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German Pages 241 [256] Year 1960
NETTESHEIM, CHRISTOPH BERNHARD SCHLÜTER
QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR SPRACH- U N D KULTURGESCHICHTE DER GERMANISCHEN VÖLKER
BEGRÜNDET VON BERNHARD TEN BRINK UND WILHELM SCHERER
NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON HERMANN KUNISCH 5 (129)
JOSEFINE NETTESHEIM CHRISTOPH BERNHARD SCHLÜTER
WALTER DE GRUYTER & CO., BERLIN Vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — K a r l J . T r ü b n e r — V e i t & C o m p . 1960
CHRISTOPH BERNHARD
SCHLÜTER
EINE G E S T A L T DES D E U T S C H E N BIEDERMEIER
dargestellt mit einem Anhang
unter Benutzung
neuer
bisher unveröffentlichter
Quellen Briefe von
Schlüter
von JOSEFINE NETTESHEIM
W A L T E R DE G R U Y T E R & CO., BERLIN vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. 1960
Archiv-Nr. 43 30 60/5 © Printed in Germany. — Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, auch auszugsweise vorbehalten. Satz und D r u c k : Berliner Buchdruckerei Union G m b H . , Berlin S W 61
Schlüter u n d seine N i c h t e
Lieschen
VORWORT A m 1. J u l i 1852 diktiert der 51jährige blinde Philosophieprofessor, Literat und Dichter Christoph Bernhard Schlüter in Münster zu seinem Brief an den westfälischen Freund in Berlin, den Dichter und Historiker W i l h e l m J u n k m a n n , nicht ohne Ironie, ein prophetisches W o r t , das beider Schicksal in der Beurteilung durch die Geistesgeschichte v o r w e g n i m m t : „Deine historische und meine philosophische Eminenz sitzen nun g a n z schwagermäßig auf dem Kutschbock des gnädigen Fräuleins (Annette von Droste-Hülshoff) oder stehen doch hinten auf und werden nolens volens mit ihr in die Nachwelt und zur sogenannten Unsterblichkeit fahren" 1 ). Die Eigenständigkeit der Gestalt Schlüters im kulturellen Bereich des 19. Jahrhunderts (zwischen 1820—1884) ist tatsächlich bis heute von der Forschung noch nicht entsprechend herausgestellt und gewertet worden, obwohl schon 1935 eine Veröffentlichung im Rahmen der Görresgesellschaft meines Lehrers Adolf Dyroff und seines Schülers W i l h e l m Höhnen diese Forderung erhoben hatte 2 ). Allerdings w a r hier nur von dem Philosophen Schlüter die Rede, keineswegs aber von der Gesamterscheinung dieses homo universalis, der von höchster Stelle das „lumen caecum" seiner Zeit genannt wurde 3 ). Es würde zu weit führen, hier auf die mannigfachen Gründe für die fernere Vernachlässigung einer so ausgeprägten, bedeutsamen Gestalt im geistigen Leben des 19. Jahrhunderts näher einzugehen; nur auf die eine mehr äußerliche Tatsache soll hingewiesen sein, daß die unverantwortliche Zerstreuung des von Schlüter selbst so wohlgeordneten Nachlasses eine der größten Schwierigkeiten bedeutet; diese geht sogar so weit, wie ich feststellen konnte, daß Briefe Schlüters von besonderem W e r t , auseinandergerissen, zum einen Teil hier, zum anderen dort sich befinden und sogar in Unkenntnis dieser Sachlage als Fragment veröffentlicht wurden (von Höhnen) aus einem weniger zugänglichen privaten Nachlaß (SchlN J), ein Glück für den, der aus einem andern Teil des Nachlasses Gemeint war die Anm. des Verlegers Cotta zu dem anonymen Vorwort der Erstausgabe des Geistlichen Jahres der Droste 1851, in der die Anfangsbuchstaben der Herausgebernamen zum vollen Namen samt Titel der beiden Herausgeber Schlüter und Junkmann ohne deren Wissen ergänzt standen. 2 ) Dyr. Hohn., s. Lit. Verz. 3 ) Brf. Schl's a. Therese v. 30. Dez. 1868. Mit souveräner Geste ironisierend: in Scheidemachers „Nachteule des Materialismus" weise der Verfasser auf die Äußerung des Papstes hin; „Du siehst hieraus, daß ich im Bewußtsein des Papstes bin; erhöht das nicht Deinen Respekt vor mir?"
VI
Vorwort
(UBMüSchlN) die umfangreichere Fortsetzung der Briefe herausfinden konnte (vgl. die Briefe an Joh. Janssen und Abbé Sisson im Anhang, S. 193 f. u. S. 195 f.). So viel mir bekannt ist, verteilt sich heute der SchlN auf 4 Stellen: 1. das Archiv des Jeiler-Hauses der Franziskaner in Münster, aus dem D y r . H o h n , einige philosophische Briefe veröffentlichten und dessen philosophische Stücke a. a. O. ausgewertet wurden. Auch Susini (s. Lit. Verz.) stützt sich auf Stücke aus diesem Nachlaß (SchlN J), 2. das Archiv der Universitätsbibliothek in Münster (UB Mü SchlN), 3. die bei der Droste-Gesellschaft in Münster befindlichen vereinzelten Stücke (incl. der in H ä n d e n von Prof. Schulte-Kemminghausen befindlichen), 4. ein umfangreicher Briefnachlaß in H ä n d e n der Großnichte Schlüters, Fräulein Elisabeth Schlüter (geb. 1880) und einige bei den übrigen Familienangehörigen verstreute Briefe u. a.
Dieser letzte, etwa 461 Stücke umfassende Briefnachlaß (im Text des Buches ohne besondere Sign.), der von Therese Schlüter - Junkmann, der einzigen Schwester des Philosophen, wohl bei ihrer Übersiedlung von Breslau nach Paderborn nach dem Tode ihres Gatten 1886 zu ihrem Bruder Arnold und in dessen Familie kam, und zwar an seinen Sohn Richard und dessen Kinder, die heute noch lebenden Nachkommen, wurde mir dankenswerterweise von der Eigentümerin, Elisabeth Schlüter 4 ), zur wissenschaftlichen Auswertung bzw. zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. D a dieser Nachlaß die Briefe Schlüters an seine Schwester und an seinen Schwager Wilhelm Junkmann über 65 Lebensjahre hin enthält, war es möglich, aus den wertvollen autobiographischen Angaben in diesen Briefen ein Gesamtbild der Gestalt Schlüters (als Gestalt des Biedermeier) in einer Weise herauszustellen, wie es früher nicht möglich gewesen wäre. Durch Fräulein Elisabeth Schlüter, die auf Grund meiner von ihr und von der übrigen Familie geschätzten ersten Schlüter-Publikation „Schlüter und die Droste. Dokumente einer Freundschaft. Briefe von Christoph Bernhard Schlüter an und über Annette von Droste-Hülshoff", Regensberg 1956 (Originalbriefe Schlüters an die Droste aus dem SchN J) mir den ihr gehörenden Nachlaß übergab, bekam ich auch Einsicht in die von ihrer Nichte Marie-Theres Hövel f ü r die Familie zum pietätvollen Andenken an den Großonkel bestimmten, nach diesen Briefen vor Jahrzehnten angefertigten kleinen Lebensbildern (in dreifacher Ausfertigung), denen aber wegen der rein privaten, nach subjektiven Gesichtspunkten vorgenommenen Zusammensetzung der Briefstellen kein wissenschaftlicher Wert zukommt. Doch danke ich auch ihr f ü r die Übermittlung des lebendigen Erbes, das gewiß eine Anregung zu der mühevollen Arbeit bedeutete. Mein Dank gilt auch Frau Hövel selbst, geb. Luise Schlüter, 4 ) Leider erlebte sie die Veröffentlichung nicht mehr. Sie starb im Juli 1959. Die Nachricht erreichte mich erst im F r ü h j a h r 1960.
Vorwort
VII
Frau Helene Schlüter, W i t w e des Bruders Wilhelm, des Oberbergrats, des Herausgebers der wertvollen Familienchronik, die mir von ihr entgegenkommenderweise zur V e r f ü g u n g gestellt wurde, sowie ihrer Tochter, der G r a p h i k e r i n u n d Portrait-Malerin M a r i a Schlüter f ü r ihr teilnehmendes förderndes Interesse. Dankenswerterweise stellte mir zudem die Universitätsbibliothek ihren noch unveröffentlichten umfangreichen SchlN zur V e r f ü g u n g f ü r die geplante Arbeit. Mit großem Verständnis u n d Interesse ließen der Direktor D r . Bauhuis u n d der heute emeritierte Leiter der Handschriftenstelle, Erster Oberbibliotheksrat Goldschmidt, dem der Schlüter N besonders am H e r z e n lag, der Arbeit jede mögliche Förderung zuteil werden. Für die Beschaffung der oft außerordentlich schwer auffindbaren, weil verschollenen oder verlagerten Literatur danke ich vor allem H e r r n Bibliotheksrat G r ö v e r und F r a u Bibliotheksoberinspektorin H e y e r . Zu großem D a n k verpflichtet bin ich dem Leiter des Archivs f ü r genetische Philosophie (Schelling Archiv) in Zürich (Schweiz), H e r r n D r . W a l t e r Corti, der mir seine auserlesene Sammlung an zeitgenössischer Literatur (s. Lit. Verz.) bereitwillig zur V e r f ü g u n g stellte, und mir durch seine Belesenheit in der philosophischen Literatur des 19. J a h r h u n derts und sein aufgeschlossenes Interesse verbunden mit großzügiger Gastfreundschaft die Erarbeitung der philosophisch-geistigen W e l t Schlüters erleichterte. Einige ausgewertete Stücke aus dem SchN J v e r d a n k e ich dem Interesse des verstorbenen Droste-Forschers Cornelius Schröder (f 1954), dem die Schlüter-Forschung ein bedeutendes Anliegen w a r . — H e r r n U n i v . - P r o f . D r . Kunisch und allen, die durch ihr Interesse u n d ihren R a t midi bei der Arbeit ermutigt haben, sei mein D a n k ausgesprochen: H e r r n U n i v . - P r o f . D r . Sengle-Marburg, dem die Ausweitung der Biedermeierforschung ein besonderes Anliegen ist, den H e r r e n U n i v . - P r o f . D r . Z u h o r n , P r ä l a t U n i v . - P r o f . D r . D r . Schreiber, Landesarchivrat a. D. D r . Schulte (Ahlen), D r . H a s e n k a m p , dem 1. Vors. d. Droste-Gesellschaft-Münster, Botschaftsr a t Prof. H ö f e r - R o m , P. D r . Maxim. Rösle-Einsiedeln, P r o f . Bémol v. Inst. f. vgl. Literaturwissenschaft d. Saarl.-Saarbrücken, U n i v . - P r o f . D r . Braubach u n d U n i v . - P r o f . a. D . D r . André-Bonn. H e r r n P r o f . Braubach d a n k e ich den Einblick in einen Teil des von ihm gehüteten J u n k m a n n Nachlasses im Aloys Schulte-Nachlaß. Auch meinen hilfreichen jungen Freunden statte ich meinen herzlichen D a n k ab, besonders Alfons W e g m a n n , Christa Egen, Agnes Stöppler, Mechtilde Becker u n d Siegfried Hilke. Die Briefe, die hier nur ausgewertet oder noch nicht vollständig veröffentlicht werden konnten, werden in einer größeren Briefausgabe der Forschung zugänglich gemacht werden. Ferner ist eine Veröffentlichung
VIII
Vorwort
des Briefwechsels Schlüter-Hensel in Aussicht genommen und vorbereitet (aus UBMü SchlN). Die Niederschrift der von Schlüter an Menschen der verschiedensten Bildungsgrade diktierten Briefe machte eine Reihe von Korrekturen notwendig, vor allem bei den häufig völlig verschriebenen Eigennamen. Diese Korrekturen sind nicht eigens angegeben. Nur Ergänzungen von Wortteilen, Worten oder Satzteilen stehen in Klammer. Die Orthographie ist den heute gültigen Regeln angepaßt. Mit der Eigenständigkeit der Gestalt Schlüters schließt sich zugleich ihr Wesen als exemplarisch für das Biedermeier auf. Wem die Probleme der Biedermeierforschung ein Anliegen sind, wird in der Herausstellung der noch so gut wie unbekannten Gestalt Schlüters eine Bereicherung und Klärung dieser Forschung finden. Dankbar für jede Anregung (benutzte Literatur s. Lit. Verz.) stützt sich die vorliegende Darstellung auf die bereits gewonnenen Ergebnisse, ohne zu dem Problematischen im Einzelnen Stellung zu nehmen. Das Phänomen der Gestalt mag für sich sprechen.
INHALT VORWORT
V 1
DER GEISTIGE WERDEGANG S C H L Ü T E R S BIS 1832 Kindheit in Warendorf — Eltern — auf dem Paulinum — das Schlütersche Haus in Münster — Student in Göttingen — erste Liebe — Freund Wedekind —• religiöse Krise und Wandlung — Baader — das Schicksal des Erblindens — Dozent der Philosophie in Münster S C H L Ü T E R ALS P H I L O S O P H
14
Grundsätzliche Einstellung zur Philosophie — Methode — Hauptproblem der Zeit: Glauben und Wissen — Schlüter und Baader —• die Spinozaschrift — Beurteilung Baaders — der Baaderkreis — Sorgen um die Haltung Roms — Schlüter und Günther — Theologen um Günther — Kritik an Freund Günther — Passavant — Schlüters Piatonismus und die Neuscholastik — Stellung zu Kant — biedermeierliches Philosophieren — das Geheimnis der Bosheit in der Schöpfung — die Naturauffassung — christliche Naturphilosophie — Kleutgen —• Franz Brentano — realistische Ästhetik DER SCHLOTER-KREIS U N D DER „DROSTE-KREIS"
1832—1842
38
Wilhelm Junkmann, der Dichter — das adelige „Fräulein", Annette von Droste-Hülshoff, die Dichterin — Schlüter als anteilnehmender Freund und Berater beider — Luise von Bornstedt, die Berlinerin, im Schlüterkreis — Elise Rüdiger und ihr Kreis — Levin Schücking wird eingeführt — Assimilation des Schlüter- und des Rüdiger-DrosteKreises — „unser Klub", Schlüter die „Hauptfigur" — das intime Gespräch: Schlüter und die Droste — Baaders Einfluß auf die Dichtung der Droste über Schlüter: Judenbuche und Roßtäuscher — Auflösung der Kreise S C H L Ü T E R , P A T E R FAMILIAS Pietät — das Gemüt — die Gemütsphilosophie Troxlers — Loyalität — die inneren Kontakte in der patriarchalischen Gesellschaft — der
60
X
Inhalt Kult der Freundschaft — die Toten — Verhältnis zu den Dienstboten — das Sammeln und Hegen — der biedermeicrliche Alltag — Ordnungssinn — Feiern — Visiten — H ü t e n und Pflegen — Genuß und Schwermut — Familienidyll
D A S „ S C H L Ü T E R S C H E " H A U S ALS B I L D U N G S S T Ä T T E ,
SCHLÜ-
TER, DER LEHRER U N D ERZIEHER
69
Zeugnis der Verwandten und Freunde — „Unser H a u s . . . ein Gesundbrunnen" — Lebenskunst des Biedermeier — die Theorie
der
Lebenskunst
und
Schlüters
bei
Victor
Granella
(Tangermann)
Alexander Jung — die „Pest" des Dichtens? — Musikpflege als musische Erziehung — Hauskonzerte — Musiker im Schlüterhaus — der Komponist L ö w e
in Münster — Konzertbesuch — die „Cäcilien-
feste" — Kirchenkonzerte — die „Stunden", ein Volksbildungsversuch im Schlüterhaus — Explizieren der europäischen Klassiker — die sprachunterrichtliche Methode — Makariobiotik DIE RELIGIÖSE U N D K I R C H L I C H E H A L T U N G SCHLÜTERS . . . .
80
„das f r o m m e Schlüterchen" — Vielschichtigkeit im Religiösen Schlüters — der Gott Vater-Gedanke — Anpassungsfähigkeit im Religiösen — das Dogma als Leben — Glaubensinnigkeit und Denkgläubigkeit —• das Eschaton — der Wiederherstellungsglaube — Lebenskunst aus dem Religiösen — Meditation und Blindheit — lebendiges Christentum — Kritik an den Christen in der Kirche — re-instaurare — die Stellungnahme Roms zum Wissen der Zeit — die Infallibilitäts-Krise S C H L Ü T E R ALS D I C H T E R U N D N A C H D I C H T E R Sonettenkranz
„Welt und Glauben" (1844): „Zorn und
„ O f f e n b a r u n g und Kirche", „Glauben und G n a d e " ; Palme"
91
(1847—1860
entstanden)
—
Zuflucht",
„Schwert
Pflege der Sprache und
und der
Sprachen — A. B. Limberg über die Sprache — die Übersetzertätigkeit — „prodesse et delectare" — gemeinschaftliches Übersetzen — Wiedererweckung der Renaissance- und Barockdichtung der Romanen — Flaminius, Angelinus Gazäus — N a t u r , Einfalt, W a h r h e i t in der Dichtung — Schlüters ästhetische Theorie — „Neuer
Blumenkranz
religiöser Poesien" — Louis de Leon — Jacopone da T o d i — J a k o b Balde — Camoens — Übersetzungen aus der englischen
Romantik
und N a c h r o m a n t i k : A. Anne Procter, Fr. Will. Faber, Fei. Hemans, M. Mulock-Craik — Faber als christlicher Dichter — Eliz. Barret Browning
Inhalt
XI
S C H L Ü T E R ALS HERAUSGEBER V O N BRIEFEN, TAGEBÜCHERN, GEDICHTEN DREIER BEDEUTENDER F R A U E N : 108
DROSTE — GALLITZIN — HENSEL Schwierigkeiten bei der Herausgabe des „Geistlichen Jahres" — die Entzifferung durch Junkmann und Braun —• Schlüters Anteil an der Textgestaltung — Heranziehung Schückings bei der Ausgabe
der
Werke der Droste und des Geistlichen Jahres — Verwicklungen? — Gustav Eschmanns Kritik — seine Revision des Textes — eine DrosteBiographie und Schlüters Anteil daran — die 1. und 2. Auflage des „Geistlichen Jahres" — Herausgabe der Briefe der Droste an ihn selbst — die Beurteilung in der Presse — ein Denkmal für die Droste in Münster — die 2. Aufl. der Briefe — Claasens „Denkmal" — Kreitens „Lebensbild" — Förderer des Nachruhms der Dichterin — Freiin v. Brackel und Thekla Schneider über die Droste — die Arbeiten der Freiin Elisabeth von Droste — Kreitens Mitarbeit
— Hermann
Hüffers Droste-Biographie und Schlüter und Junkmann — Interesse Schlüters an den Nachlassenschaften der Fürstin Amalie von GaHitzin — Caroline Lombards Zuwendungen aus dem Nachlaß — Besuch in Angelmodde — Kitzings Zuwendungen — Briefe und Tagebücher werden gelesen und abgeschrieben — der 1. Band der Briefe und Tagebücher in der literarischen Kritik — die v. Druffels und der Gallitzin-Nachlaß — das 2. und 3. Bändchen der Briefe der Fürstin an Hemsterhuys — das Vorwort zum Hemsterhuys — der moderne Charakter der Religiosität der Fürstin — Emile Grucker in Münster auf der Suche nach Gallitzin- und Hemsterhuys-Dokumenten — Josef Galland sucht Rat zu seinem Gallitzinbuch bei Schlüter — Schlüter und der Gallitzin-Salon — Luise Hensels „Lieder" — Hemmungen Luisens — gemeinsame Vorbereitung der Herausgabe der Gedichte — das Clemens Brentano-Problem — Luisens Dichtungen „klassisch" — Luisens Kritik der „Vorrede" — die Hensel und die Droste — die Herausgabe der Briefe Luisens an ihn selbst — Luisens Wesen
S C H L Ü T E R U N D DIE R O M A N T I K Spätromantik und Restauration — Novalis — Friedrich Schlegel — der alte Görres — sein Urteil über Baader und Günther — Familienleben der Görres — Brentano — Bettina von Arnim — Bettina und die Droste •— Jean Paul — Lamartine — Joseph de Maistre — de Bonald — Ozanam — Lacordaire — Montalembert
129
XII
Inhalt
SCHLÜTERS Z E I T K R I T I K U N D I H R E Ü B E R W I N D U N G
147
der Zeitgeist — Zeitpessimismus — Verflachung und Unruhe — Kampf gegen den Zeitgeist: Antimaterialistische Epigramme, Beiträge
zu
„Natur und Offenbarung" — Kampf dem Darwinismus — die politische Konstellation — Alban Stolz — Rosenthals „Konvertitenbilder" — Hagiographie: Ludwig Clarus — die Auflösung des Biedermeier — Flucht in das historische Detail — Tragik der Biedermeiergeistigkeit — der Nationalismus des Reichs — Mitarbeiter im christlichkatholischen
Raum — die Epiker des Nationalismus — Thekla
Schneider und Antonie Jüngst — Schlüter, eine tragische Gestalt? — der „religiöse Nimbus" um Schlüter — Schlüters Tod — Schlüter und Stifter A N H A N G , BRIEFE AUSZÜGE AUS D E N BRIEFEN CH. B. SCHLÜTERS U N D SEINER SCHWESTER THERESE A N DIE E L T E R N
159
BRIEFE SCHLÜTERS A N J U N K M A N N U N D THERESE SCHLÜTER—JUNKM A N N
164
SCHLÜTER A N AUGUSTE SCHLÜTER—CREMER
187
BRIEFE SCHLÜTERS A N FREUNDE
189
BRIEFE A N SCHLÜTER
202
GÖRRES ÜBER BAADER U N D G Ü N T H E R A N SCHLÜTER
204
E R L Ä U T E R U N G ZU D E N ABBILDUNGEN
207
SCHRIFTTUM
208
PERSONEN VERZEICHNIS
221
STAMMBAUM DER FAMILIE SCHLÜTER
Meiner Freundin PAULA WALTERSPIEL (München) zugeeignet
,Briefe gehören unter die wichtigsten die der einzelne Mensch hinterlassen
Denkmäler, kann" Goethe
D E R G E I S T I G E WERDEGANG SCHLÜTERS BIS
1832
In seiner Jean-Paulisch ironisierenden Art, bänkelsängerische Verse auf zu memorierende Lebensdaten zu fabrizieren, wie es im Biedermeier üblich ist, kennzeichnet Christoph, intim Stoffer genannt oder zärtlich Ophere, die landschaftliche Enge seiner Herkunft aus dem altehrwürdigen Kleinstädtchen Warendorf 1 ) in Westfalen: Nicht am berühmten S t r o m der Themse, Wo
K ö n i g e sie u n d K ö n i g i n n e n
Ging meine Kindheit auf —
salben,
sie s p r o ß t a m
falben
U n d sand'gen U f e r der bescheidenen Emse,
und sein um ein Jahr jüngerer Bruder Arnold, der spätere geheime Justizrat, sagte, wenn er nach seiner Geburtsheimat gefragt wurde: „Män nur ut Warendorf!" Nahe bei der Schmiede, „An den Zwölflampen", stand das Haus, in dem Christoph als zweiter Sohn des Richters Clemens August Schlüter am 27. März 1801 das Licht der Welt erblickte. Der Verlust von fünf Kindern lastete mit der Trauer der zarten Mutter auf der Kindheit der beiden Brüder, denen der ältere Bruder starb und von fünf Schwestern nur die vorletzte, Therese, am Leben blieb; sie war neun Jahre jünger als Christoph, und ihr gehörte lebenslänglich seine größte Liebe. Denn ein entscheidendes Unglück traf den Knaben im Alter von acht Jahren beim spielerischen Experimentieren mit Kalkmischungen; bei einer Explosion verletzten Kalk und Glassplitter seine beiden Augen so erheblich, daß die Gefahr völliger Erblindung bestand. Drei Monate lang mußte der temperamentvolle, intelligente Knabe im Dunkeln sitzen unter furchtbaren Schmerzen; die Untätigkeit und die Langeweile während dieser Zeit seien ihm fast unerträglicher gewesen als die Schmerzen, erzählt der um das 28. Lebensjahr fast völlig Erblindete seiner späteren Vorleserin Antonie Jüngst 2 ). Der ganze Körper des zarten, äußerst sensiblen Knaben ist affiziert, geschwächt — ein Wunder fast, daß er am Leben bleibt. In der Obhut der besorgten Mutter, Catharina, geb. Gräver, — die ihm bis ins 65. Lebensjahr treu zur Seite steht, findet er Trost und Kraft. Sie lebt, !) 1890: 5639 Einwohner. ) A n t o n i e J ü n g s t . E i n b l i n d e r D i c h t e r . M ü n s t e r 1 9 0 2 . V g l . auch S d i l ' s G e d i c h t in „ S c h w e r t u n d P a l m e " , 2 4 4 . D i e v ö l l i g e E r b l i n d u n g k a m erst n a c h d e n b e i d e n O p e r a t i o n e n 1 8 4 1 / 4 2 . V g l . die B r i e f e S . 1 5 9 — 1 6 3 . 2
1 Nettesheim, Schlüter
Der geistige Werdegang Schlüters bis 1832
2
wie die mit ihr innerlich verbundene Henriette von Hardenberg, die Tochter des Grafen Leopold zu Stolberg und Schwägerin des Novalis, die häufig in Münster ihr Gast ist, in unverwandelter „Empfindsamkeit" aus der Überfülle hingebenden Vertrauens auf den gütigen, besten Gott, den strengen Richter zugleich. In allen ihren Briefen an die Kinder, an Henriette, die sie als Klopstockverehrerin ausweisen, unterzeichnet sie aus dem Bewußtsein quietistischer Liebesfurcht als das „arme Mütterchen". „Gott helfe uns mild gütig und barmherzig, daß wir dankbar o Gott, f ü r so Vieles uns Vergönntes, redlich streben, fromm zu werden — " schreibt sie unter einen Brief Schlüters an den zukünftigen Schwager (1852). Annette von Drostes Gedicht „Morgengebet" (1837), eigens f ü r das von allen „geliebte Mütterchen" geschrieben, gibt wohl das zuverlässigste Bild der seltsamsten Frau, die ihre Kinder f ü r Klopstock, Novalis und Claudius begeistert und die angesehene Männer preisen wegen ihrer seltenen Art, Menschen einander näher zu bringen. Der Sohn Christoph pochte gern auf das spanische Blut, das sie ihm von ihrer Mutter, einer geborenen Crahea, vererbte, um seine Passion f ü r die spanische Poesie zu erklären 3 ). Von dem hochgebildeten Bruder der Mutter, dem Medikus Onkel Fritz (Gräver), wird manche Anregung auf den begabten Sohn ausgehen. H ä r t e r , k r ä f tiger, westfälisch, ist die N a t u r des Vaters Clemens August Schlüter, des gebürtigen Nordkircheners. Er ist weltoffen und tolerant, ein echter Humanist. Die rationalistische Bildung der Münsterschen Fürstenberg-Ära hatte ihn geformt, aber im Gegensatz zum Geist des damaligen Schulplans zeigt sich ein starker Zug zum Musischen bei ihm, der ihn ebenso wie die Gemeinsamkeit des Innig-Religiösen mit der gemütvollen Catharina Gräver seit 1798 zu seltener Harmonie verband. Als Richter ist Schlüters Vater wegen seiner unbeugsamen Gerechtigkeit und Milde gepriesen worden. Er pflegte Musik, Poesie und Geselligkeit. H o r a z und Vergil, Petrarca und Tasso — Schiller und Goethe hatte er nicht nur gelesen, studiert, sondern im Kopf! Autodidaktisch erweiterte er beständig seine Erkenntnisse in Physik, Chemie, Astronomie und Arzneiwissenschaft, um das Wissen der Zeit zu beherrschen. Sein klares Urteil in allen menschlichen Angelegenheiten war geschätzt (Familienchronik). In der Unruhe der Zeitverhältnisse mit Dienststellenwechsel findet er auch noch Zeit, mit der von ihm in Warendorf mitbegründeten Gesellschaft „Harmonie" ständig Kontakt zu halten. Die langersehnte Versetzung nach dem als „klein Weimar" berühmten Münster gibt ihm mehr Möglichkeiten, hoch geistige Geselligkeit und Freundschaft zu pflegen, ein humanes Weltbürgertum christlich-katholischer Prägung, vorbildhaft f ü r seine beiden Söhne.
3
) Aloys Schulte, Erinnerungen an Schlüter, s. Lit.-Verz.
Der geistige Werdegang Schlüters bis 1832
3
Dem schwere Sorge bereitenden Ältesten wird er in großzügiger Toleranz bis an sein Lebensende, 1861, als treuer Freund zur Seite stehen. Sein Tagebuch (SchlNJ) gibt davon Zeugnis. Die beiden Gatten tragen die vornehme patriarchalische Art der Stolbergs, der Overberg, Kellermann, Kistemaker, ihrer Freundin, der Gräfin Witwe Sophie von Stolberg, in die zerrissene und mehr und mehr sich aufspaltende Welt des 19. Jahrhunderts hinein; es wurde nicht anders, als die letzten Freunde jenes Kreises gestorben waren. Das, was man in Münster und darüber hinaus mit Hochachtung und Liebe als das Schlüter-Haus pries, ist hier am Schnittpunkt der Welten des beginnenden 19. Jahrhunderts entstanden und entwickelt schon den Geist des werdenden und sich entfaltenden Biedermeier: nicht mehr der „Salon", sondern das „Bürgerhaus" höherer Geisteskultur wird „Versammlungsort" f ü r die Stände: Biedermeier als Edelform in Reinkultur wird dargelebt. Den Grundstock f ü r die Geselligkeitskultur, deren Träger später der dichtende Philosoph wird, bildet die weitverzweigte, im Münsterschen Stadt- und Landkreis ansässige und teilweise nach Berlin, Frankfurt, München, Wien verstreute Verwandtschaft und Freundschaft: eine lebendige Grundzelle also, organisch, nicht mechanisch, lebendig, nidit organisiert, auch nicht abgesondert vom Gros der menschlichen Gesellschaft wie der „Salon", und nicht vom eros, sondern von agape beflügelt. Mit der Rückkehr des Vaters aus den Befreiungskriegen in seine Stellung als Oberlandesgerichtsrat nach Münster — die Mutter war mit den beiden Söhnen und der Tochter schon vorher in ihr elterliches H a u s Gräver nach Münster übergesiedelt — wurden die beiden Gymnasiasten des Paulinums f r ü h in die geistigen Kreise des Vaters hineingezogen. Am Gymnasium herrschte im großen und ganzen noch der gleiche Geist der Fürstenberg-Ära wie zu des Vaters Gymnasialzeit, der Christoph Schlüter zwar beeinflußt, aber nicht befriedigt. Sich auf sich selbst besinnend, berichtet er später: „Bei dem klassischen Gymnasialunterricht und dem Studium der kantischen Prolegomena und Kritik, zum Teil auch dem des Hermes, den man wohl den katholischen Kant nannte, nahm man durchgängig gegen das Gefühlsleben und die Phantasie eine feindliche Stellung ein. Nächst der Psychologie galt die Mathematik als das Hauptmittel der Geistesbildung; Phantasie und Gefühlsvermögen wurden zur Sinnlichkeit gezählt und den niederen Seelenkräften zugerechnet. Vor allem empfahl man zum Studium Lessing und Kant." Vor der Poesie, der Lyrik eines Matthison wurden die Schüler gewarnt. Schlüter wurde von seinem Ordinarius im Paulinum einmal über solcher Lektüre ertappt und zurechtgewiesen. „Bei Erklärung der Griechen und Römer, namentlich des Vergil in den Klassen, ward neben Heyne auch fleißig Voss zu Rate gezogen und trotz
l*
4
D e r geistige Werdegang Schlüters bis 1832
seiner schonungslosen Polemik mit besonderem W o h l g e f a l l e n benutzt, w e i l die Verstandesüberlegenheit auf seiner Seite zu sein schien. Seine große H e f t i g k e i t , mitunter sogar Grobheit w u r d e mit Lachen hingenommen, und vielleicht waren wir selbst geneigt, sein Attentat im Bunde mit Wolff gegen H e y n e , welches Herbst als einen literarischen Todschlag bezeichnete, zu entschuldigen. Klopstock und die Stolbergs, als Freunde der Griechen und Römer, und letztere als klassische Ubersetzer derselben, w u r d e n neben Voss noch anerkannt, sowie u m ihretwillen, merkwürdig genug, auch Ossian . . . Goethe aber w u r d e geachtet w e g e n seiner Iphigenie; viel ferner stand uns Schiller; Tieck galt als ein höchst unklassischer Phantast; Novalis als exzentrisch, als Mystiker und Schwärmer. Cl. Brentano aber w a r d kaum einmal genannt. D i e ganze romantische Schule galt uns nur als Verirrung und als ein unglückliches Überbein der schönen deutschen Literatur 4 )."
Schlüter bezeichnet sich als von dieser Ansicht „getränkt u n d bedeutend befangen", w e n n auch nicht „völlig einverstanden!" Das alles ist noch ganz so gehalten wie bei Fürstenberg, w e n n er einen Lehrstuhl f ü r „schöne Wissenschaften", d. h. f ü r Literaturwissenschaft, an seiner Universität nicht duldet, weil ein solcher nach seiner Ansicht „die Z a h l der Dichterlinge, Romanschreiber und dergleichen Bellestristereien, w o m i t der Welt nicht gedient sei", vermehre, ein Dichter aber „niemal v o n einem Lehrer der schönen Wissenschaft gebildet w o r d e n " . Er w a r selbst ein hochmütiger „Dichter" v o n Mußestunden. H i e r w a r eine empfindliche Lücke in der viel gerühmten J u g e n d bildung Fürstenbergs u n d seines Kreises, die auszufüllen Schlüter v o n A n f a n g an sich hingebend mühte. D e n n das Musische lag ihm v o n beiden Eltern her im Blut, u n d es w i r d so sehr Lebenselement wie das Religiöse, dieses bisweilen fast überdeckend u n d fließt auch in das Philosophieren ein — sein Platonisieren: sein Kollegvortrag w i r d o f t dichterisch, wie einer seiner Schüler, Volmer, erzählt. T r o t z seiner zarten Gesundheit u n d dem störenden Augenleiden absolviert Christoph das Gymnasium, wie er im „Lebenslauf" (UBMüSchlN) angibt, mit „der besten N u m m e r des Abiturientenzeugnisses, welches damals gegeben w a r d " (1819). Wie sein Vater bezieht er die als bedeutendste Universität geltende Hochschule zu Göttingen, Student der Philosophie u n d der Philologie. Schnell wächst er über die damals noch herrschende rationalistische A t m o s p h ä r e hinaus, ohne jedoch mit der R o m a n t i k in Berührung zu kommen (außer Novalis). Sein erstes Liebeserlebnis scheint ihn z u m Dichter gemacht zu haben. Christoph ritt damals von Göttingen aus häufig zwischen Münster, Melle und Osnabrück, um in den Familien seiner Freunde u n d Verwandten ( „ T a n t e Therese" [Kreuzhage-Oldenburg] in Melle u n d Broux in Osnabrück) mit seinem J u g e n d f r e u n d e Albert Kreuzhage, geb. 1797, dem späteren Philosophen u n d Universitätsrat in Göttingen, der damals *) V o r w o r t zu Luise Hensels Briefen, V I (s. Lit.-Verz.).
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J u r a studierte, schöne Stunden zu verleben 5 ). „ A u f dem W e g e " zwischen Göttingen und Melle im Oldenburgischen lag Bissendorf, w o er phine
Lindsmann,
nach seinen poetischen Schilderungen
Adol-
(UBMüSchlN)
eine feine, gütige Seele, kennen und lieben lernte — und, wenn m a n seinen Versen Glauben schenken d a r f , erweckte sie in dem v o m Schicksal h a r t bedrängten Jüngling Hoffnungen auf eine dauernde Lebensgemeinschaft. Zwischen Glück und Schwermut w u r d e sein Inneres hin- und hergerissen: „ A m M o r g e n im G a r t e n zu Bissendorf", ein Idyll der Liebe, die Kanzonen
„Es
glänzt
ein
Stern . . . "
und
„"Wenn
einst
die
letzte
Freude . . . " ( U B M ü S c h l N ) sind außer dem erwähnten Gedicht D o k u mente seiner leidenschaftlichen Erschütterung. E i n uns erhaltener Brief an seine Mutter, der er über die wohl entscheidende Aussprache verschleiernd und diskret als seiner V e r t r a u t e n Bericht gibt, zeigt besser noch als die lyrischen Ergüsse des Studenten, wie einschneidend die Episode für sein Leben wurde. G a n z klar sieht m a n die Verhältnisse nicht; denn schon a m 15. Sept. 1 8 1 8 h a t t e sie ihm ins A l b u m geschrieben: „Holde Vergessenheit! und du, des Guten Erinnerung, macht beide das Leben ihm süß." Diese Worte begleite ich mit dem aufrichtigen Gefühl. Adolphine Lindemann (UBMüSchlN) D e r Brief aber kann, den angegebenen U m s t ä n d e n nach, vielleicht erst mit 1 8 2 2 datiert werden. E r lautet: Melle, Sonntag, den 6ten 182(2?) Geliebte Mutter! Zur Entschuldigung, warum ich nicht am Sonntag geschrieben, wird es genug sein, wenn ich sage, daß an diesem Tage die sämtliche Lindemannsche Familie hier war. Wie es mir ging und was darauf erfolgte, wirst Du sdion ungefähr von selbst denken können. Doch ich finde eine Art von Trost und Beruhigung darin, Dir die Hauptsache davon mitzuteilen. Mit welcher Spannung ich die Stunde erwartete, wo das Bild, das sich mir das ganze J a h r so viele tausend Mal (vor) Augen stellte und oft eine stille Wehmut, sehr oft ein heftiges Sehnen in mir erweckte, wo dieses geliebte Bild auch einmal in Wirklichkeit sich mir vor Augen stellen sollte, mit welchem Herzklopfen ich den Wagen anrollen hörte, das magst Du Dir selbst beschreiben. Ich konnte wegen heftiger Bewegung nicht gleidi den Fremden und ihr entgegengehen. Nachher, nach einer Viertelstunde, ging ich, ein Herz fassend, und fand sie am Klavier sitzen. Mit bebender Stimme und zitternden Knien hieß ich sie willkommen; gottlob, daß wir allein waren. Sie schien auch gerührt und empfing mich sehr hold und warm und redete mit herzlicher Teilnahme von meinen Augen. Ein paar selige Minuten war idi bei ihr; ich wagte es aber nicht länger, meine Seele dem heftigen Sturm der 5
) Vgl. Briefe an Kreuzhage, S. 189—192.
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Der geistige Werdegang Schlüters bis 1832
Gefühle, der mir am Ende schrecklich wurde, auszusetzen, und ging ins andere Zimmer, die Eltern zu bewillkommnen, die mir sehr freundlich waren, und, wie es mir schien und es sich nachher bestätigte, wußten, daß ich mich sehr für ihre Tochter interessierte. Bei Tische tranken Herr Lindemann und Oldenburg (Onkel Oldenburg, der Stiefvater von Albert Kreuzhage) auf die Gesundheit ihrer zukünftigen Herrn Söhne, wobei ersterer mich sehr scharf und dann lächelnd ansah. Es folgte ein Gelächter, und ich war dumm genug, rot zu werden. Nach dem Essen ging Albert (Kreuzhage) mit ihr in unser Studierzimmer — und winkte mir. Ich folgte kurz nachher, und wir waren allein zusammen, und ich hatte noch einige helle Minuten. Was der Gegenstand unserer Unterredung war, schreib ich Dir lieber nicht. Den Nachmittag brachten (wir) auch mit Musik, die mich heute, da sie nah war, sehr angriff, sehr vergnügt zu, ich meine, die übrigen. Endlich kam auch auf mich in ihrer Nähe ein süßer Friede herab, und ich kon(nte) es über mich gewinnen, alles Gott anhe(im) zu stellen. So gerne ich es möchte, darf ich Dir meinen Schmerz beim Abschied nicht mehr beschreiben. Idi setzte mich ganz allein am Dunkeln auf unsre Stube, und dachte anfangs, weiß Gott, an was, suchte midi aber doch am Ende ruhig zu machen. Den ganzen anderen Tag, der mir sehr bitter und hart, verbarg (?) ich mich, wie wenn man bei der Traurigkeit etwas ißt oder trinkt, war es mir doch, als hätte ich ein Fieber. Gern hätte ich, ach, wie gern, aufgelöst werden mögen. Jetzt hielt die arme, von Stürmen ermattete (Seele) nur noch die Hoffnung mit leiser Hand aufrecht. Den 15ten gehn Albert, Aber was wird dann —?
Arnold
und ich nach Osnabrück über Bissendorf.
O weh, andere folgen, daß ich einsehe, wie ungezähmt die Wünsche des Menschen sind, wie er nimmer zufrieden ist, und wie nötig es ihm ist, auch im (?) Glück sein Herz an ein höchstes Gut, an die Tugend zu heften, dann kann er nie unglücklich werden! — und daß ich mit mehr Interessen und häufiger als je im Thomas ä Kempis lese . . . Adieu, meine liebe Mutter, bis ungefähr über 14 Tage. Viele Grüße von allen an alle. Ich konnte den Brief nicht gut überlesen und so auch nicht korrigieren; Du wirst die Fehler nicht übelnehmen. Dein Dich innig liebender Sohn C. Schlüter Halte mich lieb." (In eigener Handschrift: UbMüSchlN) Trotz seiner Enttäuschung behält Christoph den H u m o r — und das ist einer der typischen Züge an ihm, daß er sein Leid gern hinter der Maske des Clowns versteckt. In Knittelversen, die an Alberts Schwester Sophie gerichtet
sind, schildert
er drastisch einen seiner Ritte
von
Melle nach Osnabrück über das leidbringende Bissendorf (UbMüSchlN) als ein
anderer
Sancho
Pansa,
„armer
Ritter"
von
der
traurigen
Gestalt. Das Erlebnis Lindemann
wird für ihn zum Petrarca-Traum
eines
Unvergänglichen. Davon spricht noch der 66jährige, als der Jugendfreund Joseph
Funke
mit der Übersendung seiner „Lindenlieder" die
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alten Erinnerungen wachruft, und dies gerade zu einer Zeit, als er selbst beim Herumstöbern in alten Manuskripten auf seine eigenen Lindengedichte kam. In Erinnerung auch an den Dichterbund der „Sieben Haimonskinder" in Münster, dem die Freunde vor 43 Jahren zusammen mit Benedikt Waldeck und Wilhelm Smets u. a. angehört hatten, schreibt er ihm: „Ich will Dir das Geheimnis nicht vorenthalten. Mit dem N a m e n des edlen, heiligen deutschen Baumes klingt nämlich ein N a m e an, der in meinen Jugendjahren f ü r mich von großer Bedeutung war, ähnlich, wie um Kleines mit Großem zusammenzustellen, einst dem Dichter Petrarca der N a m e seiner hochgefeierten Laura aus dem Worte lauro, der Lorbeer, lauretto, das Lorbeerwäldchen, l'aura, die Luft, das Wehen, selbst aus dem Worte l'aurora, die Morgenröte entgegenklang. U n d die Entdeckung dieses schönen Umstandes trug damals wohl dazu bei, mich zu veranlassen, in Sonetten und Kanzonen ähnliche Versuche zu machen, wie ich sie in dem italienischen Dichter fand, den ich damals fleißig studierte, und der midi ganz vorzüglich ansprach, teils, weil er bei aller Romantik mit den Klassikern viel Verwandtes hat, teils, und noch mehr aber, weil er die Liebe, wie sein großer Vorgänger D a n t e und später unsere deutschen Dichter, vor allem Klopstock, Salis und Schiller, auf so zarte und idealistische Weise behandelte. Ich füge als Beweis, wie sehr mir damals die Linde am Herzen lag, zwei Sonette zur Probe bei. Aber auch in späterer Zeit verlor f ü r mich die Linde dieses magische Interesse nicht, so d a ß alles, namentlich in meiner dichterischen Lektüre, worin sie vorkam oder ihr N a m e ausklang, unwillkürlich auf eine angenehme Weise sich mir hervorhob und einprägte. So verschlang sich denn vor und nach mit diesem N a m e n eine lange Reihe von poetischen Notizen und Reminiszenzen, welche mit einem Male bei der Lesung Deiner Lindengedichte klar und nebelhaft in mir erwachten, und unwillkürlich w a r d plötzlich der Wunsch in mir rege, Dir von der Bedeutung, welche die Lindenlieder f ü r mich hatten, einen Begriff zu geben, indem ich Dir, dem Gesagten gemäß, eine kleine subjektive Monographie der Linde mitteilte, die ich durch einiges Nachschlagen noch zu vervollständigen gesucht habe. N i m m meinen kleinen Aufsatz als Zeichen meines Dankes und meiner fortwährenden Liebe und Freundschaft zu Dir von Deinem alten Freunde" (UBMüSchlN) Leider ist dieser Aufsatz verschollen, so d a ß man nur auf diese und eine etwas spätere Mitteilung an seine Schwester (14. April 1867) angewiesen ist, um sich die Spiritualisierung und Symbolisierung im
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magisch-dichterischen Erlebnis, die so typisch ist für die Haltung des Biedermeier, bewußt zu machen. „Mir kommt es vor wie eine bedeutende Entdeckung, die ich gemacht habe", schreibt er Therese. In einer wohl von Schlüter selbst mit dem 21. August 1847 datierten Kanzone (UBMüSchlN): „Es glänzt ein Stern im stillen Tal der Linden spürt man stark die für das Biedermeier charakteristischen Anklänge an die Aussageweise der Renaissance, der Schlüter sich immer intensiver zuwendet. Mit einem Aufschrei endet das Klagegedicht über verlorenes Glück „ . . . rings ist es öde!", in Todessehnsucht, der allzu früh Dahingegangenen zu folgen in ein leidloses Jenseits. Ob sie jenen Maler Düberg, der ebenfalls in jugendlichem Alter starb, dem Studenten vorzog — Schlüter war wohl eifersüchtig, als er die Geliebte in einem Krippenbild als Madonna malte 6 ) — möchte man aus den diesbezüglichen Gedichten Schlüters annehmen (UBMüSchlN). Einen deutlichen Bezug auf die Episode gibt ein späteres Schreiben des Philosophen an seinen Göttinger Studienfreund Wedekind, dem sie wohl noch in Erinnerung war, als er den Blinden 1859, im Frühjahr, in Münster besuchte. Man tauscht sich aus durch Mitteilungen eigener Produktivität und Wedekind sendet ihm bald darauf zur Erinnerung sein Bild. Im Dankesbrief Schlüters findet sich die merkwürdige Anspielung auf einen geheimnisvoll magischen Bezug zwischen dem Freund und der Jugendliebe: Eduards Bild hängt an der gleichen Wand wie jenes zweite Andenken aus der nie vergessenen Zeit, das Madonnenbild des Malers Düberg, . . . Zufall oder geheime Magie? Absicht war es nicht gewesen! Eduard Wedekinds Tagebuch (siehe Lit.-Verz.) aus der Göttinger Studentenzeit verdanken wir einen Einblick in die geistige Situation, in der sich Christoph damals äußerlich wie innerlich zurechfinden muß. Wedekind selbst stand zwischen Heine und Schlüter — ein Paradoxon, kennzeichnend für die innere Zerrissenheit der Generation der zwanziger Jahre, die am Aufbruch einer neuen Zeit lebt. Was der um vier Jahre jüngere Studienfreund seinem Tagebuch bekennt, seine Wegentwicklung von angestammten katholischen Kirchenglauben, entspricht jener Situation, wie sie um die gleiche Zeit, 1820, z . B . auch die junge Droste in ihren geistlichen Liedern ausspricht, wie sie Menzel damals noch treffend kennzeichnet. Auch Schlüter ergreift die Krisis; er bewältigt sie anders; während Eduard sich eine schlecht verstandene pantheistische Schelling-Goethe-Weltanschauung zurechtmacht und dabei als rechter Aufklärer es mit der Spottsucht der Jugend gegenüber dem Sakralen hält, beneidet er doch Schlüter wegen seines „Kinder6 ) In dem Zyklus „Aus Severins Tagebuch" in 5, 2 als Grund für „düstere Eifersucht".
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glaubens"; in ihm habe der Freund die feste Stütze in einem schweren Leiden. Doch Eduard sieht nur sein Wunschbild in dem Freunde. T a t sächlich ist der ebenfalls aufklärerisch gesinnte Stopher aus der quietistischen Frömmigkeit seines Elternhauses, vor allem seiner Mutter, bald unter dem Einfluß seines Lehrers Bouterwek in jenen verlockend in ästhetischer Form vorgetragenen Gefühls-Deismus Jakobis hineingeglitten. Sein Lehrer sieht in ihm einen der aufgeklärtesten Katholiken und den zukünftigen weitherzigen Philosophen. Audi das zwar berichtet Wedekind, der den Widerspruch gar nicht bemerkt, in den er sich in seinem konfusen Zustand verwickelt. Wedekind schildert auch seine erste Begegnung mit dem musizierenden Freund, der zunächst so unscheinbar wirkt. Doch als er ihn näher kennen lernt, als sie Englisch und Italienisch zusammen arbeiten, Torquato Tasso, Dante und Petrarca, Novellen von Boccaccio und Goldoni in der Ursprache lesen und im Englischen Byrons Manfred, Childe Harold, und Moore's Lalla Rookh, versteht er, weshalb alle Kommilitonen ihm so respektvoll begegnen. E r ist reifer als sie alle. So faßt er großes Vertrauen zu dem gediegenen Menschen, und Schlüter erwidert das Vertrauen: man liest einander die poetischen Herzensergüsse vor. Dazu und für dichterische und philosophische Lektüre ist der Samstagnachmittag bestimmt. Wie sehr Wedekind ihn bewundert, geht aus der Eintragung hervor: „Sein Charakter war einer der edelsten, die ich kenne und seine Geduld war wahrhaft groß." Doch spürte er auch, welche Kämpfe er durchsteht. D a ß Wedekind recht sieht, bestätigen bisher unveröffentlichte Briefe Schlüters an seine Mutter aus Göttingen vom Oktober 1821 und vom Juni 1822 oder 1823, erschütternde Zeugnisse des inneren Ringens um die Durchführung seiner Ziele, trotz des auferlegten Schicksals sich eine universale, gründliche Bildung zu eigen zu machen. „Liebe Mutter! Ich habe Dir zerriß ich einen genug geplagtes jetzt besser mit mir erging.
lange nicht geschrieben, aber schon vor längerer Zeit langen Brief an Dich, damit er nicht Dein ohnehin Herz in meine trübe Stimmung hereinzöge. Es ist mir, und ich (will) Dir gelassener erzählen, wie es
Als ich zum erstenmal das Kolleg Müllers, worin er die Altertümer der Griechen abhandelt, besuchte, war das ohnehin kleine Zimmer gepreßt voll und stark eingeheizt. Mein Platz am äußersten Ende des Gedränges machte es mir unmöglich, hinauszugehen. Nach einer angstvoll durchschwitzten Stunde spürte ich die alten heftigen Augenschmerzen und konnte alles fürchten. Zuhause angekommen, beschloß ich nun bald, (in) das Kolleg, wovon ich mir so viel Belehrung und
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Erquickung in den dürren Wintertagen versprochen hatte, nicht zu gehen, wie auch das über den Demosthenes, das im selben Zimmer gelesen wird (nicht zu besuchen). Die schreckliche Aussicht auf den Winter, das traurige Gefühl der Bedingtheit meines ganzen Lebens, in dem meine liebsten Bestrebungen unaufhörlich gewaltsam zurückgedrängt werden und meine schönsten Pläne zerrissen, versetzte mich in eine so finstere Stimmung, daß ich mich recht herzlich freue, den Jammerbrief nidit abgeschickt zu haben, zumal da es jetzt noch so gut gegangen ist. Außer einer (?) Reizbarkeit haben gottlob meine Augen keine ferneren Lasten (?) verspürt. Idh tue mein Mögliches, mich endlich ganz in mein Schicksal zu fügen, immer mehr zu requirieren, aber bei solchen und vielen anderen Verlegenheiten wird es mir sehr schwer, den bittersten Mißmut aus dem Herzen zu verbannen. Wer fürs Leben zu wirken gedenkt, der darf sich nicht ganz davon losreißen; er muß mit inniger Liebe daran hängen, und so ist es nicht genug, das Veränderliche und Ungewisse zu verachten, es muß auch irgendwoher Mut und Lust kommen zum Werke, wenn es gedeihen soll. Diese werden uns freilich als höhere Reflexionen, daß wir jedes höhere Bestreben ohne Rücksicht auf den Erfolg, den eine andere Hand lenkt, dem Menschen einen Wert geben, aber wir sind zu sinnlich, als daß nicht, den Absichten und guten Willen nicht entsprechender Erfolg niedergeschlagen machen sollte. Ich habe aber fest bei mir beschlossen, ferner keinen Klagen, wenn sie auch das Herz erleichtern, Raum zu geben, nach Vermögen zu tun, was vor Händen liegt, durch genügsamen Genuß dessen, was mir gewährt wird, den Geist heiter zu erhalten und so mit festem Schritt, wenn gleich nicht fröhlich, der Zukunft entgegen zu gehn." (In eigener Handschrift in UBMüSchlN). Die innere Reife des zwanzigjährigen Schlüter, die sich in diesen Zeilen offenbart, ist der Anfang einer Entwicklung zu jener Persönlichkeit, deren anziehende Strahlungsmacht immer wieder in Erstaunen setzt. Der andere Brief (UBMüSchlN) zeigt eine glücklichere Stimmung. Stopher erzählt, wie „genußvoll" er den Sonntagmorgen verbringt. „ . . . Wir lasen heute morgen ein Kapitel in der griechischen Bibel, und die Psalmen dienen mir alle Sonntage, eine recht feiertägliche Stimmung hervorzubringen, die den ganzen Tag anhält und nach dem bunten Wirrwarr der Woche dem Geiste sehr wohltut. Den Morgen, den ich meistens außer einigen Visiten bei den Professoren auf dem Zimmer für midi allein zubringe, habe ich obendrein das Vergnügen, daß in der Nähe, unserem Hause gegenüber, die schönsten Lieder zur Orgel gesungen werden. Ich denke währenddes an alles,
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) Vgl. Lit.-Verz. Houben.
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wohin der Geist mich zieht, schreibe zuweilen etwas, und nimmer ist der Sonntagmorgen auf meinem Zimmer ganz ohne Feier." Sein Tageslauf ist jetzt wie später voll ausgemünzt. „ . . . von sechs morgens bis acht abends bin ich fast ununterbrochen beschäftigt, und das bekommt mir sehr wohl; übrigens mußt Du bedenken, daß alle meine philologischen Stunden einer sehr geringen Geistesanstrengung bedürfen und mehr erheitern als anstrengen. Ich gehe von 1 bis 2 regelmäßig spazieren; wenn es aber schlechtes Wetter ist, so bediene idi mich meines Privilegiums, bei Rittmöller, auf dessen Instrumenten, Flügel, Klavier ich spielen darf, so oft idi will. Von 2 bis 3 habe ich eine griechische Stunde mit Clemens Guillaume. . . . Von 3 bis 4 liest mir Lister, zu dem ich von Guillaume gehe, die letzte Lektion aus Blumenbachs Naturgeschichtskolleg vor, das mir sehr viel Freude macht; ihn selbst hätte idi noch nicht hören können, weil es bei ihm zu voll und zu eng ist." Philosophie bei Bouterwek und Schulz, Italienisch und Latein, Französisch und Englisch in Privatstunden und ein philologisches Seminar füllen den Rest der Tage aus. „Die Zeit vergeht mir äußerst schnell." Die interessantesten Stunden aber seien die, in denen er über das Gehörte nachdenke und sich Notizen mache. Ein humoristisches Bild entwirft er von dem schwerhörigen Bouterwek, dem er vergeblich die Carrière seines Lieblingsschülers Albert Kreuzhage verständlich zu machen sucht; der Freund arbeitet als Jurist in Hannover und in Iburg. Nach Schlüters Abgang von Göttingen klagt Wedekind seinem Tagebuch den Verlust des Freundes. Dies um so mehr, als er von seinem neuen Freund, Heinrich Heine, zwar wie magisch angezogen, aber nicht befriedigt ist. Das „ungeheure Genie", wie er sagt, das damals an der alma mater Göttingens aufs neu, rehabilitiert, aufgenommen wird, fesselt ihn mit weitläufigen Gesprächen über Poesie und Religion — Heine hört sich tolerant die Verse Wedekinds an, stellt aber allgemein fest, daß die Westfalen nichts von Poesie verstehen. „Seitdem Schlüter fort ist, habe ich keinen Freund, dem ich so recht mein ganzes Herz ausschütten könnte . . . " Der süffisante Heine ist eher zerstörerisch; er mystifiziert; man weiß nie, was man an ihm hat. In der Harzreise, von der Sengle8) sagt, daß sie nicht zu seinen schärfsten Auslassungen gehöre, nimmt er Bouterwek und seine „Religion der Vernunft" gründlich aufs Korn (1824 erschienen). Er modeiert sich über Scott, für den die Westfalen — auch Schlüter — eine Vorliebe zeigen. Heines Geist ist durchdringend und prophetisch. Dodi die „Osnabrugia", der die Westfalenstudenten sich angeschlossen haben, rächen sidi an Heines Spottsucht, sie „vexieren" ihn. Wedekind ist 8
) Friedrich Sengle im Nachwort seiner Ausgabe bei Reclam.
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aber nie innerlich von Heine losgekommen; noch 1839 schickt er in der „Posaune" (Hannover) ein „Sendschreiben an Heine" in die Welt. Auch dem Dichten ist er treu geblieben als hannoverscher Staatsbeamter, wie wir hörten (S. 8). Gewiß, auch Schlüter durchschaut bald die Hohlheit des Jakobischen Gefühlsdeismus. Der bedeutende Anstoß zu einer inneren Wandlung aber ging von dem „Heidegger" des 19. Jahrhunderts, von Baader aus. Wenn er auch bei Bouterwek manchen Ansatz zu einer Ästhetik des kalos kagathos — Wahrheit als Schönheit — die er später vertrat, bereits fand, Baader erst erschloß ihm, wie er sich später äußert, den Sinn und Geist f ü r eine „kräftige Religiosität" gegen die „Herzenskapellchen-Frömmigkeit" 9 ). In seinem Lebenslauf (UBMüSchlN) teilt Schlüter nüchtern und nicht ohne nachträgliche Befriedigung über das Geschaffte sein Fortkommen mit. „Zwei und ein halbes J a h r hörte ich in Göttingen philosophische, philologische und andere Collegia und erhielt 1827 nach einem in den Gymnasialfächern zugleich auch in Philosophie abgelegtem Examen bei den Herren Nadermann, Möller, Kohlrausch, Bodde, Rohling und Esser, von denen die von mir gelieferte lateinische und deutsche Arbeit belobt ward, und nach dem üblichen Colloquium die Erlaubnis, an der hiesigen Akademie philosophische Vorlesungen zu halten, wozu ich von der Examenskommission beim Examen mündlich und in dem mir ausgestellten Zeugnisse, welches meine Befähigung zum Gymnasiallehrer aussprach, schriftlich aufgefordert war, mich vorzubereiten und wozu ich mich unterdessen zu befähigen gesucht hatte." Andere Aufzeichnungen über den Verlauf seiner Einstellung an der Akademie halten fest, daß er im Sommer-Semester 1827 seine Dozentenlaufbahn mit einem ihm zudiktierten Kolleg über „Geschichte der alten Philosophie" beginnt. 50 Zuhörer! Im Winter liest der mehr und mehr Erblindende „Vom Auge und der Einbildungskraft" und in dem darauffolgenden Sommer über die „Geschichte der neueren Philosophie" und über „Ästhetik", 1829 die Pflichtkollegs f ü r die Studenten der Theologie: „Logik" und „Psychologie". Erst 1830/31 taucht das aktuelle Zeitthema, das Baader damals wieder neu aufgeworfen hat, in dem Schlüter aber auch auf die Günthersche Problemstellung eingeht, zuerst in der Liste seiner Vorlesungen auf, über „Glauben und Wissen"; er hat 143 Hörer. Das nächste J a h r bringt sein Bekenntnis zu Plato, mit der „Geschichte der platonischen Philosophie" vor 57 eingetragenen Zuhörern gegenüber 3 in „Logik". Im Sommer 1833 liest er zum erstenmal über „Spekulative Theologie" vor 135 H ö r e r n und erweitert seinen philosophischen Kreis, der sein Teil beiträgt in dem Ringen um 9
) Siehe dazu S. 20 f.
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eine schöpferische christliche Philosophie, die einerseits mit dem Idealismus, andererseits mit der festgefahrenen Orthodoxie und Schulscholastik sich auseinandersetzt. Der 32jährige Dozent hatte bereits lebendige Kontakte mit München und Wien, mit Frankfurt, Bonn und Tübingen, ja mit allen bedeutenderen Philosophen und Theologen der Zeit.
S C H L Ü T E R ALS P H I L O S O P H „Das Denken ist doch eigentlich der wahre Atemzug der Seele." Alexander Jung 1832 -war Schlüter schon an allen bedeutenderen Universitäten bekannt als jener bemerkenswerte Philosophiedozent von Münster, bemitleidet und bewundert wegen seiner Blindheit, geschätzt und geehrt wegen seiner Gelehrsamkeit, geliebt wegen seiner persönlichen Liebenswürdigkeit und wegen seiner Begeisterungsfähigkeit f ü r das Kommende, Werdende, mit der er, äußerst lebendig, Kreise zu bilden vorzüglich begabt war. Passavant1), den er erst kurz vor dessen Tode durch einen Briefwechsel näher kennenlernte, spricht rückblickend aus, was man damals bereits wußte: „Ihr schöner Wirkungskreis, sowie der Ihrer Freunde in Münster, flößte mir immer das höchste Interesse ein. U n d in welcher Stadt Deutschlands ist auch seit der Zeit Fürstenbergs und Overbergs eine so wohltätige Verbindung christlicher Gesinnung und philosophischen Geistes je gewesen? Ich möchte mich daher gerne dem Wohlwollen und der Nachsicht jenes Kreises und Ihnen insbesondere bestens empfehlen." U n d der bedeutende evangelische Theologieprofessor in Halle, Tholuck, schreibt ihm A n f a n g des Jahres 1836, sein N a m e sei ihm schon eher bekannt geworden „als der eines Mannes, welcher die Wahrheit in der Liebe will und diese nicht auf der Oberfläche, sondern in der Tiefe sucht." (UBMüSchlN). Schlüters Art, in den geistigen Kampf einzugreifen, ist die eines Vermittlers, mit einem festen Ziel, das er erst später formuliert: „Es gibt sicher einen Mittelweg und eine Ausgleichung zwischen Rationalismus und Supranaturalismus wie andererseits zwischen Freiheit und Gnade, sicher aber wird der, welcher nicht die zeitweilige Menschenvernunft in seine Interessen zieht, um so kühner und vertrauensvoller statt im eignen in Gottes N a m e n auftreten und der Wahrheit Zeugnis geben können. Vergessen wir nicht, daß jedes Wort aus dem Glauben und aus der Liebe gesegnet ist, und der Vernunftmann, welcher nicht betet, doch nicht zu Gott kommt. Glauben wir dies, so muß es unsere Wissenschaft auch zeigen und aufzeigen." (Dyr. H o h n . A. V I I . Brief an Pabst v. 3. X I I . 1835.) Es geht Schlüter, aber anders als der Fürstenberg-Schule, mit seiner „Wissenschaft" primär um Heilmachung seiner aufgewühlten, in Gottlosigkeit und Materialismus versinkenden Zeit vor der ankommenden fortschreitenden Technisierung und Veräußerlichung, und ') Siehe S. 85 f.
Schlüter als Philosoph
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zwar durch Philosophieren, durch sokratisches Gespräch, durch lebendiges denkendes Sich-in-Beziehung-Setzen zu den Denk-Ereignissen der Zeit aus den Urquellen der Seele her, oder, wie der von ihm sehr verehrte Troxler sagt, vom Gemüt. Das Denken, zu dem die Philosophen als Lehrer berufen sind, soll nicht nur einer Kaste von Eingeweihten vorbehalten sein, sondern als ein organisches, in jeder Menschennatur angelegtes zur Weckung und Entfaltung kommen, durch das gesprochene Wort mehr noch als durch das geschriebene und, wie es dieser A u f fassung ja auch im bedeutenderen Schrifttum der christlichen Philosophen dieser Zeit, z. B. Günthers, entspricht, im Gesprächsbuch (Briefform, Dialog usw.). Der Philosophielehrer im christlichen Raum hat aus den Urquellen aller Weisheit aller Völker den sensus communis herauszustellen und mit der tradierten christlichen Lehre in einen wesenhaften Zusammenhang zu bringen, nicht synkretistisch, sondern aus der Einheit von Gott, Mensch und N a t u r . Er hat seine Schüler zu wecken und aufzuwecken, jedes neu aufbrechende Leben in der Jugend zu hegen und weiterzuführen, und sich selbst, wo es not tut, dabei zurückzustellen. Als 82jähriger schreibt Schlüter seinem Schwager Wilhelm Junkmann einmal, rückblickend, sein Streben als Lehrer des Denkens sei ihm allein als lohnend erschienen. „Ich bemühe mich, weniger wissenschaftlich fein zu sein, als das zu sagen, wovon ich weiß, d a ß es ihnen nützen kann und wird." (1. Dezember 1883.) Daher einmal das f ü r Schlüters Kolleg typische Aufreihen von Zeugnissen des „Alten Ewig Wahren" der klassischen wie der modernen Philosophien, das ihm jedoch nicht als Eklektizismus ausgelegt werden darf. So lehnt er es auch entschieden ab, als Baaderianer bezeichnet zu werden — wie man es in den meisten lexikographisdien Abrissen über Schlüter lesen kann. Ich „suchte . . . das Beste, was ich für das innere, höhere Leben und das Verständnis der Heilswahrheiten aus Baader gelernt und dessen Heilsamkeit und Wahrheit ich an mir selbst erfahren hatte, meinen Zuhörern zunutze kommen zu lassen . . . " , verteidigt er sich seinem früheren Schüler Kleutgen gegenüber, der sich ganz in das Lager der Neuscholastik geschlagen hatte. (Dyr. H o h n . Anh. V. S. 160, Brf. v. 6. August 1856.) Gleichzeitig aber habe er sich mit dem hl. Thomas, weit mehr aber mit dem platonischeren Augustinus bekannt gemacht. Von seiner Methode als Philosoph gilt also das gleiche, was Dyroif von Windischmann aufgezeigt h a t : er habe die Wissenschaft weniger durch bloße Lehre oder durch Anweisung in bestimmten einzelnen Fragen und Methoden als durch allgemeine Anregung und liebevolle Ermunterung, durch literarische Winke und geistreiche Hinweise gefördert. Das bezeugen die Briefe seiner Schüler und Freunde, die voll des Dankes darüber sind, um nur Franz Brentano, den Lehrer Husserls zu nennen. Vor allem lag ihm die Über-
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Schlüter als Philosoph
windung des in der Zeit hervortretenden Zwiespältigen zwischen Glauben und Wissen am Herzen, die Auswiegung von Erkennen, Wissen und Glauben entsprechend den neuen Kräften der Zeit mit den Errungenschaften der Aufklärung, um hierin den allgemein verbreiteten religiösen Quietismus und die Starre innerhalb der Kirche, ja innerhalb der Kirchen, zu überwinden. Schlüter notiert sich zu Adam Möhlers „Anseimus": „ . . . es ist Saumseligkeit, wenn der, welcher einmal im Glauben befestigt ist, nicht strebt, auch das zu erkennen, was er glaubt. Der Ungläubige philosophiert, weil er nicht glaubt, um nicht glauben zu dürfen, der Gläubige, weil er glaubt, um glaubend zu verstehen und den Glaubensgehalt, ihn durchdringend, um so inniger und tiefer zu genießen und in Gott sich zu erfreuen, endlich durch solche Vermittlung dem Ungläubigen, der auch philosophiert, zum Glauber. behilflich zu werden. Man muß auch das glauben, was man nicht versteht, und, auf das Verständnis hoffend, warten, bis Gott es gibt, wie er den Glauben gegeben. Das Wahre und Rechte, was wir philosophierend erkennen und mitteilen, kommt von Gott und durch den Glauben; das Falsche, Gebrechen und Mangel daran, von der menschlichen Ohnmacht oder Sünde; kein Philosophem als solches wird als unfehlbar hingestellt; Schrift und Kirche autorisieren." Friedrich Michelis, sein Schüler, der bedeutendste Platoniker des Jahrhunderts, bestimmt in ihrer gemeinsamen programmatischen Festsetzung des Zieles der Zeitschrift „Natur und Offenbarung" die „innere Ausgleichung der Resultate der neueren Naturwissenschaft mit der geoffenbarten Wahrheit im denkenden christlichen und katholischen Bewußtsein." (Vorw. d. 14. Bdes.) Die asketische und die mystische Haltung sind Voraussetzung zu echtem christlichen Philosophieren; doch darf man Schlüter nicht als schwärmerischen Theosophen im abfälligen Sinne des Wortes sehen, wie es oft geschah. Schon Höhnen weist diese durch Jostes in die literaturwissenschaftliche Beurteilung eingegangene Kennzeichnung mit Recht ab; er weist ausdrücklich auf die zeitbedingte Sprache hin, die da berücksichtigt werden muß, wo Schlüter und seine Freunde selbst von Theosophie sprechen. Schlüter wendet den Ausdruck für spekulative Theologie an, die er als den Weg ansieht, dem Dogma zu der durch die Zeit geforderten „Entwicklung", oder besser, zur Entfaltung zu verhelfen, wie Newman es um die gleiche Zeit in den Darlegungen seiner Schrift „The Development of Doctrine" lehrt. Baader und Gunther — gingen ihm auf als „die großen Lichter in der christlichen Wissenschaft", und er konnte nur später bedauern, daß man ihnen die „dogmatischen Daumenschrauben" ansetzte". (An Kleutgen, 6. August 1856.) In die Jahre seiner Habilitation schon fällt die persönliche Freundschaft mit Baader, dem fast 63jährigen Philosophen in München; der erste uns erhaltene Brief stammt aus dem Jahre 1827; fast
Schlüter als Philosoph
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10 Jahre lang wird die Korrespondenz dauern, bis kurze Zeit vor seinem Tode, als Baader sich in mehreren Schriften von Rom abgewandt hat, sich selbst dann auch seinen besorgten Freunden in Münster verschloß (vgl. Brf. Schl's a. Luise Hensel v. 28. Dezember 1838, UBMüSchlN). 1828, 1830, 1833 ist die Beziehung besonders lebhaft, weil Schlüter die Drucklegung der Vorlesungen des Münchener Philosophen über „Spekulative Dogmatik" bei Theissing in Münster, sozusagen als Lektor (mit Hilfe seiner Schüler), besorgt, und 1833 „Aus einem Sendschreiben an Hrn. C. Schlüter, Privatdozenten an der philosophischen Fakultät zu Münster: „Über das Verhalten des Wissens zum Glauben" erscheint. Baader hatte damals einen Kreis von Anhängern in Münster, die sich wiederum um Schlüter sammelten und von da weitere Kreise zogen, aus den verschiedensten Schichten und Generationen! Wir wissen es von dem bedeutenden, bereits des öfteren von Schlüter mit Hochachtung genannten Onkel, Fritz Gräver, dem tiefgebildeten, aufgeschlossenen Justizrat von Hartmann, dem Arzt G. W. Siebenbergen, einem „der vollgültigsten und besten hiesigen gelehrten Autoritäten", und von seinen Schülern aus diesen Jahren: Anton Lutterbeck, dem späteren Mitherausgeber der Baaderschen Werke, Josef Kleutgen, Heinrich Wichart, de Weidige, und vor allem von Albert Kreuzhage, der sich 1831, am 8. April, von Iburg her, mit seiner ersten originär philosophischen Schrift: Mitteilungen über den Einfluß der Philosophie auf die Entwicklung des inneren Lebens (Münster, Theissing) auf Empfehlung seines Freundes bei Baader einführt. Von Kreuzhage wird in diesem Buch auf S. 241 der Verehrte als „der herrliche Franz von Baader" gepriesen und von ihm gerühmt, er habe „die Philosophie auf den Standpunkt des Christentums erhoben", . . . er habe eine religiöse Philosophie wieder in das Leben gerufen. Kreuzhage geht am Ende näher auf die „Vorlesungen über spekulative Dogmatik", Heft 1, 1928 und Heft 2, 1830 ein. Auch ruft er Baader zum Zeugen an für seine Forderung nach lebendigem Wissen, das Gesinnung werde; Denken als Atem der Seele! Von Baader strömt vor allem das johanneisch-apokalyptische Sendungsbewußtsein auf Schlüter über; ein ganz neues, kräftigeres Gefühl der Begeisterung für die Sache der Philosophie erwacht in ihm und strahlt auf. Als der große Baader 1836 des Münsteraners erste philosophische Schrift 2 ), in der er seinen ehemaligen Lehrer Jakobi (über Bouterwek) in der Spinozakritik zu überholen sucht, aus dem neuen Aufbruch des Geistes her eine „gründliche Schrift" nennt, „welche ihren Zweck nicht verfehlen und manchem die Augen über die papierne Apotheose öffnen wird, mit welcher dieser Spinoza als Denkheiliger !
) Siehe Lit.-Verz.
2 Nettesheim, Schlüter
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Schlüter als Philosoph
seit langem genug verehrt worden ist", fühlt der 35jährige Dozent sich von dem 71jährigen Meister bestätigt. Baader, der sich in seiner Altersvereinsamung hinwieder hier verstanden fühlt, schickt ihm vier Wochen später seine neueste Schrift über das O p f e r zu. Diese zentrale Arbeit über das „Corpus centrum nacurae und O p f e r " ist tieferregend f ü r den ehemaligen Schüler der Fürstenbergschule; aber Baader ermutigt ihn zum Gottvertrauen, Gott habe auch ihn zu seinem „miles" berufen, habe auch ihm „sein Geheimnis" anvertraut, „daß nämlich der Mut des Kämpfenden im Auge des ihn zum K a m p f e Sendenden" sei. Dieses missionarische Bewußtsein, gegen den „Zeitgeist" mit den W a f f e n des Geistes kämpfen zu sollen, ist etwas ganz Neues in dem sanft und ein wenig spitz aufgeklärten Münster 3 ). Mit der Spinoza-Arbeit stellt sich Schlüter in die vorderste Reihe der philosophischen Kapazitäten um eines der aktuellsten Probleme. Schlüters philosophierende Methode ist hier schon typisch; er holt zunächst das Positive heraus, um verstehend, mit dem Blick auf die geistige Entwicklung der Epoche kritisierend, aufzubauen. Er überblickt die geistige Entwicklung, die mit Lessing beginnt und mit Hegel einen gewissen Abschluß gefunden hat, und stellt den ungeheuren Einfluß fest, den Spinoza in dieser Epoche auf die bedeutendsten Geister ausübte; die ihm nachträglich erwiesene Ehre sei „fast beispiellos". Auch er selbst, gesteht er, verdanke ihm „manche unverlöschliche Ansicht und tiefere Einsicht". Auch er habe ihn ebenso wie seine Freunde (er denkt wohl in der Hauptsache an Kreuzhage), als den großen Anreger und Aufwühler erlebt, der „die bedeutendsten P r o bleme und Fragen des philosophierenden Menschengeistes . . . zum Teil tief erörtert habe". Schlüter — das ist übrigens typische Biedermeierhaltung des Philosophierenden und deshalb zur Erfassung des Phänomens unübersehbar — begreift diese Tatsache von der Anerkenntnis aus, daß man im System Spinozas „ein Analogon oder eine, obwohl umnebelte, Antizipation der wahren und allein befriedigenden Wissenschaft f r ü h ahndete und noch sieht", eben jene Wissenschaft der Restauration oder besser einer echten Instauration der Grundwahrheiten der „anima naturaliter christiana". Doch kann und darf auch nicht verschwiegen sein, meint er, daß etwas Unheimliches diese Wahrheit übernebele mit einer geradezu dämonischen Schicht. Das ist, meines Wissens, eine spontane Schau Schlüters von ungeheurer Tragweite und aufklärender Fernwirkung im Zuge der Biedermeierepoche. Er habe die faszinierend dämonische Wirkung Spinozas selbst beim Studium als „unheimlich" erfahren, dämonisch deshalb, weil der Geist sich, ihrer Faszination nachgebend, zugleich von einem doppelten Genius ergriffen 3
) Vgl. den Einfluß Schlüters über Baader auf das GJ der Droste, S. 55 f.
Sdilüter als Philosoph
19
fühle, zwiespältig aufgerissen, von dem guten und dem bösen Genius erfaßt
und aufgespalten
(wie Faust).
sicherheit erspürt, wie in dem
Schlüter hat so mit
spinozistisch
Instinkt-
Philosophierenden
„Tod
und Leben, das Höchste und das Niedrigste sich einige und fast ununterscheidbar sich menge und mische, . . . um noch einmal die Menschheit zu verlocken mit der V e r h e i ß u n g : , I h r werdet sein wie die G ö t -
ter"'. In dieser Vision übertrifft Schlüter und auch Günther.
Friedrich
Schlegel
Friedrich
Schlegel,
Baader
kennzeichnet noch nicht das, wie
er sagt, „ausgeleerte Schema des Unendlichen für den Begriff der G o t t heit"
(Werke I I ,
1 9 6 ) als dämonisch. Auch,
urteilt Schlüter,
haben
Schleiermacher wie Schlegel Spinozas Ethik überschätzt, obwohl dieser behauptete, jede Metaphysik,
der es nicht gelungen sei, Spinoza
widerlegen, sei nichts. U n d Jakobis
zu
Widerlegung habe nur die J u g e n d
zu neuen Irrtümern verführt mit ihrer „seichten" Gefühlsreligion, der auch er in Göttingen eine Zeitlang verfallen gewesen sei. D e m zaubernden nüchternd
der Intuitionen Rechnerische,
entgegengehalten
egoistisch
werden,
muß
Spinozas
etwas
aber
Berechnende
doch eben seiner
Mephistophelisches.
der Herzens-Kapellchen-Religion,
er-
Spekulationen
Faust
phisto in einer Gestalt! A u f der anderen Seite die
Ver-
das und
Me-
Desillusionierung
der Schlüter selbst
wie
die
beste
J u g e n d unter den Christen seiner Zeit ein für allemal abgesagt hat. D i e Widersprüchlichkeit von K o p f und H e r z zeitigt dann als Ergebnis totalen Fatalismus. Spinoza werde schließlich zum
Spinozas
„gefan-
genen Prometheus", zum „monstrum horrendum, informe, ingens, cui lumen a d e m t u m "
(Vergil).
In
dieser metaphysischen
Zuspitzung
der
Kräftebestimmung des Spinozismus als Bewegungsmacht visiert Schlüter wie aus dem Blick des Dichters der „Schwarzen S p i n n e " mit ihrer bekannten dämonischen Gestalt. U n d er weiß sich bereits getragen von einer neu aufgehenden christlichen Philosophie der Restauration, denen, auf die er sich jetzt beruft: auf Windischmann
und
von
Molitor,
Schlegel und Görres, Stahl, Bockshammer und Schubert, vor allem auf Baader und Günther. Überall, wo es ihm um die Heraustellung des wahren
und wirklichen,
des lebendigen
Ich-Du-Verhältnisses
in
der
Gott-Mensch-Beziehung geht, im Gegensatz zu Spinoza, beruft er sich auf den Meister der mystischen Spekulation und schöpft auch wie dieser aus Clemens von Alexandrien, Gregorius, aus Augustinus und B o n a ventura, dessen „Weg zu G o t t " er zusammen mit O n k e l Fritz und Lutterbeck
Gräver
zwei J a h r e später herausbringen wird, in dem gleichen
Jahre, in dem seine Ausgabe des Scotus Erigena, de divisione natura libri quinque. Editio recognita et emendata zusammen mit den H y m n e n des großen Anhängers des Areopagiten Dionysos, erscheinen wird. Schlüter rühmt besonders Baaders Spekulativen
2*
Dogmatik,
Kritik
an
Spinoza
in seiner
rühmt das „Feuerlicht" seines Geistes, das die
20
Schlüter als Philosoph
Tiefe des menschlichen Gemütes in Fülle erschließe gegenüber der starren Einseitigkeit Spinozas. Dieser „tiefe und geistvolle Forscher" sei „kein Verteidiger des lichtlosen Affekts oder gar der finsteren und verfinsternden Leidenschaftlichkeit . . . " , er sei nie erbaulich auf Kosten der Gedanken, sondern erbaue stets mit dem Geist zugleich das Herz, den ganzen Menschen leichtend und lichtend, indem er ihn befreie und erhebe. Solche Äußerungen nahm man ihm von der Gegenseite übel. Luise Hensel schrieb dem Freunde am 9. März 1836 ein Urteil ihres Bekannten, des Majors von Radowitz, über seinen Spinoza, das fast wie eine Warnung klingt: er freue sich seiner Arbeit, wünsche aber, er hätte seinen Standpunkt entschiedener auf dem Gebiete der katholischen Theologie gewählt und zu dem Berufe die Werke der neueren Jesuiten mehr berücksichtigt. Schlimmeres hätte man Schlüter nicht sagen können. Denn er, der Zögling des Paulinums und des Bouterwekschen Jakobinismus, hatte, wie er es schon 1835 dem Baadergegner Pabst gegenüber formulierte, durch Baader zuerst „kernhafte Lust und Liebe an Christus, seiner Kirche und seiner Angelegenheit" gewonnen und „durch seine Vermittlung (aber gewiß nicht ohne höhere Fügung und Assistenz) auf Dogma und Kultus . . . dasselbe Gewicht legen" gelernt wie zuvor auf die christliche Moral und den Jacobisch-Platonischen Theismus, „den die nähere Dogmenbestimmung fast nur wie ein leichtes Nebengewölk umflatterte". Er ist überzeugt, daß Baader „im Geiste der echten, alten, ewig jungen, einen, allgemeinen Kirche philosophiere und er habe noch kein Gift bisher in der tiefkräftigen N a h r u n g f ü r Gemüt und Geist gefunden", an die er sich seit Jahren gewöhnt habe. Einen anderen Punkt, der ihn „mächtig anzog", gibt er 1850 im Vorwort zu dem von ihm besorgten Band der Baaderschen Werke an: den an das Prophetische grenzenden Tiefblick in die sozialen Verhältnisse seiner Zeit. Uberzeugend ist ihm vor allem, wie Baader den „machinistischen französischen Gelehrten und den stolzen Vertretern der sciences exactes" das Konzept nicht wenig verrückt habe; in dieser Beziehung habe er in seiner Sozietätslehre manches angeregt, was in der neueren Philosophie und spekulativen Theologie zu wenig oder gar nicht zur Sprache gekommen sei (S. 12). Genaueres über die Art der inneren Reformation, die Schlüter aus den Baaderschen Schriften entgegenkam, und die ihn, wie seine Freunde, von denen Baader in seinen Briefen an Schlüter immer wieder spricht, erregt, erfährt man am besten aus der bereits genannten Schrift Baaders über Wissen und Glauben aus einem Sendschreiben an Schlüter. Baader klagt und zürnt hier über die religiöse Unwissenheit der Durchschnittschristen, ihre Unbildung gegenüber der übrigen gewonnenen Bildung. Man verharre im Religiösen in der Kindheit. (Widmung an den Fürsten Constantin Löwenstein-Wertheim, Spek. Dogm., l . H e f t . ) Die Reli-
Schlüter als Philosoph
2t
gionslehrer tragen Schuld an der Unwissenheit und dem Unglauben der Zeit, nicht bloß die Philosophen. Gerade diese haben sich nicht anders zu helfen gewußt als einen notwendigen Widerstreit zwischen Wissen und Glauben zu konstatieren, den man auf sich beruhen lassen müsse. Das ist grundfalsch. Irrtum und Wahnglaube wurzeln in der religiösen Unkenntnis, und logische Unklarheit macht auch, daß das Religiöse schwindet; wenn Wissen und Glauben nicht einander stützen, verfallen schließlich beide. Nun aber müssen neue Mittel angewendet werden, dem Fortschritt der Zeit entsprechend. Jetzt sind der Unglaube und diese Unwissenheit von einer ganz anderen Art als in früheren Zeiten, „die neue Krankheit weicht nicht mehr dem alten Rezepte". Und das wird eben auch Schlüters Uberzeugung, daß „der Obscurantismus in der Religionserkenntnis" aufhören müsse, das Denken innerhalb der Kirchen, so als ob kein Fortschritt, nichts Neues, keine weitere Ausbildung, keine Bereicherung im Christentum möglich sei. Wenn der Glaube vom Wissen entblößt werde, sei er bald „abgestanden". Hier aber liege die Wurzel des Verfalls der religiösen und damit auch der politischen Gesellschaft (Sozietät). Dieses „Wissen" hat aber nun seinen besonderen Charakter, wie schon angedeutet wurde. Will man sich „in der Mitte der Zeit halten", so muß gesehen werden, was der Zeit not tut. So fordert Baader denn über Schlüter seine Freunde in Münster auf, neuen Angriffen (auf das kirchliche Christentum und eine christliche Philosophie der Kirchenväter und der Mystik, Jakob Böhme eingeschlossen) mit neuen Waffen zu begegnen, an die Stelle des sich nicht mehr Bewährenden „Wehrhaftes" zu setzen, d. h. imgrunde, zeitfrei, über der Zeit. Ewig Bewährtes lebendig wieder hervorzuholen, und in dem Prozeß der Zeit fruchtbar zu entwickeln, statt alles in Anarchie auseinanderfallen zu lassen. Eine echte Reformatio und Renovatio also muß der Münstersche Kreis mit herbeiführen helfen. Audi die Haltung zu den Ungläubigen, die es im Grunde gar nicht gebe, soll positiv sein. Das hat schon St. Paulus erkannt, daß selbst jeder Verbrecher sich seine raison mache (vgl. den Byronschen Verbrecher!). Immer handle es sich um ein Engagement mit „Etwas". Zutiefst gehe es bei der religiösen Entscheidung um die Freiheit, da der Glaube ein toter Glaube sei, der nicht mit dem Willen frei erfaßt sei und immer wieder neu erfaßt werde. Ebenso bleibe das Wissen ein totes, werde es nicht in ein Ganzes, Lebendiges eingeordnet. Die Gewährsmänner Baaders hierfür sind Augustinus und Thomas. Darin aber heißt es, scharfe Unterscheidungen sehen, Unterscheidungen von ungeheurer Tragweite, die Schlüter sich zu eigen macht. Sie werden grundlegend für die Gesamthaltung in seinen Kreisen, und hier stößt man in der Tat auf den tiefen philosophischen Grund, in dem man das Menschsein des Biedermeier auszuloten imstande ist. Hier wird die neue, die wie-
22
Schlüter als Philosoph
dergewonnene Sicherheit oder das Kindhafte als Wiedergewonnenes an der wechselseitigen Entsprechung des inneren und des äußeren Auges in Beziehung zum Unterscheiden „des Lichts und der Finsternis" faßbar. Baader ist dessen sicher, daß der Mensch seiner Organisation nach glauben muß — glauben muß an wen und nicht — wie es in der seichten Naturseligkeit geschieht — an was. Denn jeder Glaube ist persönlich. Diese realistische Schau war es, die Schlüter zutiefst ergriff, der bereits auf sie angelegt war, nicht durch Erziehung, aber von Natur und Sensorium her, zumeist aber infolge seines Durchdenkens. Der so weit verbreitete „illuminatorische" Deismus und Pantheismus sei eine fata morgana, sagt Baader. Man könne einer „Sache" nicht glauben, nicht vertrauen, nicht ihr sich wahrhaft verbinden (ge-loben). Und gibt man vor, sich auf die „selblose Natur (auf die sogenannten Naturgesetze)" zu verlassen als auf das Absolute, „so wird wenigstens in petto dieser Natur eine Persönlichkeit unterlegt (als ihm Wort haltend)". Solches innere Wesen, ein inneres Schauen, empfängt der Mensch nur in einem lebendigen Kontakt, mehr noch in einem Innesein, in der Teilhabe an der alles Wissen umfassenden Person, die auch ihn weiß und in deren Wissen er sich selbst weiß. Die Baadersche Fassung des Problems Wissen und Glauben vom personalen Ich-Du-Verhältnis des Schöpfers zu seiner Kreatur führt dann Schlüter zu seiner Neufassung des platonisch-augustinischen Entwurfs vom „Gewissen", eine zentrale Umkehr des Kantischen Imperativs, die eine ungeheure Auflockerung des Ethos bedeutet, die sich bis in die Kinderlieder der Biedermeierdichtung hinein geltend macht (vgl. Schlüters Brief an Passavant v. 1856 ? in: J . C. Passavant, S. 306—319; s. Lit.-Verz.). „ . . . Der Mensch weiß nur, indem er sich gewußt weiß; sein Geistesauge sieht und findet sich nur, wie Plato sagt, in einem andern Geistesauge, und sein Wissen kömmt ihm folglich nicht, wie die Rationalisten meinen, per generationem aequivocam oder von ihm selber, sondern per traducem, d. h. durch Teilhaftwerden (nicht Teil werden) und Eingerücktwerden in ein in bezug auf ihn a priori bestehendes Schauen und Wissen, dessen Primitivität, Superiorität oder Centralität dem einzelnen Menschen durch seine Stabilität (Ubiquität und Sempiternität) innerlich wie äußerlich sich erweiset; und welchem doppelten Erweis darum der Mensch mit Recht verlangt und dessen zu seiner völligen Uberzeugung nicht entraten kann. Centrum und Peripherie, inneres und äußeres Zeugnis, wie inneres (heimliches) und äußeres (weltkundiges) Geschehen dürfen und sollen nämlich nie getrennt werden." Hier ist die Stelle, wo dann Baader das Cogito, ergo sum — ergo est Deus! des Descartes beschuldigt, den modernen Atheismus vorbereitet zu haben — eine Behauptung, die Günther und seine Schule anfechten wird, zu der aber Schlüter sich trotz seiner Ver-
Schlüter als Philosoph
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ehrung Günthers, hierin ihm kritisch gegenüberstehend, bekennt und nicht nur mit W o r t e n : der Mensch k a n n nur sagen, der Wirklichkeit entsprechend: cogitor, ergo sum. Ich bin gesehen (durchschaut, begriffen), d a r u m sehe (begreife ich), ich bin gedacht, d a r u m denke ich, ich bin gewollt (verlangt, geliebt), d a r u m bin ich wollend, verlangend, liebend. Weil endlich der Mensch wie jede intelligente K r e a t u r nur als gedacht w e r d e n d selber denkt, nur als hörend spricht, nur als gewollt will, als gewirkt selber w i r k t . Weswegen m a n von Gesetzen des Denkens, Wollens, T u n s sprechend, hierunter nichts anderes als das Gesetzt- (lociert-) oder Begriffensein des Menschen in einem denkenden, wollenden, wirkenden Wesen versteht u n d verstehen soll, u n d m a n sich darüber nur w u n d e r n m u ß , wie so viele Theologen diese Paulinische Fundamentallehre der I m m a n e n z aller Dinge in G o t t sich von den Philosophen (z. B. Spinoza) entreißen, u n d durch Einstellung derselben gegen sich mißbrauchen lassen konnten 4 )." D a s Ontologische z w a r w a r von Baader in solcher Schau fallen gelassen, es interessierte ihn hier nicht in dem M a ß e wie das Dynamische. M a n h a t ihn nicht umsonst den „Heracleitos" genannt (Schlüter a n Sisson s. S. 196). Schlüter läßt sich auch von der Bildhaftigkeit der Aussage, v o n dem „Blitzgenie", wie Görres sagt, nicht verwirren. Seine tiefe Kenntnis des Plato, des Augustinus u n d der mittelalterlichen Philosophen dieser Richtung, sein Zuhausesein in Paulus u n d Johannes geben ihm die Möglichkeit u n d Fähigkeit des P r ü f e n s u n d Behaltens. Als Zeugnis, wie er vorgeht, ist ein Schreiben a n seinen Schüler Lies/'), der in Gießen bei Schmied seine Studien fortsetzt, in dem er sich über das Trinitätsproblem äußert, aufschlußreich. Er hat Baaders Spekulationen über Ternar, Sophia überprüft a n den Stellen aus dem Buche der Weisheit, a n Briefen des hl. Paulus, an Augustin und Petavius, u n d v o r allem an Tertullian u n d glaubt Liese darin Recht geben zu müssen, d a ß an verschiedenen Stellen m a n „den G e d a n k e n eines subtilen Pantheismus nicht ganz entfernen k o n n t e " (a. 15. u. 17. Juli 1840, UBMüSchlN). E r beschließt die komplizierten schwierigen Erörterungen mit einem f ü r ihn bezeichnenden N B . 2: „ D a , wie St. Martin sagt, u n d die W a h r h e i t selbst bezeugt, die Liebe die Wissenschaft u n d nicht die Wissenschaft die Liebe e r f u n d e n hat, wollen wir vorzüglich der Liebe nachstreben; in ihrem Gefolge w i r d das Licht sich einfinden, das uns w a h r h a f t heilbringend ist u n d das wir weder machen noch erzwingen noch stehlen d ü r f e n noch können. U n d wollen wir denn ein 4 ) Vgl. auch H. C. Siegwart, Über den Zusammenhang d. Spinozismus mit der Cartesianischen Philosophie, Tüb. 1816; H. Ritter, „Über d. Einfluß d. Cartesianismus auf Ausbildung des Spinozismus, Leipzig 1816.
5 ) Hörer Schlüters, Sommer 1835; Briefe v. 15. u. 17. Juli 1840 an Schlüter (UBMüSchlN).
24
Schlüter als Philosoph
Licht, das uns nicht frommt? Sicher mindestens liegt es nicht an unserm Wissen, wenn wir Gott nicht aus ganzer Seele, aus allen Kräften etc., und wir wollen keine so großen Narren sein, das Streben dahin aufzuschieben, statt mit Wachen, Beten und Tun anzufangen, bis wir etwa mit dem hl. Ternar, Quaternar und der Sophia völlig im Reinen sein werden." Schlüter wird nie ein Fanatiker werden. Der Marburger Philosoph Jakob Sengler6), wie eine Reihe anderer, die ihm ihre Arbeiten zur Beurteilung schicken, entschuldigen sich jedoch sozusagen bei Schlüter, wenn sie Baader darin nicht Genüge getan haben. In seinem Schreiben vom 3. September 1836 z. B. erklärt Sengler ihm, daß er vergessen habe, das betreffende Kapitel seiner Arbeit, das er gerade ausgeliehen hatte, mitzuschicken. „Sie haben deshalb ganz recht, wenn Sie und Ihre Freunde die Darstellung Baaders dürftig finden." Er bejaht: „Baader und Günther erheben sich über den Pantheismus polemisch und positiv"; gut ein Jahr später, im Brief vom 23. Dezember 1837, weiß er sich mit dem „geliebten Freund" einig in der Auffassung, daß Baaders Philosophie für die Zukunft dem Inhalt nach wohl einflußreicher sei als die Schellings — allerdings — „aufgenommen in die dem Geist entsprechende formelle Entwicklung unserer Zeit" (s. Anhang S. 204). Audi noch 1869 entschuldigt sich sein Schüler (Winter 1866/67) Josef Vigener bei dem „sehr geehrten Herrn Professor und teuren Freund" über die geringe Berücksichtigung Baaders in seiner Dissertation (de ideis divinis Commentatio philosophica, Münster, Mitsdörffer 1869), die der Herausgeber der Baaderschen Werke, Prof. Hoffmann, mit Lob entgegengenommen habe: „Daß die Berücksichtigung Baaders bei weitem nicht genügend, ist ja, was Tiefe und Bedeutung seiner Lehre angeht, so gut wie Kenntnis, dessen war und bin ich mir sehr wohl bewußt, aber auch ebenso sehr der Gründe, die mich an einem tieferen Eingehen behinderten . . . Sapiente sit!" Diese Selbstbescheidung weiß Schlüter zu respektieren, vor allem weil er sieht, daß Vigener in das Verständnis Baaders sich einzuarbeiten sucht, „mit steigendem Interesse und neuem Verständnis", wie er schreibt7). Dem Abbé Sisson, den er auf einer Zusammenkunft katholischer Philosophen in Münster kennen und schätzen gelernt hatte (Brf. a. Luise Hensel v. 26. September 1852), schreibt er 1856, am 15. April, ) Vgl. Anm. 34, S. 173. ) Briefe Schl's a. Th. v. 14. April 1867 Vigeners Arbeit und seinen Charakter. E r „ist und dabei durchaus wohldenkend, auch ein essanter Mensch". U B M ü S c h l N hat 3 B r i e 28. 7. 1861, 20. 8. 1869 u. 22. 9. 1869. 6
7
u. 30. M a i 1869 berichten über sehr gelehrt, scharfsinnig, beredt ebenso umgänglicher als intervon Josef Vigener a. Sehl. v.
Schlüter als Philosoph
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in dem bisher ungedruckten Teil (s. Anhang, S. 198) dieser wichtigen Übersicht über die deutsche Philosophie seiner Zeit über Baader eine f ü r sein abwägendes Urteil kennzeichnende Charakteristik: „Baader ist nicht so exakt, positiv kirchlich wie Günther, in Beziehung auf Verfassung und Einrichtung der Kirche und den Buchstaben des Dogma; aber er ist voll ihres Geistes und Lebens und huldigt vor allem ihrer Mystik, hat auch nie dem Augustin oder Thomas ähnliche Vorwürfe gemacht, die er hoch bewundert und verehrt. Er meint, wer die affektive und spekulative Mystik verbanne, zapfe der Religion ihr Lebensblut ab. Sein allgemeines Grunddogma heißt: Unter Assistenz des hl. Geistes als esprit de corps der Kirche hat sich im Gange der Zeiten notwendig ein Typus in Lehre, Kultus, Sitte und Leben der Kirche gebildet, der das organische Gesetz ihres Bestandes und Fortwuchses ist und die allgemeine N o r m ihres lebendigen Daseins; ohne Unterwerfung gegen ihn ist kein Heil und keine Seligkeit. Die christliche Wissenschaft ist es, vor allem in unseren Tagen, wovon das Heil abhängt, obwohl auch sie nur eine Manifestation des Geistes der Liebe ist, in welcher Priester, Gelehrter und Staatsmann geeinigt in Eintracht und wechselseitiger Anerkennung die W o h l f a h r t der Christenheit anstreben müssen. Ich halte Baader für den größten, tiefsten, umfassendsten und gewaltigsten Geist unter unsern Denkern, der bereits unendlich viel Gutes in allen Kreisen gewirkt hat, aber noch Größeres wirken wird auf J a h r hunderte; er ist aber mitunter etwas schwer zu verstehen und muß mit Vorsicht benutzt werden. Das Beste im Günther ist aus ihm genommen, vorzüglich aus seiner religiösen Philosophie, einem kleinen Büchlein; alle tieferen und bedeutenderen katholischen und protestantischen Schriftsteller von religiösem Sinn in neuerer Zeit haben aus ihm geschöpft und von ihm gelernt; unendlich viel haben wir ihm zu danken." U n d 1858 schreibt er einem „lieben alten Freund und treuen Gehülfen", daß in der letzten Periode seines Schaffens bei Baader „mitunter ein Unwillen gegen die äußere Kirche" hervortrete, „eine fast Jakob Böhmische einseitige Innerlichkeit", die ihn mehrfach gestoßen hat, doch: „In der spekulativen Mystik . . . ist und bleibt er Meister, und nach dem Geiste seiner Lehre ist es meiner Meinung nach unmöglich, daß durch ihn eine Seele der katholischen Kirche entfremdet werde, obwohl er über die Hierarchie und ihre äußere Erscheinung manches an Verwegenheit grenzende Wort auszusprechen sich erkühnt, und stets hält er den Wahlspruch aufrecht, reformatio prostestatio fiat intra ecclesiam." (UbMüSchlN.) In seinem Vorwort des von ihm edierten Bandes der Baader-Ausgabe (Bd. 14, S. 9 bis 30) hat Schlüter Baaders seltsame Ansichten, in denen er über das an sich rechte Ziel einer Kritik pro domo hinausgeschossen sei, der Verwirrung des Kölner Kirchenstreits und einer Trübung seines
26
Schlüter als Philosoph
klaren Denkens zugeschrieben, zugleich aber wird auf die Versöhnung mit der Kirche in seinen letzten Lebensstunden hingewiesen. Dies ist am 19. Oktober 1850 geschrieben. Wenn Schlüter aber nicht wünscht, daß seine Briefe an Baader in dieser Gesamt-Ausgabe veröffentlicht werden, so geschah das doch wohl nicht, wie Susini 8 ) meint, aus Furcht — obwohl Schlüter bei seiner f ü r Münster schon sehr gewagten Großzügigkeit allen Grund hatte, seine Stellung an der Universität nicht völlig zu gefährden — sondern deshalb, weil sie nun doch sein Innerstes hätten bloßstellen müssen. Das aber verträgt sich nicht mit dem Typus Schlüter, dem das Verbergen des Geheimsten trotz aller Aussprache etwas Selbstverständliches ist — er hat ja auch seine Briefe an die Droste wie an Luise Hensel nicht der Öffentlichkeit preisgegeben. Schlüters Briefe, die wenigen, die gegen seinen Willen unter dem Buchstaben S. doch der Ausgabe beigegeben wurden, zeigen, daß es sich nicht nur um philosophische Diskussion, sondern um Herzensergüsse handelt. Schlüter war allerdings davon überzeugt, daß Baader keinen Bruch mit der Kirche beabsichtigt hatte. In seinen „Baaderiana"9), die er Haffner f ü r seinen Bericht über Baader f ü r Wetzers und Weltes Kirchenlexikon zusandte, entschuldigt Schlüter Baaders Äußerungen zwischen 1838 bis 1941 mit der „persönlichen Gereiztheit des Philosophen" gegenüber dem Eingreifen der kirchlichen Autorität in die politische Sphäre, und „manches allzu harte W o r t " sei nicht zu sehr auf die Waagschale zu legen. H a f f n e r behauptete dagegen, daß Baader das richtige Verhältnis der wissenschaftlichen Forschung zu dem Glauben und der kirchlichen Lehrautorität von Anfang an nicht erfaßt hatte, und daß er durch seine Hochschätzung Böhmes u. a. mehr und mehr zu jenem Subjektivismus geführt wurde, welcher die Wurzel aller Häresien sei und mit dem Katholizismus sich niemals vertrüge und kommt zu dem Schluß: „Baader kann deshalb auch nicht zu den katholischen Philosophen gerechnet werden." Daraus läßt sich Schlüters Stellung als Philosoph innerhalb der katholischen Bestrebungen nach der Mitte des Jahrhunderts gewiß als recht kritisch erkennen. Er scheut es aber nicht, diesem seine Meinung „sans crainte" zu sagen: „Im übrigen scheint es mir Gewissenssache, namentlich in unserer Zeit, w o die Wogen der Negativität in reißenden Strömen über alle Lande gehen, instabilis tellus, innabilis unda, eine solche Kraft und einen solchen Zeugen f ü r die Wahrheit des positiven Christentums im großen und ganzen, nur nach der mangelhaften Seite zu bezeichnen und der Verachtung der Gläubigen preiszugeben, und alle W a f f e n von sich zu 8
) Susini, III, 166 (s. Lit.-Verz.). ) Aus dem SchlNJ veröffentlicht v. Jos. Nettesheim. »Schlüter über Baader", Phil. Jb. d. Görres-G., Jg. 1957, S. 245—250. 9
Schlüter als Philosoph 27 r " "" •werfen, welche er den Christen gegen die schlimmsten Irrsysteme der Philosophie in die H ä n d e gegeben hat, da doch ein hl. Augustinus keine Scheu trug, die Manichäer mit Waffen, die er aus der Rüstkammer des Plotinus genommen hatte, zu bekämpfen. Ist denn jeder orthodoxe und korrekte katholische Theologe als solcher schon imstande, einen Comte und Mill, einen Schopenhauer, Hartmann und das Heer unserer modernen Materialisten wirksam f ü r alle zu bekämpfen, und, was noch mehr sagen will, einen Kant, Schelling und Hegel?" Am 8. September 1858 schreibt Schlüter seinem Schwager Wilhelm Junkmann sarkastisch: „Es scheint jetzt, daß zu Rom Theiner den Baader in der Macht hat und man will schon behaupten, daß auch der enthauptet werden werde, so daß auch dessen H a u p t , Rumpf und Füße in den Gassen der hl. Stadt über kurz umher liegen werden; siehe, o Israel Deutschland, das sind Deine Götter! Plassmann präludierte bereits in seiner Schule des hl. Thomas, indem er Baader den besten unter den Schlechten, d. h. sämtlichen deutschen Philosophen, nannte." Das „auch" bezieht sich auf den zweiten in Rom Anstoß erregenden Wiener Theologen und Philosophen Günther. Auch durch die starke Freundschaft mit Günther geriet Schlüter in Münster in eine prekäre Lage. Aber wenn man Schlüter schon nicht schlechtweg als Baaderianer bezeichnen sollte, dann noch viel weniger als Güntherianer. Die frühen Aufsätze von Günther in den Jahrbüchern der Literatur (Wien 1820 bis 1825) hat er mit seinen ersten Schülern und mit den von Wien gekommenen GüntherSchülern „begeistert" studiert und immer wieder studiert, bis er sie fast auswendig konnte. Auch hier stand das Problem der Vereinbarkeit von Glauben und Wissen im Mittelpunkt des praktischen Interesses gegen den Idealismus — suchte sich aber einen theoretischen Boden der Verteidigung zu schaffen. Zunächst war es der Ton, die barocke Sprache, der geniale Wagemut Günthers im dialogischen Gespräch, in der T a r nung satirischer Verkleidung, die draufgängerische Kritik, die Schlüter als befreiend und fördernd empfand. Aber schon bald wurde er bei aller grundsätzlichen Bejahung der Ziele Günthers, die ihm die seinigen zu sein schienen, bedenklich, und zwar vor allem gegenüber seiner Descartes - Interpretation und Abbiegung des cogito ins Hegelische. Der Briefwechsel, der sich zwischen beiden über die anfallenden P r o bleme entspann, vor allem auch noch um die Abwägung von Begriff und Idee und die Rettung der Idee ins Realistische wie bei Plato — so sah es Schlüter — ist nicht verheimlicht worden, sondern mit Wissen Schlüters von beider Freund Knoodt in seiner Günther-Biographie 1 0 ) veröffentlicht. Dort steht auch (Bd. 2, S. 189 f.) ein Teil des Urteils von Görres über Günther (Original in UBMüSchlN), das Schlüter sich 10
) Siehe Lit.-Verz.
28
Schlüter als Philosoph
durch einen seiner Schüler von dem greisen Verfasser der „Mystik" erbat zusammen mit seiner Ansicht über Baader. Der undatierte Brief Günthers an Schlüter vom Jahre 1833 (UBMüSchlN) ist wohl die Antwort auf Schlüters Brief vom 28. J a n u a r 1833 (Knoodt I, S. 290 bis 292). Günther hatte sehr bald an vielen Orten „Gemeinden" und die münsterische schart sich um Schlüter, so spricht er von „unserer Dankbarkeit". „Ihr Brief hat vielen genützt; der Theolog Vierkante hat sidi ihn abgeschrieben und in die Vorschule gelegt." („Vorschule zur spekulativen Theologie", 1828) 11 ). Cremer (Joseph de Weidige)12), Schlüters Schüler, ein Theologe, der gern zu Günther nach Wien gegangen wäre, wenn er nicht sein Stipendium hätte „im Lande verzehren müssen", sagt von Schlüter: es wird sein Ruhm sein, neues Leben in unsern Theologen hervorgerufen zu haben. (Vgl. auch seinen Brf. a. Schi. v. 16. Dezember 1835 über dessen Spinoza-Arbeit. UBMüSchlN.) In seinem ersten „Du-Brief" an ]unkmann Ende November 1837, in dem wir erfahren, daß Piassmann, nachdem er sechs Wochen in Bonn Mediziner war, wohl in Münster hangen bleiben wird, berichtet Schlüter, daß unter seinen 28 Zuhörern „fünf treffliche junge Leute sind", denen er „den Günther besonders expliziere, versteht sich mit gehörigem Kommentar und H i n deutungen auf noch etwas anderes". Erst 1855 taucht Günther wieder in den Briefen an Junkmann auf und von da an noch mehrmals in der Sorge um seine Indizierung durch Rom. Er hofft, daß die neueste Entscheidung von Rom aus über das Verhalten von Vernunft und Glauben Günther retten wird. „Sie sind sehr rationell (rational) und ein gutes Omen f ü r Günther und seine Schule". „Ratiocinium kann Gott, Geistigkeit und Unsterblichkeit der Seele beweisen, Vernunft muß dem Glauben vorangehen, gegen Materialismus, Pantheismus und Skeptizismus kann nicht mit dem Glauben, muß mit der Vernunft gestritten werden." (30. Dezember 1855 und Mariä Heims. 1856.) Von J a n u a r 1857 ab beginnen seine dringenden Fragen an J u n k mann und an Therese in Breslau, weil er hofft, diese können durch den Anwalt Günthers an der dortigen Universität, Prof. Baltzer, das Neueste erfahren (11. Januar 1857). Er vergleicht hier Balmes („Lehrbuch der Logik", übersetzt von Dr. Frz. Lorinser), von dem er sechs oder sieben Bände durchgearbeitet hat, mit Sailer, Stolberg, Schlegel, Baader und Günther und findet ihn ohne erfinderischen Geist, „flach, ohne Gemütstiefe". Er will aber aus dessen Vergleichung des Katholizismus und Protestantismus, drei Bände, und Fundamentalphilosophie, " ) Vgl. auch den Brf. a. Günther v. 19. März (1850) in Knoodt, Bd. II, S. 69, über sein Kolleg „Über Theismus und Pantheismus", in dem er Günthers „Kreationslehre expliziert". 12 ) 1808—1866, Vikar und Religionslehrer in Dorsten.
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vier Bände, ebenfalls noch Auszüge diktieren. Am 8. Februar berichtet er dann von einem langen Brief von Kleutgen aus Rom, der über Günther „nicht viel Gutes erwarten lasse". Aber etwas Bestimmtes hat er in Münster noch nicht vernommen. Es muß die Antwort auf ein Schlüters Art als Philosoph besonders kennzeichnendes Schreiben sein (v. 6. August 1856). In ihm bricht er für Günther eine Lanze und macht sein Verhältnis zu ihm in kristallener Klarheit deutlich. Deshalb ist es von Gewicht, daß der als Mitglied der Indexkongregation tätige Jesuit seinem früheren Lehrer „sehr ernst, aber zugleich sehr herzlich" antwortete. Im Brief vom Fastnachtssonntag dieses Jahres a. Th. wiederholt Schlüter dies noch einmal unter genauer Angabe des oben angegebenen Schreibens, „worin idi mit voller Offenheit meine Ansicht über Günther ihm ausgesprochen und den ich Anna Wilde mitgegeben hatte; ich hielt es für gut, daß er eine Stimme mehr vernehme, und zwar von einem, den er genau kennt. Im „Merkur" ist bereits ein unangenehmer Handel los, da ein Artikel die Hoffnungen der schlesischen Theologen und spekulativen Philosophen, denen darin (nicht durch mich) ein Plätzchen gegönnt ward, niedergehagelt werden. Doch hört man neuerdings, daß in Rom noch immer nichts veröffentlicht ist. Am Mariä Heimsuchungstage 1856 (2. Juli) schreibt er der Schwester: „Dr. Brühl13) sagte mir jüngst, er glaube, es werde in der Güntherschen Sache zu keiner Censur kommen, der Papst sei ihm persönlich sehr gewogen und nenne ihn ein ingenio sublime. Schreibe mir doch, ich bitte Dich, recht sehr, was Du bei Euch über die Sache hörst; ich glaube, man weiß bei Euch mehr als hier. Der Pastor Kraska, ein polnischer Konvertit, ich meine, Du hast ihn hier gesehen, dem ich einen Brief an Ficker mitgegeben und der darauf nach Wien reiste, hat sofort eine Professur in Krakau bekommen. Er schrieb mir aus Wien einen sehr dankbaren Brief. Er war über zwei Stunden bei Günther gewesen, der ihm überaus gefallen hat; der wird mich einmal herausgestrichen haben, denn er war mein besonderer Gönner und Verehrer." Ungefähr ein halbes Jahr später (21. Januar 1857) fragt er wieder: „Hörst Du etwas über Günther, so schreib es mir ja." Am 3. Juli 1858 schreibt er ihr, er habe wieder „einen langen lieben Brief von Kleutgen bekommen, Haxthausens Mission scheint nidit ohne Erfolg geblieben zu sein". (August von Haxthausen sudite zu vermitteln.) Aber die Rückläufigmachung der Indizierung seiner Schriften vom 8. Januar 1857 geschah nicht. Günther, der sich unterworfen hatte, zog sich verbittert zurück. Schlüter war äußerst deprimiert. So urteilt er im Dezember 1859 (an Th.): „Die Welt wird täglich schlaffer, 13
) Moritz Brühl, s. Lit.-Verz.
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charakterloser, wiederwärtiger und unnützer. Ihr Realismus ist ohne Begeisterung, und irgend eine Genialität und ihre idealen Tendenzen sind ohne Realität und Wahrheit, eigentlich nur die Heuchelei derselben; die Supranaturalisten wenden der Welt den Rücken, die sie, auf sie eingehend, umwandeln sollten, wiefern in ihr etwas Gutes ist, und die Repräsentanten des Weltgeistes verleugnen den Rest des Idealen und Guten in sich selbst, weil es sie zum Supranaturalismus führen könnte. Der Unnützen Unnützester aber bin ich, der es nicht einmal zum rechten Wollen, geschweige zum Handeln in irgend einer Sache bringt. Gott sende einen Strahl und ziehe mich aus der finstern Grube; vielleicht tut er es an dem schönen Weihnachtsfeste, in dessen heiliger Nacht bekanntlich alle Kobolde, Hexen, Sternschnuppen und sonstige böse Geister fern gebannt sind und nichts ausrichten können." So pessimitisch sah er auf sein eigenes Wirken, der sich alle Mühe gegeben hatte, sowohl bei Baader als auch bei Günther, Irrtümer abzubiegen, Wahrheiten fruchtbar zu machen. H a t t e er nicht in einer Art von clairvoyance — oder soll man es kritischen Scharfblick nennen — Günther in einer Reihe von Punkten die Stellen bezeichnet, die in seinem System dogmatisch angreifbar seien: eine zu tiefe Herabsetzung der Scholastiker und Väter wegen teilweisen pantheistischen Einschlages aus der Verlassenschaft der antiken Philosophie; eine zu tiefe Herabsetzung der Philosophie auf dem Standpunkte des Begriffes gegenüber der auf dem Standpunkte der Idee, womit der ganzen mittelalterlichen Philosophie der Hals gebrochen wird, eine zu starke Urgierung des subjektiven Standpunktes f ü r die katholische Wissenschaft, obwohl hierin St. Augustin zum Teil bereits voranging, eben damit zu viel Anerkenntnis f ü r das, was seit der Reformation durch Cartesius, Kant, Hegel usw. in der intellektuellen Entwicklung des Menschengeistes geschehen. (Vgl. Briefe v. 20., 21. Mai 1853, Knoodt II, S. 163, 165.) Als dann die Nachricht durchgedrungen war, daß zunächst Pius I X . dem Dekret der Indexkongregation seine Zustimmung versagt hatte, schreibt „der geistvolle blinde Mann", der Günther „zu Tränen gerührt" hat, einen seiner humorvollen, barocken, zwielichtig biedermeierlichen Freundesbriefe, den niemand verstehen kann, der nicht Günthers „Peregrin" kennt. „Lieber Himmel, ich wollte, ich hätte jetzt die Drehorgel des ehemaligen Famulus Wabbel zur H a n d , um ,Freuet Euch des Lebens' Ihnen ins Gesicht abzuspielen . . . " O b Günther aber sein barockes „Durch-die-Blume-Sprechen" Eindruck machte, ist fraglich, mußte Schlüter sich doch dessen Freund und Mitarbeiter Pabst gegenüber verteidigen, er sei kein „Böhmist". Schlüter stand zwar immer an der Seite der Kühnen, hart an der Grenze des noch Möglichen innerhalb christlicher Philosophie, z. B. auch bei Daumer und bei Fritz
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Michelis. Doch wehrt er sich: „Wenn Sie fast in der Art zu mir reden und vor mir argumentieren, als setzten Sie voraus, ich habe so etwas von einem Pietisten, einem Mystiker oder Böhmisten an mir, so will ich dies tragen, wofern Sie zu dem Charakter des ersteren weder etwas Sektiererisches noch Frömmelei und Kopfhängerei, zu dem zweiten nicht Gemüts- und Geistesverworrenheit, durdi sinnliche Phantasiebilder und zweideutige unklare Gefühle, zu dem des Letzten endlich nicht etwas Antikatholisches oder gar Heidnisches zählen; den Böhm habe ich nur gegen den Vorwurf der Natursklaverei zu rechtfertigen gesucht und aus keinem andern Grunde, als weil eine gewisse Verwandtschaft mit ihm Baaders größtes Verbrechen sein soll. Ihre leichte Waffenrüstung leistet Ihnen, wie ich vielfältig gesehen, treffliche Dienste, Sie führen Ihr Schwert geschickt und in einer guten Sache, Ihre Kirchlichkeit möge mir und unserer Zeit zum vorleuchtenden Muster dienen, in der Philosophie aber finden wir uns nicht ganz zusammen, und zwar deshalb, weil Sie mehr Gewicht und Wert auf nur negativ beschränkende Konzilienbeschlüsse, ich auf den Geist christlicher philosophischer Schriften, wiefern dieser immer und überall sich gleich, Sie auf die katholische Logik, ich aber einen weit größeren auf die katholische, nicht unlogische Mystik lege, die mir durchaus nichts anderes als die notwendige himmelklare Entwicklung der Aussprüche des Apostels Paulus und Johannes zu sein scheint, f ü r weldie Sie aber sich beinahe zu verschließen oder doch derselben als gefährlich nicht trauen zu wollen scheinen, während ich andererseits keineswegs die Logik und die den Gehalt des Selbstbewußtseins in höherer, freier Reflexion rekonstruierende Philosophie verachte; . . . " Ein Schlüters Position klar legendes Bekenntnis! A n Passavant macht er ebenfalls recht offene Mitteilungen über seinen philosophischen Weg, auf dem es ihm nicht leicht gemacht wird, der ihn immer Mißverständnissen aussetzt. Das ist um die Zeit seiner Enttäuschung über Rom. Er fühlt sich von des Freundes Anerkennung getragen, seinen Weg „in Spekulation und Leben nicht zu verlassen, sondern getrost darauf weiter zu gehen . . . , namentlich in einer Zeit, wo das wieder erwachte Bedürfnis nach positiver Religiosität vielfach in unerfreulichem, zu nichts führendem Wortgezänk, größtenteils um Nebensachen, in den schlecht oder halb organisierten Individuen sich kund gibt, die das große Wort führen und wo Orthodoxie und Autorität auf eine wahrhaft unverständige und dem Geist des Christentums zuwider laufende Weise urgirt wird, so daß der Buchstabe den Geist zu erdrücken droht." U n d zur Verteidigung der von ihm so sehr geliebten Mystiker schreibt er ihm: „Man hat freilich neuerdings nicht nur Meister Eckart, sondern auch seinen Schüler und Verehrer Tauler . . . des Pantheismus verdächtig machen wollen; aber ist es nicht klar, daß
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nur ein Wesen, welches nicht Gott ist, vergottet werden kann? Die Nichtunterscheidung des divinae naturae particeps und par ist auch ein schweres, tiefgreifendes Übel der Zeit, das den Fortschritten der Religion und der wahren christlichen Aufklärung ein großes Hindernis in den Weg legt . . . Es würde midi freuen, wenn ich zuweilen über philosophische Gegenstände mich mit Ihnen unterhalten könnte", schreibt er dem protestantischen Sailer-Schüler. „Es gibt wenig Menschen, mit denen man ein rechtes Verständnis über die höchsten Angelegenheiten des Geistes findet." Schlüters Gedanken sind durchaus modern. Emrich hat bei Jean Paul eine »tätige Resignation", eine Trauer höherer Art (Feuchtersieben) nachgewiesen, in der „sich geschichtlich werden" die höchste Stufe möglicher Selbsterkenntnis darstelle. Dies entspricht der leisen Trauer, die dem Menschen des Biedermeier überhaupt eigen ist und die mit „Weltschmerz" nichts mehr zu tun hat. Bei Schlüter ist aber noch mehr. Das Sich-Geschichtlich-Werden steht im Eschatologischen, geschieht im Reich Gottes im Hier und Jetzt als Ewigkeit und dies mit der platonischen Schau der Geschichte aus Logos und Sophia. Sie — diese Resignation, die ohne Zweifel auch hier ist — wird positiv fruchtbar im Innern der Heilsgeschichte an der Geschichte des Schmerzes, des Leidens. Seinen eigentlichen Lebensplan, eine Philosophie des Schmerzes, des Leidens zu schreiben, hat Schlüter nicht ausgeführt, aber wie ein roter Faden durchzieht sie seinen philosophischen und seinen menschlichen Briefwechsel. Die Leidensphilosophie dieser christlich platonischen Denkweise, die, wie André14) betont, keineswegs mit Neuscholastik identifiziert werden darf, findet die Basis ihrer HeilsPhilosophie bei Paulus, Rom. 8, 22: „Wir wissen ja, daß die ganze Schöpfung voll Seufzen und Wehen ist bis auf diesen Tag." Die Resignation, die der Restauration überhaupt eigen ist als Gestimmtheit der Unerfüllbarkeit ihrer zukunflsgerichteten Bestrebungen vor einem fast mechanisch ablaufenden Geschehen in der geschichtlichen Zeit: Mechanisierung, Materialisierung, Entgottung, die Resignation gegenüber dem fast vergeblich scheinenden Aufbruch innerhalb der eigenen Kirche, zum anderen die menschliche Erfahrung menschlichen Leidens und Mit-Leidens gibt sicher einen Boden ab f ü r den Ausbruch eines „heiligen Zornes", in den diese fast „ohnmächtige" Schicksalserfassung umschlägt. Der Bruch in der Schöpfung, als Folge der Erbsünde gesehen, wird zugleich in platonischer Schau als Schattendasein, Einkerkerung, Gefangensein im Fleische, in den Sinnen gedeutet und das „Schmachten" der Kreatur identifiziert die Sehnsucht nach Erlösung von dem Leibe der Sünde (Paulus) mit dem Schmachten nach der Siehe Lit.-Verz.
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Befreiung aus der einkerkernden Materie überhaupt. Der platonische Idealismus wird unter das Kreuz gestellt. Man kann es auch umgekehrt formulieren: die „Nachfolge Christi" wird platonisiert. Aber hierin liegt vielleicht zugleich die tiefste Tragik dieses Philosophierens. Dodi ist sie auch wieder aus realistischer Position her aufgehoben. Die Tradition der kirchlichen Lehre und der mittelalterlichen Philosophie, die mittelalterliche Mystik vor allem — alles Tradierte, was auf dieser Linie des Denkens und Beschauens liegt, setzt, gewußt, lebendig ausgeschöpft, gelebt, Grenzen vor den Abgrund der Gnosis. André hat bei Friedrieb Michelis diese Gefahr, ja mehr sogar, den gnostischen Einschlag als das Versagen dieses großen Aufbruchs erkannt. In der Naturphilosophie, die Schlüter mit Friedrich Michelis, seinem Schüler und Freunde, zusammen in der Zeitschrift Natur und Offenbarung der Idee nach aufbaute 1 5 ), hat Schlüter eigentlich seine Philosophie des Leidens an den Tagesproblemen aktiviert. Das zentral interessierende der Genesis angesichts der Apologeten Thema war die Interpretierung des Darwinismus — die zum Kämpferischen des Grundtons, den André ebenfalls bei Michelis wie Dempf16) bei Günther so sehr bedauert, den Anlaß gaben. Die beiden wichtigsten Arbeiten Schlüters stehen im 13. und 14. Bande: Bemerkungen über die Teleologie, ihren Begriff, ihre Geschichte und ihre Haltbarkeit (in fünf Artikeln, von denen er in den Briefen an Junkmann und an Therese berichtet), und Gibt es wirklich eine christliche Naturwissenschaft und kann sie eine rein mechanistische sein? In diesen beiden Abhandlungen hat Schlüter von Thomas zur Stütze seiner Auffassung von christlicher Naturphilosophie reichlichen Gebraucht gemacht. Er konnte es mit Leichtigkeit, da er, wie man berichtet, die „Summa" im K o p f e hatte 1 7 ) — sein Gedächtnis war ja phänomenal. Wie aber verträgt sich dies mit den Äußerungen über die wiedererwachte Scholastik, wie sie sich z. B. in einem seiner Briefe an Caroline Lombard, seine frühere philosophische Mitarbeiterin und langjährige Freundin, die Übersetzerin von Malebranche und Ozanam finden; Äußerungen z. B. über die neuscholastische Richtung des genannten früheren Schülers (1832), des Jesuiten Kleutgen, die er ebenso in seinen Briefen an Therese macht; nach den Angaben in letzteren muß der Brief an die Freundin 1864 (nicht 1856, D y r . H o h n . S. 163) datiert werden. Briefe über dies Werk hatte er, wie bereits erwähnt wurde, schon 1856 ausgetauscht; seinen Mitteilungen an Therese und Junkmann, die diese Briefe zu lesen wünschen (23. Oktober 1856 und 21. Januar 1857 bzw. 3. Juli 1858) ist seine Erregung über diesen 15 ) Siehe Lit.-Verz. 16) Siehe Lit.-Verz. 17 ) Hertkens, s. Lit.-Verz.
3 Nettesheim, Schlüter
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Fragenkomplex zu entnehmen. Es muß noch daran erinnert werden, daß er in dem letzten der angeführten Briefe auch sein Studium des Plassmannschen „Thomas von Aquinls) mitteilt und darüber Folgendes schreibt: „Erinnerst D u Dich Plassmanns? kenntnis v e r f a ß t ,
D a s Buch ist nicht ohne Geist und Sach-
aber v o n einer so maßlosen P o l e m i k durchgeistet,
ein Grausen ist. N a c h ihm ist Aristoteles der Gegner Piatos, der
d a ß es
anerkannte
Philosoph der katholischen Kirche. W e r nicht auf seiner und des hl. T h o m a s , seines großen Schülers, Auslegers und E r g ä n z e r s Seite steht, ist unkatholisch. W a s seit 3 0 0 von
Buben,
Jahren elend,
in der schlecht,
deutschen Philosophie jämmerlich,
Stümperei,
geschehen, ist ein Unsinn,
Werk
Verkehrtheit,
W e r k v o n Gottlosen oder doch völligen Ignoranten. Ich höre, Plassmann sei als Professor nicht geliebt; auch der Bischof und Professor Clemens sind mit der Weise seines Gebarens nicht zufrieden. Auch ich, je älter idi werde, sehe mehr
und
mehr
ein,
alles Absolute
in dieser
relativen
Welt
verdient
den
Ostrazismus."
Am 24. Dezember 1864 aber berichtet er noch einmal, trotz aller erregten Abneigung, seiner Schwester: „Von Kleutgens ,Philosophie des Mittelalters', einem weitläufigen Werke, vollendete ich den Auszug des 2. Bandes, nachdem (ich) auch Kleutgens ,Theologie der Vorzeit' und die meisten Bändchen von Plassmanns ¡Schule (des hl. Thomas)' durchgelesen und ausgezogen hatte, um des Gegenstandes völlig mächtig zu werden. Gegenwärtig aber lese ich Stöckls ersten Teil der Geschichte der scholastischen Philosophie, die er mir geschenkt hat." Die Auszüge aus Plassmann verarbeitete er dann in dem erwähnten, ein Jahr später erscheinenden Aufsatz über die christliche Naturphilosophie. An Frau Lombard aber schüttet er sein erregtes Herz aus. (Den ersten Teil des fragmentarischen Briefes konnte ich bisher nicht auffinden.) „. . . Zudem hatte ich mir zwei Aufgaben für den Winter gesetzt, die mir notwendig schienen, nämlich einesteils Kleutgens ,Philosophie der Vorzeit' zu lesen und auszuziehen, nicht minder auch Ulrich gehaltvolles, äußerst wichtiges Werk ,Gott und Natur', welches auf der Höhe der Naturwissenschaft der Gegenwart steht und im ganzen in sehr gutem Geist geschrieben ist (vgl. die Mitteilung an Therese am 1. Mai 1864, sein Aufsatz über den Atomismus Ulricis stehe in „Natur und Offenbarung"). D a beide sehr umfangreich und mitunter ein etwas längeres Verweilen erfordernd sind, so ward es mir fast zu viel. Mit Kleutgen ward ich eben fertig, während von Ulrici noch etwa ein Drittel übrig ist (das Buch umfaßt 700 S.); mit beiden Arbeiten verbinden sich viel Unmut und verdrießliche Gefühle, und es ist bei beiden nicht, wie wenn man einen Baader, St. Martin, Malebranche, Ozanam vorhat, die freilich auch ihr Studium erfordern, bei denen aber die Natur ihre
is) Siehe auch S. 186.
Schlüter als Philosoph
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Rosse Lust und Freude vorspannt. Beide genannten Herren sind, namentlich der erstere, Aristoteliker, mithin dem Plato und seiner liebenswürdigen Familie abhold; ja der letztere ist sogar Atomist und geht zu der erschrecklichen Behauptung über, erst seit der Atomismus durch die neuere Naturwissenschaft wissenschaftlich begründet sei, könne man die Existenz Gottes im Sinne des reinen Theismus auf eine unausweichliche Weise dartun, wie nodi nie zuvor. Den hl. Thomas achtete ich früher als Theologen nicht so hoch als den hl. Augustinus und Bonaventura, und als Theologen höher (denn) als Philosophen, weil er fast in allen Stücken Aristoteliker und Antiplatoniker ist; ich hielt ihn namentlich gut zum Nachschlagen bei dogmatisch schwierigen Fragen, weil er klassisch und zugleich genial, d. h. dem Geiste des Dogmas treu und zugleich scharf und tief ist; als Philosophen würde ich ihn aus freier Neigung nie studiert haben, schon weil er wiederholt gegen Plato, den er nur aus der entstellenden Darstellung des Aristoteles kannte, polemisiert, da aber in neuerer Zeit alle deutschen Bischöfe zusammt den gelehrten Jesuiten sich vereint zu haben scheinen, den hl. Thomas, den Aristoteles incl., als den eigentlichen Normalphilosophen, der die Beglaubigung der Kirche hat, in der Christenheit geltend zu machen und seine Autorität auch schon früher so groß und allgemein ist, da ein Werner, Plassmann, Kleutgen, Liberatore wetteifern, ihn als den größten katholischen Philosophen wie Theologen zu feiern und zu empfehlen, so muß unser einer dodi auch genau wissen, was er gelehrt hat, um in einem oder anderm Sinne Rede stehen zu können. Dem Plato, wovon de Maistre sagt, man müsse Platoniker sein schon um der guten Gesellschaft willen, welche seine Freunde in allen Jahrhunderten bilden, geht es bei Kleutgen jämmerlich schlecht; alle Ideen werden zu a posteriorischen Begriffen, die nicht aus dem Gemüt genommen noch höher empfangen, sondern durch Abstraktion aus der Erfahrung selbsttätig bereitet werden, wie ein neugebackener prunkender Adel, der aber die Zeichen seiner Abkunft nur schwer verbergen kann 1 9 )." Die bekannten philosophischen Demonstrationen des Verstandes, aber nicht das allen Menschen leuchtende Licht des Logos, als führend ansehen, das ist einem Schlüter zu platt. In diesem Zusammenhang sind auch zwei Briefe Franz Brentanos (UBMüSdilN) vom 2. Juni 1861 und 10. Februar 1863 von Wichtigkeit, der den Lehrer auf Grund seiner Studien des Originals von der bei ihm zugrundeliegenden falschen Auffassung des Aristoteles überzeugen möchte. „So fand idi kürzlich eine Stelle", schreibt er ihm aus Mainz, „die, wie mich bedünken will, ihn gänzlich gegen einen großen Vorwurf, den man einer zweideutigen Stelle wegen in neuerer Zeit ihm macht, rechtfertigt, in-
19
) Dieses Mißverständnis findet sich heutzutage bei den Existentialisten.
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dem er zeigt, d a ß er keineswegs seinen Gott von der Selbstbetrachtung absorbiert über alle Dinge der Welt in völliger Unwissenheit ein seliges Eremitenleben führen läßt, d a ß er vielmehr gerade so gut wie wir einsah, wie absurd und Gottes unwürdig eine solche Vorstellung sei." U n d er zitiert und interpretiert ihm dann die Stelle. Wichtiger ist der Brief aus München vom 10. Februar 1863, der wohl die Antwort auf Schlüters Schreiben vom 1. Dezember 1862 ist. (Der erste von beiden ergänzt den Schlüterbrief b. Dyr. Hohn., S. 152.) Der Brief Schlüters stattet dem N e f f e n Brentanos den D a n k ab f ü r seine Schrift „Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden bei Aristoteles", die er von seiner Mutter, der ihm durch Luise Hensel bekannten Emilie Brentano, erhalten hatte. Er lobt sein Talent, sein Wissen und seine Darstellungsgabe und geht dann gründlich auf seine Ausführungen ein. Dem verdanken wir eine eingehende Stellungnahme zur Kategorienlehre von platonisch gerichtetem christlichen Denken her (Bonaventura, St. Augustin). Brentano sieht so „seinen Aristoteles in den „Anklagezustand" versetzt! Er sucht den Lehrer zunächst milde zu stimmen und ihn durch verschiedene Zeugnisse älterer Gewährsmänner davon zu überzeugen, daß Plato und Aristoteles „wohl zu vereinigen seien". Man stelle die kühne Behauptung auf: „Die Platonische und Aristotelische Philosophie sind Eine; denn es gibt überhaupt nur Eine Philosophie, nur Eine Weisheit, wie es nur Eine Gottheit, Eine Wahrheit gibt; was außer ihr, gegen sie von Menschen gedacht wird, ist Torheit. So kann also die Philosophie des Plato nicht mit der des Aristoteles in Widerspruch und Feindschaft geraten; wo beide sich widersprechen, tun sie es nicht als Philosophen, wie auch, um mit Plato zu reden, der Arzt nicht, insofern er etwas nicht versteht und falsch behandelt, Arzt genannt werden darf. Die Platonische und Aristotelische Philosophie sind ein und dieselbe." Dem kann er sich insofern anschließen, als man sagen kann: der Platoniker und der Aristoteliker lassen sich recht gut vereinigen. Der moderne Philosoph kann und muß sich beide zum Gebrauch zurechtbiegen. „So rühme ich mich ebenso gern Platoniker wie Aristoteliker zu sein, wie ja auch Plato es war, der zuerst mein H e r z der Philosophie gewonnen und geweiht hat." Auch den hl. Bonaventura kenne und lese er, sogar täglich. Schlüter aber möge ihm den Aristoteles nicht schmähen! Hier spricht eine neue Generation, eine Generation, die dann doch mit der Kirche bricht, sich einem entschiedenen Realismus und Psychologismus und einem freien christlichen Theismus zuwendet. Dem Gange einer echten Restauration aber konnte Schlüter sich auch in bezug auf Thomas nicht entziehen, und er hat sich ihr schließlich nicht entzogen. U n d so ist er auch in diesem harten Punkte sich selbst treu geblieben, indem er sein eigenes Sympathisieren dem unterwarf,
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was er als das Ewig Alte Wahre und als seine Ordnung in einer gigantischen Zusammenschau, die eben nur dem Biedermeier eigen ist, erkennen und verkünden — aber auch leben muß. Darin ist er durchaus realistisch. Schon f r ü h macht sich seine realistische Richtung in der Ästhetik ebenfalls geltend, mit deren Grundauffassung er sich einer Revolution in der Dichtung grundsätzlich aufschließt, die sich unter seinen Augen vollziehen soll, und schon nennt er, was das Losungswort der Droste f ü r ihren Aufbruch aus dem Pseudoromantischen geworden ist: Natur und Wahrheit. — „Es würde in der Welt unter Menschen viel interessanter hergehen, auch selbst besser mit allem stehen, . . . wenn wir alle minder formell und affektiert, offener und aufrichtiger einander mitteilten, statt Natur und Wahrheit und mit ihnen die Poesie des Lebens und seinen Kern von dannen zu jagen." (8. November 1834 an Junkm.) 2 0 )
20) Vgl. S. 101, 103 u. Anh., Brf. a. J., S. 164 f. u. 169.
DER SCHLÜTER-KREIS U N D DER (1832—1842)
„DROSTE-KREIS"
„ . . . jenes libellenartige, farbenspielende Flattern an der Oberfläche des Lebens, mit gelegentlichem leichtem Eintauchen und Benetzen der Flügel, jene Scheu vor dem Ergründen und vor allem Großen, Überlegenen und Herrschenden — gilt nur von der gegenwärtigen weichlichen, kränklichen Reizbarkeit der Gesellschaft . . . " Adam Müller
Schlüter gewann 1832 in seinem Schüler Wilhelm ]unkmann einen jungen Dichter-Freund, dessen Begabung mehr als andere versprach. Er stammte aus einer tüchtigen Handwerkerfamilie in Münster. J u n k mann hatte das Paulinum von 1822 bis 1829 besucht, hatte ein Semester in Münster Philologie und Geschichte studiert, drei Semester in Bonn, wo er sich 1830 der deutschen Burschenschaft anschloß, kam dann wieder nach Münster zurück, um sich auf das Examen pro facúltate docendi vorzubereiten, das er im November 1833 bestand. Während der Zeit des Studiums in seiner Heimatstadt hatte J u n k m a n n seinem geliebten Lehrer als Helfer zur Seite gestanden; er verehrte dessen Schwester Therese, die mit ihm fast gleichaltrig war. Doch das war nicht alles. Der Student J u n k m a n n las dem Dozenten der Philosophie seine elegischen Gedidite vor; sie gefielen diesem wegen ihres originellen Tones. O als ich noch ein Knabe auf einsamer Heide schweigend lag, Den blauen ew'gen Himmel schaute, Die fernen Wolkenberge in Glanz und Form so wundersam; Als ich auf abendlichem Strom' alleine schiffte, Tief, grundlos unter mir der Sterne milder Strahl; Als Windeswehn, des Waldes Sausen Mit tiefer Lust mein lauschend Ohr vernahm: O schöne Zeit, o wärst du noch, O heilig stille Ruh, wohin bist du entflohn!
Als J u n k m a n n Ostern 1834 nach Berlin übersiedelt, um dort gegebenenfalls leichter sein Oberlehrer-Examen zu machen, entbehrt Schlüter den jungen, anregenden Freund sehr, so daß er ihm in der kurzen Antwort auf seinen Reisebericht klagt: „Mein Leben ist seit Ihrer Abwesenheit einfacher und einsamer geworden, wenigstens deucht es mir so und noch mehr bin ich auf die Gesellschaft der Bücher angewiesen und beschränkt . . . Gedenken Sie mein, und halten Sie mich lieb, mehr das, worin wir eins." Er unterzeichnet „Ihr immer getreuer
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Schlüter." Das ist am 29. Mai. Acht Tage später schreibt er ihm ausführlicher; Junkmann hat sich über die Kürze seines Briefes beschwert. Er hat ihm ein Gedicht übersandt, dessen Beurteilung den Charakter des 23jährigen, neun Jahre jüngeren als zerrissen und unrealistisch erscheinen läßt; nach Schlüters Meinung hat er fast etwas von Jean Paul. Schlüters Verhältnis zu diesem Tasso ist das eines Antonio, nur ohne jedes politische Interesse. D a ß er im Recht ist, wenn man irdisches Fortkommen im Auge hat, wird sich bald zeigen; denn Junkmann wird in Berlin wegen demagogischer Umtriebe f ü r 100 Tage in der Hausvogtei eingesperrt, und das bedeutet: seine Beamtenlaufbahn ist so gut wie unmöglich geworden. U n d Junkmann macht Aspirationen auf seines Lehrers geliebtes Schwesterchen Thereschen, das dem Blinden zudem unentbehrlich ist. Schlüter spricht im Brief vom eingelegten Gedicht: „Ihr sylphenartiges, ätherisch leichtes, fast leichenblaß beschriebenes flatterndes Blatt . . . Seine erste H ä l f t e überzeugte mich trotz allem heitern und tollen H u m o r , der darin herrscht, daß sie noch immer etwas wahnsinnig und in der Residenz meiner oder meinesgleichen bedürftig sind, Sie mitunter mit einer Donnerrede zur Raison zu verweisen oder wenigstens mit einem bittenden ,Herr Junkmann'! oder spielen Sie nur zum Scherz in Komödie mit mir und bleiben in der Rolle, der Sie mit Verstand und Willen bereits untreu wurden, um sich wenigstens in der Phantasie einmal schadlos zu halten, oder gar, um mich zu vexieren?" Der „politische Kohl" habe ihn mehr „anegiert als gefreut", — so wird es lebenslang bleiben. Er sei schwerfällig, schwerfällig ernst, Junkmann mache „verwegene Sprünge". Weitere Gedichte müssen noch beigelegen haben, die in der ersten Gedichtsammlung zwei Jahre später erscheinen: Der Abend und Der Heidemann. Wenn stiller Abend hüllt der Erde weiten Raum: Die einsame Heide glüht in goldnem Glanz; Um Blum' und Blätter gießt er roten Schein, Sie leben in junger, feierlicher Schöne auf. Die nackte Binse freuet harmlos sich der reichen Pracht, Der hohe Wald steht hehr in dunkler Glut; Der goldne Schimmer sucht des Himmels Höh' Von Wipfel leis' zu Wipfel schwimmend auf, Stets dunkler, goldner, glühender.
Im „Heidemann" schließt J u n k m a n n sich, abgesehen von der lyrischen Ausmalung der Naturstimmung, fast wortwörtlich an die überlieferte Form des Volksglaubens an 1 ); er verbindet die Furcht des Mädchens auf einsamer Heide vor der Dunkelheit der stürmischen Nacht mit der Angst vor den Geistern des Hünengrabes. Westfälische Sagen, Diederichs, 1927, 334 f.
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Es ist selbstverständlich, daß die jeweils neuen Produkte des jungen Westfalendichters im Familien- und Freundeskreise vorgelesen werden. Die Briefe Schlüters an Junkmann berichten von der Aufnahme bei den einzelnen Familienmitgliedern. Er selbst kritisiert: „Ich bemerkte innerlich — spitzen Sie die Ohren — daß mit Ihrem Ich der lyrische CentroHerkules und Träger Ihrer Weltkugel dem Gedichte audi das höhere lyrische Leben und somit innige Interesse fehlt: räumliches Anschauen und Bildhaftigkeit verdrängt zu sehr das geistliche Empfinden und in ihm den Durchblitz eines ewigen Ideenmoments. Sie haben nicht wie sonst den Raum in die Zeit aufgelöst, Phantasie im Element des Gefühls und wahrer lebendiger Gemütseinheit spielen lassen; die Jungfrau ist fast nur ein Zierat der Landschaft und der Waldschluchten, ein matter äußerer Reflex von Herrn Wilhelm Junkmann, höchstens eine Personifikation eines seiner Gefühle; während sie sein anderes Ich und die camera obscura jener Abendszene hätte werden sollen, welche sie verschönert wiedergibt, ihre Malerei in Musik verwandelt." Dieses „übrigens wunderschöne Gedicht" bringt ihm die Theorie über Malerei und Plastik von Lessings „Laokoon" in Erinnerung, und er stellt sie Junkmann als Richtlinie für derartige Plastik erfordernde Bild- oder Gestalt-Gedichte dar. Diese Gesetze habe er in zwei früheren Gedichten völlig erfüllt: es sind die im Stil von Wordsworth und Coleridge, den ihm am nächsten stehenden englischen Romantikern, gehaltenen Elegien: An einen gelähmten Kranich und An eine Blume von einer Pflugschar zerschnitten." (6. Juli 1834.) Die differenzierten Reflexionen über einen unscheinbaren und grausam dem Untergang geweihten Gegenstand der Natur, eine Feldblume, stehen ganz nahe bei S. T. Coleridges Elegie auf eine verwelkte Blume (1794) 3 ): Ungrateful he, who pluck'd thee from thy stalk, Poor fadel flow'ret! on his careless w a y ; Inhal'd awhile thy odours on his walk, Then onward pass'd and left thee to decay. Ah! melancholy emblem! had I seen Thy modest beauties dew'd with Evening's gem, I had not rudely cropp'd thy parent stem, But left thee, blushing, 'mid the enliven'd green And now I bend me o'er thy wither'd bloom, And drop the tear — as Fancy, at my side, Deep-sighing, points the fair frail Abra's tomb — 'Like thine, sad Flower, was that poor wanderer's pride! Oh! lost to Love and Truth, whose selfish joy Tasted her vernal sweets, but tasted to destroy! ) Elegische Gedichte, Münster 1836, S. 6 1 — 6 5 . ) The Complete Poetical Works of S. T. Coleridge, ed. E. H . Coleridge, Oxford 1912, I, 7 0 : „The Faded Flower." 2
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Vielleicht p a ß t noch besser zum Vergleich, abgesehen von der Anspielung auf das Polenvolk, das wenige Jahre später von Schlüter gemeinsam mit dem jüngsten Schriftsteller der Kreise um Schlüter und die Droste, mit Levin Schücking, übersetzte: Beim Anblick einer Blüte am 1, Februar (1796) 4 ). Doch der Ubergang vom Ding zur menschlichen Existenz, die im Grunde nur als eine tragische erfaßt werden darf, ist hier anders als in der Romantik: den Dichter bewegt ein doppelter Schmerz, das Leiden an der Vergängnis selbst und das Leiden an dem Bewußtsein von diesem Leiden. Der Wunsch, wie die Blume seelenlos in die Vergängnis sinken zu dürfen, „unbewußt und plötzlich", entspringt der subjektiven Seelenstimmung des Müde-Seins von Kampf und Qual, der Todessehnsucht auch dieser Generation der 30er Jahre. Mit der dritten Strophe beginnt im Grunde ein neues Gedicht: jetzt wird das Welken der Blume im Kreislauf des Naturgeschehens gesehen bis zum Zenit des Sommers. Die Glut zerstört: Symbolik f ü r das Schwinden der Jugend, die der Mensch als unwiderbringlich beklagt. Das ist die Qual aber auch gerade dieser Dichterseele. Doch dieser westfälische Dichter rafft sich aus dem melancholischen Sentiment, wenigstens dem Wunsche nach, auf zu einer idealistischen Überwindung aller Vergängnis; er will gleichzeitig auch den Leser oder H ö r e r seiner Poesie mit hochreißen aus seiner sentimentalen Stimmung; in einer metaphysischen, fast religiösen Ermahnung schlägt der Ton um in platonisierende Schau der Meditation: Das Auge (Sonne, Strahl) des U n genannten, Höchsten, ist Spiegel unseres Auges, in dessen Blick verjüngende K r ä f t e sich mitteilen und zur Verklärung führen. Solche Ansätze mußten Schlüter zusagen, und er ermutigt den Freund und freut sich über seine Absicht, „poetische Ferien" zu machen, da er „wohl nur eines oder das andere treiben" kann. Das ist allerdings so und wird seine Dichterexistenz, als er sich zum Professor der Geschichte ausbildet, zum Scheitern bringen. Schlüter aber erinnert ihn nun an eine Aufgabe, die er ihm gestellt habe, etwas über seinen Lieblingsplatz zu dichten, den alten, historischen „Kirchhof von St. Mauritz" in Münster. J u n k m a n n nimmt die Anregung auf; er hat dieses Gedicht „gemacht". In dem Junibrief 1834 teilt Schlüter Junkmann auch das Neueste aus dem Freundschaftskreis mit. „Unsere Freunde sind sämtlich wohl, namentlich Vierkante." Und, da Annette von Droste schon dazugehört, erzählt er, „das poetische Fräulein" habe ihn überrascht, als er gerade einen Morgenrausch am Tage vor seines Bruders (Arnold) Hochzeit in den Mittagsstunden verschlafen habe; sie habe ihn beschlagnahmt bis 4 ) a. a. O. S. 148: „On Observing a Blossom on the First of 1796", (Sibylline Leaves).
February
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7 Uhr, obwohl sie wußte, daß er eine Verabredung mit K(reuzhage) hatte. So voll Mitteilungsbedürfnis sei dieses „äußerst geistreich" plaudernde Fräulein. Sie las ihm des berühmten polnischen Romantikers Adam Mieckiewicz' Bilder aus der Krim vor, „sprach über Poesie wie ein Buch" und rezitierte vier ihrer neuesten Gedichte. Es handelte sich um den Zyklus „Die Elemente" (diese sind also schon vor Juni 1834 entstanden, nicht 1835, wie bisher angenommen; SK W w II, 406 u. C. H . SW, 1104). Sie sprach auch über ihn, Junkmann, „mit Wohlgefallen", d. h. über seine Gedichte und über ihn selbst. Sie lud „uns alle dringend nochmals zu sich ein". Er hat seine Grüße dem Fräulein bei dieser Gelegenheit bestellt. Was da sonst noch alles besprochen wurde, und was er zu den Gedichten noch zu sagen hätte, das kann er nicht alles schreiben; aber ihr Miteinander ist ja so, daß Junkmann auch ohne Worte weiß und fühlt, was der Freund, was die Freunde ihm zu sagen haben — und zu diesen seinen Freunden gehört der geschätzte Onkel Fritz, H o f r a t Gräver, der auch an ihm Wohlgefallen gefunden, sich sehr f ü r ihn interessiere. Schlüter bedauert nur, daß Junkmann bei dem regelmäßigen Treffen im münsterschen Landgasthaus alle Samstage fehle 5 ). Auch von einer anderen Dichterin ist in diesem reichhaltigen Brief die Rede, und diese steht ganz abseits von dem münsterschen Treiben; sie lebt „fern der Welt", wie eine „Heilige". Es ist die BrentanoFreundin und Konvertitin Luise Hensel. Junkmann soll sie in Berlin kennenlernen und von ihr profitieren, geistig und religiös. Um sie ihm „schmackhaft zu machen", entwirft er eine Charakteristik von ihr, die ebenso bedeutsam f ü r die Kennzeichnung Schlüters wie auch f ü r die der Hensel ist und schließlich auch f ü r Junkmann selbst. Es wird jedoch, trotz Junkmanns gutem Willen, kein rechter Kontakt zwischen ihnen entstehen. Schlüter scheint etwas davon zu spüren; er spricht von „ein Abenteuer bestehen"; der philologische Kandidat soll „geschniegelt und in höchstem Wichse" mit einem schönen Gruß von ihm recht offiziell nach dem Wohlergehen der frommen und gescheiten Dichterin in seinem Auftrage sich erkundigen. Schlüters Apotheose dieses engelhaften, heiligmäßigen Wesens, das der Erde schon entsagend entrückt ist trotz seiner „Jugend" (sie war 36 Jahre alt!) grenzt ans Komische. Aber das ist nun so typisch f ü r Schlüter: Kontakte zwischen Dichter und Dichterin, von Seele zu Seele bisweilen geradezu zu forcieren. Doch er hat auch einen praktischen Zweck dabei im Auge, Junkmanns Fortkommen. Luise hat gute Beziehungen in Berlin. Auch sein subjektives Empfinden ist bei diesem R a t mit im Spiel. Er kannte Luise seit 1823 und korrespondierte mit ihr anscheinend seit 5) Brf. a. J. v. 6. Juli 1834.
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1 8 3 2 , als die K o n v e r t i t i n , um sich eine Existenz zu schaffen, mehr noch um sich nützlich zu machen, in Aachen an St. L e o n h a r d unterrichtete. J u n k m a n n k a n n t e sie noch nicht. Schon im J u l i w a r sie zu ihrer erkrankten Mutter nach Berlin gefahren. D o r t wohnte sie bei ihrem B r u der Wilhelm, dem Professor der Geschichtsmalerei an der
Akademie
der Künste und seiner G a t t i n F a n n y , der Schwester von Felix Mendelssohn, unter Menschen mit vielen gesellschaftlichen Verpflichtungen. D a hin p a ß t e der weltfremde, melancholische Westfalensohn nicht;
„sein
scheues Wesen hat etwas sehr Rührendes für m i d i " , schreibt Luise ihrem Freund in Münster über ein J a h r später und durchschaut mit psychologischem Scharfblick J u n k m a n n s A r t und Schicksal;
dann erst
wird
sie mit ihm selbst und mit seinen Gedichten bekannt. J u n k m a n n
hat
also zunächst Schlüters Bitte, wie es scheint, nicht erfüllt, sondern über ein J a h r später, nachdem er von April bis August 1 8 3 5 als Deutscher Burschenschaftler (von 1 8 3 0 ) in den Demagogenprozeß geraten und in der Berliner Hausvogtei
inhaftiert
gewesen w a r
(vgl. Luise
Hensel
B r f . v. 31. August 1835). D a s „poetische F r ä u l e i n " Annette
von Droste-Hülsboff
drückt schon
in ihrem Schreiben an Schlüter im Dezember 1 8 3 4 ihre besondere T e i l nahme für diesen jungen Freund Schlüters aus. „ W e n n Sie J u n k m a n n schreiben, grüßen Sie ihn herzlich von mir, ich denke oft an ihn und bin sehr begierig, welchen W e g sein schönes T a l e n t ferner nehmen
wird.
Adieu, mein sehr lieber F r e u n d ! " Einen M o n a t vorher hatte Schlüter dem jungen Dichter zugestanden, daß er „das F r ä u l e i n " besser e r f a ß t habe als er selbst. Beide hatten sie nämlich schon früher gemeinsam „analysiert", und sich wiederholt über ihre „ B y r o n " - N a t u r unterhalten; jetzt muß der Optimist Schlüter J u n k m a n n recht geben, daß die Epen dieses adligen Fräuleins, selbst der geruhsame ,St. B e r n h a r d ' mit seiner jedoch fast makabren Totenhaus-Szene „auf vulkanischem B o d e n " aufstiegen, und daß der „auctor operis" von Des Arztes
Vermächtnis
ein edleres Gegenstück
zu Lord B y r o n , so meint Schlüter, „wohl selbst eines Arztes bedürfe, wenn anders ein gewöhnlicher A r z t so tiefe W u n d e n heilen k a n n " . U n d er fügt, keineswegs entrüstet, vielmehr ergriffen, hinzu: „ O wie werden Sie staunen und sich wundern und mit innigem Anteil zugleich
be-
wundern6)!" Dichtung aufnehmen und genießen ist mit der menschlichen Anteilnahme am Dichter selbst unzertrennlich
verknüpft
in dieser
Gesell-
schaft. J e t z t hat also der Philosophiedozent, der ein Publikum D e D e o liest, zwei Manuskriptbändchen da, woraus man ihm und den Familienmitgliedern und Freunden vorliest, und die er mit G e n u ß a n h ö r t : D a s „fuchsige Buch" der Droste 6
) Siehe Anhang, S. 166.
mit den zwei E p e n Das Hospiz
auf
dem
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Großen St. Bernhard und Das Vermächtnis des Arztes und das lyrische „grüne Büchlein" von Junkmann. Und er drängt den jungen Freund, dieses bald drucken zu lassen, wie er das „Fräulein" zu weiterem Schaffen ermutigt. Junkmann hat unterdes noch zwei plattdeutsche Gedichte geschickt, die das „Fräulein" Schlüter erklärt hat, weil er nicht alles verstand. Er findet diese übrigens mit Recht „ausgezeichnet schön", aber das Fräulein, das den westfälischen Dialekt ihrer Landschaft beherrscht, bemängelt den Junkmannschen Versuch im Dialekt — sie hat überhaupt Abneigung gegen Dialektdichtung — und wünscht, er übersetzt die Gedichte schleunigst zurück ins Hochdeutsche; sie gibt sich dann schon selbst daran 7 ). „Audi Ihre Abendlandschaft nach dem Gewitter ist hinterher mehrererseits zu unglaublich hohen Ehren gelangt und mehr denn gerechtfertigt", schreibt Schlüter dem Dichterfreund. Es handelt sich um das Gedicht der Ausgabe von 1836: Nach einem Kupferstiche. Es beginnt im echten Junkmann-Ton: Die Sonne tauchet aus G e w i t t e r N a c h t A m tiefen H i m m e l klar und freudig a u f ; D i e düstern Wolkenscharen fliehen heim Umgössen rings v o n hellem Abendgold. E s schießt das Licht schnell über Berg und T a l : I n ferner T i e f e schimmert Stromes F l u t ;
„Oft ergötzen uns jene zarten, duftigen, herrlichen Blüten Ihres früheren inneren Lebens" — Schlüter umfaßt hiermit auch die Kindheits- und Jugendgedichte im Stile der Lake-Poets, von Wordsworth, aber auch von Byrons „I would I were a careless child . . .", dessen erste Zeile Junkmann als Motto dem Gedichte Die Knabenzeits) voranstellt. Das ist eines der typischsten Gedichte Junkmanns und zu Unrecht vergessen. Das Zerrissensein durch die platonisierend übersteigerte Vergoldung des Jugendparadiestraums, jetzt ins geschichtlich Heroische transponiert, als wirklich erlebte Realität, und das Zerbrechen des Traums innerhalb des Jugenderlebens in die Trauer des Unerfüllbaren mit dem Schwelgen der Sehnsucht in vielerlei Gestalt, nimmt Schlüter in Kauf; er objektiviert es in der Analyse und bringt es so im Abstand dem jungen Dichter zum Bewußtsein, typisch für den Lebensstil dieser Epoche, die sich anders als die Romantik und ihr doch sehr nahe, innerlich zu sich selbst einstellt. Es ist so, daß bei aller Verzweiflung über das Ungenügen und die Unwiderbringlichkeit eine praktische wirkliche Flucht ins Abenteuer, wie bei Byron oder gar ein Selbstmord wie bei „Werther" oder auch nur eine Selbstheroisierung, noch viel ' ) Siehe A n h a n g , a. J . a. 2 0 . M ä r z 1 8 3 5 , S. 169. 8) Elegische Gedichte, S. 6.
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weniger Selbstvergottung, wie im Prometheus Gedanken, überhaupt noch möglich wäre. Ein fast nazistisches Sich-Selbst-Anschauen ist allerdings nicht abzustreiten: O wär' ich noch ein Knabe jung, Und schweifte noch durch Feld und Wälder Und über braune weite Heiden hin: Ich fühlte Kraft und Mut in meiner Seele glühen,
Die zarten Blüten seines inneren Lebens seien unter „Regenstürmen und Gewittern nur um so frischer und reizender" hervorgekommen, „Herz und H a u p t erquickend". Das Gemüt, so hatte er es vorher (am 8. November 1834) ausgedrückt, sei ja eben das Zentrum des Dichtens bei ihm 9 ). Das sieht Schlüter richtig, bei Byron und bei den Lake-Poets ist es die Idee, zumindest das intellektualisierte Gefühl. „Ich hoffe und glaube nicht, daß die Schönheit, namentlich die, welche die Vergegenwärtigerin der Wahrheit, je in Ihnen einen Verehrer verlieren könne; und wenn die Rebe blüht und der Weinstock Knospen gewonnen hat und die Turteltauben im Lande girren, wenn der Winter vorüber und der Platzregen dahin oder, mit H o r a z zu reden, cum cephiris et cum hirundine prima, wird auch des philologischen Poetleins NachtigallZunge erwachen und süßer den Wald durchschmettern als zuvor." J u n k m a n n hat geäußert, daß er an den früheren Gedichten — die Daten sind nicht bekannt — nichts ändern möchte f ü r den geplanten Druck; Schlüter gibt ihm darin recht; doch hat er etwas auszusetzen, was er nicht recht ins Wort fassen kann. Schlüter greift Momente heraus, Momente der Kritik, die man in England an dem Verkünder der Theorie von der einfachen Alltagssprache in der Dichtung, an Wordsworth, geübt hat: er sei „zu ungezwungen und natürlich, oder zu wenig gebildet, das unmittelbare Gefühl aussprechend" 10 ). Wo das aber der Fall ist, hat Junkmanns Lyrik tatsächlich eben dieses Neue gewagt, z. B. in dem wie Prosa fließenden Satz aus Abschied, An . . ., einer Elegie, die der gebrochenen Existenz des dem Jugendalter Entwachsenen in detaillierten Erinnerungsbildern Ausdruck gibt: Wie o f t lag ich an Baches Ufer, schaute Dem muntern Spiel der Fische zu, Wie Silberweilchen auf und nieder tauchten, Die schönen Uferblumen mit den Wellen bebten, Der weite, ew'ge Himmel in den Fluten lag.
Das ganze Gedicht ist eines der schönsten. Schlüter kann den eigentlichen Mangel von Junkmanns Elegien nicht recht fassen; er f r a g t : 9) Anhang S. 165 f. ) Die Kritik galt den „Lyrical Ballads" u. dem programmatischen Vorw. zur 2. Aufl. 1800, The Poetical Works, Oxf. Ed. 1904, S. 934—959 vor allem. 10
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„. . . sind sie zu weich?" Junkmann hat bei seiner Selbstkritik den Ausdruck „affektiert" gebraucht, der aber auch nicht das Rechte bezeichne. „Keinesfalls aber sind jene Mängel auffallend und eigentlich störend", ist Schlüters Ansicht, „auch sind sie selten". Er stellt die geistige Hochspannung dieser Lyrik fest und vergleicht sie hierin mit der des Salis. Diese übertreffe allerdings die seine durch „den Gedanken und die höhere Ideemacht, wenngleich nicht überall in der Form". Damit bezeichnet Schlüter zwar den historischen Ort, an dem Junkmanns Landschaftslyrik und lyrische Malkunst steht, in der Weiterführung des Früheren, aber nicht die Erkenntnis und Anerkenntnis der andersartigen, der Zeit entsprechenden dichterischen Aussage seines Freundes. Diese hat Junkmann jedoch selbst einmal gut getroffen in einer Äußerung an Schücking (s. S. 49). „Audi Fräulein nennt die meisten vollendet, bis auf diese. Ich glaube aber, sie würde sie mir zu eng beschneiden; Ihre Epitheta scheinen mir recht, wo sie gehäuft, an ihrer Stelle wesentlich, notwendig und folglich keins entbehrlich." Zunächst müssen Junkmann in Berlin aber noch mehr philosophische Betrachtungen zur Geschichte als eigentlich geschichtliche Forschungen beschäftigt haben; auch da steht er der Romantik, vor allem Friedrich Schlegel, nahe, dessen Gedankengänge ja auch auf Schlüter sehr stark wirken. Es ist nur zu bedauern, daß nichts von Junkmanns Ideen und Fragmenten zu einer Philosophie der Geschichte auf uns gekommen ist; im Brief vom 20. März 1835 1 1 ) gibt der Schlegelkenner Schlüter seiner Begeisterung über diesen Entwurf Junkmanns Ausdrude; er erwarte auch hier viel von ihm. „Überhaupt sehe ich mit Freuden aus Ihrem Brief, wie Ihr Geist sich vertieft und weitet und bereichert, was stets nur zugleich und eins durch das andere geschehen kann; und schon hieraus folgt, daß Sie nicht müßig gewesen sind, noch bloß über Grillen gebrütet haben können, und daß Sie folglich gelogen haben, wenn Sie das Gegenteil behaupten. Gottes Segen sei mit Ihrer ferneren Entwicklung und Entfaltung und bewahre Sie vor jeder Verirrung, deren es so viele gibt, und erhalte Sie nebenbei bei — darf ich es sagen? — Vernunft." Dann folgt ein echt Schlüterscher Zuspruch, wie er ihn ähnlich der ebenfalls an Melancholie leidenden Droste gibt, die übrigens in Frage zieht, ob sie noch am Leben sei, wenn Junkmann von Berlin zurückkomme, so krank fühlt sie sich. Daß Dichter dieser Zeit physisch schwach sind, ist bekanntlich keine Seltenheit; auch Junkmann ist häufig krank. „Es muß wie ein Fels fest in uns stehen, daß, wer Gott liebt, betet, und ernstlich guten Willens ist, wie wunderlich auch seine Wege sich wenden und verstricken mögen, doch endlich zum Rechten und zum einzigen Ziele gelangen, und daß ihm jegliches wahrhaft und im strengi i ) Anhang S. 170.
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sten Sinne zum Guten gereichen müsse, . . . " U n d wie in seinem Brief an Annette sieben Tager später, zitiert Schlüter Angela von Foligno: „ . . . er ist so gütig, tarn curialis est, daß er auch das halbe H e r z und noch weniger, wenn es ihm geboten wird, nicht verschmäht und über alle H o f f n u n g und Erwartung auch dieses Gute belohnt." Doch wieder entschuldigt er feinfühlig, daß er ins Predigen gekommen ist. Aber er liebt Junkmann so sehr, daß er sein eigenes Glück nie von dem seinen „unabhängig werde betrachten können". (Seit dem 23. September 1837 schreibt er ihm das vertrauliche „ D u " ; das gilt wohl auch schon dem zukünftigen Schwager.) Zartfühlend bittet er um Nachsicht wegen seiner eigenen Stumpfheit. Er berichtet von seinem philosophischen Kreis und von Fräuleins neuestem Plan. Sie habe „gegenwärtig einen ähnlichen martialischen Stoff zu bearbeiten unternommen" als er früher vorhatte 1 2 ). Leider wolle aber die Dichterin zu ihrer Schwester nach der Schweiz; es wäre schade, meint er, wenn sie nicht wiederkäme. Annette reist jedoch erst im September; Anfang 1837 kehrt sie bereits nach Rüschhaus zurück. Junkmann ist inzwischen, privatisierend, wieder in Münster. Die beiden Jahre, die er hier verbringt, bedeuten ein intensives Zusammensein mit den Schlüters, stärkere Annäherung an Therese Schlüter und vermehrte Freundschaft mit der Droste. 1836 kommen seine Elegischen Gedichte heraus 13 ). Im Sommer 1837 lebt er durch Vermittlung der Droste in Senden als Erzieher bei den Freiherrn von Droste, von Oktober 1837 bis 1839 in Münster als Kandidat der Philologie am Paulinum. Inzwischen ist er auch in den Almanachen zu Wort gekommen. Annette hat großes Vertrauen zu ihm. Im März 1837 besucht J u n k m a n n die Drostes im Rüschhaus; es ist das zweite Mal, daß er dort in der Familie weilt; Annette ist erstaunt, wie gern ihre gestrenge Mutter ihn hat, und sie freut sich sehr darüber. „Das Interesse f ü r ihn ist groß und wird dauernd sein, wie ihr fester Charakter das mit sich bringt", meint Annette. Die Mutter wünsche fürsorglich, daß der junge Dichter sie in Bökendorf bei den Haxthausens besuchen und dort die Bekanntschaft ihres jüngsten Bruders August machen solle; „es ist derselbe, der sein eigentliches Lager in Berlin aufgeschlagen hat". Annette bedenkt ebenfalls, daß dieser Junkmann vielleicht nützlich werden könne in seiner Angelegenheit in Berlin. Wir hören, daß Annette mit Junkmann ihre dichterischen Pläne bespricht; Junkmann tut auch ihr allerhand Gefälligkeiten. Die Freundschaft bewährt sich. Dennoch hat man den Eindruck, daß J u n k m a n n als Dichter und als Mensch nicht völlig zu seinem Recht kommt. — Schlüter weiß zwar 12) „ D i e Schlacht im Loener Bruch". Vgl. Anh. S. 171 u. Anm. 23. ) 1844 erscheint die 2., „sehr vermehrte" A u f l . bei Deiters unter Titel: „Gedichte". 13
dem
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sein episches Gedicht über Enzius, den jungen König von Sardinien, sehr zu würdigen. E r kündigt ihn der Droste im Brief nach Eppishausen (am 8. Februar 1836) an: „. . . ein großes, goethisch-schönes, sehr gehaltvolles neues Gedicht . . . " . Der König Enziusu) ist tatsächlich das Bemerkenswerteste, was Junkmann in die dichterische Form gebracht hat. Kein „martialischer Stoff", wie die Droste ihn wählte und bewältigte; er hätte wohl die Kraft zur epischen Schilderung einer Schlacht nicht gehabt. An dem Thema des königlichen Gefangenen kann er vielmehr seine eigenen Einsamkeitserlebnisse zur lyrischen Aussprache bringen im Abstand von sich; es gibt ihm Raum, seine restaurativ romantische Auffassung von Königtum und Reich zu sagen; man nannte ihn später in Bonn ( 1 8 4 4 — 1 8 4 7 ) gern im „historischen Kränzchen" den „Reichsprophet" (Ficker). Im Stile also von Byrons Prisoner of Chillon oder Hemans Arabella kann er in monologisch-elegischen Versen sich selbst, verborgen hinter der Gestalt des Eingekerkten, aussprechen. Schlüter sagt, er entwerfe „ein Portrait aus seinem Gemüt- und Seelenspiegel". — „Sein Ich, wie ehemals, sagte ich zu mir, als Gemüt, ist die volle innere Synthese und einendes Zentrum alles dessen, was er sieht und erlebt, und was diesem seinen eigentümlichen Charakter aufdrückt, was analytische Brocken zu Lebensgemälden beleben und selbst große epische Ereignisse in lyrische umwandeln muß; er ist und bleibt ein lyrischer Poet, ohne es zu merken, selbst als Weiser oder H y p o chonder." (8. November 1834) 1 5 ). Aber Junkmann hat nicht das Heroenpathos Byrons und Byron hat nichts von der Metaphysik und und Mystik Junkmanns. Dazu kommt bei Junkmann ein eher an Hölderlin erinnernder apollinischer Zug. Antik südlicher Glanz ruht über dem „Enzius", der die stellenweise stoßenden Rauhigkeiten der Sprache (westfälisch!), übergoldet. Zwei Züge machen das viel versprechend Dichterische des „Enzius" aus: die Gestaltung der paradies-sehnsüchtigen, trauernd-schönen Jugend, in Rückerinnerung im Ich sich spiegelnd, hier in romantischer Schau des jugendlichen Königtums, zum andern die konservativ-romantische Schau vom Sein des Königtums, die ihn in seiner demokratischen Gesinnung durchaus nicht stört; denn er ist auf das Sein des Königtums, auf das ewige Reich, ausgerichtet. Enzius klagt: Des Königtumes schönste Tage schwinden Aus meinem Geiste; mein sind sie für O Hochgefühl, in sich zu leben Völker Von Tausenden zu fühlen ihre Lust und
nicht Ewigkeit. Sein, Not:
(4,
6-9)
Die platonisierend-mystische Erhöhung in das Urwesenhafte spricht sich aus in der Zeile: „Mein Geist lebt nur im Geiste, da ist Ewig) Elegische Gedichte, S. 100—117. is) Anhang S. 165. 14
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keit . . . " So wird der Kerker zur mystischen Zelle, der einfallende Strahl zum Symbol des Urlichtes, das erzwungene Schicksal zur inneren Erleuchtung. Der der Jugend Beraubte wird zum schon verklärten Greise, zum Weisen. Ihm öffnet sich die Wahrheit der geistigen Schönheit. Junkmann malt diese mit seinen Farben: blau, gold, silbern, mit seinen Lieblings Worten: klar, selig, mit seinen Farben fürs Irdische: grün, kristallen, regenbogenfarben, weiße Blüten auf weißer Hand . . . Da sind Bilder von der Zartheit mittelalterlicher Initialen oder besser klassischer Vasenbilder. Junkmann hat sich selbst einmal treffend charakterisiert: „Ich bin gar nicht mittelalterlich, sondern durch und durch antik. Nie würde es mir gelingen, . . . mich in das Einzelleben und -wesen zu finden. Schließe ich meine Augen, so sehe ich unwillkürlich die tiefblaue See der Hellenen mit dem reinen, glühenden Sonnenlicht 16 )." Das ist die Sehnsucht des Nebellandsohnes nach dem Süden! In diesem Sinne schreibt ihm Schlüter einmal: „Der Zeilenquaternar von Rügen ist wahr und schön, drückt aber doch mehr ein Schmachten und Sehnen als ein Gefundenhaben einer nati sententia compos aus; aber gerade so wie sonst — Ihre Schwermut wie Ihr Leichtmut in ihrer unbegreiflichen Mischung, — Lebensmüdigkeit, gemischt mit einer Art Mutwillen des Geistes, sind mir bekannte, geläufige Zustände . . . " Erstaunlich ist deshalb nicht, wenn er ihn einerseits mahnt: „ . . . werde nicht zu weich, zu ätherisch, zu leiblos . . . " , anderseits gesteht: Deine zerrissenen, düsteren affizieren mich poetisch . . ." (am 27. Mai, 14. Juli 1840). In dem Gedicht Der Abgrund z. B. nimmt Junkmann die schöne Maske des hellenisch stillen, lichten Antlitzes vorsichtig herunter, ein tief melancholisches, leicht zerfurchtes Menschengesicht kommt zum Vorschein. Es liegt in unsrer Seele Tiefen Ein Abgrund, unermeßlich tief, Leis' überdeckt von Blumen, Farben. Allmählich wächst er, bis die Ufer er Unermündlich einfrißt und in sich begräbt.
Das war ein Bekenntnis; so kam es, daß er auch Annettes tiefinneres Verwundetsein leichter durchschaute als Schlüter. Er klagt schon früher als die Droste, aber später als Freiligrath, daß das Herz des Dichters „ein Vulkan voll Glut, nach außen kalt", sich „blutend" in Tränen fest zusammenschließt (Sonett: „Gerne freut' ich mich der goldnen Sonnen . . . " und „Strahlt Frühlings Glanz . . .") 1 7 ). Sein Unternehmen, mit seinem Kollegen Hüppe in Coesfeld zusammen Fr. v. Spees Trutznachtigall verhochdeutscht zu edieren, unterstützt Schlüter durch Zusendung einer Originalausgabe, die sein Schwä) Zu Schücking, S. 46. ) Elegische Gedichte, S. 56 u. 57.
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gerinnenvater, „Papa Sdieffer", besitzt; am 14. Juli 1840 meldet er ihm: „Ich bin heute ernstlich drüber aus gewesen, auf die Mittel zu sinnen, viele Subskribenten für Eure Trutznachtigall zu gewinnen, die Ihr ja nicht ausgeben müßt, bevor die gehörige Anzahl jener da ist." Das ganze Klübchen, das da bereits zusammengefunden hat, ist behilflich 18 ). Zunächst: 1836 erschien im Schlüter-Haus eine andere Dichterin, eine Berlinerin, die durch Vermittlung der Freundin des Hauses, der alten Gräfin Stolberg, nach Münster gekommen ist. Luise v. Bornstedt und ihre Mutter, die verwitwete Frau Obristlieutenant Freiin v. Bornstedt, beide Konvertitinnen, hofften in der Stadt der Gallitzin und Stolbergs ihre Existenz besser sichern zu können, die in Berlin durch ihre Zugehörigkeit zum ultramontanen Görres-Kreis, zu Staatskanzleirat Jarcke und Professor Philipps, die auch Schlüter kannte, sehr gefährdet war. Görres selbst protegierte die damals 31jährige Luise. Das Schlütersche Haus konnte zumindest vermitteln, der Dichterin zu Privatstunden in den fremden Sprachen zu verhelfen und ihr gesellige Verbindungen zu verschaffen. Dichterin der Pilgerklänge einer Heimatlosen, hatte sie sich einen Namen als Bahnbrecherin sozialer Dichtung gemacht (1833). Diese war aus einem moralischen Wollen, aus MitLeiden mit den Armen, den Gefallenen, den Gebrochenen entstanden, eine Dicht-Art, die im Biedermeier zur Mode wird. In anempfundener Primitivität machte sie sich zur Stimme der Waisen, der Bettlerin, der Mohrin, die als Nonne geächtet war, der Schicksale von Frauen und Mädchen aus dem Volk, ähnlich wie der junge Freiligrath schon 1830. Ein schauriges Balsac-Geisterspiel war vielleicht eine Konzession an das Publikum. Solche Themen waren im hochgemuten Schlüter-Kreis noch nicht dagewesen; Annette hatte ihre Situationslyrik: „Die beschränkte Frau", „Die junge Mutter", „Der Brief aus der Heimat" u. a. noch nicht geschrieben. Sie würde auch nie die BänkelsängerManier der Bornstedt annehmen, in solch einem Gedicht z. B. wie dem „Bettler-Lied", das in religiöser Heilsarmee-Pathetik endet, und beginnt: Sonne, lösch' die Fackel aus! Nordwind, kriech aus deiner Klaus! Nacht, entfalte deine Schatten! Alles ruht auf weichen Matten. — Stille — still — ich bettle heim.
Zwölf Strophen lang wiederholt sich der Refrain, der seine Wirkung nicht verfehlte, wenn das Gedicht halb so lang wäre. Mit der „Legende von der gnadenreichen Lebensführung und dem glorreichen Martertode der hl. Jungfrau und Märtyrin Sankt Katharina. Aus Legendarien des 15. und 16. Jahrhunderts zusammengetra18
) Anhang S. 215, Brf. v. 23. Febr. 1840.
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gen . . . " führt sich die Bornstedt in Münster passender ein, mit einer Widmung an die Gräfin Stolberg und einem inhaltschweren Vorwort von Görres über die Rehabilitierung der Legende. Dieses Vorwort gibt zugleich den historischen Ort an für das Unternehmen Luisens: Absage an die durch die Aufklärung innerhalb der Kirche verwässerte, verunwesentlichte Heiligengeschichte, die nicht mehr „Legende" genannt zu werden verdient. Die Verdienste der Bornstedt um eine realistische Legende, wie Görres sie hervorhob, lag ganz in der Anschauung Schlüters, ebenso wie die platonisierend christliche Darlegung der Tugend der Reinheit, die in St. Katharina zum Leuchten kam. In barocken Verschnörkelungen gibt die Bornstedt überraschende Bezüge der Reinheit zur Lichtmetaphysik in ihren theologischen Deutungen. Das Wunder des leuchtenden Grabes kann „bei so viel geheimnisvollem Licht einer Seele nicht mehr bestürzen". Aus der Heiligenlegende „strahlt . . . die Wahrheit der höchsten christlichen Ideen, ja, die mehr als die Ideen, vielmehr lebendige Realitäten genannt zu werden verdienen . . . " Solche Auffassung hat Schlüter später an den hagiographischen Darstellungen seines Freundes Professor Ludwig Clarus (W. Volk), der in der hier angebahnten Richtung zu historischer Quellentreue fortschreitet, anerkannt 19 ). Die eigentliche Leistung der Bornstedt liegt in der Nachgestaltung der Quelle; sie ist einfach, flüssig und realistisch. In Münster paßt sich das Freifräulein bald den lokal-kirchengeschichtlichen Forderungen an: sie gibt sich an die Geschichte des hl. Ludgerus, des ersten Bischofs von Münster. Schlüter gibt sich diesem Versuch gegenüber sehr kritisch. Er berichtet Junkmann: „Fräulein Bornstedts ,Ludgerus' schreitet voran; wo sie aber an die Gestalt selbst Hand anlegt, findet man ihre Feder dem Stoff kaum gewachsen; auch malt und dichtet sie etwas zu viel an der Staffage" (1. Dezember 1839). „Fr(äulein) Bornstedts ,Ludgerus', vor dem Du Dir die Ohren zuhältst, fährt gut fort . . . " (23. Februar 1840) 20 ). Mittlerweile hatte Luise sich mit der Überreichung der Hl. Katharina als „demütige Verfasserin" der Droste vorgestellt (Begleitbrf. v. 25. November 1837) 2 1 ). In diesem Jahr hatte sie ihre Mutter verloren und Schlüter bemitleidet sie nun noch mehr als „Waise". Annette teilt ihrer Mutter nach Meersburg mit (Fbr.), sie träfe Junkmann und die Bornstedt bisweilen bei Schlüters. Junkmann war in den Ferien zuhaus. 1 9 ) Ludwig Clarus: „Leben und Offenbarungen der hl. Birgitta", Regensburg 1856, neuerdings zitiert in „Politische Heilige und katholische Reformatoren" v. Gisbert Kranz, Verl. Winfried-Werk, Augsburg, als einzige vollständige Obersetzung der Offenbarungen ins Deutsche, 4 Bde., 2. Aufl. 1888. „Geschichte d. hl. Franz v. X a v i e r " , 1865; „Das Leben d. hl. Antonius", 1867 u. a. Siehe Lit.-Verz. 2 0 ) Siehe Anhang S. 178. 2 1 ) Veithaus, L. v. B., S. 12 f., s. Lit.-Verz.
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Einen „Droste-Kreis" gab es noch nicht. Erst ein Jahr später bietet sich zunächst der Droste in Münster eine neue Möglichkeit an, Gespräche über „moderne" Literatur zu führen: die Nichte der von Annette hochgeschätzten Schriftstellerin Henriette von Hohenhausen, Elise v. Hohenhausen, deren Mutter übrigens ebenfalls schriftstellert, hat ihr Haus als verh. Regierungsrätin Rüdiger einem literarischen Sonntagskränzchen geöffnet, einer biedermeierlichen „Teegesellschaft", und sie läßt sich Annette vorstellen, offenbar mit dem Wunsch, sie dafür zu gewinnen (Brf. A.'s a. d. Mutter v. 9. Februar 1838). Annette macht Besuch bei der Rüdiger. „Ich beredete die Bornstedt, mit der ich zuweilen bei Schlüters zusammentreffe, mit mir hinzugehn" (ebd.). So saßen also die beiden adeligen angehenden Dichterinnen bei der angesehenen bürgerlich Verheirateten beim literarischen Tee; Annette war mit ihren 41 Jahren die älteste, Elise erst 26 Jahre alt. Das ist kurz bevor unter dem Protektorat Schlüters und Junkmanns Annettes erste Gedichtsammlung bei Hüffer in Münster herauskommt, in der die modischen Versepen den größten Raum beanspruchen: zu den beiden genannten (S. 43) ist der „martialische Stoff" (Schlüter S. 47) aus der westfälischen Geschichte hinzugekommen: Die Schlacht im Loener Bruch (Schi, a. J . a. 20. März 1835). Auch Junkmann wird nun, wenn er in Münster ist, in den RüdigerKreis, den man viel später, der überragenden Gestalt der Droste wegen, Droste-Kreis nennt, eingeladen; er ist bald sehr beliebt. Im Herbst erhält der „Klub", wie Annette ihn nach dem Vorbild des Münsteisdien „Damenklubs" nennt, Zuwachs an einem jungen 23jährigen Literaten, der Annette bereits als Gymnasiast begegnet ist: es ist der Sohn ihrer früh verstorbenen Dichter-Freundin Katharina Busch-Schücking, Levin. Obwohl sie Mutterstelle an ihm vertreten sollte, hat sie ihn sieben Jahre lang nicht mehr gesehen. Nun bringt der junge, auch dichtende Schriftsteller eine tüchtige literarische Bildung mit; er hat das Zeug zu einem Kritiker von Rang, wie Annette bald erkennt. Dazu kommt der Charme des romantisch gekleideten Troubadours, der Annette zunächst befremdet, doch die anderen Frauen bezaubert, die der Reihe nach sich in ihn verlieben. Aber Levin ahnt bereits die geistige Bedeutung der Droste, dieser „seltenen, ja einzigen Natur", wie er sagt, um „nachhaltig davon gefesselt zu werden" 22 ) und widmet sich bald ausschließlich der reifen Frau, die auch ihm eine tiefe, mehr als mütterliche Zuneigung schenkt. Die Bornstedt nennt den Zirkel noch „Salon" auf Berliner Art; sie nimmt ihn sehr wichtig und wünscht fast fiebrig, den 1839 in Münster auftauchenden Freund Schückings, Ferdinand Freiligrath, dort zu sehen, --') Lebenserinnerungen, I, S. 112, siehe Lit.-Verz.
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den Annette bekanntlich meidet. Da es ihm gerade um die Bekanntschaft mit der Droste geht, mag „der Henker das ganze Kränzchen holen", wie Schücking als Bote berichtet. Doch man liest Freiligrath, dessen Gedichte Schlüter ausborgt, man liest Immermann, George Sand, Balsac und die Engländer, und der Geh. Oberfinanzrat Carl Carvacchi betätigt sich als dramatischer Vorleser nach der Manier Ludwig Tiecks. Die Spannung zwischen den Frauen des Klubs entlädt sich im „Klatsch". Da ist es Schlüter, der ausgleicht. Er verschmäht es nicht — wohl auf Anregung Annettes — der jungen Rüdiger zuerst Besuch zu machen. Er sei „lange" dagewesen, berichtet er Junkmann nach Coesfeld, der dort 1838 als Hilfslehrer arbeitet (a. 30. August). Auch Therese, die feingebildete, kluge, musikalische und liebenswürdige einzige Schwester, die den blinden Bruder führt, gehört fortan dazu, wie auch Frau Carvacchi, die zur Geselligkeit beiträgt. Es entwickelt sich mit den menschlichen Beziehungen im Rahmen des Biedermeier-Lebensstils von literarischer Aufgeschlossenheit der familiäre Charakter der beiden Kreise, die sich amalgamieren. „Mit der Rüdiger stehen wir in einigem Verkehr; so oft wir zu ihr gehen, gefällt es mir dort sehr gut", meldet Schlüter dem Freund wieder Anfang Dezember. Annette gibt schon vorher, in einem „intimen" Brief an die „Freundin" (bald das „lieb Lies") ihrer Freude darüber Ausdruck, „. . . daß Sie und Schlüters sich näher getreten sind, . . . der Gewinn ist von beiden Seiten, und dieses neue Verhältnis wird Ihnen täglich im Wert steigen". Man erfährt, daß der Berlinerin der dortige Ton nicht paßt, denn sie mahnt: „Lassen Sie sich nur nicht durch die, sonst so gute, Bornstedt wieder irre machen; sie hat mal nicht das rechte Auge für Schlüters." Sie nennt diese einfache, aber äußerst bedeutende Menschen, zudem von rührender Güte (i. September 1839). Zu Beginn des nächsten Jahres meldet Schlüter jedoch, die Rüdiger und die Bornstedt seien bei seiner Schwester zum Tee (17. Januar 1840). Die gestifteten menschlichen Beziehungen bleiben lebenslänglich, das ist Biedermeierweise; die Spannungen nimmt man in Kauf. „Bei uns war häufig auch die Rätin Rüdiger; einen Abend haben wir auch bei der interessant zugebracht." Mittlerweile ist Schlüter mit seinem philosophischen Kreis zur beherrschenden Persönlichkeit geworden. Das erzählt Annette noch 1840 der älteren Freundin Henriette von Hohenhausen: Der blinde Professor (so nennt sie den Dozenten) ist die interessanteste Hauptfigur . . . Er habe einen großen Einfluß auf ihr Urteil; es sei „milder" geworden, meint sie. Schlüters bester Freund, Albert Kreuzhage (in Göttingen), der eine Schlüter aus Münster zur Frau hat, begeistert sich für das Geistliche Jahr (1. Tl.). „Ei, daß Sie Kreuzhage und noch mehr, daß er Sie im verflossenen Herbst nicht kennen lernte", schreibt Schlüter der
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Droste schon am 7. Februar 1836. „Unter allem, was ich an geistigem Zuckerwerk für ihn aufgehoben, hat nichts ihn . . . so durchaus und ganz interessiert und elektrisiert wie Ihre geistlichen Poesien. . . . Er hofft, Sie noch einmal kennen zu lernen." Er und Albert haben im Weinkeller bei einem Glase echten englischen Porters sich gemeinsam daran berauscht23. Anton Lutterbeck, der Baader-Freund, der zum häufigen Besucher in Rüschhaus wird, erhält seit Juli 1838 regelmäßig Grüße von der Droste, Onkel Fritz, die früheren Schüler Schlüters Bartscher und Reckmann, beide Theologen, das Andenken an den jung verstorbenen Schüler Vierkante, der im Kreis wie ein Heiliger verehrt wird, alle diese haben auch Beziehungen zu den Drostes, wie die Briefe Annettes zeigen. Seit 1839 aber taucht in den Briefen Schlüters, um die es hier geht, auch Levin Schücking auf, der nun ebenfalls das Schlüter-Haus besucht. Seine Abhandlung über die Fürstin Gallitzin (Die Fürstin Amalie von Gallitzin und ihre Freunde, 1839) macht Schlüter, wie er Junkmann meldet, „viel Freude". Seitdem ist der Verkehr zwischen Schlüter und Schücking ebenfalls regelmäßig; Schücking braucht den Rat des Dozenten für seine Doktorarbeit und seine Hilfe beim Übertragen der „Sybilline Leaves" des großen S. T. Coleridge, dessen „Ancient Mariner" Freiligrath nachgedichtet hat („Der alte Seematrose", 1838). Außerdem trägt der junge Droste-Freund Botschaft zwischen dem Schlüterhaus und dem Rüschhaus hin und her, da Annette zu krank ist, um den weiten Weg in die Stadt zu machen und Schlüters Augen ihm den Weg nicht erlauben. Davon berichten Schlüters Briefe vom 17. Januar und 10. März 1840 an Junkmann. „Schücking grüßt Dich; er will heute Abend einen Brief für Dich schicken." Junkmann und Schücking haben Duz-Freundschaft geschlossen. Dem verstehenden Levin gesteht Wilhelm, daß er sich unter der Gesellschaft des Klübchens so einsam vorkomme wie eine Heideblume. Schücking schenkt dem Freund wie der mütterlichen Freundin eine ehrende Besprechung in seinen Briefen aus Westfalen. Westfälische Heimatdichtung wird in weiteren Kreisen bekannt (Athenäum 1839). Schlüter schreibt Junkmann davon a. 17. Januar 1840. „ . . . w a s denkst Du von Deiner und Fräuleins Silhouette in solcher Einfassung?" (a. 23. Februar). Der Brief vom 17. Januar ist voller Klub-Aktivität. Hier wird auch eine neue Veröffentlichung der Bornstedt erwähnt, Abendklänge, die übrigens bei
2 S ) Vgl. Schi. u. d. D r . , S. 2 2 . Die erstaunlichen Beziehungen zwischen I n halt und Diktion des 1 8 3 9 zu E n d e geführten G. J . und den beiden philosophischen Schriften K r e u z h a g e s : „Mitteilungen über den Einfluß der Philosophie a u f die Entwicklung des inneren Lebens", 1 8 3 1 , und „ Ü b e r die E r kenntnis der W a h r h e i t " , 1 8 3 6 , habe ich ausführlich behandelt in „ C h r . B . Schlüters geistige W e l t und das .Geistliche J a h r ' der Dichterin A n n e t t e v . D r o s t e - H ü l s h o f f " , Bild u. Gedanke, L i t . wiss. J b . d. Görres-Ges., hrsg. v. H . Kunisch, J g . 1 9 6 0 (im Druck).
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allen diesmal Anklang findet (s. Anhang!). Schücking macht wie die Droste ein Gedicht auf Junkmann und zeichnet ihn später im Roman „Eine dunkle Tat" als Bernhart. Schlüter zitiert am 27. Mai im Brief an Junkmann aus Schückings eben erschienenem Roman „Richard". Für die „Sybilline Leaves" findet Schücking keinen Verleger, berichtet Schlüter. Sie kommen erst in der Ausgabe Gedichte 1846 heraus, die auch das Junkmann-Gedicht enthält („An J . " ) . — „Fräulein war neulich, wie mir Schücking erzählte, melancholisch; es hat sich indes gegeben, und sie klagt über ihre Freunde, die sie eher sterben ließen, als sich im mindesten um sie zu bekümmern. Ich hoffe und wünsche sehr, morgen über 8 Tage sie einmal mit Schücking zu besuchen, wie wir auch halbwegs miteinander verabredet haben. Jüngst war bei schrecklichem Wetter Deine Schwester Anna mit der Rätin Rüdiger dort, wie mir letztere erzählte; sie trafen die Onkels und verplauderten darnach die Zeit so angenehm, daß sie erst spät um 9 Uhr trotz alles Bittens, in Rüschhaus zu übernachten, sich auf den Rückweg begaben und, heroisch aller Gefahr die Stirn bietend, gegen IOV2 in Nacht und Nebel in Münster wieder anlangten. . . . Unser Coleridge ist in Braunschweig und hat wahrscheinlich seinen Verleger gefunden." (14. Juli 1840.) Das war, wie gesagt, eine Täuschung. Wie Schücking die Kreise gezeichnet hat, ist bekannt („Erinnerungen" I, 106 ff.). Hier darf daran erinnert werden, daß er Schlüter eine anima Candida nennt, die Bornstedt die âme damné des Kreises (nach ihrer freien Überarbeitung einer französischen Idylle „Die gebannte Seele", 1838) und die Droste eine „seltene, einzige Natur". Merkwürdig genug: über die Vollendung des Geistlichen Jahres 1839/40, die in der Stille von Apenburg reifte, über das Westfalenwerk, die ersten Balladen der Droste für Schückings Malerisches und romantisches Westfalen und die erste Novelle des geplanten westfälischen Novellenzyklus, die 1839 konzipierte Judenbuche — von alldem ist in Annettes Briefen an Schlüter die Rede — schweigen sich Schlüters Briefe an Junkmann aus. Das bedeutet allerdings nicht, daß nicht die geistige Welt Schlüters tief im Innern der Dichterin Wurzel gefaßt hat, so daß ihr Werk in seiner Gesamtheit nachhaltig davon beeinflußt wird. Für das Geistliche Jahr habe ich dies in der bereits erwähnten Studie nachgewiesen (S. 57, Anm. 23). Nicht nur, daß das begeisterte Echo bei Schlüter und seinen philosophischen Freunden ein stimulans zum Weiterschaffen an dem Fragment wurde, sondern auch der Ton, die Vorstellungswelt, das Sendungspathos, die Diktion werden von da beeinflußt, und zwar so stark, daß man zu einem tiefern Verständnis der damals entstandenen 47 geistlichen Gedichte ohne Eindringen in die geistige Welt Schlüters und seines Kreises gar nicht kommen kann. Ich nenne nur das Beispiel des Johanneischen Sendungsbewußtseins und
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Apostolatsauftrags der Droste oder den sogenannten Liebesglauben, die zu abwegigen Deutungen der inneren bzw. religiösen Haltung der Dichterin geführt haben (vgl. S. 18). Für die Anregungen, die die Droste bei der Umgestaltung der Quelle ihrer Friedrich-Mergel-Erzählung (Die Judenbuche) durch Schlüter empfing, mag ein Notizblatt Schlüters aus dieser Zeit zu Baaders Opfergedanken und sein von Jakob Böhme übernommenes und variiertes corpus centrum naturae Aufschluß geben"24). Auffallend ist, daß Schlüter sich gerade die Punkte hat notieren lassen, die in der dichterischen Gestaltung des Problems Mörder-Gemordeter von der Droste verarbeitet werden, und zwar bewußt. Es ist anzunehmen, daß sie mit Schlüter über die folgenden notierten Kernpunkte gesprochen hat: No 1): „Je mehr in einer Kreatur das Centrum Naturae in seiner Abgründigkeit sich geöffnet befindet, um so mehr wird in ihr die Wurmgestalt, Larvengestalt, Gygration hervortreten." Das heißt, das sich selbst suchende Ich in der Abgründigkeit des Bösen ist symbolisiert in der sich krümmenden Wurmgestalt, Larvengestalt. Diese Wirklichkeit hat die Dichterin in der Ich-Sucht des Friedrich Mergel zur Darstellung gebracht mit all ihren Zügen, auf die hier nicht eingegangen werden kann. — Unter No 2) ist der Grund zum Vergeltungs-Selbstmord nach BöhmeBaader notiert. „Da die Seele in der Tinctur des Blutes wohnt, und, wie die Schrift sagt, das Leben im Blute ist, — diese immaterielle Tinctur aber doch unter gewissen Bedingungen, namentlich beim Mord, als ihres eigenen Blutes beraubt, von dem in diesem Moment ihr offenen Blute des Mörders angezogen wird — so stellt sich durch eine Umsetzung desselben ins Blut des Mörders, als gleichsam durch eine geistige Transfusion, ein forcierter Rapport oder communis vitae zwischen beiden, dem Mörder und Gemordeten her, welcher Rapport (Blutverwandtschaft) sich auf mancherlei Weise und besonders durch die Beunruhigung beider kund gibt. Ohne diesen Rapport versteht man weder die Begriffe der Alten von der Blutschuld — wenn es bei Moses heißt, daß Gott das Blut von jedem, der es vergossen, zurückfordern wird; so muß selbes sich also bei Jenem, der es vergossen, befinden; was im mosaischen Gesetz selbst für die Tiere galt, nicht als Strafe ihres Verbrechens, sondern weil mit der Tötung des Tiers die Tinctur des durch selbes getöteten Menschen wieder von ihrer Bindung aus Tierblut frei und jenem zurückgegeben werden — und von dem hierauf (nämlich auf den Begriff einer Nemesis oder eines Bluträchers, der kein Mensch ist) gegründeten göttlichen, nicht menschlichen Gesetz der Hinrichtung des Mörders; noch versteht man ihre Begriffe von der Wirkung der Blutopfer, sowohl diesseits als jenseits, zu welcher Wirkung sie auch die Mantik oder Divination des Opfernden zählten. Wie denn selbst 24)
SchlN J, bisher unveröffentlicht und nicht ausgewertet.
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jene Blutsberauschung einiger Tiere, so wie die Lust der befriedigten (gekühlten) Mordgier vom Eintritt und von der Versetztheit der Bluttinctur des Gemordeten ins Blut des Mörders zeugt." Diese communis vitae zwischen Mörder und Gemordeten ist von der Droste auf eine mehr magisch-mystische Weise als auf Grund der Moral (strafende Gerechtigkeit) dargestellt; freilich ist der letzte Aspekt auch nicht ganz ausgeschaltet. Auch f ü r die sonderbare, schwer einsichtig zu machende Symbolik des Johannes Niemand, einer Art von Scheingestalt oder Larvengestalt des zukünftigen, entpersonalisierten Mörders Friedrich — man hält ihn ja nach seiner Rückkehr in seiner gebrochenen Existenz f ü r jenen — findet man Aufschluß in der metaphysisch-magischen Deutung Baaders in den Notizen Schlüters. H i e r steht der Vergleich mit dem blutlosen Amphibium, was dasselbe meint. „Wie nämlich das blutlose, blutarme, kaltgiftige Amphibium oder Insekt eben darum Bluträuber und Bluttöter ist, so jener seiner eigenen Seele sich beraubt und selbe sich vergiftet (zur Unseele gemacht) habende unsichtbare, unselige Mörder von Anfang, der vom inneren horror vacui getrieben, überall und rastlos nach dem ihr ausgegangenen in ihm nicht haftenden Tinctur in Blut und Samen, als kuriosen Säften, wie Mephistopheles sagt (in welchen beiden die Tinctur offen oder exponiert ist), nachstellt, durch welchen geraubten Besitz er sich seit Anbeginn des Lebens des gefallenen Menschen auf der Erde als durch eine forcierte Tincturversetzung in effektivem Rapport mit den sowohl erzeugt werdenden als den bereits geborenen, ja mit den abgeschiedenen Menschen erhält." Auf diese Weise gewinnt die Droste auch tiefere Einsicht in das Teufelspakt-Motiv, das sie später am Roßtäuscher mit einer Parallelentwicklung des „Sünders" zum zerfallenen Greis darstellt. Doch läßt die Dichterin hier den Sünder, der ja nicht zum Mörder wird, gerettet sein, weil nodi ein Fünkchen Liebe, d. h. Blutwärme und Leben in ihm geblieben ist, dem die Gnade sich zuneigen kann. Wer genau zusieht, wird zugeben müssen, daß vom Geistlichen Jahr, an dem der Einfluß der geistigen Welt Schlüters leicht nachweisbar ist (incl. Baader), überhaupt reiche Anknüpfungspunkte f ü r die tiefere Ausdeutung des Gesamtwerkes der Droste sich finden und nicht nur in seinen restaurativen Zügen 2 5 ). 25 ) In meiner Arbeit „Wissen und Dichtung in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, dargestellt an der Dichtung der Droste", DVjs. Jg. 32 (1958), H e f t 4, S. 534, 536 f. bin ich bei Aufweisung der Vielschichtigkeit der „Judenbuche" auf die Baadersche Konzeption der Mörder-Idee nicht eingegangen. Baader und ebenso Schlüter stehen mehr noch als die Droste im „Wissen" der Zeit, auf das ich hier zurückgegriffen habe.
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Man muß in der Tat die vielschichtige Welt einer Gestalt des Biedermeier, wie Schlüter sie darlebt, in den Blick fassen, um ihre Wirkkraft auf eine reiche Phantasie und Imagination wie die der Droste überhaupt zu erkennen — nur als Dichterin, so muß man korrigierend sagen, und eben als solche, übertrifft sie den Freund. Wenn irgendwo, so hätte sie sich bei ihm über Oken und Carus, über Mesmer und Schelling und über jede Art von Naturwissenschaft und Naturphilosophie orientieren können oder sich über die ihr aus der Konversation und Lektüre zufließenden Probleme zu unterhalten Gelegenheit gehabt. Deshalb kommt dem intimen Gespräch zwischen Dichterin und Philosoph eine immense Bedeutung zu, gerade im Hinblick auf die großartige Entfaltung der Droste-Dichtung. Sie soll in einer umfassenden Darstellung der geistigen Welt der Droste, die noch kaum ausgeschöpft ist, sichtbar gemacht werden. Ein Gespräch, von dem Adam Müller in seiner köstlichen Ansprache in Wien 1812 an eine erlauchte Gesellschaft sagt, daß er ihm „unter allen Genüssen und Ergötzlichkeiten des Lebens die unbedingt erste Stelle einräume". Und er nennt als Bedingungen zu solchem Gespräch echte Spannungen zwischen den Partnern bei tiefer grundsätzlicher Übereinstimmung. Davon wissen wir aus den Briefen der Droste: diese Bedingungen zu fruchtbarem Austausch waren gegeben. Schlüter bekennt in seinen biographischen Notizen an Braun, sieben Jahre nach dem Tode der Droste' 20 ): „Blicke ich jetzt um mich, so finde ich keine Seele, mit der man so leicht und so gradhin über die tiefsten, höchsten und entlegensten Gegenstände des Nachdenkens und Fühlens sich besprechen konnte, ohne je Gefahr zu laufen, nicht verstanden zu werden oder leer und ohne Ausbeute davon zu gehen, als mit ihr; ein Wort der Frage genügte oft, sie in den Kreis der Gedanken und Anschauungen zu versetzen, in welchem man sich eben befand, ihre Teilnahme und ihr Interesse zu erregen und sie zu veranlassen, ihre Meinung und Ansicht nach kurzer Besinnung auszusprechen, welches sie mit der größten Offenheit und Aufrichtigkeit, mit steter Achtung vor der Wahrheit tat; sie war aber so gut, so natürlich, so bequem, daß man meinte, es müßte so sein und verstehe sich alles von selbst." Schlüter selbst allerdings weist auch darauf hin, daß die Dichterin des Wechsels in der Freundschaft bedurft habe und erklärt dieses Verlangen aus der dichterischen Veranlagung (ebd.): „Das Fräulein . . ., als vornehmlich der Phantasie lebend, hatte das Bedürfnis mannigfacher und wechselnder Anregung durch neue Individualitäten." Als die Dich26) a. 8. A p r . , Schi. u. d. D r . , S. 123 f. — C l . Heselhaus im D r . J b . 1 9 5 9 , S. 1 8 1 , wiederholt die alten unrevidierten Meinungen über Schlüter und die D r o s t e unbegreiflicherweise ohne Rücksicht auf die wirklichen Gegebenheiten, soweit sie schon bekannt w a r e n .
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terin eine verhältnismäßig kurze Zeit in der romantischen Neigung zu Levin ganz aufging, scheint Schlüter, der übrigens damals tief im Philosophischen steckte und ebenfalls stark durch seine Mitarbeiterin, Frau Caroline Lombard, in Anspruch genommen war, sich diskret zurückgezogen zu haben. U n d die mehr und mehr zu sich selbst, zu ihrem Eigensten hinfindende Droste läßt sogar über das zutiefst Geliebte ihren Sarkasmus aus im Ton — nun im Ton des Jungen Deutschland — und nicht allzu ernst zu nehmen. Als sie 1846, enttäuscht von Levin — der Zorn über die „Ritterbürtigen" ihres jungen Freundes bedeutete ja nur die Explosion eines gehäuften Zündstoffes — mit ihrem ganzen Sein zu dem alten Freunde zurückkehrte, zum liebsten und besten ihrer Freunde, wie sie schon immer gesagt hatte, waren Kreis und Kreise längst zerstoben (Brf. a. Schi. v. 13. April 1846). Junkmann war in Bonn wieder Student, um zu promovieren, noch unverheiratet, Rüdigers waren nach Minden versetzt, die Bornstedt hatte Münster zu einem unsteten Wanderleben verlassen 27 ), Lutterbeck war längst in Gießen Professor, Schücking war nach seinem kurzen, nur f ü r die Droste schicksalsträchtigen Aufenthalt auf der Meersburg nicht mehr nach Münster zurückgekehrt, seit 1843 mit Luise v. Gall verheiratet in Darmstadt und seit 1845 FeuilletonRedakteur an der Kölnischen Zeitung in Köln, ganz im liberalistischen Tageskampf, auch als Romancier. Annette war häufig verreist.
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) Brf. Schlüters v. 31. Juli 1861 an Th.
SCHLÜTER, PATER FAMILIAS „ E d i t e Persönlichkeit e r w i r b t m a n
nur
durch gewollte
persönlichkeit und entsagungsvolles Suchen —
Un-
und nur d a n k
einer solchen Persönlichkeit entsteht weitreichender, in diesem Sinne unpersönlicher
Einfluß." H e n r i de
Lubac
Die intimen Familienbriefe Schlüters und an Schlüter offenbaren alle Züge des Biedermeierlichen über einen Zeitraum von den 30er Jahren an bis zu seinem Tode 1884. An der Mitteilungs- und Seinsweise als pater familias, vor allem von den 50er Jahren ab, an ihrer biedermeierlichen Struktur, hat sich nichts geändert. Das Verhältnis der Familienmitglieder ist durch Pietät bestimmt, die auf ehrfürchtiger Liebe beruht und das blutsmäßig Instinkthafte zu Seele und Geist getragener Höhe emporhebt, idealisiert und idyllisiert. Die Liebe zueinander ist redselig zärtlich, besorgt um das leibliche Wohl des Familienpartners bis ins naturalistisch anmutende Detail, aber nicht minder eifrig und beredt um sein seelisches und geistiges Wohl und Wohlbefinden. Sie ist eben bei allen von jener ZentralSeelenkraft der Biedermeier-Familie getragen: vom Gemüt. Wie bewußt die Gemütskultur gepflegt wird, zeigt z. B. das einzigartige Gedicht der Droste des gleichen Namens: „Gemüt", das den schillernden Zauber des seelischen Phänomens wie nirgends sonst spürbar und schaubar macht. Man muß die Gemütsphilosophie des Schweizer Philosophen und anfänglichen Schellingschülers P. I. V. Troxler 1 ) kennen, um dies Phänomen in seiner Tiefe auszuloten, um nicht an der Trivialisierung ins Sentimentale und Verkitschte hängen zu bleiben. Schlüter kannte und schätzte die Philosophie Troxlers. Schon Anfang 1831 (Januar) schreibt er dem Freund in Göttingen zusammen mit der Mitteilung, Baader habe ihm eine Überraschung mit seinen „Sätzen aus einer religiösen Erotik" gemacht: „Troxlers ,Blicke in die menschliche Natur', dann seine ,Metaphysik' und endlich seine ,Logik' . . . haben mir eine neue Welt erschlossen . . . 2 )." Nach Troxlers Anthropologie liegt die Vermittlung der verschiedenen Seelentätigkeiten des Menschen mit Beziehung auf Gott im Gemüt. Das Gemüt ist der Urquell, in welchem Licht und Wärme oder Geist und Herz noch ungeschieden eins sind; x ) P . I. V . T r o x l e r w i r d neuerdings in der Schweiz wieder stark beachtet. E i n intensives Studium seiner W e r k e dürfte z u m Hintergründigen des Biedermeier bedeutenden Aufschluß geben. — (Vgl. E m i l Spiess, I. P . V . T r o x l e r , A r z t , Philosoph und Politiker, Sdrw. Rundschau, 5 7 . J g . , April 1 9 5 7 . ) 2) A n A l b e r t K r e u z h a g e v . 2. J a n u a r ( 1 8 3 1 ) ; siehe Anh., S. 189.
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es ist die innerste Tiefe der menschlichen Natur, die, Geist und Herz in sich einend, schon in diesem irdischen Dasein und Wandeln die Ewigkeit und das Reich Gottes atmet. So denkt Schlüter ebenfalls. Das Gemüt ist die eigentliche Tragkraft der konservativen Kräfte der Biedermeier-Familie. In ihm ruhen Treue, Geduld, Nachsicht, Güte. Solchen Geist atmen die Briefe des pater familias. Der Familiengeist dieser Gesellschaft, die Schlüter exemplarisch darstellt, ist keineswegs eng, abgekapselt oder starr verbürgerlicht; er umschließt nicht nur die weite Verwandtschaft bis in die verzweigteste Entfernung hinein mit derselben Duldsamkeit, Liebe und Sorge wie die eigenen Nächsten, die Eltern, Geschwister, Schwäger, „Vettern", sondern auch alle Freunde und Freunde der Verwandten und die „Sorgenkinder", deren es nicht wenige gibt, ferner das Hauspersonal und dessen Familien und Freunde. Die patriarchalische höhere Bürgerfamilie des Biedermeier aus den verschiedensten Kreisen: Intellektuelle, Kaufleute, Handwerker, konserviert sich, vor allem in Westfalen, in dieser Gestalt, wie die Briefe Schlüters und seines Umkreises zeigen, bis in die Mitte der 90er Jahre hinein als Lebensstil. Das unbewußt Instinktive, also kindhaft Bindende (wie das Spielen mit „Muschelscherbe" und „Kies" im besagten Gedicht der Droste) wird in einer sein Selbst erfassenden Bewußtheit zum Träger aller Treue und Liebe. Wen diese ewig wiederholten Aufzählungen (an Reportage erinnernd) in den Schlüterbriefen an die Schwester und den Schwager über das Münstersche Leben, die immer wiederholten Grüße nach Breslau von allen und an alle, an Freunde und Bekannte, langweilen, der sieht die Tiefenschichten nicht, die sich noch hinter den vermeintlichen Höflichkeitsfloskeln verbergen. Man braucht und beansprucht aber auch einander innerhalb dieses Gesellschaftsgefüges, das so kernhaft wie ein organisches Gewebe um ein Zentrum sich zusammenschließt. Die Briefe Schlüters an Junkmann sind durchgehend, über 60 Jahre lang, oft fast unerträglich für den Leser, mit Ermahnungen, Ratschlägen und Sorgen um seine Zukunft und seine dichterische und wissenschaftliche Entwicklung ebenso wie um seine Gesundheit belastet. Die Schwierigkeit von Junkmanns Lage nach 1835 machte allerdings, wie bereits angedeutet, Fühlungnahme mit Behörden, Instanzen an höchster Stelle notwendig. Aber überall hat man seine Freunde oder Verwandten, seine Landsleute, die sich aktiv oder auch bloß fürsprechend einsetzen. Diese „Beziehungen" zu nutzen ist etwas Selbstverständliches, ein Zeichen des Füreinandereinstehens. Für Unwertes allerdings setzt man sich in den Kreisen Schlüters nicht ein. Aber weder die andere Weltanschauung noch die Verschiedenheit der Konfession bilden eine Grenze für die gemütvolle Ausdehnung des Wohlwollens auf alle Glieder des weitverzweigten Organismus. Auch die von der Kirche Indizierten, die Abgefallenen, die politisch Ge-
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ächteten, die Gefallenen werden mit unveränderter Gesinnung umschlossen. Loyalität ist in jeder der eingegangenen oder auferlegten Bindungen Selbstverständlichkeit. Die Opfer, die die freudig getragenen Bande fordern, werden zwar schmerzhaft durchlitten und oft genug von der widerspenstigen Natur abgelehnt, aber in stoischem, ja mehr noch als stoischem Entsagen getragen: die blutigen Opfer werden vergoldet, idealisiert. In diesem Zusammenhang muß auch der Kult der Andenken gesehen werden. Ein schönes Beispiel für biedermeierliche Andenken-Romantik ist das Geschenk Schlüters zur silbernen Hochzeit der Junkmanns und zum gleichzeitigen 25jährigen Amtsjubiläum des Geschichtsprofessors in Breslau. Er sendet ihm außer zwei feinen japanischen Tellerchen eine „brillante, wunderbar interessante Pfeife", die er ankündigt: „ . . . den Kopf erstand oder erhandelte unser guter sei. Onkel Gräver für eine goldene Repetieruhr; das Rohr aber ist aus dem Stamm des Calicanthus aromatica unserer sei. Freundin Annette von Droste3), Wilhelms ehemaliger Gönnerin, durch den künstlichen ( = künstlerischen) Pfeifenrohrbohrer Kösters angefertigt, und wirst Du, lieber Junkmann, daraus rauchend, sinnend der alten Zeiten gedenken und in den Rauchwolken die interessanten Frauen- und Männergestalten alter Zeiten wie die Geister Ossians in den Nebelgewölken des alten Morvens vorüberziehen sehn, wie sie Miene machen, mit Dir zu reden." (23. April 1880.) Die seinshafte, gemüthafte Beziehung zur patriarchalisch zentrierten Gesellschaft (um mich, in der ich, die für mich, für die ich . . .) wird im Schlüter-Kreis aktualisiert, intensiv und lebendig gehalten, nicht nur durch magische, sondern auch durch mystische Kontakte, die Realitäten bedeuten. Sie scheinen zur Aufrechterhaltung der menschlichen Innigkeit als eines fruchtbringenden Seins notwendig. Das vereinbarte An-ein-ander-Denken, Für-ein-ander-Beten, nicht zwar im Sinne abergläubigen, des Mythos entkleideten Daumenhaltens auf eine bestimmte Stunde, in besonderer Meinung, ist schon aus der Beziehung Schlüters zur Droste und zur Hensel bekannt. Hier geht es tatsächlich um eine reale Stiftung von geistig-seelischem Ineins, anders als in der Romantik, über Zeit und Raum hinaus und jenseits der sinnlich materiellen Bedingungen des Daseins. So wird aus dem Fortgehen der Verwandten und Freunde, z. B. der fast unentbehrlichen Schwester nach ihrer Verheiratung 1855, ein beglückend durchlittenes, ebenfalls neu bindendes Opfer, fruchtbar für alle. Auch die Toten sind wie Lebende im Kreise der innig Verbundenen, sie leben mit ihnen noch wirklicher und näher als die in dieses Schattenund Scheindasein Verflochtenen. Davon geben nicht nur die bekannten 3 ) Den Calicanthus hatte Annettes Mutter Schlüter nach dem Tode seiner Freundin für den Hausgarten am Alten Steinweg geschenkt.
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Totengedichte der Droste Zeugnis, sondern ebenso die Briefe Schlüters oder auch z. B. die Briefe Elise Kreuzhages an den Freund ihres f r ü h verstorbenen Albert (f 1848, im Todesjahr der Droste), der auch ihm fehlt. Der „Kult", den die Mutter der fünf vaterlos gewordenen Kinder in ihren Briefen an Schlüter (UBMüSchlN) mit der Freundschaft treibt, ist außerordentlich bezeichnend. So schreibt sie ihm einige Zeit nach Kreuzhages T o d : „Mein geliebter Stopher! Ach, könnte ich nur auf eine Stunde bei Dir sein und mit Dir reden statt zu schreiben; ich möchte und könnte Dir mein ganzes H e r z offenbaren, mit all seinem tiefen unendlichen Weh und an Deinem treuen Freundesherzen würde mir Trost und Linderung werden, mehr als irgendwo auf der Welt. So wie Du hat ja kein anderer meinen Albert gekannt . . . " Typisch Biedermeier-Stil ist es, wie sie sich hinaufsteigert zu einer Bejahung des f ü r sie unendlich schweren Verlustes in ein poetisiertes religiöses Gefühl der Erhebung über Materie und Sinne. Elise liest Schlüters „Sonette" zur Tröstung und dankt ihm dafür (12. Oktober 1848, UBMüSchlN). Schlüter selbst ist zwar, wo er, wie hier, das geringste Unklare, Schwärmerische spürt, äußerst zurückhaltend, ja herb und verschlossen. Aber er hat seine Freundespflichten an den Kindern der Witwe in vollkommener Weise erfüllt. Seine Liebe, seine Verbundenheit hält hier wie überall aus einem tiefbegründeten Opfergeist heraus bei aller scheinbaren Sentimentalität Abstand; das ist ebenfalls typische H a l t u n g echten Biedermeiertums, schon vom rein Menschlichen her. Rein äußerlich zeigt sich das Verhaltene schon in den Briefen an den Schwager, den er meist mit dem Zunamen anredet, in den Briefen an die „Freundinnen" mit der Unterschrift „Diener und Freund" — diese zeitbedingte Ausdrucksweise ist hier nicht Formel. Schlüter entschuldigt sich, wenn er sich einmal „gehen läßt", d. h. seinen inneren Empfindungen freien Lauf läßt, klagt oder murrt oder auch zuviel Alltägliches und nichts „Interessantes" schreibt. Sogleich rafft er sich wieder auf. Das letzte aber wird verschwiegen. „Wo man am meisten fühlt, weiß man nicht viel zu sagen." (Droste.) Ein bemerkenswerter Zug ist den sorgfältig aufgehobenen Briefen der Haushälterinnen Schlüters zu entnehmen; die einfache, aber bis zu einem gewissen Grade bildungsfähige Anna Koch und die geistig höherstehende Pflegerin und Hausdame Emilie Dehne, die frühere Privatlehrerin, werden bald Familienmitglieder, obwohl Schlüter gerade hier vornehmen Abstand hält. Seine Schwester wird jedoch bald von Anna mit Therese angeredet und mit dem familiären „Du", von Emilie später mit „Tante Therese". Diese Briefe erlauben einen Einblick in das biedermeierliche Alltagsleben der Familie, wie es kaum an anderer Stelle sichtbar wird. Kanarienvogel und verlauster H u n d , Hausgarten mit dem Annette-Strauch Calicanthus aro-
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matica, die Körbe mit reifen Birnen f ü r den Pfarrherrn von St. Lamberti, die nestplündernden Knaben überm Zaun gehören wie Lena, Franziska, Marie, Lottchen und viele wechselnde Mägde neben der Haushälterin sowie die im Nebenhause des Schlüterschen Besitzes am Alten Steinweg wohnenden, an den Familienmahlzeiten teilnehmenden Studentenhelfer zu dem Spitzwegbild der Schlüter-Familie, nicht zu vergessen die fast nie fehlenden Gäste. Professors Stube wird vor allem in den Briefen der „Freundinnen" zum Idyll, aber auch seine eigene familienzentrale Gestalt f ü r Kind und Kindeskinder von drei Generationen, f ü r Bruderkinder und Patenkinder und Vetterkinder patriarchalisch idealisiert. Dabei sollte man nicht vergesseen, daß der so poetisierte oder fast mythisierte Professor nicht der ganze Schlüter ist, auch eben nicht nur jener idyllisierte Greis, wie ihn z. B. Aloys Schulte der Nachwelt überlieferte: „Das Bild des Professors wird durch die lange Tabakspfeife, deren Meerschaumkopf er selbst stopfte, und durch ein Gläschen Rotwein vervollständigt. Wie in allem, so auch hier alles von Maß 4 )." Zur Familienkultur biedermeierlicher Form gehört die Pflege des Sammeins, Aufbeivahrens und Ordnens. Darin ist Schlüter vorbildlich. Er gibt nicht nur schon bei Lebzeiten Sammlungen von Briefen heraus, die an ihn selbst geschrieben sind (Droste, Hensel), er ordnet und p r ä pariert auch seine eigenen Briefe an Freunde und Verwandte zum posthumen Druck; vielleicht können sie dem einen oder andern nützlich sein. Er ordnet und bearbeitet seines Vaters und seine eigenen Tagebücher; er verfügt über Nachlässe, die ihm vertrauensvoll übergeben werden (Luise H a m m , Albert Kreuzhage, Gallitzin-Briefe und Tagebücher). Er veranlaßt Junkmann, das gleiche zu tun. Die Gedichte, die man ihm zu treuen H ä n d e n übergibt, finden sich in seinem Nachlaß geordnet und mit Anmerkungen versehen. Seine Ordnungsliebe ist, nicht nur durch die Blindheit bedingt, auch im Wissenschaftlichen biedermeierlich pedantisch. So hinterläßt er H e f t e mit Auszügen und N o tizen zu seinen Kollegs, über seine Lektüre, mehrfache Entwürfe zu den Kollegs, sorgfältig geordnet 5 ). Mit dem wiederholten Lesen alter Briefe verschafft der Professor sich Stunden der Erholung. 1879 ist er, wie er schreibt, „einseitig im engeren Verkehr" mit Junkmann; so schreibt er ihm zum Namenstag. Er hat seine Briefe „aus älterer und ältester Zeit wieder einmal durchgelesen" 6 ). 1881 liest er mit Emilie Theresens Briefe von 1865/66 und 1867 aus Breslau, „woran wir uns wahrhaft erquickt, erbaut und erfreut haben". Er lädt seine Verwandten aus Nordkirchen, der H e i m a t 4
) Siehe Lit.-Verz. ) Im SchN J. Unter ihnen befinden sich auch die Auszüge Baaders, die in den Ww. Baaders veröffentlicht wurden. 6 ) Diese Briefe sind leider verschollen. 5
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seines Vaters, die nach Münster verpflanzt sind, zu gemeinsamer Lektüre der von ihm gesammelten Briefe der fünf Kinder der Caroline Schlüter ein, sie im Kreise der erwachsenen Kinder mit ihr gemeinsam durchzulesen und zu „genießen", eine köstliche Familienszene im Richterschen Stil. (Brf. v. 15. Oktober 1866 a. Th.). Die gesammelten Briefe der Kinder seines Bruders Arnold schenkt er dem N e f f e n Clemens. Die außergewöhnliche sammlerische Anpassungsfähigkeit und hütende Energie Schlüters wird besonders deutlich an dem Verhältnis zu dem eigenartigen Freund Limberg, in dessen Wesen und Gedanken einzudringen ihm anfangs recht schwer, fast unmöglich zu sein scheint. Hier entwickelt er sie bis zur völligen Selbstvergessenheit, daß er fähig wird, wie er selbst sagt, das gesprochene Wort nach dem gemeinsamen Spaziergang getreu aufzuschreiben und in jahrelangem zähem Verfolgen desselben Zieles alles Gesprochene zu sammeln, um es nach dem Tode dieses hochbegabten, der Geistesverwirrung später preisgegebenen M a n nes herausgeben zu können. So hat er f ü r den Freund getan, was jener nicht imstande war, f ü r sich selbst zu tun, da sich „seine Gedanken so überstürzten, daß er mit der Feder nicht Schritt halten konnte". (Einführung zu Limbergs „Gedanken . . ." S. 270.) Als der Freund einen Nervenzusammenbruch erlitt, war er aber auch menschlich um ihn besorgt. Er zieht Passavant, den er als Arzt und Psychologen, als heilenden und wissenschaftlichen Menschen verehrt, zu Rate. Die Briefe über Limberg an Passavant, die Helfferich in seinem „Leben Passavants" (s. Lit.-Verz.) ohne Wissen Schlüters zu dessen Lebzeiten veröffentlichte, bleiben das schönste Zeugnis von Schlüters helfender, hegender Art. Ebenso pedantisch waren die Stunden seines Tages eingeteilt. Das aber ist nun der überraschende Zug dieses Biedermeierlebens; eben weil alles gesichtet, geordnet, gesammelt, wie f ü r die Ewigkeit festgehalten wird und auch die Muße ihren Platz in der eingeteilten Zeit hat, muß Schlüter ständig über Mangel an Zeit klagen. Auch die Spaziergänge, die Besuche bei Freunden und Verwandten, in Kaffeehäusern und Ausflugslokalen werden ja mit „Arbeiten" ausgefüllt und die Geselligkeit mit dem „Betreiben" einer Kunst, sei es Dichtung oder Musik; selbst die Essenszeit wird wie im Klosterkonvent mit nicht gerade die Verdauung zu sehr beschwerender Lektüre ausgefüllt. Diese von Schlüter mit seiner Familie befolgte O r d n u n g stellt hohe Ansprüche an alle dort weilenden, die aber geradezu als „fördernd", „belebend", „anregend", sogar „gesundmachend" empfunden wurden. Als Blinder brauchte zwar Schlüter die Ordnung um und in sich um so mehr, doch sie gehört auch zum Phänotyp jenes bekannten biedermeierlichen Menschen, dessen wohlgefüllter Wäscheschrank ebenso sortiert ist wie sein wohlgefülltes 5 Nettesheim, Schlüter
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Studierzimmer und sein bildergeschmückter Salon. Fehlgehen würde man, wenn dabei außer acht gelassen wäre, daß diese Ordnung, wie sie bei Stifter ins dichterische Bild gehoben und in klassischer Form gestaltet ist, starr oder eng wäre; sie existiert sogar zusammen mit einer gewissen Non-chalence und, bei Schlüter mit einer außerordentlichen Beweglichkeit, Anpassungsfähigkeit und Lebendigkeit 7 ). Man gratuliert zum Namenstag, der noch als sakraler Tag gefeiert wird, und zu den höchsten Feiertagen; aber man kann auch, nicht durchaus konventionell, einmal die Neujahrsglückwünsche am Feste der H l . Drei Könige (1859) senden. Man schenkt einander bei solchen Gelegenheiten Kleinigkeiten: Gebrauchsgegenstände, Handarbeiten, seltene Liebhabereien. So sendet Schlüter Weihnachten 1859 Wilhelm nach Breslau „etwas halb Nützes halb Unnützes, nämlich Nichte Lieschen und mich gelichtbildet" 8 ). Man empfängt Besuche und macht Visiten. Einmal rühmt sich Schlüter im Brief an die Schwester, mit Lieschen habe er mehr Besuche an einem Tage absolviert als mit ihr früher, — elf nämlich. Er freut sich, wenn liebe Verwandte kommen, um „einmal wieder recht mit Genuß konversieren zu können". N u r ja nicht verknöchern, rät er Junkmann! Eine große Rolle spielen Speise und Trank in den Familienbriefen. Kaffee, Wein und Tabak, mit Maß genossen, sind Kostbarkeiten des Genusses, der sich leicht mit dem geistigen verbindet. So liest der Dozent z. B. mit Kreuzhage das „Geistliche Jahr" der Droste begeistert im Weinkeller. Doch — darauf hat schon Boehn hingewiesen als auf ein Symptom des Biedermeier — strebt man nach billigem Einkauf und nützt die „Beziehungen" zu seinem Vorteil. Den Breslauern schickt man den geschätzten westfälischen Schinken und das Schwarzbrot, die man preiswert erstehen konnte. Im Geschäft der Verwandten erhandelt man billiger Wäsche und Kleidung. Auch diese Dinge wie der im Gemeinschaftseinkauf bezogene und so verbilligte Wein wandern nach Breslau — ohne sein Glas Wein wird Schlüter melancholisch. „Excesse" dagegen gelten in dieser Gesellschaft als erniedrigend. Doch der heitere Lebensgenuß, die köstliche Muße und Muse überbrücken doch auch als ein „farbiger Abglanz des Lebens" die Abgründe tiefer Leiden und schwerer Heimsuchungen, z. B. jener epidemieartig auftretenden K r a n k heiten, denen das Gefüge der Schlüter-Familie ebenso ausgesetzt ist wie so viele andere Familien in jenen Jahrzehnten 9 ). Typisch ist auch 7
) ) 9 ) geb. 8
Vgl. A. Volmer, s. Lit.-Verz. Siehe 1. Bild: Schlüter und Lieschen. 1863 sterben in einem Jahre drei erwachsene Kinder Arnolds: Lieschen, 1837, Josef, geb. 1839, und Albert, geb. 1841.
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Schlüters Verhältnis zu den Kindern. Sie werden nicht von dem viel beschäftigten Professor fern gehalten; sie werden ihm vorgestellt, er wird herangezogen, ihre Fähigkeiten und Anlagen zu beurteilen. Für seine helfende, tröstende Art werden ihm, wie die Nachlaßbriefe (UBMüSchlN) zeigen, überreiche Dankes- und Liebesbezeugungen. Er ist der wahre, beispielhafte, humorvolle pater familias, obwohl er selbst nie eine Familie gegründet hat. Dabei sammelt er aber wohl ebenso viel als er gibt; doch zur Eitelkeit neigt er nicht; dazu ist er zu unbekümmert selbstlos. Schlüters Briefe borden über von dem Wort „genießen"; auch das gehört zum Biedermeier. Ohne Zweifel wird hier, zeitgeschichtlich gesehen, die Linie Wielands fortgeführt, und zwar des Lebenskünstlers und ästhetischen Theoretikers Wieland10). Das „Carpe Diem" der Droste wird gelebt, aber nicht ohne gleicherweise Vergangenes (Erinnerung) wie Zukünftiges (Traum, Hoffnungstauen) zu genießen. Diese feine Sensibilität und Genußfähigkeit aber zittert und zuckt gleichsam schwindelnd über dem Abgrund einer dunklen Traurigkeit. Die Schwermut lastet über Schlüters Briefen wie über Stifters Büchern. Man darf sich nicht damit begnügen, diese nur als Folge des Dunkels zu sehen, das den Blinden umgibt, der, nach der Aussage Annettens, zu einer Zeit, wo er „niemand hat", hülflos und unglücklich ist „wie ein Kind im Dunklen. Das arme Professorchen!" Davon läßt der ausführliche Briefwechsel mit Therese und Junkmann nichts erkennen; im Gegenteil: Schlüter äußert sich einmal ganz entschieden, er wolle jetzt nicht mehr sehend werden, selbst wenn er die Möglichkeit dazu haben könnte. Trotzdem ist er den Bedrohungen der Schwermut ausgesetzt und die Mitteilungen: „Ich habe vollauf zu tun", „meine Zeit ist gut ausgefüllt", und die Aufzählungen, was er von Stunde zu Stunde unternimmt, wer ihm vorliest, wer ihm schreibt, wer mit ihm spazierengeht, wer ihn zum Kolleg führt, zur Kirche, wer mit ihm die Visiten macht usw., dieser unruhige Trieb nach ständigem Beschäftigtsein überbrückt das Dunkel, daß er nicht Zeit finde zum Sinnieren und zum Grübeln. Aber hier liegt nicht einmal die tiefste Begründung seiner Schwermut. Man hat die Schwermut als Phänomen des Biedermeier aufgedeckt in ihrer verborgenen Tiefe hinter der Fassade des Ironikers, des „Hans Wurst", des Scharlatan, des Satirikers, bei Mörike, Jean Paul, Kerner u. a. Schlüter litt an jener Schwermut, die ihre Wurzeln weniger in einer „fin de siecle"-Stimmung hat als in der prophetischen Schau jener Entwicklung des „Fortschritts" zu Materialismus und Gottlosigkeit, also zu der Auflösung der Bindungen und Ordnungen der aus l 0 ) Vgl. Fr. Sengle in: „Wieland. Vier Biberadier Vorträge 1953." InselVerlag 1953.
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der patriarchalischen Famlie sich aufbauenden Gesellschaft und Gemeinschaft der Menschen und der Menschheit und ihrer wachsenden Atomisierung. So schließt man sich ab, bewahrend und hütend, schließt sich zusammen gegen die „Zeit" und den „Zeitgeist", einig in der Zeitkritik, die ihre eigene N o t e hat, etwas von der gewitterhaften Schwüle oder der Erwartung eines Vulkanausbruches in periodischem Auf und Ab um die 30er, 48er, 60er und 70er Jahre. Hier sind vor allem aufschlußreich die Briefe von Schlüters philosophischer Freundin und Mitarbeiterin Caroline Lombard (UBMüSchlN). Es entsteht schließlich im Andrang der furchtbaren Zukunft je und je das Familienidyll als einmalige Erscheinung, der eine Summe von Bildung (Wissen), musischer Kult und Naturgenuß bis zur Schwärmerei, ein begrenzter Raum und eine geordnete Zeit das bestimmende Gepräge geben, deren Schimmer und Glanz aber aus der H ö h e des Geistes kommt, die den Abgrund überleuchtet.
D A S „ S C H L U T E R S C H E H A U S " ALS B I L D U N G S S T Ä T T E SCHLÜTER, DER LEHRER U N D ERZIEHER „Goethe empfiehlt an mehreren Orten das genaue Aufzeichnen einzelner Züge und Tagesbemerkungen. Es sei darin oft das Wesentliche der Geschichte enthalten und manches Geringfügige der Gegenwart in der Zukunft wichtig. Er hat Recht, das Wahre in dem Vergangenen ergibt sich nach und nach von selbst, aber was man für wahr gehalten, was so geschienen, darin liegt das wahre Lebensbild einer Zeit, eines Kreises." Varnhagen von Ense
„Wo in der Welt gibt es noch ein Schlütersches Haus?" schreibt die erregte Mutter des Josef Sarrazin aus Bocholt, Jenny, am 8. Februar 1847 an ihren „lieben, alten treuen Freund Stopher" 1 ) und klagt ihre Sorge über die „Excesse" ihrer beiden Söhne, der 18- und 16jährigen Gymnasiasten Wilhelm und H e r m a n n in Münster. „Früher habe ich immer gesagt: ,Wenn die Kinder zuweilen dort die Luft atmen dürften; es ist ihnen Schutz gegen alle Gefahren des Lebens.' U n d wie viel mehr ist ihnen geworden. Du nimmst Dich ihrer besonders an, opferst ihnen regelmäßig so manche Stunde, ermunterst sie, regst sie in jeder Weise an . . ." Sie bittet ihn, ihr weiterhin in der Erziehung der in der liberalisierten Welt so sehr gefährdeten Söhne zu helfen. — Die Mutter brauchte nicht zu befürchten, daß nicht ebenso die Jugend selbst die Hilfe des Meisters dankbar aufnahm. Josef Maria Sarrazin, geb. 1828, z. B. dankt dem Lehrer, als er eben seine Studien in Göttingen begonnen hat, rückblickend fast überschwenglich 2 ). Vier Jahre habe er fast ununterbrochen das Glück gehabt, in seiner N ä h e zu sein; nun wolle er ihm auch als Student von seinem „Leben und Treiben" Nachricht geben. Er verkehrt im Haus seiner Verwandten mütterlicherseits Kreuzhage; das H a u s mit den fünf Kindern ist ihm sehr lieb. Er studiert Jura und Geschichte. Ein tüchtiger Kreisgerichtsrat ist später aus ihm geworden; 1862, 1873/76, 1879 bis 82, 1883/84 ist er Landtagsabgeordneter in Westfalen. Der Fürst zu Salm-Salm in Anholt bei Bocholt macht ihn zu seinem Generalbevollmächtigten. Es muß derselbe Josef sein, von dem Schlüter seiner Schwester am 28. Juli 1850 über seinen Abzug von Münster als Kriegsfreiwilliger berichtet. ') UBMüSchlN. Marianne (Jenny) Sarrazin, geb. Kreuzhage, Alberts Schwester, verh. mit Franz Jos. Heinr. Sarrazin, j" 1858. 2 ) UBMüSchlN.
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Auch Elise Kreuzhage schickt ihre fünf Kinder aus Göttingen nacheinander zu dem Vater-Stellvertreter nach Münster: zuerst Angelika. Sie soll sich in die katholische Atmosphäre Münsters einleben und sich in Musik vervollkommnen. Noch übersteigerter als Jenny Sarrazin schildert Elise, was die Jugend im Schlüter-Hause empfängt. Sie verrät ihre Vorliebe für Jung-Stilling. Man spürt es aus den Worten: der Geist, der im Schlüter-Hause wohne, wirke „auf das G e m ü t . . . wie eine geheime Offenbarung des göttlichen Geistes". Sie bittet Stopher, mit Angelika zu musizieren, sie zu einer Beethoven-Sonate auf der Flöte zu begleiten 14. Oktober 1849, UBMüSchlN). Schlüter meldet Junkmann im nächsten Frühjahr von Elisens Besuch, sie wolle hier Ostern feiern und Angelika abholen (13. April). „Es war mir eine große, obwohl von mächtigen Schmerzen durchzogene Freude, eine ganze Welt der mannigfaltigsten, lebendigsten Erinnerungen (an Albert) mit ihren Gefühlen tauchte auf, dif mich erschütterten; es war mir aber r e c h t . . . " Dann bringt er die Rede auf ihr Wunderkind Eduard. Sie hat einen elfjährigen Knaben von merkwürdigem poetischen Talent". Zum Beweis fügt er zwei Proben der Verse bei. Eduard ist der Zweitälteste Knabe. Zuerst aber kommt Wilhelm zu ihm, der älteste, ein schwieriger Charakter, der wohl die Anlage zu inneren Spannungen mehr vom Vater als von der Mutter geerbt hat. Für ihre Knaben beide aber wünscht die Mutter ausdrücklich, daß sie von der Philosophie ferngehalten werden. Doch als Schlüter in seiner Antwort, wie verständlich, die Philosophie verteidigt, meint sie, was den Kindern bei ihm werden solle, sei etwas Höheres als Philosophie, sei etwas Heiliges, „wie denn Dein inneres Leben wie ein von Gott selbst geweihtes Heiligtum erscheint; denn das Licht, welches er Dir für die äußere Welt versagte, ließ er Deinem Geiste desto klarer und herrlicher aufgehen zu Deinem und zu vieler Menschen Gewinn und Segen" (am 20. April 1849, UBMüSchlN). Über Wilhelm setzte ihn die Mutter einige Monate vorher ins Bild. Wilhelm ist 16 Jahre alt geworden; er ist sehr ernst. „Der schwere Schlag (des Vaters Tod) hat ihn tief getroffen und ihn gereift"; an ihm glaubt sie eine Stütze zu haben. Er hat allerdings wenig Ausdauer zur Musik, die Angelika und Eduard mit Leidenschaft betreiben. Im Herbst möchte Wilhelm von sich aus nach Münster (1849), er sei sehr fleißig geworden. Wilhelm Sarrazin wird nächstens zu Ihnen ziehen, Josefs Bruder. Das ist ihr lieb für ihren Wilhelm. Er wird wegen seines früheren Leichtsinns erst mit 20 Jahren auf der Schule fertig werden. Eduard dagegen ist ein halbes Jahr in Quarta Primus und kommt nun in Tertia. Sie geht näher auf ihre Erziehung der Kinder ein, auf die Art der jüngsten, Karl und Anna, um seinen Rat und seine Anteilnahme zu bekommen. Leider fehlen Schlüters Briefe an sie; aus den ihren aber ergibt sich ein charakteristisches Bild vom Leben der Familie
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eines höheren Universitätsbeamten in der Biedermeierzeit. Schlüter leitet es aus der Ferne wie in der Nähe. Psychologische Verfeinerung, Streben nach schöner Geistigkeit und vollkommenem Menschentum im Genuß der Natur und der musischen Künste, die die Religion zwar nicht ersetzen, aber ihr sehr nahe stehen, und letzte Hinwendung und Ausrichtung zum Geber alles dessen, was ist und was geschieht, ein tägliches Oben und Sich-Bemühen in Schönheit und Freude, eine gepflegte Sensibilität und gesteigerte Genußfähigkeit in Gsmeinsamkeit — das hält solches Familienwesen zusammen. So sieht die Mutter „oft mit dankbarer Freude das Leuchten des Geistes" auf Eduards „schönem Gesicht", wenn er sich freiwillig in „Böckers Weltgeschichte" vertieft. Karl fehlt die poetische Ader gänzlich, „wie er überhaupt wenig Denken und geistige Tätigkeit hat". Aber er ist liebenswürdig, hilfsbereit, hat Ordnungs- und Pünktlichkeitssinn, zeichnet hübsch, ist immer freundlich und zufrieden. Annchen „fliegt alles zu". An den Abenden wird gemeinsam nach Stichworten gedichtet, oder man liest zusammen Gerstäckers „Reise um die Welt". Vielleicht kann Stopher etwas angeben, was den Nutzen mit dem Vergnügen verbindet. Sie erzählt, wie liebevoll die Kinder sie über den Verlust des Gatten zu trösten suchen. Nach dem Seelenamt — vier Jahre nach seinem Tode — haben Wilhelm und Angelika sie zu einem Waldpicnic eingeladen; Wilhelm überrascht sie da mit seinem Drama „Sartorius". Am 31. Mai 1853 kann sie ihm von Wilhelms Universitätsbesuch berichten. Er hat ein juristisches Kolleg bei Franke, Nationalökonomie bei Hanssen, Geschichte bei Waitz, Chemie bei Wähler, Philosophie bei Lotze. Ein charakteristisches Bild der Vielseitigkeit damaligen Studiums! Aber Philosophisches zieht Wilhelm vor, jedoch sei er unstät, wechsle von einem Werk zum andern und finde nicht Ruhe. Mit einem älteren katholischen Freund zusammen lese er seines Vaters Buch „Mitteilungen über den Einfluß der Philosophie auf das innere Leben". Karl ist seit Ostern GroßSekundaner. „Eduard geht noch im Flügelkleide", Angelika schwärmt bei Veilchenduft und Nachtigallensang, Annchen ist das liebe Benjaminchen. Stopher habe so lange nichts von sich hören lassen, beklagt sie sich. Im September 1853 schreibt sie ihm einen Brief voll schwerer Sorge und Angst um Wilhelm, der sich entschlossen hat, Geistlicher zu werden. Ihrer Ansicht nach ist er wegen seines Temperaments nicht zum Priester geeignet. Außerdem bekommt sie in Göttingen Stipendium; nun muß Wilhelm nach Münster zur Akademie. Sie fleht den Freund an, sich seiner anzunehmen „mit seinem weichen Gemüt". Wilhelm hat sich nun auch einen theologischen Berater gesucht, den Pfarrer Deiters von Duderstadt. Während seines Studiums in Münster ist er viel bei Schlüter. Doch als er sich trotz des Widerspruchs der Mutter entschließt, Jesuit zu werden, läßt Schlüter ihm jede Freiheit, obwohl
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Schlüter, der Lehrer und Erzieher
er selbst nie dazu geraten haben würde. Doch schon fünf Jahre später, 1861, stirbt dieses Sorgenkind, wie so viele damals, an der Schwindsucht. Auch Angelika war, schon Braut, ein J a h r zuvor hinübergegangen. Beide Kinder sterben nach den Briefen der Mutter wie Heilige. Der Verlobte, der Musiker Borges, ist ebenfalls ein Adoptivsohn des Schlüterhauses; er will sich jetzt der Mutter seiner verstorbenen Braut widmen. Eduard, der Bruder, ist von Schlüter eingeladen. Sehr intensiv gibt Schlüter sich diesem dichterisch und noch mehr musikalisch begabten Sohn seines verstorbenen Freundes hin. Eduard selbst hatte sich nach dem Mentor „schon lange gesehnt". Im August 1857 überbringt der jüngste, Karl, von der Mutter den gewichtigen Brief. Auch Anna, die jüngste Tochter, ist mehrfach im Schlüterhaus. Die Kinder wachsen heran, sie gründen Familien. Eduard wird nach langen Auseinandersetzungen mit Schlüter Musiker3). Er bildet sich in Leipzig aus und wird in Osnabrück Musikdirektor; Schlüter erlebt noch die A u f f ü h r u n g seines „Requiem", das ein großer Erfolg wird. Er heiratet ein M ä d chen, das ebenfalls im Schlüter-Hause verkehrt, die Musikerin Berta Giese. Anna heiratet einen wohlhabenden K a u f m a n n und wird nach London übersiedeln. Die Mutter schreibt aus London, sie spüre, daß sie alt werde. Auch an den Sorgen der Kinder-Familien nimmt der pater familias teil, auch die Enkel fordern seine Liebe. Der letzte Brief der Großmutter Kreuzhage ist vom Januar 1884: einen Monat vor dem Tod des geistigen Stammvaters der Ihren macht sie ihm eine köstliche Liebes- und Dankeserklärung (UBMüSchlN). Das ist BiedermeierLebensstil. Schlüter hat den Anspruch seines allzu früh dahingegangenen Freundes erfüllt, der seinem Tagebuch anvertraut hatte: „Wir waren wie ein paar ineinandergewachsene Bäume . . ." Es sei ein Geschenk, „solch innerliches, geistiges, höheres Leben sich zu schaffen, zu pflegen und zu nähren und eine auserkorene Seele mit hineinzuziehen, wie Blume und Kelch eins sind". Das alles ist typisch für diesen Lebensstil. In seinen Briefen an Therese erzählt Schlüter von denjenigen Briefen, die ihn besonders freuen (20. Februar 1880), Briefen von Josef Schlüter, dem Sohn des Direktors in Coesfeld (Anton Aloys), der selbst neben seinem Posten als Direktor des Gymnasiums in Andernach musikgeschichtliche Studien treibt, von August Schlüter, dem Theologen und von August Schlüter, dem Maler, beide Nordkirchener von Geburt (alle UBMüSchlN). Wie die Kinder seines Bruders Arnold, die Paderborner, Albert und Lieschen, Josef und Clemens, Richard und Maria, Auguste 4 ) und H e r mann, durch häufige längere Besuche im „Schlüterhaus" sich bilden, so 3 ) Briefe an Schlüter UBMüSchlN. Die 73 Briefe Eduards ab 1856 sind kulturgeschichtlich hoch interessant und sollen an anderer Stelle ausgewertet werden. 4 ) Siehe Anhang, Brf. a. Auguste, S. 187 f.
Schlüter, der Lehrer und Erzieher
73
nehmen auch die K i n d e r von J u n k m a n n s Schwester A n n a , verheiratete Schulte, Fritz,
an allem teil: Wilhelm,
der spätere Franziskanerpater L a m b e r t ,
der spätere Kunsthistoriker, Philipp,
bekannte, angesehene Historiker, Heinrich, „Bernhärdchen"
und Anton,
der Archtitekt, Aloys,
der
der beim M i l i t ä r anvanciert,
der jüngste, der Priester wird. V o n
Franz,
dem Stiefbruder, hört man weniger; er wird L a n d w i r t . Ü b e r alle gibt der beobachtende Pädagoge in seinen Briefen nach Breslau feine, verständige Urteile ab, da mehrere der N e f f e n j a auch dort zu Besuch eintreffen. Alle sind aushilfsweise Vorleser und Schreibhilfe des blinden O n k e l s ; sie bereichern sich schon dadurch an seinem umfassenden W i s sen und er lernt sie gut kennen. Ü b e r Aloys in seinen „Erinnerungen
. .."
an Schlüter
Schulte,
der dem A u t o r
und in seinem Buch „Aus d . m
alten Münster" den D a n k abstattete, schreibt er Therese am 9. August 1 8 8 1 : „ . . . gestern abend überraschte mich Aloys, von Straßbourg k o m mend; er muß doch dienen, darf aber und soll dabei in seinem A m t e arbeiten; wie es scheint, nimmt er es sich nicht sehr nahe. Es ist erstaunlich, wie er in allen Gebieten, ich meine vorzüglich
Geschichte,
Politik, Staatsökonomie und die gegenwärtigen Weltverhältnisse überhaupt Bescheid weiß, urteilt und sein Urteil zu begründen weiß;
er
hat etwas von einem gesetzten Gelehrten angenommen, vielleicht von Scheffer."
Damit
hat
er
recht.
Fast
genau
zwei
Jahre
später,
am
S. August 1883, meldet er i h r : „ I n diesen T a g e n erhielt ich einen B r i e f v o m lieben Aloys, worin er seine Anstellung in Donaueschingen zeigt, die uns allen natürlich zu großer Freude gereicht hat.
an-
Aloys
erinnert sich mit Vergnügen, wie wir in den Morgenstunden von 6 bis 8 zusammen Lassbergsche Briefe lasen und miteinander über den N i b e lungen K o d e x und die große Bibliothek uns unterhielten. W e r
hätte
gedacht, daß er noch einmal dieser Bibliothek Schützer und H ü t e r werden sollte?" — „ . . . unser
Haus
ist
wie
ein
Ehre und ein Vergnügen?" Lebenskunst,
die
hier
Gesundbrunnen;
Daß
geübt
ist
das
nicht
es so w a r , bestätigt nur die
und
gelernt
wird:
die
„kleinen
eine hohe und
großen Geheimnisse unserer Existenz, die jenes vollständige Wohlsein bereiten, zu erleben." „Zuweilen, wie von einem unsichtbaren Zauber berührt, oder durch ein geheimnisvolles K l i n g e n und T ö n e n von außen geweckt,
taucht es urplötzlich
mit
Kraft
aus seiner T i e f e auf,
eine
Reihenfolge von schönen Melodien rauscht durch die Seele — rein und voll und klar, um die Dissonanzen des Lebens vergessen zu machen", meint Victor
Granella
( T a n g e r m a n n ) . D a s entspricht Schlüters Lebens-
rhythmus; er schenkt nicht umsonst das kleine feine Büchlein „Wahrheit,
Schönheit
und L i e b e "
Erscheinen, 1 8 6 7 , Wedewer,
(s. L i t . - V e r z . )
sofort
Granellas nach
dem
einem seiner bildungsbeflissensten Freunde.
F ü r Schlüter, den Bildner und Erzieher, den Selbst- und Menschen-Erzie-
74
Schlüter, der Lehrer und Erzieher
her, sind nicht nur der Genuß, sondern auch die praktische Ausübung der Poesie und der Musik formende und heilende, gesundmachende Mächte. Jung symbolisierte dies in seiner Vision vom Veilchengrund. Das Veilchen ist ja die Blume des Biedermeiers, wie die Rose die des Barock. Der Duft und die Bescheidenheit des Veilchens sind unzertrennliche Gefährten des Gemüts. Er bringt sie in Zusammenhang mit Calderons Spiel „Das Leben ein Traum", diese anmutige Vereinigung von Pastorale und Religion, dieses gesunde, lebensfrohe Zusammengehen des Weltlichen mit dem Geistlichen, entspricht seiner Lebensauffassung. Auch Schlüter könnte den Satz unterschreiben: Die Lebenskunst ist die Kunst „des seligen Lebens im Diesseits, nicht Makrobiotik sondern Makariobiotik" („Geheimnis der Lebenskunst", s. Lit.-Verz.). Von hier also muß man die dilettantischen, poetischen Versuche von Nichten und N e f f e n , Freunden und Freundinnen beurteilen, zu denen der blinde Lebenskünstler Schlüter, wie er selbst sagt, „Protektor" ist, „Protektor aller angehenden und sich vollendenden Poeten und Poetinnen" (16. Januar 1882 an Th.). Von Boehn spricht von der „Pest" des Dichtens in jenen Tagen. Aber genau das Gegenteil ist damals noch der Fall: Das Dichten wie das Musizieren sind ein Gesundbrunnen. Lieschen Kreuzhage erzählt in ihren Famil'enplaudereien von den poetischen Schusterstunden Ergötzliches. D a ß auch Schlüter Aufgaben stellte, ist u. a. von den Gedichten der Droste „Angelus Silesius" und „Die ächzende Kreatur" bekannt; die letzte Aufgabe, Rom. 8, hat Schlüter als sein Lieblingsthema auch anderen gestellt. Eduard Kreuzhages Versuch (UBMüSchlN) aber zeigt im Vergleich mit dem der Droste, was gemacht und was gedichtet ist. Doch „das Machen", so meint das Biedermeier, kann das Dichten oder den Dichter unter Umständen wecken. Das lehren z. B. die Briefe der Haustochter Maria Grundschöttel aus Paderborn, der Freundin seiner Nichte Lieschen (UBMüSchlN). Es ist sinnlos, an die Dichtungen der Grundschöttel ästhetische Maßstäbe anzulegen: das geistige Geschehen will im soziologischen Raum erfaßt sein und in dieser Beziehung ist allerdings Bedeutsames zu erkennen. „Die Muse f ü r die Muße" war, wie Clarus einmal sagte, Spiritualisierung des Lebens und nahe an Religion. So schreibt Maria aus Paderborn den D a n k an Schlüter dafür, daß er sie dort in den Versmaßen unterrichtet hat. Sie werde sich „in heimlichen Mußestunden, von denen niemand weiß, f r ü h morgens oder abends spät" im Hexameter üben, und auch von Zeit zu Zeit ihre Gedanken in diese oder jene metrische Form gießen (28. Juni 1857). Man lernt, das ist nicht Spielerei. Aber mit diesen formalen Übungen ist es nicht genug; das Innere muß lebendig und wach werden, wachsen und reifen, sich aufschließen und in Bewegung kommen. Auch dazu dient der Austausch mit dem „Lehrer". Eine unbestimmbare Magie geht
75
Schlüter, der Lehrer und Erzieher a u f die lernende Seele über, ein stimulans v o n den „ A u f g a b e n " ,
die
er stellt. H i e r aber k o m m t noch das hinzu, was bereits m i t den W o r t e n J u n g s deutlich gemacht w u r d e : Auch zur
Lebenskunst.
diese
dichterische
Betätigung
wird
Sie w i r d u n d soll das L e b e n verschönern, bereichern,
beglücken u n d i m H ö h e r f ü h r e n selig machen. D o c h da besteht die G e f a h r , d a ß das prosaische L e b e n , in dem m a n sich b e w e g t , nur leicht
seinen
Geist
in
jede
Poesie haucht,
möchte. H i e r w i r d nur Erhebung
die
sich
darüber
allzu
erheben
gesucht. I n allen diesen B e m ü h u n g e n
ist die tragende K r a f t , die eigentliche Lebensspenderin, die Liebe.
Marie
G r u n d s c h ö t t e l ist nur eine S t i m m e in dem C h o r der d a n k b a r e n
„Zög-
linge", Maria
die
unwillkürlich
Grundschöttel
an
Stifters
innerliche
Menschen
gehört a b e r auch zu der J u g e n d ,
erinnern.
die sich nicht
verstanden f ü h l t : auch sie leidet an der „ K r a n k h e i t z u m T o d e " , doch als einer seligen K r a n k h e i t .
Sie k o m m t
nicht aus
aber
Ressentiment
o d e r R e s i g n a t i o n v o m W e l t s c h m e r z her, sondern aus dem L e b e n s g e f ü h l , dem die jenseitige B e h e i m a t u n g gleicht
die
gesellige
Kreuzworträtsellösen
nahe u n d
Literaturübung im
20.
des
natürlich
ist. Sengle
Biedermeier
Jahrhundert5).
So
etwa
mag
ver-
mit
dem
es vielfach
ge-
wesen sein im t r i v i a l e r e n R a u m des B i e d e r m e i e r . D o c h h i e r sehen w i r noch m e h r als einen Z e i t v e r t r e i b , hier ist das, was dem
Biedermeier-
„ L e b e n s s t i l " wesenhaft e i g n e t : die G r e n z e zwischen K u n s t und L e b e n a u f höchster E b e n e edlen Menschentums den. Auch E d u a r d diese beiden
zu
Kreuzhage
nennen
—
d a r f nur w e n i g b e t o n t
und M a r i a
erleben
Grundschöttel
schließlich
die
—
Kunst,
nur
auch
das
D i c h t e n , als G n a d e . U n d dahin zu führen, das ist das eigentliche
heimnis des Lehrers
wer-
um
Ge-
Schlüter.
E i n e ebenso bedeutende F u n k t i o n wie dem D i c h t e n f ä l l t der Pflege der Musik hauses bei
zu.
dem
i n n e r h a l b der „ M a k a r i o b i o t i k " des patriarchalischen SchlüterSchlüters
Schüler
der P r o f e s s o r
ihm
Volmer und
berichtet
einem
von
einem
Kommilitonen
Gespräch,
seine
Musik-
instrumente zeigte u n d e r k l ä r t e , er wisse z w a n z i g verschiedene
Instru-
m e n t e m e h r o d e r weniger zu h a n d h a b e n . Z i t h e r , Streichzither, u n d H a r f e liebte er besonders als die lyrischen I n s t r u m e n t e —
Flöte das ist
typisch f ü r den Lebensstil des B i e d e r m e i e r . Auch das I m p r o v i s i e r e n auf diesem G e b i e t des Musischen g e h ö r t dazu. S o sang er
improvisierend
die „Geistlichen L i e d e r " der D r o s t e und begleitete die L i e d e r auf der Harfe. D i e Hauskonzerte
sind eine regelmäßige Einrichtung im Schlüterhaus;
jede G e l e g e n h e i t w i r d b e n u t z t , u m eine jugendliche B e g a b u n g oder ein neues Licht in M ü n s t e r h e r a n z u h o l e n . M a n v e r k e h r t
nicht nur
e i n a n d e r m i t den D i r e k t o r e n u n d den S ä n g e r n des M u s i k v e r e i n s 5
) DVjs. X X X . Jg. 1956, 2/3.
nachund
76
Schlüter, der Lehrer und Erzieher
des berühmten Domchors: Schützlinge und Schüler finden sich gern zu den musikalischen Abenden ein 6 ). Der bekannte Julius Otto Grimm, der Freund von Brahms, der den Musikverein reformierte, der nadi und nach H a y d n , Mozart, Bach, H ä n d e l und Schumann und zuletzt Brahms in dem Jahrzehnt zwischen 60 und 70 in Münster einführt, ist Hausfreund, und Schlüter nimmt aktiven Anteil an den Diskussionen um die umstrittenen Kompositionen. Valentin Müller, der Münsteraner, der in Paris musiziert und in den Ferien als Violoncellist in Münster aushilft, stellt sich mit Pauline Leineweber, der Tochter des Musikdirektors in Hildesheim, im Schlüterhause vor und vermittelt Schlüter die Beziehung zu Janet in Paris 7 ). Köstlich ist es, ihn als Harfenisten über die Entfaltung der musikalischen Begabung des Kindes Emma von der Hoya berichten zu hören, der jüngeren Schwester der früh verstorbenen Klaviervirtuosin Therese von der Hoya, deren Tod Schlüter „überaus nahe ging" (a. Th. a. 31. Oktober 1857). Er unterrichtet das elfjährige Mädchen im Harfespiel und bewundert ihr staunenswertes Talent, ihr „leidenschaftliches Interesse für die H a r f e " , so daß die Eltern sich entschließen, sie weiter ausbilden zu lassen. Sieben Jahre später erlebt er ihr Spiel an einem musikalischen Abend bei Knackes („Knacke-Flügel") und berichtet Therese: „Sie hat es ihrer Schwester gleichgebracht oder doch sehr nahe, und es war ein rechter Genuß . . . " Er hört sie dann kurz darauf im Konzert von Hiller und L : szt und ist stolz auf seine Entdeckung. „Ihr unbefangen kindliches Wesen ist ganz dasselbe wie früher, nur ist sie kräftiger und gereifter an Leib wie Geist" (a. Th. a. 21. März 1864). Valentin Müller spielt mit Emma bei Schlüters „auf dem roten Zimmer" oder mit seiner Freundin, Fräulein Giese, der Braut von Eduard Kreuzhage, der bald selbst Musikdirektor wird. Bezeichnend ist auch d e Art, wie Schlüter eine Stimme beurteilt. Er schätzt — man denkt wieder an Stifter — das Linde, Zarte, Seelenvolle, das belebend und beruhigend Melodische, die Wärme des Ausdrucks, vom Geiste dennoch beherrscht. Am aufschlußreichsten und typisch f ü r das Spezifische des Zeitgeschmacks ist seine Kennzeichnung des Liederkomponisten Löwe, der 1837 auf einer Vortragsreise auch in Münster mit einem Balladenabend gastiert. Schlüter schreibt J u n k mann darüber am 7. August 1837: 8 ) Die Briefe an Th. berichten ausgiebig über solche Abende, an denen sich die Prominenz beteiligte. ]Vfe. v. 10. März 1859, v. 26. Jan. 1862 und 4. Dez. 1862 sind besonders instruktiv. 7 ) Vgl. den Brief V. Müllers an Schlüter aus Paris mit eingelegtem Schreiben Janets v. 27. Dez. 1866. Paul Janet (Brfe. UBMüSchlN.), Philosoph, 1823 ois 1899, b e k ä m p f t e den Materialismus und Positivismus. Schlüter rezensierte ¡eine Schrift Le matirialism contemporain, Paris 1864 in N . u. O . Brf. a. T h . v. 2. Jan. 1866.
Schlüter, der Lehrer und Erzieher
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„Das interessanteste Ereignis dieser Woche für mich ist die Bekanntschaft mit dem Komponisten und Sänger Löwe, Domorganist und Kapellmeister in Stettin, Kitzings Jugendfreund; nie sah ich einen Goethischeren Mann im schönsten, vorteilhaftesten Sinn des Wortes: edel, ernst, heiter und aufgeweckt, sanft, sinnig, kräftig zugleich, tiefes und feines Gefühl, auch erschlossen f ü r Religion und zugleich eine selten umfassende wissenschaftliche Bildung; Begeisterung für Kunst und Poesie, gleichsam die Seele seiner Seele, in welcher, wie mir schien, nie etwas Gemeines oder Niederes Platz nehmen konnte. Mit einer Stimme, weder ausgezeichnet schön noch stark, sondern beim ersten Anhören unscheinbar, hat dieser wunderbare Mann mich bezaubert wie nie etwas Ähnlidies. Die Leute hier nannten es Vortrag; ich nenne es die unmittelbare Erscheinung des Geistes der Poesie, der mächtig in diesem Manne ist, den Gott so geschaffen und begabt hat. Ich vergaß Klavier und Gesang, hörte und sah nichts, lebte mit ihm in einem Geiste der Poesie im mächtigen Zauber des Moments . . . Denken Sie sich das Minimum des Gesanges und der Begleitung und das Maximum der Deklaration, oder vielmehr, und mit minder schlechtem Ausdruck, der begeisterten lyrisch rhythmischen und wie ganz natürlichen Rede . . . Alles saß lautlos, stumm, hingerissen von dem einen Manne mit der schwachen Stimme. Als er gesungen hatte: ,Was ist von Blut dein Schwert so rot?' zitterte meine Schwester am ganzen Leibe. Sie freute sich, daß Vater nicht mitgegangen war. Der Eindruck war zu mächtig . . . " Als eifriger Konzertbesucher bevorzugt Schlüter — und das liegt auf einer Ebene mit seiner nie endenden Klopstock-Verehrung — H ä n d e l (Dezember 1826 an Th.). A n h a n d seiner Briefe lassen sich die großen musikalischen A u f f ü h r u n g e n in Münster in ihrer Entwicklung verfolgen, die Entwicklung des Musikvereins w i e der Cäcilienfeste und der K i r chenkonzerte, die den h o h e n musikalischen R a n g der Kulturstadt Münster im 19. Jahrhundert bezeugen. Schlüter ist w i e mit Grimm so mit Simon Georg Schmidt (bis 1831), Schindler (1831 bis 1835), Friedrich Schmidt, Karl Arnold (bis 1846) und Karl Müller (bis 1860) befreundet. Er bedauert, daß Bischof Georg Müller die alten, v o n der „Hochfürstlichen H o f - und des hohen D o m e s Stiftskapelle" herstammenden Kirchenkonzerte im D o m — 1856 hörte er noch die „prachtv o l l e Messe" v o n Reisiger — verbietet, w e i l damit die Säkularisierung der hohen Musik rapide Fortschritte mache. Schlüter hält sich im übrigen o f f e n für das N e u e , und seine anfängliche Abneigung gegen das „Laute" Wagners, den G r i m m 1867 in Münster einführt, schwächt sich ab beim H ö r e n des Schlußmarsches aus dem „Tannhäuser". D e r fast 83jährige liest noch begeistert P. Schmieds A u f s a t z über die Z u kunftsmusiker in den „Stimmen v o n Maria Laach" und empfiehlt ihn Junkmann, um Klarheit z u g e w i n n e n über den bei Wagner sich ankündenden germanisch-nationalistischen Illusionismus mit seiner H y b r i s , „Freimauerei und Pantheismus z u m weltherrschenden System" z u machen. D a s Schlütersche H a u s bietet zur Pflege der „Kunst des seligen Lebens", um wieder mit Jung z u sprechen, weiter noch die sogenannten
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Schlüter, der Lehrer und Erzieher
„Stunden": gemeinsame Lektüre bedeutender Dichtungen, der Bibel, der klassischen Philosophen und der Mystiker, die er „expliziert". Detaillierte Berichte sollen die Schwester über dies Leben und Treiben, das sie selbst so viele Jahre lang an seiner Seite mitmachte, auf dem laufenden halten. So wissen wir, w a n n Schlüter den D a n t e „expliziert", seinen Lieblingsdichter, welchen Shakespeare, w a n n er noch „Ossian" durchnimmt oder auch einem Fräulein, das ihn darum bittet, den Paulus erläutert. W i r hören v o n seinem Unterricht in Spanisch und Portugiesisch, den er angehenden Missionaren erteilt und v o n seinen italienischen, französischen, englischen, sogar polnischen Stunden. Polnische Stunde nimmt er selbst noch bei H i l d e g a r d v o n Laßberg, als diese in Münster weilt, um A d a m M i c z k i e w i c z z u lesen. Später spricht er mit einem polnischen Priester das Johannesevangelium durch, um M i c z k i e w i c z ' johanneisch-apokalyptische Visionen besser z u verstehen. Außer den von Drostes und von Laßbergs nehmen v o m Adel teil von Detten, von Zurmühlen, von Olfers von Schlehbrüggen, von Duesberg u. a. D i e M e t h o d e der fremdländischen „Stunden" ist überraschend modern: m a n liest meist sofort gemeinsam D a n t e , Shakespeare oder Tasso und lernt auf direktem W e g e v o m Gehör her die Sprache; Selbstunterricht hilft in Grammatik weiter, so viel nur, als unbedingt nötig. Eine große R o l l e spielt das H ö r e n , der Vortrag der Dichtungen; Klassiker w i e Moderne hört man im Original. D e r Lerneifer ist erstaunlich 8 ). V o n 8 ) So erzählt er Therese: „Ich habe mit (Lieschen Schlüter) musiziert, Englisch getrieben und Italienisch angefangen; an der englischen Stunde nahmen Rintelen, Marie Corten, Franziska Coppenrath, Berta C(ornelius), die aber nicht mehr so regelmäßig erscheint, und Fräulein Siefferts an teil; an der italienischen die letztere, Ida Warnecke, Toni von H a r t m a n n und Antonie Wintersbach, die schon etwas davon verstand. Vorzügliche Freude aber macht mir, schon seit längerer Zeit täglich, einen Missionär von der Gesellschaft Jesu, der bisher in Amerika war, jetzt aber nach Ostindien gesendet ist, im Portugisischen zu unterrichten und ihm das Evangelium Johannes zu explizieren" (Bronner, S. J.). Am 11. März 1857: „Gestern abend fingen wir Heinrich V I I . an, woran auch Anna Wildering teilnahm, obwohl ihre Mutter zum Besuch hier ist, und sie nimmt auch teil am Dante, der an 14 Personen auf meinem Zimmer versammelt, die alle sehr andächtig sind." Und selbstverständlich las man das Original. Am 31. Oktober: „Meine Donnerstagsund Freitagskompagnie besteht diesmal aus: H e r r n Berchem, August Schlüter II. (Theologie), Dr. Joseph Schlüter, O t t o Sarrazin und wahrscheinlich O t t o Meinhold, und da O t t o Sarrazin erst auf Obertertia ist, auf welcher auch Wilhelm Sneten, irre ich nicht, sich befindet, so denke ich, auch diesen anzuwerben. Die Gelehrten müssen dann freilich etwas herabsteigen, was ihnen wenigstens nicht schaden kann." Am 8. Dez. 1857: „Am Donnerstag werde ich mit dem Dante wieder beginnen. Es nehmen dieses Mal auch eine sehr geistreiche und gelehrte dänische Konvertitin, Frau Nilson aus Altona, und H e r r Intendant Lampel, ein Schlesier, und ein neuer Theologe daran teil. In der Woche drauf, am Dienstag, soll auch das Englische wieder beginnen. Am 24. Januar nimmt auch die von ihm als intelligent gerühmte Klara Göring, mit der Maria Grundschöttel sich bei ihrem Besuch in Münster angefreundet hat, an der Dante-Stunde teil; Klara Göring hat, so meldet er,
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Schlüter, der Lehrer und Erzieher
Boehn hat auf breiterer G r u n d l a g e auf dieses typische P h ä n o m e n der Biedermeierzeit hingewiesen, auf den schier unersättlichen Wissensdurst u n d die Energie, die m a n nur schon darauf v e r w a n d t e , geistreich k o n v e n i e r e n und interessante Briefe schreiben zu können. Aber Schlüter f ü h r t all dies biedermeierliche Wesen in die Tiefe — den D a n k der E m p f a n g e n d e n kennen wir bereits. Erstaunlich viele Bücher leiht er aus u n d nicht nur innerhalb Münsters, sondern auch an die auswärtigen V e r w a n d t e n und Freunde. Einmal stellt er fest, d a ß zu seiner Freude Dante größeres Interesse erregt als Byron. A m 31. M ä r z 1863 erzählt er: „. . . meine sprachlichen Studien und Stunden ziehen noch zwischendurch allerlei junges männliches u n d weibliches Volk ins H a u s , n a m e n t lich die italienische Stunde." Als m a n im N o v e m b e r „Ossian" expliziert bekommt, u n d eine Französin teilnimmt, übersetzt m a n dieser den Text ins Französische, u n d das erhöhe „Last und Lust", w ä h r e n d nebenan gerade ein Kürbis eingemacht werde, f ü g t er spaßend hinzu. Was aber alle im G r u n d e anzieht, ist eben noch mehr als Lerneifer: es ist das Geheimnis der Person Schlüters. Eines seiner Sonette spricht aUS
'
Sing' v o n Liebe, eh' das Leben flieht! Laß das Lied zu deiner H a r f e Saiten Leicht beflügelt Aller H e r z e n weiten, Einen H i m m e l tragen in's Gemüt. D o c h verstummt die H a r f , verstummt das Lied, Sing' im Innern, w i e in früheren Zeiten; L a ß das H e r z nur den Gesang begleiten, Dessen H a r f e nicht v o n hinnen schied. Aber sendet dir so großes Leid Ew'ge Liebe, daß in Finsternissen Selbst der innern H a r f e Saiten rissen, D i e nicht einen reinen T o n dir beut: O , dann sei zu denken doch beflissen Jenes Lieds der Sel'gen Ewigkeit. („Welt u. Glauben",
CCCXI)
bewunderungswürdig schnell das Italienische gelernt; sie hatte es aber auch mit großem Eifer betrieben. „Die Stunden, die ich mit Fräulein Göring verbringe, die unendlich lernbegierig ist, geistig sehr begabt und von angenehmem Wesen ist, machen mir Freude." A m Feste der H l . Drei Könige 1859: „In meiner italienischen (Stunde) 6, in der englischen 10 und 11 Mann."
DIE RELIGIÖSE U N D K I R C H L I C H E H A L T U N G
SCHLÜTERS
Viam veritatis elegi . . . Ps. 118, 30 Die Legende von dem „frommen" Schlüter oder „Schlüterchen" behauptet sich auch heute noch innerhalb eines Teiles der Drosteforschung und bewirkt durch den Ton dieser Art von Kennzeichnung der Gestalt des Philosophen und Lehrers, daß man sie in sektenhafter oder versimpelter Verkleinerung sieht. Kennt man aber die Hintergründe, die bei dieser Legendenbildung schon zu Schlüters Lebzeiten nicht übersehen werden dürfen, so klären sich auch die Motive dazu, die unbeachtet geblieben sind: „ f r o m m " nennen ihn einmal solche von seinen früheren Schülern, die ihn, selbst längst ins liberalistische Lager geglitten, im Lichte ihrer doch noch geliebten Kindheitserinnerungen sehen, als sie noch „ f r o m m " wie er den kirchlichen Gottesdienst besuchten, er tut es „noch", — „fromm" nennen ihn aber auch die „Frommen" unter seinen Glaubensgenossen, die ihn gegen seine eigenste Liberalität und Großzügigkeit in religiösen Dingen, seine N ä h e zu Baader und Günther, die beide indiziert wurden, seine Parteinahme f ü r Döllinger im Infallibilitätsstreit, seine Freundschaft mit Philosophen von fast pantheistischen Neigungen und seine anfängliche Aversion gegen Thomas von Aquin usw. usw. schützend, als „doch" und „trotzdem" . . . „kindlich f r o m m " , (wie man es ja auch an ihm sah und von ihm hörte), darstellen, wobei das Abwegige als nicht so ganz ernst zu nehmend, mild verziehen werden kann. D a ß aber in Wirklichkeit an der Person Schlüters auch im Religiösen eine vielschichtige, eine sogar schwer durchsichtige, eine bedrohte und eine Existenz „am Abgrund" hinter dem scheinbar so „Einfachen" durchscheint, sogar als ein vieldeutiges religiöses Sein, das läßt sich bereits an den Briefen Schlüters erkennen. Lassen wir zunächst die Briefe an seine Verwandten auf uns wirken, so begegnet uns überall der fromme Zug, wie ihn Emricb in seiner tiefgründigen Jean Paul Studie (s. Lit.-Verz.) als charakteristisch f ü r die Haltung des Biedermeier überzeugend dargestellt h a t : sie ist bestimmt von dem noch Herder und H a m a n n verpflichteten „Gott-Vater-Gedanken". In allen Lagen des Lebens, in allen Schicksalen der Völker waltet doch der liebende Vater-Gott und die Seele besinnt sich auf Ihn, der den Sperling auf dem Dache mit seiner Fürsorge bedacht hat. So klingen die fast wie Höflichkeitsfloskeln immer wiederholten Mahnungen in den Briefen, z. B. an seine geliebte Schwester Therese, und die darin enthaltenen Selbstaufraffungen in der bedrückten und bedrückenden Zeit, die man nur mit Pessimismus er-
Die religiöse und kirchliche Haltung Schlüters
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leben und erleiden kann: „Gott sei gütig und gnädig mit Euch!" — „Gott bewahre Eudi in seinem gnädigen, väterlichen Schutz und erfreue Eure Seele!" — „Gott beschütze Dich und Euer Haus und führe Euch fröhlich im Herbst zu uns zurück!" — Immer aber schwingt mit die Freude des Geborgenseins, eine Fröhlichkeit von Welt- und Gottinnigkeit zugleich. „ . . . Gott beschütze und begleite Euch und laß Euch fröhlich sein in den Ferien!" Doch dieser Zuspruch ist ja auch Zuspruch an die eigene, gefährdete, aufgewühlte und ringende Seele, und dies Lächeln doch das Lächeln eines durch Bestehen und Überstehen reif und mündig gewordenen Christen. Ist es nicht merkwürdig, daß aber von Christus in den 213 mir vorliegenden Briefen an seine Schwester und in den 84 mir vorliegenden an Junkmann niemals oder kaum die Rede ist, während die 77 mir vorliegenden Briefe an Luise Hensel überfließen von Christus? Und wieder in den Briefen an Annette von Droste — trotz des „Geistlichen Jahres" — nichts, weder vom alliebenden Vater noch von Christus? Es ist tatsächlich so, daß man zu ganz falschen Vorstellungen kommen könnte, wollte man nur von einem dieser Briefwechsel auf das religiöse Sein dieses Mannes schließen, das sich in irgendeiner Gestalt zwar nirgends vermissen läßt, denn es ist von ihm unzertrennlich. Nur bei Luise Hensel, die ein bewußtes „innerliches", „geistliches" Leben führt, kann er sich so auslassen: „ . . . der Herr sei mit Ihnen und Sein süßer Name blühe und dufte in Ihrem edlen und reinen Herzen" (als Luise über innere Dürre und Trockenheit klagt), und er sie, wie gleichzeitig Junkmann und Annette, auf Angela von Foligno hinweist. Er darf und mag bei Luise Hensel die Sprache der Kreuzesmystik sprechen, die Sprache vom Königlichen Weg des Kreuzes (nach Thomas a Kempis) und von der dunklen Nacht des Johannes vom Kreuz. Keine Gefahr der Veroberflächlichung oder der süßlichen und unwürdigen Mißdeutungen besteht bei dieser Frau. „ . . . gedenken Sie zuweilen in Ihrem Gebet, daß Gott meinen Willen Seinem liebsten Willen gleichförmig macht und mein Tagwerk zu seiner Ehre gelangen lasse." Hier weiß er sich auch verstanden, wenn er sich zu der christlichen Askese bekennt, ohne die eine Wiedergewinnung der „ursprünglichen Schönheit der Gottähnlichkeit mit Jesus Christus" nicht möglich wird, und hier darf er bekennen, wie weit er selbst versagt 1 ). Ihn jedoch als „geistlichen Führer" der Hensel hinzustellen, ist irreführend; weder bei ihr noch bei andern Frauen hat er sich solches angemaßt. Der Droste aber weiß er sich einfühlend anzupassen, ihrer Weltlichheit und Irdischkeit, ihrer Herbheit und Schärfe der Selbst- und Fremd*) Alle Briefzitate aus B r f . a. L . H . , 6 Nettesheim, Schlüter
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kritik, ihrem psychologischen Blick Rechnung tragend, indem er das Religiöse nur in leisen, nicht voll ausgesprochenen Andeutungen berührt, es sachlich behandelt oder in die freundschaftlich-menschliche Beziehung einbettet: so spricht er hier sein wundervolles Wort vom Leiden ganz ohne jedes Wort von Kreuz oder Christus, auf einer rein menschlichen Ebene verbleibend, ein „starkes W o r t " f ü r ihre „männliche Seele" — und eingebettet in seine mitfühlende Freundschaft (27. März 1835, Schi. u. d. Droste, S. 69), oder aber er gibt ihr z . B . den Angelus Silesius als Gedichtentwurf. Wieder ein ganz anderes Bild geben die Briefe an die theologischen und philosophischen Freunde, mit denen er durchaus nicht nur philosophische Probleme bespricht — er ist ja kein T y p des „Gelehrten" —, sondern bei denen er sich auch religiös-menschlich „gehen lassen" darf. In ihnen begegnet uns ein scharfer Kritiker, Mahner und Warner, dem es wie dem Tübinger Hirscher auf lebendige Innerlichkeit der christlichen Überzeugung ankommt, der den geistigen Umschwung in der Restaurationsepoche, den Umschwung im Zeitbewußtsein des J a h r hunderts und im geistigen Bildungsstreben des deutschen Volkes mitvollzieht und eine Erneuerung auch des Religiösen aus der herrlichen Vergangenheit der Kirche, aber auch aus der religiösen Vergangenheit schöpferischen Heidentums mit herbeiführen helfen möchte, und dies aus einer religiösen Begeisterung und Verantwortlichkeit als „miles Christi", wie wir ihn von Baader nennen hörten. Der ideelle A u f schwung des katholischen Bewußtseins in diesen Briefen geht zusammen mit der kindlichen Hingabe an den gütigen Vater-Gott und die leidtragende Mystik des Kreuzes — denn bei allem Pathos f ü r das restaurative Apostolat findet sich das Paradoxe persönlicher äußerster Zurückhaltung gegenüber Christus, im demütigen Durchdrungensein des eigenen Unvermögens und des Versagens, wie dies übrigens auch bei der Droste der Fall ist. Anders, wenn er über den theologischen Christus spekuliert oder meditativ von den Gedanken der klassischen Christusmystik sich tragen läßt; ein skrupelhaftes Grübeln oder SichSezieren, etwa wie in den Tagebüchern der Gallitzin, ist ihm völlig fremd; er hat im Religiösen vielleicht nur die Demut der „Nachfolge Christi", aber ohne peinlich differenzierte Selbstkorrekturen, mit ihr gemein. Aus der Tiefe seiner hohen theologischen Schau erlebt er audi das sakramentale Sein Christi und sein Leben im Dogma, sein Leben, erdund himmelverbindend, den Kosmos durchwaltend und durchlebend in unzertrennlichem Eins mit Vater und Geist.
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D i e Größe seiner Christusvorstellung bezeugt z. B. das Gedicht: O du, bei dem der Quell des Lichtes fließt, Selbst ew'ges Licht, der über Thronen weilt, Des Auge blitzend, wo der Abgrund heult, In ew'ge Tiefen schaut, im Innern liest; Der Du die Huld und das Erbarmen bist Für Alles, was vertrauend zu Dir eilt: Sei neben Licht und Liebe mir erteilt, Nichts gabst du, wo du Liebe nicht verliehst! Du blickst — und alle Wesen sind und leuditen, Aus dem Geheimnis tritt in Sichtbarkeit Das All hervor, dein hehrer Widerblick. Du liebst, und siehe, tausend Herzen zeigten Sidi liebentflammt in Götterwonn' erneut Und strahlen froh Dein Lieben Dir zurück. Wenn Karl Werner in seiner tief, klar und umfassend gegebenen Darstellung des religiös-theologischen 19. Jahrhunderts (s. Lit.-Verz.) für Anfang, Mitte und Ende dieser Zeit die Spaltung zwischen Glaubensinnigkeit und Denkgläubigkeit als charakteristisch sieht, so ist für Schlüter typisch, daß er beides darlebt und zu verbinden sucht. Aber er kennt auch die Gefährdung des Seins, die Abgründe am Rande der Verzweiflung und die Dürre und Leere. Verzweiflungsvoll, zerrissen im Gemüte Von ew'gem Schmerz, lauscht' ich, von Finsternissen Der Nacht umringt, bestürmet im Gewissen, Wie bang um mich ein gleicher Sturmwind wüte. Qual war mein Sein, mein Leben eine Niete, Verlassenheit mein Herz, mein Plan zerrissen: Da nahtest du, die Trän' im Aug', beflissen Zu trösten mich mit himmlisch-holder Güte. Und plötzlich wandelte in mir sich um Die rauhe Nacht in sanfte Morgenröte; Mir lächelte ein neues, sel'ges Leben. Gott sprach zu mir durch dich; ich lauschte stumm; Nicht durch dich selbst dein Herz sich so erhöhte: Dir hatte Liebe selbst sich eingegeben. Er weiß um die Stille der Geduld und des Ausharrens, die das geistliche Leben der Christusnachfolge erst fruchtbar macht: Und tust du nichts, o schwergedrückte Seele, Sei ohne Furcht, vielleicht ist's Zeit, zu ruhn; Vielleicht wird jetzt der Herr statt deiner tun, Und Weisheit sorgt, daß sie dir's nicht verhehle. 6'
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Die religiöse und kirchliche Haltung Schlüters Dein Innres scheint dir dumpfe Schäferhöhle Voll Nacht und Moder, wohl, so ist es nun; Allein vielleicht, daß Gottes Heimlich-Tun Bei Nacht der Morgen herrlich dir erzähle. Wirkt nicht, bevor der Lenz sein Füllhorn wendet, Im Erdenschoß gar heimlich und im Stillen Befruchtend, bildend sanfter Sonnenstrahl? Und manchen Sturm und Regenguß erst sendet Der Lenz voran, das Erdreich zu erfüllen, Bis morgens er erscheint mit einem Mal.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, d a ß eine zentrale Bedeutung in Schlüters Sicht dem Leid, dem Bruch in der Schöpfung in ihrer Gesamtheit zugemessen wird, an dem erst die Wiederherstellung durch Christus in der Geschichte wie in der Eschatologie voll erkennbar und erfahrbar wird. Für ihn bedeutet Rom. 8 tatsächlich das letzte und größte Geheimnis des gläubigen Christen; er umkreist es beständig sowohl in seinen Briefen wie in seiner Philosophie, in seinem Bemühen um die Lebenskunst, von der wir hörten. Wer diesem Geheimnis des nagenden und zernagenden Wurms in aller Kreatur, die da lebt, ausweicht, verfällt depi Schein, dem Illusionismus; er betrügt sich selbst. Er kann deshalb auch nicht erlöst werden. T o d und Nacht und Schatten wohnen sogar im Gemüt. Du träge, starre, schwer und finstre Welt, So kalt, so fern von Gott, oft will mich dünken, Als müßte jäh der Tag des Lichts dir winken, Schnell tötend ihn, der dich gefangen hält. Mir ist's, als ob, der deine Massen schwellt, Der gold'ne Schatz, den ew'gen Tag zu trinken, Aufquoll' in hell krystall'nem Widerblinken Leicht, licht und weich, wie vormals hergestellt. Schnell sucht durch deine Berge, Höhn und Tale Auf Allmachtsruf, dich wonnig zu erneun, Der Aufgangsblitz mit Morgenrotes Schimmer; Purpurisch, wie bei Nacht die goldne Schale Durch's Dunkel, glüht dein unvergänglich Sein, Verwandelnd deine Wesen, deine Trümmer.
Wie sehr der Glaube an die Wiederherstellung in Christus auch die Lebenskunst des Biedermeier innerlich bewegt, ersieht man wieder an Alexander Jungs Lehre, als deren Verkörperung Schlüters Sein und Leben sich erwies. Nachdem er das ideale Menschentum als Harmonie von H e r z , Verstand und Phantasie entwickelt hat, bekennt er: „ . . . mehr als Herz, Verstand und Phantasie ist der Glaube. Christus übertrifft alles. Das Himmelreich leidet Gewalt; das Höchste der
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Lebenskunst ist das Gebet. D e r Lebenskünstler h a t v o r allem im Innersten sich zu sammeln, in dem Glauben an den Reinsten aller Reinen die Sauberkeit seiner Seele zu bewahren, also sein H e r z mit G o t t zu erfüllen." D a ß Schlüter alle diese inneren und geistigen Bezüge mit einer tiefen Meditation u n d betenden Sammlung zu vereinen wußte, ist v o n seinen Zeitgenossen bestaunt w o r d e n u n d hat ihm den Stempel des heiligmäßigen und heilenden Seins aufgeprägt, dem m a n mit dem heute als abgegriffen geltenden W o r t „ f r o m m " nicht genugtut. D a ß diese Ü b u n g u n d Fähigkeit ihm durch die ihm auferlegte größere Konzentrationsmöglichkeit infolge der Blindheit vielleicht leichter w u r d e als einem durch die Zerstreuung des Sehens ablenkbaren Menschen, ist wohl w a h r , aber er h a t t e sein „ J a " dazu gesprochen. E r steht da wie der Blinde in dem einzigen Gedicht von Coleridge, „Limbo". So gewann er seine innere Klarheit, R u h e u n d Überlegenheit auch gegenüber den a u f w ü h l e n d e n u n d erschütternden K ä m p f e n innerhalb der Kirche, in dem, wie er an Passavant schreibt, „vielfach . . . unerfreulichen und zu nichts f ü h r e n d e n W o r t g e z ä n k , großenteils um N e b e n sachen", das sich kundgibt in den „schlecht oder halb organisierten Individuen, . . . die das große W o r t f ü h r e n , u n d w o die O r t h o d o x i e u n d A u t o r i t ä t auf eine w a h r h a f t unverständige u n d dem Geiste des Christentums zuwiderlaufende Weise urgiert wird, so d a ß der Buchstabe den Geist zu erdrücken droht. Nicht ein jeder, der zu mir sagt: H e r r ! H e r r ! — u n d von dem W o r t e : Kirche! gilt gewiß dasselbe — sondern wer den Willen meines Vaters tut. So fassen sie die Sache nicht bei der Wurzel sondern bei der K r o n e an u n d laufen G e f a h r , über der Stadt, die, auf dem Berge gelegen, weithin sichtbar ist, das Reich Gottes, welches in uns und schon gekommen ist, als Freude, Friede u n d Gerechtigkeit im heiligen Geiste, hinten anzusetzen, u n d viele treiben sich nur in den V o r h ö f e n desselben umher . . ." Scharf verurteilt er die H e t z e , die sich gegen Baader u n d Günther in dieser Weise entwickelt; an M u t fehlt es ihm nicht. Die brieflichen Äußerungen über solche M i ß stände gegenüber dem Sailerfreund u n d Protestanten Passavant, die zu seinen Lebzeiten veröffentlicht werden, nennt er selbst in einem Brief a n Therese v o m 14. A p r i l 1867 „frei u n d rücksichtslos" und f ü g t hinzu: „Ich k a n n sie aber vertreten 2 )." Diese klare Scheidung u n d Unterscheidung übt er auch gegenüber dem sich stark verbreitenden Okkultismus, der materielle Vorgänge ins Übernatürliche transponierte. Seine Äußerungen zu Passavant über die möglichen Beziehungen zwischen Hellsehen, Prophetien v o n Somnambulen, Vorgesichten u n d dergleichen z u m Religiös-Transzendenten zeigen das; Passavant bittet 2) Siehe Helfferidi, Lit.-Verz.
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Schlüter um sein Urteil, da er weiß, wie tief er in beide Gebiete, in das der christlichen Mystik wie auch in das des „Lebensmagnetismus" mit seinen Problemen eingedrungen ist. Es ist nicht uninteressant, wie Schlüter, ohne sich darauf zu beziehen, die klaren Entscheidungen von Rom gegen den „Mißbrauch des Magnetismus" von 1841, 1847 und 1856 3 ) zu unterbauen oder zu vertiefen weiß und dies gegenüber Verdächtigungen, er sei Böhmist, mit anderen Worten: er sei Pantheist. Loyalität gegenüber jeder gegebenen Ordnung und Beziehung ist, wie bereits gesagt, dem Lebensstil des Biedermeier gemäß, bei aller ihm ebenfalls eigenen Freizügigkeit in der Überbrückung konfessioneller Gegensätzlichkeit. Das gilt auch f ü r das Sein und Leben des katholischen Menschen des Biedermeier-Lebensstils in seinem Grundverhältnis zur Kirche. Die restaurativen Tendenzen im Sinne von re-instaurare, befestigen und vertiefen ja auch die Beziehungen des Einzelnen zur Hierarchie, ihrem wieder neu erkannten Wesen und ihrem tiefer geschauten Anspruch. Die Tübinger Schule, allen voran Möhler, hat die historische Rektifikation nicht nur, sondern auch das innere Sein des Ordnungsgefüges in der vergleichenden Darstellung mit den protestantischen Systemen neu durchleuchtet; Schlüter steht dazu wie auch zu Adam Müllers und vor allem zu Friedrich Schlegels Versuchen, die organische lebendige Beziehung der gesellschaftlichen und der kirchlichen Ordnung darzutun. Als nun aber im Verlaufe der Entwicklung des geistigen Lebens im 19. Jahrhundert Rom mehrmals zu den durch Kant und den Idealismus in Fluß gekommenen Problemen und der damit nicht zuletzt einhergehenden Erschütterung der Autorität und aller gesetzten Ordnungen, zu der überall in die Breite sich auswirkenden Aufklärung, die das innere Leben der Kirche bedroht, sein Wort spricht, als aber auch die Glaubensbereitschaft und die Gehorsamsbereitschaft gegenüber der Kirche immer mehr ins Schwinden bei Priestern und Laien kommt, empfangen die denkenden Geister innerhalb der Kirche von Rom ihre Richtlinie: im Syllabus vom 1. Dezember 1864, in der Konstitution Dei Filius vom 18. Dezember 1869 und endlich in der Bulle Pastor Aeternus am 18. Juli 1870. An diesem letzten A k t Pius I X . über die Unfehlbarkeit des Papstes, wenn er ex cathedra spricht, eine den Glauben oder die Sitten betreffende Lehre bestimmt, scheiden sich die aufgerüttelten und aufgewühlten Geister dieser Zeit. Das Dogma von der Infallibilität bedeutet auch f ü r Schlüter eine starke Probe auf die Loyalität gegenüber der Kirche, und nie hat er mehr gelitten als an allem, was in unmittelbarem Zusammenhang damit auch in seinem engsten Leben sich abspielt. Zunächst ist Schlüter auf der Seite der Minorität, die mit Kettler den Entschluß der Verkündi3
) Siehe Denzinger-Rahner, Enchiridion Symbolorum, S. 463.
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gung noch aufzuhalten bzw. abzuschwächen sucht, wie so viele der gebildeten Priester und Laien, wie sein Freund Lutterbeck und die Breslauer Freunde der Junkmanns, mit denen er ebenfalls in geistigem Austausch steht, Reinkens, Stieve, Baltzer. Einige Monate, nachdem die Einberufungsbulle erlassen worden ist (29. Juni 1868), schreibt er an Luise Hensel: „Es ist eine kleine sehr schöne Schrift von einem Protestanten (Baumstark) über das bevorstehende Konzil erschienen: ich besitze ein Exemplar in der 8. Auflage. Können Sie sie in Wiedenbrück haben oder soll ich sie Ihnen schicken?" (24. Januar 1869.) Luise, die Konvertitin, schreibt: „Was die Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubenssachen betrifft, so habe ich die niemals bezweifelt, und sie gründete sich bei mir sowohl auf die Schrift an mehreren Stellen derselben, noch ehe ich das katholische Bekenntnis abgelegt hatte, wie auf meinen, verzeihen Sie die Unbescheidenheit meines Bekenntnisses, einfachen Menschenverstand; denn was würde aus der Kirchenlehre, was aus ihrer Disziplin geworden sein in den vielen Verfolgungen und Wirren, öfters bei schwachen und nicht guten Päpsten, wenn das Wort des Herrn nicht ihre Rechtgläubigkeit schützte?" Anfang des Jahres 1870 geht von Münsterschen Professoren eine zustimmende Adresse an Döllinger nach München, den akademischen Anwalt der Dogma-Gegner von allergrößtem Ansehen. Noch am 23. Januar hat Schlüter an Therese geschrieben: „Bickell (Konvertit) und Antonie Jüngst sind Infallibilisten; ich warte ab die Dinge, die da kommen werden." Aber in einem Brief der äußerst erregten Caroline Lombard vom 23. Februar hören wir bereits, daß Schlüter wie seine Kollegen die Adresse nach München unterschrieben hat. Am 9. März berichtet er selbst darüber den ebenfalls sehr erregten Junkmanns nach Breslau: „Die Infallibilitäts-Bestrebungen tragen hier auch bereits ihre bittere Frucht; mein guter und frommer Kollege Stöckl hat es für seine Pflicht gehalten oder doch für gut befunden, uns Adressaten in einer Schrift zur Rede zu stellen und uns den Kopf zu waschen. Ich bin entschieden der Meinung, man hätte das so hingehen lassen sollen, da er es doch sehr gut meinte. Allein Karsch, Storck, Tenbrink, Rospatt usw. haben eine Gegenschrift erlassen, die heftig angreifend, sarkastisch und gallenbitter ist und wohl Herrn Stöckl zwingen wird, zu entgegnen, wenn er auch beteuert hat, sein letztes Wort gesprochen zu haben. Gerne befragte ich einmal die zwei geschichtskundigen Herren, den großen und den kleinen (Wilhelm Junkmann und Wilhelm Schulte, sein Neffe), über die zweifelhafte Gewißheit gewisser sogenannter historischer Tatsachen; doch glaube ich, daß auch sie es nur bis zur hohen Wahrscheinlichkeit, welche fast Gewißheit ist, aber nicht zur vollen Gewißheit gebracht haben werden. Ich hege noch die gute Überzeugung, Gott werde verhüten, daß das Dogma deklariert werde. Sehr gespannt bin ich auf Bickells
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Schrift f ü r die Infallibilität, die unter der Presse ist; gewiß wird sie gelehrt und zugleich ruhig und mild abgefaßt sein." Diese Schrift des bedeutenden Orientalisten, „Gründe f ü r die Unfehlbarkeit des Kirchenoberhauptes", die schon im gleichen Jahre in 2. Auflage herauskommt, ist kein Zufallsprodukt wie so manche andere dieser Zeit, sondern tief in seiner persönlichen Entwicklung begründet 4 ). An der Möhlerschen Symbolik war ihm bereits vor seinem Ubertritt zur Kirche klar geworden, daß die Autorität bei der Kirche sei. Ihm wurde nun die dogmatische Formulierung nicht schwer. Im Mai ist dieser Professor Bickell bei Schlüter eingezogen und teilt mit der Familie den Mittagstisch. Zuvor aber hat Schlüter, so schreibt er am 17. Mai der Schwester, „mit ihm die Ubereinkunft getroffen, es solle bei Tisch nie über die Infallibilität gesprochen werden; nun vergeht aber kein Mittag, wo dieselbe nicht Hauptgegenstand des Diskurses und der Disputation wäre; doch sind wir uns beide nicht im mindesten feindselig, sondern vielmehr ganz gewogen". Einen Monat vorher teilt er mit, daß eine ganze Münsterschc Gesellschaft nach Rom gereist sei, darunter viele gute Bekannte. Frau Clemens bringt ihm neueste Nachrichten von dort: Kardinal Reisach sei bedauerlicherweise gestorben; er habe vermittelnd und versöhnend gewirkt; seit seinem Tode gehe es scharf her und fehle nicht an Bitterkeiten. Die Briefe von Caroline Lombard sind kraß und unverständig, zeigen aber, was man bei Schlüter wagen kann. Im Mai versteigt sie sich zu Ungeheuerlichkeiten, spricht vom abgöttischen Geist im H a u p t e des Papstes usw. (Brfe. UBMüSchlN). Es folgen eine Reihe erregter Briefe, die noch im April des nächsten Jahres Schlüter zu der Bemerkung gegenüber Therese veranlassen, es sei ihm gar nicht lieb, daß man Frau Lombard in Münster erwarte, „da sie vom neuesten religiösen Thema leidenschaftlich erregt sei" (18. April 1871). Im Juni wundert sich Luise Hensel darüber, daß auch ihn „das Konzilsfieber" ergriffen. Seine Antwort scheint im Brief an sie vom 17. September vernehmbar: „In Ihren Briefen ist immer etwas von Frieden, was der meist in fiebrischer Spannung sich befindenden Seele s o w o h l tut." Am 10. September schreibt er Therese und am 17. Junkmann, sie mögen sich an dem Hirtenbrief Konrad Martins orientieren; das Dogma erhalte hier eine Auslegung, die er f ü r unmöglich erachtet hätte, die eine Versöhnung herbeiführen zu können und fast einlenken zu wollen scheine. Sie habe ihn in Erstaunen gesetzt. Im Oktober hören wir, daß die Breslauer seelisdi schwer leiden an der Opposition, die von ihren nächsten Freunden gegen Rom vorgenommen wird; Therese m u ß ihre Fassung verloren haben angesichts dieser Spaltungen, die sich in den hoch-
4 ) Vgl. D. A. Rosenthal, Konvertitenbilder, Deutschi. III, S. 487—541, bes. S. 528/529.
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stehenden katholischen Kreisen vollziehen, bei denen sich die Bischöfe nicht einmal einig sind. Die Briefe vom 22. Oktober, vom Allerseelentag 1 8 7 0 und vom 2 5 . November geben Mitteilungen Schlüters, wie sich selbst bis in die Beichtpraxis hinein die Disharmonien auswirken! U m die Unklarheiten und die verschiedenen Methoden in der Beichtpraxis zu beseitigen, hat der Bischof im Pastoralblatt instruiert — es ist Johannes Bernhard Brinkmann — die Beichtkinder nicht zu fragen, ob sie an die Infallibilität glauben oder nicht. Die Hirtenbriefe findet Schlüter zum Teil sehr versöhnend und einlenkend. I m Dezember schreibt ihm Luise: „. . . die überaus beklagenswerte Spaltung der Geister auf dem Gebiet der Kirche erregt immer mehr unsere schmerzliche Teilnahme. Möchten die armen gelehrten Männer doch einsehen, daß nur die fixe Idee von ihrer eigenen Unfehlbarkeit sie hindert, an die Unfehlbarkeit des Oberhirten der Kirche (wo er als Lehrer der Kirche spricht) zw glauben. Ich glaube, es ist besser, für diese Männer zu beten, als mit ihnen zu disputieren; sie müssen eben zu der Gesinnung kommen, die den hl. Petrus im Namen der übrigen treu gebliebenen Jünger sagen ließ: Herr, wohin sollen wir gehen? D u hast Worte des ewigen Lebens ( J o h . 6), die Einsicht wird dann schon folgen. Der arme Michelis, Reinkens usw. haben j a leider schon ihren Standpunkt außerhalb der Kirche genommen. G o t t helfe ihnen wieder herein." Dieser Wunsch erfüllte sich nicht, sondern Reinkens, der Freund, dem sie bereits testamentarisch ihren Nachlaß anvertraut hatte, ließ sich infolge der Mitbegründung der sogenannten „altkatholischen" Gemeinschaft mit Döllinger im J a h r e 1873 von dem Jansenistischen Bischöfe von D e venter die Bischofsweihe geben und nahm seinen Sitz in Bonn, wo auch Tangermann, der langjährige Freund Schlüters und Junkmanns, der altkatholischen Gemeinde beitrat. A m 7. November 1871 schreibt Schlüter Luise Hensel noch: „Hier ist alles noch so ziemlich beim alten; nur setzt die Differenz der Ansichten wegen des neuen Dogmas mitunter herbe, recht betrübende Szenen zwischen Christen und Christen ab; bitteres K r a u t wächst reichlich überall auf. D e r liebenswürdige Regens Bartscher, der mich unterdessen einmal besuchte und einen Abend länger bei mir war, schickte mir die letzte Schrift des H e r r n Bischofs von Paderborn, die ich auch durchgelesen. G o t t zerstreue das Gewölk, das sich über die Kirche gelagert h a t ; ich hege die Zuversicht, daß er alle, die es redlich meinen, und die auf ihn hoffen, früher oder später erleuchten, beruhigen und zufriedenstellen wird, wenn ich auch noch nicht sehe, wie. D e r Bischof legt ein großes Gewicht auf die Fortsetzung des Konzils und macht die Bemerkung, das Vaticanum habe sich absichtlich aller Bestimmungen über die Unfehlbarkeit des Episcopates und die Abhängigkeit desselben von der Vermittlung durch den Papst enthalten. Die Mißlichkeit der augenblicklichen Lage weiß er ganz zu
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würdigen. . . . " Der Mainzer Ketteier unterwirft sich und nimmt „den Zusammenbruch seiner inneren bischöflichen Kirdienwelt als Schicksal, als Fügung" hin (Vigener). Schlüter bewahrt die Loyalität gegenüber Zukunft die Entwicklung, die ja auch faktisch tungen einer römischen D i k t a t u r bringt. Sein rettet ihn auch über die Konflikte des Tages
Rom und überläßt der nichts von den Befürch„unendliches Vertrauen" hinweg.
S C H L Ü T E R ALS D I C H T E R U N D
NACHDICHTER
„ A u f Sdiriftstellertum macht das Vorliegende keinen A n spruch, sondern sein Wunsch ist nur, einzelnen Menschen, die ungefähr so denken und fühlen wie ich, eine heitere Stunde zu machen, die dann vielleicht weiterwirkt und irgend ein sittlich Schönes f ö r d e r n hilft. Ist dies gelungen, dann ist der Zweck dieser B l ä t t e r erreicht, und sie mögen vergessen w e r d e n — ist doch selbst die glänzendste T a t der G e g e n w a r t eigentlich nur ein Baugerüst der Zukunft und w i r d abgebrochen, sowie diese Zukunft fertig ist — aber eben d a r u m geht auch nicht das kleinste Körnchen verloren, das in der G e g e n w a r t ein w a h r h a f t Gutes setzt; denn der ganze B a u der E w i g k e i t ruht mit auf diesem K ö r n c h e n . " A d a l b e r t Stifter, V o r r e d e zu den
„Studien".
„Ihre Sonette gehören zu dem Schönsten und Edelsten, was diese Sammlung 1 ) schmücken wird; auch sonst, wo die Sonettenform nicht anzubringen, habe ich Gedanken und Bilder von Ihnen benutzt und in den Noten dabei der Quelle gedacht", schreibt der Schlüter geistig verwandte Philosoph und Dichter Friedrich Georg Daumer seinem älteren Freunde, nachdem dieser ihm auf seine Bitte hin die Sonette 'Welt und Glauben (1844) für seine Anthologie zugeschickt hatte. Der Spott der Droste über eine günstige Rezension im Rheinland ein J a h r nach dem Erscheinen dieses Buches kann demgegenüber nicht ernst genommen werden, denn einmal war Schlüter der Droste in der „Poesie des Gedankens", als Stimme im Zeitgeschehen, an „Tiefe, Ernst und Kraft" weit überlegen, darin muß man Baumgartner recht geben. Die Droste war ebenso unphilosophisch wie untheologisch; darauf hat bereits Cornelius Schröder mit Recht hingewiesen 2 ). Ihr Wort über die Sonette ist aber auch subjektiv von der überall in ihren Briefen hervortretenden Abneigung gegen die damalige Mitarbeiterin Schlüters, Caroline Lombard, bestimmt, von der sie annimmt, daß sie den Sonettenkranz mitgestaltet oder gar -gedichtet hat, wovon aber gar keine Rede sein kann (vgl. Brfe a. J . v. 19. April 1865). Die von Schlüter selbst veröffentlichten 448 Sonette, die in der katholischen Beurteilung damals, wie Annette sich ausdrückt, furore machen und 1845 „als das Ausgezeichnetste der neuen Poesie" von Moritz Brühl und von Lutterbeck herausgestellt werden, sind auch durchaus keine Lektüre für „eine gewisse fromme Klasse", wie wieder„Blumen und Früchte aus den Zeiten der christlichen W e l t a n s c h a u u n g " (?). 2) G J , Einführung, S. 5 6 f.
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Schlüter als Dichter und Nachdichter
um Annette meint (vgl. Brfe a. E. Rüdiger N o v e m b e r 1845, Levin Schücking, 7. Februar 1846). Sie machen das Lesen schwer durch die darin enthaltenen häufigen Anspielungen auf philosophische Tagesprobleme, zeitgeschichtliche Vorgänge, Personen, in Verbindung mit einem spielend gehandhabten ungeheuren Wissen; dazu k o m m t die Tendenz z u m „allergeistigsten Gedankenausdruck", den das Sonett anstrebt. Bedenkt m a n ferner die psychische Unmöglichkeit, 448 hintereinanderstehende Sonette in einem Zuge zu lesen, so ist klar, d a ß ein solches Buch nur f ü r besondere Kreise in Frage k o m m t , d a ß es ferner als zeitgeschichtliches u n d biographisches P h ä n o m e n gesehen werden m u ß . Schlüter selbst weist darauf hin, d a ß er diese Sonette nicht nach einem bestimmten P l a n oder in einer bestimmten Absicht gedichtet habe, sondern d a ß sie in seinen Mußestunden w ä h r e n d einer Reihe von J a h r e n hindurch tagebuchartig geschrieben w u r d e n , d a ß er so den I n h a l t seiner philosophischen, theologischen u n d poetischen Anschauungen in eine Form gegossen habe, namentlich aber auch das Ergebnis seiner klassischen Studien. Seinem liebsten Freund, Albert Kreu/.hage, dessen philosophische A r t ja ebenfalls eine poetische w a r , h a t t e n die Gedichte sehr gefallen; er w a r es, der sie sonderte, ordnete u n d ihnen die Dreiteilung analog der D a n t e - K o m ö d i e gab, die beide so sehr liebten. Dante-Geist u n d Dantische Sprach- u n d Formelemente sind auch überall darin spürbar, und Moritz Brühl3), der jüdsche Konvertit, der in den katholischen literarischen Kreisen um die Mitte des J a h r h u n d e r t s großes Ansehen genoß, n a n n t e Schlüter sogar um ihretwillen einen D a n t e des 19. J a h r h u n d e r t s . Das ist nicht wörtlich zu nehmen. Schlüter selbst analysiert die drei Teile des Zyklus inhaltlich, ohne das spezifisch Dichterische zu b e r ü h r e n : Gehalt steht ja diesen restaurativen Dichtern über Gestalt. Will man also das Zeitgeschichtliche fassen, so w i r d m a n a n dieser Selbstinterpretation k a u m vorübergehen k ö n n e n : „Der erste Teil, ,Zorn u n d Zuflucht', ist v o r w a l t e n d philosophisch, namentlich moralisch u n d zeigt vorzüglich den Einfluß der Lektüre der großen heidnischen Philosophen u n d Dichter, namentlich auch des Persius, des H o r a z , auch H a m a n n s usw., die sich laut u n d reich genug zu vernehmen geben; positiv Christliches k o m m t darin k a u m zur Sprache. D e r zweite Teil, . O f f e n b a r u n g u n d Kirche', handelt über das W o r t Gottes u n d die seine Verbreitung leitende T r a d i t i o n und Kirche. D e r dritte Teil ,Glaube und G n a d e ' ergeht sich frei lyrisch nach allen Seiten auf der gelegten philosophischen u n d theologischen Basis u n d ihrer Weltanschauung." Schlüter behauptet nicht v o n sich selbst, d a ß er ein Dichter sei, vielmehr bedichtet er — u n d das alles ist ja typisch f ü r den habitus des 3 ) Brühl über Schlüter in: Geschichte der katholischen Literatur (s. Lit.Verz.) u. in Civiltà Cattolica 1, S. 714.
Schlüter als Dichter und Nachdichter
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Biedermeier, den er darstellt — sein eigenes U n v e r m ö g e n vor dem erhabenen Gegenstand, zu dem er, als ein Ungelenker des Wortes u n d Überfließender des Gefühls, nur in W o r t e n hinstolpern könne. Mir tief im Herzen schlummert eine Leier Unsichtbar, heilig; ferner Widerhall Ist meiner äußern Dichterleier Schall Von ihrem Ton in stiller Sabbatfeier. Was ich verkünde, zeigt und birgt ein Schleier, Die Urgestalt; der Melodien Fall Entstellt verhüllend nur ihr Ideal, Als sei ein Lügner ich und Ungetreuer. Soll denn entzückt vernehmen nur mein Ohr, Was auf der innern Leier Silbersaiten Die Gottheit spielt und sel'ger Engelchor? Verwelken, wie gebroch'ner Rosenflor, Die Melodien, künd' ich sie den Leuten, Und ziehn sie auf dem Stamm zu bleiben vor?
Mancher w ä r e geneigt zu sagen, die Rosen seien besser auf dem S t a m m geblieben, niemand w ü r d e etwas vermissen. Aber das w ä r e nicht richtig; sie haben eben doch vielen seiner Zeitgenossen gepflückte „Rosen" bedeutet, u m in diesem schönen Bilde zu bleiben. U n d ist das nicht Rechtfertigung genug? Freilich nicht v o m S t a n d p u n k t der reinen Ästhetik. Aber ist die Tatsache nicht auch eben typisch f ü r diese Zeit? Sicher w a r es so u n d will diese Dichtung Schlüters, wenn es dem heutigen Menschen auch noch so schwer fällt, so gesehen u n d e r k a n n t sein. In den 50er u n d 60er Jahren, das entnimmt m a n dem Familien- u n d Freundesbriefwechsel, mag das Buch den schwerbedrückten Menschen Trost u n d H i l f e gewesen sein. In dieser Beziehung ist seine W i r k u n g etwa mit Tiedges „ U r a n i a " oder mit N a d e r m a n n s „ O p f e r vor G o t t " zu vergleichen, obwohl m a n Schlüters Dichtung eher durch solchen Vergleich herabsetzt, abgesehen v o n der völlig verschiedenen inneren H a l t u n g : Schlüter will kein Erbauungsbuch schreiben. Aber es hat ihm Menschen zugeführt. „Mein Büchlein hat mir die nähere Bekanntschaft vieler edlen, trefflichen Menschen, sogar mehrere sehr liebe Freunde erworben. Nachträglich w i r d seiner noch m i t u n t e r in Ehren gedacht." Auf dieses Sich-Finden und Vorwärtsstreben zu gemeinsamem Wollen, zu gemeinsamer T a t , zu gemeinsamer Freude als „schönem G ö t t e r f u n k e n " k o m m t es dem restaurativ gerichteten „Geistesbund" an, der nichts Sektiererisches an sich h a t . N u r solches Ausgerichtetsein k a n n Schlüter zur Veröffentlichung bestimmen, nicht Ehrgeiz oder dichterische Eitelkeit. I m ersten Teil Zorn und Zuflucht lassen sich drei G r u p p e n von Gedichten unterscheiden: die der philosophischen Betrachtung, Visionen
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und Spruchdichtungen, die zum größten Teil geißelnde Satire in der A r t Sebastian
Brunners
in Wien enthalten. Es geht Schlüter in diesem
Abschnitt des Zyklus darum, die Idee des „Génie du Christianisme" Chateaubriands, Friedrich Schlegels Ideen und Görres' Auffassung von der adventistischen Bedeutung der vorchristlichen Gottschau und Moral, die anima naturaliter christiana, sichtbar zu machen und der Gottesferne seiner Zeit
gegenüberzustellen.
Ja, dies azurne Luftgewölb', den Dom, Mit heil'ger Sonnenampel licht und hehr Geziert, das feierliche Wonnenmeer, Das Leben gibt, ein unermeß'ner Strom, Vom Menschen bis zum flüchtigen Atom Erhöhend Leben aus der Nacht ringsher: Schaut einst auch Sokrates entzückt; doch er Sah nur des Abbilds dämmerndes Phantom. Das Urbild kannt' er nicht; die Geistessonne Lag dämmernd noch in ferner Zukunft Schoß. Er sah die Sonne, und er sah sie nicht, Wie wir sie sehn; doch kündet er mit Wonne Den Tag des Aufgangs, sel'ger Tugend Los, Gerechtigkeit, den Strahl vom ew'gen Licht. In seinen Predigt- oder Straf-Gedichten führt Schlüter, mit Jean verwandt, die Sprache Fischarts
oder Grimmelshausens.
Paul
Das liegt durch-
aus in der Zeit; man braucht nur die sonderbaren Bücher
Günthers
aufzuschlagen oder auch jenes kaum bedeutende, aber charakteristische Schimpfiadenbuch auf die darwinistische und materialistische
Theorie:
die von Schlüter erwähnte „Nachteule des Materialismus, scheel und scheu v o r dem Lichte der Tatsachen", oder: „Materialismus und Psychologie" des „Kaplans von der Hauptpfarrkirche von Aachen", Scheidemacher (s. Lit.-Verz.). Schlüters Prophetien zum Jahre 1847 entnehme ich als Beispiel N o I V : Im Jahre achtzehnhundert vierzig sieben Sah Küh' und Kälber hoch man in der Luft. Der Adler haust' in düstrer Bergeskluft Die Fische sah man sich im Trocknen üben. Hier suchte man die Zeit zurück zu schieben, Dort: vorwärts! Rosse geißelnd knallt und ruft Ein Federheld und jungen Zeitungsschuft, Und jedes Mühlwerk ging von Dampf getrieben. In Karren ging der Mensch, doch auf den Dächern Sah Esel man mit weiser Mien' stolzieren, Und „Nutzen" war der Gassen Feldgeschrei. Kein Mangel war an Recht- und Urteilssprechern, Arznei sucht man auf Nichts zurückzuführen, Und Gotteswort erklärt' man vogelfrei.
Schlüter als Dichter und Nachdichter
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Auch der „Narr", der sich selbst verspottet, tritt auf als der philosophische Don Quichote, der in die biedermeierlich manierliche Gesellschaft zerstörerisch hineinreitet, der aber auch seiner selbst nicht sicher ist ( V I I , X . ) . Die Ironisierung schlägt in bittern Ernst der Selbsterforschung um. „Ich selber bin der Docht, der kaum noch glimmt, / Das schwache Rohr, gebeugt und halbgeknickt, / Ein Lai und Neuling, plump und ungeschickt, / Die Perle, schmutzig grau und eingekrümmt; // Ein Echo, so nur halb das Wort vernimmt / Und halb zurückgibt, Spiegel, der verrückt / Und trübe die Gestalt nur wiederblickt, / Die er empfing, ein Werkzeug, halb verstimmt." ( X I , 2-2). Doch der Selbstankläger weiß sich getragen vom Geist. Das Umschlagen der Töne vom ZartVisionären ins wuchtig Satirische, vom lyrischen Gefühlston ins Predigthafte bringt eine gewisse Bewegtheit in die Sonette. Die Lebensweisheit spricht gern in der packenden Antithese, sie richtet sich an ein Gegenüber, z . B . in X I X , X L I X , L V I I I u . a . ; das letztere redet die böswilligen Kritiker an. Richterspruch und Ansprache treffen alle Menschentypen der „verderbten Zeit", die wie in einer „göttlichen K o mödie" aufmarschieren, oft in asyndetischen Reihungen, in denen die einzelnen Glieder sprachlich unverbunden bleiben, „turbulenten Worthäufungen" (Kayser) von Fischart: „Ihr Splitterrichter", ihr „betrübte Müller ohne Mehl", ihr „eitlen Dichter", „ihr materialistischen Philosophen", ihr „Vielgeschäft'gen"! Der blinde Tor, dem die Welt entgöttert scheint, der Geizige, der vor sich selbst flüchtet, um sich zu vergötzen, wird entlarvt. Dann wieder sind da Gedichte, die in sinnende Betrachtung des Lebens umschlagen: „Wir Menschen gehn auf Eis . . oder die Bilder von heilem Leben und geordnetem Sein einstreuen: „Wie glänzt ob jedem Haus ein schöner Stern, / W o Jedes jedem Andern freudig dient . . . " oder das Lob der Freiheit und des freien Geistes, allerdings oft auch in Zeilen, die von Plattheit der Rede oder störender Einpressung der Worte in die Form nicht frei sind; bisweilen ist dies offenbar Absicht, doch an anderer Stelle — er verspottet es selbst — klingt sein Lied „Aus dem Lande der deutschen Fresser", als „das Lied des Westfalen", „wie Rabenkrächzen", „wo die Vokale, an dem Hals das Messer, / aufquiekend schrein, die Konsonanten ächzen", und er fordert sich selbst auf, „Sing' Wahrheit mind'stens mit barbar'scher Zunge". Wie Feuchtersieben später geißelt er die EpigonenDichter: „Wähnt ihr, nachahmend Jean Paul, Goeth'n und Schiller, / D a ß euch ihr Gang und Schritt vom Pöbel scheide: / Umsonst führt Aug' und Ohr ihr auf der Weide . . . " , um dann in das Extrem der mystischen Versenkung mittelalterlicher Heiligkeit einzutauchen: „Du schöpf' aus eignen Herzens inn'gem Grunde / . . . " In dem zweiten Abschnitt Offenbarung und Kirche bringt Schlüter seine spekulative Theologie und seine platonische Philosophie in die Sonett-
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Schlüter als Dichter und Nachdichter
form. Hier ist die Ideenwelt Baaders und seiner Lieblingsheiligen Theresia, Johannes vom Kreuz, besonders aber auch der Hildegard von Bingen, deren Ideen Schlüter auch später in seinen Beiträgen zu „ N a t u r und Offenbarung" verwertet, in den Spruch gebannt. Löst man das eine oder andere Gedicht heraus, so mag es seine Wirkung nicht verfehlen. Der Gebetbuchstil der damaligen Zeit, der Stil der „Frommen", — schon das ist positiv anzumerken — ist hier durch kräftige Vorstellungen und Worte, durch ein tiefes und echtes Erleben beiseite geschoben. In seinen phantasievollen Deutungen kommt häufig Friedrich Schlegel zur Sprache, seine Himmel und Erde ineinanderwirkende organische Auffassung, seine Geschichtsphilosophie. Hier spricht Schlüter als H ü t e r des Alten und der Alten der Tradition. „ O glaubt, Entstalten ist nicht Umgestalten, / U n d schwerer ist's zu bau'n, als zu zerstören." Hier geißelt er die Abstraktion in schlagfertigen Formulierungen: „Weh Allgemeinheit, Scheinheit, Seinheit! / Gemein sind allgemeine Charaktere." Der dritte Teil Glauben und Gnade wurde bereits bei der Aufweisung der religiösen H a l t u n g Schlüters berücksichtigt. Dichterisch scheint er am schwächsten zu sein. Ganz im Stil des Biedermeier stehen zwischen theologischen und mystischen Sonetten Bilder von Genien, die aus Blumen schweben ( C D X L I ) . Es gibt noch einen zweiten Sonettenkranz, der aus Schlüters Nachlaß von dem Biographen J. Hertkens mit Hilfe von Emilie Dehne unter dem Titel Schwert und Palme nach Schlüters T o d herausgegeben wurde. Er umfaßt Gedichte aus der Zeit von 1847 bis 1860. Die Überschriften stammen von den Herausgebern. Am Ende der vorangeschickten kurzen Biographie wird darauf hingewiesen, daß der größte Teil dieser Sonette der inneren Erregung des Dichters in der bewegten Zeit um 1848 Ausdruck g'bt. Im Ganzen bedeuteten sie „eine Gedankenlyrik fürs Leben höherer Art, weit verschieden von der sentimentalen, weltschmerzlichen abgöttischen Lyrik unserer Tage" (1886); er weist auf den Reichtum der darin vorherrschenden christlich rel : giösen und sittlichen Weltanschauung h'n. Hertkens meint, Schlüter habe die Forderungen, die A. W. Schlegel an das Sonett stelle, erfüllt. O b das Buch sich jedoch als Andacht- und Trostbuch in dieser Zeit noch bewährte, wie er hofft? Vielleicht gibt Schlüter in der Art Fischarts formal noch das Beste des Zyklus. Er steht auf einer Linie mit Heinrich Bones T o n in Sonetten, denen Schlüter eine interpretierende Besprechung widmete, die ihn ehrt (Civ'ltä Cattolica, II, 1856). Auch f ü r diese Dichtungen gilt, was Wolf Dietrich Rasch als positive Leistung des Biedermeier herausstellt: man schafft ein Sonett, „das atmosphärisch seelischer Aus-
Schlüter als Dichter und Nachdichter druck gerade dieses Zeitempfindens wird, und deshalb seinen
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neben den Sonetten aller Zeiten beansprucht". Schlüter ist ein sprachbegabter Typ. D i e klassischen Sprachen, in denen er die gründliche Ausbildung der Fürstenberg-Schule erhalten hatte, und die auch sein V a t e r beherrschte, pflegte er sein Leben lang weiter. Mit Wichart, Weber und Fritz Michelis studiert er 1834 das „Symposion". M i t den theologischen Freunden liest er im Kaffeehaus oder bei einem Glas Wein Vergil, H o r a z , Persius, Pindar, die Lieblinge Klopstocks, den er bis ins hohe Alter als den christlichen Dichter der Deutschen verehrt, und Theokrit. Die Beherrschung der klassischen Autoren wird zur Konversationswürze; ein Jonglieren mit passenden Aussprüchen gibt seinem Kolleg einen barocken Reiz. Er übt mit Doktoranden und Dozenten das Lateinische fürs Examenskolloquium. D a ß er auch in die Sprachtiefe eindringt, zeigen seine feinsinnigen Analysen, mit denen er an die philosophischen Grundbegriffe herangeht, z . B . in dem Kolleg über die Freiheit von 1837, dessen Entwurf sehr aufschlußreich ist 4 ). Die E'nfühlung in die Sprachphilosophie seines Freundes Anton Bernhard Limberg wurde bereits erwähnt. Hans André nennt in seiner verdienstvollen Würdigung der N a t u r philosophie seines Schülers Fr. Michelis5) den Lehrer einen „grüblerischen Sprachphilosophen und dezidierten Christen", einen „katholischen H a m a n n " und möchte ihn heute wieder neu herausgegeben sehen. In seiner bildhaften Sprache sagt er von ihm, was auch Schlüter in seiner Mittlerrolle zur Ehre gereicht: „Geheimnisvoll überwölbte sein Ideenhimmel den dunklen Grund eines überreichen Gemütslebens, das unter ihm aufblühte wie ein köstlicher Garten. H a m a n n verwandt ist vor allem sein Ringen um die Erfassung des tiefen Wesens der Sprache, um die geheime Macht des Wortes, durch die wir uns „ins Bild zu setzen vermögen über das verborgene Wesen der Dinge." Limberg kam weiterhin zu der Überzeugung, daß in allen Sprachen auch ein Gesetz der Sprache liege, in welchem wir das W e r k und den Ausfluß desselben Logos erblicken müssen, den wir auch in der Gestaltungssprache der N a t u r zu vernehmen vermögen. So wie er empfand Schlüter tiefe E h r furcht vor der Sprache. Dazu kommt Schlüters Kenntnis, Pflege und U n terricht in verschiedenen europäischen Sprachen und seine Übersetzertätigkeit, die er mit Zeitgenossen wie Riickert, Zedlitz, Daumer, Leopold Schäfer, Platen, Hammer-Purgstall u. a. gemeinsam hat. Mit der Europäisierung der Literatur im Barock war eine geläufige Beherrschung der europäischen Sprachen einer fortschreitenden Zeit zum Bildungsanspruch geworden.
4) S c h l N J 5
) „Vom Sinnreich des Lebens", S. 414 ff., s. Lit.-Verz.
7 Nettesheim, Schlüter
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Schlüter als Dichter und Nachdichter
Die darüber hinausgreifende Weltliteraturtendenz Goethes und der Romantiker ist von Rückert, der auf diesem Gebiet der Vollstrecker der Wünsche des „Meisters" genannt wird, ins Weltanschaulich-Gältige erhoben worden, indem er nicht nur praktisch in einer ausgedehnten Übersetzertätigkeit es übte, sondern auch theoretisch aussprach, was ihr letzter Sinn sein sollte, durch die Weltpoesie eine Weltversöhnung anzubahnen. Kein Wunder, wenn Schlüter Rückerts Weisheit des Brahmanen „überaus interessant" findet (16. Juli 1883 a. Th), geht doch seine kosmopolitisch-humane Richtung überall, in Philosophie, Theologie, Mystik und Poesie auf die Erfüllung solcher Wünsche aus. Allerdings hat er es nicht so weit wie Rückert gebracht; er beherrschte nicht die verschiedenen orientalischen Sprachen, sondern benutzt die Bearbeitungen der orientalischen Werke zur Orientierung. Außer den klassischen Sprachen beherrscht Schlüter das Englische, das Französische, das Provenzalische, das Spanische, das Portugiesische, das Holländische; in der polnischen Sprache bildet er sich noch im vorgerückten Alter aus, als 1856 die 20jährige Hildegunde von Laßberg, „die Polnisch sehr gut spricht", in Münster weilt, und häufig bei Schlüter zu Besuch ist. Überblickt man die veröffentlichten Übertragungen von Dichtungen aus dem Neulateinischen, Portugiesischen, Spanischen, Italienischen und Englischen nur flüchtig, so könnte man meinen, es handle sich um eine Art von Liebhaber-Sammlung eines dilettantischen Sond2rlings. Bei näherem Zusehen, vor allem bei Vertiefung in die zum Teil gelehrten, zum Teil ideenreiche Vorworte, von denen das zum Faber wohl das bedeutsamste ist, erschließt sich der Zusammenhang mit dem geistigen Geschehen der Zeit und die Bestätigung des von Schlüter seiner „Pia Hilaria" von Angelinus Gazaeus vorangeschickten Novalis-Wortes aus „Die Christenheit oder Europa": „Jedes alte Denkmal der Geschichte, jede Kunst, jede Wissenschaft findet Freunde und wird mit neuer Liebe umarmt und fruchtbar gemacht." In diesem Sinne stehen die gewählten Stoffe im Dienst der Restauration und in organischem Zusammenhang mit dem gesamten Schaffen und Wirken des Philosophen. Sie sind eingebettet und eingeordnet in das Bildungsgut und das Bildungsstreben der Biedermeier-Epoche und des darüber hinausgehenden BiedermeierLebensstils; sie sind auf das prodesse und delectare zugleich ausgerichtet. Das Übertragen ist, wie Schlüter seiner Schwester schreibt, die Zeit angenehm ausfüllende Nebenbeschäftigung und Erholung — das Übersetzte aber soll zugleich der edlen Unterhaltung wie der Erneuerung und Festigung ewiger Werte dienen. Die „Entdeckungen" solcher Stoffe und Themen haben dabei in gewissem Sinne den Akzent einer Schaustellung, eines Anpreisens, um zugleich die Wißbegier und den Hunger nach Höherem und Erhabenem, nach Großartigem oder auch das Verlangen nach Reizvoll-Lieblich-Reinem zu befriedigen.
Schlüter als Dichter und Nachdichter
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D a n k der Briefe Schlüters an die Junkmanns, zum Teil audi an Luise Hensel, besitzen wir genaue Anhaltspunkte über die Verteilung dieser Tätigkeit über die Jahre 1837 bis 1883. Mit einer beispiellosen Ausdauer und Geduld betreibt Schlüter diese „Nebenbeschäftigung". Ab 1855, seit der Verheiratung Theresens mit dem Abgang nach Breslau, •wandern Vorworte und einzelne Stücke der Übersetzungen zur Beurteilung oder zur letzten Feile an Junkmann. Schlüter holt gern bei den Übertragungen der Frauendichtungen das Gesdimacksurteil seiner Schwester ein, die ebenfalls die europäischen Sprachen zum großen Teil beherrscht. Nicht nur durch seine Blindheit bedingt, entwächst das eigentliche Übersetzen häufig seinen „Stunden", einer GemeinschaftsArbeit, aber auch einem gemeinsamen „delectare". Dabei kommt es zu einer Arbeitsteilung unter den Freunden und Freundinnen. Schlüter gewinnt durch die Aufnahme seiner interpretierenden Übersetzungen und der gemeinsamen Aussprachen und Versuche auch zugleich einen G r a d messer f ü r die Empfänglichkeit des „Lesepublikums". Bisweilen wird das Übertragen zur geselligen, doch zugleich nützlichen Unterhaltung. Schlüter kann das Platensche Wort auf sich anwenden: „Die Kunst zu lernen war ich nie zu träge." Das aber gilt, wenn auch nicht in gleichem Maße, f ü r die Mit-Lernenden und scheint zu dem Bilde des Biedermeier zu gehören. So liegt bekanntlich ganz im Zuge dieser Zeit die Wiedererweckung der Renaissance- und Barockdichtung; Schlüter entschließt sich, seiner Vorliebe f ü r die lateinische Renaissance-Dichtung Raum gebend, „dem Publikum als beachtenswerte Merkwürdigkeit" einige ihrer Vertreter neu zugänglich zu machen. Markus Antonius Flaminius (1498—1550), der „Leoniner", Schützling des Papstes Leo X., einer der Ersten des „Goldenen Zeitalters" der Neulateiner, taucht in den Briefen Schlüters an Junkmann zusammen mit Angelinus Gazaeus (1568—1630) zuerst am 1. Juli 1847 auf: Schlüter bittet den Freund, wenn er zufällig darauf stoße (Junkmann hat gute Antiquariate bei seinem Studium in Bonn an der H a n d ) , ihm den M. A. Flaminius, den A. Gazaeus oder die Spanier Salas, Aldana oder Johannes vom Kreuz oder den Portugiesen Ribeiro zu erstehen. Am 14. Oktober überrascht die Mitteilung an seine Schwester Therese, die in Paderborn die Eltern bei den fünf Kindern Schlüter vertritt: „Flaminius ist fertig und wird diese Woche wohl ankommen. Die Vorrede zum Angelinus ist ebenfalls fertig; sie hat mir viel Mühe gemacht, namentlich, da ich gar nicht aufgelegt war, daran zu arbeiten. Junkmann hat durch ungeheures Rebellieren mich dahin gebracht, den Hauptteil und noch mehreres neu zu machen oder doch wesentlich umzugestalten; sie ist aber wirklich dadurch bedeutend besser geworden, wie mir deucht." Das ist tatsächlich so. Denn die Einführung in den 7*
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Schlüter als Dichter und Nachdichter
Flaminius zeigt noch die Überladung mit „gelehrtem Kram", sie ist eine spezialisierte wissenschaftliche Darstellung aller mit der Erscheinung des Flaminius von der Historie und Naturwissenschaft aufgeworfenen Probleme aus einem allerdings umfassenden Studium. Die Behauptung z. B., daß Flaminius Lutherische Neigungen gezeigt habe, wird von ihm untersucht und abgelehnt. Interessant für die Literaturwissenschaft ist besonders die bisher nicht beachtete Überholung eines Urteils der Droste über den „Tibull" des 16. Jahrhunderts, das er gerne anführt und dessen Ergänzung und Korrektur durch ihn ein gut Teil seines ästhetischen Programms enthält, wie es übrigens später auch dem Schluß des Vorworts zu Faber zu entnehmen ist. In der Grundeinstellung zu „den Alten" stimmen beide zunächst völlig überein, aber die Formulierungen der Droste sind wohl den seinen abgelauscht. In der Hauptsache also fühlt er sich von der geistreichen „Freundin" glücklich bestätigt. „Sie haben Recht", hatte sie ihm geschrieben, „er (Markus Antonius) sieht nicht nur den Besten der alten Dichter gleich, sondern er erreicht fast bei jedem Anlaufe das Beste, was jenen nur ausnahmsweise gelungen ist — d. h. in dem von ihm gewählten Fache, was freilich nicht das allerhöchste ist, und dann nur, wenn er seinen Pegasus nicht in das Joch der Lobhudelei und endloser Bekomplimentierungen spannt — eben auch ein Notstall, seiner Zeit angehörend und nichc zu umgehen". Auch in seiner Bevorzugung der „Hirtengedichte" gibt sie ihm Recht; sie hält sie unter „all dem Lieblichen" für „das Lieblichste; die des Virgil — freilich seine schwächste Seite — machen sich geradezu hölzern dagegen". In feiner Weise aber korrigiert Schlüter die Droste aus seinem umfassenderen und tieferen historischen Verständnis. Das „Formelle", das sie rügt, komme aus der inneren Haltung der damaligen Dichter zu ihren Freunden und Gönnern, aus den Zeitverhältnissen, sei also stilecht. Auch soweit der Renaissance-Dichter als „Nachahmer der Alten" dasteht, glaubt Schlüter ihn noch positiv beurteilen zu können. Vor allem aber hebt er heraus, inwiefern Flaminius durch das Christliche die Kunst der Alten fortentwickelt und höher geführt habe, obgleich bei Markus Antonius sich sehr viel nur Heidnisches als Gegenstand der Dichtung finde. An diesem Zusammenhang entwickelt Schlüter seine Auffassung von christlicher Dichtung. Flaminius habe ein „höheres Gottesbewußtsein", als es den heidnischen Dichtern gegeben war; das wirke sich auch „für seine Auffassung der tieferen Regionen des Schöpfungslebens" aus, an seinem Naturgefühl. „Während sich dasselbe bei den Dichtern des Altertums im allgemeinen ängstlich und verworren zeigt, ist es bei Flaminius dagegen ungleich kühner, klarer, erquickender, deshalb, weil der Dichter im Gefühl und Glauben, von dem Einen getragen und gehalten und Ihm versöhnt zu sein, sich um so unbefangener und fröhlicher dem großen Leben des
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Schlüter als Dichter und Nachdichter
All hingeben und dem Spiele der Natur-Eindrücke überlassen konnte. In dieser Rücksicht darf man auf ihn wohl die Worte Friedrich Stolbergs anwenden: N a t u r führt unsern Geist zur Tugend, Und Tugend führt ihn zur Natur —
zugleich aber auch zu ihrem Herrn und Schöpfer, vollsten Sinne nur vom christlichen Dichter gilt."
was
freilich
im
Ganz in Übereinstimmung mit dem Urteil der Droste, „daß die Alten doch Menschen waren wie wir und, wo nicht Sitte oder Gesetz ihren Gefühlen und Handlungen eine uns entschieden fremdartige Richtung gaben, man doch wohl mit dem alten vollgerechten Gang des Menschenherzens und -handelns nicht so leicht fehlgreifen würde" 0 ), weist Schlüter in seinem Vorwort zum Angelinus auf die Konsequenzen hin: „Das Allgemeine und ewig Vortreffliche im Geiste der Alten, Natur, Einfalt, Wahrheit, Klarheit, Energie der Gesinnung und des Handelns, der feinen gewählten sinnreichen Form nicht zu gedenken, leuchteten ihm (dem Angelinus) aus ihnen (den Alten) entgegen." So wird die „Nachahmung" des Renaissance-Dichters eine fruchtbare. „Weit war er entfernt, die unendlich höhere Stufe zu verkennen, wozu das Christentum den inneren geistigen Menschen in der neuen Welt-Aera erhoben, und wohl sah er ein, daß der neue Geist, die neue heilige Geschichte und eine umgewandelte, ins Göttliche verklärte Natur des Menschen auch eine neue, andere und höhere Kunst und Poesie durch einen anderen Gehalt und eine veränderte Form erzeugen müsse, wo Künstler und Poet sich diesem Geist nicht absichtlich entzögen oder widersetzten." Des Angelinus Benutzung der Alten ist also eine echte Renaissance, „eine wahrhafte Von-Innen-aus-Neuhervorbringung des Stoffes und der ihr angemessenen Form zugleich." Auch die Mythologie schaffe er zu einer selbständigen „Typik" um, von „der Idee der mächtigen Wahrheit" getrieben. Uberall hebt er die Bedeutung des Gehalts über die der Form hervor, an diesem Ort unter Berufung auf Goethes Wort: „Denn der innere Gehalt des bearbeiteten Gegenstandes ist der Anfang und das Ende der Kunst." Bei beiden Dichtern des 16. Jahrhunderts findet Schlüter so das dulce mit dem utile (Horaz I. c. V. 333, 343 u. ff.) innerlich verbunden. Das aber ist ja auch schon der Gegenstand seiner Diskussion mit Albert Kreuzhage gewesen, die in einem Briefwechsel mit dem Freund 1841 seine Ansichten herausstellt. Er lehnt deutlich die idealisierende, idyllisierende und in diesem Sinne romantisierende Kunst ab: „Du scheinst in Kunst alles", schreibt er Kreuzhage, „was nach Heilmittel und mithin nach «) Vgl. a. Brf. a. E. Rüdiger v. 30. Juli 1846.
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Schlüter als Dichter und Nachdichter
Krankheit schmeckt oder nach Apotheke riecht, in einem Grade zu fliehen, als sei es mit der Schöpfung und mit der Menschheit noch res integra. . . . So aber postulierst Du, ohne es zu merken, eine Kunst für Selige. . . . Ohne Schmerz und Pathos gäbe es nur eine falsche, langweilige Lyrik und Poesie überhaupt für uns Menschen." Er behandelt die Funktion des Leides in der Kunst. Wahr und lebendig soll der Dichter schreiben. „Wahr und lebendig erzählte Erlebnisse eines tiefbewegten Gemütes aber konnten durch eine zu sorgfältig gewählte Form nur verlieren, nicht gewinnen." Die Form muß individuell sein. Das entspricht der Seelenhaltung des Germanen jedenfalls. „Tief innerlich Erlebtes, in eine äußerliche Form gepreßt, wird zu stark abstrakt und verliert an "Wert. . . ." 7 ). Fast sieben Jahre vorher hatte er schon Junkmann, dem Dichter, das Rezept gegeben, nicht formell und affektiert, sondern offen und aufrichtig zu sein, „statt Natur und Wahrheit und mit ihnen die Poesie des Lebens und seinen Kern von dannen zu jagen". Daß er gerade dem christlichen Dichter Natur und Wahrheit, also einen echten christlichen Realismus zutraut, möchte er bei Flaminius eben daran erkennen, daß er aus den Alten das Allgemein-Menschliche und Gute sozusagen „in seinen Poesien zusammengetragen und für die Nachwelt aufbewahrt" habe, „ähnlich wie Gioberti es Dante'n zum Verdienst anrechnet, in seinem großen Gedichte, das der evangelischen Wahrheit Analoge, gleichsam den sensus communis der Religion, aus allen Religionen und Mythen des Heidentums hervorgehoben, den ewigen Wahrheiten unserer Religion zur Seite gestellt, vindiziert und einmal für immer zur Anerkennung und zum Gebrauche aufgestellt zu haben". Ein echter Renaissance-Mensch im tiefen Sinne ist in diesem Flaminius also zu erkennen, ein „Zögling und Hausgenosse des neuen christlichen Roms, . . . welches eben damals selbst die alten Herrlichkeiten der Wissenschaft, Kunst und Poesie aus ihrem langen Todesschlafe neu zu erwecken im Begriffe war". Bei Angelinus stellt Schlüter die poetische christliche Legende zur Wiedererweckung heraus und weist zu ihrem Verständnis auf Görres' Ausführungen in dem Vorwort zur hl. Katharina der Bornstedt hin. Auch die echte Legende muß Ausdruck „der einen und ewigen Wahrheit" sein; auch sie kann realistisch sein und muß es sein. Ebenso hebt er später an dem modern-christlichen Dichter Faber den realistischen Grundcharakter heraus, wie dieser „mit seiner mächtigen Phantasie und seinem regen Gefühl zugleich das Streben nach unausgesetzter, genauer und bis ins kleinste gehender Beobachtung verband, und wie er keineswegs in der Poesie mit einem leiblosen, unrealen Idealismus sich begnügte, der ohne Gebrauch der Erfahrung und der wachen Sinne nur zum Nihilismus
7
) Vgl. Anh. S. 189, Brf. a. Kreuzhage v. 18. Okt. 1840.
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Schlüter als Dichter und Nachdichter führt".
Das
sind
wichtige,
auf
den
„Realismus"
hinführende
Er-
kenntnisse. Es ist zu bedauern, daß Schlüter in den dichterischen Übertragungen nicht überall so glücklich ist wie in den wertvollen Einleitungen dazu 8 ). Sein Ziel, „dem Publikum . . . die Originale wortgetreu samt T o n und Versmaß wiederzugeben", sind einer dichterischen Nachgestaltung überall hinderlich geworden. E r ist sich bewußt und sagt es auch offen, daß er Platen nicht erreichen könne. Trotzdem gibt er der H o f f nung Ausdruck, daß der Ubersetzer durch „den Geist, den Gehalt und das Wesen der Poesien des Flaminius . . . dem Publikum der Gegenwart, wenigstens einem Teile desselben, welcher noch nicht Sinn und Geschmack für alle echte Poesie durch die gebrannten Wasser der modernen Poeten eingebüßt habe (dabei denkt er an Victor Hugo), ... irgendwie Ersatz gebe für die alten ewigen Urtypen alles Erhabenen
und Schönen. ...
Alles Erhabene
ist einfach, alles Schöne sanft (vgl.
Stifter). Eine Schönheit aber, die nicht Ausdruck innerer Hoheit, W a h r heit, N a t u r und Güte ist, was ist sie, wie ein nichtiger Schemen, oder vielmehr wie ein Grab, das übertüncht ist". Anfang der 50er J a h r e treibt Schlüter, wie er der Schwester schreibt, mit Wilhelm Storck, der damals in Münster studiert, „viel Italienisch und Spanisch". 1852 habe Storck eine Originalausgabe des Spaniers Louis de Leon ( 1 5 2 7 — 1 5 9 1 ) fertiggemacht; er sei nun bereit, ihm bei der Übersetzung dieses opus zu helfen. Das war Anfang Januar. Schon Sonnabend vor Fastnacht schreibt er J u n k m a n n , daß zwei Drittel des Leon „metrisch genau übersetzt und verglichen worden, die schönsten Stücke mit Reimen, die tiefsinnigsten aber, die der genauesten und schärfsten Wiedergebung bedürfen, um verstanden und ganz gewürdigt zu werden, keine R e i m e " . E r hoffe, daß auch die Vorrede bis Aschermittwoch „zurechtgeschmiedet" sei. W i e zu Flaminius durch den Schweizer Historiker Orelli wird Schlüter zu Jacopone da Todi durch Ozanam angeregt. Dieser größte Dichter des Duecento, „der einzige, den man einen Vorläufer Dantes nennen k a n n " , wurde von O z a n a m (A. F.) in seinem Buch „Les poetes Franciscains au treiziems siècle (Paris 1852, p. 1 6 4 — 2 7 2 ° ) ausführlich dargestellt. Schlüter mußte der vermeintliche Dichter des Stabat mater schon wegen seines Charakters interessieren, der Spannung halber, die sich in dem ebenso leidenschaftlichen Apostolatseifer wie in der radikalen Weltverleugnung zeigte. Schlüter lockte aber besonders die 8 ) Vgl. auch Blumenkranz religiöser Poesien aus den Sprachen des Südens und Neuer Blumenkranz religiöser Poesien aus Sprachen des Südens nebst einem Anhange vermischter Gedichte (1861). ®) Die deutsche Übertragung besorgte Dr. Heinr. Julius: „Italiens Franziskanerdichter im 13. Jahrhundert", Münster, Theissing 1853, Jacopone S. 154 —273.
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Schlüter als Dichter und Nachdichter
spekulative Mystik und er benutzte den Anlaß einer Anmerkung zu einer dunklen Stelle in den Gedichten, die das Pantheistische streifte, zu der Abfassung einer Abhandlung über das Wesen der spekulativen Mystik, die zu dem besten gehört, was er geschrieben hat. Er freut sich besonders darüber, daß der klar denkenden Luise Hensel seine Ausführungen gefallen und daß sie damit einverstanden ist (Brf. 7. März 1864), und auch seine Schwester liest den Jacopone; Schlüter gibt auch ihr gegenüber seiner Freude Ausdruck, daß ihr „Jacopone fortwährend gefällt" (1. Mai 1864). Im Dezember teilt er ihr unter Scherzen mit, daß der berühmte Sebastian Brunner in Wien über Jacopone Vorlesungen halte. Um 1856 wendet sich Schlüter auch dem meist übersetzten Dichter der lateinischen Jesuitenpoesie zu, Jakob Balde, und zwar seiner weniger beachteten Mariendichtung. Im Brief a. Th. v. 2. Plingsttag 1856 ist zuerst die Rede von den Arbeiten an Balde. Abends komme Hipler, der Theologe, den er zu seiner großen Freude Spanisch lehre. Dieser gebe in einer „wohlfeilen, zierlichen Ausgabe" nur mit Lebensgeschichte, vollständigen literarischen Nachweisen und notwendigsten Namenserklärungen in Vorrede und Anhang Baldes Oden und Epoden heraus, worüber er sich freue. An Fronleichnam schreibt er dem Schwager Junkmann davon. „ H e r r Hipler ist total verneulateinert und baldisiert, wie im Wirbel fortgerissen." Balde wird also mit wahrer Leidenschaft betrieben. „Ich studiere viel mit H e r r n Hipler Neulateinischss und Philosophie; er schätzt, was er lernt." An Mariä Heimsuchung kann er Th. vom Fortschritt der Arbeiten berichten. Hipler aber wird ins Ermland versetzt werden. „Es wird mir sehr schwer fallen, midi von dem vortrefflichen Hipler trennen zu müssen; er wird mir täglich lieber. . . . " Am 17. November kann er melden: „Baldes ,Mariengesänge' sind fertig; nur ein kurzes Vorwort ist noch nicht zur K o r rektur zurückgekommen." Schlüter rechtfertigt seine Auswahl unter Berufung auf Herder, Neubing, Aichner und Silbert damit, daß die Marien-Oden zu den Dichtungen Baldes gehören, in denen sein „genialer Geist sich am glänzendsten entfaltet", die aber bisher nur verstümmelt oder umgedichtet erschienen seien. Die Beibehaltung der antiken Form scheine „dem deutschen Ohre nicht zu entsprechen". Er macht deshalb den Versuch an zwei der schönsten Marienoden, sie in die beliebte gereimte Form der Spanier und Portugiesen zu übertragen, „die offenbar einem christlichen Inhalte entsprechend ist". Er hoffe, so dem Genius des großen Dichters einige neue Freunde zu erwerben und den alten Freunden des Balde dazu zu verhelfen, daß sie die fast verschollene Barockdichtung mit neuem, „mit erhöhtem Genuß" aufnehmen möchten.
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Eine gewisse Sorge macht ihm nur die der Renaissance und dem Barock geläufige Verwendung der heidnischen Mythologie f ü r christliche Gegenstände. Doch er bewältigt das Problem mit historischem Verständnis. Schon der den Blumensträußen . . . A. W. Schlegels (1804) nachgestaltete „Blumenkranz . . . " Schlüters enthält zwei religiöse Elegien von Luis de Camoens zum Schluß: „Die Passion" und „Das jüngste Gericht". In der Einleitung bemerkt er, diese beiden Dichtungen gerade gewählt zu haben, weil sie zu dem Erhabensten gehören, was der Dichter der „Lusiaden" schuf. Zugleich weist er aber auf die Schwierigkeit der Übertragung hin: Die Meisterschaft in der Form, die beispiellose Gewandtheit im Strophenbau, Assonanzen, Reime und Kettenreime stellen fast unüberwindliche Schwierigkeiten f ü r den Nachdichter dar. Daher komme es, daß „die wundervollen Idyllen, welche selbst Voltaire zu den besten zählt, die es gibt, die prachtvollen und tiefsinnigen Kanzonen, die an Witz und H u m o r unvergleichlichen, zum Teil auch das Gefühl wie den Gedanken ansprechenden Redondillen, die von einem ebenso mächtigen Gefühle als einer reichen, gewaltigen Phantasie Zeugnis gebenden Elegien, die philosophischen Oden und Episteln des größten der portugiesischen Dichter auf deutschem Boden noch so gut wie unbekannt sind". N u r die Sonette haben einen trefflichen Übersetzer in Luis von Arenschildt gefunden. Schlüter und Storck haben zusammen trotzdem die Aufgabe auf sich genommen; die Ausgabe der Gesamtwerke (Hamburg 1834) diente ihnen wohl als Quelle. Am 18. November 1866 schreibt Schlüter seiner Schwester, daß er dienstags von V2 9 bis 11 U h r mit Storck Camoens übersetze. Ungefähr drei Jahre später kann er melden, daß sie die ersten Korrekturbogen lesen; „. . . mir scheint doch die Übersetzung, wenn ich es sagen darf, recht gut" 1 0 ). Diese MitDeilungen beziehen sich auf die Herausgabe der Idyllen, die zum ersten Male in deutscher Sprache erscheinen. Die Arbeiten werden später fortgesetzt. Am Tage vor Silvester 1871 sind auch die Kanzonen beendet (2. Januar 1872 a. Th.). Durch den spanischen Romantiker J. B. de Almeida Garret w a r 1825 mit seiner Nachdichtung der „Lusiaden", denen er einen „lyrisch-elegischen" Charakter gab, das Interesse in Europa zu dem portugiesischen Renaissance-Dichter neu geweckt; Tieck hatte in einer seiner besten Novellen den tragischen Tod des Dichters gestaltet wie Brentano den des Jacopone, in „Des Dichters T o d " ; in Österreich war im Zuge der dort florierenden Künstlerdramen neben Petrarca, Raphael, Shakespeare auch Camoens auf die Bühne gestellt worden, ganz zu schweigen von den Übersetzungsproben aus Camoens, die A. W . Schlegel
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) Weitere Mitteilungen a. 30. Mai, 7. Juni 1864.
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in seinen Berliner Vorlesungen zur Literaturgeschichte gegeben hatte. Das Biedermeier setzt die Weltliteraturbewegung mit einer streng historischen Gewissenhaftigkeit und angestrebten Sachlichkeit fort, die bewunderswert ist, wenn ihm auch, wie in den Übersetzungen Storcks und Schlüters, die dichterische Eleganz und formale Gewandtheit fehlt. Bedingt ist der sogar bewußte Verzicht darauf sicher nicht zuletzt durch das Vielerlei, dem man seine Aufmerksamkeit und Arbeit zuwendet. Auch dies ist ja ein Zug der Biedermeierbewegung: Abwechslung suchen, möglichst nach allen Seiten blicken, von allen Speisen kosten, an den guten Weinen probieren. In der Zeit der Arbeit am Camoens sind auch bereits die Ubersetzungen aus dem Englischen im Gange: ausgewählte Dichtungen der Adelhaid Arme Procter (1825—1863), des Konvertiten Frederic William Faber (1814—1863), des jungen Freundes von Wordsworth ( f 1850); es folgen noch bis 1877 Gedichte der früh verstorbenen Felicia Hemans( 1794-1835), von der Freiligrath 1846 Übersetzungen herausgab, und der Dinah Maria Mulock-Craik (1826—1887). Alle diese Dichtungen bearbeitete er zusammen mit Antonie Jüngst, der Pflegetochter des Ehepaars Dr. Krone, das mit Schlüter befreundet war. Ihr Name als Dichterin historischer Epen ist in die Literaturgeschichte eingegangen. Gleichzeitig mit Schlüter und Jüngst hatte der 1808 in Münster geborene Dr. philos. Heinrich Brinkmann, der in Dülmen privatisierte, Gedichte der Procter übersetzt, und als ihm Schlüters Absicht bekannt wurde, schrieb er ihm am 10. Februar 1867 (UBMüSchlN) und machte ihm den Vorschlag einer gemeinsamen Herausgabe, auf den Schlüter auch einging. Anhand der Briefe Schlüters an die Junkmanns lassen sich diese Arbeiten während zehn Jahren genau verfolgen (Brf. v. 20. Februar 1867). Die begabte und beliebte Konvertitin, der nur Erfolg in ihrer dichterischen kurzen Laufbahn beschieden war, starb bereits mit 37 Jahren an Lungenschwindsucht. Ihre Legends und Lyrics (1861) erlebten sechs Auflagen hintereinander; Charles Dickens begleitete die posthume Ausgabe mit einer Vorrede. Die „bescheidene Weltdame" hatte einmal geäußert: „I only write verses, I do not write poetry." Schlüter und Jüngst übertrugen 18 Gedichte: Ein Schatten, Der Sturm, Ein Lebewohl, Das Echo, Ein Gesicht, Ein Traum, Zu spät, Nach der Heimat, Die Geschichte von der treuen Seele, Die Geschidite des Engels, Einer Frauen Antwort, Zwei Welten, Eine neue Mutter, Drei Abende in einem neuen Leben, Ein's um's and're, Eine Legende aus der Provence, Überschriften, die schon etwas von dem Bilderkaleidoskop des Alltags einer biedermeierlichen Seele ahnen lassen. Die Art der Ubersetzung kennzeichnet Brinkmann dahin, man dürfe seinen Mitarbeitern vielleicht den Vorwurf machen, daß sie sich oft zu ängstlich an den Buchstaben gebunden, ihm dagegen, daß er sich zu viele Freiheiten erlaubte. Doch hoffe er, daß
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„die wahrhaft zauberische Glut und Zartheit der Empfindung, die großartige Tiefe der Gedanken und Lebensanschauungen, der fast an Heiligkeit grenzende Seelenadel" der Procter „in unverkennbarer Weise hervortreten werde". Der Hinweis auf den Gewinn für „Geist und Herz" zum Schluß seiner Einleitung fehlt nicht. Brinkmanns Übertragungen lesen sich am besten. Auf den Oratorianer Frederic Wilhelm Faber war Schlüter durdi Bowdens „Leben Fabers" und seine Vorlesungen über die Geschichte des Oratoriums gestoßen. Ihm widmete Schlüter ein intensives Studium, wie die Vorrede seiner Ausgabe beweist. Zuerst teilt er Therese am 3. O k tober 1861 mit, daß Fräulein Leduc, die Freundin Montalemberts, die in Münster weilt, ihm Faber vorliest. Später ist noch mehrmals die Rede von der Lektüre (1862 und 1863). Zweimal die Woche arbeitet er mit Toni Jüngst am Faber, „sehr schöne Sachen; es macht mir Freude". Erst am 21. März 1869 meldet er Therese, sie seien bei der Revision ihres Faber, an dem sie 4Va Jahre lang übersetzt hätten — es waren 7 Jahre! Im Juli hilft Herr Storck aus, da Toni verhindert ist. „Der Faber hat zu meiner großen Freude Herrn Storcks Gunst und Bewunderung erworben. Von ,König Krösus* war er ganz hingerissen und nannte das große Gedicht vollendet schön." Am 23. Januar 1870 meldet er zufrieden, Rüssel übernehme den Faber; er bekomme 10 Louisd'or; . . . hätte ich 20 gefordert, ich glaube, ich hätte sie auch bekommen. Doch ist es mir so ganz recht. Ich machte dazu con amore eine lange Vorrede; es gehörte sehr viel dazu, bis alles fertig war." Gleichzeitig ist er bei der Korrektur und Politur der Hemans beschäftigt. Am 10. September wird zugleich mit der Ankündigung des gedruckten Faber von der Ubersetzung wundervoller Gedichte der Mac Mulock gesprochen, mit der man seit Juni sich bereits beschäftigte. Er findet in ihr „etwas wahrhaft Ausgezeichnetes", einen „Hauch der Gudrun, des Königs in Thüle oder des Gesanges der Geister über dem Wasser, was mich gleichsam bezaubert. Er schickt Therese die Ubersetzungen, um ihr und Junkmanns Urteil zu bekommen (3. Januar 1871). Zwar behandelt er dann Theresens Einwände zur Wortwahl des Ubersetzten recht schulmeisterlich (9.Februar 1871). Durch die Mulock ist er auf die größere Elizabeth Barret Browning (1860-1861) gestoßen. Sein Urteil: „Sie hat nicht die Innigkeit des Gefühls der Mulock, wie mir scheint, vernachlässigt auch in etwa Diktion und Vers, ist aber originell, sehr markiert und ein ausgemachtes Dichtergenie. Eins ihrer merkwürdigsten Gedichte ist überschrieben: ,Der große Pan ist tot'." Während Mulock, übersetzt, 1873 und Hemans 1877 erschien (mit Antonie Jüngst zusammen herausgegeben), ist von der großen Browning nichts von ihm veröffentlicht worden.
SCHLÜTER ALS HERAUSGEBER VON BRIEFEN, TAGEBÜCHERN, GEDICHTEN DREIER BEDEUTENDER FRAUEN: DROSTE — GALLITZIN — HENSEL „Das wahre Gemüt im Handeln ist, seine Pflicht tun, sich und seine Neigungen hintansetzen und am Guten in Dingen und Menschen festzuhalten und es nicht untergehen lassen." Wilhelm von Humboldt Es w a r selbstverständlich, d a ß Schlüter nach d e m T o d e Annettes es als heiliges V e r m ä c h t n i s d e r F r e u n d i n b e t r a c h t e t , das i h m g a n z z u eigen gegebene Geistliche Jahr des „seligen F r ä u l e i n s " , das sie z u i h r e n L e b z e i t e n aus Rücksicht a u f d i e F a m i l i e nicht h a t t e v e r ö f f e n t l i c h e n w o l l e n , s o b a l d als möglich h e r a u s z u g e b e n , z u m a l sie i h m d e n A u f t r a g gegeben h a t t e , d e n G e d i c h t z y k l u s „ g a n z o d e r z u m Teil z u v e r ö f f e n t l i c h e n u n d d a b e i n u r seiner U b e r z e u g u n g z u f o l g e n . " (Einl. z. seiner A u s g . S. I I I . ) D a v o n w u ß t e n auch d i e F a m i l i e D r o s t e u n d Jenny von Laßberg in M e e r s b u r g , bei d e r sich das g a n z e M a n u s k r i p t , also auch die erste R e i n schrift ( v o n 1820), d i e Schlüters E i g e n t u m w a r , b e f a n d ; A n n e t t e h a t t e sie sich noch im W i n t e r 1 8 4 7 / 4 8 v o n Schlüter schicken lassen, w e i l sie das g a n z e W e r k ins R e i n e z u b r i n g e n gedachte. A u f sein D r ä n g e n h i n ü b e r g a b i h m W e r n e r v o n D r o s t e auf H ü l s h o f F v o n seinem Besuch in M e e r s b u r g nach d e m T o d e d e r Schwester, v e r m u t l i c h schon im J u l i , d a s g a n z e M a n u s k r i p t , d e n W u n s c h seiner Schwester g e t r e u e r f ü l l e n d ( B r f . W ' s . v. D r . a. Schi. a. 28. J u n i 1848, K r . 502). F ü r Schlüter w a r das S p a n n e n d s t e z u n ä c h s t , welche T e x t v e r ä n d e r u n g e n d i e D i c h t e r i n v o r g e n o m m e n h a t t e , seit sie i h m die angeblich „ v o l l e n d e t e n " G e d i c h t e A n f a n g 1840 vorgelesen h a t t e . E r h a t t e sie nicht vergessen; d e r E i n d r u c k w a r tief gewesen. A b e r n u n b r a u c h t e er eine b e s o n d e r e H i l f e , d e n n das M a n u s k r i p t d e r 1 8 3 9 / 4 0 v e r f a ß t e n 4 7 G e dichte w a r noch k e i n e R e i n s c h r i f t , s o n d e r n ein „ K o n z e p t , v o n n e r v ö s e r H a n d in höchster H a s t u n d k l e i n s t e r Schrift u n d m i t A u s n u t z u n g jedes freien Platzes hingekritzelt auf 4 Folioblättern, 1 zweiblättrigen Foliob o g e n v o n gleicher G r ö ß e u n d 10 O k t a v b l a t t m i t i21/z beschriebenen Seiten, . . . e i n z e l n e W o r t e , W e n d u n g e n u n d Verse, h a l b e u n d g a n z e S t r o p h e n gestrichen, R e i m e g e ä n d e r t , Verse u n d S t r o p h e n u m g e s t e l l t u n d d i e n e u e F a s s u n g — z u w e i l e n z w e i bis drei z u einer Stelle — je nach d e m f r e i e n R a u m ü b e r u n d u n t e r , v o r u n d h i n t e r die a l t e gesetzt, m a n c h m a l auch w e i t e r e n t f e r n t a n g e b r a c h t o d e r in die k ü r z e r e n Striche, welche d i e S t r o p h e n , u n d i n die l ä n g e r e n , meist ü b e r die g a n z e Seite
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sich hinziehenden Gedichte voneinander trennen, hineingeschrieben. Infolgedessen . . . die durch die flüchtige kleine Schrift schon ungemein erschwerte Entzifferung in einzelnen Fällen unmöglich gemacht." (C. Schröder G J S. 275.) Wer anders kam da als Entzifferer zunächst in Frage als Junkmann? Da aber einer allein kaum die schwierige Textgestaltung zu unternehmen imstande war — so war Junkmanns Ansicht — wurde von Werner von Droste Professor Braun in Bonn als Mitarbeiter gebeten, ihm außerdem die Herausgabe des gesamten übrigen Nachlasses samt Biographie angetragen. Wie diese Zusammenarbe.t verlief, ist bekannt (vgl. Kr. S. 502—506). Am 1. Mai 1849 bietet Schlüter in seinem Schreiben nach Frankfurt Junkmann seine Hilfe bei der Textherstellung an, wenn er nach Münster zurückkommt. „Zum Dritten wollte ich Dir, wo möglich, bei der Entzifferung der geistlichen Gedichte unseres lieben seligen Fräuleins beistehen, da sie mir selber alles schon einmal vorgelesen hat und ich ihren Ideengang und ihre Ausdrucksweise aus dem ersten Teil ziemlich zu kennen glaube. Seltsam, daß auch ich in diesen Ferien mich mit dem Fräulein viel beschäftigt habe, indem ich ihre Briefe abschreiben ließ und dann durchlas, die gänzlich unsichtbar zu werden drohten; es war ein wehmütiger Genuß; in wie anderm Lichte sieht man im Wechsel der Zeit doch die Dinge, und wie so anders kömmt mir alles vor, nachdem sie aus der Zeit geschieden in das geheimnisvolle Land?" Schlüter hatte also die Briefe der Droste an ihn — Annette hatte sie aufgehoben — von der Familie zurückerhalten, vermutlich auf seine Bitte hin. Zu einer Veröffentlichung entschloß er sich jedoch erst in seinem 76. Lebensjahr. Jetzt, im 48. Lebensjahr, beschäftigt er sich auch in seinem Kreise mit der Lektüre von Annettes Gedichten. Davon erzählt er Junkmann, der in Berlin als Abgeordneter der II. Kammer tätig ist, im Brief vom „Dienstag vor Cäcilia": „ . . . w i r lasen in des seligen Fräuleins Gedichten: Heidebilder, dann Dein Portrait, welches meiner Meinung nach eines der schönsten und wahrsten ihrer Gedichte ist." („Gruß an Wilhelm Junkmann.") Am 5. Dezember schreibt er ihm, Herr von Droste habe ihm gesagt, Junkmann gedenke Weihnachten nach Hause zu kommen, wo dann „alles Mögliche mündlich ohne alle Mühe" miteinander besprochen werden kann. Diese Mitteilung wird verständlich im Zusammenhang mit Junkmanns Brief an Werner von Droste vom 9. November (Kr. S. 504). Man erfährt aus diesem Schreiben, daß zwei verschiedene Abschriften an Herrn Prof. Braun gegangen waren. Monate vergehen, ohne daß Professor Braun etwas von sich hören läßt; Schlüter wird ungeduldig. „Hat Professor Braun nicht voran gemacht, so beauftrage ich Dich hiermit, das ihm anvertraute Manus-
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kript von des Fräulein geistlichen Gedichten, welches mein ganzes unbedingtes Eigentum ist, von ihm zurückzufordern und mir wieder zuzustellen, er mag sagen was er will" (13. April 1850 a. J.). Am 11. N o vember bittet Jenny besorgt ihren Bruder Werner, doch Onkel August zuzuziehen und ihm zu schreiben, daß die Sachen jetzt bei ihm in Hülshofi sind. Braun m u ß also alles dorthin zurückgeschickt haben, warum, ist nicht bekannt; und Werner bringt nun alles zu Schlüter hin, wie wir aus einem bisher den Biographen unbekannten Schreiben erfahren: „ H e r r von Droste hat mir alle Gedichte des an Junkmann seligen Fräuleins gebracht, die noch nicht gedruckt sind und die abgeschriebenen geistlichen mitgenommen; er wünscht sehr, Dich Weihnachten hier zu sehen, damit der Druck gemeinsam beraten werden könne. N u n sei Gott mit Dir; ich sitze auf heißen Kohlen." Am 16. Januar 1851 erfährt man von Schlüter etwas Neues: „Herr von Droste hat sämtliche Sachen vom Fräulein abgeholt; Frau Rüdiger hat die Lebensbeschreibung übernommen, besteht aber selbst darauf, daß wir die letzte Revision vornehmen sollen; sie will, ehe sie ans Werk geht, herüberkommen und Rücksprache nehmen. So viel f ü r dieses Mal." Überraschend kommt Schlüters Mitteilung einen Monat später (18. Februar): „Herr von Droste ist am Ende voriger Woche in Köln gewesen, wo er bei Schücking und Frau Mittagsgast gewesen und ziemlich mit ihm über seine Angelegenheit eins geworden ist. Er meint jetzt mit diesem, der erste Band müsse von Cotta kassiert und sodann die Summe des Ganzen nach Rubriken neu geordnet und verteilt werden. Eine Lebensbeschreibung sei überflüssig; wolle Cotta die geistlichen Gedichte nicht, so könne man diese überall wohl anbringen und besonders herausgeben." Schlüter gibt weiter seiner Enttäuschung über diese Entwicklung der Dinge, besonders über den letzten Vorschlag, Ausdruck. „So spielen Zufall und Umstände scheinbar auch mit des Fräuleins Nachlassenschaft, und nicht, was geschehen sollte, sondern was geschehen kann nach der Verflechtung der Verhältnisse, entscheidet, und die Idee wird mit dem Besen hinter die Tür gestellt." Die Idee! Das Herzstück der Dichtung Annettes sieht er aus dem Ganzen ihrer Lyrik herausgerissen; das mußte der Philosoph zutiefst ablehnen. Die praktischen Erwägungen, die Schücking angestellt hatte, mußten ihm nebensächlich erscheinen gegenüber der Angemessenheit einer Ausgabe des Gesamtnachlasses. Doch Jenny von Laßberg war mit dieser Entwicklung ebenfalls zufrieden, hinter der wohl als Hauptantriebskraft Onkel August stand. Auch die Einwände Schückings gegen eine Biographie der Rüdiger — obwohl kaum verständlich, daß Schücking Indiskretion von der „N." (Elise Rüdiger) fürchtete, überzeugen sie. „Du kannst ja sagen, man wolle das später tun, wo man vielleicht auch den Walther und das Landleben und Briefauszüge zusammen nehmen
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könnte . . . " Schücking wird das Leben der großen Freundin, in dem er eine so entscheidende Rolle gespielt hatte, selbst haben darstellen wollen, und er allein war zunächst wohl auch dazu imstande, soweit es sich um Vermeidung von Indiskretionen handelte; denn diese konnten sich wohl nur auf sein Verhältnis zu ihr beziehen. Wie er zum „Geistlichen Jahr" stand, hat er in dem dann wirklich 1862 veröffentlichten „Lebensbild" klar und wahr gesagt: es war nicht Mißachtung, die ihn zu dem gegebenen Rat bestimmte. „Ich bin also ganz zufrieden mit der Art und Weise, die Du mit Schücking überlegt hast, und überlasse Dir diese Verhandlungen mit ihm, ich war von seiner freundlichen Gefälligkeit überzeugt", schreibt Jenny ihrem Bruder am 25. März 1851 (Kr. S. 506). „Verwicklungen", wie Kreiten meint, sind diese Planungen aber wohl nicht. Es war klar, daß Schlüter und Junkmann — Braun war ausgeschieden — als Herausgeber auch eines Sonderdrucks des „Geistlichen Jahres" nur in Frage kamen. In Schlüters Briefen an Junkmann bis zum 30. Januar 1852 ist dann auch keine Rede mehr von der Sache (es handelt sich um drei Briefe); erst unter diesem Datum erfahren wir, daß das „Geistliche Jahr" als Sonderband von Cotta als erste Veröffentlichung aus dem Nachlaß gedruckt ist. Schlüter berichtet von Freiexemplaren an Junkmanns Schwester Anna. Das Buch war noch Ende 1851 erschienen, d.h. in der Aufmachung eines poetischen Gebetbüchleins im Taschenbuchformat, wie Jenny es gewünscht hatte. Die Herausgeber sind nach ihrem Wunsch nicht auf der Titelseite genannt, und in dem kurzen Vorwort nur mit den Anfangsbuchstaben des Vor- und Zunamens, zu denen Cotta aber in Anmerkungen die vollen Namen mit Titel druckte. Darüber schreibt Schlüter verärgert an Junkmann jenes bereits zitierte Wort, das mehr, als er vielleicht dachte, sich bewahrheiten sollte 1 ). Eine glückliche Fügung wollte, daß fünf Jahre später eine zweite „bedeutend verbesserte" Auflage herauskam mit Hilfe eines Kandidaten der Philologie, eines 23jährigen Protestanten, der am „Geistlichen Jahr" Feuer gefangen hatte, sich aber mit philologischem Scharfsinn kritisch zur Textgestaltung stellte und mit seinen Vorschlägen zu Schlüter ging. Am 22. Oktober 1855 schreibt dieser Therese: „Am Mittwochabend kam Herr Eschmann, ein stiller, sanfter, sehr netter candid. philolog. mit seinen niedergeschriebenen Verbesserungen und Bedenken gegen unser „Geistliches Jahr". Wir lasen meinen Nekrolog von Frl. v. Droste und einiges aus ihren Briefen. Am Donnerstag arbeiteten wir, das Manuskript vergleichend und die sidi bestätigenden Fehler für eine nächste Ausgabe aufschreibend, von x/23 bis V28; Herr Eschmann zeigte ein sehr scharfes Auge und eine staunenswerte Geschicklichkeit; wir waren *) S. mein Vorwort, S. V.
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e t w a bis zur H ä l f t e . E r erklärte mir, wenn ich Zeit, Geduld und B e reitwilligkeit hätte, so wolle er den F r e i t a g zusetzen und seinen F r e u n d allein nach B o n n abgehen lassen, mit dem er nach B o n n wollte,
um
d o r t zu p r o m o v i e r e n und allein reisen; ich erklärte mich einverstanden. A m F r e i t a g m o r g e n arbeiteten w i r v o n V 2 I O bis 1 U h r und
wurden
glücklich fertig. I V 2 Bogen w u r d e n voll geschrieben; über drei Viertel seiner K o n j e k t u r e n und Schlüsse bestätigten sich durch das M a n u s k r i p t ; an mehreren Stellen h a t t e die Dichterin
das Gesetz des Liedes
gessen und sich v e r w i r r t und gefehlt. D a ß seine philologische
ver-
Kritik
so herrlich bestanden, ergötzte ihn sehr; doch gestand er, daß w i r die zweite H ä l f t e des „Geistlichen J a h r e s " aus dem R o h e n herausgearbeitet hätten,
wie er es vielleicht
nicht vermocht
und
daß
man
von
den
Schultern seines Vorgängers aus weiter sehen könne." Diese Anerkennung gebührt Schlüter und J u n k m a n n für immer. V o n Eschmann er noch, er halte ihn für einen protestantischen Pietisten,
berichtet
„weil
ihm
das Gedicht a u f P a l m s o n n t a g , w o sich die Dichterin mit ihrem Jesus in ihr K ä m m e r l e i n einschließt, ihm R e u e t r ä n e n opfert und seine F ü ß e mit Blumen umwindet, v o r allen andern gefiel". Dieses J a h r 1 8 5 5 aber stellt mit einigen, v o n C . Schröder
zuerst v e r -
öffentlichten Schlüter-Briefen biographischen Inhalts an Professor
Braun
v o r eine neue Überraschung: B r a u n m u ß „ t r o t z a l l e m " , was w i r bisher hörten, a n einer Biographie der D r o s t e arbeiten, und h a t
Junkmann
um die Briefe der D r o s t e a n ihn und an Schlüter gebeten. Schlüter geht auf die B i t t e J u n k m a n n s ein, und der Tatsache, d a ß er diese ihm so kostbaren Briefe, ja sogar die Originale, nur portionenweise aus der Hand
gibt,
verdanken
köstlichen Mitteilungen
wir
eine
Korrespondenz
über Leben und Wesen
mit
Braun,
der hoch
die
zu
geschätzten
und verehrten Dichterin geführt haben. D a ß dann aber doch die v o n Braun
beabsichtigte
Biographie
wieder
nicht
zustande
kam,
meint
Schröder unter H i n w e i s auf Brauns Brief an Schlüter v o m 8. F e b r u a r 1 8 5 5 ( v o n m i r zuerst veröffentlicht in Schi. u. d. D r . , S. 1 0 8 / 9 )
mit
Familienunannehmlichkeiten erklären zu sollen. O b es a n dem ist nach allem, was bisher schon geschehen w a r , bleibt eine offene F r a g e . B r a u n retournierte Schlüters Briefberichte erst 1 8 6 4 über Elisabeth Hülshoff,
von
Droste-
die eine Gesamtausgabe der W e r k e ihrer T a n t e mit B i o g r a -
phie plante, zugleich mit den Briefen der D r o s t e a n
Junkmann.
D i e neue Revision des G. J . w a r aber noch nicht an den Verleger gelangt,
als
Schiicking
sich
auch
hier
nachgelassenen Gedichte der D r o s t e — unbekannt —
einschaltete,
der
übrigens
die
aus welchen Gründen, ist mir
noch nicht herausgebracht h a t t e ; sie k a m e n unter
dem
Titel „ L e t z t e G a b e n " bekanntlich erst 1 8 6 0 heraus. Schücking sei „mit seinem H a u s e " nach Münster übergesiedelt; er k o m m e durch ihn in eine
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peinliche Lage, schreibt Schlüter Junkmann. Er habe nämlich von ihm gehört, Cotta setze bereits die zweite Auflage; er erwarte jeden Tag die Korrekturbogen. „Beim ersten Hören war mir, wie Du leicht denken kannst, die Sache sehr unangenehm; gleich darauf aber fiel mir ein, daß ja die zweite Hälfte des geistlichen Jahres allein einer Veränderung und vielleicht einer sehr tiefgehenden bedürftig sei. Als ich Schücking die Sache wegen Dr. Eschmanns Arbeit vorstellte, wovon er vielleicht auch schon gehört hatte, erbot er sich, mit mir und meinem Vorleser den zweiten Teil des geistlichen Jahres vergleichend durchzugehen, weil, mich eingerechnet, ein Dritter dazu nötig ist, wenn es nicht ganz langsam gehen soll; ich konnte nicht füglich anders als darauf eingehen; auch war es mir nach einer Seite ganz willkommen. Nun aber entsteht die doppelte Frage: Willst Du, wenn wir abgeschlossen haben, noch eine Revision Deinerseits nachträglich und sollen wir Dir Eschmanns Abschrift nebst unseren Anotationen zu diesem Ende schicken? Zum andern: Wie wird es sich mit dem Vorwort zur zweiten Auflage verhalten? Machen wir ein neues und lassen es auf das erste folgen? Oder fügen wir zum ersten einige Worte, worin Dr. Eschmanns erwähnt und ihm für seine Mühe etc. gedankt wird? Auch fragt sich, ob wir unsere Namen, die so lächerlich unter dem Text der Vorrede indiskreterweise gestellt wurden, nicht in den Text aufnehmen lassen, gemäß dem Spruch: Wer sich erniedrigt, soll erhöht werden? Deinem spekulativen Geiste traue ich es zu, in diesen wie in andern Dingen das Rechte zu ersehen und angeben zu können. Vielleicht ist es am besten, Du schre'bst an Schücking, Du habest von mir gehört, daß eine zweite Ausgabe bevorstehe, wobei Eschmann zu berücksichtigen sei und bestimmst ohne weiteres, so und so soll es damit gehalten sein, wofern ich einverstanden oder läßt auch dieses weg. Im Grunde ist zu wünschen, daß Schückings Name, da er ja mit dem Geistlichen Jahr nichts zu tun hat, aus dem Spiel bleibe, weil sein und des Büchleins Geist nicht derselbe sind und mancher von dem seinigen auf den des Büchleins schließen könnte; doch will ich durchaus nicht sagen, ob er auch nur entfernt wünscht, vor der zweiten Ausgabe genannt zu werden; andererseits erachte ich es auch für möglich, daß er, da Herr v. Droste sich durch ihn an mich gewandt hat, als Besorger oder Mitbesorger der zweiten erscheinen will. Ich habe dieses Dir auf der Stelle mitteilen wollen, damit Du zur rechten Zeit es überlegen und darüber entscheiden mögest; tu dieses wo möglich bald. Willst Du unterdes an Herrn von Droste selbst einige Zeilen richten, so ist das vielleicht gut. Ich bin mit dem, was Du beschließest, einverstanden." Am 11. März erzählt er Therese von der gemeinsamen Arbeit der Textgestaltung. Einige bisherige Vorstellungen korrigieren sich dadurch. „Mit Schücking und dem jungen Frenk habe ich mehrere Abende von 8 N e t t e s h e i m , Schlüter
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5 bis 7 f ü r die neue Ausgabe des geistlichen Jahres gearbeitet. Frenk liest den gedruckten T e x t vollständig; H e r r Schücking mit geschärftester A u f m e r k s a m k e i t H e r r n Eschmanns T e x t u n d vollständige A b schrift u n d N o t e n und bei jeder D i f f e r e n z w i r d beraten u n d gemeinsam entschieden; wir sind durchgängig einverstanden; w o nicht, so gibt Schücking nach. Jenes k o m m t aber selten. Die Frau von Lassberg hat Schücking vollständige Vollmacht gegeben, über den N a c h l a ß zu schalten; doch scheint ihn H e r r v o n Droste wegen des geistlichen Jahres auf mich verwiesen zu haben, u n d ich tu mein Möglichstes, d a ß die zweite Ausgabe möglichst vollendet ausfalle. Sehr viele Vorschläge von Eschm a n n gehen nicht durch, namentlich Lesarten. Die neue Stellung der Strophen ist in den meisten Fällen evident besser 2 ); wir müssen z u weilen lachen, wie auch die alte Stellung einen leidlichen Sinn und Zusammenhang gab. I m ganzen sehe ich mit Vergnügen, wie wir, n ä m lich J u n k m a n n , durchgängig vortrefflich gearbeitet, w e n n da so vieles von Eschmann nicht durchgeht; auch Werner v o n Droste bezeugt das und Schücking bemerkt es wiederholentlich. Übrigens werden Schücking u n d ich, wie er mir selbst angetragen, eine A n m e r k u n g oder ein besonderes neues V o r w o r t zur zweiten Ausgabe neben dem der ersten hinzufügen, w o r i n D r . Eschmanns Verdienste hervorgehoben werden. H e u t abend werden wir beschließen. H e r r v. Droste u n d H e r r Levin haben beschlossen, die Veränderungen bei Übersendung der K o r r e k t u r bogen anzubringen, aber kein neues M a n u s k r i p t zu senden, zu welchem E n d e Schücking alle Stellen, welche durchgehen u n d gemeinsam rektifiziert sind, in D r . Eschmanns M a n u s k r i p t genau unterstrichen h a t . So denke ich denn, d a ß m a n Dich, o J u n k m a n n , mit dieser ganzen Geschichte verschonen, u n d unterlassen k a n n , einen neuen f r e m d e n T o n in Dein wirbelndes Gehirn zu bringen, der es gar zerspringen machen möchte." So ist also die zweite A u f l a g e des G.J.'s, das m u ß festgehalten werden, ein gemeinsames Textgestaltungsprodukt v o n J u n k mann-Schlüter, Eschmann und Schücking. M a n k a n n Schlüter keinen Vorwurf z u r Gründlichkeit der Revision machen, obwohl m a n seine Vorsicht verstehen k a n n . Einige Beispiele mögen einen Begriff von dem Geleisteten geben, obwohl m a n zu einer rechten Würdigung noch die Handschrift der betreffenden Stelle sehen müßte. Ich füge die wichtigsten textkritischen Gestaltungen bis heute bei. Am ersten Sonntag nach Ostern I
3: S J E
Jo
„So will ich meine Stimme
auch
erheben:"
„So will ich zagend meine Stimm' erheben:"
2 ) Vgl. Sch G J, Anm. zu A. 5. S. n. Pf. S. 285 f., A. 1 u. a. 2. S. i. Adv., S. 299 f. 3 ) S = Schlüter, J = Junkmann, E = Eschmann, Jo = Jostes, SK -Schulte Kemminghausen, Sch = Schröder
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4:
III
3:
IV V V
3: 3: 3:
V = IV = IV = IV
4: 4: 4: 4:
= =
IV 6/8:
SK Sch SJE E Jo SK Sch SJE E Jo SK Sch SJ SJE E Jo SK Sch SJ SJE E Jo SK Sch SJ
= = =
V 7/8: SJE V E V 6/8: Jo
=
V 6/8: SK
: Sch
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„So will ich zagend meine Stimme auch erheben:" „So will ich meine Stimme auch erheben:" „Hier bin ich, Vater, gib mir meinen Teil!" „Hier bin ich, Vater, gib mir auch mein Teil!" „Hier bin ich, Vater, gib mir auch mein Teil!" „Hier bin ich, Vater, gib mir auch mein Teil!" „Hier bin ich Vater, gib auch mir mein Teil!" „Wahr ist es, d a ß sich manches mochte hehlen" „Wohl weiß ich, daß sich manches mochte hehlen;" „Wohl weiß ich, daß sich manches mochte hehlen," „Ach, daß sich, daß sich manches mochte hehlen „Ich bin zu matt, den Riegel zu bezwingen;" „Ich bin zu matt, den Riegel zu bezwingen;" „Zu matt bin ich, die Riegel zu bezwingen;" „Zu matt bin ich, den Riegel zu bezwingen," „Zu matt bin ich, die Riegel zu bezwingen," „Noch schlummert mancher wüste, eitle Wahn:" „Noch schlummert mancher wüste, eitle Wahn:" „Noch schlummert mancher wüste, dunkle Wahn:" „Noch schlummert mancher wüste, dunkle Wahn:" „Gib mir die Kräfte, die du mir entzogen; O laß mich schauen deinen Friedensbogen Und deiner Sonne Licht in meiner Nacht!" „ O laß mich schauen deinen Friedensbogen, U n d deine Sonne leucht' in meine Nacht!" „Laß brausen deines Sturmes Gnadenwogen! O laß mich schauen deinen Friedensbogen, Und deine Sonne leucht' in meine Nacht!" „Laß Liebe gelten, da gering der Glaube, O laß mich schauen deine Friedenstaube, Laß fallen deinen Strahl in meine Nacht!" „Laß brausen deines Sturmes Gnadenwogen, O laß mich schauen deinen Friedensbogen, Laß fallen deinen Strahl in meine Nacht!" 4 )
H e r v o r z u h e b e n ist noch aus dem zuletzt erwähnten Schreiben Schlüters an Junkmann, d a ß er die „Anerkennung und Würdigung" hervorhebt, die dem geistlichen Jahr durch Wolfgang Menzel, Vilmar, Bartels g e w o r d e n sei und „neuerdings besonders durch Eichendorff am Ende v o n dessen Literaturgeschichte". I n seiner Ausgabe der sämtlichen Werke der Droste 1879 überließ Schücking die Textgestaltung des G. J.'s v ö l l i g Eschmann (oben als E aufgeführt); auf ihr haben die zunächst f o l g e n d e n g e f u ß t 5 ) . *) Vgl. Sch G J, Anm. S. 281. °) Schröder hebt die kritischen Ausg. von J o und SK davon ab und sagt, der letztere sei „in der Wiedergabe der Varianten bis an die Grenzen des Möglichen" gegangen. G J , S. 276.
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Als 78jähriger entschloß Schlüter sich, auch die an ihn gerichteten Briefe der Dichterin zu veröffentlichen. Am 25. April 1874 schreibt er an Therese, es sei ihm lieb, daß Junkmann nach Briefen Annettes gesucht und auch einige gefunden habe; „hoffentlich hat er unterdessen noch ein und anderen dazu gefunden. Da die Fräuleins von Lassberg in Kürze noch einmal wiederkommen werden, so wäre es gut, wenn Junkmann bis dahin die aufgefundenen Briefe oder eine Abschrift derselben schickte, dam't wir sie mit denselben durchlesen könnten, wie wir auch die andern mit Fräulein Hildegard durchgelesen haben, um auch hier ihre Zustimmung zu erhalten, die wir einzig zu berücksichtigen haben, oder ich doch zu berücksichtigen geneigt bin. Schrieb ich Dir auch schon, daß wir bei der Revision sorgfältig alles notierten, was wegbleiben sollte? Es ist aber nur sehr weniges. Der Nekrolog aus dem Sonntagsblatt (von Schlüter) soll, wenn es zur Herausgabe kommt, ohne Unterschrift des Verfassers vorgedruckt werden, außerdem nur sehr wenige, und die notwendigsten Anmerkungen." Was drängt ihn zur Herausgabe der Briefe? Auch dies erfahren wir hier; Kostbares soll man bewahren für die Nachwelt. „Mir scheint, es wäre überaus schade, wenn diese interessanten Dokumente umkämen." Er drängt deshalb Therese: „ . . . bitte, mache doch, daß Junkmann voran macht." Die Droste gilt damals bereits als die größte deutsche Dichterin, die „bedeutenderen Zeitschriften", wie Schlüter schreibt, machen schon Ende des Jahres 1876, also vor dem Erscheinen des Buches, darauf aufmerksam, so Europa, Leipzig 1876, K.V.Z. am 16. Dezember 1876, Vaterland, Wien 1876, New Yorker Staatsztg. am 8. Oktober 1876, Westf. Provinzialztg. November 23, 1876, Lit. Rundschau, Aachen, 1876, No. 15, S. 503 bis 507 (von Josef Galland), Neue Freie Presse, Wien, 1876, am 22. November, u. a. (s. auch SK Dr. Bibl., S. 55). Schlüter konnte das Vergangene aus der Perspektive der Geschichte betrachten; jedoch die eigenen Briefe, die den Droste-Briefen zu besserem Verständnis dienen könnten, hält er diskret zurück. Er macht sie aber druckfertig. „So gleams the past, the light of other days" — diese Worte Byrons auf der Titelseite der Ausgabe sind Ausdruck seines persönlichen Erlebens. Annette aber wird schon zum „Denkmal". Davon spricht ein Brief an Therese vom 14. März 1876: „Das Denkmal Annettens von Droste soll nur ein Brustbild, wie man sagt, von Marmor werden und im Schloßgarten zu stehen kommen. Sie haben dafür schon ziemlich viel Geld zusammen. Auch die Kaiserin hat dazu beigesteuert, auch ich ein wenig." Ein leises Lächeln begleitet diese Mitteilung. Schon bald wird eine zweite Auflage der Briefe notwendig (22. Dezember 1879 a. Th.). Einige besondere Raritäten werden nun noch beigefügt, die hier nicht aufgezählt zu werden brauchen. Schlüter schickt
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ein Exemplar an den Oberpräsidenten, der ihm erfreut antwortet. Schlüter berichtet davon seiner Schwester: „Der Oberpräsident . . . äußerte in seiner Antwort ein großes Interesse für Annette als Dichterin der Heide; so oft er über eine Heide gehe, gedenke er ihrer. Wer doch wohl zuerst die Poesie der Heide aufgebracht hat? Ich glaube, der selige Herr von Hartmann sagte einmal, ihr Anblick sei wie das Meer und die Ewigkeit. Seit einer bemerkte, die Heide ist schön, bemerkt es die Welt, und der Glaube trägt poetische Früchte." So wird also Annette nun von einer Amtsperson — wenn auch noch aus dem subjektiven Empfinden heraus — als „Dichterin der Heide" abgestempelt, ein provinzieller Ehrentitel, der leicht zur Verengung ihrer Leistung führen könnte, an der aber Schlüter keinen Teil hat. Schlüter wurde jedoch zur Autorität für die Droste-Biographen, z. B. für den von der Familie abgelehnten Johannes Ciaassen, für den mit der Freiin Elisabeth v. Droste zusammen eine Gesamtausgabe vorbereitenden Kreiten (mit Biographie) u.a. Schücking hatte 1860 sein „Lebensbild" als Erinnerungen in geradezu klassischen Formulierungen geschrieben6). Wie Schlüter dieses Buch aufnahm, wissen wir nicht; in den Briefen ist nichts davon erwähnt, sonderbar genug! Am 23. Dezember ist von dem damals 46jährigen Fräulein v. Brackel die Rede als wie von einer guten Bekannten, einer Verwandten Annettes aus der Linie der Mutter. Sie hat Schlüter ihre Gedichte geschenkt. Am 7. Mai 1881 vermeldet er Therese, daß die zweite verbesserte Auflage von Claassens „Denkmal" fertig sei und daß Fräulein von Brackel an ihrer Studie über Annette arbeite. (Sie ist nicht die bei Kr. S. 505/6 genannte „andere Feder" - „N.", wie SKDr.Bibl., S. 83 meint; diess „N." ist, wie bereits gesagt, Elise Rüdiger). Ob Schlüter die Brackel zu der Arbeit angeregt, ist nicht bezeugt. Angeregt hat er aber sicher Thekla Schneider, die süddeutsche Dichterin und Schriftstellerin, die seinethalben einen längeren Aufenthalt in Münster nahm, ihn als Mentor verehrte, durch ihn die Verbindung mit den Drostes und Lassbergs in Meersburg bekam. Ihr Verdienst ist es, die Droste zuerst als größte deutsche Dichterin mit dem gleichen Anspruch wie die „Klassiker" vorgestellt zu haben, was um so mehr Gewicht hat, als sie in Baden außerordentliches Ansehen genoß. Ihre Briefe an Schlüter (UBMüSchlN) indessen zeigen die bis zu Geschmacklosigkeiten verwässerten Züge der Biedermeier-Reste jener Jahre mit ihrem Zug zu heroisiertem Deutschtum, das sich in schnell fabrizierten Gelegenheitsdichtungen zu öffentlichen Veranstaltungen betätigt. Ihr Droste-Büchlein: „Schloß Meers6 ) Veröffentlicht zuerst im „Illustrierten Familienbuch" in Triest, 1862, als Buch herausgegeben: „Annette von Droste. Ein Lebensbild", Rümpler, H a n nover.
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118 bürg
am
Bodensee,
Annette
von
Droste-Hülshoffs
Dichterheim"
war
bereits 1 9 2 1 vergriffen; der zweiten A u f l a g e 1 9 2 5 gab die A u t o r i n den Wunsch mit, es möge ein Stück Friedensarbeit z u m W i e d e r a u f b a u
des
deutschen Geisteslebens nach dem ersten Weltkrieg bedeuten. Auch v o n den Arbeiten der Freiin
Elisabeth
v.
Droste
ist in den
Briefen Schlüters a n Therese die R e d e . H i e r w a r e n einige Schwierigkeiten in der Familie aufgetaucht, anscheinend, weil diese Nichte A n nettes eine möglichst erschöpfende Gesamtausgabe und Biographie strebte. D e r diesbezügliche Brief Schlüters a. T h . v o m 2 8 . A p r i l
an1882
ist F r a g m e n t und bricht eben da ab, w o die besonderen U m s t ä n d e der Erschwerung zur Sprache k o m m e n . Elisabeth setzt sich aber mit K r e i t e n durch, der sich auch bei Schlüter M a t e r i a l holt. N u r noch einmal ist von dieser Ausgabe die R e d e in den Briefen, und z w a r v o n dem B a n d e , der das Geistliche J a h r enthält, Bd. I, 2. A m 1. D e z e m b e r 1 8 8 3 schreibt er nach Breslau: „Das Geistliche J a h r Annettes ist so gut als
fertig;
die Einleitung dazu ist sehr interessant und schön. A u f die A n m e r k kungen dazu bin ich sehr gespannt, D u wirst Dich darüber w u n d e r n . " M e r k t Schlüter gar nicht, oder hatte m a n es ihm nicht gesagt, d a ß die V e r w e r t u n g des W e w e r - A l b u m s bei der T e x t g e s t a l t u n g des ersten Teils nicht anging? (Schröder nennt sie „methodisch unzulässig" und begrün-
det d'es GJ, S. 275 und Anm. 7 ebd.) Oder die Überbetonung
der
Skrupelhaftigkeit der Dichterin, erregte sie ihm keine Bedenken?
Und
die willkürliche Einstreuung der eigenen Briefe a n die D r o s t e in Auszügen ohne jede Treue z u m W o r t ? Schröder n a h m sogar an, er habe ihm diese wohl überhaupt nur mündlich mitgeteilt. (Vgl. Schi. u. d. D r . , V o r b e m e r k . S. 5 9 . ) Schon 1 8 6 1
beschäftigte sich Hermann
Hüffer
mit den Dichtungen
der D r o s t e . Schlüter bestellt a m 2 9 . M a i über Therese an viele herzliche
Grüße
von
ihm,
„der
gegenwärtig
ganz
Junkmann in
Fräulein
Drostes Gedichten vertieft ist und große Lust hat, über sie und
ihr
Leben etwas zu schreiben." E r s t seit dem 11. August
als
1 8 8 5 , mehr
ein J a h r nach Schlüters T o d , beginnt die K o r r e s p o n d e n z Herrn. H ü f f e r s mit W . J u n k m a n n w ä h r e n d der Arbeit an seiner
Droste-Biographie7).
E r hält die Kreitensche für eine „nicht eben gelungene Gesamtausgabe" und bedauert, daß „eine so wenig sorgfältige, in keiner Weise genügende Ausgabe erschienen
ist,
die doch einer besseren vielleicht
den
W e g v e r s p e r r t . " Doch der 7 4 j ä h r i g e J u n k m a n n w a r kränklich; v o n ihm w a r nicht mehr viel H i l f e zu e r w a r t e n . Bei Therese bedankt sich aber H ü f f e r mehrmals für ihre Auskünfte. F r l . Dehne hielt sich nach dem T o d e des Professors
nidit für berechtigt,
ihm aus dem N a c h l a ß
das
7 ) Die Briefe Hüffers an Junkmann aus dem Familiennachlaß sollen an anderer Stelle veröffentlicht werden. — S. auch Lit.-Verz.
Schlüter als Herausgeber von Briefen und Tagebüchern
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Notwendige zu übergeben, und so kam es, daß die Schlüter-Quellen nicht so für die Biographie ausgenutzt werden konnten, wie es notwendig gewesen wäre, und daß auch Schlüter darin zu kurz kam. Schlüter wurde zu der Veröffentlichung von Briefen und Tagebüchern aus dem Nachlaß der Fürstin Amalie von Gallitzin in den 70er Jahren geradezu gedrängt. Er war bereits als Herausgeber der Droste und der Hensel geschätzt und verehrt — und was lag näher, als daß die Besitzer von Nachlaßpapieren der Fürstin sie dem vertrauenswürdigen und in der Pflege der höchsten Güter bewährten Manne anvertrauten. Es war, wie Schlüter selbst sagt, als ob ein ihm von einem Freunde geschenkter handschriftlicher Brief wie durch eine geheimnisvolle Macht alle anderen angezogen habe; es war, als ob alles „unter unserm Flügel sich hätte retten und versammeln sollen" (Vorwort). Bei dem „früh erregten, lange genährten und mehr und mehr gesteigerten Interesse für die Fürstin" wurde ihm damit ein lang gehegter Wunsch erfüllt. Er hatte ja „von frühester Jugend auf den Namen der Fürstin von Gallitzin und daneben die Namen ihres Sohnes und ihrer Tochter, Demetrius und Marianne . . . überall mit innigem Anteil und Liebe und mit einer Verehrung und Bewunderung gegen die Fürstin aussprechen" hören. In den Briefen an Therese taucht die erste Mitteilung über Briefe der Fürstin am 24. Oktober 1869 auf: „Herr Storck und Fräulein Jüngst kommen jetzt regelmäßig; die Briefe der Fürstin gehören jetzt mir". Diese Mitteilung setzt voraus, daß Therese, die soeben aus den Ferien in Münster, Paderborn und Steinheim (bei ihrer verheirateten Nichte Maria) wieder nach Breslau zurückgekehrt ist, um die Verhandlung zu dem Erwerb „der Briefe", der ihm angetragen worden, weiß. Am 21. war die Schwester noch in Münster gewesen, am 22. schreibt Schlüter an Junkmann, ohne diese Sache zu erwähnen. Aus Briefen von Caroline Lombard vom 11. und 12. Oktober 1869 (NBMüSchlN) läßt sich nun erkennen, daß diese aus ihrem Besitz sind, daß sie nach bösen Erfahrungen, die sie mit entstehendem Geschwätz darüber gemacht hat, sie ihrem alten Freund Schlüter schenken will. Um die Sache rechtskräftig zu machen, legt sie einen unterschriebenen Schein bei 8 ). Bis zum 24. also war diese Angelegenheit, wie wir hörten, geregelt. Mit den beiden genannten Freunden, die volles Vertrauen verdienen, will er sie überarbeiten. Erst Pfingstdienstag 1872 kommt er im Brief an die Schwester wieder auf die Gallitzin zu sprechen. Er ist mit Professor Bickell und dessen Nichte in Angelmodde gewesen, um die Landwoh8) Reinhard scheint diese Briefe der Lombard, UbMüSchlN, nicht eingesehen zu haben (vgl. E. Reinhard, Die Münsterische „Familia Sacra", Regensberg
1953).
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nung der Fürstin zu besichtigen und sich so auf die Fortsetzung der Arbeit einzustimmen. In den Briefen taucht später, 1872, noch ein neuer Besitzer von Gallitzin-Dokumenten auf: von Eitzing*). Am 13. Juli schreibt er Therese: „Kitzings sind fort; Herr von Kitzing . . . schenkte mir mehrere Bücher und sehr wertvolle Tagebücher und Briefe der Fürstin von Gallitzin . . . Meine sämtlichen Sachen von der letzteren habe ich angefangen, mit Freund Bickell zu sichten und zu ordnen, der nun sonntags nachmittags zu mir kommt." Er liest um diese Zeit Stolbergs Briefwechsel mit dem Herzog von Oldenburg 10 ). Er erhofft sich noch vor dem Druck die Durchsicht von Junkmann und Therese. Doch schon bald meldet er nach Breslau, der Verleger Rüssel dränge ihn (Brfe. a. Th. v. 11. Juli u. 11. November). Im Weihnachtsbrief kann er sich bereits erkundigen: „Habt Ihr denn schon etwas in den Briefen der Fürstin von Galizin etc. (so schreibt sie selbst) gelesen? und gefällt sie Euch? die Vorrede hat mir schon einiges Lob eingetragen, Storck fand sie sehr schön; einiges von diesem Lob gebührt Junkmann wegen der letzten Redaktion, wovon ich aber nichts gesagt habe." Auch bei dieser Publikation verhält sich Schlüter als „Konservator", doch nicht als wahlloser und keinesfalls als Philologe; er ist zugleich wieder Erzieher, auf das Exemplarische der Gestalt ausgerichtet. Diese Haltung darf man nicht als „Fälschung", Zwecklegende oder wie immer man gesagt hat, Schlüter ankreiden (so auch Reinh. S. 15); Pietät, Verantwortung und Weite bestimmen die „Auswahl". Am 25. Mai 1874 berichtet ein Brief nach Breslau über „eine Menge günstiger Rezensionen in Preußen und Österreich". Es wird, wie er meint, Bedeutendes über die Fürstin herausgestellt in der Deutschen Allgemeinen Zeitung, in den Blättern für literarische Unterhaltung, in der Augsburger Postzeitung und in der Kölner Volkszeitung. Im Mai 1874 ist Schlüter mit der Lektüre von Ludwig Giesebrechts Aufsätzen in der Zeitschrift „Damaris" beschäftigt (25. Mai a. Th.). In diesem Schreiben berichtet er, daß auch er vergebens bei Frau von Druffel nach weiteren Nachlaßstücken gefragt hat, ihr Gatte habe „irgendwelche Mitteilungen derselben streng untersagt" (vgl. dazu Reinh. S. 15). Erst im August des folgenden Jahres ist in seinen Briefen an 9 ) E r wird ebenfalls von Reinh. nicht erwähnt. Vgl. dazu Schlüter, Gallitzin Briefw., Vorw. I., 17/18: „Ein langjähriger, bewährter Freund schenkte 7 äußerst interessante und inhaltvolle Briefe und 3 Hefte Tagebücher; eine verehrte ältere Freundin (Caroline Lombard) aber fügte, nachdem ein reiches, schriftliches Depositum nach dem sehr rasch und unerwartet erfolgten Tode Katerkamps schlüssig geworden und seinen Ausgang in die Welt gefunden, alsbald Convolut auf Convolut von Briefen hinzu . . . " l ü ) J. H . Hennes, Frh. L. Graf zu Stolberg und Herzog Peter Friedr. Ludw. von Oldenburg, Mainz 1870.
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Luise Hensel die Rede von der Vorbereitung weiterer Gallitzin-Publikationen. Am 14. März und am 7. und letzten April 1876 berichtet er Therese über den Fortgang der zweiten Publikation. Im Juli hat Therese dann das gedruckte Exemplar des Briefwechsels der Fürstin mit dem Philosophen Hemsterhuys in der H a n d und wird von ihrem Bruder gedrängt, es auch selbst zu lesen (3. Juli 1876). Im Vorwort gibt Schlüter eine treffende Analyse der inneren Entwicklung der Fürstin und von dem Wesen ihrer Freundschaft mit Hemsterhuys. Es sind Worte von bleibender Gültigkeit, die jeder Biographie der Gallitzin in ihrer Angemessenheit und gedrängten Treffsicherheit zur Grundlage dienen können. H i e r begegnen wir klassischen Formulierungen, die nur einem so reichen und reifen, in N a t u r und Übernatur lebenden Geiste geschenkt sein konnten. Sie verdienen daher allergrößte Beachtung. Am 20. Januar 1860, also neun Jahre, bevor Schlüter selbst an eine Publikation dachte, erhielt er ein Schreiben des Straßburger Forschers Prof. Emile Grucker, der ihn um seine Vermittlung zu den von D r u f fels bittet, die einen Teil des Gallitzin-Nachlasses besitzen; es gehe ihm um die Briefe der Fürstin an Hemsterhuys, die er für eine Biographie des Philosophen brauche 11 ). Der Brief Gruckers an Schlüter (UBMüSchlN) ist aber sehr zuversichtlich. 1860 ist Grucker in Münster. Schlüter schreibt über ihre Zusammenkunft seiner Schwester (Pfingsten 1860): „Die letzten Wochen habe ich viel mit einem liebenswürdigen Violinvirtuosen Wolf zu schaffen gehabt, der auch mit Angelika (Kreuzhage) verschiedenes Köstliches spielte, dann, mir noch viel interessanter, mit einem Professor Grucker aus Straßburg, der in Münster Hemsterhuyssche Manuskripte aufsuchte und fand, und der mir sehr gefiel. Er war eine völlige Mitte und Einheit vom Franzosen und Deutschen; wir haben viel philosophiert; alle Freunde hat er kennen gelernt, und ich habe ihn con amore mit dem Kopf in das münstersche gelehrte Wesen gebracht und hindurch gezogen; er ist sogar am Donnerstag mit uns nach Vieths gewesen. Er war von allem sehr erbaut." Grucker berichtet über seinen Besuch in Münster (UBMüSchlN) 1 2 ). 1J ) Grucker berichtet über seinen Besuch in Münsrer (UBMüSchlN, 2 Briefe.). Reinh. erwähnt a. a. O. nur die Ausgabe der Werke des Philosophen von L. S. P. Meyboom 1850, dem, wie er im Vorwort angibt, die Benutzung des Nachlasses von Druffel verweigert werde. Grucker erwähnt diese Tatsache auf S. 42/43 seines Buches. 12 ) In seinem Werk: François Hemsterhuys, sa vie et ses oeuvres berichtet er S. 43—45: Tourefois, pour mettre notre conscience en repos et pour ne rien négliger qui pût rendre plus complet et plus intéressant un travail que les encouragements les plus bienveillants nous avaient décidé à entreprendre et à continuer, nous nous rendîmes à Münster, auprès de M. von Druffel. Ce que nous avions prévu, arriva. M. von Druffel nous reçut avec la plus aimable courtoisie, mais demeura inflexible. Les plus vives instances; l'intervention
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Schlüter als Herausgeber von Briefen und Tagebüchern
Gruckers 1866 erschienenes Buch „François Hemsterhuys, sa vie et ses oeuvres", Paris, D u r a n t , das Paul Janet g e w i d m e t ist, enthält allerdings im A n h a n g nur einen unveröffentlichten Brief der Gallitzin an Hemsterhuys im französischen Original, vermutlich v o n 1878. Schlüter nennt das Buch in seiner Ausgabe v o n Briefen der Fürstin an den P h i l o s o p h e n Hemsterhuys eine „scharfsinnige, geistreiche Schrift" und zitiert mehrmals daraus in seiner Darstellung der Philosophie des Hemsterhuys. Auch Josef
Galland
w e n d e t sich an Schlüter: 1878 bittet er ihn um
Überlassung der v o n ihm selbst nicht veröffentlichten Manuskripte aus dem N a c h l a ß für seine Gallitzin-Biographie. Es läßt sich denken, d a ß sich Schlüter zur Überlassung des v o n ihm selbst ausgeschiedenen Materials obligeante de plusieurs personnes de Münster (particulièrement de deux professeurs de l'Académie de Münster, M. Schlüter et Deyks, auteurs l'un et l'autre d'ouvrages philosophiques et littéraires estimées), qui s'étaient intéressés à notre entreprise; le patronage d'un nom illustre en philosophie, dont on avait bien voulu nous permettre de nous recommander, rien ne put triompher de la volonté bien arrêtée de M. von Druffel. Nous dûmes nous incliner devant des raisons fondées sur des convenances de famille, qu'il eût été indiscret de notre part de discuter. Du reste, M. von Druffel, pour nous dédommager de ce refus, qui ne s'appliquait qu'à la correspondance d'Hemsterhuis avec la princesse, nous permit de parcourir une collection de papiers et de manuscrits, provenant également de la succession de Mme. de Gallitzin. Nous y trouvâmes plusieurs écrits sur des matières politiques, mais dont la plupart nous ont paru sans intérêt et d'une authenticité fort douteuse; deux seulement ont fixé notre attention, et nous en avons pris copie. Ils appartiennent certainement à Hemsterhuis, car il en est question dans quelques-unes des lettres publiées par M. Meyboom. Ils sont intitulées, le premier: Démonstration géométrique sur la nécessité d'un Stadhouder héréditaire, adressées à la princesse Gallitzin; le second: Réflexions sur les Etats-Unis adressées au prince de Fürstenberg. Ces deux écrits sont précédés d'un assez long morceau de politique générale et philosophique, et qui est parfaitement d'accord avec les idées exposées dans la ,Lettre sur l'homme et ses rapports'. Ce n'est pas tout. Grâce à M. Schlüter, qui s'était particulièrement intéressé à nous et à notre travail et à qu'il n'a pas tenu qu'on ne nous permît de lire et de dépouiller la précieuse correspondance, nous fiimes mis en rapport avec M. le capitaine Haas, possesseur par héritage d'une assez grande collection de papiers provenant également de la succession de Mme de Gallif/.in. M. Haas, avec le plus cordial empressement, mit tout à notre disposition. Nous trouvâmes l i quelques lettres inédites d'Hemsterhuis à la princesse, et de la princesse à Hemsterhuis; quelques pages d'un iournil également inédit de la princesse, où se trouve rapportée une conversation philosophique entre Jacobi et Hemsterhuis. Ces pièces ne sont pas sans intérêt et nous en avons fait notre profit. En outre, nous avons recueilli de différents côcés des renseignements, dec détails, sur la vie, les ouvrages, les relations d'Hemsterhuis, et son séjour à Münster. Si nous n'avons pas été assez heureux pour lever le t r é ^ r que nous cherchions, nous ne sommes pas revenu cependant les mains vides, et nous remercions encore une fois et de tout notre coeur ces excellents amis, grâce auxquels nous avons pu rapporter de notre voyage plusieurs pièces curieuses, beaucoup de renseignements utiles de très agréables souvenirs.
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nicht leicht entschließen konnte. Im Januar 1879 meldet sich Galland von Schloß Darfeld aus, wo er den Fürstenberg-Nachlaß durchsieht, wieder mit der gleichen Bitte. Schlüters Auszüge aus Grucker, dessen Buch ihm wohl nicht zugänglich war u. a. habe er erhalten. Im Vorwort zu seinem 1880 in Köln erscheinenden Buch: „Die Fürstin Amalie von Gallitzin und ihre Freunde" dankt Galland f ü r die verstattete Benutzung ungedruckten Materials dem Erbdrosten Grafen Droste zu Vischering auf Darfeld, dem Grafen Friedrich Stolberg auf Brustawe und den Herren Professoren D r . Janssen in Frankfurt, D r . Schlüter in Münster und D r . Reuss in Trier. N u r an einer Stelle verweist Galland auf Tagebuchauszüge, die er den Originalen entnommen habe, weil sie bei Deycks und Schlüter fehlen; es handelt sich um Bibelstellen, die die Fürstin sich als bemerkenswert notiert hatte (Anm. 147). S. 155 und 207 verweist er auf einen von Schlüter erhaltenen Brief Overbergs und einen Brief von Pierard. Das ist alles. Schlüter, der doch das Geringste seiner Schwester mitteilt, schweigt sich über Galland vollkommen aus. Das ist auffallend; man darf wohl annehmen, daß er die Bitte Gallands nicht bedingungslos oder gar nicht erfüllte. Allerdings irrte Galland, wenn er meinte, „die Quelle der überhaupt vorhandenen bezüglichen Mitteilungen sei wohl mit seinen Veröffentlichungen erschöpft" (vgl. T r u n z , Westfalen, 33. Bd. Heft 1, 1955, S. 2, Anm. 1). D a ß Schlüter seine Art aus dem Kreise der Fürstin Gallitzin empfangen habe, wie man immer wieder hören kann, lehnte schon Adolf Dyroff ab (Dyr.-Hohn. S. 141). Er wies bereits darauf hin, daß er wohl „auch bei ihr Anknüpfungspunkte f ü r seine eigenständige Gläubigkeit fand", daß aber der Kreis, den er sich bildete, nicht einmal des Vorbildes der Fürstin bedurft habe. Ganz im Gegenteil: „Seine Liebe zur Musik und Poesie erweiterten ihn. Seine eigengewachsene Philosophie gab dem Kreis einen Umfang, wie ihn der Kreis der Gallitzin nicht hatte, ja, wie ihn eine so stille, der Verborgenheit verhaftete Geistestätigkeit selten erreicht." In dem gleichen Jahre, in dem seine Arbeit an den Gallitzin-Briefen und -Tagebüchern zuerst in der Korrespondenz mit Therese auftaucht. 1869, gab Schlüter „Lieder" von Luise M. Hensel heraus. Nach ihrem Wunsch zeichnet er auf dem Titelblatt als Herausgeber (Paderborn, Schöningh). Im Grunde ist jedoch Luise Hensel selbst an erster Stelle verantwortlich für die Publikation, f ü r die darin getroffene Auswahl an den bereits gedruckten und den noch ungedruckten Gedichten. Das ergibt sich aus der Korrespondenz beider Freunde während mehrerer Jahre, etwa ab 1861, ferner aus Schlüters bisher unbekannten Mitteilungen darüber in den Briefen an Therese und an ]unkmann. Neben Dr. Julius ist allerdings Schlüter derjenige, der ihr keine Ruhe läßt und sie immer wieder zu einer
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Schlüter als Herausgeber von Briefen und Tagebüchern
Revision ihrer Gedichte für eine Ausgabe antreibt. Schlüter findet, sie ziehen durch ein gewisses E t w a s an, von dem man sich keine genügende Rechenschaft geben kann, worin es besteht, was sie aber um so interessanter macht." Auch hier ist das Unverstandene, das was man nicht mit dem Begriff fassen kann, nicht aussprechen kann, das „Interessante" ( B r f . v. 6. Mai 1 8 6 6 ) . Luise selbst hat kein Verhältnis mehr zu ihrer frühen L y r i k . Erst 1861 hört m a n von ihrem „festen Entschluß", sich trotzdem „ernstlich" an die von ihm so oft „befohlene A r b e i t " zu machen. Sie habe jedoch „einen großen
Widerwillen
dagegen, ihre tiefsten und innersten,
ja
heiligsten Seelen-Leiden und -Freuden selbst der W e l t preis zu geben". N u r das Verantwortungsgefühl k a n n sie dazu bestimmen, da sie die einzige ist, die „noch Eignes und Fremdes dabei sondern kann, und sie nicht mit fremden Federn geschmückt aus der W e l t gehen möchte". D i e Bemerkung
bezieht
sich auf Brentanos
frühere
Veröffentlichung
einiger von ihm überdichteten Lieder; sie will das Ihre von dem Seinen reinlich scheiden. Bereits 13 J a h r e v o r der Veröffentlichung am 2 7 . M a i 1 8 5 6 , spricht sie davon. Ihre größte H e m m u n g gegenüber einer V e r öffentlichung scheint zu sein, daß Dichten für sie den C h a r a k t e r
der
I n t i m i t ä t hat (a. Schlüter am 31. J a n u a r 1 8 6 4 ) . Auch die Herausgabe ihrer Jugendgedichte
durch
Diepenbrock
war
ohne
ihr Wissen
und
Wollen geschehen; er hatte die Abschriften von seiner Schwester A p o l l o nia, ihrer Freundin, und von Luisens M u t t e r nach dem Weggang der Konvertierten von Berlin erhalten. „ J e t z t sehe ich wohl ein, daß die Verhältnisse anders sind; aber es wird mir schwer, midi denselben zu fügen, und das tiefe Widerstreben meines Gemütes zu Eine weitere H e m m u n g
überwinden."
gegenüber der Öffentlichkeit verursachte
ein
einige J a h r e zurückliegendes Erlebnis: Brentanos Schwägerin E m i l : e hat bei der Herausgabe von Brentanos Briefen 1 8 5 5 auch Clemens' Liebesbriefe an die junge Luise, allerdings ohne Namensnennung, gegen ihren Willen veröffentlicht; Luise w a r des Glaubens, sie seien vernichtet. D a s w a r eine kaum
gutzumachende Taktlosigkeit
und
Rücksichtslosigkeit
gegenüber der 57jährigen Dichterin. A m 2 7 . J u l i dieses J a h r e s schreibt sie Schlüter von dem „ U n r e c h t " , das ihr dadurch geschehen sei, ihren „bitteren U n m u t " .
Sie gibt
ihm
ausführlich
an, wie es wohl
dazu
gekommen sei; ihre erregten Ausführungen gibt Schlüter am 1. August an seine Schwester ohne K o m m e n t a r weiter. E r w a r also im Bilde, und stand
auf
ihrer
Seite. A u f
die mit
diesen
psychoanalytischen Analysen Schieis (Hubert
und Luise
Hensel
Aschaffenburg
1956)
mit
bisher
ungedruckten
Vorgängen Schiel,
verknüpften
Clemens
Briefen,
Paul
Brentano
Pattloch,
möchte ich an anderer Stelle eingehen; es soll in
Verbindung mit der Veröffentlichung der bisher ungedruckten Schlüters
an
Luise
Hensel
geschehen
(UBMüSchlN);
genug,
Briefe daß
Schlüter als Herausgeber von Briefen und Tagebüchern
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Luise Schlüters und Dr. Julius' Meinung folgt, eine korrekte Ausgabe ihrer Lieder zusammenzustellen. Ende Januar 1868 war sie so weit; sie bringt Schlüter die geordneten Lieder, die sie unter seinem N a m e n herausgeben lassen will. Unter den noch unveröffentlichten Briefen Schlüters an die Dichterin befindet sich ein bedeutsames Schreiben, das für das Verständnis seiner Herausgeberschaft als letztlich maßgebend angesehen werden muß. Schlüter findet Luisens Dichtungen klassisch. „Der H a u p t g r u n d liegt in der sogenannten klassischen Magerkeit ihrer Poesie . . . Cicero charakterisiert den attischen Stil, welchen er den dünnen, den zarten oder den feinen (tenis) nennt, als einen solchen, der nichts zu viel und alles an der rechten Stelle hat; die Griechen nannten es das hikanon, das sie schier über alles setzten; dies will sagen, das Hinlängliche, wo alles N e r v und jegliches an seiner rechten Stelle ist. In der T a t ist die Blume in ihrem Aufsteigen eine stete Selbstverleugnung und Selbstbeschneidung, wie sie dem Zug des Lichtes und der Liebe folgt, bis endlich auf zierlichem Stiele das feine Gebilde der Blüte erscheint; etwas ganz Ähnliches ist die sittl che charis eines christlichen Gemütes, gracia, Gracie, die ohne Bescheidenheit, Zurückhaltung und gleichsam Beschneidung aller unwillkürlichen Ausbrüche ungedenkbar ist; in ihrem Gotte hat sie ihr M a ß ! Etwas von dieser Magerkeit oder Hagerkeit zeigt sich auch in den schönsten Christus- und Marienbildern, bei denen sich nichts so fatal ausnimmt, als eine zu große, an Behaglichkeit erinnernde Naturfülle. Solche und ähnliche Gedanken erregen mir, liebe Luise, Ihre Lieder, die ganz N e r v , Stil und Charakter sind und überall dieselbe Persönlichkeit und ein und dasselbe Gemüt mit Vergnügen wiederfinden lassen" (8. Februar 1856). Luise dankt, sie hält sich aber zu einem Urteil über Lyrik nicht befähigt. Ihr Dichten ist tatsächlich in seinen besten eigensten Leistungen ein „Singen, wie der Vogel singt", in dem ihr gesteckten Rahmen unmittelbare poesie pure, die ihren O r t neben den besten Gedichten von Claudius und Novalis hat. Wer Brentano kennt, versteht, was ihre quellenden Verse ihm bedeuten mußten; vielleicht hat nie wieder einer diese Poesie so ganz und so innig erlebt wie er. Endlich, am 25. November 1868, berichtet Schlüter seiner Schwester, daß der Kontrakt mit Schöningh zustande gekommen und das Manuskript in seinen H ä n d e n ist. „. . . in meiner Vorrede vergleiche ich Fräulein von Droste mit einer Schwarzdrossel, Luise mit einer Lerche." U n d am 16. Dezember kann er ihr melden, daß die „Lieder" bis auf den Anhang, die Vorrede und den Titel gedruckt sind. Er glaubt, daß die Sache, die ihm viel Arbeit gemacht habe, der Mühe wert sei. „Die Gedichte sind in der Tat sehr schön und charaktervoll und können nur und müssen eine gute Wirkung tun; Ihr und D r . Rosenthal werdet Eure Freude daran haben und sie können nicht ohne große Sensation vorüber-
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Schlüter als Herausgeber von Briefen und Tagebüchern
gehen." Schöningh hatte das Experiment der Veröffentlichung gewagt mit der Planung, bei Erfolg sogleich eine zweite vermehrte Auflage zu bringen. Diese kam schon 1871, allerdings ohne die „Vorrede", die Luise selbst zurückstellte. Sie hatte sich besonders über die Darstellung ihres Verhältnisses zu Brentano in der Vorrede erregt. „ . . . es hat mich diese an sich sehr schöne Vorrede wahrhaft gepeinigt. Sie müssen mir nun nicht böse sein, daß ich die Bedingung, die Vorrede müsse wegbleiben, als conditio sine qua non gestellt habe." Was hatte Schlüter über ihr Verhältnis zu Brentano geschrieben? Er hatte einen Brief von Clemens an seinen Bruder Christian, dem jener geistliche Gedichte beifügte, als Einführung in die Art Luisens zitiert (aus den „Gesammelten Briefen" S. 238). Clemens gestand dem Bruder, daß diese „Lieder" ihm „das Liebste" und ihm „Wohltätigste" geworden, was ihm von menschlichen Händen in seinem Leben zugekommen sei. Darauf, und auch auf das ähnlich günstige Urteil des Kardinals Erzbischof von Diepenbrock hatte Schlüter hingewiesen. „ . . . manche unter ihnen erfreuten sich bald eines ähnlichen Beifalles, wie die in den Mund des Volkes übergegangenen Lieder von Claudius und Novalis. Wer kennt nicht, um nur eines zu nennen, das schöne, zarte, einfach kindliche Abendlied: ,Müde bin ich, geh' zur Ruh', welches in viele Liedersammlungen überging und selbst in die Sprachen fernliegender Nationen übersetzt ward?" Zu dem Verhältnis der jungen Dichterin zu Brentano sagt er folgendes: „Bekannt ist das Verhältnis, in welches schon in ihrem 18. Jahre die Dichterin mit dem phantasiereichen, geistvollen und tief religiösen Clemens Brentano trat. Doch früh erfuhr Brentano von der teuren Gleichenlosen, daß er auf ein engeres Bündnis mit ihr für dieses Erdenleben verzichten müsse; auch ihn selbst zog bald Geist und Stimmung, vor allem sein Verhältnis zu C. Emmerich, von solchen Gedanken ab; aber stets bewahrte er ihr die größte Freundschaft und eine innige zarte Zuneigung.. Schlüter schildert ihre Gemeinschaft der Güter im Poetischen, um den Sinn der neuen, korrigierten Ausgabe sichtbar zu machen, ferner Luisens Abneigung gegen die Veröffentlichung ihrer weltlichen Lieder. Man kann aber auch die Haltung Luise Hensels verstehen; sie vermag sich selbst noch nicht historisdi geworden zu sehen. Nach Luise Hensels Tod entschloß Schlüter sich, vor allem auf die Bitte Schöninghs hin, ihre Briefe an ihn selbst herauszugeben. Sie kamen zwei Jahre später heraus. Ganz schlicht und offen beginnt das ihnen mitgegebene Vorwort, das mit dem Oktober 1877 unterzeichnet ist: „Als im Jahre 1876, den 18. Dezember, meine langbewährte, edle Freundin Luise Hensel von Gott in ein besseres Leben heimgerufen und mit ihr eine der schönsten Blumen, welche die gütige Vorsehung
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mir an meinem verschatteten Lebenswege erblühen ließ, für diese Welt entrissen ward, gedachte ich der Briefe, welche ich in einer Reihe von Jahren von der Freundin in ihrem mannigfach bewegten wechselvollen Leben erhalten hatte. Es war mir ein stiller Genuß, nachdem ich dieselben geordnet, von Anfang bis zu Ende sie durchzulesen, und ich war fast verwundert über die Fülle des Guten, Edlen und Schönen, welches ich darin vorfand, und wie gleich sich die Dahingegangene in allen Stadien ihres Lebens geblieben war. . . . " Als Probe ihres divinatorischen Scharfblicks gibt er ihr Urteil über Baaders „Tiefsinn", den er so sehr schätzte. Ob er denn nicht wisse, daß es auch eine böse Tiefe gibt, vor der man auf der Hut sein müsse. Er habe später an diese Worte denken müssen, als Baader von einer abgründigen Dialektik sprach, bei dem System Schopenhauers und bei Lord Byrons Cain. Er hebt ferner ihr mildes Urteil, ihre Geduld in der Behandlung der Menschen, ihr starkes vaterländisches Gefühl hervor, besonders auch, daß sie bei all ihren geistigen Anlagen „ein feines Geschick besaß, sich in allen, auch den kleinsten Vorkommnissen des täglichen Lebens zurechtzufinden." Schlüter hatte um diese Zeit an Caroline Lombard eine seltsame Frage gerichtet, die sie ihm am 27. Juni 1877 zu beantworten sucht: „Lieber Herr Professor, . . . Sie fordern mich auf, ein Urteil zu fällen über drei bedeutende Damen, d. h. über die an Sie geschriebenen Briefe von Frau von Hardenberg, Annette von Droste-Hülshoff und Luise Hensel, welche von denen die geistreichste sei? Das ist eine schwierige Aufgabe; Frau von Hardenberg kenne ich gar nicht. Fräulein von Droste hat Ihnen sehr schöne Briefe geschrieben, worin das Bestreben, Ihnen ihre Teilnahme, ihre Freundschaft auszudrücken, vorherrscht, und das tut sie auf eine so natürliche Art, daß man dies nicht geistreich nennen kann. Ihre Naturbeschreibungen sind malerisch anschaulich; man begleitet sie auf ihren Spaziergängen, überblickt mit ihr aus ihrem Fenster die Gegend, sie fühlt sich ganz in Ihrer Gesellschaft und zieht Sie ganz zu sich hinüber. Ich muß (en parenthèse) die Schroffheit beklagen, womit sie mir begegnet; nach vielen Jahren fühle ich noch die damals von ihr erlittene Kränkung. Luisens Briefe, die sie an mich richtete, waren ganz wie sie im Leben erschien; heiter, anmutig, aber höchst einfach. Luise hatte allen Schein abgelegt und das Geistreichsein schien sie auch zum Schein, nicht zum Wesen zu rechnen. Sie gönnte mir in ihren Unterhaltungen tiefe Blicke in ihr Inneres und zeigte mir die fehlgeführten Wege ihrer Freunde, die sie nicht zum Glück und zu einem ersprießlichen Lebensberuf geführt, wozu sie Kraft und Neigung in sich besessen. Luise war innerlich unglücklich und unbefriedigt. . . . In letzter Zeit bin ich wieder mit Frau Rüdiger in einigen Verkehr getreten. Sie hat ein recht hübsches Talent, doch ist sie nicht immer
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glücklich in der Wahl ihrer Stoffe. ,Die Fürstin Gallitzin und H e m sterhuys' ist wohl eine ihrer besten Arbeiten. ,Schücking und Fräulein von Droste' — da wird ersterer sich wohl verletzt fühlen (ohne Absicht hat sie doch ihren alten Freund verletzt). Jetzt schreibt sie über St. Martin und die Herzogin von Bourbon, und ich bin neugierig, wie ihr dies gelingen werde. D a ß die arme Bornstedt gestorben, wie sie gelebt, trostlos, unglücklich, werden Sie vielleicht nicht mal wissen. Sie würden mich erfreuen, lieber H e r r Professor, wenn Sie in Ihrem nächsten Brief mir etwas über Ihre Schwester Therese sagen wollten. Sie ist mir ganz aus meinem Gesichtskreis entschwunden, wo sie doch in meinem Innern so eine treue Stelle einnimmt. . .
SCHLÜTER UND D I E R O M A N T I K „Ich will mich tiefer, tiefer gründen, Unsidier wird die Sicherheit, Die Kraft' erblinden und entzünden Sich, ringend nach der Ewigkeit, Der Seele Wurzel streckt sich weit, Will greifen aus der Zeitlichkeit." Ludwig Tieck
Alexander Baumgartner behauptet in seiner Wertung Schlüters, sein großes Verdienst sei, das Erbe der Romantik in eine Zeit hinübergerettet zu haben, die bereits ganz materialistisch und naturalistisch geworden war („Stimmen aus Maria Laach", 32, 1887). Ohne Zweifel stand Schlüter der sogenannten Spätromantik und der in ihr aufbrechenden Restauration überall sehr nahe und hat die in ihr auf allen Gebieten hervortretenden Kräfte zu einer Erneuerung von Dichtung, Religion, Philosophie lebendig erfahren, gelebt und gelehrt. Novalis' geistig-religiöses Ideengut, das in ihr Früchte trug, den späten Friedrich Schlegel, Adam Müller, den alten Görres, Brentano und den ehrwürdigen Eichendorff, vor allem auch die französischen Romantiker und die Männer der Restauration: de Maistre, de Bonald, Chateaubriand, Lacordaire, Ozanam, Montalembert, Gratry u. a. hat Schlüter genau gekannt und zur Lektüre ihrer Werke andere angeregt und in seinen Vorträgen daraus geschöpft. In dem Aufbruch der Romantik zur Erneuerung des Christentums im Abendlande, in ihrem Aufbruch zu Geschichte und lebendiger Tradition, zum Volkstum auch, zur Naturphilosophie, zur inneren Erneuerung der christlichen Kirchen, zu einer lebendigen Erneuerung des Katholizismus auch auf kulturellem Gebiet, hat er sein positives Wort gesprochen und tatkräftig das Begonnene fortzuführen gesucht, schließlich gegen den Strom. Novalis war Schlüter, wie wir bereits hörten, von Jugend an vertraut. Später waren es die philosophischen Grundgedanken des Novalis, die er gelegentlich zitierte oder auch tiefer aufgriff und damit den Zusammenhang eigener Worte ausdeutete. Karsamstag 1860 schreibt er Therese einen Brief dankender Liebe und zitiert zur Bekräftigung Novalis: „Einst sind wir betrübt gewesen; zugleich aber werden wir des vielen Guten und Schönen, das Gott schon in diesem Leben uns verleiht, gedenkend, sagen, daß wir in rechter Weise froh gewesen und den Geschmack der ewigen Dinge vorverkostet, und diese, wenn 9 Nettesheim, Schlüter
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Schlüter und die Romantik
auch sehr fern, geahnet haben." Die spiritualistische W e l t f r ö m m i g k e i t des Novalis, die Herrlichkeit des Reiches im Anbruch schon in diesen Dingen der Erde zu verkosten, w a r mit einigem Vorbehalt auch Schlüters innerstes Bekenntnis. I n der Vorrede z u m Faber geht Schlüter ausführlich auf Novalis ein. E r entdeckt überraschende Ähnlichkeiten z w i schen beiden Dichtern u n d gibt dabei eine subtile Analyse ihres Wesens. „Es scheint uns k a u m gewagt, w e n n m a n Faber als den englischen Novalis bezeichnen wollte: der ähnlichen Züge, die sich in seiner Poesie wie in seiner Prosa mit diesem finden, sind viele u n d wesentliche. Die hohe und geistige Auffassung der N a t u r wie der menschlichen Dinge, der feine Verstand, die Zartheit u n d Tiefe des Gefühls, die ahnungsreiche, ans Prophetische streifende Tiefe seines Gemütes, verbunden mit der Klarheit des schärfsten Verstandes u n d der nie fehlenden hohen Besonnenheit, die feine, lebensvolle, stets das Rechte t r e f f e n d e Psychologie u n d Kenntnis des menschlichen Herzens, die wie zur zweiten N a t u r gewordene Weise, die höheren Vorgänge im Gemüte, in der N a t u r u n d ihren Erscheinungen sich spiegeln zu sehen, die Erscheinungen dieser aber in jenem, in beiden ewige Wahrheiten der höheren Welt symbolisiert zu finden u n d ihre bedeutendsten Erscheinungen von dorther zu deuten, derselbe Begriff von dem engen Zusammenhang von Religion, Philosophie u n d Poesie, v o n dem hohen Berufe der Letzteren, wie von dem Wesen eines w a h r h a f t e n Gedichtes, vor allem aber von der unendlichen Bedeutung des Christentums f ü r die Entwicklung u n d Vollendung des Menschen wie der Menschheit haben beide gemein. K a u m w i r d auch ein Leser des Faber, der in Novalis' Schriften kein Fremdling ist, umhin können, bei Lesung des Ersteren noch außerdem häufig an gewisse, dem Novalis besonders eigentümliche Sätze erinnert zu werden. Bei aller Besonnenheit und Herrschaft des Verstandes ist Faber in der Poesie überaus k ü h n . So erinnerte er mich oft an Novalis' W o r t e : „ M a n beschuldigt die Dichter der Übertreibung u n d hält ihnen ihre bildliche, uneigentliche Sprache nur zu Gute. . . . Aber mir scheinen die Dichter noch bei weitem nicht genug zu übertreiben, nur dunkel den Zauber jener Sprache zu ahnen u n d mit der Phantasie nur so zu spielen, wie ein K i n d mit dem Zauberstabe seines Vaters spielt. Sie wissen nicht, welche K r ä f t e ihnen Untertan sind, welche Welten ihnen gehorchen müssen." A n d e r s w o findet er es seltsam, w e n n der Mensch nicht können sollte, was er will. Auch die A n f o r d e r u n g scheint Faber gekannt zu h a b e n : „Ein Gedicht m u ß ganz unerschöpflich sein, wie ein Mensch u n d ein guter Spruch." J a , es scheint k a u m einen Hauptausspruch des Novalis zu geben, den m a n nicht, als im Bewußtsein Fabers v o r h a n d e n u n d angeeignet, aus dessen Poesien nachweisen könnte. W e n n indessen Faber im Begriff der christlichen Poesie und Romantik mit N o v a l i s im G a n z e n übereinstimmt, wenn es auch
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ihm eigen war, das Gewöhnliche, Nächste als ein Wunder, und das Fremde, Übernatürliche als etwas Gewöhnliches zu betrachten, so gelang es ihm doch, einzelne, wenn auch nur leise Züge einer verirrten Mystik, welche hier und da die Schönheit der Novalissdien Erzeugnisse trüben, zu vermeiden, wie namentlich seine höchsten, enthusiastischen Anschauungen allem Pantheismus fern sind. Eben durch diese Reinheit und jungfräuliche Hoheit übertrifft er sein deutsches Gegenbild. Längst hatte ich die Bemerkung einer auffallenden Geistesverwandtschaft zwischen den beiden großen Genien gemacht, als ich zu meiner angenehmen Überraschung vernahm, daß eines seiner größeren und bedeutendsten Gedichte, „Des Trauerers T r a u m " , an der Spitze die Worte führt: Wir müssen nach der Heimat gehn, U m diese heiige Zeit zu sehn.
Novalis Faber hat also den Novalis gekannt, daß er ihn dann aber ganz gekannt, gelesen, studiert habe, ist mehr als wahrscheinlich." In den weiteren Ausführungen greift Schlüter den bereits angedeuteten Gedanken der „Welt- und Diesseitsfrömmigkeit" auf, als einen wesentlichen, den er gegenüber den Supranaturalisten seiner Zeit gern betont herausstellt. Gerade in dieser Beziehung sehen wir überall Schlüter die Richtung der Romantik weitergehen, ohne aber sich durch den ausgebauteren Realismus seiner Biedermeierhaltung verwirren zu lassen. „Noch muß ich . . . auf eine besondere Eigentümlichkeit unseres Dichters aufmerksam machen; es ist die der Auffassung der Erde und ihrer Bedeutung für den Menschen . . . " Aphorismen des Novalis dienen ihm zur Erschließung dessen, was er an Faber aufweisen möchte; sie sind in ihrer Auswahl kennzeichnend f ü r Schlüters eigenes Verhältnis zu den Ideen der Romantik. In seiner Ausgabe der Briefe von Hemsterhuys an die Fürstin Gallitzin weist Schlüter auf die interessante Feststellung hin, daß Plato und Hemsterhuys die Lieblingsschriftsteller des Novalis waren, und macht in der gleichen Anmerkung (S. X X ) auf die f ü r Novalis' Phantasiereichtum erstaunliche Definition aufmerksam: „Der Sitz der eigentlichen Kunst ist im Verstände." Sie sagt Schlüter zu. Friedrich Schlegels Gedanken und Urteile f ü h r t Schlüter bei jeder nur möglichen Gelegenheit an. „Wundervolle Aphorismen von Fr. Schlegel, Himmelsblitze und Lichtgrüße f ü r unsereinen sind angekommen; Sie würden, mein ich, entzückt sein, was freilich viel sagen will." Die Mitteilung macht er Junkmann im Sommer 1837. Im August erwähnt er in einer ästhetischen Predigt f ü r den Dichter Junkmann Schlegels „Athenäum", in dem er gelesen habe. Er zitiert aus dem Gedächtnis Schlegels 9*
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Schlüter und die Romantik
Analyse des Lyrikers: „ . . . der lyrische (Dichter) . . . zieht mit dem Eigensinn der Liebe die ganze W e l t in seinen Kreis, zwingt alles, ihm sein Bild zu weisen, f ü r ihn zu sein, wenigstens von ihm sich hassen, wenn nicht lieben zu lassen." Schlüter f ü g t h i n z u : „Rühmlich gedacht ich hierbei an Sie." U m diese Zeit oder aber bereits f r ü h e r muß er auch den noch ungedruckten N a c h l a ß Fr. Schlegels gelesen haben. Es k a n n sich allerdings nur um die „Philosophischen Vorlesungen aus den J a h r e n 1804 bis 1806" handeln, die Fr. Schlegel selbst nicht mit in die erste Ausgabe seiner W e r k e (1822—1825) aufgenommen h a t t e u n d die in Bonn 1836 u n d 1837 von Schlüters Freund Windischmann herausgegeben wurde. Sengler schreibt nämlich aus M a r b u r g darüber an Schlüter: „Der I n h a l t der Aphorismen v o m J a h r e 1805 hat mich sehr überrascht wegen den w a h r h a f t prophetischen Blicken, die dieser merkwürdige M a n n hier in das Gebiet der Philosophie u n d Kirche gehabt hat. Ich will so bald als möglich eine Anzeige d a v o n machen." Schlüter m u ß t e dem Kollegen zuvor über den N a c h l a ß berichtet haben. E r sucht andere f ü r das Bedeutende ebenso zu begeistern wie er selbst es 'ist (s. A n h . S. 203). Noch 1874 schreibt er seiner Schwester: „Mit hohem Interesse lese ich Fr(iedrich) Schlegels ,Vorlesungen über neuere Geschichte"' („Über die neuere Geschichte. Vorlesungen, gehalten zu Wien im J a h r e 1810." Schi. W w . Bd. X I , 1846). Zwei J a h r e vor seinem T o d e teilt er ihr noch mit, er lese mit L a u r a H ü f f e r den Briefwechsel D o r o t h e a Schlegels. In seinem Kolleg über die Freiheit zitiert er Schlegels Äußerungen zur Monarchie (1836). U n d auch noch im V o r w o r t zu den Briefen des Hemsterhuys a n die Fürstin (1876) zitiert er ihn, f ü h r t er ein Urteil Fr. Schlegels aus seiner Literaturgeschichte (Bd. I I , S. 161) über H e m sterhuys an u n d hält es dem von H a m a n n und Giesebrecht gegenüber. Das sind nur einige Hinweise auf seine Treue zu Friedrich Schlegel. Die platonisch - augustinische Richtung, die positive Beurteilung der A u f k l ä r u n g , die Zeitkritik, die Wiederherstellungsidee aus dem positiven Christentum hat er mit Fr. Schlegel gemeinsam. D a w i r d er w i r k lich H ü t e r eines lebendigen Erbe. St. M a r t i n , de Bonald u n d de Maistre, die Fr. Schlegel z. B. in der 14. Vorl. seiner „Gesch. d. a. u. n. Lit." (Bd. I I , S. 61 ff.) positiv herausstellt, hat Schlüter gründlich studiert u n d häufig zitiert. Mit dem alten Görres suchte Schlüter persönlichen K o n t a k t über Freunde u n d Schüler, die nach München gehen. D e m verdanken wir die feine Charakteristik Baaders und Günthers durch Görres (s. A n h a n g S. 204 ff.), ferner die Schilderungen über Görres Vorlesung von seinem Schüler Pascal Fröhlich und über die Görres-Familie v o n T a n g e r m a n n (beide UBMüSchlN), beide von 1843: Görres las W i n t e r 1842 über Philosophie der Geschichte, w ä h r e n d Döllinger der „ C o r y phäus der (theologischen) F a k u l t ä t " ist. „Das Motto, w o m i t er seine Vorlesungen begann, w a r die Stelle aus Genesis I I , 7: F o r m a v i t igitur
Schlüter u n d die Romantik
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Dominus Deus hominem de limo terrae et inspiravit in faciem ejus spiraculum vitae . . . " T a n g e r m a n n schreibt dem Mentor am 17. J u n i 1843: „ H e r r Joseph Görres erkundigte sich neulich nach Ihnen recht angelegentlich u n d trug mir seine Empfehlungen f ü r Sie auf. Er sagte nur, d a ß er einige Zeit ganz besonders an Sie gedacht u n d mit A u f merksamkeit den G a n g einer gewissen ungewöhnlichen Augenoperation beobachtet habe, h o f f e n d , d a ß sich ein günstiges Resultat herausstellen w ü r d e , w o v o n er Ihnen Mitteilung unter gleicher Aussicht auf guten Ausgang auch f ü r Sie h ä t t e machen können, welche Freude ihm aber leider benommen blieb" (s. A n h a n g S. 159 ff.: Briefe über die O p e r a tion). Es w ä r e schön, w e n n Schlüter in München mit den bedeutenden Philosophen — (Schubert, Windischmann) zusammen sein k ö n n t e und sie durch seine „liebenswürdige Persönlichkeit" gewinnen w ü r d e , meint er. E r schildert ihm anschaulich das echt biedermeierliche Familienleben des Görres. „ . . . kaum m a g man ein solch einfaches und gemütliches Familienleben finden. Fast zu jeder Zeit des Tages kann man die ganze Familie auf dem W o h n z i m m e r beieinander finden. Jeder auf seine Weise beschäftigt. Während der alte H e r r am Fenster umhergeht und seine Blumen besieht, denkt er vielleicht über die tiefsinnigsten D i n g e nach und schreibt ab und zu in seinem anstoßenden Kabinet die genialsten G e d a n k e n nieder; unterdessen sitzt G u i d o Görres an einer andern Seite und macht Verse; die alte Frau Görres hat ihre Lektüre und läßt sich zuweilen v o m S o f a aus vernehmen; in einiger Entfernung hat sich Fräulein Görres an ihrem Arbeitstischchen eingerichtet, durchsieht Journale und Zeitungen und schwatzt jeden A u g e n blick drein, ohne daß dieses eine Störung zu verursachen scheint. D e n alten H e r r n habe ich besonders lieb; er ist so einfach und anspruchslos, daß man mit ihm fast w i e mit einem Kinde umgehen kann. Eine solche heitere U n befangenheit und herrliche D e m u t kann nur die Religion geben."
A m 30. Juli b e a n t w o r t e t T a n g e r m a n n einen Brief Schlüters, in dem dieser ihm über das Leben Christi von D r . Sepp, mit einem V o r w o r t von Görres, Positives mitgeteilt hatte. T a n g e r m a n n , der ihm das Buch zur Lektüre empfohlen hatte, f r e u t sich, d a ß er dies Görres mitteilen k a n n . Über die A u f n a h m e dieser Mitteilungen durch Görres schreibt er i h m : „ . . . E r schickt Ihnen seinen herzlichen G r u ß und läßt Ihnen in Betreff der christlich-metaphysischen Betrachtungen des Malebranche sagen: Sie möchten nur die G ü t e haben, darüber einen Aufsatz zu machen, den m a n mit Vergnügen in den historisch-politischen Blättern a u f n e h m e n w ü r d e . . . D a s v o n Schlüter bezeichnete W e r k La philosophia divine par Kaleph Ben Nathan ist dem H e r r n Görres, teilt Tangermann mit, nicht näher b e k a n n t geworden; er hat f r ü h e r „ein M a n u s k r i p t von D u t o i t in H ä n d e n gehabt, das er mit Interesse gelesen" 1 ). Görres habe auch auf O z a n a m s Dissertation „ D a n t e und die >) Vgl. dazu Schlüters Ausgabe der Philosophie v o n D u t o i t : „Die lische Philosophie des Kaleph Ben N a t h a n , 1845, s. Lit.-Verz.
himm-
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Philosophie seines Jahrhunderts" hingewiesen; sie solle gut sein. Er meine, die Franzosen beurteilten Dante besser als die Deutschen. Vermutlich ist es dieser Anregung ebenfalls zu verdanken, daß Schlüter sich Ozanams Werk von Caroline Lombard dreimal die Woche vorlesen läßt. Am 13. August ist er „beinahe zur H ä l f t e " damit (Brf. a. Th. 1843). So ist also Schlüter durch Corres auf den großen Mann gestoßen, von dem sogar Renan sagte: „Herr Ozanam ist eine fortwährende Apologie von allem, was achtbar ist." Vor Weihnachten berichtet Tangermann wieder von Görres (21. Dezember, UBMüSchlN): „Der alte H e r r sieht ziemlich schlecht aus und hat wegen fortwährender Kränklichkeit noch immer seine Vorlesungen nicht begonnen, wird sie auch am Ende wohl ganz aussetzen. Zu bewundern ist die Geisteskraft dieses Mannes, die noch immer ungeschwächt scheint, während seine Körperkräfte sich fast zuschanden consumieren und er vielleicht den Schluß der historisch politischen Blätter des nächstfolgenden J a h r gangs nicht mehr — wie diesmal — machen dürfte. Die erstaunliche Einfachheit und Demut des alten Görres macht mir seine ganze Persönlichkeit immer lieber." Die „Mystik" von Görres interessierte Schlüter stark, aber von der „dämonischen Mystik" will er nichts wissen. So schreibt er an J u n k mann, „darin werden Zauberei, Wehrwölfe, Vampyrn, ja der P a k t mit dem T . . . ganz gelassen und verständig zu Ehren gebracht, und selbst die Spukgeschichten, von denen es in derselben wimmelt" (14. September 1840). Adam Müllers Buch „Von der Idee der Schönheit" gab Schlüter der Droste zum Lesen (Brf. v. 10. Januar 1835 a. d. Dr.). In seinen Briefen an Junkmann gibt er ihm in der Zeit seiner dichterischen Produktivität Ratschläge, die mit den Grundsätzen A d a m Müllers auffallend übereinstimmen. Bei Adam Müller wird bereits die Identität von Schönheit und Wahrheit betont, das Geheimnis der bizarren Schönheit gesehen, das Schöne auch am Häßlichen entdeckt, sofern es Leben und Seele ausstrahlt. Hier findet Schlüter die Zukunftsvision vom „Wissenschaftskünstler", die sich bereits an der Naturdichtung der Droste, an der A u f n a h m e des Wissens aus der Zeit in die dichterische Diktion, verwirklichen soll. Hier findet er Sätze, die ihm durchaus gemäß sind: „Irdisches und Göttliches ist nicht zu trennen. Alles aus Geist und Fleisch . . . " , und dies gegen Fichte! „Nicht im Göttlichen allein ist die Schönheit, nach der ich als Mensch strebe, nicht im Menschlichen allein, sondern der liebevollen Umarmung zwischen dem Gott und dem Menschen." Plato ist Adam Müllers Vorbild f ü r die „Wissenschaftskunst"! Die platonisch-mystische Geisteshaltung schließt den Realismus der Wissenschaftskunst ein. A. Müller predigt, was Schlüter lebt: Poesie
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„das erste u n d erhabenste Mittel der Erziehung . . . " D a s Ziel ist so, wie wir es bereits als Ideal des Biedermeiertyps entwickelten; das Gleichgewicht der K r ä f t e untereinander erreichen, das im Gemiite liegt. D a s Interesse Schlüters f ü r Clemens Brentano w a r , wie sich von selbst versteht, durch die lebenslängliche Freundschaft mit Luise Hensel, der B r e n t a n o einen so wesentlichen Einfluß auf seine religiöse Entwicklung d a n k t , bestimmt. I n den Briefen an seine Schwester h ö r t m a n v o n seiner Lektüre des Lebens Brentanos 1855 (9. Juli). Wenige T a g e später (16. Juli) erzählt er ihr v o n Brentanos Briefwechsel, der ihn „ f o r t w ä h r e n d ergötze" 2 ). D a s gleiche steht nach Angabe von P. P a schalis N e y e r im Tagebuch (angeblich im Spätsommer, SchlNJ). Z u dieser Zeit ist ihm diese L e k t ü r e eben durch Luise Hensel nahegelegt w o r d e n ; am 27. Juli berichtet sie ihm nämlich äußerst erregt von der bereits erwähnten Indiskretion Emilie Brentanos ihr gegenüber in der Briefausgabe. Ein J a h r später, d. h. am 20. M ä r z , zählt er als L e k t ü r e neben G ü n thers 2. „Lydia" (s. Lit.-Verz.), Leopold Schmidts „Idee des K a tholizismus", den Carvacchi ihm geliehen hat, Brentanos „Philister" auf u n d nennt sie „ein Meisterstück ideenhaften Witzes u n d H u m o r s , nicht ohne tiefe W a h r h e i t e n " . Sein Bekenntnis zu Brentano steht in einem Brief an Luise Hensel v o m 16. N o v e m b e r 1851: ihr „bekanntes häusliches Q u a r t e t t " habe diesen Sonntagnachmittag den .Fahrenden Schüler' von Brentano mitsammen gelesen, „der uns w u n d e r b a r bewegt, gerührt und erhoben hat. Diese w u n d e r b a r e christliche, ja katholische Poesie n a h m uns vier so verschieden a n J a h r e n , Richtungen und Geschäften gemeinsam unter oder auf ihre gewaltigen Flügel, d a ß ich unwillkürlich denken mußte, der Flügelschlag der hl. T a u b e könne in der Poesie eines w a h r h a f t christlichen Dichters ebenso die H e r z e n berühren wie in den Propheten des auserwählten Volkes im Alten Bunde; o f f e n b a r w a r hier noch mehr als Moses u n d die Propheten, aber freilich aus derselben Quelle, woraus sie alle schöpften, G l a n z um G l a n z u n d W ä r m e um Wärme. Unendlich stand mir Clemens Brentano über Goethe, denn ich glaubte mir nicht verhehlen zu dürfen, d a ß die Poesie der Poesie den letzten nur selten berührte, w ä h r e n d sie der Geist der Seele Brentanos ist. Ich will mein Mögliches tun, sowohl den vierten, der unter anderen den ,Fahrenden Schüler' enthält, als den ersten mit den geistlichen Gedichten, w o v o n Sie mir erzählten u n d in welchen ich gleichfalls sehr Schönes gelesen habe, möglichst viel gelesen zu madien; denn das m u ß z u m Segen f ü r H e r z u n d Geist gereichen u n d Jedem
2) „Gesammelte Briefe von 1795—1842°, 2 Bde., Frankf. 1855 (Ges.-Schr. Bd. 8 u. 9).
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die Religion teurer machen". A m 19. Dezember: „ V o n Clemens Brentano sind n u n auch schon wieder zwei neue Bände, einer mit weltlichen Liedern, worin jedoch auch viel Geistliches v o r k o m m t , wie das vortreffliche Gedicht auf den T o d der Frau Dietz, der andere enthaltend unter anderen auch den ,Philister', erschienen. Ein w u n d e r schönes Gedicht befindet sich im ersten dieser zwei Bände auf eine J u n g f r a u , welche das K i n d ihrer verstorbenen Schwester erzog, welches mich tief bewegt hat. Ich las es merkwürdigerweise, irre ich nicht, am Tage bevor ich Ihren lieben Brief erhielt." A m 29. M ä r z , drei J a h r e später (1854), teilt er Luise mit, er habe unterdessen Brentanos „ R o m a n z e n v o m R o s e n k r a n z " zu Ende gelesen, „in der T a t ein w u n d e r bares, mächtiges, tiefes, H i m m e l u n d Erde, Welt u n d H ö l l e umfassendes Gedicht, w o r i n sogar J a k o b Böhm, die C a b b a l a , die Astrologie u n d Zauberei nach mittelalterlicher Ansicht mit tiefer Sachkenntnis in ihren G r u n d z ü g e n verzeichnet u n d geschildert sind; und doch schwingt das katholische Christentum, nach streng kirchlicher u n d tief mystischer Auffassung gefaßt, über allem A u f r u h r der Welt und innern T u m u l t und W i r r w a r r der Leidenschaften siegreich seine ewige Fahne, u n d die ungeheuersten fürchterlichsten K o n t r a s t e verschmelzen in seinem Friedenslicht zu einer H a r m o n i e , wie die wildesten Gebirgsgegenden mit ihren steilen Felsenmassen, Abhängen u n d T r ü m m e r n im M o n d l i c h t . . . " (UBMüSchlN). „Sein" Brentano w a r konzentriert enthalten in den zwei Zeilen, die m a n gern — nicht mit Unrecht — z u m „ S y m b o l u m " Brentanos u n d ü b e r h a u p t der ganzen R o m a n t i k gemacht hat, jene letzten Zeilen des w u n d e r b a r e n Gedichtes aus der „ A h n f r a u " : Was reif in diesen Zeilen steht, Was lächelnd winkt und sinnend fleht, Das soll kein Kind betrüben. Die Einfalt hat es ausgesät, Die Schwermut hat hindurch geweht, Die Sehnsucht hat's getrieben. Und ist das Feld einst abgemäht, Die Armut durch die Stoppeln geht, Sucht Ähren, die geblieben. Sucht Lieb', die für sie untergeht, Sucht Lieb', die mit ihr aufersteht, Sucht Lieb', die sie kann lieben. Und hat sie einsam und verschmäht Die Nacht durch dankend im Gebet Die Körner ausgerieben, Liest sie, als früh der Hahn gekräht, Was Lieb' erhielt, was Leid verweht, An's Feldkreuz angeschrieben: O Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit!"
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Scheinbar ohne irgendeinen inneren Zusammenhang schreibt er die beiden berühmten letzten Verse unter seinen Brief an die Droste am 8. J u n i 1838, in dem er ihr in seiner das eigene Leiden ausspottenden Weise mitteilt, d a ß er t r o t z seines K o p f w e h s die K o r r e k t u r b o g e n ihrer ersten Gedichtausgabe korrigiert habe. Als Nachbemerkung f ü g t er h i n z u : „Kauen Sie dieses Pambet-Blatt solange, bis Sie ganz seine Süßigkeit schmecken u n d sein beispielloser D u f t wie von Blüten auf den Inseln der Seligen I h r Gehirn durchbalsamt und Sie d a v o n trunken werden, lernen Sie es auswendig u n d verstehen es durch u n d durch u n d sagen es dreimal an jedem Tage, dreimal innerlich sich vor u n d auf und ich werde Sie d a f ü r noch mehr lieben, als ich Sie schon liebe" (Schi. u. d. Droste, S. 88). Im Briefe an Hugo Delff3) v o m 20. Dezember 1870, auf den H ö h n e n aufmerksam macht, interpretiert er die seinem Eigensten Ausdruck gebenden Zeilen im platonisch-augustinischen Sinne u n d durchaus nicht, wie E d u a r d Steinle sie im Bilde dargestellt hat, angeblich nach der authentischen Auffassung Brentanos selbst (vgl. Alfons M. v. Steinle in Hist.-Pol. Blätter C X X I , 1898, S. 380 ff.). Aus ungedruckten „Sextinen" Schlüters veröffentlichte P. Paschalis N e y e r im Gedenkblatt (cit. D y r . H o h n . S. 190) folgende Paraphrasierung des Philosophen: W e n n der Sternenschein in den offenen Blumenkelch der Seele dringt, sehnt sie sich nach anderem Kleide als in den Nebelflören u n d D ä m m e r g r ü n d e n des Abends. Das Auge des Sterns, so glaubt er, spreche die Sprache der Geister, und das f r e m d e Kleid abstreifend, in dem die Liebe in des H e r zens G r ü n d e Glutpfeile w e r f e u n d Entzücken u n d Schmerz das H e r z foltere, ringe sich die Seele im neuen Morgen der Ewigkeit frei, f ü r ewig beglückt, ohne Keuchen u n d K l o p f e n der Brust, voll Frieden, zu reiner Blüte. D e m ewigen Morgen folge kein Abend wie dem nebelwarmen Erdenmorgen, an dem noch Stürme der Jugend Blumen schütteln. Wohl vermöge schon hier das Licht unserem H e r z e n ein neues Kleid anzutun, wenn es sich jedem v o n oben kommenden Strahl wie eine Blume ö f f n e . Aber im Land der Geister, die unsere Seele in noch schönere G r ü n d e verpflanzen, leuchten ihr die heiligen Sterne wie Sonnen. D a r u m können die ewigen Sterne als sichtbare Geister schon hier jede Seelenblume lehren, wie sie sich entkleiden müsse, damit das Glück jenes ewigen Morgens sich gründe, an dem den Seelen die Geister nicht mehr v o m T a g der Zeit verhüllt sind. M i t dem augustinischen Bilde von der A b e n d - u n d Morgenerkenntnis also umschreibe der Philosoph die „immer wieder w u n d e r samen Verse" Brentanos. W e r „Die himmlische Philosophie" (1845) Schlüters kennt, w i r d von dem symbolhaften Ausdruck seiner still gegehegten und mit Kaleph Ben N a t h a n (Dutoit) geteilten Sternenerkennt-
3) Siehe Lit.-Verz.
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nis, die eher der barocken Sprache Jean Pauls als der romantischen Brentanos gleicht, nicht bestürzt sein. Solche Interpretation der bekannten Brentanozeilen aber gibt ein gutes Exempel ab f ü r die Art, wie das Biedermeier sich die ihm nahe stehende Romantik zurechtlegt. Deutlich läßt sich hier erkennen, was Béla Zolai mit Recht vom europäischen, nicht nur vom ungarischen, Biedermeier behauptet, wenn er, das Biedermeier in den Gang des Piatonismus in Europa mit Renaissance und Barock in eine Linie stellend, als charakteristischen Zug neben Spiritualismus, kontemplativ mystischer Frömmigkeit, ästhetischem Kultus der Schönheit, Idealisierung der Liebe auch den astrologischen Glauben angibt, der häufig genug in bizarre Verschnörkelungen verkleidet, mit Motiven aus der Antike, vorzüglich aus Renaissance und Barock, auftritt. Schlüters Wahl seiner Ubersetzungsstoffe machte solche Neigungen ja bereits deutlich erkennbar. Freilich ist darin nicht alles enthalten, was die mensdilidie Größe und Bedeutsamkeit Schlüters ausmacht. Es ist letzten Endes wieder Rom 8, was ihm das hohe Interesse an solchen Umschreibungen seines immer wiederkehrenden Grundthemas eingibt. Für Bettina von Arnim-Brentano zeigt Schlüter allergrößtes ästhetisches wie auch menschliches Interesse. Bettinas poetischem Buch „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde" verdanken wir einen der schönsten und typischsten Briefe Schlüters; er ist kurz nach Erscheinen dieser phantasiereichen, originellen Dichtung an Annette von Droste gerichtet. Wolfgang Schlegelmilch4), wie früher W. Meyer (s. f. S.) scheinen ihn bei ihrer Bettina verunglimpfenden Art nicht zu kennen (s. Schi. u. d. Dr. S. 70—75). Schlüters Apotheose richtet sich ausdrücklich gegen die Angreifer Bettinas, die sie „ f ü r eine Tollhäuslerin" erklären oder „ f ü r gottlos", f ü r „eine verwegene Phantastin" oder auch nur f ü r „übertrieben", obwohl höchst genial. Er selbst aber hält sie f ü r „eine Prophetin, . . . hoch begabt wie wenige vom unendlichen Genius, den selig jubelnd das All umkreist . . . " Eine treffendere Kennzeichnung ihrer romantischen Art läßt sich wohl kaum geben als mit den Worten: „Sie liebte und ward sich bewußt, daß Gott die Liebe ist, und daß sie durch die Liebe teil an ihm nehme. Sie selbst sagt: Was einer nicht liebt, das versteht er nicht: wir wissen und verstehen nur soweit als unsere Liebe reicht. U n d so ward ihr alles Offenbarung des einen höchsten Geistes, alles unendlich bedeutungsvoll und hinweisend auf Ewiges. So spielt ihr volles reichbegabtes Herz, ihr ahnungsreicher, himmelklarer Geist mit tausend beglückenden Empfindungen, mit unzählig neuen Gedankenkombinationen alles Leben, alle Farben, alle 4 ) „Bettina von Arnim und Annette von Droste-Hülshoff", Westfalen, 34, 1956, Heft 3, S. 209—216.
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Tiefen und Wunder des großen Alles nach; und ,aller Rätsel Lösung war ihr allein die Liebe'." D a ß jedoch Schlüter gegen Ende des Briefes, sich humorvoll von sich selbst absetzend und dabei eine Spannung und tiefer liegende, meist verborgene Spaltung offenbarend, etwas von dem hohen Lob Bettinens wieder zurücknimmt, ist ebenso typisch für das, was wir biedermeierliche Haltung auch hier nennen dürfen. Von da her wird es verständlich, wenn später eine Beurteilung vom moralisch-unterbauten ästhetischen wie menschlichen Aspekt die Schattenseiten dieser Romantik hervorkehrt, und Schlüter dadurch, wie nicht anders zu erwarten, von jener ins Pantheistische gleitenden Romantik sich klar absetzt. Zunächst allerdings lesen wir noch 1840 in einem Brief vom 14. September an Junkmann: „Mutter liest mir die köstlichen Briefe Bettinens . . . vor" und am 13. August 1843 an Therese in Paderborn: „Auch Bettinens lang erwartetes Buch ist jetzt angelangt; morgen wird Ohm Fritz (Gräver) es zu lesen anfangen." Hier ist das soeben erschienene: Dies Buch gehört dem Könige (Berlin 1843) gemeint, auf das wieder Tangermann aus München her aufmerksam gemacht hatte. Er hatte ihm übrigens auch allerlei Skandalgeschichten über Bettina und die Wirkung dieses Buches auf „gewisse Leute" mitgeteilt (s. Brfe. v. 17. Juni 1843, 21. Dezember 1843, 23. April 1844, UBMüSchlN) 5 ). N u r um die Wiedergabe dieser Mitteilungen und nicht um eine scharfe und mißfällige Äußerung Schlüters, wie P. Wendelin Meyer annimmt P. M., S. 39) 6 ), kann es sich handeln, wenn Schlüter in einer Debatte von etwas gereiztem Charakter an Freund Albert Kreuzhage berichtet: „Bettinens Buch ist in Bayern verboten; der galante König hat ihr desungeachtet im Wirtshaus seine Aufwartung gemacht. Sie ist täglich bei Görres gewesen; die zwei Seelen werden sich wie zwei absolut harte, elastische Kugeln berührt und abgestoßen haben, ich hätte dabei sein mögen. Wo Bettine erschien, war sie von einem Schwärm und Schweif, namentlich von Herrn, gefolgt, ähnlich dem Schweif eines unheilverkündenden Kometen. Ihre Verehrer und Bewunderer begleiteten sie spät in die Auberge, wo die Unterhaltung von neuem begann und erst in der späten Nacht unterbrochen ward . . . " (1844). Audi hier wird Schlüters Interesse an Bettina deutlich. Kreuzhage muß noch mehr als er die Dichterin Bettina geschätzt und sie der wenig geistreichen Pauline von Mallinckrodt gegenübergestellt haben, die aber Schlüter damals ebenfalls sehr interessierte wegen ihrer ursprünglich religiösen Art, während Kreuzhage diese anfangs nicht begriff. Schlüter schreibt dann allerdings in gereiztem Ton: „Bleib mir 5) Der 2. Bd. erschien 1852; siehe Lit.-Verz. 6 ) Siehe Lit.-Verz.
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mit Deiner Bettina vom Leib; hier ist mehr als Bettina." Wenn man hört, daß er Pauline, die junge Schülerin Luise Hensels, „den Engel in Menschengestalt" nennt wegen ihrer ans Heilige rührenden praktischen Christusnachfolge, so weiß man, worum es geht. Dieses Urteil liegt auf einer anderen Ebene. Kaum glaubhaft aber scheint es sonst zu sein, daß das Schreiben, in dem dieser Satz steht, aus dem gleichen J a h r stammen soll wie das oben erwähnte an Junkmann, in dem die „Briefe" Bettinas doch noch köstliche genannt werden. Der Brief sei nicht absolut sicher bezeugt, gibt P. Meyer zwar zu (S. 261, Anm. 3), führt aber mehrere Wahrscheinlichkeitsgründe f ü r die Datierung an. P. Wendelins H a u p t g r u n d , die Erwähnung der Gräfrather Augenbehandlung, ist aber hinfällig, weil diese nach den vorliegenden Briefen (s. Anhang) im Oktober 1841, nicht 1840 (UBMüSchlN), begann. Wenn Schlüter seine „Bezauberung" durch Bettine willentlich abgestreift haben sollte, so jedenfalls erst nach harten inneren Kämpfen nur von seinem klarer gewordenen Standpunkt einer christlichen Ästhetik her, über die er ja ebenfalls mit Kreuzhage diskutiert hatte. „Das Leben ist kein Spiel . . . " schreibt er ihm, es ist „eine praktisch wie theoretisch zu lösende große Aufgabe, die ein jeder zuerst in sich und inner seiner vier Pfähle zu lösen hat, wenn er es nicht verscherzen will. H i e r aber stelle ich die ernste Frage in betreff zweier verschiedener Geister, die beide uns bezaubert haben: H a t der Geist Hegels in der Philosophie und der Geist Bettinens in der Poesie diese Aufgabe begriffen? H a t t e n sie das goldene sapere aude, die weltüberwindende Macht des Glaubens, die N a h r u n g der hl. Himmelshoffnung, ohne welche die dunkle, bange Seele nicht in ihre Tiefen einkehren kann, ohne sich im Tode zu finden? H a t t e n sie die Liebe, die größer ist als beide, die allein noch ist, wenn beide, wie alles Weissagen und Wissen, schwinden? W a r ihnen Christus ein und alles? Vermochten sie jene H ä r t e der Selbstverleugnung und Selbstüberwindung wider sich, ohne die kein Mensch wiedergeboren und wahrhaft frei und froh werden mag? U n d wo nicht, was half ihnen denn der Geist, der nicht der Geist Christi war, der allein die Armen wie Reichen am Geiste von den Toten zu erwecken vermag? Darum verwerfe und verachte ich aber ihre Gaben nicht, sondern bewundere in ihnen den Reichtum der schaffenden Allmacht auf dem Gebiete des Geistes. Doch blenden sollen sie mich nicht." (Vgl. Anhang, Br. a. Kr. v. 18. Okt. 1840, S. 189 f.) Von hier wird allerdings die Sorge verständlich, die Schlüter um das Heil der im Grunde einsamen Schwester des Clemens Brentano hegt, wie sie seine bisher unbekannten Briefe an J u n k m a n n verraten. Wie objektiv er aber ihre Dichtung beurteilt, geht auch daraus hervor, daß er den Geist der Gräfin Dolores des überaus hochgestellten H e r r n von Arnim „fromm, gläubig, deutsch und bieder, fast katholisch" nennt, die Poesie aber
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reiche der Bettinens nicht das Wasser. Das schreibt er noch im September 1849 Junkmann, dem er im September 1840 schon mitgeteilt hatte, er habe ihm manches Schöne aus dem Briefwechsel zwischen Bettine und der Günderode mitzuteilen, er habe sich das Schöne daraus f ü r ihn notiert. Bei Junkmanns Aufenthalt in Berlin in den Jahren 1850, 1851 und 1852 mahnt er ihn wiederholt, die alte Bettina zu besuchen, sich menschlich um sie zu kümmern, zumal Luise Hensel ihm mitgeteilt habe, daß sie sich selbst gebrochen und elend fühle (Brf. L. H.'s v. 4. Dezember 1950, ungedruckt, UBMüSchlN). Bereits im Februar dieses Jahres hatte er dem Freund geschrieben: „Willst D u Bettine nicht noch sehen, wenn auch nur mir zu Gefallen? Es ist doch zweifelsohne die erste geniale Notabilität der Gegenwart, und die gefeierte Sappho gegen sie nur eine Dorfnymphe. Frage sie einmal aus, was scherst D u Dich weiter darum, da Du weg gehst! Ich glaube, auf ein ernstes, wahres und tiefes Wort wird sie eine andere Antwort geben, als man nach ihren Schriften vermuten könnte, wo sie dem großen Publikum gegenüber im Ubermute ihres Talents höhnend die Rasende spielt. Freilich kann ich mich irren." J u n k m a n n m u ß seine Hemmungen jedoch einmal wieder nicht haben überwinden können, denn ungefähr ein J a h r später, am 16. Januar 1851, erinnert Schlüter den jungen Freund dringender an seinen Wunsch: „ . . . besuche Bettine; ist sie einmal tot, so ist es zu spät. Gott mit Dir!" Über ein J a h r später: „Was macht Frau Bettina? Vergissest Du ganz auch sie?" Schlüters Verehrung für die spätere Stifterin der Genossenschaft von den Schwestern der Christlichen Liebe (Paderborn), Pauline von Mallinckrodt also kann nicht gegen Bettina ausgespielt werden, um Schlüter zu einem frommen Mann zu machen. Wie stark ihn Bettina schon zur Zeit seiner Freundschaft mit der Droste beschäftigte, zeigt die überraschende Kombination, die er zwischen der Gestalt der literarischen Bettine und der Romangestalt Syry der schwedischen Spätromantikerin Fredrike Bremer ihres Buches „ I n Dalekarlien" macht. „Syry scheint mir eine idealisierte Bettina sein zu sollen", schreibt er der Droste bei Übersendung des Buches auf ihren Wunsch hin, wenigstens durch die Lektüre der letztern veranlaßt zu sein" (2. April 1846). Wie kommt er darauf? Fr. Bremer will ähnlich wie Jeremias Gotthelf und wie die Droste im „Westfalenwerk" in ihrem restaurativen, durchaus nicht liberalen (s. Schlegelmilch a. a. O. S. 210) Roman „die Menschen in einer von der Zivilisation noch nicht verdorbenen Urwüchsigkeit mit ihren Sitten, Trachten, ihrem alten Glauben, ihrem natürlichen Ethos" darstellen. Dazu hat sie ein schwedisches Schottland, ein abseitiges Ländchen, die Täler am Dal ausgesucht; dahin „muß man ziehn, wenn man eine N a t u r sehen will, die sich noch in großartiger Unschuld, ein Volk, das sich noch in jenem patriarchalischen Zustande befindet, der immer mehr
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v o n der E r d e verschwindet u n d Züge v o n so großer rührender Schönheit in sich schließt." Syry, die H a u p t g e s t a l t , das urwüchsige N a t u r k i n d , in dem sich die Urlandschaft verkörpert, ist mit ihrem heidnischen N a t u r e m p f i n d e n der christlichen Gläubigkeit gegenübergestellt zunächst als ein durdiaus reines, geschlossenes Wesen. „ Ü b e r h a u p t beruhte die A n m u t , die Syry gleichsam ausstrahlte, großenteils d a r a u f , d a ß alle ihre Lebensäußerungen ungekünstelt u n d unberechnet w a r e n . Sie h a t t e viel v o n der Unmittelbarkeit, die uns aus den Erscheinungen der N a t u r so frisch entgegenatmet." (Vgl. W o r d s w o r t h , „ T h e Reaper".) Durch schwere Schicksale w i r d sie jedoch schließlich umgewandelt, bekehrt aus der „Wildheit" in die christlich liebende Tochter u n d Schwester, die auch die Naturgeister v o n Christus her zu erlösen vermag u n d den Gottesfrieden f ü r Mensch u n d N a t u r durch Beendigung des Fluchs, der über der S d i ö p f u n g lastet, herbeiführen hilft. Das ihr innewohnende U r g u t e ist im Christlichen erst rein und ganz zur E n t f a l t u n g gekommen, die anima naturaliter christiana. U n d sie ist nun wissend geworden um die Gebrochenheit der K r e a t u r , ihre Erlösung u n d ihre Vollendung in Christus. Wenn Schlüter hier eine idealisierte Bettina zu sehen meint, so spricht auch diese Auffassung wieder f ü r die positive Einstellung zu Bettina u n d erklärt seine Bitten an J u n k m a n n . Noch mehr klären die V o r schläge über diese v o n Schlegelmilch völlig abwegig behandelten Fragen auf, die Schlüter der Droste im Anschluß a n diese Syry-Bettina macht. Wie einst bei dem ihr übergebenen Angelus Silesius möge sie den K e r n des Romans in ein Gedicht fassen. Das sollte übrigens A n n e t t e von dem Schock ablenken, der ihr durch Schückings R o m a n „Die R i t t e r bürtigen" mit seinen vermeintlichen Indiskretionen geschehen w a r — ihr auch gleichzeitig seelisch helfen. Annette gab sich auch sofort d a r a n — Schlüters, des liebsten, treusten ihrer Freunde, wie sie schrieb, Wunsch zu erfüllen, m i ß v e r s t a n d ihn aber völlig. In ihrem Kopf hatte sich die eine Gestalt gespalten: Bettine als heidnische Verehrerin des Helios w i r d Syry als der getauften Anbeterin Christi gegenübergestellt. Sie teilt ihren Versuch jedoch als gescheiterten in B e a n t w o r t u n g v o n Schlüters Brief vom 2. April 1846 am 13. April bereits mit — über ihren Zeilen h a t t e sie M u t u n d Lust verloren. Ihre Vorstellungen, die sie dabei entwickelt, sollen einer eigenen Untersuchung vorbehalten bleiben, die Idee zweier Feuerseelen befindet sich nicht in dem zu der Gestaltung anregenden Schlüterbrief, wie Schlegelmilch meint. Wichtig ist hier aber die A n t w o r t Schlüters schon gleidi am 18. April, die seine Idee der Aufgabe, die er ihr gestellt hat, näher erläutert (veröffentlicht von Freiin C . Droste zu Hülshoff in D e r Gral, H e f t 10, 17. Jg., Juli
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1923, S. 4 6 5 — 4 6 7 ) . W i r sehen nämlich daraus, daß es wieder sein Thema Rom. 8 ist, das er in dem Buch der Bremer als den Kern erkannt hat und Annette zu einer Dichtung vorschlägt im Augenblick ihrer tiefen Enttäuschung. D e m verdanken wir wieder einen seiner schönsten Briefe. „Liebes Fräulein, ich meinte bloß den T e x t in St. Pauli Episteln, wonach alle Kreatur, die durch den Abfall des Menschen von G o t t und sein Mißverhältnis zu ihm gleichfalls vom Menschen abfiel und zu ihm in Mißverhältnis trat und sich ihm widersetzte, wonach, sag ich, dieselbe unterworfen ward, jedoch auf H o f f nung hin: so heißt es denn, daß sie ringe, schmachte und großen Sehnens sich sehne nach der Offenbarung der Kinder Gottes, woran auch ihre Befreiung, Erlösung und Verklärung geknüpft ist, sowie die unsere: ,und siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde und Jerusalem — die Menschheit — zur Wonne.' Gott hat die Welt geschaffen, er hat sie erlöst, nachdem sie um ihretwillen herabgesetzt, verstellt, entstellt, getrübt und gleichsam ihr der Witwenschleier übergeworfen ward; durch uns in Verbindung mit Christus und dem hl. Geist muß sie wieder erhoben, in ihre ursprüngliche Herrlichkeit als Offenbarung der göttlichen Idee wieder eingesetzt, erlöst und befreit werden, von ihren Banden, von der Trauer und vom Tode. Eine leise Paradieses-Erinnerung und Himmelsahnung kündet dem Gefühl und der Vorstellung, wie sie dereinst war und wie sie dereinst sein wird, aber nicht ist; jedoch in seltenen Momenten und gleichsam Lichtblicken uns andeutet, wieder werden zu können, wenn die Schläferin im Traum aufredet, und himmlische Züge über ihr Antlitz flüchtig dahinziehn. So sieht sie der Religiöse und der Dichter, der in dieser Weise sie weit übertrifft und weit hinter ihr zurückbleibt, sie besiegt, dann wieder sie nicht einmal durch eine ferne Copie zu erreichen imstande ist. Alle Wunder Christi und der Heiligen sind Antizipationen der Lüftung jener Naturbande; die Sakramente, die Lehre vom Geistleib, von der Auferstehung und Glorifizierung des Leibes, die Würde, welche das Christentum dem Leibe, dem Weibe, dem Kinde verleiht, gehören hierher, vor allem aber der Satz, daß wir mit der N a t u r stehn wie mit dem Himmel, daß sie uns das ist, was wir ihrem und unserm Schöpfer und den Geschöpfen zumal; daß wir sie durch unser sittlich religiöses Verhalten zum Himmel oder zur Hölle und zur Lust oder zur Last machen können, daß wir ihre Bande lockern oder noch grausamer anziehen können . . Schlüter legte also keinen besonderen Wert auf die dichterische Gestaltung der Bettina, die ja auch noch lebte. I m Zusammenhang der menschlichen Besorgnisse aber ist seine Bemerkung interessant; er möchte Bettina gleichsam als eine umgewandelte Syry sehen, nicht im Gedicht, sondern im Leben. Seine Rückziehung der Bettina aus der dichterischen
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Konzeption, die er der Droste vorschlägt, hat in ihr fruchtbar gewirkt; eines der erschütterndsten und geglücktesten Gedichte verdanken wir der Anregung: „Die ächzende Kreatur." Als Annette Schlüter in Rüschhaus bei seinem Besuch vor ihrer letzten Reise nach Meersburg dieses Gedicht vorlas, selbst todmüde und krank, vermißte Schlüter darin das Erlösende des Pauluswortes. Er schlug ihr vor, mit ihr zusammen noch die der H o f f n u n g auf Verklärung aussprechende Strophe hinzuzudichten. Schon häufiger wurde auf den „Jean Paul - Stil" mancher Äußerungen Schlüters in Prosa und im Sonett hingewiesen. Das besagt noch nicht, daß er zu der Masse der Nachahmer Jean Pauls gehört, die er ja selbst in einem seiner Sonette verspottete. Ob man überhaupt von einem „Einfluß" sprechen kann, wie es Dempf in der neuesten D a r stellung von Günther behauptet, dessen Stil der Schlütersche oft nahesteht, scheint mir zweifelhaft; die barocke Aussageweise liegt in der Zeit und müßte einmal stilpsychologisch untersucht werden. Freilich: Schlüter hat Jean Paul gekannt. Aber er hält ihn letzten Endes doch f ü r einen Rationalisten. Im Namenstagsbrief zu Wilhelm am 28. Mai (1843?) schreibt er: „Der kräftige, geistreiche, gelehrte Ast („Grundriß einer Geschichte der Philosophie" 1807) streckt im letzten Viertel oder Achtel seines Buchs den P f e r d e f u ß vor und zeigt sich im Kern als Naturalisten und puren Rationalisten, ähnlich wie Voss, Jean Paul oder Goethe, nur offener und derber vielleicht . . Z w a n z i g Jahre später teilt er allerdings Junkmann mit: „Ich lese längerher Jean Pauls sämtliche Korrespondenzen, woraus viel zu lernen ist. Irgendwo schreibt er, die Menschheit würde an dem verwesenden Leichnam des Römerreiches verfault sein, wäre Bethlehem nicht gewesen." Am 24. Mai, 15 Jahre später: „Unsere neueste Lektüre mit Stieve ist Nerling über Jean Paul. . . . " Er spricht hier von „großem Beifall". Das eigentliche und geniale Offenbarmadien der bis zum Zerreißen erlebten Hochspannung, vom Abgrund der Schwermut und der Höllennächte gerissen in den extatischen Aufschwung zum Paradiesischen, mußte Schlüter ergreifen aus seinem eigenen Mit-Leiden an der Zeit. Sehr nahe stehen ihm die französische katholische Romantik und Restauration. Mit Lamartine (1790—1869) teilt er das Studium Piatos und die liebende Verehrung für Sokrates, die der Phaidon in dem Romantiker weckte (La Mort de Socrates), er liebt besonders den „Jocelyn", auf den ihn die Droste aufmerksam macht 7 ). Der Stil von Joseph de Maistre (1753—1821) zog ihn an, die „bald wuchtige, bald witzige, mit Pathos, Sarkasmen, Paradoxien, Antithesen arbeitende, immer leidenschaftlich durchglühte Beredsamkeit" (Heiss) entsprach ') SK, Brie., I, S. 202 u. 203.
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ganz seinem Geschmack, doch seinen Ultramontanismus machte er nicht mit, wie er überhaupt allen Parteikatholizismus haßte. Vicomte de Bonald (1754—1840) kam ihm schon nahe durch Baader und Friedrich Schlegel. Er teilte die Begeisterung seiner Zeitgenossen für den großen Prediger in Notre-Dame de Paris, Lacordaire (1802—1861) und dessen Freunde, vor allem Graf Montalembert ( f 1870). Durch sie kam er auch mit dem früh verstorbenen Ozanam (1813—1853) in Berührung, den er mit Frau Lombard übersetzt (a. Th. a. 13. August 1843). Schlüter nimmt lebendigsten Anteil an dem kirchlich-religiösen Neuaufbau, für den die Romantik wieder den Boden geschaffen hat und der eben vor allem von Frankreich aus fruchtbar wird für andere europäische Länder. Chateaubriand ( f 1848, im Todesjahr der Droste), de Bonald, de Maistre und der Geistliche Lammennais schaffen mit Meisterwerken der Literatur und mit einem hinreißenden Stil — einer neuen Form, die Wahrheit zu verkünden — eine katholische Atmosphäre und begründen damit den Wiederaufbau eines katholischen Lebens nach den Revolutionen. Nachdem Lacordaire sich von Lammennais gelöst, immer noch angefeindet wegen seines Gegners, erreicht er seine größte Wirkung im rein Religiösen. Schlüter verfolgt seine Konferenzen und religiösen Schriften mit Aufmerksamkeit. Am 28. Juli 1850 schreibt er an Therese: „Ein neues Heft von Lacordaire interessiert mich im höchsten Grade und ich tue mir recht bene daran." Hier kann es sich nur um die Conferences de Notre Dame de Paris handeln, die in vier Bänden in Paris von 1841—1851 erschienen und von F. Lutz in Tübingen 1846—1852 bereits laufend in deutscher Sprache herauskommen. 1861 (am 29. Mai) nennt er Lacordaire zusammen mit seinen Freunden in München, Döllinger, Haneberg und anderen Professoren, über die „von vielen Orten her . . . weidlich geschimpft, resp. gewütet" werde. Der Infallibilitätsstreit, in dem Lacordaire zunächst wie Ketteier steht, ist gemeint. Im nächsten Jahr (a. 19. Juni 1862), empfiehlt der Bruder Therese, Junkmann auf Lacordaires Leben von Montalembert hinzuweisen; Lacordaire habe dem Freunde seinen Nachlaß vermacht. Sechs Jahre später berichtet er von der Lektüre der „Briefe an junge Leute" (Lettres du R . P. L. à des jeunes gens, 8. Aufl. 1873), die Montalemberts Bekannte, Mina Leduc, eine Westfälin, die nach Paris verschlagen ist, bei ihrem Besuch in Münster ihm vorliest (Brf. v. 15. Oktober 1866, UBMüSchlN): „Es war darin nodi sehr viel Schönes und Interessantes, namentlich wie Lacordaire erzählt, wie er aus einem völlig Ungläubigen ein Gläubiger geworden sei." Der hervorragende Pädagoge und Kulturpolitiker einer den Wissenschaften aufgeschlossenen Religiosität konnte und mußte ihn begeistern. Mina Leduc schickt ihm im Dezember von Paris die „Lettres" (s. Brf. v. 4. Dezember 1866, UBMüSchlN). Sie schreibt ihm, der Graf sei 10 Nettesheim, Schlüter
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krank, die Ärzte könnten ihm nicht helfen. Auf Wunsch der Freunde des Grafen sei in diesen Tagen der dritte Band der „Moines d'occident" herausgekommen. Vier Jahre später berichtet sie wieder von der schweren Krankheit des viel gefeierten und politisch vereinsamten Mannes. H a t t e sich Schlüter schon 1849 von der „großartigen Rede" Montalemberts aus seinem Zeitpessimismus aufrütteln lassen — (a. J u n k m a n n a. 4. November), und seinen Mut in der Politik bewundert, so verfolgt er nach dessen Ausscheiden aus der Politik und Hinwendung zu bedeutenden hagiographischen Arbeiten, die zur klassischen Hagiographie gerechnet werden müssen, diese Arbeiten des Gelehrten 8 ). Von einem einzigen Brief Schlüters an Montalembert aus dem Jahre 1856 wissen wir durch seine Mitteilung an Therese (am 23. Oktober), den er durch Anna H ü f f e r zugleich mit einem Brief an den Abbé Sisson, übrigens einer der bedeutsamsten Briefe Schlüters (s. Anhang, S. 195 ff.) überbringen läßt. Den Brief Schlüters a.M. kenne ich nicht. O b es sich um die Krise mit Veuillot handelte, gegen den freieren Bischof Dupanloup, dessen Äußerungen Schlüter ebenfalls verfolgt? Aus dem Brief der Leduc 1870 erfährt man, daß der Graf sich auch f ü r die Arbeiten Schlüters interessiert, ihm Anregungen zu Ubersetzungen aus dem Englischen gibt und ihm gute Schriften über das Konzil empfiehlt.
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) Siehe Lit.-Verz.
D e r preise Schlüter
SCHLÜTERS ZEITKRITIK UND IHRE
ÜBERWINDUNG
„Sapor et sapientia haben ein und dieselbe Wurzel." Schlüter Von der Baader-Schlegel-Zeit an bis zum Ende, durch das ganze Leben und Schaffen Schlüters zieht sich die Zeitkritik hin; aber sie hat seit den 50er Jahren an jener Stoßkraft, jenem positiven Schwung der Hoffnung und der Zuversicht, des Sendungsbewußtseins johanneischer Prägung verloren; die Stimmung gegenüber der Zeit wird immer pessimistischer, und die Abwehr immer krasser und härter. In einer Stunde der Selbstbesinnung auf die tieferen Gründe dieser Gestimmtheit schreibt er am 4. November 1849 dem fernen Freund in Berlin (Junkmann war Mitglied der Kammer): „Ich überlegte bei mir, ob es denkbar, daß ein höheres Ideal und höhere Anforderungen, feinerer Sinn und genaueres Urteil die Empfindlichkeit vielleicht mit den Jahren erhöhe, und die Welt imgrunde nicht trivialer und mehr im Argen sei als früher; von hier aus suchte ich mich dann in Deine Lage, Verfassung und Stimmung zu versetzen und stellte eigene Betrachtungen darüber an. Rein subjektiv ist die Sache aber dennoch nicht; wenigstens ist die Zeit schwach, unschlüssig und zerstreut und sehnt sich vielfach nach mächtigen, lichten Werten und großen Taten oder edlen und gottbegeisterten Charakteren. Suchen wir, dachte ich, wenigstens selbst etwas zu sein, uns von den schlimmsten Fehlern zu reinigen und ein Kleines nach Kräften zu tun, damit es besser werde. Weg den Blick von der Zeit, deren Anblick uns nur schwindlig, schwach und elend macht, und ihn auf uns und auf die Heroen der Vorzeit gerichtet; ist doch das eben das Hauptunglück, daß schier alle das Glück und das Unglück von außen erwarten und den Zeitgeist binden und lenken wollen, statt ernstlich bei sich selbst anzufangen. Wieviel indes eine höhere Begeisterung und Liebe, die (die) vielen Hemmnisse zu überspringen weiß, verbunden mit der Gabe des Wortes, vermögen, sah ich kürzlich wieder in der Rede Montalemberts; sie hat mir die Hoffnung wieder lebhaft gemacht, wie Gott vielleicht durch außerordentlich innen bewegte Menschen zur rechten Zeit mit heiliger Magie auf die Sozietät einwirken, sie aus ihrer Erniedrigung erheben, sie von ihren kleinen, verworrenen, selbstsüchtigen Gedanken, die nur irdisch sind, erlösen und unerwartet eine große allgemeine Versöhnung der Parteien und der Gegensätze bewirken kann. Mein bester Trost ist, daß zur Zeit der Erscheinung Gottes auf Erden die Gnade, wie es 10*
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scheint, die menschlichen Angelegenheiten in einem noch schlechteren Zustande a n t r a f , als in welchem sie sich gegenwärtig befinden. Wieviel Gutes ist seitdem aus der einen Grundlegung hervorgegangen, das menschlich-göttlich mit dem Gottmenschen m i t w i r k t in K r a f t seines Geistes; u n d sollte der Künstler seine H a n d von dem begonnenen, so hoch angelegten u n d so weit f o r t g e f ü h r t e n W e r k jemals zurückziehen können? Ich glaube, wir sollen in Masse lernen, d a ß n a t u r a indigentia Dei ist, u n d d a ß wir ohne I h n nichts Gutes verrichten können." Nicht immer bleibt diese geduldige, vertrauensvolle H a l t u n g im Alltag des geistigen K ä m p f e n s u n d Arbeitens gewahrt. „ Ü b e r h a u p t k o m m t mir unsere Zeit wie ein P a r t e r r e v o r " , sdireibt er am 18. Februar a n J u n k m a n n nach E r f u r t , w o dieser immer noch in das politische Tagesgeschehen als Deputierter der Volkskammer verwickelt ist, „in welchem das Publikum nach A u f f ü h r u n g von zwei A k t e n eines unbekannten neuen Stückes imponierend, geschmacklos u n d v e r w o r r e n genug w a r t e t und sich langweilt in Ungewißheit, ob noch ein dritter A k t k o m m e oder ob es zu Ende sei, w ä h r e n d sie es zu H a u s e weit besser haben könnten. Mitunter auch scheint mir der H i m m e l es darauf angelegt zu haben, alle Interessantigkeiten dieser Welt auf 1000 verschiedenen Wegen dem Zeitalter uninteressant u n d schal zu machen, ja sogar verächtlich, um es gleichsam zu zwingen, seinen Blick auf die Religion zu richten und sich zu fragen, was denn diese eigentlich sei, wolle u n d könne; ja mir däucht, n u r K i n d e r finden dieses Leben noch schön u n d seinen G e n u ß reizend, Erwachsene aber könnten nur noch um höherer Zwecke willen es f o r t f ü h r e n ; so abgebrannt u n d verödet ist es geworden nach so vielen Enttäuschungen und gescheiterten glänzenden H o f f n u n g e n u n d Aussichten. I n der T a t rechne ich ab, was auf dem Boden des Christentums geschieht u n d was noch hier u n d da, obwohl selten, v o n m ä n n lichem C h a r a k t e r u n d Gesinnung sichtbar w i r d , so mag das Auge k a u m irgendwo ohne Langeweile, Ekel u n d Ü b e r d r u ß verweilen. Geht es D i r nicht so, so ist es mir lieb; grämlich bin ich nicht, aber der Sachen alle ziemlich satt; auch ich möchte r u f e n : Rege bedeutend midi auf, versteht sich in der zeit-räumlichen Welt, denn in der höheren ist hiervon keine Rede." Später, als J u n k m a n n schon, endlich mit Therese verheiratet, eine Professur der Geschichte in Breslau bekleidet u n d Schlüter n u n daheim ganz auf f r e m d e Menschen bei seinen Ausgängen angewiesen ist, klagt er ihm: „Das Leben ist mitunter etwas leer u n d ledern geworden; daher ist es f ü r mich das Heilsamste, wenn ich so etwas zu treiben habe, das mich ganz mit all meinen K r ä f t e n in Anspruch n i m m t und mich anstrengend beschäftigt." — Eine Flucht in die Arbeit! I m O k t o b e r 1856 macht er jedoch seinem H e r z e n in der Öffentlichkeit Luft mit den „Antimaterialistischen Epigrammen", wie er sie
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nennt, „etwa 2 1 0 " , schreibt er der Schwester, die „am Schluß dieser Woche abgedruckt sein werden!" Sie kommen in „Natur und Offenbarung"1) heraus, einer Zeitschrift, die sich zum Ziele gesetzt hat, den christlichen Gedanken in die Naturwissenschaft der Zeit hineinzutragen, und deren Mitbegründer er ist. Dieses Organ wird für ihn seit 1866 das Ventil seiner Auseinandersetzung mit der Zeit, sowohl durch seine Buchbesprechungen als auch durch einige bedeutendere Abhandlungen (s. Lit.-Verz.). Die in sechs Fortsetzungen erscheinende Behandlung
der Frage: „Gibt es wirklich
eine christliche Naturphilosophie
und
kann sie eine rein machinistische sein?" erregte seinerzeit viel Aufsehen. Es ist selbstverständlich, daß Schlüter die Darwinistische „Affentheorie", wie man damals höhnisch sagte, wie alle, die Christen sein wollen, mit Sarkasmus und in grober Weise abtut, obwohl gerade in diesem Aufsatz Ansatzpunkte zu einer evolutionistischen Auffassung sidi finden. Das Ressentiment gegen die weltanschauliche Ausdeutung und materialistisch-atheistische oder pantheistische Ausbeutung des Darwinismus war eben zu groß, und die historischen Grundlagen des Entwicklungsgedankens noch nicht genügend ausgebildet, so daß eine Auffassung, wie sie heute von André in seiner Naturphilosophie und auch bereits in der katholischen Theologie vertreten wird: Pierre Teilhard de Chardins Forschungen und sein 1955 erschienenes Werk „Le Phénomène Humain"; Hermann Volks „Schöpfungsglaube und Entwicklung", 1957 u. a., sich hätte durchringen können. Der Jahrgang 1877 z. B. bringt eine Wertung von E. Zellers „Uber teleologische und mechanische Naturerklärung" (Berlin 1876), und noch 1880 schreibt der 79jährige über „Parallelen aus dem Reiche der Natur und des Geistes", ebenfalls zur Überwindung des Darwinismus. Er hatte sich auf dem Laufenden gehalten und ermattete nicht bis ins 84. Lebensjahr 2 3 ). Dennoch werden in den Briefen an seine Schwester immer wieder ohnmächtige Klagen laut, und Fragen, die nur vom Religiösen her, nicht eigentlich übergehalten und ermattete nicht bis ins 84. Lebensjahr 2 ). Dennoch werden Immer ist es auch die politische Konstellation, die die Menschen in Europa irritiert. 1859 erspürt der Erregte „eine heillose", zerstreute Unruhe, die mit der neueren drohenden politischen Gestirnstellung und einem unwillkürlichen Interesse, das man an Österreichs Lage nimmt, zusammenhängt, und die zarte Gefühle und fromme Vorsätze nicht recht zu Worte und zur ruhigen (Ausführung) kommen läßt, obwohl
*) Ich habe Herrn Prof. H . André für die gütige Überlassung der Bände zum Studium und seine natur-philosophische Beratung besonders zu danken. 2 ) Die „Walhalla Deutscher Materialisten", Münster 1861, entlarvt die Materialisten i. a. und speziell Feuerbach, Vogt, Moleschott, Büchner u. a. in Sprüchen, die in „Gallerien" aufnumeriert sind, ein Zeitdokument (siehe Lit.-Verz.).
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Schlüters Zeitkritik und ihre Überwindung
wir gerade jetzt in diesen ängstlichen Tagen (Kriegsgefahr!) uns einander etwas ermuntern und aufrichten sollten. Ich weiß nur einen recht gründlichen Trost bei den Wettern, die am Horizont heraufziehen und den schreienden Mißtönen, die von so vielen Seiten her ihrem Ausbruch vorangehen: daß Gottes Wille unfehlbar geschehen wird, durch die Menschen und trotz der Menschen, und daß er alles bis ans Ende vorhersieht und das Ganze rebus sie stantibus billigt, und daß Er nicht aufhört, wie für das Ganze so f ü r das Einzelne und Kleinste väterlich zu sorgen. Die Menschen mögen sich des auch unwürdig zeigen; denn Er ist nachsichtig und erbarmend und kennt ihre Gebrechlichkeit und Schwäche. Freilich wird seine Gerechtigkeit auch zur Zeit, wenn es Ihm beliebt, imposant genug sich kundgeben. Diese Zeit aber müssen wir Ihm überlassen, geduldig harren und nur sorgen, daß wir unsere Pflichten erfüllen und von Seiner Furcht und Liebe nicht weichen." November 1866: „Hier und in Paderborn ist gottlob alles wohl, doch haben viele Menschen das Gefühl, als gehen wir über Gluten, die nur leicht mit Asche bedeckt sind. Wir lesen kürzlich Dupanloups sehr ernste schaudererweckende Rede. Wie weit ist man gekommen im Bösen! Ich las zu meiner Herzensstärkung Alban Stolz' ,Kompaß f ü r die Zeit und Ewigkeit' und ,Englischen Gruß'; ich halte diesen f ü r den größten Poeten unserer Zeit" (a. Th. am 25. November). Auch die Gedichte und Mysterien der Konvertitin Emilie Ringseis beschäftigen ihn um diese Zeit und geben ihm Trost, wie er überhaupt an der seit der Romantik ständig fortschreitenden Konvertitenbewegung im europäischen Raum regen Anteil nimmt, vor allem in der aktiven Teilnahme an dem vielbändigen Werk „Konvertitenbilder aus dem neunzehnten Jahrhundert" des Freundes der Junkmanns in Breslau, des Konvertiten David August Rosenthal. Schlüter gibt Rosenthal aus seinen reichen Beziehungen in fast allen europäischen Ländern H i n weise, verschafft ihm Berichte von Konvertiten, die ihm bedeutsam erscheinen, gibt die nach und nach herauskommenden Bände zur Lektüre weiter und weitet so den Geist seiner Freunde f ü r das Geschehen in England, Frankreich, Rußland und Amerika; zudem nimmt er innigen Anteil an Rosenthals Person. Seit November 1864 fehlt in k a u m einem Brief ein Gruß an den fleißigen Sammler und Verwalter so kostbaren Gutes unter dem Motto des 1. Bandes „Deutschland" I (1865): „Viam veritas elegi" (Ps. 118, 30). Dieser Band beginnt mit Graf Friedrich Leopold zu Stolberg, Gräfin Sophie Stolberg und Maria Alberti, die in Münster konvertierten und wirkten. Wenn Schlüter in solchen Unternehmungen K r ä f t e aufwachen spürt, die die Zeit zum Guten verändern könnten, so verliert er nicht die Hoffnung, daß sie in künftigen Generationen fruchtbar würden, vor allem innerhalb des Christentums selbst, denn es gibt seiner Meinung nach „viele Christen,
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die in Wirklichkeit Unchristen sind". So verfolgt er auch die zur historischen Treue sich entwickelnde Hagiographie, besonders in dem Werk des Konvertiten Ludwig Clarus (Wilhelm Volk), dessen „Glaubenslehrjahre" (1852) und „Simeon. Wanderungen und Heimkehr eines christlichen Forschers" (1863) zu den interessantesten Zeitbüchern gehören (s. Lit.-Verz.). Schlüter berichtet seiner Schwester über die Lektüre des „Lebens und der Offenbarungen der hl. Birgitta" (in vier Bänden, 1856, 2. Auflage 1888), das Clarus nach den Quellen außerordentlich realistisch erzählt, ferner von den bahnbrechenden Darstellungen der „Geschichte des hl. Franz Xavier" (1865) und des „Lebens des hl. Antonius (1867 in Münster). Mit Clarus stand Schlüter in Korrespondenz (vier Briefe UBMüSchlN von 1852, 1862, 1863: April und Juni). Schlüter schickt ihm sein neu aufgelegtes Buch „Welt und Glauben". Clarus, 1807 geboren, hatte erst im 51. Lebensjahr konvertiert und war dann unermüdlich tätig, die lebendigen Quellen des kirchlichen Gemeinschaftsbewußtsein zu erschließen. Häufig klagt Schlüter über das Nachlassen der geistigen Interessen bei seinen Schülern; in dem Brief vom 20. Februar 1867, der seine eigene ungeheure geistige Beweglichkeit zeigt, gesteht er Junkmann, daß auch seine akademische Tätigkeit auf ein Minimum reduziert sei. Er ist ja nicht Ordinarius und darf bestimmte Pflichtkollegs nicht mehr lesen. Die Studenten aber sind Brotstudenten geworden. „Durch die Macht der Verhältnisse und Umstände", schreibt er, „ist meine Lehrwirksamkeit ein allmählich schwindendes Licht, bevor seine Zeit gekommen und meine Kräfte abnehmen. Miseri, qui ceciderunt ante diem. Ich bin dabei gelassen und ergeben. Denn vieles im Gange der menschlichen Dinge läßt sich so wenig ändern wie der Gang der Gestirne. Ich sehe darin Gottes Gesetz und Fügung." — „Die Zeit ist in vieler Beziehung öde, traurig und schaurig; sollen wir nicht noch einmal, da wir es noch können, zusammen sein?" fragt er Therese am 20. Juli 1878, als aus dem regelmäßigen Ferienbesuch in Münster, der ihm, menschlich gesprochen, Trost und Zuflucht ist, nichts werden soll 3 ). Aber er glaubt auch den Lieben, die ebenso leiden, etwas sein zu können, er will Junkmann aus dem „Sandmeer der Gelehrsamkeit" herausholen; er soll „wenigstens den Kopf über seinen dürren Wellen" halten, und Mensch bleiben. Das trifft die Historie der Kleinkrämerei, die an der Tagesordnung ist und vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht, und die die Professoren der Historie verknöchern läßt. Das Ende des Biedermeier? Vielfach j a ! Doch man darf nur mit Vorsicht den Ubergang des deutschen Biedermeier in die Haltung des Nationalismus des Reichs, die ja gerade aus dem Historismus herauswächst und ein später Trieb der Romantik und 3) Vgl. auch den letzten Brief a. T h . v. 16. Juli 1 8 8 3 , S. 184.
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des Idealismus ist, urteilen. Es ist schon schwer genug, die Phänomene abzutasten. Die von der Romantik erschlossenen Werte in die Breite fruchtbar machend für die Bildung, f ü r Leben und Kultur, erfaßt das Biedermeier imgrunde doch nicht das zu Bewältigende der Jahrhundertforderung, die geistig-weltanschaulich-religiöse Kontaktnahme mit dem Fortschritt der Wissenschaft, mit der Naturwissenschaft und Technik insbesondere; das eben ist, historisch gesehen, seine Tragik, eine Tragik, die im Wesen der Erscheinung selber liegt. Die ungeheure Zersplitterung geht weiter, K r ä f t e setzen an, verschwinden wieder und die Großmacht-Hybris des Reichs, einer zwar ungeheuren Leistung, wölbt sich über einem Chaos, in dem die revolutionären Mächte brodeln und gären. Schlüter ist nicht allein mit seiner Zeitkritik. Aber die zeitkritischen Dichterlinge der späten Jahrzehnte stehen doch mehr oder weniger isoliert da; man findet nicht mehr zur Gemeinsamkeit einer Generationsbewegung, nicht einmal bei dem forcierten Nationalismus nach 1870. So sind Schlüters Klagen und die schwermütige Stimmung mancher seiner Briefe ein Zeichen der Zeit. Auch die katholischen Menschen sind von dem neuen Nationalismus infiziert, sie bemühen sich, ihren Stein oder ihre Figur in oder an den Bau zu bringen. Schlüter macht das von außen Herankommen nicht mit. Wie er Wilhelm Raabe mit großem Interesse liest, dessen „Hungerpastor" (1864), wie er sagt, in Münster „furore" mache, wie er Robert Hamerlings „König von Sion" (1869), ein Hexameterepos in zehn Gesängen, in seinem Werden verfolgt, studiert und kritisiert, so unterstützt er in den Jahren nach 1880 die episch-lyrischen Arbeiten seiner Mitarbeiterin Antonie Jüngst (1843—1918), ihre Vorarbeiten zu „Konrad dem Staufer" (1882), und die Stuttgarter Dichterin — wenn man sie noch so nennen darf — Thekla Schneider in ihrer Konradindichtung „Aus alten Tagen", die erst ein J a h r nach seinem Tode herauskam (1885), wie früher die ganz verschollenen lyrisch-epischen Versuche von Maria Grundschöttel, vor allem ihren „Bernhard". Thekla Schneider ist noch 1883 zu Besuch in Münster. Der „Konradin" von Toni (Antonie Jüngst) sei „äußerst günstig aufgenommen worden", teilt er im Weihnachtsbrief 1882 Therese mit und gibt in dem darauf folgenden, am 7. Januar, seiner Freude darüber Ausdruck, daß sie Wilhelm die fünf ersten Gesänge daraus vorgelesen habe, wie dieser ihm in seinem Weihnachtsbrief schrieb (Schi. a. J. am 7. Januar 1883). Danach ist das bei Anselm Salzer angegebene Jahr 1883 zu korrigieren (Literatgesch. I I I , S. 1545). Er rühmt „Die Apostel des Herrn" von Edmund Behringer (1878) 4 ), eine „Welt- und Lebensdichtung" (Salzer), Schlüter nennt sie „ein großes, visionäres Gedicht, religiös tief empfunden, nicht 4
) Vgl. Brief a. Th. v. 16. Juli 1883.
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ohne bedeutende Vorstudien entworfen und häufig nicht ohne reiche Phantasie ausgeführt, mitunter aber dunkel und schwer zu verstehen, und noch mehr vorzulesen. „ H e r r Ciaassen findet ein besonderes Wohlgefallen daran und liest es sehr schön vor. Einmal die Woche am Abend kommt H e r r Ciaassen zu uns." (16. Juli 1883.) Wie früher Josef Papes Epos „Der treue Eckart" (1854) und sein „Schneewittchen vom Gral" (1856) vorgelesen wurde und Beachtung f a n d wegen der allegorischen Versinnbildung mittelalterlicher Zeitepochen, in denen sich die Gegenwart wiederspiegeln könne, so begrüßt er jetzt jedes künstlerische Bestreben, einer Verchristlichung des Reichsgedankens aus der damaligen Konzeption des Mittelalters heraus, von innen her also, aus einem entflammten und entzündeten Herzen heraus, die Wege zu bahnen. Was diese Frauen mit zähem Idealismus leisten mochten, ist sicher nicht spurlos vorübergegangen; Schlüter macht aus der dichterischen Leistung, die da zustande kommt, das Beste; sie war sein Trost. Denn er selbst hatte keine Verhältnis zu diesem Reich preußischer Prägung. Indem er sich dem romantischen Organismusgedanken über den Staat aus innerer Überzeugung angeschlossen hatte und ihm treu blieb, mußte er das Zerbrechen des alten Reichs, die Preußenpolitik, die zunehmende Liberalisierung und Demokratisierung — von Tocqueville ist bei ihm nie die Rede — und später das Heraufkommen des vierten Standes und die Fortentwicklung des kommunistischen Programms mit der steigenden Industrialisierung — alles dieses in seine Zeitkritik einschließen und die neuen politisch-sozialen Bedingungen des Lebens als geisttötend, zersplitternd, zerreißend und verwirrend bekämpfen, in ohnmächtigem Zorn wirkungslos, nicht zwar für den Einzelnen, wohl aber für das Ganze seiner Gegenwart. So bleibt Schlüter, der Dichterphilosoph, Richter seiner Zeit, als wacher Beobachter auf dem Posten, um, „das Alte" bewahrend, imgrunde nur jene düsteren Prophezeihungen des Friedrich Schlegel sich erfüllen zu sehen (vor allem in dem erstaunlichen Briefwechsel Friedrichs und Dorotheas 1818—1820) 5 ) während Dorotheas Aufenthalt in Rom. Abgesehen von seinem intimen Strahlungsbereich — dem allerdings die Fernwirkung auf die katholischen Literatur- und Kulturbestrebungen dieser Zeit nicht abgesprochen werden kann — war schließlich, so sah es aus, alles „umsonst". Dieser tragische Zug gehört zum Phänomen des Biedermeier, einer Lebens- und Kulturform, die aus tausend Kanälen gespeist, in tausend Kanälen fortrinnend, langsam sich ausblutet und nur noch in Resten hier und da in dem folgenden J a h r hundert in der vielbesprochenen und kritisierten Bürgerlichkeit (Fontane, Thomas Mann) und nicht nur Spießbürgerlichkeit fortexistiert. 5 ) Hrsg. v. Heinr. Finke: „Der Briefwechsel Friedrich und D o r o t h e a Schlegels 1818—1820." 1923, Kos. u. Pust.
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Schlüter ist dennoch keine durchaus tragische Gestalt, denn er ist ja nicht in der Existenz des „Biedermeier", von dem seine Gestalt geprägt ist und das er wesenhaft mitprägt, aufgegangen. Er ist auf „Hoffnung ohne alle H o f f n u n g " gestellt. Friedrich Sengle weist nachdrücklich auf den religiösen Charakter der Resignation des Biedermeier hin; er spricht von dem „religiösen Nimbus", der die Möricke, Stifter, Gotthelf umgibt. Ein religiöser, ein prophetisch-priesterlicher Nimbus umgibt Schlüter allerdings, besonders im Alter. Schon sein Äußeres verführte dazu, ihn so zu sehen: das lange weiße H a a r , das ein von innerem Schauen „erleuchtetes" Blindenantlitz umrahmte (siehe Foto aus dem Besitz der Familie Hövel S. 146). Die Legendenbildiung um ihn wucherte schon zu seinen Lebzeiten; sogar in katholisch - priesterlichen Kreisen wurde er zu einem „geistlichen Führer", einem „Beichtvater", vor allem seiner großen Freundinnen Annette Droste und Luise Hensel geprägt, und dies abgesehen von seiner vielberufenen Mentorschaft. Wer die voraufgegangenen Darlegungen über seine Ansichten, Methoden, seinen pädagogischen Eros und seine menschliche H a l t u n g unbefangen überschaut, muß eine solche Wertung und Kennzeichnung als äußerst bedenklich, ja als Fehldeutung von nicht geringer Tragweite ablehnen und ein objektives sachliches Zusammenschauert aller Faktoren für die geistesgeschichtliche Erfassung der Gestalt Schlüters fordern. Tatsächlich ist auch z. B. die Droste-Forschung noch heute mit der in ihr umgehenden Legende von der bloß „christlich-frommen Gemeinsamkeit" mit Schlüter, die dann durchaus nichts mit dem „Durchbruch der Droste zur Lyrik und zur Prosa" zu tun habe, der auf das Konto Schüttings komme, belastet, eine, wie wir sahen, in dieser Form nicht haltbare Folgerung. (Vgl. Clemens Heselhaus über: Josefine Nettesheim, „Schi, u. d. Dr.", Dr.-Jb. 1959, S. 181). Ein revidiertes Schlüterbild, dem man sich nicht mehr verschließen sollte, muß auch eine Revision z. B. des Droste - Bildes zur Folge haben, wobei allerdings gesagt werden muß, daß die Droste bei vielen „biedermeierlichen" Zügen im engeren und weiteren Sinn ihre überragende „klassische" Form gefunden hat. Es darf nicht übersehen werden, daß „der religiöse Nimbus" keine „sakrale Weihe" hat, die den „Beichtvater" erst zu dem macht, was er sein darf und muß. Der Pfeife schmorende alte Professor hinter seinem Gläschen Wein oder beim schwarzen Morgenkaffee, auf dem täglichen Spaziergang ins Freie, wo er jeden Hauch und jede Stimme der „ N a tur" genießerisch aufnimmt, die ganze Freude am „gold'nen Überfluß der Welt" wie auch am genußreichen Gespräch mit Menschen seines Geistes, der Weg auch des Greises zum Gottesdienst am Arm seiner alten Hausdame Emilie Dehne, dieser Alltag biedermeierlicher Prägung wird durchlichtet von der Strahlungsmacht sakramentaler Vergöttlichung der Erlösten, die Schlüter mit einem Lieblingswort des Petrus
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(Briefe 2, 9) gern zitiert: „Ihr seid ein auserlesenes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliger Stamm . . . " und mit dem er Ernst macht. Der Historiker Aloys Schulte, der N e f f e Junkmanns, das Patenkind von Schlüters Schwester, der sich gern der Jahre erinnert, da er, meist während der Ferien, Schlüters Vorleser und Schreiber war, meint in seinen Erinnerungen an Professor Christoph Bernhard Schlüter (1801 bis 1884) (s. Lit.-Verz.), aus dieser Kraftquelle her sei es auf die ihm eigene Weise geistig-religiöser und künstlerischer Durchdringung der Dinge auch in der zersplitterten, wie auf einem Vulkan lebenden Zeit noch möglich gewesen, bis zuletzt einen Kreis um sich zu versammeln, in dem „völlig die Spötter fehlten", dem er „Einblicke in das Hochgeistige, Edle und Schöne" bot. „Sein Charakter war fleckenlos, kaum je sah ich jemanden wieder, dessen Bildung so weit griff und dessen Herzensgüte so unbegrenzt war. Noch heute (1932) danke ich Schlüter, daß er so manches Fenster aufschlug, durch das ich einen Ausblick gewann in die Welt der Wissenschaft, der Dichtung und der Ideale." Die „Erinnerungen" haben den persönlichen Ton, der den Nachrufen und Gedenkfeieransprachen dieser Zeit eignet. Sie gehen gern ins Detail des Alltags ein, loben Wissen und Universalität des blinden Professors, verschweigen aber das Hintergründige und Untergründige, das allem Detail erst seinen Zusammenhang gibt. Schlüter starb am Abend des 14. April 1884 „still, fromm, groß". Sein totes Antlitz strahlte „eine jungfräuliche Schönheit" aus, so berichtet ein Augenzeuge. Seine Bestattung geschah mit dem Gepränge eines akademischen Zuges dieser Zeit. Hunderte seiner Freunde, Verehrer, Schüler umstanden das mit Blumen und Kränzen geschmückte Grab. Die Liebe überdauerte es, bis mit dem Aussterben der ihm zu Lebzeiten geistig Verbundenen sein Andenken in der Öffentlichkeit „als nicht mehr zeitgemäß" fast ganz verschwand. Schlüter hatte eines Tages seinem lieben Freund und Schwager Junkmann bekannt: „Das Leiseste hat vielleicht noch eine große Gewalt über mich, und vermag tief in meinen Lebenskern einzudringen, während es mir oft unheimlich wird, wenn ich bemerke, wie das Laute so wirklos und stumpf an mir vorübergeht, als wäre ich an Geist und Gemüt taub. Ruhe, Stille und Ergebung und Abwarten, bis es Gott beliebt, ein Körnchen Manna auch in unser H e r z zu senken, ist mein Geschmack . . . Sapor et sapientia haben ein und dieselbe Wurzel." So dachte auch Stifter, dessen „Studien" Schlüter um die Mitte des Jahrhunderts Luise Hensel zur Lektüre anbot (17. März 1852) und
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ihr dann zugeschickt hatte, da sie wünschte: „Besonders würde ich gern Stifter kennen lernen, von dem ich schon so viel gehört . . ( 1 7 . März 1852). Am 16. April teilte sie ihm dann mit, sie werde das Buch — es muß sich um die beiden letzten, 1850 erschienenen Bände der „Studien" gehandelt haben — bei ihrem baldigen Besuch mitbringen; sie möchte mit ihm darüber sprechen. Der Vorspruch, den Stifter der mit „traurig-süßem Gefühl" verkosteten „Mappe meines Urgroßvaters" gegeben hatte, dürfte auch Schlüters Wesen entsprechen: D U L C E EST, I N T E R M A J O R U M VERSARI H A B I T A C U L A E T VETERUM DICTA FACTAQUE RECENSERE MEMORIA. EGESIPPUS.
ANHANG Briefe
AUSZÜGE AUS DEN BRIEFEN CH. B. SCHLÜTERS U N D SEINER SCHWESTER THERESE A N DIE ELTERN AUS GRÄFRATH ÜBER DIE AUGENOPERATION 1841 U N D 1842 Ia ) 1.
Operation G r ä f r a t h , Dienstag, den 4. Oktober 1841
Liebe M u t t e r ! Leider sind es jetzt schon über IV2 Wochen, seit ich weder äußere noch innere Mittel gebrauche und vergebens auf gutes Wetter harre; zwischen die Operation und mein Auge legen sich die Wolken des Himmels und ihre Regengüsse wie ein Verhängnis und mir bleibt nichts übrig als das alte Universalmittel Geduld, übrigens ergeht es Therese und mir an Leib und Seele wohl, nur d a ß das wilde düstere Wetter etwas niederdrückend w i r k t . Gestern fragte ich H e r r n de Leuw, was nun geschehen würde, wenn die gegenwärtige Verfassung des Himmels 4 Wochen anhielte; er antwortete mit Lachen, wir müssen dann noch etwas länger warten. E r ist unbedingt entschlossen, mich nur bei gutem Wetter zu operieren; ein mir zustoßender Rheumatismus, meint er, könne alles verderben. . . . G r ä f r a t h , den (10.) O k t o b e r
1841
Liebe teure M u t t e r ! „Er (Herr de Leuw) ließ sich die Krankheitsgeschichte meiner Augen nochmals ausführlich erzählen. Jüngel in Berlin, sagt er, rät, möglichst große Pupillen zu bilden. Grundfalsch, da keine A t t r a k t i o n der Pupille stattfindet, so w i r d das entwöhnte Auge von der übermannenden Lichtmasse schrecklich mitgenommen, deren es sich nicht erwehren kann. Eine Pupille, wie ein Mückenkopf groß, sei vollständig hinreichend; sie erweitere sich durch die Tätigkeit des Auges allmählich von selbst, und, was das Wichtigste, sie fange an zu vibrieren. Gegen das Obelbefinden und große Mißbehagen im Leibe, w o r a n ich so häufig zur Zeit der Aequinoktialstürme und Regengüsse leide, und welches so oft Vorbote einer Augenentzündung und Trübung bei mir w a r , hielt er ein China decoct mit Salmiak f ü r das beste Gegenmittel." . . . la ) In dem UBSchlN sind Briefberichte an die Eltern aus G r ä f r a t h über die beiden Augenoperationen 1841 und 1842, aus denen ich die wichtigsten T a t sachen im Auszug bringe. Diese genügen, um die durch die Droste-Briefe (v. 26., [28., 29.] O k t . [1841] an die Mutter, v. 29. Okt. u. 14. Dez. 1841 a. Elise Rüdiger) verbreiteten Ansichten zu korrigieren. Erstaunlich ist, d a ß die Droste im Gegensatz zu den andern Mitgliedern des Freundeskreises weder richtig orientiert war, noch Schlüter nach G r ä f r a t h geschrieben hat. Ihre seltsamen Hemmungen entsprangen ihrem außerordentlichen Pessimismus gegenüber den Operationen, mit dem sie allerdings Recht behielt. Sie waren vergeblich. Ihre Äußerungen muten trotzdem fast kalt an (7. Juli. 1842 a. Schücking, 10. O k t . 1842 u. 27. April 1845). Schlüter ließ die von ihm a u f bewahrten Briefe mit der N o t i z versehen, die in G r ä f r a t h geführten Tagebücher, die er seiner Schwester diktierte, zum Vergleich einzusehen. Diese im SchlN J befindlichen Tagebücher konnte ich Umstände halber nicht einsehen; sie d ü r f t e n aber bezüglich der Operationen nichts Wesentliches mehr zu den Briefberichten hinzufügen.
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Anhang G r ä f r a t h , den 14. Oktober (1841)
Lieber Vater! Es geht uns noch immer gut; heut Nacht hat Ophere z w a r ein p a a r Stunden lang etwas Schmerzen gehabt, aber jetzt ist es schon wieder vorüber, und so groß waren sie auch nicht; er meint, er habe viel mehr Licht im Auge; ob m a n daraus auf etwas schließen kann, weiß ich nicht und der H o f r a t ist noch nicht hier gewesen. . . . Stoffer ist noch immer guter Laune. H e u t Morgen h a t er sehr viel Guitarre gespielt, und ich mußte dazu singen. Ich wollte, d a ß Ihr nur so guter ruhiger Dinge wäret, wie wir es sind . . . G r ä f r a t h , den 15. O k t o b e r 1841 Liebe teure Eltern! Soeben verläßt uns H e r r de Leute; er hat das operierte Auge am Tageslicht besehen und erlaubt demselben heut wieder den Zutritt in meine Stube zu gestatten. D a ich meine, es werde Euch vielleicht angenehm sein, von mir selbst den gegenwärtigen Zustand meines Auges zu erfahren, so habe ich Therese gebeten, sofort diese Zeilen wieder zu schreiben. Das operierte Auge befindet sich wohl und hat ein Gefühl von Behaglichkeit; ich habe z w a r diese wie vorige Nacht ein p a a r Stunden einige Schmerzen in demselben gehabt, ähnlich wie man empfindet, wenn eine Schnittwunde heilt, nach dem Aufstehen aber habe ich denselben gänzlich verloren. Auch ist keine E n t zündung vorhanden und also die G e f a h r einer solchen überhaupt wohl gänzlich vorüber. Die kleine künstliche Pupille liegt in der Mitte des Auges, nur tiefer als die natürliche; es w i r d von nun an täglich Belladonna eingetröpfelt, damit sie sich f o r t w ä h r e n d erweitert. Die Einwirkung der Belladonna hält wohl f ü r 24 Stunden nach, bei empfindlichen Augen auch wohl noch länger. D a s Sehen anlangend, so hat sich die Lichtempfindung und die Reizbarkeit f ü r Farbunterschiede bedeutend vermehrt; die Unterscheidung aber ist noch wenig besser wie vor der Operation, was aber H e r r n de Leuw nicht zu befremden scheint. E r h a t heute Morgen bei genauerer Besichtigung der Pupille ein weißes Fleckchen in derselben bemerkt; er behauptet aber, dasselbe werde sich von selbst binnen kurzem absorbieren. E r meint, d a ß binnen wenigen Stunden das Unterscheiden der Gegenstände anfangen und immer zunehmen werde. Zu unserm Domine h a t er sich geäußert, er habe die H o f f n u n g , d a ß ich, wenn auch nicht feine Lettern lesen, doch diejenige Unterscheidung der Gegenstände wiedererlangen werde, welche zureicht, um allein ausgehen und f ü r sich fertig werden zu können. Wir sind sohin vor wie nach auf H o f f nung gestellt; dennoch bin ich überaus f r o h , den entscheidenden A k t hinter mir und die Aussicht auf ein baldiges Zusammensein mit Euch und die Rückkehr in den gewohnten Kreis meiner Beschäftigungen so noch vor mir zu haben. Wir können nun ruhig dem H i m m e l das weitere anheimstellen, nachdem wir getan, was in unserer Macht steht. Die karge, depotenzierende Kost in den vier verflossenen Tagen, wer sollte es sagen, hat mich nicht so niedergeschlagen wie die Entbehrung des allnährenden Lichtes (er mußte im D u n keln liegen und sitzen); nimmer hätte ich geglaubt, d a ß die bloße Empfindung des Tageslichtes f ü r das Wohlbefinden meines H a u p t e s und f ü r meine ganze leibliche Ökonomie eine so bedeutende Sache sei; das schier Unleidliche dieser Entbehrung milderte sich indes in den letzten zwei Tagen durch Musik, wodurch, wie auch Therese f a n d , die Luft gleichsam um uns leichter, dünner und höher und die unerträgliche Last gelüftet zu werden schien . . .
Briefe aus G r ä f r a t h
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G r ä f r a t h , den 16. O k t o b e r 1841 Früh am Morgen kam der H o f r a t , schien mit Opherens Augen zufrieden •and erhellte das Zimmer, so d a ß ich alles wie sonst arbeiten, lesen und schreiben kann. Ophere schien auch in heiterer Stimmung, dann kamen nach dem Essen all die schönen, z. T. so w a r m e n Briefe. . . ." ( G r ä f r a t h ) , den 13. April (1842) Liebe Eltern! . . . Meinem Auge ist noch immer der Zutritt so wie der frischen Luft so auch des vollen Tageslichtes nicht gestattet; ich m u ß ihm noch den Rücken zuwenden, und auch einen beschattenden Schirm tragen. So k ü h n und ungeniert H e r r de Leuw bei der Operation v e r f u h r , so überaus vorsichtig, ja fast ängstlich v e r f ä h r t er mit mir : etzt, nachdem dieselbe geschehn. Die Bellad o n n a - T r o p f e n zur Erweiterung der neuen Pupille sind wegen einer gelinden Röte seit zwei Tagen ausgesetzt worden, dagegen hat er mir Pillen mit Senega verschrieben, die meinem K o p f e wohltun und die Spannung im geheilten Auge f ü h l b a r vermindern. Er findet das Auge gut und m a h n t mich zur Geduld; d a ß er auf jene gelinde R ö t e wenig Gewicht legt, leuchtet mir auch daraus ein, d a ß er mir erlaubt, leichtere Fleischspeisen zu genießen und etwas Moselwein zu trinken. Vorigen Sonntag Morgen, w o wir eine dunkle kalte Schneeluft hatten, b e f a n d ich mich sehr übel; das Befinden wirkte auch auf meine Stimmung ein; mir schien alles vergebens. Als der junge de Leuw eintrat, mir die Belladonna einzutröpfeln, bat ich ihn, mir zu sagen, ob ich H o f f n u n g habe, einigermaßen wieder sehend zu w e r d e n ; er erwiderte mir, er habe selbst seinen Vater zu H e r r n Quint, den M a n n einer jüngst operierten Frau, die uns gegenüber wohnt, sagen hören, ich w ü r d e in wenig Tagen a n f a n gen, die Gegenstände zu unterscheiden. Auch der junge Apothekergehilfe Landschütz, der mich heut Abend besuchte, um mir eine galvanoplastische Münze zu bringen, die er gemacht hatte, ein sehr grader, biederer M a n n , sagte mir, er habe während seines Aufenthaltes zu G r ä f r a t h noch keinen Fall erlebt, w o das Unterscheiden vor vierzehn Tagen nach der Bildung der Pupille angefangen. . . . Auch H e r r de Leuw erinnerte mich an die E n t w ö h n u n g des Auges vom Sehen seit mehr denn zwölf Jahren und an die veränderte Lage der überdies noch einstweilen sehr kleinen Pupille. L a ß t uns also h o f f e n ! " . . .
2.
Operation ( G r ä f r a t h ) , den 13. April (1842)
Liebe Eltern! . . . (Therese) hatte mir so tröstend aufrichtend zugeredet, d a ß ich mit gutem M u t und ununterbrochener Fassung die Sache über mich ergehen lassen konnte. Die Operation w a r schmerzhafter und dauerte länger als das vorige Mal, die neue Pupille, welche etwa noch einmal so groß ist als die vorige, so d a ß sie allenfalls ein kleines E r u d a t vertragen kann, ohne geschlossen zu sein, w a r d von H e r r n de Leuw nur ein weniges oberhalb und rechts von der Mitte des Augensterns angebracht, welcher dort aber unerwartet die Cornea so verhärtet f a n d , d a ß er k a u m durchzudringen vermochte, wozu noch eine Zusammenwachsung der Iris hinter derselben sidi gesellte, auf die er gleichfalls 11 Nettesheim, Scblüter
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Anhang
nicht gefaßt w a r , und wie er sie vorigen H e r b s t an dem unteren Teile des Sterns nicht gefunden hatte. Desungeachtet brachte er die Pupille in der gewünschten Gestalt und Lage zustande, und unbeschreiblich ist das G e f ü h l der Ruhe und Stille, welches, nachdem die Sache glücklich abgemacht w a r , sich meiner bemächtigte. Gleich nach der Operation w a r um mich ein so helles Licht, als schiene die Sonne; Unterscheidung aber w a r wenig vorhanden. Indes w a r mein Auge auch sehr heftig angegriffen und H e r r de Leuw versicherte mir, das Auge sei gleich beim ersten Schnitt über und über rot geworden und das Weiße habe Blasen bekommen, so d a ß er sich sehr habe in acht nehmen müssen, diese nicht zu verletzen; so habe er das Auge bis jetzt noch nicht gekannt. H e r r de Leuw und Amanuensis Schneider machen mir indes gute H o f f n u n g . Indes darf ich Euch auch nicht verschweigen, d a ß H e r r de Leuw, welcher sich zu uns setzte und sich noch lange mit uns unterhielt, mir beiläufig bemerkte, er habe wohl zum dritten und vierten, ja wohl zum f ü n f t e n Mal operieren müssen, bis eine Pupille gelungen so, d a ß das Leben eingetreten sei. Gestern Nachmittag hatte ich ein p a a r Stunden starke Schmerzen am Auge, und es floß viel heiße Feuchtigkeit heraus. Nach 7 aber, nachdem ich eine Suppe genossen, w u r d e mein Befinden besser und der Schmerz legte sich. Audi in der Nacht und heut Morgen waren die Schmerzen unbedeutend und jetzt f ü h l t sich das Auge nur noch etwas trocken. Als H e r r de Leuw heute Morgen die neue Pupille besah, w a r dieselbe o f f e n und hatte sich nach Theresens Meinung noch nach unten erweitert; an der einen Seite w a r etwas Blut eingetreten, welches sich aber in kurzem absorbieren wird . . . G r ä f r a t h , den 16. April 1842, Sonnabend, 5 U h r Liebe Eltern! . . . Ich bin noch immer auf dem dunklen Saale (seit Dienstag) und sehne mich nach Licht und Luft, . . . doch befindet sich mein Auge gut, — ist durchgängig fast ganz schmerzlos und f ü h l t sidi besser; das neue Augenwasser bek o m m t mir sehr wohl. Wir lesen täglich Gügler l b ) spielen mitunter etwas auf dem Rokoko Spinette, lassen die Spieldose klingeln und wickeln G a r n . . G r ä f r a t h , den 25. April 1842 . . . Die Wiesenbäche raunten und plätscherten und der Wind sauste melodisch durch die Tannen und Lärchen und von fern hörte man von Zeit zu Zeit das Pochen der Stahlhämmer an der Wupper, vom Winde herübergetragen, und alles w a r wie vorigen Herbst vor einem halben Jahre. In der tiefen Waldesstille und in der Frische der Bergluft w i r d das Gemüt klar und stille; mir war, als stehe die Zeit still und sei von der Ewigkeit nicht verschieden; so lange die Seele noch in dieses Lethe tauchen k a n n und sich beruhigt f ü h l t , hat sie nichts verloren. Die Wiesen standen voll Schlüsselblumen und einige Singvögel, welche hier und da die tiefe Stille unterbrachen, w ä h r e n d im vorigen Herbst nur mitunter ein Rabe sein eintöniges Gekrächz hören ließ, zeigten, d a ß das J a h r am Steigen war, so wie damals im Sinken; umgekehrt w a r damals meine H o f f n u n g in betreff meiner Augen in etwa höher gestiegen, w ä h r e n d sie mir lb
) Jos. H e i n r . AI. Gügler, Exeget.
Briefe aus Gräfrath
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jetzt in etwa sich geneigt hat. Aber in der höhern Atmosphäre über der Zeit, wohin die Seele sich erhebt, so oft sie an Gott denkt, gibt es keinen Wechsel der Jahreszeit, kein Steigen oder Sinken der Hoffnung, sondern nur ein ewiges, himmelklares Gottvertrauen, welches die Seele geschickt macht, bei ihrer Rückkehr in das Zeitgebiet alles leicht zu tragen, was ihr auferlegt wird, und auch das Schwerverdauliche, was das Leben ihr eingibt, verdauen und zu ihrem Heile aneignen zu können. . . . Diesen Sommer denke idi den ganzen Baader wieder durchzunehmen, zugleich habe idi große Lust, etwas zu schreiben. . . .
BRIEFE SCHLÜTERS AN JUNKMANN UND THERESE SCHLÜTER-JUNKMANN 2 ) Mein lieber Herr Junkmann!
Münster, den 8. November 1834
Nicht mit Ihnen, sondern mit mir war es diesmal an der Reihe, Schreibens wegen sich zu entschuldigen, der ich weder auf Ihren letzten Brief geantwortet noch auch Ihrem Wunsche gemäß an Fräulein L. Hensel geschrieben hatte. Desungeachtet war ein Grund für beides in mir, den Sie, als gleichsam ein Gespinst von Gründen, gemischt mit gereiztem Affekt, wissen oder erraten werden, wenn ich nur an Freund Lutterbecks3) Brief erinnere. Genug hiervon. Ich danke Ihnen für Ihren letzten mir äußerst interessanten Brief, der ein ebenso treues Abbild des menschlichen Lebens überhaupt als von Ihnen und Ihrem quecksilbernen Wesen enthält. Mir ist unter andern dabei eingefallen, daß es in der Welt unter Menschen viel interessanter hergehen, auch selbst besser mit allem stehen würde, wenn wir alle minder formell und affektiert, offener und aufrichtiger uns einander mitteilten, statt Natur und Wahrheit Die Briefe Schlüters an W. Junkmann und seine Schwester Therese, verh. Junkmann (ab 1855) sind ausgewählt aus 84 Briefen an J . v. 29. Mai 1832 bis 1. Dez. 1883 und 213 Briefen an seine Schwester Therese von 1827—1883, deren wissenschaftliche Auswertung eines der Hauptanliegen dieses SchlüterBuches ist. Ich verdanke sie der Güte der Eigentümerin, Fräulein Elisabeth Schlüter, geb. 1880, einer Großnichte Chr. B. Schlüters (geb. 9. 9. 1845, gest. 15. Juli 1959), Tochter seines Neffen Richard, Landgerichtsrat und Geh. Justizrat in Paderborn und seiner Frau Maria Spancken. Die Briefe werden vollständig in einer Sonderausgabe veröffentlicht. s) Johann Anton Bernhard Lutterbeck (1812—1882), geb. zu Handorf bei Münster, Sohn des schriftstellernden und eine Zeitlang dozierenden Arztes Theod. Lutterbeck, 1829/30 Schlüters Hörer, Mitglied des intimen SchlüterKreises, Anhänger Baaders. Mit Dr. Fritz Gräver und Schlüter gab er 1836 heraus: „Des hl. Bonaventura Weg des Geistes zu Gott. Aus dem Lateinischen." Zudem war er Hermesianer. Als Theologe studierte er noch klassische Philologie und erhielt für dieses Fach eine Professur in Gießen. Mit Fr. Hoffmann und Schlüter beteiligte er sich an der Herausgabe der Werke Baaders. In den Streitigkeiten um das Unfehlbarkeitsdogma (1870) wurde er aus Anlaß des Mainzer Kirchenstreites von seinem Amte suspendiert und wendete sich dem Altkatholizismus zu. Er war befreundet mit Caroline Lombard, deren Briefe an Schlüter (UBMüSchlN) über ihn ausführlich berichten. Schlüter hielt dem Freunde die Treue. In der Zeit seines Aufenthaltes in Münster verkehrte er bei den Drostes auf Rüschhaus und auch durch ihn könnte die Droste mit den Ideen Baaders in Berührung gekommen sein. (Vgl. S. 55/56). Briefe der Droste: 19. Juli [1838], 13. Dez. [18J38, 27. Jan. 1839, 1. Sept. [18]39, 17. Nov. [18]39, 26. Apr. [18]40, 12. Okt. [18]40, 2. Nov. 1840, 19. Sept. [18]41, 29. Okt. [1841], 14. Dez. [1841], 24. Apr. 1843, 11. Mai, 24. Mai, 14. Dez. 1843, 31. Okt. 1844, 27. Apr. [18] 45. Am 7. Jan. 1883 schreibt Sehl an Therese nach dem Tode Lutterbecks: „. . . er war und blieb mir ein inniggeliebter Freund." Annette kennzeichnet ihn ähnlich wie Sehl: „. . . ein braver, kühner, kräftiger Mensch, vielleicht der kräftigste von allen, obgleich nicht der geistreichste, doch auch daran fehlt es ihm nicht."
Briefe an J u n k m a n n
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und mit ihnen die Poesie des Lebens und seinen Kern*) von dannen zu jagen. O f t haben wir gelächelt über das U n e r w a r t e t e in den Ereignissen, Situationen und in der Stimmung und in den Wendungen, die es damit n i m m t ; sein Ich wie ehemals, sagte ich zu mir, als Gemüt, ist die volle innere Synthese und einendes Zentrum alles dessen, was er sieht und erlebt und was diesem seinen eigentümlichen C h a r a k t e r aufdrückt, was analytische Brocken zu Lebensgemälden beleben und selbst große epische Ereignisse in lyrische umwandeln m u ß ; er ist und bleibt ein lyrischer Poet ohne es zu merken, selbst als Weiser oder als Hypochonder. Der Zeilenquaternar von Rügen 5 ) ist w a h r und schön, drückt aber doch mehr Schmachten und Sehnen als ein Gefundenhaben einer nati sententia compos aus; — aber gerade so wie sonst Ihre Schwermut wie Ihr Leichtmut in ihrer unbegreiflichen Mischung, Lebensmüdigkeit, gemischt mit einer Art von Mutwillen des Geistes, sind mir bekannte, geläufige Zustände; im ganzen aber brauche ich Ihnen aber wohl nicht zu versichern, d a ß wir Ihren Brief nicht ohne innigen Anteil an seinem Schreiber, oder, was Sie fast zu meinen scheinen, d a ß ich Sie keinesfalls als einen Baum betrachte, der nur schön ist, weil er gute Verse trägt. H ä n g t auch Ihr H e r z noch wie vormals in etwa an mir, so denken Sie mitunter wenigstens an Ihren Freund als eine nicht mißfällige Autorität, und lassen Sie mich ein Teil Ihres Gewissens sein bei dem, was Sie sprechen, arbeiten, tun und lassen, nicht um meiner Ehre als etwa eines Schutzpatrones willen, sondern um Ihretwegen und aus Konsequenz mit Ihrer früheren Gesinnung gegen mich. Zeigen Sie einmal, d a ß Sie anhaltend und viel arbeiten können, ohne dazwischen zu phantasieren und zu spintisieren und bringen Sie bei Ihrer Rückkunft auch was Rechtes mit, noch außer Ihnen selbst; dann will ich auch der Felsenkessel sein, worin Ihr lyrischer, philosophischer W a l d bach niederdonnern und sich ergießen kann. An Frl. Luise, der Sie gelegentlich vielleicht unterdes schon wieder einmal einen Besuch abgestattet haben werden, denke ich in kurzem zu schreiben. Vierkante ist gesund im Seminarium zu Paderborn und genießt alle Freiheit, welche seine Konstitution verlangt. Michelis Vater 8 ) ist schwer krank und wird schwerlich aufkommen. E r selbst und sein Bruder7) sind wohl, ebenso Wicharts), der Sie grüßt und 4 ) Vgl. die entsprechenden programmatischen Äußerungen der Droste zu Sehl v. 13. Dez. 1838, Juli 1846, zu Schü v. 14. Dez. 1843, Elise Rüdiger [Sommer 1843], 5 ) „Elegische Gedichte", 1836 = ( E G ) 6 ) Landschaftsmaler, Kupferstecher und Zeichenlehrer zu St. Mauritz bei Münster. 7 ) Friedrich Michelis (geb. 1815), mit Wichart zusammen 1832/33 als Schüler Schl's eingetragen, 1838 zum Priester geweiht, galt als der bedeutendste Platoniker seiner Zeit und blieb in seinen vielfach wechselnden Positionen in Duisburg, Bonn, Paderborn, Münster, Albachten, wo er sein PlatonW e r k beendete und in Braunsberg durch zahlreiche Arbeiten, mit denen er in die theol.-philos. Streitfragen der Zeit eingriff, bekannt. Auch als Prof. d. Philos. in Braunsberg blieb er mit seinem Lehrer und Freunde eng verbunden und gab mit ihm zusammen die von ihnen gegründete Zeitschrift „ N a t u r und O f f e n b a r u n g " heraus. Er beteiligte sich an der Schlüterschen Herausgabe der „Gedanken und Aussprüche Ant. Bern. Limbergs", der sein Lehrer auf dem Paulinum gewesen war. Sein Bruder Eduard Michaelis („Odilo"), ebenso Schüler Schl's, w a r als K a p l a n des Kölner Erzbischofs Droste zu Vischering mit diesem in Gefangen-
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sehr fleißig studiert. Meine philologischen Stunden sind ganz neu besetzt; Ed(uard) Michelis ist stark beschäftigt mit Theologiis und Wichart hört von 12 bis 1 Zoologie bei Dr. Becks9). Lutterbeck gefällt mir sehr; ein reiner, edler, kräftiger Mensch, aus dem etwas sehr Tüchtiges werden kann, längst nicht so unstet wie gewisse andere Leute. Sehr freudig überraschte mich Schrakamp, dem ich Grüße an Sie aufgetragen. Ein gewisser Störcke aus Rheine, der früher meine Kollegien gehört hat, ist bei der Komposition pro seminario in Bonn unus primus geworden; erinnern Sie sich seiner? Ich w u ß t e von seinem Talente f r ü h e r nichts, bin aber gegenwärtig in Versuchung, mir einzubilden, d a ß ers vorzüglich mir verdanke, wenn er es so weit gebracht. Sie selbst haben unterdes in meinen Augen einen T r i u m p h davongetragen durch Ihre Menschenkenntnis. Wie sehr w a r ich überrascht, als ich Ihre Vermutung, die Sie mir wiederholt und dringend äußerten, bestätigt f a n d und die Belege d a f ü r nun buchstäblich in H ä n d e n habe, das St. Bernhard und Des Arztes Vermächtnis auf vulkanischem Boden aufstieg und auctor operis, ein edleres Gegenstück zu Lord Byron, wohl selbst eines Arztes bedürfe, wenn anders ein gewöhnlicher A r z t so tiefe W u n d e n heilen kann. O wie werden Sie staunen und sich w u n d e r n und mit innigem Anteil zugleich bewundern! Mein Publikum „de Deo" ist voll, in meiner Psychologie 16 bis 18 Z u h ö r e r ; ich bin damit zufrieden. Ihr „grünes Büchlein" ergötzt midi und andere oft und sehr und oft freue ich mich mit Sehnen auf die Stunde unseres Wiedersehens. Mir deucht, Sie müßten promovieren. D a ß Sie den Steffens10) nicht zuende gehört haben! An unserer Fakultät sind Brockmannll) und Schaft 1837/40. Nach Münster zurückgekehrt, gründete er das „Münsterisdie Sonntagsblatt", an dem er mitarbeitete, stiftete das Waisenhaus in St. Mauritz in Münster und die Genossenschaft der Schwestern von der göttlichen Vorsehung. Schon im 42. Lebensjahr starb er als Prof. d. Dogmatik a. Deutschen Priesterseminar in Luxemburg 1855. 8 ) Heinrich Wichart (geb. 1809) w a r 1832—36 Schüler Schl's, w u r d e 1837 zum Priester geweiht und übernahm die Stelle als I n f o r m a t o r beim Freiherrn von Schorlemer zu Herringhausen. Er gehört zum Baader-Kreis Schl's und korrespondierte von H . aus mit den Münsterschen Freunden über die a n f a l lenden philosophischen Probleme (UBMüSchlN, 13. J a n . 1839 a. Lutterbeck und 6. J u n i 1840 an Fritz Gräver). Nach seinen Vikariaten in Neheim u. Körbecke trat er 1846 in den Franziskanerorden ein (P. Eusebius); als Lehrer der Philosophie veröffentlichte er verschiedene interessante Schriften, in denen er die damals moderne Physiologie f ü r die Theologie fruchtbar machte (s. Lit. Vera.). 9 ) Franz Caspar Becks, Dr. phil. (1805—1847), 1831 P r i v a t d o z e n t f ü r N a turwissenschaften a. d. Philos. Fakultät d. Akademie Münster, 1838 a. o. Prof., 1839 Mitglied der Prüfungskommission, 1844 Botanik an d. Medizinisch-Chirurgischen Lehranstalt Münster. Er schrieb mehrere Abhandlungen über geognostische und mineralogische Dinge. 10 ) Henrik Steffens (1773—1845), Norweger, als spätromantischer N a t u r wissenschaftler, Naturphilosoph und Arzt in Berlin bekannt. u ) Johann Heinrich Brockmann (1767—1837). Mit Sailer als dessen Schüler in reger Verbindung. Als Diakon bei Lavater zu Besuch. 1790 z. Priester geweiht, P r o f . der Pastoraltheologie an der Univ. Münster bzw. der Akademie bis 1836, hochgeschätzter Domprediger und Beichtvater, der den Klerus im Sailerschen Geiste zu beeinflussen suchte. Auch der Staat zeichnete ihn mehrfach aus.
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'Neuhäusl) k r a n k , Katerkamp13) ist noch nicht ersetzt und wird es schwerlich. Berlage1*) soll f o r t wollen; es wäre mir leid; er entwickelt sich bedeutend und steht nicht still. Meine Mutter, die keinen Anspruch auf ein Schreiben machte, grüßt Sie aufs herzlichste, so mein Onkel, so meine Schwester, die mir auf einsamem Stübchen jüngst nachmittags Ihren letzten Brief vorlas. G o t t sei mit Ihnen und Ihrem T u n und geleite Sie, d a ß wir fröhlich und gesund uns wiedersehen. Ihr C. Schlüter Dem H e r r n cand. philolog. W. J u n k m a n n Wohlgeboren zu Berlin frei Kochstr. 68, 1 Treppe an der Seite der Anschrift N o t i z : Godehirt (?) H a g e n , Reimchronik der Stadt Köln von E. v. Groote U / 3 M Münster, den 19. M ä r z 1835 Mein lieber H e r r J u n k m a n n ! Erlassen Sie mir die weitläufige und vielleicht überflüssige Auseinandersetzung, wie mehrere zusammentreffende und sich häufende Umstände A n l a ß wurden, daß ich erst heut dazu komme, Ihre zwei lieben und interessanten Briefe zu beantworten; wahrlich, gerne hätte ich es eher und schon längst getan. U m mit dem wichtigsten zu beginnen, so m u ß ich Ihnen gestehen, d a ß ich des innern Lachens mich nicht enthalten konnte, wenn Sie, absoluter Selbstherrscher Ihrer Selbst, bis zur Reizbarkeit eifersüchtig auf Ihre Freiheit, Ihre eigenen Pläne und Ideen, urplötzlich von einem R a t oder gar K o m m a n d o zu reden anfangen, so Sie von mir erwarten betreffend Ihr längeres Verweilen und Tun in Berlin. Sie müssen sich, lieber Freund, erinnern, d a ß ich von Anbeginn Ihre Reise zur Residenz nur nachgebend billigen konnte, noch mit der Voraussetzung, d a ß Sie zum voraus gewiß wären, sofort bei Ihrer A n k u n f t Ihr Probejahr beginnen und dort hinter sich bringen zu können, daß ferner unterdes Ihr grünes Büchlein der H a f t isolierter, individueller Privatexistenz entlassen und dem Druck des Ungedrucktseins entzogen und dem des Druckens übergeben w ü r d e (worüber ich übrigens, wie Sie mir befehlen und auf die Seele binden, ferner Sie nicht mehr behelligen, noch meinen jüngst gefaßten trefflichen Plan vorlegen will), daß Sie Ostern wiederkämen — und wie ich überhaupt die Sache fast nur als eine Grille betrachtete, deren Vernünftigkeit Sie mir um so mehr vordemonstrieren mußten, weil Ihre A u s f ü h r u n g meinen Privatwünschen, die aber freilich gar nicht in 12 ) Franz Neuhaus (1784—1853), 1823—1843 o. Prof. f. Dogmatik a. d. Akademie z. Münster, Biograph von ]. Hyazinth Kistemaker aus dem Gallitzin-Kreis. ls ) Johann Theodor Hermann Katerkamp (1764—1834), P r o f . d. Theologie a. d. Univ. Münster, Biograph der Fürstin Amalie von Gallitzin, mit der er befreundet w a r , seit 1831 Domdechant. Er w a r am 9. Juni d. J's gestorben. ") Anton Berlage (1805—1881), hatte in Bonn und Tübingen Theologie studiert, in München Görres, Baader und Schelling gehört, Dr. theol., las über Dogmengeschichte, Symbolik u. Apologetik, zuerst Prof. f. Moraltheologie, dann Dogmatiker. Im Infallibilitätsstreit spielte er in Münster eine bedeutende Rolle. Er lehnte einen Ruf nach dem angesehenen Tübingen ab, um im münsterschen Kreis zu bleiben.
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Betracht kommen durften, zuwider lief etc. Ich bin es nun gerne zufrieden, wenn aus vorgenannten drei Artikeln nichts geworden ist, wenn Ihre Ausbildung und Ihr künftiges Glück nur etwas dadurch gefördert werden kann, zum Teil auch die Sache sich nicht ändern ließe noch läßt, wenn Sie mit einer reichlichen Ausbeute an Kenntnissen, an Menschenkenntnis und Kenntnis des Lebens und zugleich persönlich freier und selbständiger zurückkehren und so selbst die Gewißheit haben, daß Ihr Plan dennoch durchgeführt und Ihr Zweck, wenn auch in etwa anders erreicht sei, und freue mich nicht wenig auf den glücklichen Tag, w o ich Sie wieder umarmen und unter uns wissen werde, freue mich, nebenher sei es gesagt, noch mehr auf den alten als auf den neuen H e r r n J u n k m a n n . Aber Ihnen selbst m u ß es einleuchten, wenn Sie sich und Ihr Tun mit meinen Augen betrachten, wie ich schwerlich umhin könne, es in etwa befremdlich zu finden, d a ß Sie jetzt selbst nach H i n z u setzung noch eines halben Jahres dennoch gewissermaßen unverrichteter Sache zurückzukehren scheinen. Sticven) wird besser beurteilen können, als ich, der es gar nicht beurteilen kann, ob und inwiefern der Doktortitel f ü r Sie und Ihre künftige Förderung nützlich oder gleichgültig sei; Sie müssen und können es besser wissen als ich, ob und inwiefern das eine oder das andere der Fall, wenn Sie Ihr Oberlehrerexamen in Berlin und nicht hier machen, oder ob dies vielmehr entschieden unrätlich sei: ich aber kann mein Urteil darüber nur gefangen geben und Sie bitten, und nichts anderes bleibt mir übrig, selbst wider Ihre Gefühle oder Grillen, als einer kalten und ruhigen Überlegung zu folgen; wenn Sie darüber abschließen, ob Sie mit einer bestätigten oder noch erst zu bestätigenden höheren A u t o r i t ä t und Gewicht hierher zurückkehren und ob Sie noch einmal sich dem Urteil und der Zensur vielleicht mehr befangener Examinatoren, als Sie in Berlin zu erwarten haben, sich überliefern wollen. So habe ich Dir, lieber Wilhelm J u n k m a n n , meine Meinung ganz und rein heraus gesagt, wie ich es u n a u f g e f o r d e r t nicht getan haben würde, voraussetzend, ich könnte als unwillkommener Ratgeber zumal in zweifelhaften Dingen lästig werden und vielleicht nur Verwirrung stiften.— Münster, den 20. Sorgen wir nicht zu viel f ü r die Zukunft, sagte ich mir jüngst, damit der köstliche Samen des göttlichen Wortes, wenn er bei uns nicht auf einen Felsen noch auf einen allbetretenen P f a d durch Gottes H u l d gefallen ist, nicht doch endlich von Disteln und Dornen erstickt werde, wenn Deine junge, zarte Saat zwischen diesen aufgeht, die von N a t u r ein üppig wucherndes Wachstum haben, und f r ü h , zur rechten Zeit, gejätet sein wollen; und ich rate Ihnen, dasselbe sich selbst täglich vorzusagen. D a z u aber bemerke ich noch, d a ß Ideen, die von H a u s aus nicht rein religiöser noch religiös-sittlicher Art sind, am meisten dem Feuer gleichen, und f ü r eben jene Saat und f ü r ihren Boden, das Menschengemüt, verderblich und zu einem versengenden Sirokko werden können, der Individuen, ja N a t i o n e n sengend verwüstet, statt von dem innern Quell des Lebens aus eine wohltätige W ä r m e und gesunde Energie in dem ganzen Organismus zu verbreiten. Die reine Lebensluft ver15 ) Friedrich Stieve (1804—1879) war damals Direktor am Gymnasium zu Recklinghausen. Er gehört mit seiner Familie zum nächsten Freundeskreis Schl's (vgl. auch Droste a. Schü a. 11. Mai 1843). 1842 w u r d e er der erste weltliche Direktor des Paulinums in Münster, 1852 Reg. u. Schulrat in Breslau, 1860 Mitgl. d. kath. Abt. i. Kultus Berlin.
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zehrt bekanntlich die Lunge, wenn sie nicht mit % Stickluft gemischt ist. Ohne Nacht und ohne Schlaf vergingen Tiere, Pflanzen und Menschen, und die Religion und Gott selbst temporisieren; wehn auch sonst uns Sündern und unserm armen, gefallenen Geschlechte. Lesen Sie zu diesem Text den Kommentar in Schillers Glocke: „Wohltätig ist des Feuers Macht . . . " etc. und acht Zeilen weiter. Ihr Witz und Scharfsinn wird vorstehende Worte hart visitieren und Entgegengesetztes zu deduzieren versuchen; sei es immerhin buchstäblich nur halb wahr, oder schlecht gesagt; mir genügt es, wenn Sie wissen, was ich sagen will oder, genauer zu reden, wenn Sie es in etwa beherzigen wollten. Von hier aus, lieber Herr Junkmann, wird ein anderes Gesicht wieder aufgesetzt, welches ich nur ungern gegen Sie auf ein Weilchen ablegte. Ihre zwei plattdeutschen Gedichte sind ausgezeichnet schön und haben mir sehr gefallen. Ich verstand nicht alles, aber das Fräulein hat sie erklärt 16 ). Sie behauptet, jene gehörten zu den schönsten, was Ihnen gelungen; sie seien aber aus gutem Hochdeutsch in schlechtes Plattdeutsch, welches gar keines sei, gewaltsam übertragen, und man müßte Sie ersuchen, sie aufs eiligste wieder um zu übersetzen. Auch Ihre Abendlandschaft nach dem Gewitter 17 ) ist hinterher mehrererseits zu unglaublich hohen Ehren gelangt und mehr, denn gerechtfertigt. Oft ergötzen uns jene zarten, duftigen, herrlichen Blüten Ihres früheren inneren Lebens, die unter Regenstürmen und Gewittern nur um so frischer und reizender hervorkamen und Herz und Haupt erquicken. Ich hoffe und glaube nicht, daß die Schönheit, namentlich die, welche eine Vergegenwärtigerin der Wahrheit, je in Ihnen einen Verehrer verlieren könne; und wenn die Rebe blüht, und der Weinstock Knospen gewonnen hat und die Turteltauben im Lande girren, wenn der Winter vorüber und der Platzregen dahin oder, mit Horaz zu reden, cum cephiris et cum hirundine prima, wird auch des philologischen Poetleins Nachtigall-Zunge erwachen und süßer den Wald durchschmettern als zuvor. Übrigens muß ich Ihnen darin Recht geben, daß in einzelnen Stellen Ihrer Gedichte aus der früheren Zeit, obschon in wenigen, etwas vorkommt, das ich geändert sehen möchte; allein „affektiert" ist nicht der rechte Ausdruck, vielmehr sind sie, deucht mir, zu ungezwungen und natürlich oder zu wenig gebildet, das unmittelbare Gefühl aussprechend; doch auch dieser Ausdruck genügt mir nicht zur Bezeichnung; oder sind sie zu weich? Zeigen kann ich sie, nicht aber genau den Fehler bezeichnen, den ich meine und den Sie ebenfalls nicht richtig benannt. Keinesfalls aber sind jene Mängel auffallend und eigentlich störend; auch sind sie selten. In den meisten Ihrer Gedichte liegt für mich ein non plus ultra, in seiner Art, versteht sich, wie in den Gedichten SalisiB), welche jene aber durch den Gedanken und die höhere Ideemacht übertreffen, wenn gleich nicht überall in der Form. Auch Fräuleinlp) nennt die meisten vollendet, bis auf diese. Ich glaube aber, sie würde sie mir zu eng beschneiden; Ihre Epitheten scheinen mir recht (?), wo sie gehäuft, an ihrer Stelle wesentlich und notwendig und folglich keins entbehrlich. Ihr letzter Brief ist wie ein Kaleidoskop; über alle freien Künste und Wissenschaften habe ich Ihnen mit Vergnügen zugehört, wie über das Sub16 ) Vgl. Brf. Sch's a. d. Droste a. 29. März 1835 (Sch. u. d. Dr. S. 69) und Antwortbrf. d. Dr. a. 28. [27.] März. " ) E G, Nach einem Kupferstiche, S. 66. 19) Johann Gaudenz von Salis-Seewis (1762—1834). 19 ) Vgl. d. Brf. d. Droste v. 28. [27.] 3. 1835.
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jekt, welches in seiner Negativität sie gesamt um sich versammelt, regenbogengleich, sie beherrscht und ihren Reflex und Schimmer nach unten wirft in minderer Konfusion als worin diese Metapher befangen ist. Ja, ich sehe kommen, Ihre schwarze Schreibfeder wird zu einem weißen Schwanenflügel werden, der Sie, gleich jenem Venudinischen Vogel, zur Unsterblichkeit trägt, sobald Sie nur eintauchen und ansetzen und dabei Ihre Vernunft regieren lassen wollen, und diese W o r t e sind nicht bloß Heilpflaster auf etwa geschlagene Wunden, sondern mir ernst, wiewohl die bloße Unsterblichkeit des N a m e n s eine sehr eitle, nichtige Sache ist — vorzüglich haben mir Ihre Bemerkungen über Shakespeare und über die Latenz der Ideen in seinen Werken oder vielmehr über deren nur verkörperte und . . .(?) oder w a h r h a f t poetische Potenz, und was Sie über H a m l e t sagen, welches mir durchaus den rechten Fleck zu treffen scheint, gefallen. Ihre Gedanken über Herakleitos haben mich sehr erf r e u t und ergötzt; ich empfinde und denke ähnlich, bei ihm und über ihn; doch hätte ich nie vermocht, so schön, genau, vollendet es auszusprechen; was Sie zu dem Leben und von seiner Eigentümlichkeit sagen, Sie würden mir eine große Freude machen, wenn Sie es, was Sie vorhatten, ausführten; ein Portrait, denke ich, des H c r a k l e i t aus Ihrem Gemüt und Seelenspiegel; wollen Sie mir umsonst den M u n d darnach wässrig gemacht haben? Endlich haben mich Ihre Ideen und Fragmente zu einer Philosophie der Geschichte erhoben und erfreut. Die weitere Ausführung, wie herrlich w ü r d e sich das gestalten; ja, so ist es, wie Sie es sehen, wie Sie es wollen und meinen, und so m u ß es gesagt und durchgeführt werden. U b e r h a u p t sehe ich mit Freuden aus Ihrem Briefe, wie Ihr Geist sich vertieft und weitet und bereichert, was stets nur zugleich und eins durch das andre geschehen k a n n ; und schon hieraus folgt, d a ß Sie nicht müßig gewesen sind, noch bloß über Grillen gebrütet haben können, und d a ß Sie folglich gelogen haben, wenn Sie das Gegenteil behaupten. Gottes Segen sei mit Ihrer f e r n e m Entwicklung und E n t f a l t u n g und bewahre Sie vor jeder Verirrung, deren es so viele gibt und erhalte Sie nebenbei bei — darf ich es sagen? — Vernunft. Es m u ß wie ein Fels fest in uns stehen, d a ß , wer G o t t liebt, betet und ernstlich guten Willens ist, wie wunderlich auch seine Wege sich wenden und verstricken mögen, doch endlich zum rechten und zum einzigen Ziele gelangen und d a ß ihm jegliches wahrhaft und im strengsten Sinne zum Guten gereichen müsse, so wie den Verkehrten, die Gott nicht kennen noch suchen, aller Segen, alles Gute und Schöne, ja Gott selbst zum Fluche w i r d und werden muß. Reich und überschwenglich lohnt er auch die kleine Treue, und, wie Angela von Foligno 20 ) sagt, er ist so gütig, tam curialis est, d a ß er auch das halbe H e r z und noch weniger, wenn es ihm geboten wird, nicht verschmäht und über alle H o f f nung und E r w a r t u n g auch dieses Gute belohnt. Es ist seltsam, wie es mir schwer wird, mich schriftlich geläufig auszudrücken; sonst w a r das nicht so, alle Lust vergeht mir darüber. Zudem weiß ich nicht, ob ich niederschrieb, was ich schreiben wollte, und ich nicht gar vieles ganz vergaß, ganz falsch a u f g e f a ß t oder angegriffen habe. Wenn Sie wieder hier sind, können Sie mich ja darüber ausfragen, mir alles genauer auseinandersetzen; bis dahin genüge Ihnen die Versicherung, d a ß Sie mir überaus wert, und d a ß ich mein Glück nie von dem Ihrigen unabhängig werde betrachten können. D a m i t müssen Sie als Freund vorlieb nehmen und übrigens 20 ) Angela von Foligno (f 1309) in der „Theologie des Kreuzes": tam curialis est, „er ist so sehr zuvorkommend."
Briefe an Junkmann
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Nachsicht haben. Die beiden Michelis, Vierkante-1), Bartscher--) und Wichart befinden sich wohl; der letztere und mein Onkel bilden eine originelle Kompanie und werden einander, wie es scheint, stets unentbehrlicher. Die Meinen erwidern herzlich Ihre Grüße, auch ihnen geht es, gottlob, im Ganzen wohl. Das Fräulein, muß ich noch erzählen, hat gegenwärtig einen ähnlichen martialischen Stoff zu bearbeiten unternommen als Sie früher vorhatten 23 ); sie will den Sommer mit ihrer Mutter nach der Schweiz 81 ), wo ihre Schwester verheiratet ist; schade wäre es, wenn sie nicht wiederkäme. 24. März Ich habe mit der Absendung meines Briefes noch gewartet, um noch einiges nachzutragen, was mir einfallen würde, und um noch einiges einzulegen, namentlich einige Zeilen von mir an Fräulein Luise Hensel. Mein Brief an sie ist eben fertig und ich möchte Sie nicht länger warten lassen, auch will mir nichts mehr einfallen, was der Mühe wert zu schreiben wäre oder ich zu schreiben gegenwärtig Lust hätte. Haben Sie des genannten Fräuleins Geistliche Liebe25) im Anhang zu Diepenbrocks „Blumensträußen" gelesen? Teilen Sie, ich bitte, ihr einige von den ihrigen mit, die schönsten oder nur alle. Leben Sie wohl und halten Sie lieb ihren aufrichtigen Freund C. S. N. B. Schließen Sie doch gütigst, wenn Sie es passend finden, die Zeilen an das Fräulein L. H. in ein Couvert oder geben ihnen so etwas von einem Siegel und Schluß; es scheint mir schicklicher; doch überlass ich es Ihnen. Sorgen Sie, mir im Herbst vieles von Steffens und etwas von Freund Göschel26) erzählen zu können. — Wie macht sich Gabler27J, wie ist er aufge21) Franz Vierkante, 1830/31 Schüler Schl's, Freund Junkmanns und Mitglied des engen Freundeskreises. Brf. d. Droste a. Betty v. Haxthausen vom 12. Dez. 1840. Sehl schreibt v. ihm i. Brf. a. Pabst v. 5. Febr. 1835 „Vierkante, dessen frühere Preisschrift strenge in Günthers Sinne verfaßt, ebenfalls das Accessit erhielt, obwohl hier der Primus kein Hermesianer war, ist jetzt im Seminar zu Paderborn. In religiöser und intellektueller Beziehung hat er mit schnellen Schritten eine hohe Reife erreicht; seine Krankheit und der schmerzliche Verlust seiner geliebten Mutter haben sichtbar dazu beigetragen . . . " Vierkante, der auch bei den Drostes und Haxthausens bekannt war, wurde nach seinem frühem Tode 1837 wie ein Heiliger verehrt und Junkmann sammelte seine Briefe und hätte sie gern herausgegeben, wenn sie nicht zu viele Intimitäten der Freunde enthalten hätten. So wanderten sie nur im kleinen Kreise von Hand zu Hand (Brf. Schl's a. d. Droste v. 16. Juni (1839), Schi. u. d. Dr. 89, u. Antw. v. 19. Juli, S K Brfe. I, 293; Dyr. Hohn. S. 169 f. 22) Ferdinand Bartscher gehörte zu dem gleichen Schlüterkreis, 1832 sein Schüler. Durch Schl's Vermittlung war er als junger Priester eine Zeitlang im Hause der Haxthausens in Apenburg Hauslehrer (vgl. Brf. der Droste a. Sehl v. 19. Juli [1838] aus Apenburg u. Schl's Antwort v. 2. August 1838 in Schi. u. d. Dr. S. 92). In Paderborn wurde er Domherr und Regens des Priesterseminars. Er hatte dort Luise Hensel kennengelernt und schrieb ihre Biographie als Verteidigungsschrift gegen Reinkens (s. Lit.-Verz.). 2S ) Der Beginn der Arbeit an der „Schlacht im Loener Bruch" ist daher bereits in das Frühjahr 1835 zu datieren und nicht, wie bisher angenommen, 1837. 24 ) Nach Eppishausen. Vgl. d. Brf. d. Droste a. Schi. v. 22. Okt. [1835], K ) Vermutlich „Ich liebe einen Königssohn . . ." mit der Überschrift: „Wen ich liebe . . ." 2 e ) 1784—1862. „Der Monismus des Gedankens" beschäftigte Sehl besonders. 27) Georg Andreas Gabler (geb. 1786), Hegels Nachfolger in Berlin, Hegelianer der Rechten.
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nommen? H i e r sind zwei Privatdozenten der Theologie neuerdings doktoriert, zu bleiben und zu dozieren gesinnt. O b Staudenmeier kommen wird, K a t e r kamps Stelle zu ersetzen, zweifeln wir nun sehr; ich möchte es wünschen. H ä t t e nicht Soldat werden müssen, vielleicht wäre meine Abhandlung über Spinoza Ostern fertig geworden. Vielleicht lege ich Ihnen noch einige Zeilen von Ihren Eltern oder Ihrer Schwester bei, die ich d a r u m ersuchen will. Unsere Philologische Stunde besteht gegenwärtig aus Michelis jun., Fröhlich28), Grünhoff und Schmedding2e). ») .. .
Montag, 2. vor dem ersten . . . Mit Gutheißung Ihrer und nach dem R a t e meiner Schwester habe ich Bartschers Brief entsiegelt; ich hoffe, Sie billigen dies. Zugleich die buchstäbliche Verhochdeutschung Ihrer Gedichte durch des Fräuleins Hand und Güte, die mir das leichtere Verständnis vermitteln wollte 3 1 ). Sehr, recht sehr sehne ich mich, Sie wiederzusehen. G o t t sei mit Ihnen und allem, was Sie unternehmen. Ihr getreuer Freund C. S.
Sonntag, [ M ä r z 1835] Lieber H e r r
Junkmann!
Soeben lieset mir Böcker32) Ihre lieben, mich erfreuenden Zeilen und k l ä r t sich mir das schöne, herrliche Geschenk Ihres gewichtigen Briefes auf. Leider kann ich, da es schon 10 H ist, nur mit diesen wenigen Zeilen Ihnen meinen herzlichen D a n k und zugleich den Herder übersenden. Gestern nachmittag w a r e n wir, Mutter, Therese und ich auf Rüschhaus; das Fr(äulein) litt sehr und schien niedergedrückt von Gesichtsschmerzen 33 ); dennoch n a h m sie sich zusammen, wir sprachen wiederholt auch von Ihnen. Auch Jenny Hüger, die in einem J a h r beide Eltern verlor, t r a f e n wir dort. W u n 28 ) Pascal Fröhlich, 1842 als H ö r e r bei Schlüter eingetragen. 1843 schreibt er ihm von München aus über Görres (UBMüSchlN, Brf. v. 9. 2. 1843). i9 ) Schmedding, vermutlich ein Sohn von Joh. H e i n r . Schmedding (1774— 1846), Prof. d. Rechts a. d. U n i v . Münster, 1841 in der kath. Abt. des Kultus Berlin. 30 ) Von hier ab meldet sich der Schreiber des Briefes Fritz Michelis, der das beigefügte Gedicht v e r f a ß t e , wie aus seinen angefügten N o t i z e n hervorgeht. 31 ) E G S. 69—74, Dialektgedichte von besonderer Schönheit. Annettes bekanntes Urteil ist zumindest zwiespältig. Sie hält die Gedichte f ü r „von seinen besten", v e r w i r f t aber den Dialekt und überträgt sie ins Hochdeutsche. Auch Schlüter hatte nicht das rechte Verständnis f ü r J u n k m a n n s Begabung zum Dialektdichter. 52 ) Böcker aus Dülmen, Vorleser und Schreiber Schlüters zu dieser Zeit, steht im Hörerverzeichnis 1827/28. 33 ) Vgl. d. Brf. a. Karl v. Haxthausen vom 11. März 35. „Ich muß aufhören, mein K o p f w e h nimmt überhand, alle Buchstaben schwimmen." Auch am 28. klagte sie noch bei Sehl über den wandernden Rheumatismus, besonders im K o p f .
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dervolle Aphorismen von Fr. Schlegel31), Himmelsblitze und Lichtgrüße f ü r unsereinen, sind angekommen; Sie würden, mein ich, entzückt sein, was freilich viel sagen will. Möge der neu entdeckte eiserne T a k t Sie an Ihren silbernen R h y t h m u s erinnern und mahnen. Ihre Sendung wollen wir gemeinsam lesen und daran d a n k b a r uns weiden und erheben. G o t t mit Ihnen. I h r Ihnen 1 unaristokratisch / gewogener C. S. Anschrift: Dem Candidaten der Philologie H e r r n W. Junkmann Wohlgeboren Senden Münster, den 2. M ä r z 1838 Lieber H e r r
Junkmann!
Sie erhalten hier ein Exemplar der Erigena Vorrede 3 5 ), der Sie es schwerlich ansehen werden, wie viel Quälerei und Kopfbrechens sie gekostet h a t ; gefiele sie Ihnen, es w ä r e w a h r h a f t i g eine Salbe auf mein müdes, wirres H a u p t . Sie, als der Ideenstärkere, sehen häufig vor dem Walde die Bäume nicht, ich, als Mann des Begriffs, vor lauter Bäumen nicht den W a l d ; versuchen Sie, ob hier ein W a l d oder H a i n aufwächst: ich fürchte, Sie r u f e n : ein Reiserbund-Haufen. Quodcumque demum sit, so w i r d Ihnen doch hiermit das Exemplar freundlich gewidmet mit der Versicherung, d a ß ich mir stündlich einprägen möchte, d a ß „das Leben zu kurz sei, sich einen langen Zopf zu drehen, geschweige f ü r lange Prozesse oder sich aneinander zu ärgern". A n f a n g s der nächsten Woche k o m m t das Fräulein36). Ich werde Sie in K u n d e setzen und es gänzlich Ihrem Gutdünken anheimstellen, w a n n und wie oft Sie uns mit Ihrer Gesellschaft erfreuen wollen. „Liebet euch untereinander"; tue ich es nicht, so bin ich ein klingendes Erz und trotz aller himmlischen Metaphysik aus dem Glauben oder außer dem Glauben ein unnützer, elender Schelm. Trag ich nicht willig die Schwäche meines Bruders, so verdien ich nicht, d a ß G o t t die meine erträgt und mir meine Sünden vergibt. Ihr C. Schlüter 31 ) Joseph Sengler an Schlüter am 3. Sept. 1836 und am 23. Dez. 1837, (UBMüSchlN vgl. Anhang S. 202 f.), geb. 1799, Theologe und Philosoph, 1830 Redakteur der „Kirchenzeitung f. d. kath. Deutschland", 1832 Prof. d. Philos. in M a r b u r g und seit 1842 in Freiburg i. Br. (s. Lit.-Verz.). 35 ) Sengler schreibt ihm über seinen: Erigenae, Joh. Scoti, de divisione natura libri quinque. Editio recognita et emendata. Münster, 1838.
'«) Vgl. Brf. d. Droste a. Therese v. 28. Febr. aus H ü l s h o f f : „Nächstens komme ich nach Münster, sobald die Abschrift der ,Schlacht im Loener Bruch' vollendet ist, d. h. in 5—8 Tagen". Das wäre also am 5.—8. M ä r z ; Sehl schreibt am 2. März von „anfangs nächster Woche."
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Anhang Münster, den [1. Dez. 1839]
Lieber
Junkmann,
Raumers „Palästina", das anbei auf 14 Tage, wie D u gewünscht, erfolgt, f a n d sich nicht auf der Bibliothek, sondern in Flensbergs H ä n d e n , welcher bittet, D u wollest es an ihn und nicht direkt an die Bibliothek zurückstellen. — Willst D u mich erquicken, so mache mir ein schönes, langes Gedicht; ich sehne midi darnach; D u kannst, wenn D u willst. — Staudenmeiers31) „Christliche Philosophie" hat mir nicht genügt, aber wohl (mich) geärgert, ein Pfuscherwerk, obwohl voll Gelehrsamkeit. Bei C o t t a erschien und bei mir ist zu finden eine auf christliche Prinzipien basierte Ästhetik von Dursch3S), edel, würdig, klar und schier vollendet dogmatisch; ziemlich schön geschrieben, aber keine spekulative Tiefe und Genialität; dito: „Christliches in Schiller" von Binder™), sehr gehaltvoll, geistreich und interessant, vollständig wert, daß D u es lesest. Von Deinen fünf Freiligrath40) eingesandten Gedichten vermisse ich das „Vom Berge" 41 ), nicht „Auf der Reise" 42 ). Schückings Aufsatz über die Gallitzini3) hat mir viel Freude gemacht. — Mit der Rüdiger") stehen wir in einigem Verkehr; so oft wir zu ihr gehen, gefällt es mir dort sehr gut. Fr(äulein) Bornstedts45) „Ludgerus" schreitet v o r a n ; w o sie aber an die hl. Gestalt selbst H a n d anlegt, findet man ihre Feder dem Stoff k a u m gewachsen: auch malt und dichtet sie etwas zu viel an der Staffage. Grüße mir Arnold und Nettchen herzlich;