dem großmächtigen, allezeit siegreichen Herrn Cangrande de la Seala in tiefer Ergebenheit den erhabensten Gesang seiner Gommedia, der mit dem Titel vom Paradiese geziert ist, gleichwie in einer Widmung 14a

ihm zueignend, zuschreibt, darbietet und anempfiehlt". Nach langer Überlegung, schreibt er, habe er in diesem Werke das würdigste Geschenk gefunden, mit dem er sich für die Wohltaten und — wenn der Niedere dem Hochgestellten gegenüber sich dessen rühmen dürfe — für die Freundschaft, die ihm erwiesen, dankbar bezeigen könne. An diese Widmung schließt sich dann eine Art von Kommentar: eine Darlegung des Polysensus, des, wie wir sahen, schon für die Kanzonen des Convivio in Anspruch genommenen mehrfachen Sinnes seiner Dichtung. Eingangs verheißt er, sowohl den buchstäblichen wie den allegorischen Sinn nicht nur des Paradiso sondern auch der beiden anderen Teile, des Inferno und des Purgatorio auszulegen. Ausführlich aber, in subtilen Divisionen nach scholastischer Methode, behandelt er nur den „Prolog" des Paradiso, die Verse i bis 56 des ersten Gesanges, in denen der Vorwurf dieses letzten Teiles, der Aufflug zum höchsten der Himmel, und die „Evocatio", die Anrufung Apollos und der Musen enthalten ist. Von dem Paradiso als solchem und von dem ganzen Gedichte gibt er nur in kurzen Worten den buchstäblichen und den allegorischen Sinn an — bei der Deutung der göttlichen Komödie wird auf diese authentische Interpretation zurückzukommen sein — und bittet, indem er sich mit seiner bedrängten Lage entschuldigt, alles Übrige einer besseren Zukunft vorbehalten zu dürfen. Inhalt und Ton dieses Briefes, der, selbst wenn nicht Wort für Wort aus Dantes Feder geflossen sein sollte, sicherlich auf eigene Gedanken und Äußerungen des Dichters zurückgeht, lassen ein nahes persönliches Verhältnis zu dem Empfänger erkennen. Nicht ohne Grund kann der Schreiber von Freundschaft gesprochen haben. Augenscheinlich war der kriegerische Gebieter Veronas zugleich ein Freund der Musen, der Verständnis für die i43

Größe seines Schützlings als Dichter hatte. Wenn man vor dem steinernen Bilde Cangrandes über dem Portal der kleinen Kirche Santa Maria antica steht, so ist es schwer, sich vorzustellen, daß dieser eisengepanzerte Ritter mit dem mächtigen Stecbhelm im Nacken und dem breiten Lachen auf den Zügen ein feinsinniger Verehrer der Dichtkunst gewesen sei. Nach allem aber, was wir von ihm wissen, dürfen wir in ihm einen Vorläufer jener Renaissanoefürsten sehen, an deren Hofe Kunst, Dichtung und Wissenschaft liebevolle Pflege gefunden haben. An Dante jedenfalls hat er sich als wahrer Mäzen erwiesen. Bei ihm in Verona hat der heimatlose Dichter nicht nur Muße f ü r sein Schaffen gefunden, sondern offenbar auch die Anteilnahme, die dem Wachstum des Werkes förderlich war. In seiner Novelle von der „Hochzeit des Mönches" zeichnet C. F. Meyer das Bild des Verbannten in der Umgebung, wie er sie dort in der Burg des Scaligers vorgefunden hat. So, wie ihn dichterische Eingebung dem Schweizer Poeten gezeigt hat, in einsamer Hoheit, ganz seinem Werke hingegeben durch jene Schar von Kriegern und Priestern, Schranzen, Schmarotzern und Frauen aller Art hindurchschreitend, von vielen um der ihm gewährten Gunst willen scheel angesehen, von anderen als fremdartige Erscheinung scheu gemieden, nur von dem Herrscher selbst in seinem Wesen erkannt, so dürfen wir ihn uns in diesem Kreise vorstellen. Auch in Verona wird er das Brot der Verbannung oft genug hart gefunden haben. Anekdoten aus alter Zeit, nach denen er sich läppischer Anzapfungen von Seiten böswilliger Höflinge durch die Schlagfertigkeit erwehren muß, bestätigen es. Hier aber hat er doch, ähnlich wie einst bei den Malaspina im val di Magra, aber f ü r längere Dauer, einen Ruhepunkt auf seiner Irrfahrt durch die Länder der Fremde gefunden. Wenn wir heute Dantes göttliche

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Komödie unser eigen nennen und uns an ihren Visionen erheben dürfen, so gebührt dafür auch dem hochherzigen Scaliger unser Dank, ihm, unter dessen Schutz und Pflege das große Werk der Vollendung entgegenreifen konnte. Der Pilger durch die j e n s e i t i g e n

Reiche

Werden und Wesen der göttlichen Komödie Wenn Dante um die Zeit nach dem Tode Kaiser Heinrichs sein bisheriges Leben überblickt und die Ernte seiner Bestrebungen gewogen hat, so muß das Ergebnis niederschmetternd gewesen sein für den seines Wertes bewußten und nach Ruhm und Ehre dürstenden Mann. Im öffentlichen Leben hatte er mit allen seinen Plänen Schiffbruch gelitten. Was er auch unternommen hatte, um seine Idee von Recht und Gerechtigkeit durchzusetzen, immer hatte er sich zuletzt auf der Seite der Unterliegenden gefunden. Seine wissenschaftlichen Arbeiten waren nicht zur Frucht gereift. Die beiden Schriften, in denen er ein großartiges Lehrgebäude hatte aufrichten wollen, waren Stückwerk geblieben. Er selbst, ein heimatloser Flüchtling, mußte von fremder Gnade leben, unfähig, den Seinen eine Stütze zu bieten. Nicht einmal der Ertrag seiner Dichtung konnte ihm volle Genugtuung bieten. Dem doloe stil nuovo war er entwachsen. In den Kanzonen des Convivio und den übrigen Gedichten aus diesen Jahren aber hatte er, im Wesentlichen betretenen Pfaden folgend, das, was sein Genius und er allein der Welt zu geben hatte, nicht zu sagen vermocht. Wir Heutigen, die wir rückblickend Leben und Werdegang des Vollendeten in seinem ganzen Umfange überschauen, haben den Eindruck, daß alles bisherige 10

Falkeohaueen, Dante

nur Vorbereitung war für den Rest seines Lebens: f ü r das knappe Jahrzehnt, das ihm vergönnt war, seinen Kaiser zu überleben, und auf das Werk, dessen Gestaltung diese Jahre ausfüllt. Dies Werk, die göttliche Komödie, ist in mehr als einem Sinne das Werk seines Lebens. In ihr und für sie hat er gelebt: sie zu schaffen ist er in diese Welt des Atmens gesandt worden. Durch sie lebt er noch heute und wird leben, solange die Sprache der Dichtung Gehör auf Erden findet. Sein ganzes Leben hindurch hat ihn die Idee dieses Werkes begleitet, von der Jugend an bis an die Schwelle des Grabes: der Abschluß fällt mit dem Ende seines Erdenlebens zusammen, die Wurzel reicht bis in die Zeit der Vollendung des Neuen Lebens hinab. Wir erinnern uns der Schlußworte der Vita nuova, in denen er nach einer „Wunderbaren Erscheinung" — vermutlich ist das im Schlußsonett geschilderte Gesicht gemeint : die Vision, die ihm die Verklärtie über dem höchsten1 der bewegten Himmel und der Glorie gezeigt hat — die Hoffnung ausspricht, dereinst von Beatrice, der beseligenden Herrin, „zu sagen, was noch von Keiner jemals gesagt worden ist." Schon damals also beherrschte ihn der Gedanke, sie als Lenkerin zum Aufflug in die Gestirne zu verklären, der Gedanke, der dann in der Commedia Gestalt gewonnen hat. Zugleich bekennt er freilich, daß e r noch einer Zeit des Reifens bedürfe, ehe er den Aufschwung zu solchen Höhen wagen könne. Er hat sich damals vorgesetzt, „nichts mehr von jener Benedeiten zu sagen, bis er imstande sein werde, würdiger von ihr zu reden." Er war sich bewußt, daß seine Kräfte noch nicht ausreichten, das gewaltige Gedankengebäude zu errichten, über dem das Bild der Verklärten sich erheben sollte; daß er erst nach ernster Sammlung und strenger Vorbereitung der großen Aufgabe gewachsen sein würde. Er mag auch gefühlt haben, daß die U6

dichterischen Aasdrucksmittel des dolce stil nuovo nicht dazu taugten, diesen Visionen Gestalt zu geben. Die Vorbereitung hat wahrscheinlich lange Zeit in Anspruch genommen. Die nächsten Jahre waren ihr nicht günstig. Bis über die Jahrhundertwende hinaus war der Dichter, wie wir sahen, von ganz anderen Sorgen und Bestrebungen in Anspruch genommen. In dem Umgange mit Forese Donati, in dem Wirbel der Parteikämpfe, in den ersten Nöten der Verbannung, während der Anschläge, die Rückkehr zu erzwingen, wird er wenig Muße gefunden haben, sich in die Schau der jenseitigen Welt zu versenken. Schon aus diesem Grunde begegnet eine Erzählung, die von der Vollendung eines Teiles der Gommedia bereits vor Dantes Verbannung wissen will, begründeten Zweifeln. Boccaccio berichtet in seiner Lebensbeschreibung, von Beteiligten gehört zu haben, daß sich bei der Durchsuchung der von dem Verbannten zurückgelassenen Habseligkeiten einige Jahre nach seiner Flucht unter anderen Schriften ein Heft gefunden habe, dessen Inhalt als Niederschrift der sieben ersten Gesänge des Inferno erwiesen worden sei. Die Handschrift sei dem Dichter in der Lunigiana, wo er sich bei den Markgrafen von Malaspina aufhielt, ausgeliefert worden, und in freudiger Überraschung über die Wiedererlangung der vermißten habe er sich zur Fortsetzung der Arbeit entschlossen, was die Eingangsworte des folgenden Gesanges „io dico seguitando: ich fahre fort" bezeugen sollen. Boccaccio selbst, sonst nichts weniger als skeptisch, bezweifelt die Tatsächlichkeit der Geschichte, die ihm von zwei Seiten in verschiedenen, einander widersprechenden Fassungen mitgeteilt worden ist. Er weist auf die Unmöglichkeit hin, daß; die dem Schlemmer Ciacco im sechsten Höllengesange in den Mund gelegte Weissagung von der Unterdrückung und Austreibung der florentiner Weißen mit Hilfe des

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Papstes und des von ihm entsandten „Friedenstifters" vor Dantes eigener Verbannung niedergeschrieben sei, mit der dies Ereignis zeitlich zusammenfällt. Auf die Versuche, diese überzeugenden Gegengründe zu entkräften und die Wahrheit der rührenden Erzählung durch künstliche Konstruktion von Widersprüchen zwischen den Angaben und Vorstellungen jener ersten und der späteren Gesänge zu stützen, soll hier nicht eingegangen werden. Ebensowenig auf den seltsamen Einfall, aus dem Text des ganzen Gedichtes „Rudimente einer Uroommedia" auszusondern, darunter Glanzstellen wie die Episoden von Francesoa da Rimini und Ugolino, weil sie den Stempel von „Dantes Jugendstil" tragen sollen — will sagen: des dolce stil nuovo, zu dem jene Kleinodien reifster Dichtkunst sich in Wahrheit verhalten wie etwa Raffaels Sixtinische Madonna zu seinem Sposalizio! Die Meinung, Dantes Commedia sei stückweise zur Welt gekommen, kann sich nur auf willkürliche Annahmen und haltlose Vermutungen stützen. Damit soll nicht bestritten werden, daß in der von Boccaccio überlieferten Geschichte ein Kern von Wahrheit enthalten sein mag. Da der Plan des Gedichtes, wie wir wissen, seit geraumer Zeit in der Seele des Dichters lebte, ist es nur wahrscheinlich, daß Vorarbeiten schon bald nach dem Auftauchen der ersten Idee entstanden sind. Boccaccio selbst weiß zu melden, daß das Lied von der Fahrt durch die jenseitigen Reiche zunächst in lateinischen Hexametern begonnen worden sei, und f ü h r t sogar die ersten Verse wörtlich an. Deren Echtheit ist fragwürdig. Aber nach den Urteilen, die über das Verhältnis zwischen dem Latein und der Volkssprache in der Vita nuova und noch im Convivio zu lesen sind, scheint die Nachricht als solche durchaus glaubhaft. Solche Versuche, erste Anläufe und Entwürfe, auch Planskizzen und ähnliches mögen sich i48

unter den Schriften befunden haben, die der Verbannte bei seiner Flucht aus Florenz dort zurückgelassen hatte. Durchaus unglaubhaft ist dagegen, daß damals ein größerer oder kleinerer Teil der Commedia in der endgültigen Fassung, wie sie uns heute vorliegt, vollendet gewesen sei. Die wunderbare Einheitlichkeit, die beispiellose Geschlossenheit des Ganzen verbieten schlechterdings die Annahme, daß seine Ausführung eine jahrelange Unterbrechung erfahren habe, einen Einschnitt, der erfahrungsgemäß seine Spur in Gestalt von Nähten und Brüchen, im Wechsel von Stil und Auffassung hinterlassen muß. Ein Vergleich vollends mit den Gedichten, die tatsächlich vor der Jahrhundertwende und noch bis zum Abbruch der Arbeit an dem Convivio entstanden sind, etwa mit den f ü r dessen Traktate bestimmten und den darin aufgenommenen Kanzonen, zeigt eine so grundverschiedene Dichtungsund Sinnesart, daß der Dichter ein Proteus hätte sein müssen, um gleichzeitig diese philosophierenden, vielfach gesuchten Allegorien zu ergrübein und die bei allem Tiefsinn im allgemeinen schlichten Terzinen der göttlichen Komödie mit ihrer lapidaren Wucht und ihrer verhaltenen Leidenschaft zu gestalten. Es ist ein ganz anderer Dante, der dort und hier zu uns spricht: jener wäre noch gar nicht fähig gewesen, den Stil der Commedia zu finden. Es fehlte ihm die Vorbereitung, die er selbst, wie wir sahen, f ü r unumgänglich erklärt hatte. Diese Vorbereitung dürfen wir wesentlich in dem Studium der Philosophie, in der Arbeit am Convivio und auch an der Schrift de vulgari eloquentia erkennen. Uns, deren Auffassung von der Poesie mehr oder weniger von der Romantik beeinflußt ist, m u ß solche Vorbereitung eines Dichtwerkes durch gelehrte Studien befremden. Zu Dantes Zeit lagen Dichtung und Gelehrsamkeit näher beieinander. Jene Zeit sah Wesen und

Wert der Dichtung zum großen Teil in dem gelehrten Wissen, das sich in ihrem Inhalt und ihrer Form kundgab. Dante selbst zeigt sich von dieser Auffassung beherrscht, deren Einfluß auf die Ausführungen im zweiten Buch seiner Abhandlung über die Volkssprache deutlich erkennbar ist. Wir sahen ihn als Dichter denn auch in der Gefahr, der die Dichtung jener Zeit nur zu oft erlegen ist, sahen die ursprünglich dichterische Eingebung durch Überwuchern gedanklicher Spekulation und zur Schau getragener Gelehrsamkeit gefährdet. Geborener und begnadeter Dichter, der er war, hat er diese Gefahr überwunden. Noch in der Commedia zwar — seien wir aufrichtig! — stößt der Leser auf Abschnitte, wo das Übergewicht der Spekulation die Poesie zu ersticken droht. Aufs Ganze gesehen aber sind hier Dichtung und gelehrtes Wissen, tiefsinnige Gedankenfülle und unmittelbare Empfindung derart ineinander verschmolzen, daß die Dichtung durch philosophische Erkenntnis, durch das Wissen um die Dinge dieser und jener Welt befruchtet und zum Fluge in unerhörte Höhen beschwingt wird. So ist denn die Arbeit, die Dante dem wissenschaftlichen Studium gewidmet hat, tatsächlich als Gewinn f ü r die Entfaltung des dichterischen Genius zu werten. Das großartige, mit staunenswerter Folgerichtigkeit aufgeführte Gedankengebäude der göttlichen Komödie hätte er niemals errichten können ohne die strenge Zucht und methodische Schulung seines Geistes, die er jenen Lehrjahren verdankt. Sein umfangreiches Wissen, seine Belesenheit in dem gesamten, seiner Zeit zugänglichen Schrifttum, hat ihm die unerschöpfliche Fülle farbenreicher Bilder beschert, die in das breite Band seiner Dichtung eingewoben sind. Die Betrachtungen über den Bau und die Ausdrucksfähigkeit seiner Muttersprache haben ihn zu jener überlegenen Beherrschung des Wortes befähigt, i5o

kraft deren er auch die kühnsten Vorstellungen greifbar anschaulich zu gestalten weiß. Nicht umsonst hat Dante mit heißem Bemühen, wie er es am Schlüsse der Vita nuova verhieß, um die Geisteskraft gerungen, die ihn befähigen sollte, „würdiger zu reden" von seiner verklärten Herrin und „von ihr zu sagen, was noch von Keiner jemals gesagt worden ist." Aber nicht allein das Stadium, auch die äußeren Erlebnisse und Erfahrungen jener Jahre waren unerläßlich, um in der Seele des Dichters all das zu reifen, was den einzigartigen Reichtum der Commedia ausmacht. Die Menschenkenntnis, die er dort an den Tag legt, die Vertrautheit mit der Zeitgeschichte, mit den Bedingungen der Staatlichkeit, mit den in Staat und Kirche wirkenden Mächten, den tiefen Einblick in die politischen Strömungen seiner Zeit verdankt er dem eigenen tätigen Wirken im öffentlichen Leben. Nur hier konnte er sich unter bitteren Erfahrungen am eigenen Leibe zu der Idee von der gottgewollten Welt- und Staatsordnung hindurchringen, die sich durch die ganze Commedia hindurchzieht und in ihrem gedanklichen Aufbau eine so wesentliche Stelle einnimmt. Schließlich haben auch das Leid der Verbannung, die Empörung über das erlittene Unrecht, die immer wieder auftauchende Hoffnung zusammengewirkt, um die dichterische Stimmung der göttlichen Komödie zu bereiten. Nicht nur in dem harten Urteil über die Verderbnis der Zeit und in der bitteren Klage und Anklage wider die Mitwelt spiegeln sich diese schweren Erlebnisse. Sie haben auch jene seelische Haltung zur Reife gedeihen lassen, die, der Nichtigkeit der vergänglichen irdischen Werte bewußt, alles im Lichte der Ewigkeit sieht. Selbst die Verirrungen und Verschuldungen, von denen wir aus diesem Abschnitt von Dantes Leben hörten, sind nicht ohne Rückwirkung auf das Werk seines Lebens geblieben. Die reliI5I

giöse Haltung, deren klarer Schein das ganze Gedicht durchleuchtet, die echte Frömmigkeit, die sich bei allem sittlichen Selbstbewußtsein, bei aller Betonung der menschlichen Willensfreiheit, im Gefühl der eigenen Sündhaftigkeit allezeit der göttlichen Gnade bedürftig weiß, ist sicherlich eine Frucht schwerer Seelenkämpfe nach niederdrückender Verstrickung in allerlei Verschulden. Nach alledem wird man den Beginn der Ausführung von Dantes Commedia nicht in die Zeit vor seiner Verbannung und auch nicht vor Beendigung des Convivio — etwa 1307 — ansetzen dürfen. Die Danteforsohung hat denn auch die frühere Zeitsetzung fast allgemein verlassen. Der Streit der Meinungen geht im wesentlichen darum, ob der Anfang nicht noch einige Jähre später, nach dem Tode Kaiser Heinrichs anzusetzen sei. Nicht ohne Grund wird gegen diese Annahme — abgesehen von gewissen, nicht gerade beweiskräftigen Anzeichen dafür, daß Teile des Gedichtes schon vor i 3 i 4 bekannt geworden sein sollen — eingewandt, daß die alsdann bis zu Dantes Tode verbleibende Zeitspanne keinen Raum f ü r die Bewältigung des Riesenwerkes biete. In der Tat scheint die Vollendung dieses Gedichtes, „dran Himmel Hand gelegt und Erde", dessen Gesichtskreis die Welt umspannt und das sich mit den tiefsten Fragen, den höchsten Geheimnissen auseinandersetzt, in der kurzen Frist von acht Jahren über Menschenkraft zu gehen. Wenn man sich die ungeheure geistige Anspannung vorzustellen sucht, die dazu vonnöten war, so steht man wahrhaftig vor einem Wunder. Aber wir haben nur die Wahl, entweder an das Wunder zu glauben oder uns mit Annahmen abzufinden, die noch weniger wahrscheinlich sind. Im neunzehnten Gesänge des Inferno wird auf den Tod des Papstes Clemens V. hingewiesen, der am 152

2 A p r i l I3I 4 gestorben ist. Papst Nicolaus III., der, wegen Simonie verdammt, in der dritten Kluft von Malebolge mit brennenden Füßen köpflings eingepfählt, seit seinem Tode im Jahre 1280 auf Ablösung durch den gleicher Sünde schuldigen Bonifaz VIII. harrt, verkündet Dante, daß dieser von seinem Tode im Jahre i3o3 ab nicht so lange wie er selbst bisher, also nicht zwanzig Jahre, auf Clemens V., seinen Nachfolger, in der Hölle werde zu warten haben. Die Annahme, daß die Verse nachträglich eingeschoben seien, ist nach dem geschlossenen Zusammenhange ebenso unhaltbar wie die Vermutung, daß es sich hier um eine echte Prophezeihung, uin die Voraussage eines noch nicht eingetretenen Ereignisses handele. Bei der Kränklichkeit des Papstes Clemens konnte Dante zwar schon geraume Zeit vor dessen Tode mit Wahrscheinlichkeit erwarten, daß sein Pontifikat nicht annähernd so lange dauern werde. Aber er hatte keine Veranlassung, diese Erwartung in die Form einer feierlichen Prophezeiung zu kleiden, ehe ihm das Todesjahr tatsächlich bekannt war. Es wäre das der einzige Fall, in dem er, der sonst immer nur ex eventu prophezeit und sich bei wirklichen Ausblicken in die Zukunft stets in geheimnisvolles Dunkel hüllt, dieser Vorsicht vergessen hätte. Wenn er in dem Vergleich zwischen der Wartezeit jener beiden Vorgänger in der Verdammnis auf den Zeitpunkt von Clemens'V. Tode hinweist, so ist mit Sicherheit anzunehmen, daß der Papst schon tot war, als die Verse gedichtet wurden, daß also der neunzehnte Höllengesang, der sie enhält, nicht vor dem Jahre i3i/j entstanden ist. Wäre nun aber, wie manche wollen, die Ausführung des ganzen Gedichtes schon um das Jahr 1307 begonnen worden, so müßte entweder die Abfassung der ersten achtzehn Gesänge volle sieben Jahre in Anspruch genommen haben, also genau so lange Zeit, wie die Ausführung der i53

ganzen übrigen zweiundachtzig — ein offenbares Mißverhältnis, wobei überdies die Vollendung jener zweiundaohtzig Gesänge in den sieben Jahren von Papst Gemens' bis zu Dantes eigenem Tode kaum minder schwer vorstellbar bliebe als die der vollen Hundert in den acht Jahren, die er seinen Kaiser überlebt hat —, oder man hätte eine lange Unterbrechung der Arbeit anzunehmen: eine Annahme, die eben bereits als unglaubhaft abgetan worden ist. Schließlich ist auch zu bedenken, daß um das Jahr 1807 die Steinkanzonen entstanden sind, von deren Dämonie ein weiter Weg ist bis zu dem poema sacro, und daß in den Jahren von Kaiser Heinrichs Römerzage die Hingabe an die Sache des Kaisers den Verbannten ganz in Atem gehalten hat. So wird man denn doch wohl das Wunder gelten lassen müssen, daß die göttliche Komödie mit ihren hundert Gesängen, ihren ih 233 Versen in den wenigen Jahren von Kaiser Heinrichs bis zu Dantes eigenem Tode begonnen und vollendet worden ist. So schwer man sich eine solche Leistung vorstellen kann, der Leser, der die Dichtung auf sich wirken läßt, kann sich dem Eindruck nicht entziehen, daß sie so, wie sie vor uns liegt, in einem Zuge niedergeschrieben worden ist. Freilich setzt das voraus, daß der Plan des Ganzen, ehe die Ausführung begann, bis in alle Einzelheiten genau durchdacht worden ist und in seiner Gesamtheit vom ersten Verse an in voller Klarheit vor der Seele des Dichters gestanden hat. Solch unfehlbare Sicherheit der Vorstellung zeigt sich denn auch in der staunenswerten Folgerichtigkeit und Anschaulichkeit des Aufbaus dieser weltumspannenden Visionen und nicht minder in der Einheitlichkeit der Durchführung. So weit der Weg aus der Hölle durch Fegfeuer und Paradies bis vor Gottes Thron ist, so vielfach Ton und Stimmung, dem Gegenstande sich anpassend, wechseln müssen: der Stil i54

bleibt vom ersten bis zum letzten Verse der gleiche, unnachahmliche Commedia-Stil. Wenn es gilt, für Dantes Commedia den Platz zu finden, der ihr in der Dichtung aller Völker und Zeiten gebührt, dann drängt sich dem Deutschen der Gedanke auf, ihr das größte, tiefste, gedankenschwerste Gedicht gegenüberzustellen, das uns in unserer Sprache geschenkt worden ist: Goethes Faust. Mit ihm hat sie die unerhörte Großartigkeit des Vorwurfe gemein, der, vom Himmel durch die Welt zur Hölle, den ganzen Kreis der Schöpfung umgreift. Gleich ihm unterfängt sie sich, den gesamten Sinn des Menschendaseins zu deuten und dessen Verhältnis zum All, zu der natürlichen und sittlichen Weltordnung zu ergründen. Die Art aber, wie diese Fragen gestellt und der Lösung entgegengeführt werden, die geistig seelische Haltung ist bei Dante und Goethe so wesensverschieden, wie die Welt des späten Mittelalters von dem Menschenalter zwischen Sturm und Drang und dem klassischen Idealismus. Daß der eine die epische, der andre die dramatisohe Form gewählt hat, ist von untergeordneter Bedeutung. Im strengen Sinne ist die göttliche Komödie so wenig ein Epos wie der Faust eine Tragödie. Wesentlicher ist schon der Unterschied des Stiles: hier straffste Geschlossenheit, ein bis ins Letzte durchdachter Aufbau von strenger Architektonik und Symmetrie, ein Ganzes in dem einheitlichen Gewände der feierlichen Terzine; dort, in dem Werke, dessen Gestaltung seinen Schöpfer durch ein ganzes, langes Menschenleben begleitet hat, eine bunte Folge von Bildern, in denkbar freiester Form, unendlich verschieden in Stil und Ausdruck, selbst im Verhältnis zu der leitenden Idee. Der stärkste Gegensatz aber waltet zwischen dem in sich geschlossenen Weltbilde, dem in überlieferten Anschauungen und Denkformen gebundenen, auf ein Absolutes gegründeten Geiste des Mittelalters und i55

dem über alle Grenzen hinausstrebenden Forschergeiste der Neuzeit, der sich, dem Relativismus geneigt, das Recht nimmt, alle Überlieferung in Frage zu stellen. In der Gommedia sind Hölle und Paradies, Heilige, Engel und Teufel Wirklichkeiten; im Faust sind es Ideen und poetische Vorstellungen. Die naive Selbstverständlichkeit, mit der Dante die übersinnlichen Dinge anzuschauen vermochte, war f ü r Goethe verloren. „Dantes Welt", sagt Goethes Biograph Gundolf, „war noch eine zusammengehaltene,... die Goethes war bereits auseinandergebrochen . . . Daher ist sein Suchen und Streben gegenüber der unerschütterlichen, gemessenen Sicherheit D a n t e s . . . eine Not, wenn er auch eine Tugend daraus gemacht hat". Als „göttliche" ist Dantes Komödie von der bewundernden Nachwelt gepriesen worden. Poema sacro nennt sie sich selbst: den geweihten Sang, dran Himmel Hand gelegt und Erde. Sie ist ein Blick in das Reidh der Ewigkeit, die erhabene Vision der höchsten und letzten Dinge, angeschaut von einem Künstlerauge und verkündet mit der Stimme eines Dichters. Bei dem ersten Schritt über die Schwelle ihrer Vorhalle — der erste ihrer hundert Gesänge dient als Einleitung des Ganzen, während von den übrigen j e dreiunddreißig der Hölle, dem Fegfeuer und dem Paradies gehören — umfängt den Leser die visionäre Stimmung dieses Mysteriums. In schlichten Worten, deren Klang jedoch das Geheimnis ahnen läßt, hebt es a n : Mittwegs auf unsres Lebensweges Reise fand In finstren Waldes Nacht ich mich verschlagen, Weil mir die Spur des graden Weges schwand. Wie hart ist's, ach, von diesem Walde sagen, Wie wild und rauh und dicht sein Dickicht droht: Dran denken nur macht noch auf's neu mich zagen! So bitter ist's, daß bittrer kaum der Tod. Doch heißt's vom Heil, das dort ich fand, beginnen, Ist noch von andrem Fund zu reden not. i56

Kann, wie ich einging, kaum mich mehr entsinnen, So war ich voller Schlafes zu der Stunde, Als ich vom wahren Wege wich von hinnen. Doch weil am Fuß von einem Hügelrunde Ich anlangt', als zu Ende jenes Tal, Von dessen Grauen mir das Herz so wunde, Blickt' ich empor und sähe schon im Strahl Des Wandelsternes seine Scheitel prangen, Der rechten Weg uns weiset allzumal.

Die Seele, zum Bewußtsein ihrer Verantwortung erwacht, findet sich in Sündhaftigkeit verirrt und sehnt sich nach der Höhe des Heiles, die ihr von Gottes erleuchtender Gnade gezeigt wird. Aber der Weg dahin ist von drei wilden Tieren — den bösen Leidenschaften — verlegt, die sie in die Tiefe des Dunkels zurückdrängen. In dieser Not erscheint dem Verirrten ein Retter: auf Geheiß der Mutter Gottes von seiner verklärten Herrin Beatrice, der Trägerin göttlicher Gnade, entsandt, weist ihm sein Meister Vergil, der Sänger von Aeneas, dem Ahnherrn Roms und des heiligen Weltreichs, der weise Seher des Altertums, in dem sich die menschliche Vernunft verkörpert, einen anderen Weg zum Heile. Er will ihn durch Hölle und Fegfeuer führen, wo die Strafe der Verdammten und die Läuterung der Büßer angeschaut und miterlebt werden muß. Alsdann, verheißt er, wird Beatrice selbst ihren Schützling in Empfang nehmen, um ihn in das Paradies und vor Gottes Thron zu geleiten. Die Berufung auf Beatrices Sendung bezwingt das Grauen vor der Fahrt in das Totenreich, und der schwere Gang beginnt. Schon öffnet sich vor den Wanderern das Höllentor mit seiner furchtbar drohenden Inschrift. Mit ermutigender Mahnung führt Vergil den Zagenden hinein, und und das Grauen der Hölle umfängt die Beiden. Von einem der Kreise, die ihr Kraterrund umgeben, zum andern steigen, sie hinab bis zum tiefsten Schlünde. Von 157

den Höllengeistern, die den Verdammten als Wächter und Peiniger beigeordnet sind — vielfach sind es Gestalten der antiken Sage, die von der christlichen Vorstellung zu Dämonen verzerrt wurden —, werden sie immer wieder mit drohendem Zuruf, bösartigem Widerstand und tückischem Truge empfangen. Aber Vergil bezwingt die Widersacher durch Berufung auf seine himmlische Sendung, und da, wo diese kein Gehör findet, an der hartnäckig verteidigten Ringmauer der inneren Höllenstadt, treibt Gottes Engel die Teufel zu Paaren. So setzen die Pilger über die Höllenströme, lassen sich von den Dämonen selbst in die lotrecht abfallenden Tiefen der untersten Ringe hinabtragen. In allen Kreisen, die sie durchschreiten, ergeben sich bei der Begegnung mit Verdammten aus alter und neuer Zeit bedeutsame Auftritte ergreifender und grausiger, rührender und erschütternder Art. Die Zwiegespräche mit diesen Insassen der Höllenkreise und vor allem die Erklärungen des kundigen Meisters beleuchten den tieferen Sinn des Geschehens. An Luzifer, dem Fürsten des Höllenreiches vorbei, durch den Mittelpunkt der Erde, gelangt der Dichter an der Hand seines Führers auf das andere Halbrund der Erde, wo die dem Höhlengange Enttauchenden das Licht der Sterne wieder grüßt — mit dem bedeutungsvollen Reimwort „stelle" endet jeder der drei Teile. Dort, als Gegenpol zu Jerusalem, erhebt sich aus den uferlosen Wogen des Weltmeeres himmelanragend der Berg der Läuterung. Von seinem Ufer, an dem das Boot eines Engels eben eine Schar neuer Büßer landet, klimmen sie, von Cato von Utica, dem Blutzeugen der Freiheit empfangen, der hier als Hüter die Seelen betreut, die aus der Knechtschaft der Sünde zur Freiheit wallen, den steilen Hang hinan, und durch den Vorhof des Fegfeuers zu dessen Eingangspforte empor. Der Engel, der sie i58

hütet, läßt sie ein, nachdem er mit seinem Schwerte auf Dantes Stime sieben P eingeritzt hat, die Zeichen der sieben Todsünden (peocata), die in den sieben über ihnen den Berg umringenden Kreisen gebüßt werden. Wie er mit seinem Meister diese Kreise, von einem zum andern ansteigend, durchschreitet, die Buße anschauend miterlebt, im obersten Ringe das die Liebessünder läuternde Feuer am eigenen Leibe spüren muß, nach dem er Warnung und Mahnung beherzigt, die am Ein- und Ausgang jedes Kreises in Bild und Wort, in Gesichten und Rufen von Geisterstimmen die darin gebüßte Sünde und die ihr entgegengesetzte Tugend als „Zaum und Peitsche" dem Gewissen vorhalten, wird jedesmal eines dieser Zeichen vom Fittich eines Engels gelöscht. Engel des Himmels sind es, die hier, wie in der Hölle Dämonen und Teufel, die Wanderer empfangen und ihnen Botschaft bringen. „Wie anders", sagt Dante staunend, als er am Ausgange des ersten Kreises mit unbeschreiblich süßem Klange die erste der sieben Seligpreisungen singen hört: Wie anders tönt's an dieser Felsen Pforte Als dort in Höllen: hier grüßt Liederchor, Wehklagen wilden Grimms am andern Ortel

Im Gegensatz zu dem fahlen Dunkel der Hölle scheint diese Welt der Läuterung von mildem Silberlicht erhellt, in dessen Scheine die luftgewobenen, ungreifbaren, schattenlosen Gestalten der Büßer gleich durchsichtigen Schemen einherkommen. Gedämpft, verhalten klingt auch der Ton der Rede in den Gesprächen, die hier ebenfalls mit den Begegnenden geführt werden. Meist weht darin ein Hauch von Schwermut wie in dem Abendliede, das von dem Chor der gekrönten Häupter im Vorfegfeuer gesungen wird: Es war die Stunde, die vor Wehmut schwellen Zur See die Herzen macht und sehnlich schlagen,

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Des Lebewohls gedenk der Trautgesellen; Da Heimweh läßt den neuen Pilger zagen, Hört er der Abendglocke fern Geläut Ums Licht des Tages, der verscheidet, klagen. Da sah ich, den zu hören lang erfreut, Der Seelen eine an, die stand am Ende, Wie mit der Hand zu lauschen man gebeut. Sie faltete, sie hob die beiden Hände, Den Blick gen Ost, als ob den Herrn sie preise: Nichts andres ist, in dem ich Frieden fände 1 „Te lucis a n t e . . . " kam's andächtig leise Von ihren Lippen mit so süßem Klingen, Daß mich mir selber ganz entrückt die Weise .. . Vergil, der sich im Purgatorium nicht mehr mit der gleichen Sicherheit auskennt wie in der Hölle und mehrfach selber nach dem Wege fragen m u ß , erhält hier Beistand. Als er mit seinem Schützling den drittletzten Kreis verläßt, wo Geizige und Verschwender büßen, tritt ihm ein Büßer zur Seite, dessen Läuterung eben vollendet ist: der spätrömische Dichter Statius, sein Nachahmer, den Dante zum Christentum bekehrt glaubt. Auf dem Gipfel dann vertritt ihn eine geheimnisvolle Schöne, 'Matheida genannt, in der die tätige Liebe verkörpert scheint. Sie ist die Hüterin des irdischen Paradieses, das die Höhe des Läuterungsberges krönt: ein dichter, lebensprossender Hain mit Wipfelrauschen und Vogelsang, in dessen Tiefe aus einer Quelle die Flüsse Lethe u n d Eunoe strömen, mit ihren Wassern das Gedächtnis aller Sünde tilgend und Erinnerung an alles Gute weckend. Vor dem Eintritt in diese Stätte irdischer Glückseligkeit, wie sie dem Menschen im Stande der Unschuld vor dem Sündenfalle beschieden war, wird der durch Miterleben von Höllenstrafe und Buße Geläuterte von seinem Führer frei und mündig gesprochen. Dann, am Ufer des Lethestromes, während eine symbolische Prozession, der mystische Triumphzug der Kirche Christi vorüberzieht, tritt Vergil, dessen irdische Weis160

heit hier zu Ende ist und der göttlicher Offenbarung weichen muß, lautlos zurück und räumt der gnadenreichen Herrin Beatrice selber das Feld. Auf dem Siegeswagen der Kirche erscheint sie ihrem Sänger, der aufgehenden Frühlingssonne gleich: Wohl sah ich aufgehn, wenn zur Morgenstunde Mit Rosendunst umflort der Osten dicht, Auf wolkenlosen Himmels blauem Grunde In Duft gehüllt der Sonnen Angesicht, Daß so verschleiert, wie sie drunter glühten, Die Strahlen lang ertrug das Augenlicht: Also in einer Wolke da von Blüten, Die, in die Luft gestreut von Engelshand, Im Niederfallen hier und dorthin sprühten, Ölzweig' um ihres lichten Schleiers Band, Erschien mir eine F r a u ; wie Feuerzungen Glüht* unterm grünen Mantel ihr Gewand. Und meine Seele, ob auch längst verklungen Die Zeiten, da ein Beben, glutentfacht, In ihrer Nähe lähmend mich durchdrungen, E h Kunde noch das Auge mir gebracht, Am Wehn geheimer Kraft, die sie entsandte, Verspürte sie der alten Liebe Macht.

Aber die verklärte Herrin empfängt ihn mit strenger Rüge. Erst nach reumütiger Beichte wird er durch ein Bad im Lethefluß entsühnt; er darf, nachdem ihm an dem Zuge der mystischen Prozession Entwicklung und Entartung der Kirche bis zu seinen eigenen Tagen im Bilde gezeigt and von Beatrice erläutert worden, auch das Wasser aus Eunoe kosten und ist nun rein und' bereit zum Aufflug in die Sterne. Dieser Flug führt durch die Sphären der sieben Planeten — zu denen nach dem ptolemäischen Weltsystem Sonne und Mond gehören—, durch den Fixsternhimmel und einen Kristallhimmel, den Sitz der Engel, zum Empyreum, wo Gottes Thron steht und die Seligen auf den amphitheatralisch einander überhöhenden Rängen eines weiten Randes, der „Himmelsrose", 11

Falkenhaasen, Dante

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ihre Plätze einnehmen. Durch den Strahl ihres Auges zieht den Dichter seine Führerin von Kreis zu Kreise durch diese Welt des Lichtes in immer strahlendere Helle empor. Auf jedem Sterne grüßen selige Geister den. Lebenden. Sie erscheinen in Gestalt schwirrender Funken, kreisender u n d singender Flammen und Sternbilder, und die Liebe, die hier von Kreis zu Kreise waltet, läßt sie vor Wonne heller glühen, wenn sie den Kömmling grüßen und ihm durch Kunde über ihr seliges Dasein förderlich sein dürfen. Solche Unterweisung nimmt hier, angesichts der tiefsten Geheimnisse göttlicher Wahrheit, die jetzt o f f e n b a r werden, breiteren Raum ein. Außer Beatrice, die den wesentlichsten Teil beiträgt, beteiligen sich Heilige und Apostel mit Lehre, P r ü f u n g und Fürbitte. Alles ist von himmlischer Liebe beseelt. Doch grollt noch in diesen Höhen ein und anderes Mal die Empörung über die Verderbnis der Welt, am drohendsten i n der donnernden Rügerede Sankt Peters wider seine entarteten Nachfolger auf dem heiligen Stuhle (Par. XXVII, 19 f f ) . Zum Schlüsse glänzt die leuchtende Vision der Himmelsrose a u f : Heilige u n d Selige, von der J u n g f r a u Maria, den Aposteln u n d Patriarchen bis herab zu den unschuldigen Kindlein, geben, auf ihren in weiten Kreisen stufenweise ansteigenden Rängen gereiht, mit weißen Kleidern angetan, das Bild einer riesigen, strahlend weißen Rose, deren Kelch der goldene Widerschein des aus der Höhe einfallenden göttlichen Lichtes bildet, während Engelscharen von jener Höhe zu Kelch und Blütenblättern auf u n d niederschwirren. „So", kündet der Dichter: So, einer Rose gleich, in lichter Glut, Erschien mir die geweihte Heerschar droben, Die Christ sich angetraut mit seinem Blut; Die andre, sie, die schwebend schaun und loben Die Ehre des, für den sie liebend glühn, 162

Und seine Gnade, die sie so erhoben: So, wie ein Schwärm von Bienen bald ins Blühn Der Kelche taucht, bald heimwärts kehrt hinwieder, AUwo zu süßem Seim gedeiht ihr Mühn: So trug sie jetzt zur Wunderblüte nieder, Die reich in Blättern prangt, jetzt hoch zum Licht, Wo ewig weilt ihr Lieben, das Gefieder. Lebendige Glut war all ihr Angesicht, Von Gold ihr Fittich, alles andre blendend Von Weiße, wie kein Schnee an Reine nicht. Zum Kelch hinab, von Sitz zu Sitz sich wendend, So brachten Friede sie und Liebe dar, Was sie im Flug empfangen, wieder spendend.

Auf einem der höchsten Ränge, zu Füßen der Mutter Gottes, nimmt jetzt Beatrice ihren Platz ein. Der Dank, den ihr Schützling ihr für die Rettung seiner Seele emporschickt, gleicht einem Gebet. An ihrer Stelle tritt der heilige Bernhard ihm zur Seite, deutet ihm das erhabene Gesicht und nennt ihm die hohen Namen. Dann erwirkt er ihm durch seine Fürbitte zu der Himmelskönigin die Gnade, das höchste der Geheimnisse, die göttliche Dreieinigkeit im Bilde zu schauen. Nur stammelnd kann der Dichter von diesem, dem Worte und selbst dem Gedanken unzugänglichen Wunder reden. Vergebens müht sich der Verstand, vergebens sucht die Vorstellung es zu ergreifen: Um all die Schau, die hehre, war's getan; Doch Wunsch und Willen, wie der Himmelsferne Urewig kreisend Rad, führt' ihre Bahn Die Liebe, die in Gang hält Sonn' und Sterne.

Ein Lied von der göttlichen Gerechtigkeit ist Dantes göttliche Komödie genannt worden. Die Benennung kann sich auf ein Wort des Dichters selbst berufen. In jenem Widmungsbriefe an Gangrande delle Scala heißt es, der allegorische Sinn des Gedichtes sei, zu zeigen, „wie der Mensch, kraft seiner Willensfreiheit, durch Verdienst und Schuld der lohnenden und strafeni63

den Gerechtigkeit Gottes unterliege". Tatsächlich hat der Leser der Commedia von dem Eingang durch das Höllentor an, das sich in der allbekannten Inschrift als Schöpfung der Gerechtigkeit Gottes bekennt, bis zum Anblick der Himmelsrose, auf deren Rängen die Seligen nach dem Maße ihres Verdienstes aufgereiht sind, überall das Walten der göttlichen Gerechtigkeit vor Augen. Nicht allein die Strafen der Hölle und die Seligkeit der Erwählten im Paradiese sind Zeugnisse ihres Regiments in den Reichen der Ewigkeit; auch die Buße im Purgatorium hat die Bestimmung, den Büßer durch Läuterung und durch Genugtuung f ü r das, was er im Leben gefehlt und versäumt, mit der göttlichen Gerechtigkeit in Einklang zu bringen. Die Offenbarung dieser ewigen Gerechtigkeit in dem Bilde von Verdammnis, Buße und Seligkeit ist nun aber nicht in sich letztes Ziel. Ihr Erlebnis dient einem höheren Zwecke, der in einem anderen Worte des Widmungsbriefes zum Ausdruck kommt. Dort wird als Ziel des Gedichtes bezeichnet: „diejenigen, die in diesem Leben stehen, aus dem Stande der Gottverlassenheit zum Heile zu erheben". Den Weg aus der Gottesferne zur Seligkeit des Gottschauens will der Dichter der göttlichen Komödie weisen. Er hat sich das höchste Ziel gesteckt, das zu erreichen die Poesie, seit ihre Sprache auf Erden erklang, je sich unterfangen hat: der irrenden, Gott entfremdeten Seele die Heimkehr zu ihrem Schöpfer zu bereiten. Diese Heimkehr ist es, die in der Pilgerfahrt durch die drei jenseitigen Reiche sinnbildlich dargestellt wird. Sie beginnt mit dem Bewußtwerden der Verirrung im finsteren Wald der Sünde, dem der Aufblick und das vergebliche, durch die heilswidrigen Regungen des Menschenherzens gehemmte Streben nach der Höhe des Heiles folgt. Die Lösung von diesen heilswidrigen Mächten, i64

die Läuterung, die, an die Katharsis der antiken Tragödie durch Mitleid und Furcht erinnernd, aus Anschauung und Miterleben von Strafe und Buße erwächst, ist der Sinn dieser Pilgerfahrt durch Hölle und Fegfeuer. Nach dieser Vorbereitung wird dann die geläuterte Seele durch das Eingreifen der göttlichen Gnade, die in Beatrice versinnbildlicht ist, zum Gottschauen erhoben. Als Träger dieses Erlebens bekennt Dante sich selbst. Er selber sieht sich zu Beginn im finstren Walde verirrt, findet den Weg des Heils durch die in drei wilden Tieren verkörperten sündigen Neigungen seines Innern verlegt u n d wird durch seinen Meister Yergil auf den der inneren Läuterung dienenden Weg durch Hölle und Fegfeuer gewiesen. Er selbst wird auf dem Gipfel des Läuterungsberges, im irdischen Paradiese, von seiner Herrin Beatrioe mit strenger Rüge empfangen und nach reuevollem Schuldbekenntnis und reinigendem Bade in den Paradiesflüssen von ihr, als der Vermittlerin der göttlichen Gnade und des Grottschauens, im Fluge durch die neun Himmel vor Gottes Thron emporgehoben, wo sich — das ist das Ziel der ganzen Pilgerfahrt — „Wunsch und Wille der Liebe ergibt, die in Gang hält Sonn' und Sterne". Sich selbst also stellt der Dichter als Pilger auf dem Weg zum Heile dar. Aber es wurde schon einmal gesagt: symbolische Dichtung will nicht beim Worte genommen werden. Gewiß trägt das Ganze sowohl wie eine Fülle von Einzelheiten unverkennbar den Stempel persönlichsten Erlebens. Die Commedia ist eine Konfession ihres Dichters. Aber sie wäre nicht das „geweihte Lied, dran Himmel Hand gelegt und Erde", wenn sie nichts weiter wäre als persönliches Bekenntnis. In dieser Dichtung ist alles Individuelle ins Gemeingültige erhoben. So vieles darin auf Dantes eigene Schicksale und Seelenkämpfe hindeutet, so gewiß verkennt man i65

ihren Sinn, wenn man sie als autobiographisches Zeugnis nimmt. Müßig ist vor allem das Kopfzerbrechen über die Art der Verfehlungen, deren der Dichter sich verklagt. Es ist viel darüber gestritten worden, ob die Untreue, die er sich von Beatrice vorwerfen läßt, gegen die leibhaft© Geliebte begangen worden sei oder gegen das in ihr verkörpert© Symbol: ob es Liebessünde sei oder Glaubensirrung, Abkehr von der schlichten Gläubigkeit infolge Aufgehens in philosophischen Spekulationen, der „pura philosophia", die von der thomistischen Moraltheologie verurteilt wird. In der Beichte vor ihr selbst (Purg. XXXI, 34 f f ) wird die Schuld unmißverständlich bezeichnet: es ist die „trügerische Lust an den vergänglichen Dingen", die in der Seele die Liebe zu dem wahren, dem ewigen Gute erstickt. Diese heilswidrige Haltung zu den irdischen Gütern auf der einen, dem ewigen Gut© auf der anderen Seite ist nach der in der Gommedia überall bekundeten Auffassung, die im Purgatorium (XVII, 127 f f ) scholastischer Lehre entsprechend begründet wird, die eigentliche Wurzel und Summa der einzelnen sündigen Neigungen. Keine besondere Sünde also ist es, deren Dante sich schuldig bekennt, sondern die Sünde als solche. Und nicht die seinige allein. Denn der Dante, der durch Hölle, Fegfeuer und Paradies den Weg aus dem Wald der Sünde zu Gott geführt wird, ist nicht schlechthin Dante Alighieri, der verbannte Florentiner, so viele Wesenszüge er von ihm entleiht: er ist Vertreter der ganzen Menschheit. Die ganze sündige, nach dem Heil verlangende Menschheit ist es, die sich in der Finsternis der Sünde verirrt findet, die Strafe und Buße miterleben muß, reuig Beichte ablegt und schließlich durch Gnade zum Gottschauen gelangt. Was den Pilger auf diesem Wege zum Gottschauen bereitet, ist eben jenes Erlebnis der göttlichen Gerechtig166

keit. Wenn er in der Hölle die sündigen Taten gesühnt, im Fegfeuer die sündigen Neigungen durch Buße ertötet sieht, wenn er das, was er sieht, innerlich miterlebt, dann erblickt er in diesem Spiegel sein eigenes Inneres und gewinnt die Kraft, die Flecken dort zu tilgen. Angesichts der Seligkeit, die auf den unterschiedlichen, je nach Verdienst abgestimmten Stufen den Erwählten im Paradies zuteil wird, erhebt sich sein Blick zum ewigen Gute, dessen Liebe in ihnen glüht, und beim Rückblick von dort auf die in den weiten Räumen des Alls unendlich kleine Erdkugel (Par. XXII, i36 f f ) wird ihm bewußt, daß „der am besten beraten ist, der die Erdendinge verachtet, und nur der wahrhaft fromm, der nach dem Ewigen allein verlangt." So wird die Seele, indem sie das Walten der göttlichen Gerechtigkeit erkennt und miterlebt, gegen die Lockung der „vergänglichen Dinge" gefeit und kann sich nun der ewigen Liebe ganz zu eigen geben. Die Bilder, in denen bei der Fahrt durch die jenseitigen Reiche jenes Walten der göttlichen Gerechtigkeit sich offenbart, geben der göttlichen Komödie ihre Gestalt als Dichtung. In einzigartiger Weise zeigen sich da die überlieferten Begriffe, Gedanken und Vorstellungen der scholastischen Dogmatik mit den Engebungen eines Dichters vermählt. Im Grundsätzlichen, in der Auffassung der natürlichen und sittlichen Weltordnimg, von Sünde und Verdienst, von Strafe, Buße und Erwählung folgt Dante streng der Lehre der Scholastik, zumal seines verehrten Meisters Thomas von Aquino. Die sichtbare Gestalt der jenseitigen Reiche, die Verfassung der abgeschiedenen Seelen, die Art der Strafen und der Buße, der Zustand der Seligen ist im wesentlichen freie Schöpfung seiner Phantasie. Vielleicht ist das Wort Phantasie hier irreführend, insofern es den Gedanken an Willkür weckt. Die großartigen Gesichte, in denen 167

Hölle, Fegfeuer und Paradies vor unsren Augen erscheinen, die grausigen und erhabenen Szenen, die dort an uns vorüberziehen, können nicht Gebilde einer willkürlich schaltenden Phantasie sein. Einem Dichter, der die Vermessenheit hätte, nach der Laune seiner Phantasie namhafte Gestalten der Mit- und Vorwelt, der Sage und Geschichte, achtunggebietende und selbst verehrungswürdige Tote zur Hölle zu schicken oder als Büßer erdichteter Sünden vorzuführen, würden wir das Gehör versagen. Was Dantes Gedicht uns kündet, ist nicht seine Erfindung. Es ist als Offenbarung über ihn gekommen. Er hat, daran kann kein Zweifel sein, an seine Gesichte geglaubt. Es sind echte Visionen. Er fühlt sich nicht als Richter der Welt, sondern als Verkünder eines Gottesurteils. Gottes Urteilssprüche sind es, die in der Commedia gefällt werden, nicht die eigenen des Dichters, dessen Empfinden vielmehr mit ihnen oft genug in scharfem Widerspruche steht. Man darf nur auf die Weise achten, in der er seinen Verdammten begegnet, tun diesen Widerspruch zu spüren. Nur wenige der verruchtesten unter ihnen werden mit Empörung und Abscheu, dann freilich mit unbarmherziger Härte, behandelt. Weit öfter übermannt den Zeugen ihrer Höllenpein das Mitleid mit ihren Qualen, obgleich es ihm bezeichnender Weise (Inf. XX, 27 f f ) als Auflehnung wider Gottes Ratschluß von seinem Maestro streng verwiesen wird. Und nicht nur Erbarmen, so tief, daß es ihn angesichts des kläglichen Loses der Francesca von Rimini ohnmächtig zu Boden wirft: Achtung, Verehrung, Zuneigung erweist er mehr als einem jener Unglücklichen, denen er ewige Verdammnis zuerkannt hat. Mit scheuer Ehrerbietung blickt er zu dem ritterlichen Farinata degli Uberti auf; den drei verdienten Mitbürgern im Feuerregen der Sodomiter wünscht er sich in die Arme wer168

fen zu können; mit dankbarer Liebe begrüßt er ebendort seinen alten Lehrer Brunetto Latini. Deutlich gibt er zu erkennen, wie hart es ihn ankommt, diese edlen, verdienstvollen Männer um des einen Fehles willen, mit dem belastet sie in die Ewigkeit hinübergegangen sind, der ewigen Verdammnis überantworten zu müssen, während z. B. Karl von Anjou, der Mörder Konradins, dem auch der — ungeschichtliche — Mord am heiligen Thomas von Aquino vorgeworfen wird, seine Schuld im Purgatorium abbüßen und die übelberüchtigte Cunizza, die galante Schwester des furchtbaren Ezzelino, sich sogar im Paradiese der Vergebung ihrer Liebessünden rühmen darf. Die Kirchenlehre ließ ihm in Fällen reuelosen Todes keine Wahl, wie denn auch seine Idee von dem heiligen Weltreiche ihn zwang, die Mörder seines Begründers, des ersten Caesar, in scharfem Widerspruch zu dem fast einstimmigen, ihm sonst schlechthin maßgeblichen Urteil der Antike dem Gottesverräter Judas im tiefsten Höllenschlunde zu gesellen. Gehorsam vollzieht er den Spruch der unergründlichen Gerechtigkeit Gottes. Aber sein geradegewachsenes menschliches Empfinden kann er nicht verleugnen. Von dem Werte der Gesamtpersönlichkeit überzeugt, lehnt es sich gegen das Urteil auf. Auch dem Brutus zollt er die ihm gebührende Achtung, indem er die Mannhaftigkeit des Stoikers betont, der, ohne einen Laut von sich zu geben, die furchtbarste der Qualen erduldet. Menschlichen Wert wägt Dante auf einer anderen Waage als Minos, sein Totenrichter. Es fragt sich, ob ihm dieser Widerspruch voll zum Bewußtsein gekommen ist. Er scheint gespürt zu haben, daß hier jene unlösbare Antinomie zur Geltung kommt, die, dem Verstände unzugänglich, alle menschliche Vorstellung durchzieht. Alles Grübeln darüber verbietet er sich mit Strenge. Es kommt dem beschränkten 169

menschlichen Verstände nicht zu, sich hier ein Urteil anzumaßen. Was Gott will, ist seinem Wesen nach gerecht; denn alle menschlichen Rechtsbegriffe sind nur Ausfluß seiner ewigen Gerechtigkeit. So lautet die Antwort der im Sterngebilde des Kaiseradlers vereinten Seelen gerechter Herrscher im Himmel des Jupiter auf die Frage, in der Dantes Empfinden sich am entschiedensten gegen den von der Kirchenlehre gebotenen Urteilspruch aufbäumt: auf die Frage, wie die Verdammnis der gerechten Heiden mit Gottes Gerechtigkeit vereinbar sei. Schon im Limbus der Hölle, in deren oberstem Ringe, macht ihm der Anblick der mit Begeisterung verehrten Helden des Schwertes und Geistes aus dem klassischen Altertume, die lediglich wegen ihres unverschuldeten Mangels an Taufe und Glauben der ewigen Verdammnis preisgegeben sind, bitteren Kummer. Er baut ihnen in der Hölle ein Elysium, so licht es ihm nur möglich ist. Aber er kann ihnen nicht ersparen, daß sie, ewig von Gott geschieden, zwar ohne Qual, aber „sonder Hoffen in Sehnsucht leben" müssen. Ängstlich fragt er nach einer Möglichkeit der Errettung. Aber Vergil weiß nur von der Erlösung der Patriarchen aus dem Volke Israel bei Christi Höllenfahrt zu sagen. So bleibt die Frage ungelöst. Aber sie ruht nicht. Bis zum Fluge in den höchsten der Himmel pocht sie immer von neuem an. Und immer wieder klingt die Antwort: die Gnadenwahl ist unergründlich. Gott will es so. Damit genug! Zur Ruhe verwiesen aber nicht beruhigt, glaubt der Frager in der scholastischen Theologie und in der Heiligenlegende schließlich doch einen schmalen Ausweg entdeckt zu haben, auf dem er auch Heiden zum Heile verhelfen kann. Die Lehre von der fides implicita, dem Glauben an den ungeborenen Heiland, gestattet ihm, an die Erwählung des Trojaners Ripheus zu glauben, 170

dessen Gerechtigkeit in Vergils Aeneis gerühmt wird. Von Kaiser Trajan aber konnte er i n der Legende lesen, d a ß er auf das Gebet Gregors des Großen aus der Hölle zu neuem Leben erweckt worden sei, u m sich noch nach dem Tode zum Christenglauben zu bekehren. Mit sichtlicher Genugtuung — so schwer hatte der Zwiespalt der Empfindung auf seiner Seele gelastet — f ü h r t Dante diese beiden als Selige in den Himmel des Jupiter ein (Par. XX, 100 f f ) . Angesichts dieser Ausnahme scheint ihm auch ein Schimmer von H o f f n u n g auf allgemeine Erlösung aufzublinken: a m Schlüsse des Gesanges (v. 124 f ) läßt er sich von dem Chor der Gerechten verkünden: Wir selbst, die Gott von Angesichte schauen, Wir kennen alle, die erwählet nicht. Die strenge Gesetzlichkeit, mit der die göttliche Gerechtigkeit in Dantes jenseitigen Reichen waltet, gibt ihr fast das Ansehen einer unpersönlichen, dem antiken Fatum vergleichbaren Macht. Von einem persönlichen Weltenrichter ist nichts zu spüren. Sein Urteilspruch bleibt dem jüngsten Gericht vorbehalten. Vorerst vollzieht sich die Vergeltung sozusagen automatisch, nach Art eines Naturgesetzes. Nach dem Tode sinkt die Seele „unverzüglich ganz von selbst durch ein W u n d e r " (Purg. XXV, 85 f f ; II, 100—io5) entweder an den Strand des Höllenflusses Acheron, wo Charons Nachen zur Beförderung in das Reich der Verdammten ihrer wartet, oder an die Tibermündung, wo sie von dem Boote des Engels zur Fahrt nach dem Läuterungsberge abgeholt wird. Bildlich spiegelt sich diese Naturgesetzlichkeit der Vergeltung in der Art der Höllenstrafen, wie das Inferno sie sehen läßt. Nur wenige von ihnen, wie die der Zwietrachtstifter, die vom Schwerte eines Teufels selbst in Stücke gehauen werden, sind nach dem 171

Grundsatz© des oontrapasso, nach dem Gesetz „Auge um Auge, Zahn um Zahn" gestaltet. Die meisten der Sünder erleiden nicht selber das, was sie im Leben anderen angetan; sie müssen vielmehr — zu ihrer Pein — fortfahren zu tun, was sie auf Erden Verwerfliches getan haben. Wenn die Zornmütigen sich noch im Schlamme des Styx gegenseitig zerfleischen, die Bluthunde in siedendem Blute waten und baden müssen, so ist das nichts anderes als eine materialisierte, f ü r sie selbst schmerzhafte Fortsetzung ihres sündigen Treibens. Der Sinn dieser Sühne erhellt aus dem zornigen Zuruf Vergils an den Gotteslästerer Kapaneus, der, noch unter dem höllischen Feuerregen im Trotz verharrend, die Gottheit schmäht: eben das sei seine eigentliche Strafe, daß seine Auflehnung keine Ruhe geben wolle. Dantes Vergeltungsidee ist in diesen Worten ausgesprochen: die Sünde straft sich selbst. Als Gottentfremdung schließt sie die Seele vom Gottschauen, von der Gemeinschaft mit Gott ohne weiteres aus. Es ist der gleiche Gedanke, den, fünfeinhalb Jahrhunderte später, Lessing in der höhnischen Antwort zum Ausdruck gebracht hat, die er jenem Teufel in seinem Faustfragment in den Mund legt: Daß Gott dich noch sündigen läßt, ist schon Rache! Für die Naturgesetzlichkeit, mit der Gottes Gerechtigkeit ihre Wirkung tut, ist schließlich die Haltung bezeichnend, mit der die Verdammten wie die Büßer und die Seligen die Vergeltung für ihre Taten entgegennehmen. Die Verdammten am Ufer des Acheron drängen mit verzweifelter Hast in Gharons Nachen, der sie ihrer Strafe zuführt, „gespornt von der göttlichen Gerechtigkeit, die ihre Furcht in Begehren wandelt" (Inf. III, 12k f f ) . Ein magischer Zwang nötigt sie, die Strafe, die sie fürchten, zu verlangen, weil sie verdient ist. Unter gleichem Zwange vermögen die Büßer im Purga172

torium den Aufstieg zum Paradiese, dem Ziel ihrer Sehnsucht, nicht einmal zu wünschen, ehe ihre Läuterung vollendet ist, weil „die göttliche Gerechtigkeit wider Willen ihr Streben, wie zuvor zur Sünde, so jetzt zur Pein der Buße treibt" (Purg. XXI, 61 f f ) . Und auch die Seligen im Paradiese unterliegen diesem Willenszwange der göttlichen Gerechtigkeit. Sie verlangen auch auf den untersten Stufen der Seligkeit mitnichten nach einer höherein; es „mehrt vielmehr ihre Wonne, wenn sie ihr Los mit ihrem Verdienst vergleichen und keines größer noch geringer finden." So bedeutet auf dem Planeten Merkur (Par. VI, 118 f f ) Kaiser Justinian den Jenseitspilger. Und im Himmel des Mondes antwortet Piocarda, die selige Schwester seines leichtfertigen Jugendgefährten Forese Donati, auf seine Frage, „frohgemut, wie die in Flammen erster Liebe stehen": Uns, Bruder, stillt das Herz der Liebe Glut, Heißt uns verlangen nur, was uns gegeben! Kein andrer Durst uns nimmer wehe tut. Wollt' unser Wunsch nach höherm Rang sich heben, So müßt* er jenem Willen, dessen Bann Allhier uns wies die Stätte, widerstreben. Daß solcher Trotz hier nicht gedeihen kann, Wo, Kreis um Kreise, Liebe nur darf schalten, Du siehst es, schaust Du recht ihr Wesen an! Nein, selig sein heißt hier: allein sich halten An Gottes Willen, daß, in ihm beschlossen, Der unsre eins mit seines Willens Walten. Und wo wir stehn auf dieses Reiches Sprossen, Gefällt es uns, wie's seinem Herrn gefallen, Des Willen in den unsem sich ergossen. Sein Wille ist der Friede hier uns allen: Das Meer, drein alles mündet allzugleich, Ob er es schuf, ob's wuchs im Erdenwallen. Im Gegensatz zu dem unpersönlichen Walten der göttlichen Gerechtigkeit offenbart sich der persönliche Gott in seiner Gnade, die ergänzend und mildernd der strengen Gerechtigkeit an die Seite tritt. Sie kann freiI73

lieh nur da zur Geltung kommen, wo die Menschenseele bereit ist sie anzunehmen. In der Hölle, wo diese Haltung, die dem Menschen als Verdienst angerechnet wird, nicht möglich ist, hat daher die Gnade keine Statt. Aber schon im Purgatorium (III, i a i f f ) bekennt König Manfred, der mit schrecklichen Sünden belastet — wie sie ihm von den Feinden nachgesagt und allgemein geglaubt wurden — im Kirchenbann gestorben war, „der Arm der göttlichen Gnade sei so lang, daß er jeden ergreife, der sich ihr ergibt." „Ein Tränlein der Reue" in der Todesstunde kann genügen, um den Sünder vom ewigen Verderben zu retten (Purg. V, 107), wie denn ein großer Teil des Vorfegefeuers von Seelen bevölkert ist, die Reu und Leid bis zum Ende ihres Lebens verschoben hatten. Im Paradiese vollends erhält die Gerechtigkeit ihr Gepräge durch die Mitwirkung der Gnade. Sie gibt neben dem Verdienst bei der Abstufung der Seligkeit den Ausschlag. Die nach „ewigem Gesetz" geheimnisvoll waltende Gnadenwahl hat auf den Rängen der Himmelsrose, dem Sitze der Seligen in dem höchsten Himmelskreise, dem Empyreum, sogar den vor Erlangung des Unterscheidungsvermögens f ü r Gut und Böse verstorbenen Kindern, bei denen eigenes Verdienst nicht in Frage kommt, unterschiedliche höhere und niedere Stufen angewiesen (Par. XXXII, !\0—75). Am tiefsten erweist sich die Wirkung der göttlichen Gnade in der Richtung, die sie dem Einfluß der Gestirne auf die seelische Haltung des Menschen gibt. Dieser Einfluß ist in den höheren Sphären an sich heilbringend, wie sich bei der Erscheinimg der Seligen auf den Planeten zeigt, deren Wirkung sie im Leben vornehmlich beherrscht hatte. Da sehen wir auf dem Mars die tapferen Gottesstreiter; im Himmel der Sonne, des hellsten Himmelslichtes, die weisen Glaubenslehrer; auf dem Jupiter, der Stella temperata, die gerechten Herrscher; 174

auf dem Saturn, dem erdfernsten der damals bekannten Planeten, die weitabgewandten Einsiedler, Ordensbrüder und die Heiligen des beschaulichen Lebens. Die drei niedrigsten Planeten, diejenigen, deren Bahn noch vom Erdschatten getroffen wird, sind in ihrem Einfloß heilgefährdend. Der Strahl des wandelbaren Mondes weckt Wankelmut, Merkur die Neigung zu weltlichen Geschäften, denen zuliebe die Sorge um das Seelenheil leicht vernachlässigt wird, Venus die Liebesleidenschaft. Die göttliche Gnade aber kehrt auch diese Triebe zum Heile. So bekennt im Himmel der Venus (Par. IX, g4—108) der Minnesänger, später Bischof Folquet von Marseille, daß er die Verliebtheit, die ihn unter dem Einflüsse dieses seines Sternes bis ins Alter beherrscht habe, nicht zu bereuen vermöge, daher lächelnd ihrer gedenke; denn die irdische Liebe habe sich dank der göttlichen Gnade zur himmlischen, in umso glühendere Gottesliebe verklärt. Indem alle« irdische Geschehen in das Licht der göttlichen Gerechtigkeit und Gnade gestellt wird, umschreibt die göttliche Komödie den ganzen Kreis der sittlichen Weltordnung. Wir sahen bereits, welchen Rang in dieser Ordnung nach Dantes Begriffen das Staatswesen einnimmt als der Rechtsboden, auf dem die Menschheit zur irdischen Glückseligkeit, der Vorstufe des ewigen Heiles geführt werden soll. Der Gedanke an die nach seiner Überzeugung von Gott gewollte Staatsordnung, den der Vorkämpfer für das Kaisertum und das heilige Weltreich in seiner Monarchia verfochten und begründet hatte, durchzieht auch die Commedia von Anfang bis zu Ende. Wo immer die Rede auf die Verderbnis der Zeit, auf die klägliche Lage seines Heimatlandes kommt — und immer wieder gibt eine Begegnung Anlaß zu neuer Klage und Anklage —, da wird die Schuld an allem Übel auf das Fehlen eines Weltherrschers zurückgeführt 175

und den Übergriffen des geistlichen Oberhirten auf dds weltliche Machtgebiet zur Last gelegt. Nur von der Wiederaufrichtung der Kaisermacht, mit der zugleich das Papsttum genötigt wird, seinen Weltmachtgelüsten zu entsagen, ist Heilung der fressenden Schäden zu hoffen. Feierlich wird diese Hoffnung in dunklen Weissagungen bekannt: gleich in dem ersten, dem einleitenden Gesänge (Inf. I, i o f f ) , in der Verheißung des Hatzrüden (veltro), der die arge Wölfin, das Sinnbild der verderblichen Machtgier, zur Hölle jagen wird; sodann am Schlüsse des Purgatorio (XXXIII, 37 ff), wo es von dem Erben des Adlers mit dem geheimnisvollen Zeichen DXV heißt, daß er die Hure auf dem Wagen der Kirche und den mit ihr buhlenden Riesen — der Herrscher Frankreichs, der das Kirchenregiment in Avignon unter dem Druck seiner Macht hielt — erlegen wird. Noch im höchsten der bewegten Himmel (Par. XXVII, i3g ff), nachdem Sankt Peter eine flammende Rügerede wider seine entarteten Nachfolger gedonnert hat, spricht Beatrice es aus, daß die Verirrung der Menschheit kein Wunder sei, wenn man bedenke, daß es auf Erden keinen Herrscher gebe. Eindringlich predigt diese Wahrheit im Purgatorium (XVI, 82 ff) ein Büßer, Marco Lombardo mit Namen, der auf Erden selbst im öffentlichen Leben gestanden hatte: Schlecht Regiment ist schuld — Du mußt Dir's sagen, Wenn heut die Welt in Sünd und Schande fällt, Nicht, daß die Menschheit aus der Art geschlagen, Rom hatte, da's den Erdkreis wohl bestellt, Zwei Sonnen,ein' und andren Weg mitsammen Zu weisen: Gottes W e g und den der Welt. Die eine löschte nun der andren Flammen: Schwert sind und Hirtenstab in einer Hand, Und schlimm, unfehlbar, gehn die zwei zusammen! Denn keins das andre scheut, dem sich's verband,— Willst Du's nicht glauben, schau nur nach den Früchten I An seinem Samen wird das Kraut erkannt.

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Wenn in diesen Zeilen der Versuch gewagt werden mußte, den Leitgedanken der göttlichen Komödie aufzuzeigen und seine Entfaltung durch die Gesänge von Hölle, Fegfeuer und Paradies zu verfolgen, so ist es an der Zeit, Abbitte zu tun für die Vermessenheit, mit der das poema sacro dergestalt zerfasert worden ist. Es läßt sich nicht vermeiden, daß sein Bild dabei wie in einem Zerrspiegel entstellt wird. Dei> Leser kann leicht den Eindruck behalten, als sei Dantes Commedia ein Lehrgedicht oder ein theologisches Erbauungsbuch. Er darf freilich nur das Gedicht selbst zur Hand nehmen, um eines Besseren belehrt zu werden. Er wird auf seinem Wege Strecken finden, das Soll nicht geleugnet werden, bei denen er sich durch lehrhafte Auseinandersetzungen hindurcharbeiten muß. Die Einteilung der sündigen Handlungen und Neigungen im XI. Gesänge des Inferno und im XVII. des Purgatorio, die Unterweisung über die Natur der Mondflecken, von der Heiligkeit der Gelübde, über das stellvertretende Opfer Christi, über die Hierarchie der Engel im II., V., VII., XXVIII. und XXIX. des Paradiso sind ausgesprochenermaßen und wohl bewußt didaktisch gehalten. Ihre scholastische Schulweisheit kann, des sachlichen Interesses ungeachtet, das deren Inhalt bietet, auch den ernsthaften Leser ermüden. Aber wie überreich wird er entschädigt 1 Wen fesselt nicht die lange Reihe lebensvoller Gestalten, die Fülle packender, erschütternder und erhebender Szenen, die eine unvergleichliche Dichterkraft vor seinen Augen vorüberziehen läßt? Die Episoden von Francesca da Rimini und Ugolino sind von jeher zu den kostbarsten Kleinodien der Weltliteratur gezählt worden. Dutzende lassen sich anreihen, die wert sind, an ihrer Seite zu stehen: die Begegnung mit Farinata degli Uberti, mit Brunetto Latini, mit Odysseus, mit den beiden Grafen von Montefeltro, mit dem Sänger Gasella, mit Piccarda Donati 12 Falkenhusen, Dante

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(Inf. X, 22 f f ; XV, 22 f f ; XXVI, 85 f f ; XXVII, 19 f f ; Purg. II, 76 f f ; V, 85 f f ; Par. III, 34 f f ) und viele andere. Die poetische Wirkung dieser Szenen ist so stark, daß wir, von ihr hingerissen, den gedanklichen Zusammenhang des Ganzen oft genug f ü r den Augenblick vergessen. Eine rein ästhetisch gerichtete Kritik will tatsächlich in solchem Vergessen die rechte Art sehen, wie die Gommedia gelesen werden soll. Sie will bewußt zwischen ihrem Aufbau und ihrer Dichtung, zwischen dem Dichter und dem Denker in Dante scheiden, will das ethisch-philosophische Gedankengebäude mit seinen zeitgebundenen Anschauungen beiseite schieben, um die dichterische Schönheit der Bilder rein genießen zu können. Aber Dante, der Dichter, und Dante, der Denker, sind nicht zu trennen. Sie sind eins, wie seine Commedia ein einheitliches Gebilde ist. Man tut dem großen Werke unrecht, man raubt ihm ein gut Teil seines Reichtums, wenn man es in ein Mosaik aus einzelnen poetischen Schaustücken zerlegt. Selbst jene Episoden, die sich fast zu selbständigen epischen Gedichten ausgewachsen haben, stehen nicht f ü r sich allein. Sobald wir uns auf das Ziel der Dichtung besinnen, das ihr Eindruck vielleicht in den Hintergrund gedrängt hatte, kommt ihr Zusammenhang mit dem Ganzen,. kommt die Stelle, die sie darin auszufüllen haben, zum Bewußtsein. Erst in diesem Zusammenhange kommen sie auch poetisch zu voller Geltung. Schließlich sind es gar nicht jene Szenen allein, in denen sich Dantes ganze Dichterkraft offenbart. Gerade auch da, wo die tiefsinnige Idee des Gedichtes entwickelt wird, sind in den gedanklichen Aufbau Blüten höchster Poesie verwoben. Es sei nur an die Gürtung mit den Binsen und die Landung des Engels am Strande des Läuterungsberges (Purg. 1,93 ff und II, 178

i f f ) erinnert, an den Traum von der Lea und die Ankunft im irdischen Paradiese (Purg. XXVII, 64 ff und XXVIII, i ff), an die Vision von der Himmelsrose (Par. XXX, i f f ) , an das Vaterunser der Büßer und das Gebet des heiligen Bernhard (Purg. XI, i ff und Par. XXXIII, i f f ) — hier und an vielen anderen Stellen ist das Wunder vollbracht, daß ethisch religiöse Gedankengänge in Bildern von hinreißender dichterischer Gewalt ohne Rest aufgehen. Und noch da, wo tatsächlich scholastische Philosophie und Theologie gepredigt wird, kommt die Poesie zu ihrem Rechte. Auf Schritt und Tritt begegnet der Leser der Commedia Gedanken, die aus der Lehre des heiligen Thomas von Aquino stammen. Die Forscher finden immer neue Anklänge an den Sinn und selbst an den Wortlaut von Sätzen aus den Werken des Aquinaten. Sieht man aber genauer zu, so findet sich, daß Dante selbst da, wo er treulich der Spur seines Meisters zu folgen glaubt — man erinnere sich der Unterweisung über die Geburt der Menschenseele und ihr Fortleben nach der Trennung vom Erdenleib (Purg. XXV, 37—108) —, unbewußt schon eigene Wege geht. Die nicht selten tote, rein formale Logik des Dogmatikers gewinnt Farbe und Leben im Strahl seines Dichterauges. Man wird am Goethes Parabel erinnert: Gedichte sind gemalte Fensterscheiben: Sieht man vom Markt in die Kirche hinein, Da ist alles dunkel und düster; Und so sieht's auch der Herr Philister Kommt aber nur einmal herein, Begrüßt die heilige Kapelle! Da ist's auf einmal farbig helle . . .

Das Licht, von dem all diese Helle ausgeht, strahlt aus Höhen, die unser Blick nicht erreichen noch ermessen kann. Das Wesen des dichterischen Genius läßt sich nicht in Begriffe fassen. Wohl ließe sich manches sagen *79

über die großartige Architektonik unsres Gedichts; über den Klang seiner Verse, die vom feierlichen Hall der Orgel bis zum Harfenton zarter Lyrik alle Register erklingen lassen; von dem Bau der Terzine, die durch das kettengliederartige Ineinandergreifen ihrer Reimzeilen epischen Fluß mit epigrammatischer Geschlossenheit der Einzelglieder verbindet — der Kern des Wesens bleibt unberührt. Das Geheimnis der dichterischen Wirkung wird nicht enträtselt, ob man sich abmüht, einzelne „poetische Schönheiten" aufzuzeigen, die angewandten „Kunstmittel" zu entdecken oder die Wirkung von Rhythmus und Reim, von Haupt- und Nebenzäsur, von Häufung und Wechsel dieser oder jener Vokale und Konsonanten in ein System zu bringen. Die durch solche Zergliederung den Reiz zu erklären suchen, den der Farbenteppich einer Dichtung auf das Auge übt, sind nicht allein keine Weber geworden, sie sind 'in Gefahr, das Gewebe aufzulösen und nur die losen Fäden in der Hand zu behalten. Es würde auch bestenfalls nur ein blasses Schattenbild von dem plastischen Gebilde des Dichters geben, wollte man versuchen, dessen Einzelheiten nachzuzeichnen, den Plan der Hölle, des Fegfeuers und des Paradieses, den Aufbau der drei Reiche, die Gestalt ihrer Ringe, ihre Insassen und deren Wächter, die Erlebnisse und Begegnungen auf der ganzen Wanderung, alle die fesselnden Bilder, die auf dieser Pilgerfahrt durch das Jenseits vor dem Leser, der ihr folgt, vorüberziehen. Wen nach solcher Übersicht verlangt, der sei auf die Erläuterungen zur Commedia verwiesen, wie sie zahlreichen der italienischen und deutschen Ausgaben des Gedichtes — auch der Übertragung des Verfassers — beigegeben sind und deshalb hier nicht wiederholt werden sollen. Ein besserer Rat aber lautet: tolle, legel Nimm und lies! Jeder, der für den Zauber hoher Poesie empfänglich ist, wird bei dem Klange die180

9er Verse leibhaft vor Augen sehen und miterleben, was dem Dichter in seinen Visionen offenbart worden ist, wird an seiner Hand, nachdem die Schauer der Verdammnis ihn im Innersten erschütterten, zu den Höhen ewiger Wahrheit sich erheben.

Ausklang Wie lange Dantes Aufenthalt in Verona gewährt, wann und aus welchem Grunde er nach Ravenna übergesiedelt ist, läßt sich nicht feststellen. Wir wissen nur, daß er in der Stadt an der Adria für die letzten Jahre seines Lebens Zuflucht gefunden hat und daß er dort: A m Strande, wo der Po verrinnt im Meere, Mit seinen Folgern Frieden da zu finden,

in der Stadt des Schweigens, die über ihren großen Erinnerungen aus römischer, gotischer und byzantinischer Zeit in Traum versunken scheint, selber zum ewigen Frieden eingegangen ist. Auch darüber besteht kein Zweifel, daß er Verona und die Beziehungen zu Gangrande della Scala nicht aufgegeben hat. Nach einer Angabe, die, wie wir sehen werden, wahrscheinlich aus seiner eigenen Feder geflossen ist, hat er sich dort noch neun Monate vor seinem Ende sehen und hören lassen. In Ravenna aber war er, soweit dies dem Heimatlosen, dem landflüchtigen Wanderer möglich, heimisch geworden. Dort hatten sich seine Söhne Pietro und Jacopo zu ihm gesellt, nachdem sie ihm schon etwa zwei Jahre zuvor in die Verbannung hatten folgen müssen. Auch seine Tochter Antonia fand sich bei ihm ein, um als Ordensschwester, wie schon erwähnt, unter dem durch die Dichtung ihres Vaters geweihten Namen Beatrice dort in das Kloster San Stefano degli Olivi einzutreten. 181

In dem Gebieter der Stadt, Guido Novello di Polenta, hat Dante abermals einen wohlwollenden Schutzherrn und einen verständnisvollen Mäzen gefunden. Er galt als Freund der Musen. Unter seiner Schirmherrschaft hatte sich in Ravenna ein Kreis von Kennern und Liebhabern zusammengefunden, den man wohl als eine Art von Akademie bezeichnen darf. Es konnte nicht fehlen, daß Dante von ihren Mitgliedern in Anspruch genommen wurde. Sein Ruhm als Dichter war gegründet und in raschem Wachsen, seit nach und nach die Gesänge des Inferno und des Purgatorio, neuerdings wohl auch der Anfang des Paradiso bekannt geworden und durch Abschriften verbreitet waren. Alles, was sich für Wissenschaft und freie Künste erwärmte, wird sich um ihn gedrängt haben. Sicherlich hat er sich an mancher der jenerzeit so beliebten Disputationen beteiligt und wohl auch durch Vorlesung aus seinem Gedichte im Palaste des Polenta die Gäste fesseln müssen. Aber auch mit Aufträgen in Staatsangelegenheiten hat ihn der Beherrscher der Stadt bedacht. Noch kurz vor ssinem Ende war er als sein Gesandter in Venedig, um einen Streit wegen der Wegnahme venetianischer Schiffe beizulegen. Vor allem anderen muß die Vollendung der Göttlichen Komödie ihren Dichter in Anspruch genommen haben. Sie hat diese seine letzten Lebensjahre so gut wie vollständig ausgefüllt. Das stille Ravenna mit seinen ehrwürdigen "Erinnerungen war recht der Ort, für die Gestaltung der letzten und erhabensten Visionen von den höchsten Himmelskreisen, dem Reigen der Heiligen und der seligen Seelen Sammlung und Stimmung zu gewinnen. Wie zu Verona die Reste aus dem römischen Altertum, vor allem das gewaltige, zu seiner Zeit noch vollständiger als heute erhaltene Amphitheater, so mußte hier der wuchtige Bau von Theoderichs Grabmal, mußten die von Gold und Edelsteinfarben schimmernden 182

Mosaiken der alten Kirchen, Baptisterien und Grabmäler seine Phantasie entzünden. Etwas von der feierlich sakralen Haltung dieser Wunderwerke, nur ohne die Starrheit, die der Spätantike und dem Byzantinertum eigen ist, glaubt man in dem Kreisen der seligen Lichter im Himmel der Sonne, in dem Bilde der von einem Kranze dienender Engel umringten Mutter Gottes, in der Vision der Himmelsrose mit den in ihren weißen Kleidern strahlenden Seligen und den zu ihnen herabschwebenden Engelscharen wiederzufinden. Das Rauschen der Wipfel aber in der berühmten Pineta jenseits Sant' Apollinare in Classe klingt vernehmlich in den Versen, in denen Windesbrausen und Vogelsang in dem lebensprossenden heiligen Haine des irdischen Paradieses geschildert werden: Mit hellem Jubel grüßten Vögelein Des Morgens Hauch im Laubgezelt mit Singen, Und dessen. Rauschen klang als Grundbaß drein. Das war, als wie von Zweig zu Zweig das Klingen Im Pinienhaine schwillt an Chiassis Strand, Wenn Äolus dem Südwind löst die Schwingen. (Purg. XXVIII, i 6 f f )

Ein seltsames Zwischenspiel inmitten der Arbeit an dem poema sacro sind die beiden Eklogen, Hirtengedichte in lateinischen Hexametern, die dem Magister der Rhetorik Johannes de Virgilio in Bologna gewidmet sind. Dieser Lehrer der grammatica, der seinen Beinamen der begeisterten Verehrung für den Dichter der Aeneis verdankt, hatte dem berühmten Bruder in Apoll einen huldigenden Gruß in lateinischen Versen gesandt. Er bekundet ihm darin seine hohe Bewunderung, um sodann sein Befremden darüber auszudrücken, daß seine Dichtung die Volkssprache rede und damit auf die Teilnahme der gelehrten Welt verzichte. Allen Ernstes mahnt er ihn, seine Perlen nicht vor die Säue zu werfen, i83

seine Muse nicht in ein Gewand zu kleiden, das ihrer nicht würdig sei. Klassische Weisen möge sein Sang erklingen lassen, dann werde sein Ruhm alle Grenzen fiberfliegen, und er, der Schreiber selbst, wenn dessen würdig befunden, werde ihn, die Schläfen bekränzt, im Triumphe den jubelnden Verehrern zuführen. Dante antwortet in einem den Eklogen Vergils nachgebildeten bukolischen Gedicht, in dem er sich mit einem Gefährten, dem er den klassischen Hirtennamen Meliboeus beilegt, während er sich selbst Tityrus, den Empfänger Mopsus nennt, im Schatten einer Eiche inmitten ihrer Herden in vertrautem Gespräche darstellt. Mit freundlich leiser Ironie bespricht er, alles in Bilder des Hirtenlebens kleidend, mit depi Begleiter, hinter dessen bukolischer Maske man einen Bekannten aus Ravenna vermutet, das Ansinnen des bolognesischen Magisters. Der von ihm verheißene Kranz lockt ihn nicht. Am Arno, in der Heimatstadt wünscht er sich die Dichterkrönung — wir erinnern uns der Verse im Eingange zum XXV. Gesänge des Paradiso, in denen die leise Hoffnung auf solche Ehrung in dem Heiligtum, wo er seiner Zeit die Taufe empfangen, nach Sänftigung des Grolles seiner Mitbürger anklingt. Am Ende entschließt er sich, dem Mopsus zehn Krüge voll Milch von seinem Lieblingsschafe zu senden, was auf Mitteilung von zehn eben vollendeten Gesängen des Paradiso gedeutet worden ist. Mopsus, in heller Begeisterung, erwidert im gleichen Tone und wiederholt seine Einladung, indem er dem Dichter der Ekloge verheißt, nun werde er ein zweiter Vergil sein. Auch Tityrus spinnt den Faden in einer zweiten Ekloge fort: er läßt sich von den Seinen bitten, sie nicht zu verlassen. Mit dieser Antwort bricht das Versspiel ab. Man fragt sich, was den Dichter der göttlichen Komödie bewogen haben' mag, auf die naive Anzapfung des 184

Schulmeisterleins sich einzulassen. Reizte es ihn zu beweisen, daß es nicht Unvermögen war, das ihn abgehalten hatte, sein Lied von Hölle, Fegfeuer und Paradies in klassisches Gewand zu kleiden? Den Beweis hat er geliefert. Auf der anderen Seite aber hat er, wenn es noch nötig war, vor Augen geführt, wie richtig ihn sein dichterischer Genius geleitet hat, wenn er die lateinischen Hexameter, in denen er die Commedia begonnen hatte, ins Feuer warf. Wenn eine Zuschreibung Recht behält, die sich nach langem Streite durchzusetzen scheint, so hat auch eine wissenschaftliche Arbeit Dante in den Tagen von Ravenna beschäftigt. Es ist die Quaestio de aqua et terra, eine Abhandlung über die Höhenlage von Land und Meer. Die Schrift wurde erst zweihundert Jahre nach Dantes Tode entdeckt, und ihre Echtheit begegnete schon deshalb, weil sie so völlig in Vergessenheit geraten konnte, ernsten Zweifeln. Der Stil aber und die Art der Beweisführung lassen trotzdem auf Dantes Verfasserschaft schließen. Die lateinisch abgefaßte Abhandlung gibt sich als Niederschrift eines Vortrags, den Dante im Januar des Jahres i320 in der Helenenkapelle zu Verona vor einer zahlreichen Zuhörerschaft gehalten und den er schriftlich niedergelegt habe, um Entstellungen durch Neider zu verhüten. Die Schrift setzt sich mit der seinerzeit vielumstrittenen Frage auseinander, ob das Meer auf der Höhe seiner Rundung das Land überrage. Fünf Scheingründe, die zu Gunsten dieser Meinung angeführt werden und die teils auf dogmatische Sätze sich stützen wie den, daß dem vornehmeren Stoffe der höhere Platz gebühre, teils auf täuschenden Augenschein, wie die Wahrnehmung, daß auf hohem Meere das Ufer hinter der Kimmung verschwindet, werden mit philosophischen, astronomischen und mathematischen Beweisen widerlegt, wobei der Scharfsinn der Schlußfolgerungen

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und die Genauigkeit der Naturbeobachtung auffällt. Zum Schlüsse warnt die Weisheit des Vortragenden, an ein Wort des Aristoteles anknüpfend und unter Berufung auf die heilige Schrift, vor der vermessenen Torheit, nach Dingen zu forschen, die über menschliches Begriffsvermögen gehen. „Möchten doch die Menschen aufhören", r u f t er, „nach dem zu fragen, was ihnen zu hoch ist, und sich begnügen mit dem, was sie erfassen können, um das Ewige und Göttliche zu begreifen!" Gegen Ausgang des Sommers i 3 a i war Dante a b Gesandter Guidos da Polenta in Venedig, um den bereits erwähnten Handel wegen gekaperter Schiffe beizulegen. Der Rückweg führte ihn durch das von zahllosen Flußarmen durchschnittene, auf weite Strecken versumpfte Podelta, das, namentlich um diese Jahreszeit, schwer vom Fieber heimgesucht wurde. Beliebter Rastplatz auf dieser Strecke war die altberühmte Abtei von Maria Pomposa am Po di Volarno, die später der verheerenden Seuche wegen aufgegeben wurde und noch heute verlassen auf dem öden Plane liegt. Es ist zu vermuten, daß auch Dante dort auf seinem Heimritt gerastet hat und von dem Übel befallen worden ist. In Ravenna angekommen, erkrankte er am Tertianfieber. Die Krankheit nahm raschen, tödlichen Verlauf. In der Nacht vom i3. zum i4. September ist Dante hinübergegangen in jene Welt, in der er kraft der ihm erschienenen Gesichte schon in diesem Leben heimisch geworden war. So endete sein Leben zugleich mit der Vollendung seines Lebenswerkes. Es ist, als hätte ihn die Vorsehung aus diesem Dasein, das eine Kette schwerer Leiden gewesen ist, in dem Augenblicke abberufen, als das Werk, das zu schaffen sie ihn in die Welt gesendet hatte, zur Reife gediehen war. Daß er erst kurz vor seinem Ende die letzte Hand an den Schluß des Paradiso gelegt hat, lehrt eine von Boccaccio überlieferte Erzählung. Nach 186

Dantes Tode, so 'hat ihm einer seiner Verehrer aus Ravenna berichtet, sei unter den Unterlassenen Schriften lange Zeit vergeblich nach den dreizehn letzten Gesängen des Gedichtes gesucht worden. Da sei seinem Sohne Jacopo eines Nachts der Vater im Traume erschienen und habe ihm in seiner Schlafkammer a n der Wand eine Stelle gezeigt mit den Worten, dort liege das Gesuchte. Tatsächlich sei an der bezeichneten Stelle ein geheimes Fach in der Mauer entdeckt worden und darin die Handschrift der vermißten Gesänge, bereits in Gefahr, von der Feuchtigkeit des Mauerwerks angegriffen zu werden. Wieviel an der Erzählung Tatsache ist, bleibe dahingestellt. Auf jeden Fall beweist ihr Entstehen, daß der Verstorbene diese letzten Gesänge seines Gedichtes bei seinem Tode noch nicht aus der Hand gegeben hatte. Seine letzten, erhabensten Gedichte hat er uns erst aus jener Welt jenseits des Grabes offenbart. In der Kirche San Piero Maggiore, heute San Francisco, dem Heiligen geweiht, dem er sein Leben lang in inniger Verehrung ergeben war, wurden Dantes sterbliche Reste beigesetzt. Aber der Heimatlose sollte noch im Tode keine Ruhe finden. Sein Sarg ist später in eine Kapelle überführt worden, die zur Seite jener Kirche stand. Im Laufe der Jahrhunderte ist sie noch mehrfach umgebaut worden, wobei der Sarkophag mehrmals seine Stelle wechseln mußte. Ob er wirklich noch Dantes Gebeine birgt, ist nicht ganz sicher. Ab er bei der Sechshundertjahrfeier seines Geburtstages im Jahre i865 geöffnet wurde, fand man ihn leer. Bald darauf wurde bei dem Abbruch einer Mauer des anstoßenden. Franziskanerklosters in deren Höhlung eine Lade mit einem Gerippe gefunden. Eine Inschrift aus dem Jahre 1677 bekundete, daß darin laut Befund des zur Revision berufenen Paters die Gebeine Dantes enthalten seien. Zugleich konnte festgestellt werden, daß die Wand 187

zwischen der Grabkapelle und dem Kloster durchbrochen worden war. Der Befund läßt darauf schließen, daß die Franziskaner Dantes Gebein beiseite gebracht Und verborgen haben, wahrscheinlich, um ihrer Heimatstadt die teure Reliquie zu erhalten. Zweimal drohte Gefahr, daß sie entführt werde: zuerst von Seiten der Verfolger, dann von Verehrern. Eis wurde schon erwähnt, daß gleich nach dem Tode des unerschrockenen Kämpfers wider die Verweltlichung des Kirchenregiments ein Verfahren vor "dem geistlichen Gericht betrieben wurde. Kam es zur Verurteilung, so war zu befürchten, daß noch die Leiche des Gerichteten dem Grabe entrissen und geschändet werden würde. Wenn diese Gefahr glücklich abgewendet werden konnte, so erwachte mit der Zeit in Florenz eine verspätete Sehnsucht nach dem größten seiner Söhne. Die Nachkommen seiner Mit« bürger trachteten, die Unbill, die ihm von jenen widerfahren, gut zu machen und dem Toten die Heimkehr zu bereiten, die dem Lebenden hartnäckig versagt worden war. Ravenna, stolz darauf, das Grab des Unsterblichen zu hüten, widersetzte sich der Überführung. Als aber Leo X., der Medicäer, den päpstlichen Stuhl bestiegen hatte, wandten sich seine Mitbürger an ihn mit der Bitte, ihrem Wunsche seine mächtige Unterstützung zu leihen. Eine Eingabe, die zu diesem Zwecke von der Florentiner Akademie an den Papst gerichtet wurde, trägt unter vielen anderen auch die Unterschrift Michelangelos, der das Erbieten hinzufügte, „dem göttlichen Dichter in unsrer Stadt ein Denkmal, wie sich's gebührt, an vornehmster Stelle zu setzen". Auch dieser Vorstoß hat, wie bekannt, nicht zum Ziele geführt. Aber es läßt sich begreifen, daß man damals in Ravenna besorgte, ein päpstlicher Machtspruch könne den Widerstand brechen. So hatten die Mönche wiederum Anlaß, auf sichere Verwahrung der ihrer Obhut anvertrauten Überreste Dantes 188

zu denken, wenn sie nicht etwa schon früher geborgen waren. Angesichts jener Erklärung Michelangelos möchte man bedauern, daß Ravenna in dem Streite Sieger geblieben ist. Wer wäre berufener gewesen, dem Sänger der Divina Commedia ein Denkmal zu setzen, als der Schöpfer der Mediceergräber, er, der in mehr als einer Hinsicht als Erbe seines Genius gelten kann? In Ravenna vor dem kioskartigen Tempelchen und drinnen vor dem Sarkophag mit der wohl ohne Grund dem Dichter selbst zugeschriebenen Grabschrift in gereimten lateinischen Hexametern, vor dem Relief Marco Lombardos, das, nichtssagend bei aller Trefflichkeit der plastischen Arbeit, statt des Dichters der göttlichen Komödie einen sorglichen Abschreiber darzustellen scheint; vollends vor dem akademisch leeren Marmorprunk über der leeren Gruft in Santa Croce zu Florenz ist man versucht, mit dem Schicksal zu hadern, das Michelangelos Plan vereitelt und damit Dante um ein seiner würdiges Grabmal gebracht hat. Die um seine Ruhestätte von Amtswegen gezogene „Zone des Schweigens" kann f ü r den Verlust nicht entschädigen.

Unsterblichkeit So manchen Tag habt Ihr mich unterwiesen, Wie sich der Mensch Unsterblichkeit gewinne... bekennt Dante, dankbaren Sinnes, im Inferno (XV, 84 f ) seinem alten Lehrer Brunetto Latini, der ihm verheißen hatte, wenn er nur seinem Sterne folge, könne er den Hafen des Ruhmes nicht verfehlen. Sein stolzes Selbstbewußtsein hat ihn nicht getrogen: mehr als sechshundert Jahre ruht Dante im Grabe und lebt noch heute. 189

Schon in jungen Jahren hat ihn der Strahl des Ruhmes gestreift. Seine frühen dichterischen Versuche bereits haben ihm Aufnahme in den Kreis junger Poeten erwirkt, die in Florenz den neuen süßen Stil pflegten. Wir lesen in der Yita nuova, daß er seine Verse „vielen zugesandt hat, die damals als Sänger der Minne gerühmt wurden" und daß er eine Anzahl von Antwortgedichten erhalten hat. Mehrere davon, darunter das Sonett Guido Cavalcantis sind uns überliefert. Mit ihm, mit Cino da Pistoja, den er in dem Buche über die Volkssprache neben Cavalcanti bei Erwähnung seiner Dichtungen seinen Freund nennt und der ihn, wie wir sahen, in einer poetisch behandelten Gewissensfrage zum Beichtvater erwählte, und mit manchem andern, der sich damals in Vers und Reim versuchte, hat er, nach dem Brauche der Zeit, den poetischen Briefwechsel auch später fortgesetzt. Aus den Sonetten des feinsinnigen Pistojesen spricht aufrichtige Verehrung, während Cecco d' Angiolieri, das enfant terrible auf dem toskanischen Parnass, auch Dante mit seinen Zynismen nicht verschont, so wenig wie sein Zechbruder Forese Donati in dem früher erwähnten Sonettenstreit und sein Namensvetter Dante da Majano, der ihm in seiner Antwort auf die in der Vita nuova erwähnten Verse ein mehr als drastisches Mittel zur Niederschlagung der, wie er ihm versichert, krankhaften Überreizung seiner Sinne anempfiehlt. Wer damals in Florenz an die Öffentlichkeit trat, hatte für Spott und Anzüglichkeiten nicht zu sorgen. Das galt, so lange Dante einer unter vielen war: je mehr von der göttlichen Komödie bekannt wurde, umso höher hob ihn sein Dichterruhm über die Mitbewerber um die Gunst der Musen hinaus. Schon bei Lebzeiten muß er, nach der ehrerbietigen Haltung des Johannes de Virgilio zu urteilen, einen ausnehmend hohen Rang 190

unter den Dichtern seiner Zeit eingenommen haben. Bald nach seinem Tode wird er dann durch ganz Italien als der Poet ohnegleichen gefeiert. Schon in den ersten Jahrzehnten entstand eine ganze Reihe von Kommentaren zur göttlichen Komödie, denen sich bis zum Ende des trecento immer neue anschlössen. Im Jahre 1876 hat Boccaccio im Auftrage der Commune von Florenz öffentliche Vorlesungen über das Gedicht gehalten, die allerdings um die Mitte des Inferno infolge tödlicher Erkrankung des Vortragenden abgebrochen wurden. Auch die folgenden Jahrhunderte haben sich, wie eine ganze Anzahl neuer Kommentare dartut, ausgiebig mit Dante und seinem Lebenswerk beschäftigt, wenn auch unter der Herrschaft des Humanismus sein Stern in etwa erblaßte. Wesen, Anschauungen und Formgefühl des mittelalterlichen Dichters waren allzuweit entfernt von den Zielen, zu denen die Renaissance leidenschaftlich hinstrebte. Schon in ihrem Vorläufer Petrarca zeigt sich dieser Gegensatz. Im Widerspruch zu seinem Zeitgenossen Boccaccio, der Dante in begeisterter Verehrung ergeben war, hat er, der Bahnbrecher f ü r ein neues Verhältnis zu der klassischen Sprache und Literatur, nicht mehr als pflichtschuldig kühle Hochachtung f ü r den Jenseitspilger, den Epiker des Volgare. Auch das Barock und vollends die Aufklärung standen ihrer geistigen Haltung nach Dante im Grunde fern. Mit dem Anbruch der Romantik aber leuchtete sein Licht in neuem, hellem Glänze auf. Nicht nur in seinem Heimatlande: in der ganzen Welt hob sich eine neue Welle der Dantebegeisterung und des Verständnisses f ü r Dante und ist, kaum unterbrochen durch die Strömung des Naturalismus, bis heute im Steigen. In allen Ländern, soweit sie vom Geiste des Abendlandes berührt sind, wird jetzt sein Name genannt, sein Werk gelesen, finden sich Verehrer seiner Muse, die um das Verständnis seines Geisteserbes

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ringen. Überall wächst das Schrifttum über ihn selbst, seine Dichtung und seine Schriften an. Die Erläuterungen zu seinen Werken, die textkritischen Arbeiten, die Untersuchungen über sein Leben, seine Ideen, sein Verhältnis zu den geistigen Strömungen der Mitwelt und Vorzeit füllen stattliche Büchereien. Seine Werke, vor allem die Commedia, sind in die meisten Kultursprachen übersetzt worden. Allein in Deutschland zählt man, die unvollständigen eingerechnet, mehr als hundert Übertragungen der göttlichen Komödie, und alljährlich mehrt sich ihre Zahl. Allerwärts schließen sich seine Verehrer zur Pflege seines Vermächtnisses zusammen. Deutschland und nächst Deutschland England wetteifern in dieser Pflege mit Dantes Heimatland. Dort, in Italien, hat die Danteverehrung ihr eigenes Gesicht. Wer durch Italiens Städte wandert, wird bei jedem Schritt an Dante erinnert. Kein namhafter Ort, der nicht eine Straße, einen Platz nach ihm benannt hätte; kein Gebäude, das sich irgendwelcher Beziehung zu ihm rühmen kann, wo nicht eine Inschrift seiner gedächte. Hundertfach grüßt uns auf Straßen und Plätzen sein Standbild. Wir bedauern, daß keines kongenialen Künstlers Hand am Werke gewesen ist, den großen Dichter zu ehren, und haben doch unsre Freude an der allgemeinen Verehrung, die sich auch in diesen Denkmälern ausspricht. Seinen Landsleuten ist der Schmied ihrer Muttersprache Symbol für die geistige Einheit ihrer politisch jahrhundertelang gespaltenen Nation. Dort ist Dante, in weil strengerem Sinne als bei uns etwa Goethe und Schiller, unerläßlicher Besitz allgemeiner Bildung. Er wird in den Schulen ausgiebig behandelt, und man hört von Handwerkern und Bauernfrauen, die ganze Gesänge seines großen Gedichtes auswendig wissen sollen. Im öffentlichen Leben wird sein großer Name gern als Kennwort für nationale Bestrebungen gebraucht. Dabei 192

wird der Name, weil man nicht ängstlich fragt, was er mit dem Ziel der Vereinigung zu tun habe, manchmal wohl auch unnützlich geführt. Aber der Eifer, mit dem ein ganzes Volk das Andenken des größten Sohnes seines Stammes pflegt, hat etwas Ergreifendes und bezeugt die Macht, die er fortdauernd auf die Geister übt; selbst da, wo dieser Eifer unfruchtbar bleibt. Es ist nicht zu leugnen, daß dies in Italien wie anderwärts vorkommt. Man muß sich hüten, die Fülle dessen, was über Dante gedruckt wird, als Maßstab für das Verständnis des Dichters und Denkers zu nehmen. Nicht nur der eingangs erwähnte G. Papini hat bemerkt, daß nicht jeder, der über Dante geschrieben, seines Geistes einen Hauch verspürt hat. Grillparzer sagt in seiner Selbstbiographie von den Kommentatoren Shakespeares, sie hätten von Tieck bis Gervinus sich alle Mühe gegeben, den verständlichsten aller Dichter unverständlich zu machen. Auch über Dante und sein Werk ist vieles geschrieben worden, was die Lösung der Rätsel, die er aufgibt, noch erschwert, indem seine Worte nicht ausgelegt, sondern eigene oder fremde Gedanken ihnen unterlegt und so Sinn und Meinung entstellt werden. Allzuoft sind auch in der Sucht, Entdeckungen zu machen, Scharfsinn und Belesenheit zur Geltung zu bringen, Nebensächlichkeiten auf Kosten des Wesentlichen aufgebläht und Fragen aufgeworfen worden, wo es nichts zu fragen gibt. Aufs Ganze gesehen aber ist der Dantejünger und vor allem der Leser der göttlichen Komödie — an die überhaupt vornehmlich zu denken ist, wo Dante genannt wird, weil sie es ist, in der er wesentlich unter uns lebt — der Danteforschung wahrlich zu Dank verpflichtet. Ihre unermüdliche Arbeit hat, trotz der Spärlichkeit der zuverlässigen Nachrichten, viel Tatsächliches, was des Wissens wert ist, ans Licht gebracht, hat durch Aufdeckung der Beziehungen zwischen Dantes geistiger Hal13

Falkenhusen, Dante

tung und den Strömungen, die auf ihn Einfluß hatten, sein Gedankengebäude innerlich durchleuchtet, hat für manches Rätsel, wenn auch keine verbindliche Lösung — die könnte nur der Dichter selbst geben — so doch glaubhafte Deutung gefunden und so, im Laufe der Jahrhunderte, den Stoff für die Erlauterungen gesammelt, ohne die — leider I — sein Werk heutzutage nicht gelesen und verstanden werden kann. Und auch wo sie fehlgeht, zeigt das Ringen um die Erfassung Dantes wie das heiße Bemühen der Verehrer fremder Zunge, seine Dichtung mit größtmöglicher Treue nach Sinn, Form und Klang in die eigene Muttersprache zu übertragen, daß er lebt und wieviel er noch der heutigen Welt zu sagen hat. Daß Dante lebt und fortdauernd Leben weckt, dessen ist auch die bildende Kirnst eine beredte Zeugin. Von Anbeginn haben die Künstler sich gemüht, seine Gesichte im Bilde wiederzugeben. Schon die ältesten Handschriften der Commedia, die auf uns gekommen sind, zeigen Miniaturen, in denen Höhepunkte der Handlung; festgehalten werden. Da sehen wir, in Randleisten, Initialen und Vollbildern, das Höllentor mit seiner Inschrift, die Bedrohung durch die drei wilden Tiere und die Erscheinung Vergils zu Beginn des Inferno; die Begegnung mit Cato von Utica im Strahle des Viergestirns bei dem Eintritt in das Purgatorium; Beatrice als Leiterin zu den Himmelskreisen am Anfange des Paradiso. Selbst Metaphern illustriert die naive Treuherzigkeit der alten Miniatoren: den Tod, der auf den Wogen des Weltlebens droht (Inf. II, 107 f f ) , das Schifflein des Geistes, das in den Eingangsversen des Purgatorio zur Fahrt auf besseren Gewässern seine Segel spannt. Gegen Ende des trecento hat Bernardo di Cione, Orcagnas Bruder, auf seinem Fresko in der Strozzi-Kapelle von Santa Maria Novella zu Florenz die

Hölle mit ihren Strafen so genau nach den Angaben des Inferno dargestellt, wie es die Grenzen der Malerei und Poesie gestatten. Von den Meistern der Renaissance hat Signorelli in den Grisaillen unter seinem Fresko vom Antichrist im Dom zu Orvieto Szenen aus dem Purgatorio wiedergegeben, während Botticelli auf seinen bekannten Zeichnungen zur göttlichen Komödie die Pilgerfahrt durch Hölle, Fegfeuer und Paradies von Anfang bis zu Ende begleitet. Auf den Blättern, die Dante an Beatrices Hand zum ewigen Lichte emporschwebend zeigen, scheint zum erstenmale das Wort des Dichters wirklich Bild geworden zu sein. In großartigster und überzeugendster Form hat dies Wunder der Größte von allen vollbracht: Michelangelo in seinem Jüngsten Gericht. Vor der Gestalt des Minos, der zähnefletschend den Schlangenschweif um die Hüften schlingt; vor dem ruderschwingenden Charon mit den gleich glühender Kohle flammenden Augen; vor den Verdämmten in seinem Nachen, die sich in namenlosem Grauen und doch mit verzweifelter Hast an den, Strand der ewigen Pein stürzen, glauben wir die Verse zu hören, in denen das Drängen dieaer Unseligen geschildert wird, deren Furcht vor der Strafe Gottes Gerechtigkeit in das Begehren nach verdienter Sühne wandelt. Das ist Geist von Dantes Geiste! Dieser Höbe ist kein Späterer mehr nahe gekommen, so viele namhafte Künstler, von dem Manierismus Zuccaros bis zu den Nazarenern, den Praeraffaelliten und Expressionisten mit Dantes Gestalten gerungen haben. Aber noch in Delacroix' Dantebarke, in Anselm Feuerbachs Francesca mit Paolo lebt zwar nicht Dantes Geist, doch ein Geist, dessen Schaffenskraft sich an dem seinen entzündet hat. Und auch die anderen, in denen von diesem Geiste nichts zu spüren ist, und selbst diejenigen, die, wie manche der neuesten, Zerrbilder seiner Gesichte ig5

geben, sie legen noch Zeugnis ab von der Macht des Genius, der die Jahrhunderte hindurch die Geister in seinen Bann gezwungen hat. Wie die Gestalten seiner Dichtung, so hat die Kunst auch Dantes eigene Gestalt in Plastik, Malerei und Zeichnung festzuhalten getrachtet. Ob sie uns ein naturgetreues Abbild seiner körperlichen Erscheinung geschenkt hat, ist freilich eine vielumstrittene Frage. Eine allgemeine Vorstellung von seinem Äußeren gibt Boccaccio. Er schreibt, sein Wuchs sei von Mittelgröße gewesen, seine Haltung in vorgerückten Jahren leicht vornübergeneigt — wie er sich denn selbst im Purgatoriunk (XIX, 4a), wo er in tiefem Sinnen geht, mit einem halben (gotischen) Brückenbogen vergleicht — , sein Gang ruhig und würdevoll. Sein Antlitz beschreibt er als länglich, mit einer Adlernase, eher großem als kleinem Auge, kräftigen Kinnbacken und einer über die obere hervorragenden Unterlippe. Seine Gesichtsfarbe sei dunkel gewesen, Haar und Bart dicht, schwär? und kraus, der Ausdruck allezeit düster und nachdenklich. Von seiner dunklen Hautfarbe weiß auch die Anekdote zu erzählen: wenn er durch Veronas Gassen geschritten sei, berichtet Boccaccio, hätten die Frauen hinter seinem Rücken einander zugeraunt: Das ist er, der in der Hölle war; seht, wie ihr Feuer ihm die Wangen gebräunt hat. Die überraschende Angabe, daß Dante entgegen der Sitte seiner Zeit einen Bart getragen habe, scheint in einem Verse der Commedia (Purg. XXXI, 68) Bestätigung zu finden, wenn das dort gebrauchte Wort nicht etwa bildlich zu verstehen ist. Seine Bildnisse zeigen ihn durchweg bartlos. Aber die Frage ist eben, inwieweit sie sein Äußeres tatsächlich wiedergeben. Gerade diejenigen, auf denen unsre Vorstellung von seiner Erscheinung beruht, sollen nach verbreiteter Ansicht reine Phantasiegebilde sein. 196

Diese Auffassung glaubt neuerdings Professor Frassetto aus Bologna durch das Ergebnis einer Untersuchung von Dantes Gebeinen bestätigen zu können. Mit zwei Ausnahmen verwirft er sämtliche Bilder, die wir von Dante besitzen, weil sie den Maßen des Schädels nicht entsprechen. Als anatomisch genau läßt er — außer einer modernen Büste — lediglich den Profilkopf des Jünglings mit dem Fruchtzweige auf dem Paradiesesfresko in der Magdalenenkapelle des florentiner Bargello gelten, von dem Filippo Yillani schreibt, Meister Giotto habe dort sich selber nebst Dante „mit Hülfe von Spiegeln" abgebildet. Wäre das Bild tatsächlich, wie der Chronist offenbar sagen will, nach dem Leben gemalt, so wäre es das einzige aus seiner Lebenszeit, das auf unsre Tage gekommen ist. Zur Zeit der Ausmalung jener Kapelle aber, die erst nach dem Brande des Palastes i33a begonnen sein kann und, nach einer Inschrift auf deren Wand, nach dem i. Juli 1337 — also auch nach dem Tode des am 8. Januar 1337 verstorbenen Giotto, jedenfalls von Schülerhand — vollendet wurde, war der hier als Jüngling Dargestellte schon seit länger als einem Jahrzehnt, im Alter von 56 Jahren verschieden. Das Bild hat überdies, lange Jahre unter Tünche begraben und durch einen eingeschlagenen Nagel des Auges beraubt, schwer gelitten und ist durch unbeholfene Übermalung vollends entstellt. Als Zeugnis f ü r Dantes Aussehen ist es nach alledem von fragwürdigem Werte. Die jugendlichen, fast weiblich weichen Züge können jedenfalls nur von dem Sänger der Vita nuova einen Begriff geben. Die Auffassung von dem Dichter der göttlichen Komödie, die den hervorragendsten der späteren Bildnisse mehr oder weniger gemein ist, folgt denn auch nirgends diesem Vorbilde. Schon der Dantekopf auf dem Fresko Bernardos di Cione in der capella Strozzi *97

von Maria Novelia zu Florenz, wo er inbrünstig zum Himmel aufblickend unter den Seligen dargestellt ist, zeigt die strengen, leidge furchten Züge des gealterten Mannes, die uns vertraut und überzeugend sind. Sie können nicht wohl Ausgeburt künstlerischer Phantasie sein. Um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, als das Bild entstand, lebten noch zu viele, die den Dargestellten von Ansehn gekannt hatten. Wie hätte der Maler es wagen dürfen, ihnen ein Bildnis eigner Erfindimg zu bieten? Er mußte sich an ein naturgetreues Vorbild halten. Daß er das Bargellobild außer Betracht Heß, ist bezeichnend. Außer diesem aber ist nur noch ein einziges älteres Dantebildnis bezeugt. Es befand sich auf einem die Auferweckung eines Toten durch den heiligen Franz von Assisi darstellenden Fresko von Giottos Meisterschüler Taddeo Gaddi in der Franziakanerkirche Santa Croce zu Florenz, das bei einem Umbau der Kirche durch Vasari im sechzehnten Jahrhundert zerstört worden ist. Nur dies Bild kann Nado di Cione und nach ihm den Meistern der Renaissance —zu deren Lebzeiten es noch unbeschädigt war — zum Vorbilde gedient haben. Daß Lionardo Bruni es allein erwähnt, während er von dem Bargellobildnis schweigt, scheint darzutun, daß es zu seiner Zeit als maßgebliches Zeugnis für Dantes Erscheinung galt. Seine Angabe, daß es nach dem Leben gemalt sei, kann allerdings, da Taddeo Gaddi nur zwei Jahre vor Dantes Verbannung geboren ist, ebensowenig zutreffen wie die des Villani über das Bargellobild. Sie mag indes auf einer Überlieferung beruhen, derzufolge der Künstler nach einer Vorlage gearbeitet hat, die nach dem Leben aufgenommen war. Die Vermutung scheint nicht allzu gewagt, daß er von seinem Meister Giotto oder aus dessen^ Nachlaß eine Zeichnung erhalten hatte, die dieser von dem Verbannten in dessen späterem Lebensalter gefertigt 198

haben mag: vielleicht in Padua, wo er nach der Überlieferung mit ihm zusammengetroffen ist, als er dort die Scrovegni-Kapelle Madonna dell* Arena mit den berühmten Fresken schmückte. Auf diese Zeichnung Giottos würden dann die Bildnisse zurückgehen, die unsere Vorstellung von Dantes äußerer Erscheinung bestimmen. Wie dem auch sei: daß die eindrucksvollen Dantebilder, die seither von großen Künstlern geschaffen sind, jeder Lebenswahrheit entbehren sollen, will schlechterdings nicht einleuchten. Wie wenig die anatomische Genauigkeit, deren Mangel dem Professor Frassetto Grund genug dünkt, sie für Phantasiegebilde zu erklären, für die Lebenswahrheit eines Bildnisses bedeutet, lehrt die Erfahrung, daß die mathematisch genaue Photographie oft genug ganz „unähnlich" wirkt; lehren zahlreiche Meisterbildnisse, die, wie z. B. viele Köpfe des Greco, die Anatomie bewußt außer Acht lassen. Anatomisch genau oder nicht: Dantes Gestalt, wie sie Raffael auf seiner Disputa und seinem Parnaß hinstellt, hat ideelle Realität. Vor der herrlichen Broncebüste im Museum zu Neapel vollends möchte man schwören, daß diese ehernen Züge die des Commediadichters sind: so und nicht anders muß er geblickt haben, der Pilger durch die ewigen Reiche, so muß die unerhörte Spannung des Gedankens, muß die Dauer des Leidens ihm Stirn und Wange gestaltet haben 1 Was uns aus diesem Antlitz anblickt, ist, um mit Dantes eigenen, seinem Meister Vergil in den Mund gelegten Worten zu reden, die alma sdegnosa, die leidenschaftliche, hochfahrende, durch jedes wirkliche oder vermeintliche Unrecht zur Empörung gereizte Seele, die wir in allen Äußerungen seines Wesens kennen gelernt haben. Dante war keine harmonisch ausgegli*99

chene Natur. Die Abgründigkeit, die eruptive Heftigkeit seines Wesens hat einen Goethe — wohl in der Sorge, diese „abscheuliche Großheit" könne ihm die schwer errungene olympische Ruhe gefährden — bis ins spätere Alter so fern gehalten, daß er seinem, Famulus Eckermann das Studium dieses Dichters als sein Beichtvater durchaus verbot. In der Tat kann der Ausbruch dieser Leidenschaft den Leser der göttlichen Komödie oft genug erschrecken, wenn sich in den schonungslosen Verdammungsurteilen über ganze Städte und Länder die furchtbare Erbitterung über selbsterlittene und anderen widerfahrene Unbill entlädt. Die Vaterstadt Florenz bekommt immer neue, immer heftigere Schmähungen zu hören. Furchtbare Flüche fallen auf das Haupt von Pistoja, von Pisa, von Genua, Lucca, Bologna, Siena, Arezzo; das Casentin, die Romagna werden zu Stätten von Laster und Verbrechen gestempelt: sie sind Heimat von Gaunern, von Kupplern und eitlen Gecken, von feigen Kläffern, „wüsten Schweinen" und „Bastarden". Wo Dante in der Hölle den Verdammten — ausnahmsweise, wie wir sahen — sein Mitleid versagt, begegnet er ihnen mit einer bis zu Grausamkeit und Schadenfreude gesteigerten Härte. Jenen Filippo Argenti, den Vergil in den Schlamm des Styx zurückstößt, wünscht er auch noch untergetaucht zu sehen und freut sich der Hetzjagd, die seine Leidensgefährten auf ihn beginnen, läßt sich von seinem Meister für solche Gesinnung sogar beloben 1 (Inf. VIII, Ixi f f ) . Dem Verräter Bocca degli Abbati, der, im Eise des Cocytus eingefroren, von seinem Fuße, vielleicht nicht ohne Absicht, wie er zu verstehen gibt, am Kopfe getroffen war, reißt er, um ihn zur Nennung seines Namens zu zwingen, ein Büschel Haare nach dem anderen aus, bis der Elende vor Pein und Wut zu bellen anfängt (Inf. XXXII, 76 f f ) . 200

Aber diese zornmütige Härte ist mitnichten der Kern von Dantes Wesen. Derselbe unerbittliche Ankläger und Rächer, der selbst die Höllenpein der Verdammten so mitleidlos verschärfen kann, zeigt sich anderwärts von tiefinniger Liebe beseelt. Nicht allein in der Verehrung Beatrices ist sie bis zur Hingabe der ganzen Persönlichkeit gesteigert: das ganze Paradiso ist von himmlischer Liebe eingegeben und erfüllt. In dei Brust dieses Gewaltigen liegen die Gegensätze dicht beieinander. Wie sich in seinem Geiste messerscharf berechnender Verstand mit einer verwegenen, sctiwi ndelerregenden Phantasie paart, so vereinigen sich in seiner Seele Züge, die unvereinbar scheinen. Sein Geist ergreift das All, empfängt und gestaltet Gesichte von nie erhörter Großartigkeit — und erfaßt das Kleinste mit einer Genauigkeit, die man versucht wäre Pedanterie zu nennen, wenn sich nicht auch hier ein Zug von Größe verriete. Seine Muse, die uns vom mächtigen Hall der Orgel bis zum innigsten Gesang der Geige alle Töne der poetischen Skala vernehmen läßt, verschmäht es nicht, das Gesetz von den drei Winkeln im Dreieck und von der Reflexion des Lichtstrahls in Verso zu bringen. Dante bekennt, und wir dürfen's ihm angesichts so mancher unverhohlener Äußerungen höchsten Selbstbewußtseins aufs Wort glauben, daß seine Hauptsünden Stolz und Hochmut seien — und ist ein aufrichtiger Jünger des demütigen Bräutigams der Armut, Franz von Assisi, ein Bußfertiger, der sich bis zur Selbstentäußerung vor der niederschmetternden Anklage seiner Herrin Beatrice demütigt. Er singt ihr die zartesten Lieder übersinnlicher Minne, und in seinen Steinkanzonen tobt sich eine wilde, in Rachsucht umschlagende Liebeswut aus. Er versäumt keine Gelegenheit, seiner Vaterstadt das Ärgste nachzusagen — und preist sie doch als die „herrlichste und ruhmvollste

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Tochter Romas", wünscht nichts sehnlicher als Heimkehr zu der „holden Hürde, da er als Lamm gelegen", und klagt, das Unheil, das ihr drohe, werde ihn, je mehi er gealtert, umso schwerer treffen. Er verachtet alles vergängliche Gut, alle irdischen Werte, sieht alles im Lichte der Ewigkeit, — und klagt doch bitter über sein Geschick, über die „unselige Armut", nährt nach allen Enttäuschungen bis zuletzt die Hoffnung, daß ihm das Schicksal noch in dieser Welt Genugtuung leisten werde. Unausgesetzt ringt in dieser großen Seele ein unbedingter Wille zum Guten mit einer unbändigen, dunklen Leidenschaft. Eben in diesem Ringen, leidend und siegend, wächst er zu seiner ganzen Größe empor. So steht Dante vor unsrem Auge: eine tragische Gestalt, wenn man das vielmißbrauchte Wort in seiner ganzen Schwere faßt; tragisch in dem Kampfe mit sich selbst, tragisch in dem hoffnungslosen Ringen gegen ein grausames Geschick, und für eine Idee, für deren Verwirklichung in dieser Welt kein Raum war. Die Frucht seiner Kämpfe aber wird der Nachwelt, wird uns zuteil. Kraft solchen Erlebens als Pilger durch Hölle und Fegfeuer zum Paradiese ist er ein Führer zu den höchsten Höhen der Menschheit geworden, ein Künder göttlicher Wahrheit und ein Zeuge für die heilige Gewalt, die Menschenwort im Munde eines Dichters zu üben vermag. Die Dichterkrönung, die er bis ans Ende in seiner Heimat für sich erhoffte, ist ihm versagt geblieben; einen volleren, unverwelklichen Kranz hat dem Verewigten die Menschheit ums Haupt gewunden.

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